Ideeller und struktureller Wandel von Wissenschaft: Das Beispiel der Universität Leipzig 1809 – 1909 – 2009 3515129995, 9783515129992

Die Hundertjahrfeiern 1809, 1909 und 2009 der Universität Leipzig fallen grob mit strukturellen Umbrüchen der Institutio

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German Pages 376 [378] Year 2021

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung zur Spannung zwischen Selbstverständnis und Realität akademischer Institutionen
Wissenschaftliche Bildung in idealer Konzeption. Ideen um 1809
1. Wissen, empirische Erkenntnis und Bildung
2. Die wissenschaftlich gebildete Person
Quellen und Literatur
„Aus Tradition Grenzen überschreiten“. Autonomie und Fremdbestimmung an der Universität Leipzig. Ein Rückblick nach 2009
1. Einleitung
2. Von der Gründung bis ins 18. Jahrhundert
3. Die Reform der Universität im 19. Jahrhundert
4. Eine deutsche Universität im 20. Jahrhundert
Quellen und Literatur
Aspekte universitären Selbstverständnisses im 19. Jahrhundert im Blick von Rektoratsreden und der 500-Jahrfeier der Universität Leipzig 1909
1. Die Inauguration der Leipziger Rektoren
2. Artikulationen des Selbstverständnisses der Universität
3. Zusammenfassung
Quellen und Literatur
Die Universität Leipzig um 1900
1. Einleitung
2. Selbstbild, Positionskämpfe, Deutungshoheit um 1900
3. Die Stellung der Universität Leipzig im Universitätssystem des Kaiserreiches im Spiegel der Berufungen (1871–1914)
4. Die Debatte um die Errichtung einer Universität in Dresden und die Implikationen für Leipzig
Quellen und Literatur
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Ideeller und struktureller Wandel von Wissenschaft: Das Beispiel der Universität Leipzig 1809 – 1909 – 2009
 3515129995, 9783515129992

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Ideeller und struktureller Wandel von Wissenschaft

Quellen und Forschungen zur sächsischen und mitteldeutschen Geschichte · Band 46 Im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig herausgegeben von Enno Bünz, Armin Kohnle, Heiner Lück, Manfred Rudersdorf, Matthias Werner und Hartmut Zwahr in Verbindung mit der Historischen Kommission

Ideeller und struktureller Wandel von Wissenschaft Das Beispiel der Universität Leipzig 1809 – 1909 – 2009

Herausgegeben von Pirmin Stekeler-Weithofer

Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig In Kommission bei Franz Steiner Verlag Stuttgart

Diese Publikation wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushalts.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978–3-515-12999-2 (Print) ISBN 978–3-515-13001-1 (E-Book)

Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2021 Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Vertrieb: Franz Steiner Verlag Stuttgart Satz: Barbara Zwiener | Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH Printed in Germany

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Pirmin Stekeler-Weithofer: Einleitung zur Spannung zwischen Selbstverständnis und Realität akademischer Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lars Osterloh und Pirmin Stekeler-Weithofer: Wissenschaftliche Bildung in idealer Konzeption. Ideen um 1809 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1. Wissen, empirische Erkenntnis und Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.1 Eine begriffliche Vorerwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.2 Zum Begriff der wissenschaftlichen Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1.3 Formentheorie und allgemeines Wissens (Platon) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 2. Die wissenschaftlich gebildete Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2.1 Realisierung der Vernunft (Fichte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2.2 Universität als Ort wissenschaftlicher Bildung (Schleiermacher) . . . . . . . . . . . . . . 67 2.3 Wissenschaftliche Forschung als Bildungsideal (W. v. Humboldt) . . . . . . . . . . . . . 77 2.4 An Wahrheit ausgerichtetes Wissen und Handeln (Schelling) . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 2.5 Enzyklopädische Bildung und fachbegriffliche Gliederung (Hegel) . . . . . . . . . . . . 92 Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Bettina Kremberg: „Aus Tradition Grenzen überschreiten“. Autonomie und Fremdbestimmung an der Universität Leipzig. Ein Rückblick nach 2009 . . . . . . . . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Von der Gründung bis ins 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Begrenzungen trotzen: Die Entstehung aus der Prager Universität . . . . . . . . . . . . . 2.2 Grenzen überschreiten: Die Gründung der Universität Leipzig . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Horizonte erweitern: Die Zeit des Humanismus und der Reformation . . . . . . . . . . 2.4 Denkschranken überwinden: Das Bildungsideal der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Reform der Universität im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Das Land entwickeln: Umbrüche der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . 3.2 Der Wissenschaft dienen: Die ‚Welt-Universität‘ bis zur Weimarer Republik . . . . . 4. Eine deutsche Universität im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Grenzen akzeptieren: Die Zeit der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Ideale verraten: Die Leipziger Universität in der NS-Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Mauern errichten: Die Karl-Marx-Universität in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Grenzen öffnen: Die Leipziger Universität in der Wendezeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Barrieren überwinden: Die Universität Leipzig ab den 90er-Jahren . . . . . . . . . . . . 4.6 Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Archivbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weblinks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonstige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Martin Eichler: Aspekte universitären Selbstverständnisses im 19. Jahrhundert im Blick von Rektoratsreden und der 500-Jahrfeier der Universität Leipzig 1909 . 1. Die Inauguration der Leipziger Rektoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Der Rechenschaftsbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die Rektoratsrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Artikulationen des Selbstverständnisses der Universität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Freiheit der Wissenschaft und die akademische Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Zwecke der Universität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Einheit der Wissenschaft und die der philosophischen Fakultät . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katharina Middell: Die Universität Leipzig um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Selbstbild, Positionskämpfe, Deutungshoheit um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Diener der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Alte und neue Aufgaben: Universitätsideale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 „Atavismus“ oder „wichtigste Aufgabe“ – Die Rolle der Vorlesung . . . . . . . . . . . . 2.4 Wilhelm Ostwald und die „zwei Kulturen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 „Arbeitsuniversität“ als Auszeichnungskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Stellung der Universität Leipzig im Universitätssystem des Kaiserreiches im Spiegel der Berufungen (1871–1914) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die Kultusminister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Gewinne und Verluste: Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Gewinne und Verluste: München . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Andere Universitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Weitere bemerkenswerte Verluste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Felix Klein und die Geometrie. Was ist eine „vollberechtigte Wissenschaft“? . . . . 3.7 Verhinderte Wegberufungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Debatte um die Errichtung einer Universität in Dresden und die Implikationen für Leipzig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Landesuniversität“ und „Weltuniversität“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Der Ausgangspunkt: Die Krise der Tierärztlichen Hochschule in Dresden . . . . . . . 4.3 Die Protagonisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Die Vorgeschichte der Leipziger Denkschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Karl Bücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Büchers Denkschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Karl Binding und die Dresdner Universitätsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7 Die Denkschrift des Leipziger Akademischen Senats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Archivbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

199 199 199 201 207 207 233 257 266 268 268 276 276 278 282 283 286 289 295 303 305 313 319 320 324 326 332 339 339 341 345 347 349 353 360 362 367 367 368

Vorwort

Das hier vorgelegte Buch ist das Ergebnis eines an der Sächsische Akademien der Wissenschaften zu Leipzig durchgeführten und vom sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst geförderten Forschungsprojekts zum Thema: 1809 – 1909 – 2009: Ideeller und struktureller Wandel von Wissenschaft am Beispiel der Universität Leipzig. Die Hundertjahrfeiern der Universität Leipzig in diesen Jahren fallen grob mit strukturellen Umbrüchen der Institution Universität im gesamten deutschen Raum zusammen. Um diese Daten herum tritt ein jeweils neu und anders strukturierter Typus Universität auf, der insbesondere in seinen Arbeitsfeldern und Methoden variiert. Damit einher gehen tiefgreifende Veränderungen der Bedeutung der Universitäten für die Gesellschaft – und ein sich veränderndes Selbstverständnis. Ziel des Projektes war es deshalb, diese Veränderungen zu charakterisieren und ihre Bedingtheiten aufzuzeigen, zumal sie die Doppelfunktion der Universität betreffen, also ihren Forschungs- und Lehrcharakter gleichermaßen. 1809 manifestiert sich mit der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, der heutigen Humboldt-Universität, ein nicht nur im 19. Jahrhundert gültiges Verständnis von organisierter Forschung und Lehre, nach dem sich bald auch die sächsische Landesuniversität ausrichtet. Einhundert Jahre später erfordern veränderte Bedingungen erste größere Reformen: Staatsexamina werden eingerichtet und die Naturwissenschaften fordern ihre Ausgliederung aus der philosophischen Fakultät. Mit Umstrukturierungen reagieren die Universitäten einerseits auf die Differenzierung der Wissenschaften in Teildisziplinen sowie auf Anforderungen an die universitäre Ausbildung, die vorwiegend aus dem außeruniversitären Bereich an die Universitäten herangetragen werden. Gegenwärtig sehen sich die Universitäten wieder mit formalen oder inhaltlichen Forderungen konfrontiert, besonders in der Gestaltung der Ausbildung. Weiter ansteigende Studierendenzahlen und die Bologna-Reform nivellieren der Tendenz nach die Unterschiede der verschiedenen Hochschultypen und Bildungsvorstellungen in Europa wie auch in Deutschland – mit der doppelten Folge einer formellen Akademisierung auch von eher technischen Ausbildungsgängen und einer Verschulung universitärer Lehre durch Einführung von Bachelor-Studiengängen nach der massiven Erhöhung der Anzahl der Abiturienten und Stuudierenden. Die fünf Teile des Bandes blicken nicht nur aus verschiedenen Zeitperspektiven, sondern auch auf verschiedene Weisen auf die Idee und Institution der Universität. Nach der Einleitung zeigen Lars Osterloh und Pirmin Stekeler-Weithofer auf, wie sich die Debatte um die allgemeine Idee und Aufgabe der Universität zu Beginn des 19. Jhts. einerseits auf Platons Gedanken zur Rolle der Bildung in der Gesellschaft und damit bis auf die Antike zurückbezieht, andererseits einem neuen Verständnis der gebildeten Person verpflichtet ist. Diese orientiert sich im vollen Wortsinn – wie jede moderne Kunst und Wissenschaft – nicht etwa an der Entwicklung eines begrenzten Volkes, einer religiösen Gemeinschaft oder eines nationalen Staates, sondern an der globalen Leistung für die Entwicklung der Menschheit insgesamt. Die Tiefe der Person spiegelt damit sozusagen die Weite und Fülle ihres Selbst-

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Vorwort

verständnisses wider, und zwar gerade unter Anerkennung einer schon von Platon als wesentlich anerkannten hochkomplexen Arbeitsteilung. Nicht der Universalgelehrte, sondern wer in der Region seines speziellen Könnens und Wissens nicht bloß kompetent, sondern so perfekt ist, dass er Neues schafft, erfüllt das Bildungsideal der vollen Person. „Non multa!“ ist daher der Wahlspruch „philosophischer“ Bildung, wie sie der Erneuerung der Idee der Universität in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts und damit einer weltweiten Entwicklung zugrunde liegt. Wissenschaft verlangt vor diesem Hintergrund ein universales Ethos, das jede begrenzte Bindung („religio“) an eine Nation, Kirche oder Religionsgemeinschaft transzendiert. Eine nationale Kunst, nationale Wissenschaft oder eine nationale Ethik sind daher sich selbst widersprechende Begriffe, es sei denn, man bezieht sich nur auf die staatlichen Organisationen, welche es ihren Bürgern erlauben, an der Entwicklung globaler Kunst und allgemeinem Wissen teilzunehmen. Die volle Person geht daher in ihrer schon von Kant erkannten Weltbürgerlichkeit über den Citoyen als engagierten Staatsbürger hinaus. Die reale Entwicklung der Universitäten im Spannungsfeld zwischen Kirche und Staat, Religion und Politik, steht nun aber – scheinbar – in einem Gegensatz zur abstrakten Idee der Universität. Das zeigt die Synopsis von Bettina Kremberg in ihrer narrativen Geschichte der Universität Leipig von der Gründung bis zur Gegenwart – wobei im Kontrast zur großen Universitätsgeschichte von Kollegen Detlef Döring, Manfred Rudersdorf u. a. die Darstellung sozusagen aus der Perspektive der Zeit zwischen 1945 und 1992 und unter besonderer Berücksichtigung der Lage der Studierenden vorgenommen wird. Es geht in dieser Erinnerung nicht darum, Neues zu sagen, eher um die Vorstellung von Sichtweisen auf die Geschichte der Universität Leipzig, die angesichts des genannten Werkes und späterer Arbeiten wie die von Huttner, Lambrecht u. a. heute partiell als überholt gelten mögen, aber selbst zur Geschichte des Selbstbildes der Universität gehören. Es scheint aus dieser Perspektive so, als spielten die abstrakten Ideale und allgemeine Ideen am Ende bloß die Rolle rhetorischer Rechtfertigungen. Ob das wirklich so war und ist, soll hier nicht beurteilt, sondern nach Art des von Frau Kremberg veranstalteten Displays geschichtlicher Erzählungen auch als Hilfe zur Lektüre der folgenden Kapitel vergegenwärtigt werden. Der geäußerte Verdacht wird nämlich scheinbar erhärtet, wenn man mit Martin Eichler und Katharina Middell genauer auf die Selbstdarstellungen der Universität Leipzig um 1900 blickt, etwa auf Rektoratsreden und zivilreligiöse Jubiläumsfeiern, aber auch auf die für wirkliche Exzellenz wichtigen Entscheidungen staatlicher Lenkung, was sich gerade an den Beispielen der Entwicklung der Berliner Universiät und der Universität Leipzig im späteren 19. und frühen 20. Jahrhundert zeigt. Insgesamt ergibt sich, dass der rhetorische Rückgriff auf die Ideen Wilhelm von Humboldts und die „philosophischen“ Denkschriften und „abstrakten“ Reflexionen zu Wissenschaft und Bildung, Forschung und Lehre bei Schleiermacher, Fichte, Schelling und Hegel unter Umständen an deren wahren Bedeutung vorbeigeht. Wir haben heute vielleicht nicht zuletzt daher Probleme, uns im Nachdenken über Schule, höhere Ausbildung und universitäre Bildung zu orientieren. Zum Schluss des Vorworts sei noch ausdrücklich dem ordentlichen Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Prof. Heiner Kaden, gedankt, der als Vizepräsident der Akademie für das Zustandekommen und die Unterstützung des Projekts Wesentliches geleistet hat.

Pirmin Stekeler-Weithofer

Einleitung zur Spannung zwischen Selbstverständnis und Realität akademischer Institutionen1

1. Die Jahre 1909 und 2009 waren groß gefeierte Jubiläumsjahre der 1409 gegründeten Universität Leipzig. Die Reflexionen dieser Jahre könnten trotz ihrer Besonderheiten gut gewählt sein, um allgemeine Aspekte und Formen einer institutionellen Entwicklung im Allgemeinen am Beispiel der leipziger Universität aufzuzeigen. Wir begreifen das Allgemeine ja immer nur im Hin und Her zwischen paradigmatischen Prototypen und der sprachlichen Artikulation generischer Formen und Formveränderungen, so wie es ein stabiles Recht nur gibt im Hin und Her von Fallbeispielen eines ‚case law‘ und der sprachlichen Ausprägung von allgemeinen Regeln, Prinzipien und Gesetzen. Allgemeines Wissen und Wissenschaft gibt es insgesamt nur in der Verwandlung empirischer Fälle in eine allgemeine Erfahrung von Typen oder Formen, was über die Artikulation von Analogien zu Modellstrukturen und im guten Fall zu einem Wissen über Formen von Strukturveränderungen führen kann. Am Einzelfall lassen sich daher immer auch allgemeine Aspekte einer strukturellen Entwicklung aufweisen, in unserem Fall der akademischen Wissenschaft und Lehre. Die Vermutung, dass die Universität Leipzig dafür ganz gut taugt, stützt sich schon darauf, dass sie als zweitälteste Universität mit durchgehendem Lehrbetrieb im heutigen Deutschland kurz nach der Gründung der Universität Heidelberg mit dieser zusammen den frühen Anfang der geradezu explosiven Ausweitung des Universitätensystems im 15. Jahrhundert prägt und dann im 19. Jahrhundert neben der Berliner Universität als eine Art Muster für die reformierte deutsche Universität gilt. Man kann daher die Jahre 1409, 1809, 1909 und 2009 mit einigem Fug und Recht als Chiffren gebrauchen zur groben zeitlichen Markierung entscheidender Stufen der Herausbildung und Reflexion des deutschen Universitätssystems und damit der Entwicklung der Wissenschaft im deutschen Sprachraum. 1409 bedeutet insofern einen Bruch, als die Gründung der Universität Leipzig direkte Folge einer frühnationalen Hochschulpolitik des Königs und seiner Unterstützung des Reformers oder Revolutionärs Jan Hus gewesen ist. Im 15. Jahrhundert entdecken dann alle fürstliche Landesherren die Bedeutung der Universitäten für die höhere Bildung, besonders da die Theologie als allgemeine Pädagogik der religio, der Bindung der Einzelpersonen an das Allgemeine, 1

Ich danke Katharina Neef und Christian Schmidt für ihre wertvollen Zuarbeiten zu diesem Text anlässlich der 600-Jahrfeier der Universität Leipzig. Vgl. dazu auch Denkströme, Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Heft 5, 2010 (Leipziger Universitätsverlag), darin besonders die Texte von Martin Eichler, Derjenige ist ein Studierender, der eben studiert (mit positiver Besprechung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung); Wolfgang Fach und Franz Häuser, Homo studens. Was ihn erwartet, was er erwartet und was er erwarten darf; Manfred Rudersdorf, 600 Jahre Alma mater Lipsiensis. Zur Entstehungsgeschichte der fünfbändigen Gesamtgeschichte der Universität Leipzig; Wiebke Herr, Das ›Berliner‹ Universitätsideal Humboldts und die Jubiläumsliteratur der Universität Leipzig; Lars Osterloh, Besinnung und Begeisterung. Das Studieren nach Wilhelm von Humboldts Bildungsbegriff; und schließlich Martin Eichler, Die Wahrheit des Mythos Humboldt, Historische Zeitschrift 2012, Bd. 294, Heft 1, S. 59–78.

10 Einleitung zur Spannung zwischen Selbstverständnis und Realität akademischer Institutionen einen zunächst immer größer werdenden Einfluss auf die politische Entwicklung des Territoriums und Staates haben. Die Jahreszahl 1809 markiert dann die Zeit der Neujustierung und Modernisierung der deutschen Universitäten in Reaktion auf die Französische Revolution und deren – säkulare – Bildungsoffensive, wie sie sich in den Gründungen der Hautes Écoles niederschlägt. Vor dem Zusammenbruch Preußens 1806 waren freilich eher die Universitäten Jena (nicht zuletzt aufgrund des Einflusses Goethes) und Halle an der Saale (nach dem Wirken von Christian Wolff) neben Königsberg die relevanten Reformuniversitäten gewesen. 1809 steht so für die Humboldtschen Reformen, die in Parallele zu anderen Reformen in Preußen zur Zeit Napoleons zu verstehen ist. Die Universitäten werden von Ausbildungsstätten der traditionellen höheren Berufe in den Bereichen des Rechts, der Medizin, der religiösen Volkspädagogik oder Theologie dabei allererst in Orte der Forschung und damit einer je neu überprüften Lehre verwandelt – in einer Art Alternativkonzept zu den Hautes Écoles der Französischen Revolution. Konzeptionell am Anfang stehen neben den politischen Entwicklungen gerade auch ‚philosophische‘ Entwürfe wie die von Fichte, Schleiermacher, Humboldt, Schelling und Hegel. Es ist kein Zufall, dass diese auf Platons Erfindung akademischer Wissenschaft und wissenschaftlicher Bildung unter dem antiken Titel philosophia reflektierten. Bei aller Verschiedenheit sehen diese Autoren nämlich das gemeinsame Ziel darin, ein neues Konzept von Persönlichkeitsbildung, Universität und Wissenschaft zu entwickeln, und zwar gerade aus der Einsicht in die wechselseitige Bedingtheit dieser drei Bereiche. Eine Konsequenz war die Gründung der Berliner Universität in ihrer zukunftsträchtigen Form, in der sich – bei allen Defiziten, wie sie zu jeder Realisierung einer Idee gehören – die genannten theoretischen Überlegungen praktisch realisierten. In unserer Untersuchung zu den Stufen und Brüchen in der Entwicklung des universitären Bereichs der Institution Wissenschaft in bildungsbegrifflicher, institutionenhistorischer und wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht ist daher zu prüfen, ob und wieweit die Auseinandersetzung mit ‚philosophischen‘ Entwürfen wie z. B. anlässlich der Gründung der Berliner Universität für den großen wissenschaftlichen Erfolg der „deutschen“ Universitäten im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts mitverantwortlich waren – oder ob Rekurse auf die Philosophie bloß im Rückblick die Festreden ausschmückten. „1909“ steht dann für eine sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollziehende Entkoppelung von Lehre und Forschung, deren eindrückliches Signal die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ist, der Vorläuferin der Max-Planck-Gesellschaft. Die machtpolitischen Interessen sowohl des Staates als auch der trotz ihrer kapitalistischen Grundform national organisierten Wirtschaft, welche die Arbeits- und Güterteilung der bürgerlichen Gesellschaft bis heute in fast allen Belangen bestimmt, sind eng verbunden mit der Entwicklung von Technologie und Großindustrie, aber auch, umgekehrt, mit den Bedürfnissen der komplexer werdenden Naturwissenschaften an technischer Ausstattung. Das führt zur Entstehung von außeruniversitären Institutionen der Forschung. Es ergibt sich ein Spannungsfeld zwischen grundlegender Persönlichkeitsbildung und innovativer Grundlagenforschung auf der einen, technischen Anwendungen bekannter Verfahren und deren Verbesserungen auf der anderen Seite. „2009“ schließlich stellt eine Art Fluchtpunkt der Untersuchung dar. Das Jahr ist vorläufiger Endpunkt bzw. markierte Spitze eines Pfeils, der eine Richtung angibt und damit eine

Einleitung zur Spannung zwischen Selbstverständnis und Realität akademischer Institutionen 11

gewisse Aussicht auf eine zu erwartende Zukunft eröffnet: Ausgehend von der viel beredeten Krise der heutigen Universität, den Debatten über ihre Verschulung, der weiteren Entkoppelung von Forschung und Lehre und einer zunehmenden Dominanz technisch ausgerichteter Naturwissenschaften stellt sich die Frage, ob, und wenn ja, inwieweit die zu untersuchenden Probleme zur heutigen Situation geführt haben, wie es weitergehen soll und wie es wahrscheinlich weitergehen wird. Der historische Problemaufriss bildet so den Ausgangspunkt für drei systematisch angelegte Frageperspektiven, einer bildungstheoretischen, einer institutionengeschichtlichen sowie einer rezeptions- und wissenschaftshistorischen. Der erste Teil zur Bildungstheorie im Zusammenhang mit dem Konzept von Wissenschaft als Prüfung und Entwicklung allgemeinen Wissens (Osterloh/Stekeler-Weithofer) untersucht nun die Begriffe Wissen und Bildung in ihrer geschichtlichen Entwicklung, ausgehend von Platons Überlegungen zur Rolle akademischer Wissenschaft. Dessen Grundideen werden zu Beginn des 19. Jahrhunderts explizit wieder aufgegriffen. Die immer wieder neu vorgetragene Kritik am Philhellenismus der deutschen Intelligenz um 1800 übersieht regelmäßig dessen eigentlichen Gründe. Das von der Romantik und im so genannten Neuhumanismus fortgeführte Konzept beruht ja auf dem Gedanken der Bildung zum selbständigen Denken der Person durch Entwicklung von Kompetenzen des Umgangs mit einer Schriftkultur, die den wahren Rahmen aller expliziten und institutionell ausdifferenzierten Wissenschaftsentwicklungen darstellt. Es gibt daher eine unmittelbare Beziehung zwischen den Fertigkeiten des Lesens, Schreibens und der Beherrschung von Notationen mit der Entwicklung der Wissenschaften und der Universitäten: Die Akademiker sind sozusagen die Schriftgelehrten der Moderne. Philosophie wird zur Reflexion auf eine disziplinär gegliederte Wissenschaft und alle anderen Formen der Arbeitsteilung samt zugehörigem Ethos in einer globalen Kultur. Eine Spannung entsteht hier daduch, dass selbständig denkende Personen politisch nicht mehr einfach als Untertanen zu behandeln sind, dass ihre Geamtleistung aber bei guter Koordination eines gemeinsamen Wollens in allen Bereichen, vom Militär über die Verwaltung zur Wirtschaft, einer durch dirigistischen Zwang geleiteten Organisation überlegen ist. Im Militärischen zeigt sich die genannte Überlegenheit professioneller Selbstverantwortung übrigens zunächst in Bonapartes Feldzügen, gerade auch 1806 im Sieg über Preußen. Das militärisch nach französischem Muster reformierte Preußen ist nicht nur wegen der besseren Bewaffnung Österreich 1866 weit überlegen. Die Erziehung zur Selbständigkeit der Person ist Motor der Moderne. In ihrem ‚Republikanismus‘ liegt aber auch eine Gefahr für jede zentralistische Politik. Die Überlegenheit der freien Person als Forscher, Erfinder, Unternehmer, Künstler oder Pädagoge zeigt sich gerade auch in der rasanten Entwicklung der Wirtschaft und Gesellschaft in Großbritannien, den USA oder dann auch im Kontinentaleuropa des 19. Jahrhunderts. Es sind daher im Blick auf das sogenannte Bildungsideal Wilhelm von Humboldts wohl einige Mythen gerade auch zur Allgemeingeschichte des deutschsprachigen Bildungswesens und der gesamteuropäischen Entwicklungen aufzuheben. Im Akademischen steht dabei bis heute das Konzept wissenschaftlicher Bildung in einer gewissen Spannung zwischen der ‚Verwertbarkeit‘ der ausgebildeten Person und der freien politischen Mitbestimmung des gebildeten Bürgers. Die starke Ausdifferenzierung der Naturwissenschaften warf um 1900 die Frage nach der Vereinbarkeit von allgemeiner Persönlichkeitsbildung und speziellen wissenschaftlichen Fachkenntnissen auf. Die Ausdifferenzierung führte zu den bekannten wissenschaftsinter-

12 Einleitung zur Spannung zwischen Selbstverständnis und Realität akademischer Institutionen nen Spannungen zwischen Natur- und Geisteswissenschaftlern über die richtige Methode der Wissensgenerierung und Wissenspräsentation, der Ausbildung und Bildung, die durchaus auch die Frage nach der Bedeutung der Forscherpersönlichkeit berührte. Eine gewisse Kritik an der Ablösung des Wissens von personaler Bildung hat sich auch nach 1945 erhalten und wird von Autoren verschiedenster Couleur thematisiert, die sich aber nicht nur auf die Wissenschaft und auf den klassischen Bildungsbegriff beziehen. Ihnen ist gemeinsam, dass sie sich gegen die aktuelle Tendenz einer Bewertung von Wissen nach wissenschaftsexternen und rein quantitativen Kriterien wenden. In diesem Licht soll untersucht werden, wie sich die Universität Leipzig als wissenschaftliche Institution zu dieser Frage verhält. 2. Der zweite Teil zur Institutionengeschichte (Kremberg) umfasst die Vergegenwärtigung und Aufarbeitung der institutionellen Veränderungen im deutschen Universitätssystem im Allgemeinen und an der Universität Leipzig im Besonderen. Die zentrale Fragestellung in diesem Zusammenhang ist, welche besonderen institutionellen Bedingungen dazu beitrugen, die deutschen Universitäten als „Forschungsuniversitäten“ Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts zu den weltweit führenden, zunächst jedenfalls erfolgreichsten, Einrichtungen ihrer Art werden zu lassen. Zu berücksichtigen ist dabei, dass es aus systematischen und historischen Gründen kein eindeutiges Kriterium für den ‚Erfolg‘ einer Universität geben kann, zumal es immer auch auf das Gesamtsystem des Bildungswesens und nie bloß auf einzelne Leuchttürme ankommt. Die weltweiten Universitätenrankings artikulieren daher möglicherweise nur erst subjektive Vorlieben besonders auch in Bezug auf die Unterrichtssprache. Offen bleibt, wie ernst diese Rankings für die Beurteilung wissenschaftlicher Leistungen zu nehmen oder eher als Werbemittel für die immer wichtiger werdenden public relations derjenigen Universitäten zu betrachten sind, die sich ähnlich wie die privaten teilweise durch die Gebühren für ihr Ausbildungsangebot finanzieren. Die Debatte um die institutionellen Rahmenbedingungen, die für den wissenschaftlichen Erfolg der deutschen Universitäten verantwortlich waren, ist freilich umfangreich und langwährend. Im Fokus des Teilprojekts stehen dabei Erinnerungen an Einheit von Lehre und Forschung und die Bedeutung und Funktion der universitären Autonomie in ihrer teils konfliktreichen, teils konformistischen, manchmal sogar unterwürfigen, Beziehung zur regierenden Gewalt im Staat oder zu einem Populismus öffentlicher Mehrheitsmeinungen in der Gesellschaft. Darüber hinaus ist die Frage von Interesse, inwieweit die Spannung zwischen einer – idealtypisch gesprochen – ‚romantischen‘ bzw. ‚neuheumanistischen‘ Bildungsideologie und einem positivistischen Wissenschaftsverständnis institutionell Niederschlag gefunden hat, ob diese beiden Extrempositionen schon überwunden oder noch immer erst zu überwinden sind. 3. Alles allgemeine Wissen, besonders auch das Wissen über die Entwicklung institutioneller Formen menschlicher Kooperation wie der einer inzwischen weltweit vernetzten Wissenschaft, ergibt sich aus Kanonisierungen passend gewählter Prototypen oder der Konstruktion von Ideal- oder Stereotypen. Statistische Daten dienen der Stütze für solche Setzungen. Dabei ist zwischen einer sich auf bloße Anekdoten stützenden und damit vorschnell verallgemeinernden und einer durch allgemeine Erfahrung gesättigten Typisierung von Fällen wie in einer vernünftig begriffenen Evidenzbasierung zu unterscheiden. Logisch gesehen ist aber auch der Übergang von relativen Häufigkeiten zu probabilistisch verfassten Prognosen mit apriorisch gesetzten Wahrscheinlichkeits- oder Erwartungswerten selbst bloß ein Übergang von einem Einzelfall zu einer Verallgemeinerung. Sie

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ist also in gewisser Weise immer noch von der gleichen Form wie die Verwandlung eines konkreten Falles zu einem prototypischen Repräsentanten eines generischen Falltyps. Nur werden jetzt beobachtete relative Häufigkeiten in generische Daumenregeln für empfohlene Häugigkeitserwartungen verwandelt. Eine solche Verwandlung ist, wie schon Hegel sieht, eine Setzung. Sie wird erst in allgemeiner Anerkennung kanonisch, kann daher, nicht anders als verbal ausgemalte Idealtypen, von Einzelpersonen nur erst zur allgemeinen Orientierung vorgeschlagen bzw. gerechtfertigt, nie einfach ‚als wahr bewieen‘ werden. Relativ feste Begriffe und Ideen gibt es also, heißt das, erst in transsubjektiven Kanonisierungen allgemeinen Wissens über generische Formen und Typen. Die Setzungen selbst sind damit sozusagen kompromissförmige Befriedungen des Streits um Anerkennung, so dass, wie mit Heraklit schon Platon sieht, der Streit zur dialektischen Methode gehört, die in allen institutionellen Fragen allein einen Weg von der bloß erst subjektiven Erfahrung der doxa zum ‚allgemein Richtigen‘ der episteme darstellt. 4. Im Teil zur Reflexionsgeschichte der Universität (Eichler, Middell) stehen dann zwei Fragen im Vordergrund: Zum einen interessiert uns, wie die Universität Leipzig sich selbst und dann auch einer externen Öffentlichkeit im Appell an ideale Leitlinien präsentiert. Zum anderen ist nach Veränderungen und Umdeutungen im Lauf der Geschichte zu fragen. Ein besonderes Augenmerk richtet sich darauf, ob, wann und welche der gemeinhin Wilhelm von Humboldt zugeschriebenen Ideale aufgegriffen werden, z. B. forschendes Lernen, Bildung durch Wissenschaft, Philosophie als übergeordnete Einheit, ‚Einsamkeit‘ des Forschers und ‚Freiheit der Wissenschaft‘ usw. Inwiefern kommt es zu einer Verknüpfung verschiedener Arten von Idealen, etwa in der Bildung und in der Forschung? Welche Rolle spielen dabei Rangstreitigkeiten verschiedener Disziplinen? Zum anderen wird am Beispiel der Universität Leipzig gezeigt, in welchem Verhältnis Bildungs- und Wissenschaftsideale zu strukturellen Entwicklungen und Veränderungen der Gesellschaft stehen und inwiefern Strukturreformen, die heute gern als Umsetzung ‚humboldtscher‘ Ideen gesehen werden und auf die man sich auch damals berief, ihnen tatsächlich entsprechen. Damit ist die Frage verknüpft, ob man in ihrem Zusammenhang überhaupt bildungsideelle Diskussionen findet. Oder stehen im Gegenteil ganz andere Argumente und Notwendigkeiten im Vordergrund? Inwiefern treten evtl. auch Unterschiede zwischen einer naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Wissenskultur zu Tage? 5. Die Hundertjahrfeiern der Universität Leipzig 1809, 1909 und 2009 fallen also, grob gesehen, mit strukturellen Umbrüchen der Institution Universität im gesamten deutschen Raum zusammen. Um die genannten Jahreszahlen herum treten neue Strukturformen der Universität auf. Parallel dazu entwickeln sich gewandelte Selbstverständnisse sowie Veränderungen der Bedeutung der Universitäten für die Gesellschaft. Diese Veränderungen sind nicht einfach zu charakterisieren und ihre wechselseitige Bedingtheit aufzuzeigen. 1809 laufen die Planungen zur Gründung der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin, der heutigen Humboldt-Universität. Diese Institution manifestiert einen prototypischen Fall für das über das 19. Jahrhundert und Deutschland weit hinausreichende Verständnis von organisierter Forschung und Lehre, genauer, von Lehre aus Forschung bzw. von Lehre in der Form der Einführung in das selbständige Forschen, statt als bloß verbales Lehren von Texten aus Kompendien, wie das in der ‚alten‘ Universität vor der Jahrhundertwende um 1800 noch überall üblich war, trotz des langsamen Beginns der Experimentalwissenschaften. An den

14 Einleitung zur Spannung zwischen Selbstverständnis und Realität akademischer Institutionen neuen Mustern der universitären und akademischen Arbeitsweise richtet sich bald auch die sächsische Landesuniversität Leipzig aus. Einhundert Jahre später erfordern veränderte Bedingungen erste größere Reformen: Staatsexamina werden eingerichtet und die Naturwissenschaften fordern ihre Ausgliederung aus der philosophischen Fakultät. Mit Umstrukturierungen reagieren die Universitäten einerseits auf die Differenzierung der Wissenschaften in Teildisziplinen, andererseits auf höhere Anzahlen an Studierenden sowie auf Anforderungen an die universitäre Ausbildung, die vorwiegend aus dem außeruniversitären Bereich an die Universitäten herangetragen werden. Es wird das Kaiser-Wilhelm-Institut gegründet, als Vorläufer unserer heutigen Max-PlanckInstitute und anderer außeruniversitärer Forschungseinrichtungen. Zunächst freilich bleibt diese Gründung sachbezogen und stellt keine strukturelle Gefahr für die Idee der Universität als der zentralen Einrichtung für akademische Forschung dar. Inzwischen hat sich das verändert. Die Quantität und Qualität der außeruniversitären und doch weitgehend vom Staat finanzierten Forschung stellt in vielen Bereichen die universitäre Forschung in den Schatten. Dabei galt es noch in den 1970er Jahren in der alten Bundesrepublik als selbstverständlich, dass die Forschung an den westdeutschen Universitäten strukturell denjenigen Ländern überlegen ist, in denen – wie in der Sowjetunion, der damaligen DDR und im heutigen Russland – die Forschung im Wesentlichen an nationalen Akademien der Wissenschaften stattfindet. In solchen Akademien, die von unseren heutigen deutschen Länderakademien wesentlich unterschieden sind, wird die Forschung getragen von lebenslang angestellten Forschungsprofessoren mit keiner oder kaum relevanter Lehrverpflichtung. Der Grund für die Negativbeurteilung der Akademien ‚russischen Typs‘, wie man kurz und knapp sagen könnte, war damals noch klar: Nur Lehre aus Forschung und Forschung aus Lehre liefert die nötige Innovationskraft samt der Kontrolle der Forschenden durch die nachwachsende Generation. Das ‚russische‘ Akademiesystem erweist sich bis heute tatsächlich als nicht allzu wettbewerbsfähig. Dennoch rechtfertigt es sich, wie jeder aufmerksame Besucher Moskaus oder St. Petersburgs hören kann, unter anderem durch den Hinweis auf das Max-Planck-System in Deutschland. Das sollte zu denken geben. Ohne dass wir es gemerkt haben, ist man in unserem Land in den letzten Jahren offenbar von der Einsicht abgerückt, dass die Universität kein Ort bloß der theoretischen Lehre, sondern der Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten ist und bleiben muss. Der Konsens, dass für eine effektive Forschung nur ‚akademieartige‘ außeruniversitären Einrichtungen sinnvoll seien, hat den anderen Konsens verdrängt, nach welchem Forschung sich aus Lehre und Lehre aus Forschung an der Universität zu entwickeln habe. Damit befindet sich die Idee der Universität auf dem Rückzug. Heute wird auch bei uns, wie in Frankreich, die Universität nur als zweitklassige Form der höheren Ausbildung etwa für Pre- und Post-Docs weitergeführt. Die erstklassige Form der Ausbildung zum Forscher erhält man nur noch an außeruniversitären Einrichtungen – oder an so genannten Elite-Universitäten. In solchen sollen sich Zentren etablieren, die am Ende – das ist für einen Betrachter aus einer entsprechenden Entfernung durchaus schon zu sehen – selbst die Form einer akademieartigen Einrichtung ‚russischer Art‘ annehmen. Das alles heißt auch, dass es möglicherweise eine Illusion ist zu glauben, die neu zu schaffenden deutschen ‚Elite‘-Universitäten könnten je mit amerikanischen oder britischen konkurrieren. Die systemische Ursache für diese Illusion liegt darin, dass man in unserem Land die Fichte-Humboldt-Idee der Universität gerade verabschiedet, wie sie noch immer

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leitende Form der Institutionen sind, die man scheinbar kopieren möchte. Das gilt für die Universitäten Oxford und Cambridge ebenso wie für Stanford, Princeton oder Berkeley. Selbstverständlich gibt es Verbindungen und Verknüpfungen zwischen Universitäten und außeruniversitären Instituten, etwa in der Form von Doppelberufungen und von sogenannten An-Instituten. Das Problem ist nicht die außeruniversitäre Forschung per se. Das Problem besteht erstens in der Unterfinanzierung der Universitäten durch die Länder, zweitens in der ‚Akademisierung‘ der Ausbildung durch Austrocknung anderer Bildungsgänge (gerade auch über die Verwandlung von Fachhochschulen in ‚Universitäten‘) und durch den so erzeugten Sog der Studierenden in die Universitäten, drittens in der Finanzierung einer Vielzahl von Sonderprogrammen durch den Bund. Die Folge ist eine Tendenz, dass sich Forschung von Lehre und Ausbildung von Bildung trennt. An die Stelle einer breiten Fachdebatte und der Beurteilung der Qualität der Forschung durch den wissenschaftlichen Nachwuchs – auch in dessen Abstimmung mit den Füßen – tritt mehr und mehr eine bürokratische Evaluation von Lehre und Forschung durch relativ wenige Wissenschaftsmanager oder Meinungsmacher. Es mag übertrieben sein, wenn der bekannte Biologe und Ameisenforscher Hölldobler meint, die Leistungskraft einer einzigen echten Spitzenuniversität in den USA wie Harvard wiege das ganze Max-Planck-System auf. Hölldobler, der inzwischen aus Würzburg in die USA zurückgekehrt ist, weist aber immerhin auf die Gefahr hin, dass die nötige Modernisierung des deutschen Universitätssystems systemisch daran scheitern könnte, dass Spitzenforscher aus ihm abgezogen werden, ohne dass damit die Forschungsleistung des Landes wirklich so profitierte, wie man sich das erhofft oder wie es die möglichen Leistungen entsprechend gut ausgestatteter Universitäten je aufwiegen würde. Das Argument ist sicher schwierig zu evaluieren, da es eine bloße Möglichkeit der zufälligen Realität gegenüberstellt und wir nur zu der letzteren einen direkten empirischen und das heißt immer: historischkonstativen Zugang haben. Eine institutionelle Reflexion steht dabei im Rahmen des Nachdenkens über mögliche Alternativen zu den faktisch gefällten wissenschafts- und bildungspolitischen Großentscheidungen und den immer auch zufälligen Entwicklungen, wie sie sich durch wechselnde politische Mehrheiten in der Meinungsbildung ergeben. Es könnte daher sein, dass wir tatsächlich gerade dabei sind, die Idee der deutschen Universität zu begraben, indem wir sie nicht mehr verstehen, und zwar aufgrund eines längst verbreiteten, aber kaum durch die Sache selbst informierten, Geredes über den schon erfolgten Tod des Humboldtideals von höherer Bildung und Universität. Gegenwärtig sehen sich die Universitäten jedenfalls mit formalen oder inhaltlichen Forderungen zur Gestaltung bloß noch der Lehre, der wachsenden Studierendenzahlen und einem vermeintlich ansteigenden Bedarf an formellen Absolventen universitärer Ausbildung konfrontiert. Im Kontrast zu Ansprüchen nach disziplinärer Kanonisierung der Lehre gerade auch in der Form konsekutiver Studiengänge gibt die Forschungsförderung eher gegenläufige Impulse einer interdisziplinären Vernetzung – samt der Einführung wissenschaftsexterner Evaluationsstandards im Blick auf einen vermeinten unmittelbaren Nutzen in aktualen Anwendungen des erlernten Wissens. 6. Als die Leipziger Universität 1909 ihr 500-jähriges Bestehen feierte, stand sie auf dem Zenit ihrer Reputation. Hundert Jahre zuvor hatte Wilhelm von Humboldt die preußischen Universitäten zu reformieren begonnen. Genauer, Humboldt hat als Staatsminister die Gründung

16 Einleitung zur Spannung zwischen Selbstverständnis und Realität akademischer Institutionen der Berliner Universität teils nach französischen Vorbildern, teils nach dem Muster der Reformuniversitäten Halle und Jena veranlasst und vor dem Hintergrund von Denkschriften wie denen Friedrich Schleiermachers aus Halle und Johann Gottlieb Fichtes aus Jena ein bis heute wirksames Wissenschaftsideal formuliert. Dieser Idee oder diesem Ideal zufolge soll Wissenschaft zum Muster kreativer Tätigkeit überhaupt werden, also sowohl im Bereich der Kunst und Kultur, als auch im Bereich des technischen und naturkundlichen Wissens. Bildung an der Universität ist dann weder bloß als Ausbildung für einen ‚Brotberuf‘ konzipiert, wie man damals sagte, noch bloß als Bildungsbürgerbildung, wie partiell im bürgerlichen Neuhumanismus des späteren preußisch-deutschen Reiches mit ihren ‚Mandarinen‘, wie Fritz Ringer die gesellschaftlich bevorzugten Professoren bezeichnete, oder gar als nationale Bildungsideologie. An einer entsprechend kritischen Rekonstruktion wissenschaftsphilosophischer Diskurse zur Zeit Humboldts (1809), im Wilhelminismus (1909) und in unserer Zeit (2009) lassen sich daher Trends erkennen und als Probleme der Entwicklung des „Unternehmens Wissenschaft“ in den letzten 200 Jahren formulieren. Die drei Jahreszahlen können daher in der Tat, wie sich zeigt, recht gut als Chiffren dreier Verständnisse und Rahmenbedingungen von Wissenschaft gelten: Änderte sich die institutionelle Verfasstheit von Wissenschaft um 1809 und in Verbindung damit auch deren ideelle Verfasstheit, so treten uns 1909 eine strukturell scheinbar identische, doch im Detail und intern völlig gewandelte Universität und damit ein veränderter Handlungsrahmen für die Akteure der Wissenschaft gegenüber. Im 20. Jahrhundert reagierte die Wissenschaft auf grundlegende Veränderungen des gesellschaftlichen Umfelds durch ideelle wie strukturelle Veränderungen. Das Verständnis dessen, was Wissenschaft sei und zu leisten habe, ist diachron und auch synchron entlang der disziplinären und fakultären Grenzen immer neu formuliert worden; Wissenschaft formierte sich also unter sich ändernden Voraussetzungen immer wieder neu. Zu den strukturellen Veränderungen ist gerade auch die Entwicklung der Universität zum Massenbetrieb zu zählen, und zwar sowohl auf Seiten der Studierenden, als auch der Administration, leider weniger im Bereich des forschenden Lehrpersonals.2 Die Folgen dieser Entwicklung sind nicht nur universitätsintern bedeutsam, sondern betreffen die gesamte gesellschaftliche Öffentlichkeit: Der signifikante Anstieg der Studierendenzahlen erhöht automatisch den Anteil akademisch Gebildeter in der Bevölkerung und bedeutet zugleich, dass der außeruniversitäre Beschäftigungssektor für Akademiker in den letzten 200 Jahren wesentlich gewachsen sein muss. Dabei ist freilich klar, dass sich allein durch die Gleichstellung von Männer und Frauen der Anteil grob verdoppeln musste. Aber es blieb ja keineswegs bei diesen Prozentzahlen. Ein grober Vergleich der Publikationen und Forschungsinteressen entlang der drei zeitlichen Fixpunkte zeigt deutlich auch inhaltliche sowie formale Verschiebungen. Im Jahre 1809 war die Universität noch dem klassischen Aufbau in die philosophische Basisfakultät und die drei Fachausbildungen Theologie, Jura, und Medizin verpflichtet. Zentraler Teil des studentischen Curriculums war die kritische Argumentation, die freilich immer auch in scholastische Sophisterei abgleiten konnte. Im Laufe des 19. Jahrhunderts kam eine Methode hinzu, die 2

Zur Orientierung am Beispiel der Universität Leipzig: Aus 34 Ordinarien (1822) wurden 67 (1908/09) und letztendlich 225 (2005). Die Studentenzahlen entwickelten sich weitaus stärker: von unter 1.000 (1822) auf knapp 4.500 (1908/09) bis hin zu 30.000 (2005).

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zuvor kaum Teil universitärer Praxis war: die experimentelle Methode, die Naturbeobachtung und die Statistik. Die Blütezeit der Naturwissenschaften beginnt im 19., die der empirischen Sozial- und Medizinforschung im 20. Jahrhundert. In den Geisteswissenschafen explodiert das Interesse an historischer, damit auch philologischer und regionalwissenschaftlicher, Forschung. Um 1900 herum beginnt die Reifezeit der Technikwissenschaften. Im Zuge dessen erstarkte auch das praktische Interesse an den Forschungen zu den Grundlagen der Technik, so dass um 1909 zwei völlig gegenläufige Interessen und Prämissen wissenschaftlicher Arbeit – gern auch in einer Person – existieren: Zwar wird die Freiheit der Forschung betont und damit das Bekenntnis zur nicht verwertungsorientierten Grundlagenforschung gemacht; gleichzeitig aber ist die direkte Anwendung wissenschaftlicher Forschung auf das (individuelle wie gesellschaftliche) Leben zentraler Punkt des forscherischen Selbstbekenntnisses. 7. Das Beharren auf einem allgemeinen Praxisbezug bei gleichzeitiger Verweigerung einer allzu unmittelbaren ökonomischen Verwertungslogik gehört zur Formidee von Wissenschaft, übrigens nicht anders als von Literatur und Kunst. Sie findet sich daher ebenso in den Geistes-, Natur-, Technik- oder Sozialwissenschaften. Die Folge ist, dass es eine Daueraufgabe bleibt, in den Debatten um die Forderung „unmittelbarer Anwendbarkeit“ im Gegensatz zu einer reinen Grundlagenforschung die jeweils sinnvolle Mitte zu halten. Es ist dabei nicht bloß der Aspekt der Anwendbarkeit im Rahmen geforderter „Drittmittelfinanzierung“, der das Problem ausmacht. Es ist die Ersetzung eines sich selbst steuernden Systems von Forschung und Lehre durch ein administrativ geleitetes System verbaler Eliteforschung und verbaler Lehrexzellenz. Übersehen wird, dass verbale Bewertungen, auch durch so genannte Peer Groups und über quantitative Kennziffern, möglicherweise nicht gut genug sind und dass auch ökonomische Kriterien nicht ausreichen. Übersehen wird insbesondere, dass hinter allen Kennziffern am Ende bürokratische Verfahren stehen. Aus dem Blick des Selbstverständnisses der westdeutschen Universität nach 1945 bzw. 1949 hat daher nach 1989 nicht, wie man vermuten würde, eine Ausweitung westdeutscher Ideen stattgefunden, sondern es werden administrative Ideen der Zentralplanung über diverse quantitative Rankings und Verfahren der Zentrumsbildung implementiert. Das alles gilt, wie in Frankreich, nicht nur in den traditionell anwendungsnäheren Technikwissenschaften, die seit über hundert Jahren mitunter enge Beziehungen zur Wirtschaft pflegen, sondern gerade auch in der Grundlagenforschung der Naturwissenschaften. Auch von Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften wird fundraising im großen Stile verlangt – was bedeutet, dass man über die zentrale Administration der – zugegebenermaßen formal durch die Wissenschaftler selbst verwalteten DFG – die Hochschullehrer kontrolliert oder wenigstens konformiert, also an die formellen Wettbewerbe anpasst. 8. Etwas plakativ können wir hier folgende Wandlungen der Wissenschaftsideale unterscheiden, wobei klar ist, dass diese „Idealtypen“ bei genauerer Betrachtung zeitlich oder gar inhaltlich immer auch ineinandergreifen. Zunächst haben wir den freien Humboldt-Typus. Er ist gekennzeichnet durch die zum Teil komplementären Ideen Fichtes und Schleiermachers, für welche die Universität der Ort der Bildung von Selbständigkeit ist – und zwar gemäß einem freien Ethos des Wissens und der teils kooperativen, teils kompetitiven Teilnahme am Projekt der Entwicklung von Wissenschaft. Es ist dies das ‚philosophische‘ Projekt der Wissenschaft, das durchaus zu Unrecht als „idealistisch“ verunglimpft wird. Ebenso falsch sind die üblichen Schlüsse aus der Beobachtung, dass viele Universitätsabsolventen Staatsdiener

18 Einleitung zur Spannung zwischen Selbstverständnis und Realität akademischer Institutionen werden: Für Juristen ist das klar, wenn sie etwa Richter werden, ebenso für Lehrer in einem dynamisch wachsenden und vom Staat infrastrukturell entwickelten Schulsystem. Das hat aber mit der Zielsetzung der Fichte-Humboldt-Universität per se nichts zu tun. Über den theoretischen Typ gelangen wir zum technischen Typ, in dem sich der Erfolg direkt in einem technischen Können zeigt, so dass es weiterer evaluierenden Instanzen als der ökonomischen Nachfrage hier nicht bedarf. Ein Denkfehler der Gegenwart scheint nun in der Meinung zu bestehen, ökonomie-analoge Bewertungen seien auch für nicht-technisches Wissen immer sinnvoll. Man erzeugt sie aber sozusagen künstlich, nämlich auf administrativ-bürokratische Weise. Es entstehen so allerlei pseudo-ökonomische Rankings und damit ein im Grunde ferngesteuerter Typus abhängiger Forschung und Lehre. Früher stimmten Studierende und Wissenschaftler über die Qualität einer Universität sozusagen mit den Füßen ab. Heute wird diese ‚reale‘ Abstimmung durch die bloß ‚verbale‘ von Kennziffern gesteuert. Mit der Autonomie der lokalen Kontrolle der Qualität von Lehre und Forschung kann aber am Ende auch die Qualität selbst beeinträchtigt werden. Es entsteht zumindest ein unglücklicher Konformismus. Etwas plakativ, also übertrieben, formuliert: die Evaluationsverfahren bevorzugen modische Themen mit hoher Nachfrage und bewerten Publikationen mit großer Auflagenerwartung. Das bürgt allein noch keineswegs für Qualität, schon gar nicht für Innovation, wie sich direkt an der Bücher- und Zeitschriftenlandschaft sehen lässt. So wie sich Spezialbuchhandlungen und Fachverlage radikal vom Bahnhofsbuchhandel unterscheiden, so auch die Lesefertigkeit und das Verstehen des entsprechenden Publikums. In ‚normalen‘ Buchhandlungen und Stadt(teil)bibliotheken sind im Grunde alle Bücher, auch Romane über Liebe, Abenteuer und Kriminalfälle, in ihrer Grundform nicht anders als die Sendungen des Fernsehens sozusagen Ratgeber für das Volk, manchmal verpackt in fiktionaler Literatur. Es werden allgemeine Meinungen und Erkenntnisse ähnlich narrativ vermittelt wie in der Kirche anhand eines festen Mythos oder Kanons den Laien gepredigt wird. Ein tieferes Wissen und argumentative Auseinandersetzungen über Inhalte finden sich hier kaum – zumal die Sprache bei hohen Auflagen sozusagen berichtendes Einfachdeutsch sein muss und man die akademischen Präzisionsprachen nur dem technischen Bereich zugesteht. Wie problematisch es ist, das entsprechende Gefälle an Bildung und Wissen in der Gesellschaft nicht wirklich ernst zu nehmen, zeigt sich an einem Populismus, der sich gegen vermeintliche akademische Eliten stellt und an die Stelle geprüften Wissens intuitive und damit häufig veraltete Meinungen setzt. Aber auch die entsprechenden quantitativen Rankings wissenschaftlicher Qualität wären in ihrer tiefen Problematik, nämlich als bloße Mehrheitsmeinungen, zu erkennen. Mode und echte Innovation sind nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Wissenschaft klare Gegenbegriffe. Sie waren es immer und sie werden es immer sein. Ohne eine gewisse Elite mit ihrer besonderen Expertise und Professionalität gibt es daher, wie schon Platon sieht, kein wissenschaftliches Wissen. Diese Einsicht steht auf interessante Weise in der Bewegung der ‚Fridays for future‘ im Zentrum, so dass man diese als Aufstand gegen eine gewisse Form der Wissensverachtung verstehen kann. Andererseits kann es keine allgemeine Anerkennung professioneller Wissensansprüche geben ohne ein berechtigtes Vertrauen in die Kompetenz und ethische Integrität der entsprechenden Eliten. Daher kann man die Ausbildung zu Wissenschaftlern nicht von ihrer Bildung zu vollen ethischen Personen trennen. Es bleiben Wissenschaft und Politik, auch Ästhetik und Ethik, eng verzahnt.

larS oSterloh und Pirmin Stekeler-Weithofer

Wissenschaftliche Bildung in idealer Konzeption. Ideen um 18091

1. Wissen, empirische Erkenntnis und Bildung 1.1 Eine begriffliche Vorerwägung Im Vergleich zu den sachbezogenen Wissenschaften geht es philosophischer Reflexion um ein Wissen über den allgemeinen Zielsinn von Institutionen und Kooperationsformen, insbesondere soweit sie den Rahmen für Sachwissen bilden, das als geschichtlich entwickelte verbale Lehre und technische Praxis weit über die bloß evolutiv entwickelte Kognition von Tieren hinausgeht. Wissen ist immer Wissen von Möglichkeiten, nicht bloß empirische Erkenntnis von präsentisch Gegebenem wie im enaktiven Unterscheiden von Tieren. Nur auf der Basis einer vollen Sprache, die aufgrund ihrer Repräsentationen möglicher Sachen weit über die bloßen Signalsprachen von Tieren hinausgeht, entsteht wissende Erkenntnis. Dabei sind es die Worte, welche die Differenzierungen mit Normalfallinferenzen und Standarddispositionen verbinden. Die Bescheidenheit, die wir in den Wissenschaften immer wieder einfordern müssen, hängt dabei wesentlich an der unaufhebbaren Allgemeinheit generischen Wissens und begrifflicher Folgerungen. Es gibt einen verbreiteten Aberglauben über das, was Intelligenz sei. Landläufig gelten Rechenkünstler und gute Schach- oder Go-Spieler als Meister strategischen und damit intelligenten Denkens. Als daher vor Jahren Schach- und Go-Computer gegen Großmeister gewannen, fühlte sich das Vorurteil der Schönen Neuen Digitalwelt bestätigt, künstliche Intelligenz könnte am Ende der menschlichen überlegen werden. Richtig an dem Vorurteil ist dieses: Ein gutes Kurzzeitgedächtnis und die Fähigkeit, Schemata exakt und schnell genug zu reproduzieren, sind Voraussetzungen dafür, Sprache in ihrer syntakto-semantischen Komplexität gut und schnell zu verstehen und zu gebrauchen. Als Paradigma dafür, dass eine Person viel weiß, gilt der Quiz-Champion, der auf alle Fragen geradezu enzyklopädisch antwortet. In dem verrückten Buch „In Schwimmenzwei-Vögel“ („At swim-two-birds“) von Flann O’Brien gibt es dazu eine ironische Liste des Wissens, die von der Höhe der großen Pyramide in Gizeh (450 Fuß) über den längsten Psalm der Bibel (der 119.) zu „Saburra, eine körnige Ablagerung in der Magengrube“ und das „Duodenum, den ersten Abschnitt des Dünndarms“ führt (Das große Flann O’Brien Buch, hg. v. Harry Rowohlt, Haffmanns Verlag 1996, S. 274–277). Als bloßer Gedächtniskünstler taugt ein Savant, das zeigt die Passage, zunächst nur für Quiz-Shows, Sudokus und Kreuzworträtsel. Historisches und terminologisches Wissen ist dennoch auch Voraussetzung schneller sprachlicher Informationsweitergabe. Volles Wissen ist jedoch auch hier 1

Dieser Text ist eine gemeinsam stark überarbeitete und thematisch angepasste Version eines Teils der Dissertation: Lars Osterloh, Die Bildung der Person. Eine ideengeschichtliche Analyse über Umfang und Grenzen des Bildungsbegriffs, Würzburg 2015. Wir danken dem Verlag Königshausen und Neumann für die Freigabe.

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Umgang mit dem so Gelernten, nicht einfach dessen Reproduktion im „auswendig Hersagen“. Gerade ein Rechnen wird erst sinnvoll, wenn man auf der Basis allgemeinen Wissens über das in Normalverfahren Messbare mit Maßzahlen allgemeine Folgerungen berechnet – und dabei um die Grenzen des Mess- und Berechenbaren weiß. Heisenbergs Unschärferelation liefert z. B. auf der Basis der Planck-Konstante h sozusagen ein absolutes Maß für die Differenz zwischen einem idealmathematischen Punkt und einer immer ausgedehnten Orts-Stelle im realen Raum bzw. zwischen einer idealhypothetischen Lokalgeschwindigkeit (als Tangentensteigung in einem Punkt) und den realen Möglichkeiten messender Bestimmung von lokalen Bewegungsformen und Relativbeschleunigungen (die das Teilchenmodell übrigens schon voraussetzen). Einsteins Relativitätstheorie hatte zuvor schon die absoluten Grenzen einer überräumlichen Zeitbestimmung und damit die Grenze des idealmathematischen Modells cartesischer Kinematik mit ihrem ortsunabhängigen Zeitstrahl artikuliert. Man erkennt bis heute oft nicht, dass es sich hier um ideale Modellierungen realer Grenzen des einfachen Raum-Zeit-Modells handelt, das als Euklidische Geometrie von der Quaderform herstammt – mit ihren (auch diagonalen) Teilungen und Zusammenlegungen wie in Tangram-Spielen mit ebenen Flächen. Übrigens zeigt Einsteins Kritik an den stochastischen Modellen der Quantenphysik Bohrs, Heisenbergs und Schrödingers, dass er die grundbegrifflichen Probleme selbst noch nicht erkannt hat – obwohl u. a. schon Max Born auf die methodischen und modelltheoretischen Verwandtschaften hingewiesen hatte. Die Suche nach Modellierungen mit ‚hidden variables‘ (als Folge der Arbeit ‚Einstein-Podolsky-Rosen‘ und des ‚EPR-Paradoxes‘) ähnelt der Form nach der Suche von Euler nach einem druck-undstoß-mechanischen Hintergrundsmodell für Newtons Gravitation – wobei Le Sage mit der genialischen Idee superschneller Partikelstöße im All arbeitet, die von der Sonne so abgeschattet werden, dass die entsprechende Anziehung der Planeten als Scheinkräfte entstehen. Newtons berühmter Spruch „hypotheses non fingo“ bezieht sich ausschließlich auf die Zurückweisung derartiger Zusatzmodelle. Er hält sie (zunächst) für überflüssig und unausgewiesen. Man meint, (neues) Wissen entstehe durch neue Beobachtungen und Experimente. Doch diese setzen schon in ihrer Beschreibung allgemeines Wissen a priori voraus, das sie nicht widerlegen oder korrigieren können. Der Fall, dass wir aufgrund anderer Beobachtungen und Experimente oder in einem holistischen Reflexionsrahmen ein gegebenes allgemeines Wissen korrigieren können, ist dagegen von höchst spezieller Form. Ein relativ einfaches Beispiel ist die Messung von Längen über die Zeit einer Bewegung mit konstanter Geschwindigkeit wie der Lichtausbreitung c: Zumindest lokal wird dabei eine von einander unabhängige Längen- und Zeitmessung von s und t vorausgesetzt, welche die Geschwindigkeit s:t definiert. Ein anderes Beispiel ist die Bestimmung eines Tieres als von dieser oder jener Art, sagen wir, eines Axolotls, eines Stoffes als Molybdän oder eines gemessenen Phänomens als verursacht durch ein Elektron oder ein subatomares Teilchen, z. B. ein Meson. Vorausgesetzt wird dabei immer, dass es Axolotls gibt, wie sie normalerweise aussehen und was sie normalerweise tun (können) – und dass das Wesen im Wasser vor uns Axolotls als Elterntiere hat. Einfache Artbegriffe sind daher a priori nichtleer – so dass wir bei ihnen vom Prädikat auf die Existenz schließen können, was wir bei logisch komplexen Prädikaten wie z. B. „größte Primzahl“ nicht tun können.

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Interessant ist nun auch Descartes’ Schluss vom fragenden Denken eines Skeptikers auf die eigene Existenz als denkendes Subjekt. Ich mag im Einzelfall nicht wissen, ob ich träume oder wache. Aber indem ich den Unterschied kenne, ist es inkohärent anzunehmen, dass ich immer nur träume. Calderons Spiel „Das Leben – Ein Traum“ ist daher auf die gleiche Weise unmöglich wie der Film „Matrix“, nach dem Subjekte sozusagen von Maschinen simuliert oder erdacht werden. Hegels ‚sich vollbringender Skeptizismus‘ landet demgemäß sozusagen in einer schwäbischen Antisophistik der folgenden cartesischen Form: Im Grunde, d. h. allgemein gesehen, wissen wir nichts besser als das, was wir sind und tun, auch wenn wir uns dabei über besondere Selbstzuschreibungen täuschen können. Keine Gewissheit ist sicherer und objektiver als die Subjektivitäten im präsentischen Vollzug des Daseins und Tuns. Kein Wissen ist wahrer als das, was wir wiederholt tun können. Das macht ja auch erst die Bedeutung wiederholbarer Experimente und Beobachtungen aus. Daher ist das Wissen über die Natur sekundär zu unserem Wissen über uns als geistige Wesen, d. h. als Teilnehmer personaler Praxisformen und Institutionen. Das Wissen der Naturwissenschaften setzt die Institutionen seiner Erstellung, Prüfung, Lehre und Anwendung voraus, wobei die Geistes- und Sozialwissenschaften das Wissen um die Geschichte des Geistes, sprich der Institutionen, entwickeln. Philosophie, Logik und Methodologie sind so kritische Reflexion auf disziplinäre Teilperspektiven. Philosophie im modernen Sinn nach der Ausgliederung der Sachwissenschaften um 1800 wird entwickelt in einem systematischen Entwurf einer ‚logischen Geographie‘ der kooperativen Grundformen personalen Daseins und aller Institutionen, also des menschlichen Geistes. Kein Wissen kann ‚wahrer‘ sein als seine allgemeinen, sich wiederholenden oder wiederholbaren Erscheinungen, jedes ‚Wesen‘ ist nur das Gesamt seiner Erscheinungen wie Hegel in der Phänomenolo­ gie des Geistes und der Wissenschaft der Logik zeigt. Die Theorien des Mentalen, theories of mind, der psychologischen Kognitionswissenschaften sind kategorial, d. h. thematisch und methodisch, von ganz anderem Typ. Sie gehören wie die (Neuro-)Physiologie entweder zu medizinischen, leiblichen, Voraussetzungen geistiger Normalkompetenz, damit zum Teil zu einer behavioralen Ethologie basalen Verhaltens, oder zu einer pädagogischen Psychologie als Wissen um die natürlich bedingte und kultürlich geformte Ontogenese personaler Kompetenzen. Wilhelm Wundt hatte demnach um 1900 versucht, eine allgemeine Psychologie als Basiswissenschaft für alle Geisteswissenschaften zu entwerfen. Aber auch keine mathematische Wahrheit kann genauer oder exakter sein als die Praxis der Reproduktion und Rekognition von Zahltermen bzw. arithmetische Ausdrücken, Sätzen und Regeln bzw. von geometrischen Figuren zusammen mit ihren Konstruktionsbeschreibungen. Das zeigt die philosophische Logik und Phänomenologie der Mathematik von Gottlob Frege und Edmund Husserl bis zum frühen und späten Ludwig Wittgenstein. Die unaufhebbaren Fallibilitäten in immer auch kontingenten Einzelwahrnehmungen heben allgemeines Wissen und Können auch nicht auf, pace Karl Popper. Allgemeines Wissen (epistēmē, mathēsis) wird in den Wissenschaften kanonisch als lehrbar gesetzt. Es wird nicht etwa direkt aus Beobachtungen abgeleitet. So ist z. B. Homöopathie die Kunst, durch die Vergabe „nebenwirkungsfreier“ Placebos eine Selbstheilung zu fördern. Nicht der Stoff wirkt hier, sondern die self-fulfilling prophecy der Hoffnung auf Heilung. Das ist zugleich ein Beispiel dafür, wie vorsichtig wir mit statistischen Korrelationen umgehen müssen. In erster Instanz können diese nur erst eine Skepsis an etabliertem

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Allgemeinwissen über kausale Zusammenhänge begründen und ein solches weder widerlegen noch direkt rechtfertigen.2 Nicht nur in den Geisteswissenschaften, auch in den Naturwissenschaften und der Medizin, sogar in der Mathematik, ist der Streit der Experten um einen guten allgemeinen Rahmen des Wissens eine wesentliche Teil-Methode.3 Es sollte uns daher z. B. nicht allzu sehr wundern, dass es sogar nationale Besonderheiten im Stand der Kunst z. B. medizinischer Aitiologie und Therapie gibt, hier sogar noch weit mehr als in allen anderen Disziplinen.4 Wissen entsteht also durch kanonisierte Setzung von schematisch Lernbarem – und durch die zugehörigen Verfahren des handelnden Tuns, mit denen wir gute Erfahrungen gemacht haben. Diese guten Erfahrungen sind aber nicht etwa das, was im Englischen expe­ rience heißt. Denn diese ist zunächst nur sensuelle Wahrnehmung oder behaviorale Anpassung. Wissen ist erfolgreicher Umgang mit differentiell bedingten Normalfallschlüssen, die zu Prognosen oder Handlungen führen. Das Schließen ist dabei je nur generisch, bleibt also immer im Allgemeinen. Seine begrifflichen oder logischen Formen werden gesetzt im Streit um bestmögliche sprachliche Formulierungen. Diese decken nie alle Einzelfälle ab. Es gibt immer Ausnahmen. Aristoteles spricht von sterēsis, privatio. So ist z. B., wie gerade schon Platon zeigt, ein Sophist ein mangelhafter Wissenschaftler, die Tyrannis oder die Plutokratie eine mangelhafte Staatsform und jede Krankheit ein Mangel an Gesundheit. Eine vollständige Positivliste für einen zureichend guten Wissenschaftler (philosophos), einen guten Staat oder volle Gesundheit kann es dagegen gar nicht geben. Das Gute, das Wahre und das Schöne zeigen sich je nur ex negativo, also in der Abwesenheit von bestimmten Mängeln, so dass wir jede ‚perfekte Idee‘ oder ‚absolute Wahrheit‘ als kontrafaktische Vorstellung vollständiger Mängelfreiheit zu verstehen haben. Das gilt schon für das mathematische Wissen über geometrische Formen reiner Geometrie. 2

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Sogar noch das berühmte Gesetz der Großen Zahlen (der Gebrüder Bernoulli) und die Eulersche Glokkenkurve sind, wie jeder ausreichend gebildete Mathematiker und Statistiker wissen müsste, generische Sätze bzw. theorieinterne Regeln. Reine Statistik bliebe ohne allgemeines Hintergrundwissen orientierungslos. In den Natur- als auch den Gesellschaftswissenschaften liefern bloß empirische Häufigkeiten bestenfalls Gründe für eine Überprüfung generischer Aussagen. Es gibt keine induktive Logik als Verfahren der unmittelbaren Begründung allgemeiner Sätze. Für den methodischen Dauerstreit zwischen einer traditionalen, in narrativer Form sich darstellenden Geschichts-, Kultur- und Geisteswissenschaft und einem sich auf empirische Methoden der Statistik allein berufenden und daher häufig kritisch als positivistisch bezeichneten Sozialwissenschaft (und Psychologie) müsste diese logische Einsicht gravierende Folgen haben. Denn es steht hinter aller statistischen Evidenzbasierung ein praktisches Allgemeinwissen, das im guten Fall wenigstens partiell längst schon in der Form einer allgemeinen Theorie explizit gemacht ist. Das ist auch der Grund, warum ein prototypischer Zugang zu den Formen der Entwicklung akademischer Institutionen gerade nicht bloß als anekdotische Sondergeschichte nur einer einzelnen Institution zu lesen ist. So war aber z. B. auch der Streit um Newtons actio in distans (etwa bei Euler und Le Sage) zunächst ebenso berechtigt wie der Poincarés oder Dinglers und dann auch der ansonsten unsäglichen ‚deutschen Physik‘ um Einsteins Revision der klassischen Kinematik. Analoges gilt für Einsteins eigene Bedenken gegen die bloß probabilistischen Grundlagenmodelle der Quantenphysik. Es ist dennoch nicht einfach eine sich durchsetzende Mehrheitsmeinung oder historischer Zufall, wenn eine Theorie kanonisch wird, auch wenn uns nichts ‚zwingt‘, die Bedenken gegen sie aufzugeben. Wie die Politik ist auch die Wissenschaft nur eine Kunst des Möglichen – geleitet durch das Prinzip des Konstruktiven Misstrauensvotums: Allgemeinwissen kann nur durch eine ‚bessere‘ Verfassung allgemeinen Wissens ersetzt werden, so dass der subjektive Zweifel bestenfalls zu einem Anfang einer Debatte wird.

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Die Befürchtung, es sei zirkulär, begriffliche Wahrheiten als differentiell bedingte Inferenzen oder Default-Schlussregeln und damit durch ein allgemeines Normalfallswissen zu erläutern, löst sich jetzt so auf: Jedes explizierbare Wissen setzt zwar in der Tat Sprache voraus. Jedes Sprechen basiert aber auf einem impliziten Wissen, besser gesagt: auf einem Können und auf Kenntnissen. Wie jedes artikulierte (Regel-)Wissen beruht also auch die individuelle Sprachkompetenz auf der Basis empraktischer Kenntnisse und Erfahrungen, die aus der Teilnahme an gemeinsamen Praxisformen herrühren und sich in ihr bewähren. Wie Seelsorger tendieren auch Wissenschaftler als Lehrer ihrer Schüler und Jünger dazu, die Grenzen ihres besonderen Wissens zu übersehen und ihre je lokale Rolle und Status nicht genügend zu bedenken. So gilt es z. B. als ausgemacht, dass die Gesetze der Quantenphysik ausreichen, um das Verhalten aller komplexeren Dinge zu erklären. Das ist ein ideologischer Aberglaube, der seinen Weg sogar in den Eintrag „Quantentheorie“ der Enzyklopädie des Brockhaus gefunden hat: „Die Q. enthält die wichtigsten uns heute bekannten physikal. Naturgesetze; aus ihnen sind die Gesetze der Makrophysik als Regeln für das Durchschnittsverhalten großer Kollektive von Mikrogebilden abzuleiten“. Eine solche Ableitung gibt es nicht.

1.2 Zum Begriff der wissenschaftlichen Bildung Wissenschaftliche Bildung ist schon der Bezeichnung zufolge der Bereich der Bildung, der sich auf Wissenschaft bezieht. Wissenschaftliche Theorien sind dabei als Artikulationsformen von allgemeinem Wissen zu verstehen – im Unterschied zu empirischen Erkenntnissen, die manche oder viele historische Einzelsachverhalte betreffen. Solche Erkenntnisse post hoc oder a posteriori zeichnen sich schon dadurch in ihrer äußeren Form aus, dass ihre Ausdrucksformen, die Sätze, im Präteritum stehen – oder als Gegenwartsaussagen in einem zeitlich zu lesenden Präsens. Prognosen stehen im Futur, während allgemeine Sätze das generische Präsens benutzen und damit allgemeine Regeln artikulieren. Aussagen der indexikalischen bzw. deiktischen Form wie: „das da ist Wasser“ oder „das vorher war Wein“ artikulieren dementsprechend empirische Sachverhalte, während Sätze der Form „Wasser ist H2O“ ein allgemeines Wissen ausdrücken, das man auch in eine entsprechende generische wenn-dann-Form bringen kann, etwa der Art: ‚wenn etwas Wasser ist, lässt es sich in Hydrogen (H) und Oxygen (O) zerlegen, und zwar so, dass stöchiometrisch bzw. molekular zwei Anteile bzw. Atome Wasserstoff mit einem Anteil bzw. Atom Sauerstoff in chemischer Bindung stehen‘. Die Form der berichtenden Erzählung ist das, was seit der Antike „Mythos“ heißt. Der Weg vom Mythos zum Logos (das ist ein Titel eines berühmten Buches von Wilhelm Nestle) ist daher als Weg vom Bericht über zumeist vergöttlichte Ursprünge oder metonymisch heroisierte Schöpfungen zur zeitallgemeinen Theorie zu verstehen. Entsprechend wandelt sich die Bedeutung des Wortes „archē“, das zunächst auf einen (z. B. mythischen oder auch heiligen) Anfang verweist, jetzt aber, sozusagen nach den Zeiten des Thales und Pythagoras, ein System von Prinzipien nennt. Theorien sind sozusagen deduktiv verdichtete Systeme zur schnellen Formulierung vieler solcher Prinzipien. Die in ihnen abgeleiteten Theoreme sind durch das System selbst formal in Geltung gesetzte allgemeine Sätze oder Regeln. Ihre formale Geltung ist also theorieabhängig. Ihre materiale oder inhaltliche Wahrheit besteht nicht

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darin, dass sie alle Einzelfälle abdecken, sondern als generisches Normalfallwissen über allgemeine Typen und Formen von Sachen und Prozessen ingesamt zu guten Orientierungen führen, wenn wir die Einschränkungen ihres vernünftigen Gebrauchs wie im Fall von Default-Regeln oder gnomischen Merksätzen mit erfahrener Urteilskraft berücksichtigen. Jede ‚wörtliche‘ oder ‚abbildtheoretische‘ Deutung angelernten Wissens, also theoretischer Sätze, ist daher ein metaphysischer Irrtum – oder bloß erst iuveniles Meinen. Die theoretische Artikulation von allgemeinem Wissen, damit gerade auch alles bloß Mathematische, ist nämlich von einem guten Gebrauch immer noch zu unterscheiden. Das Inhaltsverstehen muss die Ebene der reinen Formen immer verlassen, ist also schon theoria cum praxi (Leibniz). Wissenschaftliche Bildung besteht daher in der vollen Beherrschung von wissenschaftlichem Wissen, nicht nur in ihrem verbalen Erwerb. Das Wissen der Geschichts- und Sozialwissenschaften nimmt aufgrund der Verbindung historischer bzw. empirischer Kenntnisse mit allgemeinen Darstellungen und ‚Erklärungen‘ der Geschehnisse als Aktualisierungen generisch verfasster Ereignistypen eine eigene, logisch schon höchst komplexe, Form im Zwischenbereich zwischen Theorie und Empirie ein. Im historischen bzw. fiktionalen Roman werden Typen wie im Mythos narrativ vorgeführt. Nicht der dokumentarische Bericht, das ‚Jahrbuch‘ oder ein philologisches Text- und Aktenstudium allein, sondern ihre Rolle in einer vielstimmigen Begründung allgemeiner Sätze über allgemeine Entwicklungen macht das Wissenschaftliche dieser Wissenschaften aus. Das schriftlich verfasste und erst recht das mathematische Wissen spielt in den Wissenschaften also eine zentrale Rolle, aber nur als ein Moment der idealen Artikulation gemeinsamer und allgemeiner Erfahrungen und tätiger sozialer Kooperationsprozesse in der realen Welt. Das Forschen der seit der griechischen Antike als eigene Institution betriebenen Wissenschaften sichert das theoretische Wissen, das seinerseits das empirische und praktische Erkennen, Urteilen und Handeln anleitet. Dabei ist das Urteilen generell so zu verstehen, dass implizites Wissen und allgemeines Schlussfolgern schon eingeschlossen sind. Aber schon in die Beschreibung empirischer Tatsachen geht, wie gerade der Fall der Geschichte zeigt, längst schon allgemeines Wissen ein, nämlich über die Bestimmung der in der Empirie verwendeten Begriffe. Die Wissenschaften sind daher zugleich disziplinäre Arbeit an allgemeinem Wissen über allgemeine Sachen und Arbeit am Begriff im Sinn des theoretischen Systems der begrifflichen Darstellung der Formen der Dinge, Sachen und Prozesse in ihren Normalfallfolgen. Der Titel „Kausalität“ steht dabei, um diesen Zentralbegriff kurz zu betrachten, einfach über dem jeweiligen System der Darstellung von Normalfallverhalten, etwa von Bewegungsformen, und kann in der Regel nicht mehr an ‚Notwendigkeit‘ beanspruchen als das allgemeine Wissen über prozessuale Normalfallabläufe. Es ist daher ein metaphysischer Feher im oben erläuterten Sinn zu glauben, dass es bei kausalen Verursachungen um deterministische Notwendigkeiten ohne Ausnahmen handelte. ‚Logische‘ oder ‚theorieinterne‘ Notwendigkeiten decken sich keineswegs mit ausnahmslosen empirischen Allsätzen. Rein formale Möglichkeiten sind noch lange keine Ereignisse, mit deren Eintreten wir rechnen sollen oder dürfen. Alles Wissen ist vielmehr in der einen oder anderen Form generisch-allgemein und hat als solches, wie alle Falltypen, Ausnahmen. Zufälle sind also nie ausgeschlossen, können aber generisches Wissen nicht als solches ‚falsch‘ machen. Selbst wenn wir typische Aus-

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nahmen artikulieren und damit das Allgemeinwissen differenzieren, bleibt das entstehende Wissen allgemein, spricht also über Formtypen, nicht über alle Einzelfälle und akzidentelle Unfälle. Handlungen von Einzelpersonen sind darüber hinaus immer durch subjektive Urteile bedingt, also durch subjektive Präferenzen und Meinungen. Sie stehen dem allgemeinen, lehrbaren und der Lehre würdigen Wissen (mathēsis, epistēmē) gegenüber. Die Rede von einem theoretischen Kennen und Erkennen ist also als empirische Anwendung von Wissen zu deuten, während es im Streben nach neuen Erkenntnissen um die Ausweitung oder Verbesserung allgemeinen Wissens geht. Das empirisch-historische Kennen ist die Grundlage empirischer Information, artikuliert in Berichten. Ignoriert man die Differenzen von allgemeinem Wissen und individuellem bzw. empirischem Erkennen, kanonischer Lehre, Bericht und subjektiver Meinung, dann geht jedes Verständnis von Wissenschaft verloren, mit Folgen für die praktische und moralische Selbstbestimmung5 als Bildungsziel und für die Bildung der spezifischen Kompetenz zum wissenschaftlichen Erkennen6 bzw. zur Forschung als Erweiterung von Wissen. Zwar kann eine Person auch ohne wissenschaftliche Kompetenz in einem rein instrumentellen Sinn in einer Technik ausgebildet werden, um relativ selbständig eigene Entscheidungen zu treffen und aufgrund einer ganz allgemeinen Bildung zur Person auch ein moralisch autonomes Subjekt zu sein.7 Aber eine volle Person in einer modernen Gesellschaft braucht als Bürger einen Grundstock an wissenschaftlich kontrollierter Bildung über den Ort oder Sitz im Leben von Technik und Moral, Politik und Recht – mit eigener Fähigkeit zum verständigen Nachvollzug von Techniken verschiedenster Art und dem Wissen um die Andersartigkeit von allgemeinem Wissen und der Erzählform empirischer Kenntnis. Besonders im Bereich des Wissens über den objektiven Geist, d. h. über die arbeitsteilig organisierten Institutionen der Gesellschaft und ihres Rahmens, des Staates und seiner Verfassung, ist das von großem Belang. Wissenschaftliche Forschung ist vor diesem Hintergrund Anwendung gebildeter Kompetenz in der Erweiterung von Wissen, also der Wissenschaft, inzwischen gegliedert nach Sachdisziplinen. Diese Gliederung liegt der institutionellen Aufspaltung der philosophischen Fakultät in die Natur- und Geisteswissenschaften zugrunde, auch der parallelen Verschiebung der Bedeutung des Wortes „philosophia“, das traditionell alle theoretischen Wissenschaften 5

6 7

So bei Max Scheler, Die Formen des Wissens und die Bildung, in: Manfred Frings (Hg.), Gesammelte Werke. (Bd. 9) Späte Schriften, Bern, München 1976, S. 109. Für ihn ist „Bildungswissen […] ein an einem oder wenigen guten und prägnanten Exemplaren einer Sache gewonnenes und eingegliedertes Wesenswissen, das zur Form und Regel der Auffassung, zur ‚Kategorie‘ aller zufälligen Tatsachen künftiger Erfahrung desselben Wesens geworden ist.“ Die Person ist darin die geistige Einheit der Weltauffassung („Mikrokosmos“, ebd. S. 90) und des Weltbezugs. Zur kooperativen Handlungspraxis gehört wesentlich auch die rechtliche Dimension. Moralität soll hier Rechtskonformität implizieren. So bei Jürgen Habermas, Vom sozialen Wandel akademischer Bildung, in: Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, Frankfurt a. M. 1988. Darauf wird im Folgenden eingegangen, weniger auf Schelers Position. Diese bildungstheoretische Skizzierung einer recht verstandenen Praxis in Abgrenzung zur Theorie richtet sich gegen das Missverständnis, einen elitären philosophisch-wissenschaftlichen Bildungsbegriff gegenüber der übrigen gesellschaftlichen Lebenspraxis ins Feld zu führen. Es geht vielmehr um das richtige Verständnis der Praxis, die sie selbst nicht leisten kann und die sich in der geschichtlichen Realität selbst nicht finden lässt. Wenn elitär sein sollte, dass jeder seine eigene Freiheit einsehen kann, dann kann man sicher auch nichts gegen den Elitarismus sagen.

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umfasste, aber seit ca. 1800 mehr und mehr nur noch über dem Unternehmen des Entwurfs einer logischen Geographie des Wissens und der Wissensinhalte, der Wissenschaften und der empirischen Erkenntnis steht. Nach Aristoteles8 ist die philosophia als Teilnahme am Projekt der Entwicklung des theoretischen Wissens in ‚der Wissenschaft‘ die höchste geistigen Kompetenz. Sie ist eine Fähigkeit eigener Art. Nur wissenschaftlich gebildete Personen haben sie; aber man muss sie nicht haben, um eine Person zu sein. Dem verbalen Gegensatz von Theorie und Praxis steht aber die Tatsache gegenüber, dass beide immer schon auf einander bezogen sind und im Prozess der Bildung der Person eng miteinander zusammenhängen. Aristoteles unterscheidet zwar die Theorie als ‚reine Wissenschaft‘ von der Praxis als dem Bereich konkreten menschlichen Handelns. Aber er sagt nicht, dass diese Reinheit bloß im Formalen und Verbalen besteht, so dass es wahres Wissen nicht ohne gute Praxis gibt. Zum Begriff der umfassend gebildeten Person gehört es daher, Theorie und Praxis als zwei Aspekte eines guten personalen Lebens im Zusammenhang mit dem guten Leben aller anderen Personen zu erkennen. Daher kann es keine Trennung von Ethos und Wissen geben, es sei denn als Privation des Wissens in ihrer Verkürzung auf subjektive Klugheit und instrumentelles Können. Theoretisches Wissen, seine Anwendung im empirischen Erkennen oder Urteilen und dann auch im schließenden praktischen Handeln sind aber dennoch drei zu unterscheidende Momente personaler Kompetenzen im Bildungsprozess der ‚vollen‘ Person. Theoretisches Wissen ist, wie schon gesagt wurde, in seinem Kern vom Typ des Sprachwissens, wobei das Wissen um schriftlichen Artikulationsformen wie im Fall der Mathematik, aber z. B. auch der Musik oder Chemie, der Jurisprudenz oder Philosophie, inzwischen von zentraler Bedeutung sind. Richtiges Urteilen beruht auf solchem Wissen und verlangt in dessen Anwendung erfahrene Urteilskraft. Dasselbe gilt für das Schließen und Handeln. Daher muss sich der Bildungsprozess immer um den Übergang von der Theorie zur Praxis, auch der Mathematik zur Empirie kümmern. Es handelt sich um den Übergang von der Wissenschaft als dem Gesamtsystem des aufschreibbaren Wissens und der verbalen Lehre zum Leben. In seiner Vollzugsform ist er praktisch zu lernen; verbal kann man diese Form nur reflexionslogisch kommentieren, nicht voll vermitteln. Das ist keine These, sondern eine offenkundige Wahrheit, wenn man die begrifflichen Unterscheidungen beachtet. Sie gilt auch für die verschiedenen Niveaus der Lesefertigkeiten, wie sie sich im Bildungssystem in disziplinärer Ausdifferenzierung ergeben. Der eine kann mathematische Texte, der andere Gedichte, ein dritter philosophische Reflexionen und ein vierter kann Noten lesen; wenige decken dabei inzwischen mehrere disziplinäre Bereiche hinreichend kompetent ab. Es zeigt sich allerdings in der Alltagserfahrung, dass dies für die praktische und moralisch-ethische Selbstbestimmung in der gewöhnlichen Kooperationspraxis auch nicht relevant ist. Sie verlangt keine besondere Kompetenz wissenschaftlichen Erkennens, während umgekehrt Wissenschaftler durch die Teilnahme an einer besonderen Kooperationspraxis und einer besonderen Selbstbestimmung der Prüfung und Entwicklung des gelehrten Wissens ausgezeichnet sind. Praktisch-moralische Selbstbestimmung erfährt im Übergang vom theoretischen Erkennen gesellschaftlicher bzw. historischer Situationen dann aber doch auch eine Transformation. Insofern verändern die Geisteswissenschaften Ethik und Moral – z. B. über das Rechtswesen. 8

Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Günther Bien (Hg.), Hamburg 1985, 1178b.

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Die wissenschaftliche Tätigkeit des Forschens verlangt für das in ihm kodifizierte und kanonisch für die allgemeine Lehre vorgesehene Wissen eine eigene ‚Begründung‘, ausgehend von der praktisch-moralischen Selbstbestimmung der Wissenschaftler als Wissensprüfer. Das theoretische Erkennen ist also im Sinne der Etablierung neuen allgemeinen Wissens eine personale Kompetenz, die wesentlich durch ein kooperatives Verhältnis zu allen Wissenschaftlern bestimmt ist. Denn die Vorschläge lehrbaren Wissens sollen bzw. müssen am Ende allgemein anerkannt werden. Theoretische Urteile sind in dem Sinne von der Subjektivität der Einzelpersonen losgelöst, als sie allgemeingültige Gegenstands- bzw. Sachtypenbestimmungen ausdrücken. Daher sind z. B. unsere Beurteilungen des Verhältnisses von Theorie und Praxis, Wissen, Begriff und Bildung bildungstheoretische und zugleich logische Beurteilungen; und zwar ganz abhängig davon, ob man sie letztlich teilt bzw. gut genug versteht und umsetzt. Während Nützlichkeit für mich oder uns – im Unterschied zu bedingten und damit schon generisch-allgemeinen Regeln der Form: wenn man A will, sollte man B tun – nicht zur Theorie gehört, weil sie noch auf zufällige Zwecke von mir oder dir oder eine konkrete Kooperationspraxis von uns und damit bloß auf empirische Einzelheiten bezogen ist, erlaubt das theoretische Erkennen, neben dem genannten Bedingungsgefüge die soziale Kooperationspraxis als solche und in ihren vielfältigen geschichtlichen Formationen zu ihrem Erkenntnisgegenstand zu machen. Dabei werden die Begriffe bedingter Nützlichkeit und bedingter Inter-Subjektivität als für die bildungstheoretische Untersuchung zentrale Gegenstände zugrunde gelegt. Die Wissenschaft ist nie frei vom Nützlichkeitsdenken; aber das Denken über das Nützliche wird leider zumeist so provinziell verstanden, dass es – zugunsten einer unmittelbaren Ratgeberschaft für bloß empirische Einzelfälle – die allgemeinen Bedingungen besonderer Handlungen und damit das in Wahrheit Nützliche der Tendenz nach vernachlässigt.9 Das Bedürfnis nach unmittelbarer Verwertbarkeit des wissenschaftlichen Wissens übersieht also leicht, dass es in der Wissenschaft um allgemeines Wissen geht. Die Fachwissenschaften haben nie nur den Zweck, für den sozialen10 (einschließlich technischen) Fortschritt hier und jetzt bzw. für uns zu sorgen, sondern müssen das auf allgemeine Weise tun. Das Kriterium der Nützlichkeit darf daher nur in bedingter Form zum leitenden Maßstab werden. Man meint zwar, andererseits, der Fortschritt im Wissen des Nützlichen sei zufällige Nebenfolge eines interessenfreien Erkenntnisstrebens. Doch damit wird der Umgang mit dem Zufall schon falsch verstanden. Denn die Interessenfreiheit ist nur eine Freiheit von allzu engen Vorstellungen konkreter Zwecksetzungen, so wie wir im Streben nach Objektivität nicht von allen perpektivischen Zugängen zur Welt abstrahieren können, sondern je nur von allzu subjektiven. M. a. W., das Objektive ist eine allgemeine Kovarianz unter einem Perspektivenwechsel zwischen Subjekten, nicht mehr und nichts Anderes. Wissenschaftlicher Fortschritt ist dementsprechend nicht einfach planbar und zugleich kein Zufall. Wahre Nützlichkeit ergibt sich dennoch gerade als Nebenfolge eines von unmittelbaren Verwertungsinteressen unabhängigen Erkenntnisstrebens einer autonomen Wissen9 10

Es gibt natürlich einen Bereich, in dem klar nach direkten Nützlichkeitskriterien geforscht wird: die industrielle Forschung. Der Begriff des Sozialen umfasst alle Arten interpersoneller Beziehungen, Gemeinschaft, Gesellschaft und Gattung. Die folgende Darstellung bezieht sich mit der Analyse der Praxis anhand des Nützlichkeitskriteriums auf die Gesellschaft. Die kategoriale Differenz zwischen Theorie und Praxis soll durch den Begriff „sozial“ verdeutlicht werden.

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schaft. In diesem Sinn ist Theorie mehr oder weniger ausschließlich um ihrer selbst willen zu betreiben – als allgemeines Wissen zum Einsatz in vielgestaltigen Zweckkontexten. Genauer gilt: Nicht der konkrete Zweck, sondern ein allgemeines Bedingungsgefüge gerade in der Zweckverfolgung leitet wahre Wissenschaft. Dem entspricht das ursprüngliche Verständnis von „Theorie“, das sich von den griechischen Wörtern „theoria“ bzw. „theorein“ ableitet, die zunächst im religiösen Kontext stehen und auf ein Schauen der Natur oder der göttlichen Ordnung hinweisen. Genauer ist der theoros der Beobachter einer heiligen Zeremonie. Er überprüft die Einhaltung der Regeln bei Ritus und Kulthandlungen. (Das kann glücklicherweise als Allgemeinwissen zählen, bedarf daher keiner eigenen Quellenangabe mehr – es sei denn, zur Ehre von Autoren wie in manchen Benennungen wichtiger Prinzipien der Physik oder mancher Theoreme der Mathematik. Übrigens machen die einfachen und schnellen Suchverfahren im Netz manche klassischen Formen der Quellenangabe überflüssig, z. B. wo die Nennung von Autor und Titel für das Auffinden ausreicht.) Zunächst erhielt der Begriff der Theorie wohl durch Pythagoras und seine mathēsis (in expliziter Abgrenzung zur Praxis und konkretistischen Nützlichkeit) und dann durch Platon bzw. Aristoteles eine wissens- und erkenntnistheoretische Bedeutung.11 Dieser basale begriffliche Gehalt wurde bis in die heutige Wissenschaft tradiert. Die Verbindung von Theorie und Praxis besteht im „Sitz der Theorie im Leben“. Nützlichkeit ist dabei dann zu eng, wenn nicht die gesamte Form des guten Zusammenlebens als allgemeiner Zweck angesehen wird und wissenschaftliche Kooperation nur unter Gesichtspunkten ihres Nutzens für die Erreichung besondere Zwecke besonderer Personen und Gruppen betrachtet wird. Die Techniken allgemeiner technē bilden dabei zwar als Mittel einen wichtigen allgemeinen Teil des guten Lebens, sind aber nie für sich Endzweck. Im beschränkten Blick auf die technische Praxis wird man sich zwar auf das allgemeine Nützlichkeitskriterium berufen können, aber diese Berufung bleibt bedingt und lokal – im Blick auf die Gesamtpraxis guten Lebens. Es kann daher ein Zeichen provinziellen Denkens sein, wenn Theoretiker, die ihre Aussagen nicht unmittelbar in technische Anleitungen übersetzen können, mit Verachtung gestraft oder ausgelacht werden, wie dies bereits Thales von Milet ergangen sein soll. Es ist auch nicht alles Wissen an die Anforderungen der Alltagspraxis anzupassen. Andererseits sieht sich „bloße Theorie“ – oder mit Goethe: „graue Theorie“ – dem Vorwurf der Wirklichkeitsferne dann mit gutem Recht ausgesetzt, wenn jeder Bezug zur Praxis und zum Leben gekappt ist und man sich in leeren Möglichkeiten ergeht. Andererseits kann etwas dem bloßen Praktiker nutzlos erscheinen, sofern dieser seine Praxis und Technik auf instrumentelle Zweckverfolgungen im Leben beschränkt und ihm so das Ganze von Leben und Praxis aus dem Blick fällt. Das ist eine typische Täuschung unserer Zeit. Es könnte jedenfalls sein, dass die Festlegung auf das Nützlichkeitskriterium, wenn es auf zu enge Weise begriffen wird, uns in die Irre führt, gerade im Blick auf die eigentlichen Zwecke jenseits bloßer Mittel. Das Mitteldenken reicht daher nicht aus, um zu verstehen, was theoretisches Erkennen überhaupt und im Allgemeinen ist. 11

Zu Pythagoras vgl. Marcus Tullius Cicero, Tusculanae disputationes. Ernst Alfred Kirfel (Hg.), Stuttgart 1997, 5, 3. („rerum naturam studiose untuerentur“); Platon, Staat, Hamburg 1989, 486a und 529b.

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Theorie ist also dort notwendig auf Praxis angewiesen, wo es um ein bedingtes Können geht. Und umgekehrt ist die Praxis auf die Theorie angewiesen, wo wir planend handeln – so dass beide zusammen als eine Einheit angesehen werden müssen, ohne dass eines auf das andere reduziert wird. Diese Einheit ergibt sich auch aus bildungsphilosophischer Perspektive, setzt aber die Bedingung voraus, dass die Persönlichkeitsbildung weder in der Technik noch bloß in konformer Teilnahme an der gesellschaftlichen Praxis endet, sondern die Teilnahme an Wissenschaft, d. h. am theoretischen Forschen als einem Bereich sui generis miteinschließt. Eine gewisse Skepsis gegen ein zu abstraktes theoretisches Denken findet sich freilich in der Wissenschaft selbst und in der Philosophie. So richtet sich der Empirismus (z. B. in der Form des „logischen Empirismus“ und durchaus auch noch als „kritischer Rationalismus“) gegen Aussagen, die sich nicht anhand der erfahrbaren Wirklichkeit verifizieren lassen oder keine klaren Anwendungsbedingungen haben. ‚Empirische‘ Überprüfbarkeit reproduzierbarer gesetzmäßiger Erfahrungen ist hier das Wahrheitskriterium. Was sich so nicht ausweisen lässt, wird als ‚metaphysische Spekulation‘ und damit als ‚unwissenschaftlich‘ abgelehnt.12 Dieses Urteil erweist sich als vorschnell. Theorien sind zwar nicht schon notwendigerweise unmittelbar praktisch; aber sie müssen als ‚Erklärungen‘ im Erfahrungswissen auf die Anwendung der Erkenntnis in der wahrnehmbaren Wirklichkeit bezogen sein. Besser als das zu enge empiristische Sinnkriterium ist daher die Forderung, den Sitz im Leben der Wissenschaft genau zu verstehen und allen Sinn von Theorie auf diesen Sitz im Leben zu beziehen. Der Anwendungsbezug von Theorien bloß auf sinnlich Gegebenes, also meine oder deine Perzeptionen, reicht ja nie aus. Die Rolle von Theorien im allgemeinen Wissen für alle muss vielmehr zum Gegenstand einer genaueren Betrachtung werden. Am Ende kann sogar die reale Form unseres Wissens erst aus einer Philosophie des Geistes erklärt werden, in der das Denken (in Theorien) sich selbst zum Gegenstand macht. In bildungstheoretischer Perspektive zeigt sich also eine übergeordnete Einheit der Differenz zwischen Theorie und Praxis, Wissen und Leben. Die wissenschaftliche Tätigkeit des Strebens nach Erkenntnis auf methodologischer Grundlage und die Realisierung selbstgesetzter Zwecke im Handlungsvollzug sind unterschiedliche Weisen des Personseins, die der Einzelne im Bildungsprozess erlernen kann. Genauer gesagt ist das theoretische Forschen in der Wissenschaft aufgrund der bereits vorhandenen praktischen Kompetenzen der höchste Punkt und Abschluss des Bildungsprozesses, wie es in der W. v. Humboldt zugeschriebenen Formulierung „Bildung durch Wissenschaft“ prägnant ausgedrückt worden ist.13 12

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Vgl. Elisabeth Ströker, Einführung in die Wissenschaftstheorie. Darmstadt 1992, S. 70 ff. Dass diese Positionen selbst nicht frei von metaphysischen Voraussetzungen sind, zeigt sie anhand von Poppers Wissenschaftstheorie (ebd., S. 92), und dass sie nicht frei von lebenspraktischen Voraussetzungen sind, bringt sie zu folgender Zustandsbeschreibung: „Daß die Wissenschaft [ausgehend von der Antike; ebd., S. 117] nicht bloß in äußerlicher Beziehung zur Praxis steht und daß insbesondere erfahrungswissenschaftliche Erkenntnis und technisches Handeln auf das engste miteinander verschränkt sind, ist in jüngster Zeit wiederholt betont worden.“ (ebd., S. 117). Die Formel „Bildung durch Wissenschaft“ ist als eine programmatische Zuschreibung zu verstehen, die einerseits auch sein praktisches Wirken umfasst, andererseits auf alle hier herangezogenen Autoren gleichermaßen anwendbar ist.

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Die sukzessive, methodengeleitete Aneignung von Wissen im Prozess des Forschens ist nur ein Teil dieses Bildungsprozesses. In diesem aber wird das eigene Urteilen besonders geschult und die Kompetenz zum eigenen Wissenserwerb weiterentwickelt. Insofern ist Wissenschaft die prototypische Form der Entwicklung eigener Erkenntnis- und Urteils-Kompetenzen, die auf die Generierung neuen Wissens hin ausgerichtet ist. Der Form nach gehört das auch zur Entwicklung personaler Kompetenzen. Praktisches Können ist darin häufig schon vorausgesetzt, kann aber auf die wissenschaftliche Tätigkeit hin weiterentwickelt werden. Der Form nach ist dies analog zum Verhältnis von Breiten- und Spitzensport. Dabei macht die theoretische Bildung das praktische Können auf eine Weise entwickelbar, wie dies dem Handelnden zuvor nicht zur Verfügung stand. In der Praxis realisiert sich das theoretische Erkennen als Anwendung allgemeinen begrifflichen Wissens. Dieses ist artikuliert in – der Form nach – leicht erlernbaren Theorien, jenes im Urteil, dass etwas hier oder dort als etwas aufzufassen und in diesem Sinn von einer bestimmten Art oder Form ist. Das Erstellen von geeigneten Theorien kodifiziert das Wissen über Arten oder Formen. Zugleich kanonisiert es begriffliche Unterscheidungen und Inferenzen bzw. Relationen und Prozessformen eines Normal- oder Idealfalls. Bei Platon steht daher das Wort „eidos“ für Form, Art, Begriff, das Wort „genos“ für Gattung, aber auch für Artform und Oberbegriff. In der empirischen ‚Anwendung‘ allgemeinen Wissens muss der ‚Abstand‘ des vorliegenden konkreten Falls vom paradigmatischen ‚Normfall‘ des Ideals bzw. der Normalität frei beurteilt werden, wie Platon schon weiß und unter dem Titel eines Teilhabens (an einer Form) als Subsumtion unter einen Begriff diskutiert. Damit ist jede bloß schematische Anwendung allgemeinen Wissens defizitär. Weltbezogene allgemeine Theorien formulieren keine Allsätze für alle besonderen Anwendungsfälle. Das gilt auch für mathematische Theorien, da hier zwischen den internen, idealen, Gegenständen der reinen Mengen, Zahlen und geometrischen Formen und externen, empirischen, nie idealen, Dingmengen, Anzahlen und Formgestalten unbedingt zu unterscheiden ist. Die Fälle, auf die sich mathematische axiomatisch-deduktive oder algebraische Theorien als universale Allaussagen beziehen, sind also bloß interne, reine, mathematische Modellstrukturen. Indem man das formallogische Deduzieren aus Axiomen durch Wahrheitswertbestimmungen oder halbformale Herleitungen ersetzt, sind diese Strukturen selbst schon als ideale Theorien einer bestimmten Sorte zu begreifen. Erst so ist der Begriff des mathematischen Strukturmodells voll begriffen, anders als im Formalismus einer bloß erst axiomatisch-mengentheoretischen Modelltheorie (von D. Hilbert bis A. Tarski) oder in einem vagen Strukturalismus. Im Fall der Geistes- und Sozialwissenschaften geht es in so genannten Theorien um ein verbal artikuliertes Wissen, durch das die gesellschaftliche Praxis globaler Kooperation weiterentwickelt werden kann. In diesem Rahmen entwickelt sich auch die Person, nämlich im Blick auf ihr Wissen über Natur und Technik, und im Blick auf ihren Geist als Wissen um ihr personales Dasein im Kooperationskontext mit allen anderen Menschen, den Personen der Vergangenheit, Gegenwart und dann auch der Zukunft. In diesem Prozess gewinnt die nicht nur naturwissenschaftlich und technisch, sondern allseitig wissenschaftlich gebildete Person Fähigkeiten und Einsichten, die nicht nur die Entscheidungen über ihr instrumentelles, sondern auch ihr soziales und politisches Handeln betreffen.

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In den Geisteswissenschaften und der Philosophie ist also, grob gesagt, die volle Person das Thema und wird als theoretischer Erkenntnisgegenstand analysierbar, wobei hier die Natur- und Technikwissenschaften nicht so sehr im Blick auf das Sachwissen, als vielmehr im Blick auf ihre Geschichte als menschliche Kooperationsleistung thematisch werden. Das erklärt die Bedeutung einer entsprechend rekonstruierten Welt- und Wissenschaftsgeschichte für die Geisteswissenschaften und der Philosophie im modernen Sinn der „Ersten Philosophie“ des Aristoteles: nämlich als Wissen des Wissens. Diese ist Onto-Logie nur im Sinn einer Logik des Seins der Gegenstände und der Vollzüge. Für die Klärung des ‚normalen‘ Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis bloß in der Gegenwart ist es freilich nicht unbedingt erforderlich, die historischen Theorien über die Wissenschaft in ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrer lokalen Rolle einander gegenüberzustellen und zu beurteilen. Das Gesamtsystem schriftsprachlich in den Bibliotheken der Wissenschaften tradierter Theorien geht also in ihrer allgemeinen Grundbestimmung aus der antiken theoria bzw. phi­ losophia hervor. Aufgrund seiner Allgemeinheit ist es Ergebnis methodengeleiteten Denkens und Urteilens. Es dient dem Ziel, allgemeines Wissen über die Wirklichkeit allen anzubieten, welche sich den artikulationstechnischen Zugang zum Wissen durch Erwerb entsprechender Lesefertigkeiten erwerben. Während um 1800 der Erwerb der Lesefertigkeit für alle wissenschaftlichen Fächer schon im Gymnasium als abgeschlossen betrachtet wird, ist er heute praktisch erst am Ende des Universitätsstudiums vor der Promotion je nur für die entsprechenden Fachdisziplinen erreicht. Das liegt nicht etwa daran, dass die Ausbildung schlechter geworden wäre, sondern daran, dass die Voraussetzungen an Wissen und Können für das Lesen von Fachbüchern und das Verstehen nicht bloß von Fachterminologien, sondern der gesamten Ausdrucksformen der Disziplinen, in Umfang und Tiefe enorm gewachsen ist. Das Ende eines Fachstudiums fällt daher mit der Möglichkeit des Beginns einer selbständigen Forschung in einer Disziplin und der Fähigkeit zu selbständiger Lektüre der Fachliteratur in gewissem Sinn zusammen. Dabei hatte schon Platon, wie unsere Überlegungen zeigen werden, das Problem des rechten Verstehens der Wörter und Begriffe im Sachkontext und der Fachumgebung erkannt. So jedenfalls ist Platons Bemühung um zwar allgemeine, aber doch auch jeweils kontextsensitive Definitionen im Interesse des Ausschlusses von Missverständnissen und Fehldeutungen zu verstehen, samt seiner Einsicht in das Problem der Schrift, also der Lesetexte, die sich ohne Vorbereitung nicht selber auslegen können – selbst, wenn wir allerlei schriftliche Kommentare in sie einbauen. Bis heute verwirrt hier die Definition von Wissen als „wahre, gerechtfertigte Überzeugung“ das Denken. Denn die Formel definiert nur ein empirisches Erkennen, kein allgemeines, eidetisches oder generisches Wissen. Wenn ich mit hinreichend gutem Grund sehe und beim Probieren geschmeckt habe, dass Milch im Kühlschrank ist, dann ‚weiß ich‘, wie wir sagen, dass Milch im Kühlschrank ist. Es ist dies aber bloß erst ein nicht-allgemeines ‚Wissen‘. Es ist empirisches Erkennen von Einzelsachen. Das Wissen, was alles als Milch zählt, was also Milch ist und was wir von Milch normalerweise erwarten dürfen, wird dabei schon a priori, materialbegrifflich, vorausgesetzt, präsupponiert. Das Wort „material“ signalisiert dabei – z. B. schon bei Husserl, dann aber auch bei vielen anderen Autoren – ein allgemeines Sachwissen.

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Platons Formel „alethēs doxa meta logou“ (also „wahres Urteil mit Begründung“) aus dem Dialog Theaitetos kann schon daher nicht ein wahres allgemeines Wissen definieren, weil das Wort „doxa“ für ein empirisches Einzelurteil (der Form „mich dünkt, dass …“ bzw „dokei moi …“) über einzelne Sachen steht. Das allgemeine Wissen ist eidetisch-begriffliches Wissen, wie es in empirischen Urteilen a priori als inhaltsbestimmend vorausgesetzt wird. Platon sieht daher schon, dass, wer nicht weiß, was Milch ist, mit dem Satz „es ist noch Milch da“ weder etwas Wahres noch etwas Falsches sagen kann. Wie Hegel schreibt er im Grunde den Wissenschaften schon als kollektive Arbeit am Begriff die Aufgabe zu, das ‚Wahre‘ des allgemeinen Wissens als normalerweise erlaubte Normen und Regeln des Unterscheidens und Schließens eristischdialektisch zu diskutieren und am Ende die besten Regeln kanonisch zu lehren, also in die mathesis des enzyklopädischen Wissens aufzunehmen. Jedes Kriterium der Rechtfertigung empirischer Behauptungen bezieht sich schon auf ein solches theoretisches Wissen, das aber der Form nach immer schon ideal ist, so dass seine Anwendung eine Ent-Idealisierung und die zugehörige Urteilskraft voraussetzt, wie wir an der Anwendung der idealen geometrischen Wahrheiten auf empirische Sachen klar sehen können. Das Ausweisen einer differentiell bedingten Schlussform oder generischen Regel der Form „wenn A, dann B“ als wahr oder als Wissen geschieht in der Wissenschaft also nicht dadurch, dass gezeigt würde, dass die Regel immer blind anwendbar ist und ‚ausnahmslos‘ zu ‚wahren‘ Folgen führt, sondern dass sie zur bestmöglichen Theorie und wissenschaftlich approbierten Lehre, mathesis, gehört. Ihre empirische Anwendung verlangt Urteilskraft, gerade wie die Anwendung auswendig gelernter Sätze der Sprache im empirischen Reden über Einzeldinge ganz generell. Nicht jeder schematisch richtige Schluss ist empirisch richtig. Wie schwer das zu verstehen ist, zeigt die bis heute nicht abgeschlossene Debatte um die rechte Anwendung der in der ‚euklidischen‘ Geometrie formal als wahr bewerteten Sätze in besonders dramatischer Form. Die formalen Bedingungen der Konsistenz sind dabei zunächst immer nur erst innertheoretische Bedingungen. Externe Anwendungen verlangen intersubjektive Überprüfbarkeit. Empirische Aussagen haben also inhaltlich eine gewisse Allgemeingültigkeit, gerade weil sie sagen, dass etwas von einer allgemeinen Form ist, unter einen allgemeinen Begriff fällt. Während dabei die Formaussagen in einem gewissen Sinne zeit- und situationsinvariant und damit a priori gültig sind, wird die empirische Subsumtion a posteriori als richtig evaluiert. Neben den Allgemeinaussagen können in der Wissenschaft dann auch die empirischen Bezugnahmen auf Objekte als Aktualisierungen eines Typs selbst zum Gegenstand der denkenden Betrachtung gemacht werden. Von dem nach wissenschaftlichen Kriterien gewonnenen allgemeinen Wissen ist das Lebenswelt- oder Alltagswissen zu unterscheiden. Auch dieses ist allgemein. Es verwandelt sich im individuellen Kennen und Können, indem es je eigene Lebenserfahrungen, Überzeugungen und besondere Kenntnisse umfasst. Es ergibt sich aus einer (kooperativen) Handlungspraxis und wirkt auf diese zurück. In der Anwendung lebenspraktischen Wissens hat man auch die faktischen und normativen Umstände der Handlungssituation zu kennen, auch wenn es nur darum gehen sollte, einen partikularen, subjektiv gewählten Zweck zu realisieren. Zur Realisierung gehört dann auch (von angeborenen und sich von selbst entwickelnden Kompetenzen abgesehen) ein erlern-

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tes Können, nämlich das der jeweiligen Situation angemessene Beherrschen der Ausführung einer Handlung, die Geschicklichkeit, um einen Zweck zu verwirklichen. Hier kann schon wissenschaftlich erstelltes oder kontrolliertes Wissen eingehen. Die moralische Evaluation der Handlungsformen gehört dann schon in die Praxis der Kooperation mit anderen Personen. Es ergibt sich für die bildungstheoretisch gefasste Einheit von Theorie und Praxis eine grobe vierstufige Einteilung: 1) spekulative Wissenschaft (als topisches bzw. logisch-geographisches Nachdenken über Formen und Bereiche des Denkens und Erkennens) 2) theoretische Wissenschaft (als Herstellung und Prüfung allgemeinen Wissens) 3) empirische Erkenntnis (als richtiges subjektives Urteilen über die je präsentische Gegenwart) 4) praktische Überlegung und Ausführung von Handlungen zur Realisierung von Zwecken (in Bezug auf sich selbst – die Zwecke können auch längere Lebensabschnitte oder ein ganzes Leben umfassen). Die Entwicklung jedes Könnens beginnt, wie bei animalischen Lebewesen, auf der untersten Stufe mit der Einübung motorischer Kompetenzen. Auf der Grundlage elementaren Begehrens und der Artikulation von Zielen lernt man erst, eigene Zwecke zu setzen, die man auf der Grundlage eingeübter Kompetenzen in der Bestimmung und Herstellung von Mitteln zumeist kooperativ und in sozialen Beziehungen realisieren kann. Über die Fokussierung auf die eigene, subjektive Person hinaus wird mit der geistigen Entwicklung im Können und Wissen die Wirklichkeit in allgemeiner Form theoretisch erkannt, also sprachlich erfasst. Und schließlich kann das theoretische Erkennen bzw. Sprechen, Urteilen und Schließen selbst thematisiert werden. Dies ist zunächst die Perspektive der Entwicklung dieser Kompetenzen. In ihrem Vollzug gehen wir in umgekehrter Richtung vor. Bei vollständig entwickelten Kompetenzen ist das metastufige Nachdenken über das Denken Ausgangspunkt für einen selbstbewussten Handlungs- und Lebensvollzug. Dies ist aber nicht immer notwendig. Ethisch richtiges Handeln verlangt z. B. häufig nur Kenntnis der erlaubten bzw. verbotenen oder gebotenen Handlungsformen, nicht ein autonomes Nachdenken über das, was als richtig gilt. Auch wenn Praktiker sich auf wissenschaftliche Theorien anderer Personen stützen, müssen sie nicht immer schon dessen Begründung kennen. Praxis als Anwendung einer wissenschaftlichen Theorie lässt sich daher von Wissenschaft als deren Prüfung trennen. Da die Wissenschaft selbst eine Praxis ist, die kooperativ den Zweck der Etablierung und Kontrolle allgemeinen Wissens verfolgt, ist ihre institutionelle Autonomie (neben den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen) wesentlich: Es sollen ja gerade bloß konsensuelle oder traditionell gelernte Meinungen überprüft und nicht einfach angewendet werden. Dabei hängen Innovationen wie die Auffindung und Formulierung von zu kontrollierenden Lösungen bekannter Probleme von personalen Erfahrungen und Kompetenzen, vom Wissen und Erkennen, aber auch von der Einbildungs- und Urteilskraft der forschenden Personen ab. In der unmittelbar praktischen Perspektive wird Wissen vorausgesetzt. In der Wissenschaft wird gelehrtes und gelerntes Wissen immer auch auf allgemeine Verlässlichkeit und gute Orientierungen hin geprüft, wobei das Ideal eine möglichst leicht lernbare, im Extremfall rein schematische, Anwendbarkeit ohne den Zusatz von Urteilskraft ist, wie sie aber selten oder nie ohne gravierende Nebenfolgen erreicht werden kann.

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Die Wörter „wahr“ und „vernünftig“ spielen übrigens in der Bewertung des Richtigen zu viele verschiedene Rollen, als dass wir uns blind an ihnen, also an „der Wahrheit“ oder „der Vernunft“, orientieren könnten. Die Prüfung allgemeiner Geltung prüft auch keineswegs, ob in allen Fällen schematischer Anwendung das Ergebnis richtig ist, sondern nur, ob es im guten Fall so ist. Eine theoretische Perspektive einzunehmen, bedeutet also, das Allgemeine des Wissens bzw. die begrifflichen Grundlagen des empirischen Urteilens und Schließens zu prüfen. Auf deren Grundlage sind ‚objektive‘ Urteile über die jeweiligen Themen, seien diese wiederholt beobachtbare Fakten, Techniken, eine gesellschaftliche Praxis, ihre Geschichte und so fort allererst möglich. Beispielsweise muss ein Politikwissenschaftler von seinen ‚persönlichen‘, also subjektiven, Vorlieben für eine politische Partei absehen können, um allgemein brauchbares Wissen zu generieren. Die bloße Neutralität ist zwar nicht hinreichend, um zu allgemeingültigen Urteilen über politische Sachverhalte gelangen können. Aber die Perspektivendifferenzen durchsichtig zu machen, ist eine notwendige Bedingung für jedes Wissen. Insofern forscht die Wissenschaft nicht in direktem Engagement der Teilnehmer an der gesellschaftlichen Praxis, in der sich eine Person als homo politicus für das einsetzen darf, was ihr richtig erscheint. Vielmehr geht wissenschaftliche Bildung über personale Selbstbestimmung einer praktisch handelnden Person hinaus. Jemand ist schon eine Person, bevor sie Wissenschaft betreibt, wie oben schon gesagt. Am Verhältnis zwischen Theorie und Praxis ändert sich nichts, wenn das theoretische Forschen nicht von einer Person allein ausgeführt wird, sondern arbeitsteilig organisiert ist. Zwar kann es in der Gesellschaft auch machtpolitische Verwerfungen und die Verweigerung von wissenschaftlichen Kooperationen geben, doch ändern diese historisch-faktischen Umstände nichts an der grundsätzlichen Funktionsbestimmung von Theorie bzw. Wissenschaft (einschließlich Philosophie) und Praxis und damit auch nichts an ihrem Verhältnis zueinander. Allerdings wandelt sich, wie sich zeigen wird, die institutionelle Verbindung von Wissenschaft und gesellschaftlicher Kooperationspraxis gegenüber der personalen hinsichtlich des Verständnisses von Selbstbestimmung bzw. Autonomie. Denn diese ist im Falle von Institutionen, im Unterschied zur personalen Bildung, relativ personenunabhängig zu organisieren und selbst eine kooperative Praxis. Auch wenn der Aspekt der Institutionalisierung am skizzierten formalen Verhältnis von Theorie und Praxis wenig ändert, so ist er doch für Wissenschaft und Bildung von zentraler materialer Bedeutung, da der Bildungsprozess in ihr administrativ organisiert wird. Der Unterschied zu einem rein personalen Bildungsverständnis wird schon im antiken Verständnis lehrbaren Wissens deutlich, das von Platon als epistēmē und mathēsis bildungstheoretisch begründet wurde. Da Wissen bei Platon und erst recht bei Hegel sowohl Ergebnis eines individuellen Lernens als auch wissenschaftlicher Entwicklungen darstellt, wird im Anschluss, mit Bezug auf die Positionen J. G. Fichtes, F. D. E. Schleiermachers, W. v. Humboldts und F. W. J. Schellings untersucht, wie die Institutionalisierung und die (inhaltliche und methodische) Spezialisierung von Wissenschaft, insbesondere durch die Universität14, etwas am 14

Es mag befremdlich sein, wenn philosophische Texte von der Universität handeln. Es ist aber keineswegs befremdlich, wenn sozialtheoretische philosophische Überlegungen gesellschaftliche Institutio-

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bildungstheoretischen Gehalt von Wissenschaft und an der Art des theoretischen Forschens ändert. Das von der Handlungskompetenz scheinbar weit entfernte reine ‚Expertenwissen‘ legt hier wohl tiefere Unterschiede nahe als nötig. Zwar bietet das Expertenwissen häufig keine unmittelbare Orientierungshilfe mehr für das alltägliche Leben und dessen Kooperationspraxis, wie sie Platon noch in seinem Programm einer politischen Theorie im Fokus hatte. Aber es gibt lokale Bereiche der Anwendung, um die wir alle wissen sollten. Bei Platon ging es wesentlich um eine Emanzipation von der unmittelbaren politischen Handlungspraxis, dem Streit der bloß erst zufälligen politischen Meinungen, so dass er sich eigentlich für die Etablierung politischer Wissenschaften besonders interessiert hatte, während sich Aristoteles um das enzyklopädische System allen Wissens bemüht. In der arbeitsteiligen Welt, in der nur manche sich z. B. um Atomphysik oder Astronomie kümmern, scheint eine umfassende wissenschaftliche Bildung nichts mehr zur Autonomie einer Person im Allgemeinen beitragen zu können, wie es das Ideal der Gelehrsamkeit noch suggeriert hat. Dieses stammt aus einer Zeit, als Wissenschaft noch weitgehend Philologie und Exegese eines begrenzten Schriftkorpus der Tradition war. Aber gerade damit war der Anspruch auf Autonomie der Bewertung der Texte noch nicht eingelöst. Was wir dennoch und sogar in erhöhtem Maße brauchen, ist Übersicht über das Ganze – und eine souveräne Beurteilung und Kontrolle der Funktionstüchtigkeit der Teile. Die Institution Universität ist daher für das Thema der wissenschaftlichen Bildung in zweifacher Hinsicht relevant. Zum einen ist zu klären, welche Rolle Wissenschaft als Bildungsziel in der akademischen Lehre spielt, zum anderen geht es um die Art der Institutionalisierung der wissenschaftlichen Praxis, durch die sie in einen zusammenhängenden Bildungsprozess eingefügt wird. Der erste Punkt ist grundlegender und geht über jede konkrete wissenschaftliche Einrichtung hinaus. Daraus leitet sich auch die formale Struktur der Universität als Bildungseinrichtung im Gegensatz zu einer reinen Forschungseinrichtung ab. Die Thematisierung der Universität als ein Teil des weiteren Bereichs der Wissenschaftspraxis wird zur übrigen gesellschaftlichen und politischen Praxis ins Verhältnis gesetzt. Aus den theoretischen Ansprüchen der Wissenschaft und dem Einfluss von Staat und Gesellschaft auf die institutionalisierte Wissenschaftspraxis können sich Spannungsverhältnisse ergeben, die dazu nötigen, das Verhältnis von Theorie und Praxis auf dieser Ebene zu beleuchten. Daraus ergibt sich die Frage nach der Bestimmung der wissenschaftlichen Autonomie im Kontext von praktischen Nützlichkeitsüberlegungen. Auf der anderen Seite ist seit der antiken Naturphilosophie nach Thales Wissenschaft immer auch eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Theorien. Die Allgemeingültigkeit einer Theorie erweist sich nicht nur am Erklärungspotenzial gegenüber empirischen Phänomenen, sondern auch an ihrer Widerlegung (oder allgemeiner: Kritik) konkurrierender Theorien. Die inhaltliche und methodologische Spezialisierung von Wissenschaft gewährt ihr zudem einen Spielraum der Diversifikation und Stufung von Theorien, sodass diese nicht unmittelbar auf die Praxis zu beziehen sind.

nen thematisieren, die z. T. dazu dienen, sich reflexiv mit der Gesellschaftsordnung als solcher und mit bestimmten Gesellschaftsordnungen auseinanderzusetzen. Eben durch diese Institution Universität lässt sich ihre eigene gesellschaftliche Notwendigkeit philosophisch ausweisen (und auf dieser Grundlage auf die Praxis beziehen). Genauer gesagt, legitimiert sich die Universität auf diese Weise selbst. Vgl. z. B. Jacques Derrida, Die unbedingte Universität, Suhrkamp 2002.

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1.3 Formentheorie und allgemeines Wissen (Platon) Das wissenschaftliche Denken (als theoria) ist von Anfang an bildungstheoretisch relevant. Damit ist eine neue Epoche in der gattungsgeschichtlichen Bildung der Menschen zu Personen entstanden. Ihr Beginn lässt sich bei Thales verorten. Er hat als Erster sein Denken einem allgemeinen Prinzip untergeordnet, durch das er die Dinge in der Welt erklären will.15 Das bedeutet, dass er (die einzelne Person Thales) die Betrachtung der Welt zu einem (allgemein lehr- und nachvollziehbaren) systematischen Wissen ordnet. Darin zeigt nicht nur in epistemischer Hinsicht seine selbstbestimmte Urteils-Kompetenz. In diesem Sinne propagiert Thales eine Abkehr vom Mythos hin zum Logos: Es ist die Ersetzung tradierter, konventioneller oder willkürlich erfundener Narrationen mit dem impliziten Anspruch, einen gemeinschaftlichen Glauben explizit zu machen oder als möglicherweise richtig auszuweisen, durch eine strukturierte und gegenüber anderen Überzeugungen besser begründete Ordnung des Wissens von der Welt. Das mythische Denken erzählt von einzelnen Begebenheiten, die zugleich als metaphorische Prototypen für ein allgemeines Verstehen stehen. Es zieht seine Verbindlichkeiten aus einer kollektiven Tradition, nicht etwa aus der (Amts-)Autorität von einzelnen Personen oder deren überragenden Einsichten. Aber es entzieht sich eben dadurch auch jeder Prüfung. Die einzelnen Personen übernehmen das je herrschende mythische Denken im Lernen und Reden. Sie machen es unhinterfragt zu ihren Überzeugungen bzw. Gewissheiten. Sogar ihre Zugehörigkeit zu der Gemeinschaft ist durch den Mythos vermittelt, der ja auch die (normativen) Überzeugungen der Gemeinschaft explizit macht. Thales hingegen liefert in seinem spekulativen Prinzip, dem zufolge alles aus Wasser hervorgegangen sei, eine neuartige Erklärungsform für die Entstehung der Welt und das Bestehen ihrer Substanz oder Materie. Bedeutsamer noch ist die von Heraklit hervorgehobene und bis heute in ihrer Bedeutung unterschätzte große ‚geometrische‘ Tatsache, dass die Sonne wegen ihrer unbezweifelbar großen Entfernung ungeheuer groß sein muss, womit kein Mythos von Helios und einem Sonnenwagen mehr zurechtkommt. Wir sollten daher Thales eher als ersten konsequenten Mathematiker und Geometer ansehen – und erst in sekundärer Hinsicht als ersten „spekulativen Chemiker und Biologen“, der über die Verwandlungen der Stoffe und das Hervorgehen des Lebens aus dem Wasser nachdenkt. Es stehen nach Thales also nicht etwa nur zwei spekulative Erklärungen einander gegenüber, so dass die Frage noch zu entscheiden wäre, welche als richtig oder befriedigender anzuerkennen sei. Es geht um radikal verschiedene Typen der Erklärung und um ihre selbstbewusste Prüfung oder Begründung. Im Fall der Größe der Sonne ist es klarer als im Fall des Anfangs mit dem Wasser, dass es sich nicht um eine private oder gar zufällige Überzeugung handelt. Es geht um Wissen. Insofern hat mit Thales und Heraklit ein eigenes Denkprinzip die normative Verbindlichkeit tradierter Mythen schon überwunden. Nicht nur die Möglichkeit, sondern die Notwendigkeit der kritischen Beurteilung rein mythischer ‚Erklärungen‘ ist die Folge.16 15

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Vgl. Alexander von Pechmann, Autonomie und Autorität. Studien zur Genese des europäischen Denkens, München 2008, S. 83 ff. James Lesher versteht unter „Prinzip“ eine Form des Naturverständnisses. (James H. Lesher, Das frühe Interesse am Wissen, in: Anthony A. Long, Handbuch frühe griechische Philosophie. Von Thales bis zu den Sophisten, Stuttgart, Weimar 2001, S. 208). Die Ausrichtung auf den sozialen Zusammenhalt ist ein Merkmal der Theogonie, nicht der Kosmogo-

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Diese kritische Haltung kann bzw. muss als Ausgangspunkt des wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens angesehen werden, wobei dieses wesentlich, aber nicht ausschließlich, von der selbstbestimmten Urteils-Kompetenz der Personen abhängt, die Wissenschaft betreiben. So soll bei Platon, wie schon bei Heraklit, nun auch die rein zufällige oder rein subjektiv oder intuitiv anerkannte Kooperationspraxis der kritischen Reflexion zugänglich gemacht werden. Platon hat den Prozess des Übergangs von vorgängigen Meinungen zum allgemeinen Wissen im Kontext einer stilisierten Überhöhung des historischen Sokrates dargestellt, dem er in seinen Dialogen so auch ein Denkmal gesetzt hat. Demnach ist Sokrates als jemand anzusehen, der in der gesellschaftlichen Praxis die Geltung von scheinbar allgemeinen Gewissheiten überprüft hat, wie es von Platon schriftlich ausgearbeitet worden und in seinen Dialogen überliefert ist. Wissenschaft im Sinne der theoretischen Erkenntnis der Wahrheit (oder Falschheit) von zunächst bloßen Meinungen versteht Platon als Resultat eines Bildungsprozesses. Aus der Orientierung an bloßen Meinungen über das, was wahr, gut und schön ist, soll ein sicheres, jedenfalls allgemein geprüftes und nicht nur angelerntes, nicht bloß mythisch tradiertes, Wissen werden. Ein solcher Standpunkt des Wissens erfordert eine graduelle Loslösung oder Emanzipation von einem unmittelbaren Lebensvollzug in der Kooperationspraxis und den ihr immanenten, impliziten, anerzogenen Überzeugungen. Paradigmatisch ist diese Überwindung der öffentlichen Meinung für Platon in der Person des Sokrates verkörpert, dessen Einsicht in die Mängel der politischen und religiösen Institutionen (z. B. der Orakelbefragungen vor militärischen Entscheidungen oder der Verbannung besonders kompetenter Politiker) verständlicherweise einen schweren Stand hatten. Dabei hilft auch das selbstreflexive Wissen noch nicht weiter, dass eine Performation der Form „ich weiß, dass p“ noch kein Wissen, sondern bloß erst eine doxa, eine subjektive Meinung artikuliert. Das drückt der berühmte Satz des Sokrates aus „ich weiß, dass ich nicht weiß“, der bis heute in der Form „ich weiß, dass ich nichts weiß“ falsch übersetzt und damit schon fehlgedeutet wird. Es geht nicht um eine sophistische Skepsis im Sinne bloß rhetorisch gemeinter Unwissenheit, sondern um eine logische Unterscheidung zwischen Wissen und Meinung, und zwar so, dass der Idealbegriff den Realbegriff nicht völlig zerstört. Das geschieht immer dann, wenn man von einem absoluten Wissen spricht, für das jede Unrichtigkeit so ausgeschlossen wird, dass am Ende nur ein Gott etwas weiß, Menschen aber nur mehr oder weniger gut gerechtfertigte Überzeugungen haben. Nur wer nicht genau liest, meint, dass das „nicht“ einen sich aufhebenden Selbstwiderspruch artikuliert. Das „nicht“ steht vor dem Wissen. Das heißt, Sokrates negiert nur die Behauptung, ein absolutes Wissen im skizzierten Sinn zu haben, nicht die Berechtigung von Wissensansprüchen. Mit anderen Worten, Sokrates sagt, dass aus einer Behauptung „ich weiß, dass es so und so ist“ nicht schon (immer) folgt, dass es so und so ist. Es kann also die ‚objektive‘ (bzw. reflektierte) Aussage, Sokrates weiß es“ nicht blind aus seiner Selbst­ gewissheit gefolgert werden. Trotzdem gibt es relativ klare Fälle, in denen wir sagen können nie, wie Keimpe Algra betont (Vgl. Keimpe Algra, Die Anfänge der Kosmologie, in: Anthony A. Long, Handbuch frühe griechische Philosophie. Von Thales bis zu den Sophisten, Stuttgart, Weimar 2001, S. 45). Damit ist ein Wandel der Rede von „Gott“ und „göttlich“ verbunden, der – wie dann auch im 19. Jahrhundert wieder – den Bedeutungswandel nicht schon an der Textoberfläche offenlegt, sondern die Kontinuität des Denkens allgemeingültiger Wahrheiten betont.

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und müssen „ich weiß, das p, ich glaube es nicht nur“ oder auch „er weiß, dass p“ – und nicht sagen dürfen „er glaubt nur, dass p“. Man kann mit Menschen nicht leben, die immer nur sagen „ich glaube …“ und sich nicht an die Regel halten, dass man trotz aller Fallibilität von Einzelurteilen sagen muss: „es ist so …“, wenn die Begründung für den Normalfall als ausreichend anzuerkennen ist. Absolut ist, wie erst Hegel sehen wird, nur die performative Versicherung, die subjektive Gewissheit, nicht das Wissen oder die Erkenntnis. Etwas ist Wissen relativ zu seiner Kanonisierung. Erkennen ist relativ zur empirischen Richtigkeit von Aussagen. Das von Sokrates vorgeschlagene allgemeine Wissen muss z. B. noch von anderen als allgemeine begriffliche Regel anerkannt und jede empirische Erkenntnis als aus anderer Perspektive nachvollziehbar bewertet werden. Mit anderen Worten, Sokrates weiß um die Fallibilität empirischer Erkenntnis aus je meiner Perspektive und um die Transsubjektivität des allgemeinen Wissens als eines kanonisierten Systems begrifflicher Normen des Unterscheidens und Schließens (im Normalfall) – mit seinen formalen Schemata und dem Problem der erfahrenen Urteilskraft. All dieses wird von Sokrates und Platon vor Augen geführt.17 Die Fallibilität des bloßen Urteils einzelner Personen wird ebenso anerkannt wie die Notwendigkeit der Prüfung von Wissensansprüchen durch andere Personen und ihre Verwandlung von einem subjektiven Glauben in ein kanonisch lehrbares Wissen durch allgemeine Anerkennung seiner Begründungen. Platons zunächst skeptische Phase in Bezug auf das Wissen zeigt sich darin, dass seine früheren Dialoge alle aporetisch, offen, enden. Sie stellen so nur erst die Probleme üblicher oder neuer, zunächst nur hypothetisch vorgeschlagener, Lehren dar. Inwiefern eine Emanzipation von kollektiven Meinungen – und damit auch wissenschaftliche Bildung – möglich ist, hängt nun ganz offenbar auch von gesellschaftlichen Bedingungen ab. Genauer, Wissenschaft als Institution setzt die kollektive Einsicht voraus, dass bloß tradierte, bloß ‚irgendwie‘ nützliche oder auch für den Zusammenhalt der Gemeinschaft bedeutsame Mythen (wie z. B. heute sogar noch in der Türkei, Arabien, China und vielen anderen traditionalistischen Ländern) nicht ausreichen. Eine gegen offenkundige Probleme der Unwahrheit stabile Praxis bedarf der wissenschaftlichen Kontrolle. Die theoretische Betrachtung ist nun gerade die Form der begründeten Darstellung kanonisch lehrbaren Wissens. Im Streit um mögliche Theorien bedarf es der Freiheit, d. h. der Einklammerung von Vor-Urteilen. Nur dann kann man überhaupt beginnen, Irrtümer aufzudecken, Probleme zu bestimmen und neue Entwicklungen des Wissens einzuleiten. Entsprechend diskutiert die Figur Sokrates in Platons „Staat“ die Möglichkeit einer gerechten gesellschaftlichen Ordnung und die Lebensform einer voll entwickelten oder gediegenen Person (psychē). Für die Verwirklichung der idealen Stadt bzw. der idealen Person ist es, Platon zufolge, notwendig, dass der wissenschaftlich Gebildete auch wieder zurück auf die Gesellschaft einwirkt. Und weil die wissenschaftliche Bildung in den gesellschaftlichen Verhältnissen den Ausgangspunkt ihrer Entwicklung hat und daher hinsichtlich der Möglichkeiten ihrer Ausübung durch sie bestimmt ist, liegt in der wechselseitigen Bezogenheit von Theorie und Praxis, gebildeter Person und Stadt, ein gegenseitiges Bedingungsverhältnis. 17

Vgl. Platon, Apologie des Sokrates, Manfred Fuhrmann (Hg.), Reclam 2001, 21d.

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Daraus ergeben sich Einschränkungen. So sind Veränderungen der Praxis vom jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis abhängig. Und umgekehrt kann wissenschaftliche Bildung nur in dem Maße allgemeinen Einfluss haben, wie es die Gesellschaft zulässt – wie man an der Verurteilung von Sokrates sehen kann.18 Die wechselseitige Bedingtheit kann allerdings nicht darauf hinauslaufen, die Überzeugung von bloß herrschenden Meinungen zum Maßstab des Prozesses wissenschaftlicher Bildung zu machen. So muss die Einsicht in das Wissen gerade dann in der Praxis leitend sein, wenn es um die Gesellschaft insgesamt geht. Platons vieldiskutierter und zumeist missverstandener ‚Philosophenherrscher‘ ist eine Person, die in der Praxis auf der Grundlage von Wissen über das für die Gesellschaft Gute politisch handelt. Sie macht Wissen eben deshalb zur Grundlage ihres Handelns, weil sie weiß, dass es für die Gesellschaft insgesamt gut ist.19 Die theoretische Erkenntnis kann daher selbst nicht der letzte anzustrebende Zweck sein. Das Gute ist damit nur erst verbal erkannt, noch nicht realisiert. Die reale Praxis entspräche noch nicht dem Guten. Aber jenseits von ihr gibt es auch nichts Gutes. Denn das Gute ist nur dann ein solches, wenn es theoretisch erkannt und praktisch angestrebt wird. Mit anderen Worten, Platon möchte nicht, dass der beste Akademiker zum Herrscher im Staat wird, wie viele seiner Leser meinen, sondern er möchte, dass die politisch Verantwortlichen politikwissenschaftlich ausreichend gebildet sind. In den Nomoi (Gesetzen) wird klar, dass das in gestuftem Maß für alle Bürger eines Staates gilt, so dass sich ein Erziehungsprogramm zu Republik und Demokratie für die Moderne sozusagen nahtlos ergibt. Das theoretische Wissen steht nicht prinzipiell den Meinungen in der Gesellschaft gegenüber, sondern nur dann, wenn diese sich gegen ein kritisches Nachdenken und Überprüfungen von Reichweite und Güte immunisieren. Platon zufolge ist ein gewisser Mangel an (explizitem) allgemeinem Wissen und ein gewisser Unwille der Reflexion auf Probleme der Gesellschaft strukturell immanent. Das wird zusätzlich dadurch problematisch, dass sie gemeinhin nicht um diesen Mangel weiß. Für die Vermittlung und für die Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Gesellschaft ist daher die Berücksichtigung der Akzeptanzbedingungen notwendig. Sie hat sich an dem Verhältnis der Verbundenheit der Gesellschaft mit der öffentlichen Meinung als Grundlage des Handelns zu richten.20 Das heißt, nicht jede Gesellschaft erträgt jede Wahrheit unmittelbar, so wie nicht jeder Schüler unmittelbar alles lernen und verstehen kann. Die Akzeptanzbedingungen bilden allerdings kein Wahrheitskriterium. Sie sind der Hintergrund, der als lehrbares Wissen nur gelten lässt, was mit dem unhinterfragten, die gesellschaftliche Praxis unmittelbar strukturierenden kulturellen Selbstverständnis vereinbar ist oder besser: erscheint. Darin drückt sich mehr eine praktische als eine theoretische Haltung 18

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Rüdiger Bubner (Theorie und Praxis bei Platon, in: Ders., Antike Themen und ihre moderne Verwandlung, Frankfurt a. M. 1992, S. 22–36, vgl. insbes. S. 34) wendet sich gegen eine Fundierung der Praxis aus der Theorie und wählt den umgekehrten Weg, indem er die Letztbegründung für das Theoretisieren in der Praxis sieht und damit die Idee des Guten erklärt. Dabei handelt es sich immer noch um eine Einseitigkeit, da die Praxis eben auch die Möglichkeit des Theoretisierens eröffnen muss. Der Grund für Bubners Urteil ist seine Vernachlässigung von Platons Bildungsgedanken. Vgl. Platon, Staat, Otto Apelt (Hg.), Hamburg 1989, 473c ff. Vgl. ebd., 517.

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aus, mehr ein politisches Programm als ein Interesse an Wissen und Wahrheit. Aber diese Begrenzungen sind immer auch zu beachten. Die Akzeptanz zeigt sich in der Rezeption publik gemachter Vorschläge zur Kanonisierung von Wissen, die man heute gelegentlich auch allzu schnell als unmittelbare Forschungsergebnisse liest. Die zuerst genannte Bedingung ist der Forschungsstand, der dem wissenschaftlichen Erkenntnisprozess zugrunde liegt und immer auch die Rolle des alten Mythos spielt, dort nämlich, wo er zu überwinden ist. In dieser Hinsicht bleibt die wissenschaftliche Tätigkeit nur insoweit von der gesellschaftlichen Praxis unbeeinflusst, als man zwischen internem, wissenschaftlichem, Wissensstand und externen, gesellschaftlichen und politischen Überzeugungen unterscheiden kann. Das Prinzip der relativen Freiheit der Wissenschaft ist ein Prinzip dieser Unterscheidung, die, wie Kant weit klarer als Platon sehen wird, zugleich zu einer Unterscheidung zwischen innerwissenschaftlicher Lehre und Diskussion und öffentlicher Lehre und politischer Debatte führt. Andererseits beeinflusst die Theorie die Praxis immer auch in ihrer jeweiligen Ordnung. Denn wissenschaftliche Erkenntnisse sind ja gute Gründe für die Entwicklung der Gesellschaft. 21 Das wird gerade dann deutlich, wenn die (politische, kulturelle, ökonomische oder technische) Praxis (aus interner Perspektive) nicht reibungslos vonstattengeht. Die Theorie kann so auch die Gesellschaft über sich selbst aufklären und möglicherweise auch unangenehme Wahrheiten öffentlich machen.22 Ein solches Verhältnis von Theorie und Praxis entspricht der theoretischen und praktischen Haltung einer Person. So wie diese unreflektiert praktisch auf eine Handlungsausführung fokussiert sein kann, kann sie dabei auch auf Probleme stoßen und über diese Probleme theoretische Betrachtungen anstellen. Wenn eine Lösung missfällt (etwa, wenn Handlungen dazu notwendig wären, die man lieber unterlässt), kann man auf sie und ggf. auf die weitere praktische Ausführung verzichten. Im positiven wie im negativen Fall ergeben sich durch eine neu gewonnene Erkenntnis neue Bewertungen der Praxis und neue Handlungsmöglichkeiten. Diese Bewertungen haben im Unterschied zur bloßer Meinung einen (je konkret anzuwendenden) allgemeinen Maßstab für die Handlung. So weist Platon selbst darauf hin, dass seine Untersuchung über die Verhältnisse im Staat als eine Vergrößerung der Verhältnisse der Seele der einzelnen Person aufzufassen ist.23 Mit Blick auf diese Perspektive der einzelnen Person ist zu berücksichtigen, dass Platon das philosophisch-wissenschaftliche Anliegen verfolgt zu erklären, was Wissen ist und wie es möglich ist, etwas zu wissen. Er macht damit den theoretischen Standpunkt selbst zum Gegenstand der Betrachtung, sodass er nicht nur die Praxis in schon allgemeiner theoretischer Form behandelt, sondern sich auch auf Fragen der Möglichkeit der Fixierung von Wis21

22 23

Auch die Rolle von Künstlern und anderen „Gebildeten“ oder Intellektuellen ist hier relevant. Als Intellektuelle i. e. S. sollen diejenigen verstanden werden, die sich mit Blick auf von ihnen konstatierte gesellschaftliche Probleme in der Gesellschaft engagieren. Im Unterschied zu Forschern bewegen sie sich im Bereich subjektiver Meinungen und Vorschläge Allerdings schließen sich Forschung und gesellschaftliches Engagement keineswegs aus, wie sich noch genauer als bisher zeigen wird, so dass es mögliche Fehldeutungen der „Wertfreiheit“ von Wissenschaft gibt. Vgl. ebd., 518a f. Vgl. ebd. 368e f.

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sen in materialen Begriffsbestimmungen bezieht, die man bis heute zumeist irrtümlich als bloße Verbaldefinitionen diskutiert.24 Da man jeweils nur die theoretische oder die praktische Perspektive einnehmen kann, entsteht automatisch der Eindruck, jene würde diese vereinnahmen. Im Gegensatz zu dieser Auffassung liegt der Vorzug von Platons Standpunkt darin, das Verhältnis von Theorie und Praxis in ihrer Verschiedenheit überhaupt erst bestimmen zu können. Während der Praktiker erst zum Theoretiker werden muss, hat dieser als Person (und Bürger) schon praktische Erfahrung und kann sich sowohl die Praxis wie die Theorie zum Gegenstand der theoretischen Erkenntnis machen. Wenn man Platons Standpunkt auf seine bildungstheoretischen Überlegungen bezieht, so ist es sein Verdienst, den Bildungsgang, der zu diesem Standpunkt hinführt, selbst wieder in den Blick nehmen zu können. In dieser Perspektive ist die die moralisch-praktisch selbstbestimmte Person für das theoretische Erkennen vorausgesetzt – und sie ist als solche ein möglicher Erkenntnisgegenstand einer philosophischen Pädagogik oder auch pädagogischen Philosophie. Die Methode des Bildungsprozesses, der zum wissenschaftlichen Erkennen führt, wird in Anlehnung an Platons Dialoge als „sokratisch“ bezeichnet.25 Nach Platon hat Sokrates die Bildung revolutioniert, indem er die kritische Prüfung von allgemeinen Wissensansprüchen und, damit verbunden, die Möglichkeit der selbständigen Entwicklung von Wissen aufgrund eigenen Urteilens zum Ziel des Erkenntnisstrebens machte.26 Diese Ausrichtung auf sicheres und allgemeingültiges Wissen und Wahrheit ist nicht nur vom mythischen Denken verschieden, sondern ein Gegenentwurf zur etablierten Sophistik, welche die Möglichkeit allgemeinen Wissens über das empirische Kennen hinaus negierte. Aus der Skepsis gegenüber einer Auffassung von Wissen als eidetisch-generischem Zugang zum Allgemeinen motiviert sich die reduzierte Aufgabe des Empirismus, nur noch rhetorische Fertigkeiten und empirische Häufigkeitsurteile zu lehren.27 Solcher Unterricht hat rein lebenspraktische Zwecke und ist eben damit zu eng. Man kann dann bestenfalls okkasionell erfolgreich politische Reden halten, die für die Öffentlichkeit der Polis, ob vor Gericht, in der politischen Versammlung oder bei einer Festveranstaltung, ihre jeweilige Wirkung entfalten. Nachhaltiges Wissen über die Institution erreicht man so nicht. Die Unterweisung bestimmter Fertigkeiten ist zwar ein Bestandteil jeder Erziehung. Weil damit aber die Zwecke, für die sie verwendet werden, nie exklusiv festgelegt sind, können die Fertigkeiten selbst nicht per se als gut oder schlecht, sondern nur als geeignet oder ungeeignet für bestimmte Zwecke beurteilt werden. Insofern ist die Lehre rhetorischer 24

25 26

27

Nach Anthony A. Long war Platon „der erste griechische Denker […], der ausdrücklich über die Natur der Philosophie theoretisiert hat.“ (Anthony A. Long, Das Anliegen der frühen griechischen Philosophie, in: Ders. (Hg.), Handbuch frühe griechische Philosophie. Von Thales bis zu den Sophisten, Stuttgart, Weimar 2001, S. 3.) Vgl. z. B. Immanuel Kant, Über Pädagogik, in: Wilhelm Weischedel (Hg.), Immanuel Kant Werkausgabe. Bd. XII Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2, Frankfurt a. M. 2000, A 90. Vgl. Ursula Wolf, Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, Reinbeck 1999, S. 39 und Paul Woodruff, Rhetorik und Relativismus: Protagoras und Gorgias, in: Anthony A. Long, Handbuch frühe griechische Philosophie. Von Thales bis zu den Sophisten, Stuttgart, Weimar 2001, S. 268 ff. Er erwähnt auch die Täuschungsmöglichkeit durch die Rede (vgl. ebd. S. 273 u. 274). Vgl. ebd., S. 264 ff.

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Fertigkeiten nicht aus Sicht des theoretischen Erkennens zu kritisieren, sondern nur von der Praxis her. Die Kritik, die Platon an die Sophisten richtet, nämlich die fehlende Ausrichtung auf die Wahrheit28 und damit ein Verharren in Relativismus und Skeptizismus, trifft die Sophistik dennoch uneingeschränkt.29 Denn die Sophisten können nicht einmal ihre relative Bedeutung beurteilen, wenn sie für sich selbst beanspruchen, mit willkürlich-empirischen Urteilen die Erkenntnismöglichkeiten ausgeschöpft zu haben. Ein solcher Verzicht auf allgemeingültiges Wissen und die Orientierung an der bloßen Meinung zu begrenzten lebenspraktischen Zwecken können das Gelingen der Kooperationspraxis nicht sicherstellen. Denn ob die eigene Meinung über die Qualität der eigenen Handlung gut und wahr ist, ist dann nicht nach objektiven bzw. allgemeingültigen Kriterien beurteilbar. In diesem Sinn erweist Platon die Position des sophistischen Lehrers als in sich selbst widersprüchlich, weil es für Relativisten aufgrund der Subjektivität des Standpunktes nichts allgemein Verbindliches zu lehren gibt und für Skeptiker die Lehre z. B. davon, dass bestimmte Fertigkeiten wichtig sind, schon von den eigenen Schülern bezweifelt werden kann.30 Es scheint zu folgen, dass allgemeine Wissen entweder lehrbar und als solches erkennbar ist oder die allgemeine Lehre wie zu Zeiten des Mythos ganz auf die Vermittlung von Wissen zugunsten eines bloß kollektiven Glaubens bzw. reiner Überredung zu einem bloß faktischen Konsens verzichten muss. Der erste Fall schließt die Lehre von bloßen Meinungen aus, weil diese Lehre gerade Ausdruck eines relativistischen oder skeptizistischen Standpunktes ist und nicht dem Bildungsziel des personenübergreifenden allgemeingültigen Wissens dient. Der zweite Fall eröffnet aufgrund seiner offenkundigen Unzulänglichkeit den Blick dafür, dass das Wissen nicht schon deshalb eines ist, weil man es von anderen gelernt hat. Damit wird die Möglichkeit der Wissensbegründung ausschließlich durch (verbale) Lehre (und praktische ‚Abrichtung‘) insgesamt negiert und das eigene Mit- und Nachdenken samt der eigenen Erfahrung und Erkenntnis des kompetenten einzelnen Subjekts zusätzlich ins Spiel gebracht.31 Das Daimonion des Sokrates ist eine metaphorisch als ‚innere Stimme‘ explizit gemachte Variante dieser Notwendigkeit, selbst zu urteilen. Platons Sokrates geht im Dialog mit seinen Gesprächspartnern von der skizzierten Komplizierung des Lehr-Verhältnisse aus. Das Gespräch unterscheidet sich aufgrund seiner ‚sokratischen‘ Frage-Antwort-Struktur und der ironischen Feststellung des Nichtwissens des Sokrates (im Blick auf seine eigenen Einzelurteile als bloßen Vorschlägen zum gemeinsamen Nachdenken) von der unterweisenden Lehrform. Im sophistischen Monolog wird die gemeinsame Überprüfung der Inhalte einfach umgangen. Sokrates dagegen zwingt dazu, durch 28 29

30 31

Vgl. Platon, Sophistes, in: Ursula Wolf (Hg.), Platon Sämtliche Werke. Band 3, Reinbeck 2007. Ursula Wolf versteht die Sophistik wegen ihres Hinterfragens von Mythen und Konventionen als „eine Art Aufklärungsbewegung“ (Dies., Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, Reinbeck 1999, S. 32). Ein solches Anliegen lässt sich aber nur auf einer grundlegenden theoretischen Ebene formulieren, die von der Sophistik jedoch selbst in Frage gestellt wird. Daher scheint sie mehr eine Folge einer Tendenz zur Aufklärung zu sein als ihr zentrales Movens. Zumindest die rhetorische Wirksamkeit schließt das mythische Denken nicht per se aus. Vgl. Paul Woodruff, Rhetorik und Relativismus: Protagoras und Gorgias, in: Anthony A. Long, Handbuch frühe griechische Philosophie. Von Thales bis zu den Sophisten, Stuttgart, Weimar 2001. Er versucht die Sophistik dennoch zu verteidigen. Ein darauf begründetes Wissen lässt sich natürlich vermitteln; diese Vermittlung ist nur nicht der Grund, es für Wissen zu halten. Die Vermittlung ändert nur nichts an der Wahrheit oder Falschheit.

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eigenständiges Denken selbst über die Wahrheit einer Aussage zu entscheiden bzw. sich über das bloße Nachplappern hinaus deren Inhalt zu eigen zu machen. Sokrates praktiziert also bei weniger gebildeten Gesprächspartnern eine „Hebammenkunst“ (Maieutik), insofern diese durch den Dialog dazu gebracht werden sollen, ihre eigene Urteils-Kompetenz zu entwickeln, die notwendig ist, um subjektiv erkennen und ‚wissen‘ zu können, was wahr, schön und gut ist – und was das jeweils heißt. Bei ebenbürtigen Gesprächspartnern wird hingegen deren Urteils-Kompetenz eher geprüft als entwickelt. Durch einen solchen Dialog kann jemand lernen, nicht mehr bloß Vermutungen anzustellen oder sich auf bloß tradierte oder subjektive Gewissheiten zu berufen. Wenn Sokrates durch seine Fragen das Gespräch führt, nimmt er auch Einfluss auf den Denkprozess des Gesprächspartners, erspart ihm dadurch aber gerade nicht das eigene Urteilen. Der Grund für die Überlegenheit des Sokrates liegt dabei entweder darin, dass die ‚Schüler‘ zumeist noch zu jung und unerfahren sind, um sich ihres Urteils sicher zu sein (z. B. Theaitetos im gleichnamigen Dialog) – oder darin, dass diejenigen, die eine Überzeugung aufgrund reiflicher Überlegung vortragen (z. B. Protagoras im gleichnamigen Dialog), von sich aus schon den Bereich möglicher Einwände strukturieren (und daher nicht nur widerlegt, sondern zu einem Teil der Lösung werden).32 In beiden Fällen werden die Wissensansprüche aus ihren eigenen impliziten Voraussetzungen heraus überprüft – statt einfach einen entgegengesetzten dogmatischen Standpunkt einzunehmen. Für die Prüfung der Überzeugungen ist entscheidend, dass sie nicht selbst schon auf unbewusst unterstellten und damit ungeprüften Annahmen beruht. Daher ist der Standpunkt des ‚Nichtwissens‘ notwendigerweise der methodische Ausgangspunkt zur Prüfung des Wahrheitsanspruchs des Proponenten. Das ist der tiefe Grund dafür, dass eine ‚sophistische‘ Skepsis bei Sokrates zur Basis kritischer Wissenschaft werden kann. Damit ist zugleich ausgeschlossen, dass der Opponent, also Sokrates, irgendwelche ungeprüfte Prämissen heranzieht, die die Argumentation der Dialoge intransparent machen würden. Die für den Fortgang der Argumentation notwendigen Annahmen werden von Sokrates ggf. als bloß hypothetische eingebracht. Diese Prüfung von Wissensansprüchen führt in der Weise des Dialogs somit die Art des Denkens vor, die die Leser schließlich selbstständig durchführen können sollen. Die dialogische Form veranschaulicht die selbständige Tätigkeit der nachdenkenden Beurteilung von Wissen, weil Denken „ein Gespräch ist, das die Seele mit sich selbst darüber durchführt, was sie gerade untersucht“ und das heißt „einen Dialog führen“, dessen Resultat eine Überzeugung ausdrückt . „Doxa“ wird üblicherweise mit Meinung übersetzt, doch an dieser Stelle scheint wie an vielen anderen „Überzeugung“ oder auch „Anschein“ angemessener.33 Neben der Struktur unterscheidet sich der sokratische Dialog auch im Hinblick auf die Fragestellung von einer zu engen Sophistik. So ist beispielsweise die Frage, was Wissen ist, 32 33

Leonard Nelson hat den sokratischen Dialog zu einem sokratischen Gespräch ausgebaut, um ihn auch für Seminare anwendbar zu machen (Vgl. Leonard Nelson, Die sokratische Methode, in: Dieter Birnbacher, Dieter Krohn (Hg.), Das sokratische Gespräch, Stuttgart 2002, S. 21–72). Platon, Theaitetos, Ekkehard Martens (Hg.), Stuttgart 2003, 189e f. Allerdings ist die sokratische Ironie, mit der Sokrates seinen Gesprächspartner durch vorgebliches Nichtverstehen seiner Äußerung zu einer genaueren Erläuterung zwingt, nur bei mindestens zwei Personen möglich, auch wenn der Einzelne eigene Ansichten selbst bezweifeln kann.

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im Dialog „Theaitetos“ derart gestellt, dass über die Definition und die Möglichkeit ihrer Existenz nachgedacht werden muss. Wissen wird durch ein Denken gesichert, das die Möglichkeit sinnvoller begrifflicher Zusammenhänge anhand von Schlussfolgerungen über die so entstandenen Aussagen und ihre Kohärenz bzw. Widerspruchsfreiheit (explizit im „Sophistes“) prüft. Erfahrungsurteile über bloß einzelne ‚empirische‘ Fälle hier und jetzt oder gestern und vorgestern sind weder Erkenntnisziel noch zureichende Grundlage allgemeinen Wissens, sondern können eine gegebene Lehre, verhandelte Ansicht bzw. einen Wissensanspruch nur stützen oder im Prinzip in Frage stellen. Das denkende Suchen nach Wissen kann selbst thematisiert werden, wie Platon dies im „Theaitetos“ macht. Dieses Wissen von dem, was Wissen ist, ist die Bedingung dafür, überhaupt Wissensansprüche stellen zu können. Daher muss jeder, der behauptet, etwas zu wissen oder zum allgemeinen Wissen beizutragen, zumindest implizit ein gewisses Vorverständnis von Wissen haben, an das sich anknüpfen lässt, um es dann in wissenschaftlicher Form explizit und überprüfbar machen zu können. Im Fall der empirischen Anwendung muss diese normgerecht sein bzw. mit Urteilskraft an den relevanten Fall angepasst werden. Die empirischen Aussagen sind davon abhängig, einen nicht-empirischen Begriff von Wissen zu haben.34 Erst ein solcher von der Erfahrung einzelner Subjekte ‚entgrenzter‘ und doch definiter Begriff ist allgemein gültig und für die Möglichkeit, dass einzelne Subjekte Ansprüche auf Wissen und Kenntnisse stellen, notwendig vorausgesetzt. Platon sieht, dass nur auf diese Weise einzelne Erfahrungen als Erkenntnisse in der Anwendung von Wissen oder sogar schon als Gründe für eine Wissensverbesserung ausgewiesen werden können. Partikulare Wissensansprüche können somit allgemein gültig werden. Weil das angemessene Verständnis von Wissen aber selbst Resultat eines Erkenntnisprozesses oder einer Kanonisierung von Defaultnormen ist, nicht anders als im Fall von Sprachregeln, besteht für ihn die Aufgabe nicht bloß darin, diese Definitionen einfach zu lehren. Es bleibt dem Leser der Dialoge überlassen, deren Argumentation zu folgen, um sich schließlich aus eigener Einsicht ein Urteil über eine passende Definition zu bilden. Das ist der wahre Kern der sokratischen Ironie, der distanzierten Urteilsenthaltung in vielen scheinbar oder wirklich aporetisch endenden Dialogen Platons. Auf der Grundlage der allgemeinen Ausrichtung der Dialoge kann man nun drei bildungstheoretische Konzeptionen der Erkenntnisgewinnung bei Platon unterscheiden. Zunächst findet sich die Anamnesis-Konzeption im Dialog „Menon“, dann die Ideen-Schau im „Staat“; und schließlich enthält die Wissensdefinition im „Theaitetos“ das Element der Rechtfertigung. Alle drei Konzeptionen sollen erklären, wie man etwas allgemein wissen oder etwas als etwas empirisch erkennen kann. Allerdings unterscheiden sie sich im Hinblick auf bildungstheoretische Implikationen. In der Regel prüft Sokrates Wissensansprüche der Gesprächspartner. Doch im frühen Dialog „Menon“ will er schon im Rahmen der Frage nach der Lehrbarkeit der Tugend zeigen, dass man aus eigener Einsicht bloße Meinungen in ein Wissen transformieren kann. In diesem Lernprozess wird die Meinung selbst zum Gegenstand der Betrachtung, also nicht einfach behauptet. Deren Wahrheit wird durch die Angabe eines allgemeinen Verfahrens, 34

Vgl. Platon, Siebter Brief, in: Ursula Wolf (Hg.), Platon Sämtliche Werke. Band 3, Reinbeck 2007, 342a ff.

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welches das Urteil stützt, belegt.35 Die Verdoppelung des Quadrats ist dabei so allgemein einsehbar wie jeder andere geometrische Satz, z. B. der des Heraklit zur Größe der Sonne. Wenn einer die Begründung selbst liefern kann, worauf es Platon ankommt, dann muss er erstens einen allgemeinen Wissensbegriff und zweitens einen Fundus an allgemeinen Wissen schon praktisch voraussetzen. Deren Explikation ähnelt dem Fall, in dem man sich an etwas, das man schon kennt, wieder erinnert. Diese Anamnesis-Lehre ist daher nur eine Allegorie für eine gewissermaßen als gegeben zu betrachtende allgemeine ‚Wahrheit‘ der Inhalte des Wissens. Man kann Wolfgang Wielands Platon-Deutung in diesem Sinn lesen. Wahrheit, alētheia, zeigt sich in der Offenbarkeit eines gemeinsamen Könnens und am Ende nirgends sonst. William James weiß entsprechend schon, dass sein pragmatistischer Wahrheitsbegriff auf Platon zurückgeht – nicht anders als John Deweys Bildungsbegriff, wie wir heute vielleicht besser als damals sehen können. Das Überlegen hängt nicht von einem beliebigen vermittelten Lehr-Gehalt ab, sondern ergibt sich aus der Einsicht in den Zusammenhang des Wissens als Gesamtheit formal wahrer Urteile mit praktischen Erfahrungen. Daher kann der Lernende durch eigenes Nachdenken entdecken, wie gelernte theoretische Wahrheiten praktisch fungieren. Und er kann allgemeines Wissen ‚entdecken‘. Schlagende Fälle stammen generell aus der Geometrie, wie die Verdoppelung der Fläche von Quadraten beliebiger Größe über den Weg diagonaler Teilung oder der ‚Strahlensatz‘ der Geometrie, der nach (Thales und) Heraklit die relative Größe der Sonne in Abhängigkeit von ihrer Entfernung bestimmt. Nicht das empirische Lernen, sondern die Einsicht in die Wahrheit des Wissens ist also nach Platon metaphorisch eine Wiedererinnerung („Anamnesis“36). Das ist so, insofern wir den Inhalt selbst überprüfen und als wahr einsehen können, nicht deshalb, weil uns eine Art früher gelernte innere Stimme zur Verfügung stünde, wie das im realen Gedächtnis der Fall ist. In der Geometrie kennen wir z. B. die Größenunabhängigkeit geometrischer Formen praktisch sehr genau. Analoges gilt für Urteile über das moralisch Richtige. Für dieses gibt es ein Wissen von der Tugend über reine Konventionen hinaus. Von bloßer Meinung unterscheidbar ist das Richtige erst in einem solchen Wissen von einer nicht bloß auf Sitten beruhenden aretē, der Sittlichkeit als allgemeiner Tugend. Die Frage nach der Lehrbarkeit der Tugend bringt nun das Problem mit sich, dass das Wissen von ihr die Übertragbarkeit des Begründungsverfahrens, der allgemeinen Bestimmung der Tugend, auf den Bereich der Praxis voraussetzt, in dem es um auf das Gute bzw. Erstrebenswerte ausgerichtete Handeln geht. Wenn dieses aber als ein allgemeines Wissen eingesehen wird, folgt daraus noch keine unmittelbare Bestimmung der Handlung in einer konkreten Handlungssituation, wohl aber ein Sollen, das nicht unmittelbar ein Sein zur Folge hat. Umgekehrt folgt aus einem Sein, etwa dem schlechten Benehmen vieler, noch nicht unmittelbar ein Sollen. Wenn andererseits die Erfahrung der Handlungssituation den alleinigen Grund für das Handeln abgeben würde, dann gäbe es keine allgemeingültige Bestimmung der Richtigkeit der Handlung. Man meint dann nur, jeweils das Richtige zu tun, ohne dass man Kriterien des Richtigen und Falschen nennen könnte, die nicht schon tautologisch bzw. irreführenderweise 35 36

Vgl. Platon, Menon, Klaus Reich (Hg.), Hamburg 1993, 98a. Vgl. ebd., 81d.

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aus dem faktischen Tun selbst abgeleitet werden. Denn wer etwas tut, hält es für gut. Aber deswegen ist es noch nicht gut, wie Sokrates schon sieht. Angesichts des ungelösten Problems des Verhältnisses zwischen Sein und Sollen kann nicht endgültig bestimmt werden, was Tugend ist. Ihre Lehrbarkeit könnte deshalb bezweifelt werden. Denn das Handlungssubjekt muss selbst erst beide Ebenen miteinander vermitteln, zumal die verbale Nennung allgemeiner Verfahrensweisen nicht ausreicht. Das Problem der (Un-)Möglichkeit der Lehrbarkeit von Tugend hat seinen tiefen Grund also darin, dass die Tugend von jeder Person selbst eingesehen und nach eigenem Ermessen angewendet werden muss – sodass die Gefahr der Selbstgerechtigkeit und ‚Asebie‘, der Verachtung von tradierter Sitte und Recht, auch der Religion, entsteht, wie wiederum der Fall des Sokrates zeigt. Im „Staat“ wendet sich Platon der Ebene des Wissens überhaupt zu, indem er zeigt, dass das Wissen wesentlich durch einen Bildungsprozess generiert wird, der bis auf den Grund der Möglichkeit des Wissens gerichtet ist. Das allgemeine Wissen von Gegenständen offenbart diese in ihrer allgemeinen Bestimmung, ihrem Wesen, das nicht auf die Vorstellungen des einzelnen Erkenntnissubjekts und des situationsgebundenen Erkenntnisaktes reduzierbar ist. Das Wesen zeigt sich in der ideellen, formen- oder strukturtheoretischen, aber je konkreten, Erkenntnis der Gegenstände. Das Muster des zugehörigen allgemeinen Wissens liefert weiterhin die Geometrie. Als Aktualisierungen von Formen oder Ideen (eidē) sind die Dinge, Platon zufolge, Teil einer Gesamtordnung dessen, was es gibt. Ideen werden nicht empirisch erkannt, sondern in Theorien formuliert und als mathēsis verbal gelehrt Das Wissen des Allgemeinen ist damit keine bloße Konstruktion im Sinne einer rein konventionellen Erfindung, sondern ist in dem Sinne allgemein, als es von Personen gemeinsam geteilt wird und sogar schon das Urteilen und Handeln des Unwissenden mitbedingt. Die Einheit eidetischer bzw. generischer Ordnung bestimmt im Ganzen, holistisch, was die Dinge ihrer Wesensart, Spezies (eidos) oder Gattung (genus) nach sind, wobei dies in den Theorien inferenziell und differenziell beschrieben wird. Platon macht die Verfassung von Begriffen explizit in der ‚dihairetischen‘ Zergliederung der Bedeutung von „Sophist“ und „Politiker“ im Rahmen der Bestimmung spezifischer Eigenschaften in den entsprechend benannten Dialogen.37 Es ergibt sich ein allgemein formuliertes Wissen dazu, wer nicht voll wissenschaftlich gebildet denkt und urteilt, sondern bloß erst sophistisch bzw. wer noch nicht voll politisch agiert, sondern bloß erst rhetorisch. Entsprechend sind die Begriffe in den Gegenstandsbereichen des Wissens von der Natur und dem Geist in ihren idealtypischen Erfüllungsbedingungen von empirischen Privationen, also Mängeln, realer Aktualisierungen zu unterscheiden. Die jeweils übergeordnete Einheit heißt, wie wir sehen, „Gattung“ oder „genos“, die besondere Bestimmung heißt auch „eidos“ oder „species“, so dass der Begriff extensional zur Art, intensional zur Artform, also zur Seinsweise der Art oder auch zur (inferentiellen und dispositionellen) Sinnbestimmung einer Benennung einer Klasse von Sachen wird. So ist z. B. die Klasse der Feuerlöscher definiert dadurch, zu was das Gerät oder der Stoff taugt. 37

Die Idee (idea) ist bei Platon als objektive Entität in der Welt gedacht und insofern vom Begriff (logos) als Element der Rede (oder besser: des Redens eines Subjekts) zu unterscheiden. Zwar gilt das Verfahren auch für Begriffsbestimmungen, doch stellt die Objektivität eine größere Unabhängigkeit vom Subjekt dar als der Begriff.

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Insofern ist die vermeintliche Ideen-Schau Platons ein Denken über die begrifflich wesentlichen und doch je besonderen Artformen der Gegenstände. Nur die Darstellungsform lässt es so erscheinen, als wären die Sachen und Dinge an und für sich, also außerhalb unserer begrifflichen bzw. ‚logischen‘ Festlegungen so und so bestimmt. Der logos, die Form des Redens, bestimmt die Sachen in ihrer generischen Form oder eidetischen Typ intensional, inferentiell, z. B. dispositionell, was über die bloße Klassifikation von Wahrgenommenem weit hinausgeht. Wissen ist die Erkenntnis der Dinge ihrer allgemeinen Form nach, wie sie sich notwendigerweise aus unserer systematischen Ordnung und Unterordnung der Begriffe (Teilformen, Arten, Ideen) ergibt. Zur Aneignung von Wissen ist somit nach Platon eine Umwendung der Ausrichtung des Erkennens weg von der bloßen Wahrnehmung von Einzelnem, der nur impliziten Anwendung der Begriffe auf perzipierte Objekte, hin zu ihrer allgemeinen Reflexion auf die eidetische bzw. generische, damit inferentielle, Konstitution der Begriffe und somit auch der so genannten ‚Wesensbestimmungen‘ der Sachen und Dinge im Nachdenken über das Reden und Denken, über Sprechsprache und Schrift notwendig. „Es wäre demnach die Bildung eine Kunst, dieses Organ umzuwenden, die Art und Weise nämlich, wie es am leichtesten und wirkungsvollsten umgewendet wird, nicht aber eine Kunst, die darin bestände, ihm die Sehkraft erst einzupflanzen; diese hat sie vielmehr schon; es ist nur nicht nach der richtigen Seite hingewendet und blickt nicht dahin, wohin es sollte, und dass dies geschehe, das ist eben, was unsere Kunst der Erziehung bewirken will.“38 Gemeint ist das „Organ“, „durch welches ein jeder zur Kenntnis kommt.“39 Wissen (epistēmē) ist daher nicht dasselbe wie das Ergebnis des empirischen Urteilens im Bezug auf einzelne Sachen hier oder dort. Aller deiktische, indexikalische oder anaphorische Bezug im Erkennen der doxa ist bloß erst ein empirisches Kennen von Einzelnem. Wissen ist auf allgemeine Bestimmtheiten, Typen und Formen generisch gerichtet. Alle Objektivität besteht in ihrer generischen oder eidetischen Allgemeinheit. Im Fall des Einzelerkennens besteht sie in der implizit angesprochenen Perspektiveninvarianz der Beurteilung von etwas als etwas. Dieses ist, genauer gesagt, immer bloß eine Kovarianz, weil man die Sätze von der Rede aus meiner Perspektive in die aus deiner übersetzen und damit die Erscheinungen einander zuordnen muss. Das allgemeine Wissen ist der Rahmen solcher ‚Übersetzungen‘ und der allgemeinen Bedeutungen, die ein objektbezogenes Verstehen, Urteilen und Schließen in der Empirie allererst ermöglichen. Das Wissen (die epistēmē) artikuliert also, schon Platon zufolge, eine sich aus der Gesamtordnung der begrifflichen Beziehungen ergebende allgemeine Formbestimmung. Zu ihrer Struktur gehören der Ausdruck bzw. das Wort (logos), die Gattung und Arttyp (genos und eidos). Sie stehen für allgemeine und besondere begriffliche Formen. Diese verweisen auf (je eingegrenzte) Klassen oder Mengen der Elemente (horos, meros). Auf dieser Grundlage können allererst sinnvolle, also gemeinsam verstehbare empirische Aussagen über ein Objekt hier oder dort getroffen werden, die wahr sind, wenn sich die wesentlichen Bedingungen guter gemeinsamer Orientierung im Umgang mit der Sache (regelmäßig oder im guten Fall) erfüllen. Sie sind falsch, wenn das irgendwie nicht der Fall ist. 38 39

Ebd., 518d. Platon, Staat, Otto Apelt (Hg.), Hamburg 1989, 518c.

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Wenn etwas nicht zur Wesensbestimmung gehört, ist es für die Frage nach der Wahrheit als irrelevant auszuschließen, so wie die Variationen bloß subjektiver Erscheinungen. Diese bleiben bloß erst relativ auf eine je individuelle Perspektive und damit allzu sehr an den subjektiven Vollzug des Erkenntnisakts als Versuch des Erkennens gebunden. Sie werden erst in perspektivisch invarianten Urteilen zu einer Erkenntnis. Aber auch rein kontingente Privationen sind als für das allgemeine Verstehen, Urteilen und Schließen unwesentlich einzuklammern bzw. in einer Logik der privatio oder sterēsis eigens zu behandeln. So ist z. B. schon bei Platon der Begriff des Sophisten ein allgemeiner Sammelbegriff für verschiedene typische Mängel von scheinbaren oder selbsternannten Wissenschaftlern – im Kontrast zum Ideal des philosophos. Aussagen über einzelne Gegenstände haben selbst schon eine generische Form, indem sie sagen, dass der Gegenstand, auf den man referiert, ein hinreichend gutes Paradigma, Exempel, des eidetischen Falltyps ist, den der Ausdruck (logos) als komplexes Begriffswort ausdrückt. Verstehen ist daher allein auf der Grundlage der Bestimmung allgemeiner begrifflicher oder semantischer Formen möglich. Es ist Verstehen von etwas Einzelnem als besonderem Fall von etwas Allgemeinem. Die Formen des Allgemeinen und Besonderen sind Bestandteile der beständigen Ordnung unserer Sprache einerseits, der durch sie gegliederten allgemeinen Wirklichkeit andererseits. Das Denken derselben kann nur in der Form der Reflexion, eines reflectere animum, erfolgen. Es gibt keinen unmittelbaren Zugang zu einer objektiven Ordnung der Dinge. Die Gesamtordnung der allgemeinen Bestimmungen ist freilich nicht einfach durch eine individuelle ‚Hinwendung‘ zu ihr erkennbar, als würde es bloß eines Entschlusses bedürfen, diese Hinwendung als Akt zu vollziehen. Es ist eine kollektive Arbeit am Begriff, beginnend mit seiner Explikation, welche Formen des impliziten Gebrauchs im Verstehen und Erkennen sprachlich in den Fokus rückt. Eine umfassendere begriffliche Ordnung allgemeinen Wissens kann in Platons Konzeption immer nur von einzelnen Ideen aus durch fortschreitendes Denken erkannt werden und nicht von einem obersten Prinzip oder einer Idee aller Ideen aus. Damit bleiben die menschlichen Wissensansprüche immer endlich, diskutierbar, angreifbar. Sie sind immer weiter zu entwickeln. Oder anders formuliert: Die Überprüfung des allgemeinen Wissens wird zur Daueraufgabe, aber nur dort, wo es einen hinreichenden Anfangsverdacht gibt, dass das bisher funktionstüchtige Verstehen und die zugehörige Praxis des kanonisch erlernten Urteilens und Schließens irgendwie nicht gut genug ist. Wissenschaft bedeutet, andererseits, unbedingt die Freiheit zu haben, eine solchen Anfangsverdacht zu artikulieren. Das, und nur das, ist der auf die gute Form des Wissens ausgerichtete Weg der Dialektik, der Methode der theoretischen Prüfung und Explikation von Wissen. In der empirischen Erkenntnis wird angelerntes Wissen nur angewendet. Die Herstellung des Zusammenhangs zwischen einem Begriff als differenzierter und inferenziell allgemeiner Formbestimmung und dem wahrgenommenen einzelnen Gegenstand in dessen Subsumtion setzt schon eine dialektische Vermittlung durch Urteilskraft voraus und damit ein gebildetes personales Subjekt. Das geht weit über die enaktive Perzeption eines auf seine Umgebung reagierenden Tieres hinaus, so dass wir auch zwischen einer bloß erst physiologischen und ethologischen oder verhaltenstheoretischen Perzeption und einer Wahrnehmung von Dingen in der Apperzeption unterscheiden müssen, welche längst schon ein spontanes, d. h. freies und handlungstheoretisch zu begreifendes begriffliches Urteilen

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voraussetzt. Nur so kann eine begrifflich geleitete Erkenntnis bestimmen, was das wahrgenommene Objekt ist. Diese allgemeinen logischen Beobachtungen, wie sie auch bei Kant zentral werden, liegen schon dem Bildungsprojekt von Platons „Staat“ zugrunde. Man muss lernen, was man von einem Gegenstand wissen muss, um zu wissen, was er ist. Insofern ist mit der Dialektik der Subsumtion schon die „Grenze für alle Wissenschaften erreicht“,40 oder besser, sie finden im guten Urteilen und Handeln, der idea tou agathou, ihr Ziel. In diesem Bildungsprozess liegen zwei Umwendungen zurück zur empirischen Wirklichkeit. Die erste besteht in der Umwendung zur praktischen und sich auf habitualisierte Wahrnehmungsurteile stützenden Lebenserfahrung, die zweite in einem eigens kontrollierten Übergang von der Theorie zur Praxis. Die Theorie soll nach Platons Konzeption nicht nur wissenschaftlich geprüftes Wissen hervorbringen bzw. explizit machen, sondern mit diesem kanonischen Wissen soll das Handeln angeleitet werden. Die Maieutik ist dabei ein Verfahren der Explikation impliziten Wissens und hat die Form der anamnesis, der Wiedererinnerung oder explizit gemachten praktischen Einsicht. Dieses Explizitmachen hat im Erfolgsfall die Form des ‚Heureka!‘ oder ‚ach jetzt weiß ich, wie es allgemein geht‘! Dies alles wird dann auch zentral für die Bildung von selbständigen Personen überhaupt. Für das richtige politische Handeln muss man z. B. vieles über die zu erwartenden Folgen institutioneller Entscheidungen und Regelungen, Gesetze und Sanktionsformen wissen. Daher sind reine Zufallsentscheide nach Möglichkeit auszuschließen. Ein komplexes Staatswesen braucht immer auch wissenschaftlich ausgebildete Fachleute. Das gerade bedeutet Platons Rede über einen philosophos, im Unterschied zum späteren anachronistischen Verständnis eines Philosophen als reinem Theoretiker. Es sollte also niemand ohne Wissen über das Politische ein Gemeinwesen leiten. Wegen der auch aus vielen anderen Gründen sich entwickelnden Arbeitsteilung ist es nach Platon notwendig, jedem die Bildung zu ermöglichen, die er für die Ausübung seiner Position im Staat braucht, sodass schon der bloß seine Vertreter wählende Staatsbürger – wie in Platons „Gesetzen“ (den „Nomoi“) als seinem Spätwerk – zumindest eine Grundbildung in Staatsbürgerkunde und Politik braucht.41 Jede gute Praxis in einer arbeits- und güterteilenden Gesellschaft bedarf nach Platon also eines soliden theoretischen Wissens, um in Realfällen das allgemein Wesentliche einer Sache zu erkennen.42 Das Ausmaß an Wissen und Bildung in Tiefe und Breite ist daher Maßstab der zivilisatorischen Kultur jeder Gesellschaft. Die Gesamtbeurteilung einer realen Gesellschaft ist somit schon ein theoretisches, genauer, hochstufig-spekulatives Problem. Maßstab ist hier das unterstellte Vorwissen darüber, was kriteriale Momente einer guten Praxis, der idea tou agathou, sind, wie sie artikuliert werden im Ideal einer vollkommenen Gesellschaft. Die Un40 41 42

Ebd., 535a. Vgl. ebd., 374e. Die Person wird durch zugeschriebene spezielle Funktionen in einem Staat definiert und zur Grundlage der Erziehung gemacht. Vgl. auch Johann Benjamin Erhards, auf Kant zurückgehenden Gedanken: „Es kann nichts in der Praxis gut sein, was der Theorie widerspricht, denn alsdann ist die Theorie schlecht, und nicht gut, die Praxis muss die Richtigkeit der Theorie beweisen, so wie hingegen die Theorie das bloße blinde Herumtappen in der Praxis verhüten muss“ (Johann Benjamin Erhard, Ueber die Einrichtung und den Zweck der höheren Lehranstalten. Berlin 1802, S. 266).

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terscheidung der theoretischen und praktischen Perspektive ist dabei Bedingung sowohl der Anwendung eidetischer bzw. generischer Formbegriffe als auch einer erfolgreichen Wechselwirkung theoretischer Explikation und praktischer Umsetzung. Wie stellt sich Platon nun die Möglichkeit der Veränderung der realen Gesellschaft durch Orientierung an einer akademisch vordiskutierten ideelen Theorie vor? Seiner Diagnose zufolge ist für eine solche Veränderung und Entwicklung nicht notwendig, dass jeder, der an der Praxis teilnimmt, schon aus eigener Erkenntnis die Real- und Idealbestimmungen der Praxis explizieren kann und der Modifikation in Orientierung am implizit schon anerkannten Ideal auch schon explizit verbal zustimmt. Vielmehr reicht die Anerkennung der Rahmenbedingungen der Kooperationspraxis, der Verfassung, und, wie Platon in den „Nomoi“ ausführt, eine durch gestufte Wahlen organisierte regelmäßige Kontrolle der Qualitäten des Leitungspersonals, der politischen und bürokratischen Fachleute in einer repräsentativen Republik (politeia, res publica), die heute „Demokratie“ heißt und dabei nur den Namen verändert hat: Platon benutzt noch das sprechende Wort „Aristokratie“ für eine meritokratische, d. h. auf Kompetenz aufbauenden, Herrschaft der Besten mit demokratischer Kontrolle, wie z. B. im Wahlsystem der „Nomoi“. Das Volk regiert also sich selbst, indem es die Fachleute, die in seinem Namen Gesetze erlassen und in der Rechtsprechung und Strafvollzug umsetzen, durch Wahlen kontrolliert, nicht dadurch, dass zufällige Ausgänge von Volksentscheiden über Sachen und Personen bestimmen. Die Deutung von dikē und dikaiosynē als Gerechtigkeit ist ein typischer Anachronismus, der aus ‚wörtlichen‘ statt sinngemäßen Übersetzungen resultiert, welche die Rolle von Wörterbüchern überschätzen. Es geht Platon nicht nur um die Umsetzung von Gerechtigkeit, sondern um eine im Ganzen richtige Ordnung der Gesellschaft. Diese macht er an der Verfassung des Staates fest, weil dieser alle weiteren Institutionen umfasst und über die governance direkt oder indirekt kontrolliert. Die indirekte Kontrolle interpersoneller Beziehungen als Folgeerscheinung der staatlichen Organisation lässt Platon allerdings (zunächst jedenfalls) unthematisiert. Erst die Stoa und das Christentum kommen hier systematisch-theoretisch und praktisch-organisatorisch wirklich voran.43 Nur um die Argumentationsform hinreichend einfach zu halten, blendet Platon in der Politeia die gesetzliche Verfassung des Staates, die Wahlen, Erziehungsprogramme und die Sanktionspraxis der Nomoi aus. Das führt zum Fehlurteil, Platon habe sich in seinem Idealbild darauf beschränkt, dass die (politik)wissenschaftlichen (‚philosophisch‘) gebildete Herrscher schon wisse, was ein guter Staat sei. Alle Staatsbürger brauchen sich nach dieser Lesart nur an der autokratisch kontrollierten Praxis zu orientieren, damit es eine gerechte Gesellschaft gibt. In Wahrheit geht es in der Politeia um eine allgemeine Skizze dafür, was nur im Idealfall ausreichen würde. Da aber die reale Welt den Idealfall ausschließt, bedarf es sozusagen ‚zweitbester‘ Verfassungen, wie Platon selbst klar sagt. Eine Kontrolle der Macht des Herrschers bzw. des Regierungspersonals durch das Volk wäre also nur in einer idealen Utopie überflüssig. Platons Idealismus ist demnach nicht von der Form, dass er je geglaubt hätte, dieses Ideal ließe sich irgendwie ‚hinreichend‘ realisieren. Das aber ist das übliche Platon-Bild. 43

Vgl. Platon, Nomoi, in: Klaus Schöpsdau (Hg.), Platon. Werke in acht Bänden, (Bd. 8/ 1), Darmstadt 2001, 643b ff).

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Man meint, Platon zufolge müsse es nur eine (aber v. a. überhaupt eine) Person geben, die fähig und in der Position ist, gute Politik zu machen – und über die mögliche Teilnahme an der Praxis hinaus diese theoretisch zu betrachten und prinzipiell verändern zu können. Man meint, dies sei nach Platon erreichbar über eine herrschaftsspezifische Bildung. Das ist aber alles wohl falsche, einseitige, Lektüre. Es bleibt noch übrig, die dritte bildungstheoretische Konzeption von Wissensgewinnung darzustellen. Im Dialog „Theaitetos“ setzt Platon nicht bei sinnexplikativen Definitionen bzw. empirischen Urteilen an, sondern bei Beweisen: Wissen ist eine wahre Rede mit einer zureichenden Begründung, also einem Beweis. Wieder ist der Denkrahmen mathematisch. Und wieder ist empirische Erkenntnis, gewonnen aus der Wahrnehmung (mit Urteil, also als Apperzeption) per se noch kein Wissen, sondern bloß subjektive Anwendung von Wissen, also doxa. Wäre dem anders, würde jede Wissenschaft nach Platon im Relativismus der perspektivischen Einzelurteile enden. Diesen Relativismus, den es zu widerlegen gilt, drückt Protagoras in seinem Homo-mensura-Satz aus. Demnach soll der einzelne Mensch in seiner doxa das Maß aller Dinge und jeder Wahrheit sein. Wahr sei nur das, was je mir als wahr erscheint bzw. wahr zu sein scheint. Es ist klar, dass damit der Begriff des Wissens und der Wahrheit leer wird. Da (apperzeptive) Wahrnehmung (mit Urteil) perspektivisch und akzidentell ist, ist sie als solche noch keine verlässliche Basis für Wissen, noch nicht einmal für objektive Erkenntnis. Das Wahrgenommene bleibt viel zu sehr an die einzelne, kontingente, Verfassung des wahrnehmenden Subjekts gebunden. Allgemein handelt es sich bei Empfindungen (sen­ sations) und Perzeptionen bloß erst um passive Wirkungen und Reaktionen des Erleidens (paschein44), die in Bezug auf das Objekt noch nicht allgemein verbindlich bestimmt sind, da Perzeptionen und Reaktionen nicht mit anderen Personen geteilt werden und noch nicht einmal als solche mit denen anderer Personen koordiniert sind. Das empfindende Perzipieren ist so unmittelbar nur erst an die Leiblichkeit des einzelnen Subjekts gebunden. Es wird nicht einmal erlernt, sondern entwickelt sich von selbst, bleibt aber gerade deswegen sozusagen rein autistisch. Das folgende Zitat zeigt, wie tief hier schon Platon denkt: „Nicht wahr, sofort von Geburt an können Menschen und Tiere von Natur aus wahrnehmen, was an Eindrücken vermittels des Körpers zu ihrer Seele gelangt? Hierüber aber Schlüsse zu ziehen [zur Beurteilung von unterschiedlichen Beschaffenheiten von Gegenständen] hinsichtlich ihres Seins und Nutzens, ist nur mit Mühe und im Laufe der Zeit bei vielen Übungen und durch Unterweisung denen gegeben, denen es überhaupt gegeben ist?“45 Die Zweideutigkeiten der Wörter für Wahrnehmung, nämlich als schon begrifflich bestimmte und d. h. in der Sprache Kants: von einem freien, spontanen, Urteil begleitete bzw. begleitbare Apperzeption einerseits, als bloß animalisch-enaktive Perzeption andererseits führt dazu, dass man die Unterschiede der Seinsweise personaler Menschen und der per definitionem nie personalen Tiere allzu leicht unterschätzt, aber auch den kategorialen Unterschied zwischen der Abrichtung zu einem Verhalten und einer Bildung zur Person. Die bloß sinnlich bestimmte Erfassung des Gegenstandes wird überwunden, indem Wissen als denkende Überlegung, als Gespräch der Seele mit sich selbst46, zum Teil-Kriterium 44 45 46

Vgl. ebd., 178b. Ebd., 186c. Vgl. ebd., 189e f.

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der Geltung von Erkenntnisansprüchen wird. In der Überlegung wird die Wahrheit der Meinung dadurch als empirische Erkenntnis von Einzelnem bzw. als allgemeines Wissen ausgewiesen, dass sie vom Subjekt ausreichend begründet, im Idealfall bewiesen wird. Diese beweisende Begründung ergibt sich aus der Bezugnahme auf das Wesen des Gegenstandes. Es wird die Erfüllung der relevanten allgemeinen Richtigkeitsbedingungen gezeigt, also demonstriert oder deduziert. Platon thematisiert im „Theaitetos“ sowohl die performative Ebene dieser Demonstrationen als auch die Frage, wie eine ausreichende Erfüllung von Bedingungen geliefert werden kann, nachdem die Kriterien der Bestimmung der Bedingungen implizit als bekannt und gemeinsam anerkannt unterstellt werden. Die Debatte um Platons Definition des Wissens und Erkennens, etwa nach dem Aufsatz von Edmund Gettier „Is justified true belief knowledge“47 aus dem Jahr 1963, erhält ihre Relevanz aufgrund einer unzureichenden Formel in der Wissensdefinition, die es zulässt, eine zufällig wahre Meinung mit einer unzureichenden Rechtfertigung unterhalb der Sprunghöhe eines zureichenden Beweises schon als Wissen oder Erkenntnis zu werten. Dabei ist zuzugeben, dass Platons Formel „alethes doxa meta logou“ sich nicht unmittelbar und nicht notwendig übersetzt in „wahres subjektives Urteil mit zureichendem Beweis“. Ein Moment der Reflexion, wie ein Mathematiker sagt, sollte aber zeigen, dass nur diese Deutung zu Platons Argumentationsgang passt. Damit diskutieren Gettier und seine Nachahmer ein anderes Problem als Platon. Platon weist übrigens selbst auf die neue Aporie hin, die entsteht, wenn wir fragen, was jeweils ein zureichender Beweis ist.48 Die zureichende Begründung der Wahrheit eines a fortiori immer subjektiven und freien Urteils bezieht sich auf die für alle gebildeten Personen nachvollziehbare Einordnung der zu beurteilenden Gegenstände in einen gemeinsam geteilten begrifflichen Gesamtzusammenhang. Es ist demnach der Nachweis, dass die Meinung nicht zufällig als Wissen oder Erkenntnis vorgeschlagen wird, bloß erst Rechtfertigung der Behauptung. Wahr ist diese erst, wenn wir alle, soweit wir kompetent sind, darin übereinstimmen, welche Wahrheits- oder Erfüllungsbedingungen in Anschlag zu bringen sind und dass sie erfüllt sind. Da nun empirische Aussagen inferenziell und damit prognostisch dicht sind, so wie viele Artwörter dispositionell dicht sind, verbleibt ihre bloß gegenwärtige Prüfung auf der Ebene der doxa und das Ergebnis, die empirische Konstatierung, gehört nur erst zur empeiria oder historia narrativer Berichte. Echte Beweise echten Wissens aber gibt es immerhin in der Mathematik und allen mathematikanalogen Theorien, soweit deren Wahrheit als intern kanonisch gesetzt und damit formal konstituiert betrachtet werden, d. h. noch in relativer Abstraktion zu ihrer Anwendung und ihrem Erfolg im Bereich des Empirischen. Neue Erkenntnisse werden dabei zu Beiträgen der Theorie-, Wissens- bzw. Begriffsentwicklung. Die drei besprochenen Dialoge Platons sind also klar auf einen Bildungsprozess hin ausgerichtet: das theoretische Wissen auf der allgemeinen Ebene des Begriffs. Dieser ist eine Struktur, ein relationales System von Sachformen und ein Zusammenwirken von (den Dingen dispositionell zugeschriebenen) Prozess- oder Bewegungsformen unter gewissen normalen Rahmenbedingungen. Wissen über Formen und Strukturen ist theoretisches Wissen mit praktischer Absicht. Es wird begründet im dialektischen Diskurs um beste Darstellungen 47 48

Edmund Gettier, Is Justified True Belief Knowledge?, in: Analysis 23.6 (1963), 121–123. Vgl. Platon, Nomoi, 208c.

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oder Erklärungen und praktisch angewendet in dialektischer Subsumtion, in vernünftigen Projektionen der Theorie auf die Empirie. Neues Wissen kann zum Anlass von planend-zielgerichteten Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse werden. Dies setzt aber eine gewisse Emanzipation von der gegebenen realen Praxis voraus. Daher ist Freiheit des Denkens als Möglichkeit zur Distanzierung zum bloß Gegebenen so wichtig. Theorie wird so zu einer eigenen Praxis der Erkenntnis der (Güte der) empirischen Lebenswirklichkeit, d. h. Wissenschaft. Als solche ist sie von der gegebenen Handlungspraxis in einer Gesellschaft unterschieden. Da die Wissenschaft ebenfalls eine kooperative Praxis ist, kann sie sich selbst noch einmal vergegenständlichen und nach ihren Zielen und ihrem Vorgehen fragen. Wissenschaft ist gemeinsame Arbeit am Begriff und des Begriffs, wenn man diesen (mit Hegel) metonymisch als Gesamtpraxis der Theorienbildung und Theorienentwicklung versteht. Platon macht damit auch auf die Schwierigkeit aufmerksam, sich von den vielfältigen Verhältnissen zu distanzieren, in die man praktisch immer schon verstrickt ist und die man theoretisch ‚erfährt‘. Implizit ist sie längst schon allgemeiner Maßstab eigener Urteile. Wie im Fall der Politik, in der wir uns selbst regieren nur dadurch, dass von uns kontrollierte Fachleute aufgrund ihrer politischen Kompetenz und Integrität uns vertreten bzw. uns ‚regieren‘, ist daher auch das Wissen des Wissens nur möglich in einer Rollenverteilung. Die Akademie bzw. Wissenschaft ist daher das Unternehmen der Wissenskontrolle durch Experten, die freilich ihrerseits zu kontrollieren sind. Daher bedarf es, wie Platon als Erster sieht, eigene Institutionen für die Wissensentwicklung und wissenschaftliche Bildung. Deren Aufgabe ist die Ausweitung und Vertiefung von Wissen über das Allgemeine und der Erkenntnis des Besonderen in konkreten empirischen Einzelfällen. Im Fall des Wissens über das politische Wissen weist die gesellschaftliche Praxis über sich selbst hinaus und ermöglicht ein Hinterfragen ihrer selbst. Damit ist die Entwicklung der Gesellschaft nicht mehr nur von den bloß zufällig sich einstellenden Kollektivmeinungen einer Mehrheit abhängig. Dies ist gerade dann von großer Relevanz, wenn die wissenschaftlich fundierte Autonomie der einzelnen Person mit der Autonomie der Institutionen, letztlich des Staates, eng zusammenhängt.

2. Die wissenschaftlich gebildete Person Anhand programmatischer Texte soll im Folgenden nun gezeigt werden, wie Theoretiker universitärer Wissenschaft und Bildung zu Beginn des 19. Jahrhunderts Platons Gedanken aufgegriffen und entwickelt haben. Zum Teil wurden eben diese Texte erst wieder am Anfang des 20. Jahrhunderts gelesen und bis heute in aller Regel nur erst vage verstanden. Wir werden insbesondere darlegen, wie die universitäre Lehre den Übergang zur Forschung ermöglichen soll – und wie umgekehrt die aktive Forschung als Voraussetzung für die Lehrfähigkeit fungiert. Ein wesentliches Merkmal der Wissenschaft als theoretische Wissensentwicklung und Wissenskontrolle ist sicherlich ihr Bemühen um die Erweiterung und Vertiefung der Methode des Forschens und dabei besonders jeder Art von Messtechnik. Alle großen Entdeckungen der Physik werden am Ende zu einem Teil unserer Messtechniken. Die verschiedenen

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Aspekt-Bereiche der anorganischen Natur und des Lebens führen dabei zwangsläufig zu einer Spezialisierung der Methode und der Untersuchungsgegenstände. Im Falle des technischen Wissens bedeutet das eine gewisse Entfernung der Technik von der Alltagspraxis hin zu einer ausdifferenzierten Technologie. Diese Ausdifferenzierung ist ein Merkmal arbeitsteilig organisierter, gesellschaftlicher Praxis, wobei Platon auch schon die politischen Funktionen der allgemeinen Bürgerschaft und deren Bildung arbeitsteilig gegliedert hatte. Heute ist die ökonomisch-technische Ausdifferenzierung in ihrem engen Bezug zur politischen gover­ nance neu zu verstehen. Das Wissen der Sozialwissenschaften hätte entsprechend die enge Beziehung von Gesellschaft und Staat, Ökonomie und Regierungsmacht zu klären, statt bloß statistische Meinungen in Wahrscheinlichkeiten von Anerkennung und Ablehnung, Konsens und Dissens zu verwandeln. Aber auch im reduzierten Fall ist das wissenschaftliche Wissen nur scheinbar von der allgemeinen Form der Praxis unabhängig. Das kanonisierte Experten-Wissen der Gesellschafts-, Wirtschafts- und Staatswissenschaften ist zwar Wissen für alle, aber in einer ausdifferenzierten Gesellschaft nicht im Sinne unmittelbarer Anwendung für jeden. Andererseits ist es immer falsch, wenn sich aus der Arbeitsteilung eine Elite entwickelt, die sich auf die eine oder andere Weise von der übrigen Gesellschaft abhebt. Von einem akademischen oder professionellen Elitismus zu unterscheiden sind daher die Eliten besonderer Kompetenz in einer notwendigen Arbeitsteilung. Gemeint sind gesellschaftliche Subsysteme der Wissenschaft und Bildung, der Technologie und Ökonomie, der Politik und Staatsverwaltung, zuvor schon der Kirchen als Organisationen der Feiern der freien Gemeinschaft der Gemeinde oder dann auch der Künste für die (zivil)religiösen Bindungen der Personen und Bürger an ein Volk, Reich bzw. an einen Staat. Das Verständnis der Arbeitsteilung und die Einhaltung ihrer kooperativen bzw. moralischen Normen über die technische Kompetenz ihrer Statusträger und Rolleninhabern hinaus ist so wichtig, weil ohne sie die Skepsis gegenüber den Eliten zu einer Desintegration der Gesellschaft führen kann. Daher ist neben der technischen Ausbildung die geistes- und gesellschaftswissenschaftliche Bildung für ein funktionstüchtiges Gemeinwesen fast noch wichtiger. Die universitäre Bildung bezieht sich auf die Bildung der Person schlechthin. Und personale Bildung ist Bildung des Bürgers (cives, citoyen) als der vollen Person mit grundsätzlicher Fähigkeit zur Einsicht in die gesellschaftliche Ordnung und ihre Funktionsweise, aber nicht als bloße Kulturvermittlung oder direkte Lehre des Bürgerseins. In einer Zeit, in der man die Bedeutung von Geisteswissenschaft und Philosophie in weiten Kreisen nicht mehr versteht, weil man die gesellschaftliche Arbeitsteilung und das zugehörige Verhalten der Einzelpersonen ideologisch als natürlich erklärbar betrachtet und damit – wie den Kampf ums Dasein des Tieres – immer noch biologisiert, könnte man die Bildung auf die Subjektivität beschränken wollen und behaupten, dass „[d]ie Auffassung von Theorie als einem Bildungsvorgang […] apokryph geworden [ist]“.49 Dieses Urteil anerkennt den für jede Bildung fundamentalen Zusammenhang von Theorie und Praxis, zeigt aber auch, dass dieser nicht mehr begriffen ist. Das ist so, obwohl gerade die Naturwissenschaften fordern, ihre Theorien zum Teil allgemeiner Bildung zu machen. Das Problem ist, dass man dabei 49

Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, in: Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie’, Frankfurt a. M. 1973, S. 150.

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Wissen im Allgemeinen nur technisch bzw. instrumentell versteht. Die Bildung zur moralisch-praktischen Person und die Bildung des Geistes als Wissen über das Gemeinschaftsprojekt menschlicher Kultur samt der praktisch notwendigen Bindung an deren Tradition wird so vorausgesetzt, als wüchse sie von selbst. Damit verkennt man den wesentlichen Status von Geistesbildung und Geisteswissenschaften, insbesondere aber die Rolle, welche eine Leseund Schreibfähigkeit auf beliebig hohem Niveau für eine gebildete Person spielt. Die Mängel eben dieser Schlüsselkompetenzen für eine kooperative Projektplanung und Evaluation und damit die Unterschätzung der Geisteswissenschaften in ihrer gesamtgesellschaftlichen und damit am Ende auch sowohl ökonomischen als auch politischen Bedeutsamkeit sind für den Gebildeten spätestens seit dem frühen 20. Jahrhundert und seinem Biologismus und Materialismus nicht mehr zu übersehen. Allerdings gälte es, für eine Verbesserung der Lage das Selbstbewusstsein der Geisteswissenschaften samt der zugehörigen Praxis allererst in moderner Weise zu entwickeln. Im Folgenden soll der Zusammenhang von wissenschaftlicher und personaler Bildung etwas näher beleuchtet werden. Die bildungstheoretische Thematisierung der Wissenschaft im Sinne der antiken theoria als Kanonisierung begrifflicher Formen behandelt nicht die Frage nach Theorien, die für alle schematischen Anwendungen ‚richtig‘ wären, sondern umfasst das volle Verständnis des Begriffs und des logischen und praktischen Status von Theorie. Denn alle Theorien definieren, wie die Theorien der reinen Mathematik, zunächst nur einen theorie-internen, abstrakt-idealen, formalen Wahrheitsbegriff. Erst die Anwendung der Theorie schafft einen Weltbezug. Der Gebrauch der Theorie, gelesen als formales Begriffssystem, in der Praxis entscheidet, in welchem konkreten Sinn ihre idealen und abstrakt als wahr gesetzten Sätze für Orientierungen in der realen Welt, also zunächst der empirischen Welt hier und jetzt, als ‚im Prinzip richtig‘ oder ‚für den Normalfall wahr‘ gelten können. Das heißt, alle Anwendung von Theorie braucht gebildete Urteilskraft. Es war Sokrates, der dies erkannt hat und für diese Erkenntnis ganz bewusst in den Tod ging, da seine Mitbürger nicht bereit waren, den Einzelsubjekten die Entscheidungsspielräume zuzugestehen, wie sie für den Einsatz gebildeter Urteilskraft für eine an die konkreten Fälle angemessenen Anwendungen von schematisch tradierten Normen und verbalen Formen des Wissens immer notwendig sind. Als verbal oder schematisch erlernbare Fähigkeit unterscheidet sich theoretische Kompetenz von einem praktischen Vermögen. Und doch gibt es hier wechselseitige Abhängigkeiten. Habermas sagt dazu: „Theorie war nicht deshalb auf Bildung angelegt, weil sie Erkenntnis von Interesse freigesetzt hätte, sondern umgekehrt, weil sie der Verschleierung ihres eigentlichen Interesses eine pseudonormative Kraft verdankte.“50 Das ist in interessanter Weise ebenso unklar und unscharf wie das idealistische Pathos des bürgerlichen Neuhumanismus, wie er die deutsche Gymnasialausbildung fast bis in die Gegenwart prägt. Hier kann der Bildungsprozess tatsächlich zu einer Art Selbsttäuschung werden, wie sie schon in den üblichen Mystifizierungen der griechischen Antike bzw. in der Verharmlosung ihrer Probleme und Leistungen beginnt. Im Gegensatz zu Habermas sieht G. W. F. Hegel in einem zeitgeschichtlichen Mangel an Interesse an der Wissenschaft als solcher und einer vorschnellen Begeisterung bloß für relativ schnell erwerbbare Techniken, gerade auch für ein vermeintliches logisches Schließen, ein 50

Ebd., S. 153; Herv. im Orig.

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grundlegendes Problem. Dabei gibt es bis heute noch kein zureichendes Verständnis erstens der Wissenschaften als theoretischer Arbeit am Begriff, und zweitens der Philosophie als Reflexion auf die Formen und Grenzen theoretischen Allgemein-Wissens sowie seiner praktischen und damit je besonderen Anwendungen auf die empirische Welt vieler und diffuser Einzelfälle. Wir haben nur noch, wie Hegel schon seine Zeit treffend kritisiert, „einerseits Wissenschaftlichkeit und Wissenschaften ohne Interesse [da sie veraltet sind], andererseits Interesse [also eine praktische Haltung] ohne Wissenschaftlichkeit“.51 Es kommt durchaus auf das wissenschaftliche Interesse an (was Habermas dem Ideologieverdacht aussetzt). Dieses muss im Kontext der Spezialisierung in der universitären Lehre auch als Grundlage jeder Forschung bewusstgemacht werden. Es scheint bis heute noch nicht bekannt zu sein, wie Hegel zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine wissenschaftliche Haltung und die Einsicht in die Notwendigkeit personaler Bildung zu reformulieren versuchte, wie sie im Kern schon Platon als Schüler des Sokrates konzipiert hatte und wie sie sich vom Neuhumanismus des späteren Bildungsbürgertums durchaus unterscheidet. Die Bildung der Person wurde bisher wohl noch zu eng als moralisch-ethische Selbstbestimmung gefasst. Das Selbstbewusstsein des Wissens um seine allgemeine Lage in der Welt wird dabei noch zugunsten einer bloß praktischen Perspektive ausgeklammert. Insgesamt aber ist alles Wissen ernst zu nehmen, und Sprache als Gesamtsprache zu verstehen, nicht bloß als Summe der Sprachen, Dialekte und Idiolekte, die ich schon beherrsche und noch erlernen könnte. Die volle Selbstbestimmung (bzw. Autonomie) im Handeln und Kooperieren besteht am Ende dennoch darin, dass die Person in der Gesellschaft selbständig Zwecke instrumentell für sich oder in Zusammenarbeit mit anderen für uns realisiert. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit, dem Zusammenleben, steht jede ethisch-moralische Beurteilung des eigenen und fremden Redens und Handelns, am Ende auch des Denkens als stiller Rede mit sich selbst, in verbaler Planung möglicher weiterer Urteile. Auf der Grundlage des Erlernens von Wissen, der Teilnahme an Kooperationsformen und des Erwerbs technischer Fähigkeiten, auch von Sprachtechniken aller Art, erwirbt die Person wissenschaftliche Kompetenzen und die Fähigkeit des eigenständigen Denkens. Nach Platon, so zeigte sich, bezieht sich das wissenschaftliche Wissen auf das (näher als begriffliche Formen im Rahmen der theoria zu bestimmende) Allgemeine. Das sind für die Person zu erlernende oder schon gelernte abstrakte oder ‚formale‘ Wahrheiten. Diese verlangen in der realen Anwendung die Vermittlung durch gebildete Urteilskraft. Geübt wird diese in konkreter Praxis. Das weite Wort „Erfahrung“ meint häufig diese Praxis und nicht, wie das durch den Britischen Empirismus fast unbrauchbar gemachte Wort „experience“, bloß rein sinnliche Empfindungen oder Perzeptionen. Die Aneignungs- sowie Anwendungsverfahren sind zentrale Bestandteile wissenschaftlicher Bildung. Auf ihrer Grundlage ergibt sich die Notwendigkeit einer Vermittlung zwischen allgemeiner Theorie und besonderer Praxis, zwischen Reden und Handeln bzw. zwischen Lesen, Schreiben und Erfahrung. 51

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Über den Vortrag der Philosophie an Universitäten, in: Ernst Müller: Gelegentliche Gedanken über Universitäten, Leipzig 1990, S. 285.

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Bloßes Nützlichkeitsdenken besteht darin, das Allgemeine zu vernachlässigen. Als geistiges Wissen ist das Allgemeine wie alle gesamtgesellschaftlichen Institutionen weder auf bestimmte Personengruppen beschränkt, noch schreibt es eine bestimmte geschichtliche Gesellschaftsordnung fest und macht sie zum Maßstab für alle Gesellschaftsordnungen. Auch das Wissen bestimmter Personen und Gesellschaften ist zunächst als solches, d. h. in der allgemeinen Bestimmung seines Typs zu betrachten. Daher kann diesem Wissen noch gar kein besonderes subjektives Interesse oder eine besondere Nützlichkeitsüberlegung zugrunde liegen, wohl aber eine allgemeine Platzierung in einem Interessen- oder Nützlichkeitsbereich. So wissen wir grob, wofür Zählen und Rechnen nützlich ist und wo es nichts nützt. Es wäre daher absurd, mathematische Forschung als gesellschaftlich irrelevant oder gar als nützlich für den Klassenfeind zu kritisieren. Insgesamt ist das allgemeine Interesse an einem bedingten Wissen bei variablen Zielsetzungen unbedingt zu unterscheiden von besonderen Interessen begrenzter Personengruppen. Das theoretische Forschen ist keine Unternehmung der bloß empirischen Erkenntnis dessen, was einmal der Fall war oder hier und jetzt noch der Fall ist, sondern der Festlegung einer kanonischen Lehre über das (ggf. variabel bedingte) Normalverhalten von Dingen und Sachen eines Formtyps, einer Art (eidos) oder Gattung (genos). Erforscht wird also, was als generische oder eidetische Sätze über Gattungen und Arten allgemein gelehrt werden kann und soll. Zu realen Veränderungen in der Praxis führt das, wie alles begriffliche Wissen, nur im Rahmen gemeinsamer Praxis, also im Gebrauch der Ausdrücke und Sätze. Wissenschaftliches Wissen ist zwar Resultat der Tätigkeit der Forscher, aber keineswegs ohne gemeinsame Debatte darum, was wie am besten zu artikulieren oder in der Lehre darzustellen ist. Hier haben die zu Belehrenden offenbar ein wichtiges Wort mitzureden – was schon Platons Sokrates klar sieht. Von den Vorschlägen der Artikulation, der Anerkennung der Vorschläge in einem praktisch gelehrten Kanon und der Gebrauchsformen dessen, was so formal als wahr gelehrt und gelernt wird, abstrahieren diejenigen, welche meinen, Beobachtungen auch im Rahmen wiederholbarer Experimente würden unmittelbar zu allgemeinen theoretischen Wahrheiten führen. Die praktische Rezeption theoretischen Wissens durch die Gesellschaft geschieht freilich weitgehend implizit, in seinem Gebrauch. Jede Bereitstellung wissenschaftlichen Wissens, gestützt auf Prozesse ihrer Kanonisierung, bedeutet formal zunächst nur einen Vorschlag, den Kanon in eine gesellschaftliche Praxis aufzunehmen. Erst als Bildungswesen setzt sich wissenschaftliches Wissen in der (gesellschaftlichen) Praxis durch. Das gilt sowohl für die Technik und Ökonomie wie für die Ethik der Lebensformen und die Politik. Die Einzelperson kommt daher überhaupt erst im Bildungsprozess mit Wissenschaft in Berührung. Umgekehrt ist Wissenschaft auf Bildung angelegt. Ausbildung in einer Technik ist daher zunächst und zumeist auch bloß erst der Vorhof einer Bildung zur Wissenschaft, aber als Voraussetzung der Teilnahme an der Entwicklung von Wissen im Rahmen einer Entwicklung von Bildung. Hierher gehört die Einübung von Forschungskompetenz innerhalb des jeweiligen Bereichs der Wissenschaftsorganisation und der Forschungspraxis. Der Zweck der Forschung ist dann die fortschreitende Generierung allgemeinen Wissens. Diese Aufgabe ist personen- und generationenübergreifend zu realisieren. Wissenschaftliche Bildung ist dabei zugleich Teil der Persönlichkeitsbildung, insofern zu den geistigen Kompetenzen der Person nicht nur das Lernen dessen gehört, was als all-

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gemeines Wissen gilt, sondern auch das Wissen um den zeitgeschichtlichen Status dieses Wissens in seiner Entwicklung und seinen Anwendungsformen. Auch daher setzt die gediegene Entwicklung von Urteilskraft ein gewisses Maß erstens an historischem Wissen und zweitens an selbständiger Forschung voraus. Erst so lässt sich ein wissenschaftliches Selbstbewusstsein entwickeln. Wissenschaftliche Erkenntnis ist Anwendung wissenschaftlichen Wissens in der Praxis der Entwicklung dieses Wissens oder im Bildungsprozess. Das Wissen und die Erkenntnisbzw. Urteils-Kompetenzen gehen zwar aus dem Lernen hervor, werden aber durch eine Änderung der Haltung zum Gelernten von diesem relativ unabhängig. Wahre bzw. gediegene Bildung verflüssigt so fest fixiertes und schematisch erworbenes Wissen. Die Institution, die dieser doppelten Entwicklung dient, der Entwicklung von Wissen durch wissenschaftliche Forschung und der Bildung von Personen, die Wissen selbständig und frei anwenden und eben damit selbst forschen können, ist die Universität. Deren Verbindung von Forschung und Lehre ermöglicht allererst wissenschaftliche Bildung durch die Heranführung an die Forschungstätigkeit zur Erweiterung wissenschaftlicher Erkenntnis. Die Einsicht in den Sinn dieser Bildungsinstitution setzt freilich Philosophie voraus, wenn man diese versteht als hochstufige Reflexion auf Begriff, Idee und Institution von Wissen, Wissenschaft, Forschung, Erkenntnis und Ausbildung im verschulten Lehrer und Lernen, dann auch freier Bildung von Urteilskraft und selbständiger Forschungskompetenz.

2.1 Realisierung der Vernunft (Fichte) Bei Kant erscheint die Vernunft noch als eine bereits bestehende Grundlage und wird nicht als Ziel einer Bildung der Person dargestellt.52 Damit reicht Kants Denken nicht aus, um den gesellschaftlichen Status und die Geschichtlichkeit von Wissen und Wissenschaft bzw. dann auch von Ethik und Moral voll zu begreifen. Der Übergang in die Wissenschaft betrifft sowohl das Erkennen im weiten Sinne des wissenschaftlich ausgebildeten Urteilens über Objekte, also in der praktischen Anwendung rein theoretisch bzw. verbal erwerbbaren Wissens, als auch im engeren der Teilnahme an der Erforschung von Neuem. In beiden Fällen wird das personale Subjekt gebildet, nicht nur schematisch lehrbares Wissen weitergegeben. Insofern ist Bildung zur Wissenschaft und Bildung einer intelligenten Persönlichkeit bzw. des personalen Charakters der Grundform nach ein und dasselbe. In beiden liegt die Möglichkeit und Notwendigkeit der Aneignung und Transformation von Wissen des Allgemeinen in ein Erkennen des Besonderen – in der Praxis wie auch in wissenschaftlicher Erkenntnis. Das betrifft am Ende alle geisti52

Vgl. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Karl Vorländer (Hg.), Hamburg 1990. Diese Kritik trifft nur in schwächerer Form Kants theoretische Philosophie, da er selbst in der „Architektonik der reinen Vernunft“ zumindest den Gedanken der Entwicklung eines wissenschaftlichen Systems aus der „Idee“, die „wie ein Keim“ in der „Vernunft“ liegt, formuliert (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Jens Timmermann (Hg.), Hamburg 1998, A 834/ B 862). Allerdings bleibt das Verhältnis zu subjektiven Faktoren ungeklärt, trotz des Diktums, dass man „was die Vernunft betrifft, höchstens nur philosophieren lernen“ kann, nicht aber Philosophie im Sinne einer Vermittlung vorgegebener Gehalte (ebd. A 837/ B 865).

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gen Kompetenzen des Begreifens, Urteilens und Schließens, samt dem daraus folgenden Handeln. Johann Gottlieb Fichte übernimmt, den obigen Ausführungen entsprechend, Jean-Jacques Rousseaus Begriff der Selbstliebe im Sinn eines Strebens zur Entwicklung der eigenen Person (bzw. Persönlichkeit), gerade auch um die allgemeine Form wissenschaftlicher Tätigkeit gemäß Aristoteles’ Begriff der Selbstgenügsamkeit zu charakterisieren.53 „Das vernunftmäßige Leben muss sich selbst lieben; denn alles Leben, als sich selbst vollkommen genügend und ausfüllend, ist Genuß seiner selber.“54 Die wissenschaftliche Bildung nennt er die „tiefste Wurzel aller vernünftigen Existenz, und […] der einzig übrigbleibende Funke, der den Menschen noch in der Vernunftkette erhält“.55 Das an den eigenen bloß zufälligen Begierden ausgerichtete Leben ist bloß erst animalisch und verwandelt die Gesellschaft in eine bloße Horde zurück. Im Unterschied zu Tieren sind Personen, also Normalbürger, notwendigerweise begrifflich zur Selbständigkeit gebildet. Bloß instrumentell denkende Menschen würden eine Art geistiges Tierreich (wie Hegel sagt) bilden, indem das gemeinsame Wissen von den Einzelsubjekten nur autistisch zu ihren subjektiven Zwecken eingesetzt wird. Humes Empirismus behauptet im Grunde, das könne nicht anders sein. Die Behauptung ist schlicht falsch und unterschlägt alle kooperativen Gemeinschaftsprojekte, gerade die des Wissens und der Wissenschaft, der Ethik und der Politik. Diese bloß instrumentelle Rationalität kann nur überwunden werden, wenn sie sich an der gemeinsamen Vernunft ausrichtet, die als solche eine transsubjektive Form hat. Eine Teilnahme an dieser Kooperationsform ist aber, wie Fichte sieht, nur ausgehend vom personalen Subjekt und dessen theoretischer Selbsterkenntnis als Person unter Personen möglich. Im Vollzug bezieht sie sich unmittelbar auf das „Leben“, d. h. die Praxis. Der Ausdruck „Liebe“ weist darauf hin, dass diese Ausrichtung weder natürlich entsteht noch über äußeren Zwang erreicht werden kann. Die Abkehr von den eigenen Begierden kann also auch nicht allein aus sich selbst heraus geschehen. Da wir aber immer selbst urteilen und handeln müssen, drückt sich ein Zustand unmittelbarer Erfüllung zunächst immer nur in subjektiven Selbstgefühlen aus. Befriedigungen stehen am Anfang von Erfüllungen. Würde Hume nur dieses sagen, behielte er recht. Aber sie stehen nie am Ende. Denn Erfüllungen werden wie Wahrheiten gemeinsam beurteilt. Vernunft ist transsubjektiv, weil sie nie bloß von meinem oder unseren Urteilen abhängt, sondern jede Subjektivität und jeden intersubjektiven Konsens einer beliebig kleinen oder großen Gruppe von Einzelpersonen der Form oder Idee nach transzendiert. Die theoretische Vernunftperspektive lässt sich nicht anders einnehmen, als dass man die Beschränktheit der eigenen Perspektiven erkennt und anerkennt. Das strukturiert dann, Fichte zufolge, im guten Fall das gesamte Leben einer Person insgesamt, ihre Haltung im Urteilen und Handeln. Diese Möglichkeit der Selbstbestimmung durch Anerkennung von Selbstbeschränkungen liegt im Subjekt als Person. Diese ist nicht durch zufällige leibliche Begierden 53 54 55

Beide Begriffe können hier nur erwähnt werden. Sie sind ausführlicher in der oben genannten Dissertation dargestellt. Johann Gottlieb Fichte, Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, in: Reinhard Lauth, Hans Gliwitzky (Hg.), Johann Gottlieb Fichte. Werke 1801–1806, J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, (Bd. I, 8), Stuttgart-Bad Canstatt 1991, S. 222. Ebd., S. 223.

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allein bestimmt. Ihre Entwicklungsmöglichkeit hält sie in eigenen Händen gerade dadurch, dass sie diese als abhängig von geschichtlichen Traditionen erkennt. Das Wort „schlechthin“ steht hier für „allgemein“, „im Prinzip“ oder „generisch“: „[E]r [d. h. der Mensch] ist schlechthin, weil Er seyn soll“ und „Er ist, weil er ist.“56 „Der Mensch soll seyn, was er ist, schlechthin darum, weil er [ein Ich] ist“.57 Das Wort „Mensch“ steht hier also für „Person“ oder „personales Subjekt“, wobei das Wort „personal“ für alle kooperationsbedingte Kompetenzen steht, besonders die sprachlich vermittelten. Die Bestimmung seiner selbst als Person, nicht bloß hinsichtlich rein subjektiv-individueller Aspekte wie je meinen Neigungen, wird hier also zum Entwicklungsziel gemacht. Dieses Ziel ist der Praxis der Bildung längst schon zugrunde gelegt. Hintergrund ist jeweils eine konkrete Vorstellung der gebildeten Person oder Persönlichkeit als Maßstab der Erziehung bzw. der Handlungen des Lernens und der Selbstbildung. Ist die Selbstbestimmung in der moralischen Handlungspraxis durch die entsprechende Tätigkeit empraktisch realisiert, so liegt die theoretische Erkenntnis im Wissen um die Selbstbestimmung als Wesensbestimmung und selbst zu realisierende Aufgabe zugleich. Diese Aufgabe der Selbstbestimmung beginnt mit dem Lernen und damit in einer Art von scheinbarer Fremdbestimmung. „Was wir […] mit dem Bewußtsein, dass wir es tätig erlernen, und dem Bewußtsein der Regeln dieser erlernenden Tätigkeit, auffassen: das wird, zufolge dieser eigenen Tätigkeit und des Bewusstseins ihrer Regeln, ein eigentümlicher Bestandteil unserer Persönlichkeit, und unseres frei und beliebig zu entwickelnden Lebens.“58 Die Selbstbestimmung ist nicht bloß dadurch ausgezeichnet, auf den Gehalt des zu Erlernenden zu achten, sondern auch darauf gerichtet, wie man sich dieses Wissen aneignet. Darin liegt ansatzweise die Kompetenz, den Blick auf den eigenen methodischen Zugriff auf Wissen zu richten. Durch sie kann man vom Erwerb des Erlernten sich und den Anderen Rechenschaft ablegen sowie das Lernen selbständig modifizieren und den Gegenständen des Lernens anpassen. Gehört das Lernen zunächst der Stufe der Erziehung an, so wird es im Kontext des eigentlichen Bildungsprozesses selbst zum Gegenstand. Heute spricht man mit einer gewissen Nähe zu Fichtes Formulierung, tatsächlich aber Friedrich Schleiermacher und Wilhelm von Humboldt zitierend, vom „Lernen des Lernens“.59 Deren Notwendigkeit ist nicht darin zu sehen, dass man nicht alles Wissen lehren kann, sondern dass man etwas auf eine Weise lehren soll, die es dem Lernenden ermöglicht, das Wissen durch diesen unter Anleitung ein56 57 58

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Johann Gottlieb Fichte, Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, in: Reinhard Lauth, Erich Fuchs u. a. (Hg.), Johann Gottlieb Fichte. Nachgelassene Schriften 1810–1812, J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, (Bd. II, 12), Stuttgart-Bad Canstatt 1999, S. 29. Ebd. Johann Gottlieb Fichte, Deducirter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höhern Lehranstalt, die in gehöriger Verbindung mit einer Akademie der Wissenschaften stehe, in: Erich Fuchs, Hans Gliwitzky u. a. (Hg.), Johann Gottlieb Fichte. Nachgelassene Schriften 1807–1810, J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, (Bd. II, 11), Stuttgart-Bad Canstatt 1998, § 5. Vgl. Wilhelm von Humboldt, Königsberger Schulplan, In: Andreas Flitner, Klaus Giel (Hg.), Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden. (Bd. III), Darmstadt 1982, S. 170 und Daniel Friedrich Ernst Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über ein neu zu errichtende, in: Hans-Joachim Birkner, Gerhard Ebeling u. a. (Hg.), Kritische Gesamtausgabe, Schriften und Entwürfe (Abt.1), Band 6, Dirk Schmid (Hg.), Berlin, New York 1998, S. 35.

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geübten Zugang zu ihm selbständig und mit freier Urteilskraft anzuwenden und weiter zu entwickeln. Das Lernen des Lernens ist nur dann Teil der grundlegenden Selbstbestimmung im theoretischen Erkennen, wenn es dieses selbstbestimmte Erkennen zum Ziel hat. Das Lernen als bloßes memorierende Aufnahme von Wissen kann deren Wahrheitsgehalt nicht überprüfen, sondern setzt ihn voraus, und ist insgesamt bloß erst schematisch. Erst die Verflüssigung des fest Gelernten in der erkenntnisleitenden Anwendung, die abgleichende Verbindung mit anderem Wissen und dann sogar die Erforschung der Grenzen des gelernten Wissens – die eben dadurch überschritten werden – führt zu einer entwickelten Person, die Wissen nicht bloß konventionell nachvollzieht. Durch die äußere, methodengeleitete Anregung der Selbstbildung über das schulische Lernen hinaus durch bereits gebildete Personen ist der Ansatzpunkt zur freien Aneignung und selbständigen Weiterentwicklung geschaffen. Das Lehren gerade auf der Hochschule muss so dem Ziel des selbstbestimmten Lernens verpflichtet bleiben. Die Bindung an andere vernünftige Personen ist selbständig fortzuführen. Daher gehört zum Bildungsprozess die Suche nach Vorbildern. Fichte begreift Vernunft – wie Kant oder Platon – allerdings noch allzu mythisch, also bloß erzählungsweise und damit nur erst formal bzw. metaphorisch als Teilhabe an einer Art göttlicher Idee.60 Die Schwierigkeit des konkreten und zugleich allgemeinen Verstehens dieses Begriffs ergibt sich wie im Fall der Wahrheit aus der Transzendenz der freien und zukunftsoffenen Transsubjektivität der Vernunft im Kontrast zum bloßen Verstand des verständigen bzw. schematisch richtigen Urteilens, Schließens und Handelns des Einzelsubjekts. Dieses Subjekt sprechen Kant und Fichte übrigens unter Gebrauch von nominalen Titeln wie „das (transzendentale) Ich“ generisch an. Eine Person bedarf immer des Verstandes. Sie wird zur freien Person aber erst in der Teilhabe an einer gemeinsamen Vernunft, welche eine Kritik des reinen Verstandes schon enthält. Kants Begriff der reinen Vernunft ist insofern in sich widersprüchlich, als Vernunft als freie praktische Haltung zur Transsubjektivität der personalen condition humaine zu verstehen wäre, die als solche gar nicht, wie der Verstand, rein, abstrakt oder formal sein kann. Sie ist nicht bloß angelernter Umgang mit Schemata, die eine verständige Person sich freilich zunächst aneignen muss. Die Teilhabe an der Vernunft als Idee oder Vollzugsform von Transsubjektivität ist am Ende eine freie Haltung der einzelnen Person zu sich und allen anderen Personen und Menschen. Sie erst verwandelt das rationale Subjekt in eine volle Person. Dabei ist das moralische Urteilen und Handeln sozusagen der bloß erst verständige Teil der Ethik: Unmoralisch urteilt und handelt ein Subjekt, wenn sich sein Reden und Handeln wie im Fall eines Lügners oder Trittbrettfahrers widersprechen. Das Verfahren moralischer Prüfung bei Kant ist daher bloß erst Prüfung von Kohärenz. Ethisch zu handeln heißt dagegen schon, mit der Tradition personaler Institutionen, auch Konventionen, frei verantwortlich und damit vernünftig umzugehen. Dabei wird die dem partikularen Denken und Handeln immanente allgemeine Ebene 60

Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Ueber das Wesen des Gelehrten und seine Erscheinungen im Gebiete der Freiheit, in: Reinhard Lauth, Hans Gliwitzky, u. a. (Hg.), Johann Gottlieb Fichte. Werke 1801–1806, J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, (Bd. I, 8), Stuttgart-Bad Canstatt 1991, 2. Vorlesung.

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des Wissens und Könnens sich selbst zum Erkenntnisgegenstand und damit in ihrem Wirken und ihrer Bindekraft erkannt und begriffen. Kant spricht noch von Gefühlen der Erhabenheit, Fichte von Empfindungen der Begeisterung, die durch „klare Einsicht“ überwunden werden sollen.61 Das klingt besser, als es ist, da die Forderung nach eigener Einsicht die Zumutung der Anerkennung transsubjektiver Vernunft durchaus auch beschädigen kann. Vieles, was ich nicht verstehe, bleibt für mich bindend. Man kann die Gefühle der Begeisterung am Wissen und der Erhabenheit des Gewussten allerdings auch als intrinsische Motivationen zur Teilnahme am Wissen und gemeinsamen Erkennen lesen – muss dann aber über Fichte und Kant durchaus hinausgehen. Das Projekt der Überwindung der Abhängigkeit der Person von einer allgemeinen Kultur wird nun durchaus ambivalent. In der Verachtung des Volkes durch eine überhebliche akademische Elite wird sie ebenso vernunftwidrig wie in der Unterwerfung unter die Meinungen der Mehrheit. Die Begeisterung kann und darf im Enthusiasmus für die Menschheit über jede Gruppe oder Nation hinaus dennoch zur Teilnahme an allgemeiner Vernunft motivieren. Die volle Person überwindet so in ihrer Haltung zur Menschheit das bloß auf einen partialen Nutzen gerichtete – aber im Rahmen des Personseins liegende – Handeln zugunsten der möglichst vollkommenen Realisierung des Personseins selbst.62 Die Teilhabe an der Entwicklung der Vernunft ist also weit mehr und anderes als der Erwerb bestehender geistiger Gehalte. Dennoch werden die neuen Gehalte nicht einfach von der einzelnen Person geschaffen, sondern bloß erst zur allgemeinen Anerkennung vorgeschlagen. Dies mag angesichts der beständig mit Emphase vorgetragenen Normativität des Bildungsbegriffs ernüchternd klingen. Das wäre aber eine wohltuende und erhellende Ernüchterung. Die wissenschaftlich denkende Person sieht in ihrer Orientierung am Allgemeinen bzw. an einem allgemein zu lehrendem Wissen von bloß partikularen Interessen und insbesondere den eigenen Begehrungen und bloß subjektiven Befriedigungsgefühlen ab. Sie denkt sich sozusagen in die allgemeine Seinsweise der vernünftigen Person oder übernimmt diese denkend. Nur so bzw. soweit das Denken gut ist, manifestiert sich das geistige Gattungswesens, die vernünftige Person oder Persönlichkeit, im einzelnen Subjekt, dem leiblichen Individuum, das je ich bin. Die theoretische Selbsterkenntnis der Person als solcher ermöglicht es dann, nicht nur eine moralische Person zu sein, sondern auch die Moralität (im Unterschied zu bestimmten 61

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Johann Gottlieb Fichte, Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, in: Reinhard Lauth, Erich Fuchs u. a. (Hg.), Johann Gottlieb Fichte. Nachgelassene Schriften 1810–1812, J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, (Bd. II, 12), Stuttgart-Bad Canstatt 1999, S. 334. Vorher hat Fichte nur von der Begeisterung gesprochen, ohne dass sie überwunden werden soll (vgl. ders. Ueber das Wesen des Gelehrten und seine Erscheinungen im Gebiete der Freiheit, in: Reinhard Lauth, Hans Gliwitzky, u. a. (Hg.), Johann Gottlieb Fichte. Werke 1801–1806, J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, (Bd. I, 8), Stuttgart-Bad Canstatt 1991, S. 117 f.). Diese Position teilt auch Humboldt (vgl. u. Abschnitt 2b). Vgl. „Uns ist durch die Wissenschaft unsre eigne geistige Natur aufgedeckt, und dadurch die äußere sinnliche Naturgewalt großentheils uns unterworfen worden.“ (Johann Gottlieb Fichte, Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, in: Reinhard Lauth, Hans Gliwitzky (Hg.), Johann Gottlieb Fichte. Werke 1801–1806, J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, (Bd. I, 8), Stuttgart-Bad Canstatt 1991, S. 226). Man beachte, dass es kein logisches Subjekt in diesem Satz gibt.

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moralischen Gehalten) überhaupt theoretisch zu begründen und zwar als Teilinstitution der Ethik. Die geschichtlich-realen Pflichten gehören zum Ethos. Sie sind trotz aller Wandelbarkeit konkret bindend, über die moralische Pflicht zur Kohärenz im Urteilen bzw. Reden und Handeln hinaus. Im traditionalen Ethos der Sittlichkeit liegt daher eine eigene, konkret bestimmte und nicht bloß, wie in der Moral, abstrakt-allgemeine Art von Normativität: nämlich die im Verhältnis der Bestimmung des Einzelnen zu den konkreten Anderen hier und jetzt. Das Absehen von den eigenen Interessen und Begierden bzw. das Dispensieren der damit verbundenen praktischen Erfordernisse lässt sich platonisch ausdrücken durch die Formel einer „Liebe zur Idee“63. Darin liegt der Gedanke, dass die transsubjektive Orientierung der vollen Person weder im schematischen Regelfolgen besteht oder gar durch Abrichtung erzwungen werden könnte – noch, dass für sie ein rein intellektuelles Vermögen des kohärenten moralischen Denkens und Urteilens ausreichte. Jenes würde vielmehr jedes freie Urteil unmöglich machen und dieses würde bloß erst meine Urteile verallgemeinern, aber noch keine gemeinsame Lebenspraxis etablieren. Im Absehen vom subjektiven Charakter nicht nur des Begehrens, der Neigungen, sondern auch des autonomen moralischen Urteilens ohne Bindung an eine tradierte Sittlichkeit liegt eine Art personale Selbstvergessenheit und eine Verkennung der freien Transsubjektivität der Vernunft.64 Dabei behauptet Fichte, dass auch der „allerniedrigste im Volke“65 diese Erkenntnis haben könne. Das ist kein Einwand gegen die Abhängigkeit ethischer Vernunft von der Bildung der Person, eher ein Zugeständnis, dass es Grade freier Persönlichkeitsbildung gibt, gerade weil unsere personale, geistige, Welt arbeitsteilig verfasst ist. Fichte erläutert Entsprechendes in „Fünf Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten“. Darin wird die passive Aufnahme von Ideen von der praktischen Orientierung an ihnen und ihrer autonomen Setzung unterschieden. „Zur Anschauung der übersinnlichen Welt überhaupt bedürfe es keineswegs der gelehrten, sondern nur der gewöhnlichen Bildung. Zur Anschauung der übersinnlichen Welt aber – als bildend die sinnliche, und zur wirklichen Bildung der letztern durch die erste in der That, bedürfe es der gelehrten Bildung, und nur vermittels des Durchgangs durch die letzte komme man zur ersten.“66 Die Haltung der Vernunft unterscheidet sich von der bloßen Erfüllung je gegebener Pflichten dadurch, dass sie die je faktisch geltenden Normen des Staates oder einer Gemein63

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Johann Gottlieb Fichte, Ueber das Wesen des Gelehrten und seine Erscheinungen im Gebiete der Freiheit, in: Reinhard Lauth, Hans Gliwitzky, u. a. (Hg.), Johann Gottlieb Fichte. Werke 1801–1806, J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, (Bd. I, 8), Stuttgart-Bad Canstatt 1991, S. 67. „[U]nd sonach besteht das Vernunftmäßige, und darum rechte gute, und wahrhaftige Leben darin, daß man sich selbst in den Ideen vergesse, keinen Genuß suche, noch kenne, als den in ihnen, und in der Aufopferung alles andern Lebensgenusses für sie.“ (Johann Gottlieb Fichte, Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, in: Reinhard Lauth, Hans Gliwitzky (Hg.), Johann Gottlieb Fichte. Werke 1801–1806, J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, (Bd. I, 8), Stuttgart-Bad Canstatt 1991, S. 221) Ebd., S. 116. Johann Gottlieb Fichte, Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, in: Reinhard Lauth, Erich Fuchs (Hg.), Johann Gottlieb Fichte. Nachgelassene Schriften 1810–1812, J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, (Bd. II, 12), Stuttgart-Bad Canstatt 1999, S. 327, (Herv. im Orig).

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schaft als eine Verfasstheit derselben begreift, die dem, was ein Staat bzw. eine Gemeinschaft als solche(r) ist, im Allgemeinen entspricht oder nicht. Dies ist eine abstrakte Einsicht in ein „a priorisches Wissen“67. Dieser theoretische Standpunkt, der das auf die Faktizität gerichtete empirische Wissen überschreitet, ermöglicht eine Kritik an der konkreten Institution. Dies ist möglich, weil die für die Bildung der Person maßgebliche konkrete Normativität der Institutionen nicht nur anerkannt, sondern schließlich überschritten ist. Der letzte Grund für die Anerkennung der Normen liegt nicht in einer transzendenten Geltung, sondern in ihrem Beitrag zu Staat, Gesellschaft, Sittlichkeit und Moral als Rahmen eines gemeinsam gestalteten guten Lebens von Personen. Die Kritik an solchen Normen kann selbst nur in Übereinstimmung mit diesen Bestimmungen auf die Praxis bezogen werden. Die Aufgabe und Grenze der gelehrten Bildung liegt darin, eine Person „das Wissen, Verstehen und Denken als eine freie Kunst“ treiben zu lassen, durch deren relative Voraussetzungslosigkeit hinsichtlich der geltenden Normen eine freie Anerkennung überhaupt erst möglich ist.68 Insofern ein derart Gebildeter durch Hinwendung zum allgemeinen, nicht bloß historisch-faktischen, Wissen selbst weiß, was er zu tun hat, kann er in einem grundlegenderen Sinne selbständig denken und handeln, nämlich als die Person, deren Selbstbestimmung sich auf theoretisches Wissen und Praxis gründet: Die Person weiß nicht nur, was moralisch bzw. ethisch zu tun ist, sondern auch, dass sie wesentlich ein sittliches bzw. moralisches Subjekt ist. Kant wie Fichte unterschätzen im Gegensatz zu Hegel das Ethos materialer Kultur in ihrer normativen Bindekraft. Dabei ist das Wissen, wie das Ethos der Person, in letzter Konsequenz dem Paradigma der freien Wissenschaft im Sinne des theoretischen Erkennens geschuldet und entstammt selbst der Idee von ihr. Das theoretische Erkennen der sozialen Grundlagen des Handelns hat aber nicht die Bedeutung, auf diese Weise das gute Handeln in ein Handeln aus Eigeninteresse zu verwandeln. Denn was für die Person gut ist, ist nicht das, was das bloß leibliche Subjekt als Leidvermeidung und Lusterfüllung ‚rein subjektiv‘ anstrebt. Fichte erweitert wie Kant die Perspektive der Handlungspraxis durch eine theoretische Betrachtung, durch die man ein moralisches Selbstverständnis jenseits konkreter, sozusagen gelernter, Pflichten konstituiert. Allerdings ist Kants Lehre von der Moral zu schwach, zu subjektivistisch, um Sittlichkeit vernünftig, transsubjektiv zu entwickeln. Analoges gilt im theoretischen Bereich für bloß meine Erfahrungen und bloße Kohärenzbetrachtungen. Darin besteht das allgemeine theoretische Wissen, dass man überhaupt vorgegebene Normen bzw. Pflichten erfüllen muss, um eine Person zu sein bzw. als eine solche anerkannt werden zu können; dass man also z. B. nicht als Trittbrettfahrer in der Kooperation defektiert. Die Beurteilung und Abwägung von konkreten Pflichten erlaubt damit die praktische Selbstbestimmung aus der abstrakten Perspektive, deren Konkretisierung im Hinblick auf eine Handlungsent67

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Ebd., S. 315. Das Apriori bezieht sich darauf, dass die Kenntnis allgemeiner Bedeutungen dem einzelnen Erkenntnisakt vorausgeht. Es steht daher nicht im ausschließenden Gegensatz zum empirischen Wissen. Das abstrakte Moment liegt in dem Wissen um dessen Form, das Fichte als „Wissen vom Wissen“ bezeichnet (Johann Gottlieb Fichte, Darstellung der Wissenschaftslehre. Aus den Jahren 1801/2, In: Reinhard Lauth, Hans Gliwitzky (Hg.), Nachgelassene Schriften 1800–1803, J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, (Bd. II, 6), Stuttgart-Bad Canstatt 1983, § 3. Johann Gottlieb Fichte, Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, in: Reinhard Lauth, Erich Fuchs (Hg.), Johann Gottlieb Fichte. Nachgelassene Schriften 1810–1812, J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, (Bd. II, 12), Stuttgart-Bad Canstatt 1999, S. 341.

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scheidung die Aufgabe der Person im Rahmen der ihr gegebenen Möglichkeiten selbst ist. Als abstrakte Bestimmung hängt ihr Gehalt von den konkreten Realisierungsbedingungen einschließlich der Anerkennung durch andere Personen ab, so dass die moralische Person nur durch die Erfüllung dieser Bedingungen ein wirkliches Ideal ist.69 Diese kohärente Formung der Person durch die wissenschaftliche Bildung wird aufgrund der Verschiedenheit von Wissenschaft und Handlungspraxis leicht übersehen.70 Bisweilen wird eine Vermittlungsinstanz in Form eines Diskurses dazwischengeschaltet.71 Die Einheit kann aber auch unvermittelt durch die kompetenztheoretische Betrachtung der Person bestimmt werden. Erst durch diese freie Einsicht in die Idee der Vernunft kann die selbstbestimmte Person sich als solche erkennen, da die Faktizität der partikularen Bedingungen nicht mehr die unmittelbare Orientierung bietet, sondern selbst anhand ihrer allgemeinen Verfasstheit beurteilt wird. Dieses Wissen fundiert das partikulare Erfahrungswissen und die Meinungen. Für jedes Wissen ist dessen Konstitution als Wissen notwendig. Darin kommt seine Allgemeingültigkeit zum Ausdruck. Doch beschränkt sich Fichtes Gedanke der Teilhabe an Ideen auf ein unmittelbares Erfassen bzw. passives Empfangen derselben. Die Erkenntnis der Wahrheit beruht zunächst, d. h. soweit es ausschließlich die Haltung der einzelnen Person betrifft, auf der subjektiven Empfänglichkeit für (vermeintlich oder wirklich allgemein und damit objektiv vorliegende) Ideen und Gehalte. Das aber reicht nie aus. Das Legitimationsproblem der Ideen wird später noch einmal aufgegriffen. Vorerst ist festzuhalten, dass auch Fichte die Ebene des Denkens des Denkens in dieser Ideen-Erkenntnis nicht berücksichtigt und schon gar nicht die Transzendenz der Vernunft gegenüber jedem bloß erst subjektiven Denken hin zu einem intersubjektiv allgemeingültigen. Die Ermöglichung der Einsicht von Personen in die allgemeine und notwendige Struktur des Wissens von der realen sozialen Praxis betrifft auch die institutionelle Ebene, insbesondere die Bildungsinstitutionen, da ihnen die Aufgabe zukommt, diese Einsicht zu ermöglichen und auf dieser Grundlage eine Wissenschaftspraxis mit zu konstituieren, die selbst an der Idee der Wissenschaft ausgerichtet ist.72 Aus dem bisher über wissenschaftliche Institutionen Gesagten ergeben sich drei Übergänge wissenschaftlicher Erkenntnisse in die gesellschaftliche Praxis: Das generierte allgemeine Wissen von der Natur und den geschichtlichen Sozialordnungen wie dem Staat in ihrer ahistorischen Idealbestimmung ermöglicht der Regierung eines 69

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Hier ergibt sich ein Konflikt. Wie soll das ideale Personsein in einer Gesellschaft maßgeblich sein? Was ist, wenn die an Ideen orientierte Person meint, rechtswidrig handeln zu müssen? Da der Begriff der Person ein Ideal ist, das eine Position im Idealbereich von Personen benennt, ist der Fall der verschiedenen Formen der Privation einer Gesellschaft eigens zu betrachten. Dabei ist zwischen der positiven Geltung defizitärer Normen und den insgesamt in der Welt schon bekannten Normen des Personseins zu unterscheiden. Der Fall von Nazis, welche sich nicht an Menschenrechten orientieren und damit ihr Volk zu Barbaren und Schlimmerem machen, ist daher vom Fall bloßer Trittbrettfahrer zu unterscheiden: im zweiten Fall geht es ‚nur‘ um Verstöße gegen als geltend anerkannte Normen. Vgl. Volker Ladenthin, Wissenschaft und Bildung, in: Ludger Honnefelder, Günter Rager (Hg.), Bildung durch Wissenschaft?, Grenzfragen Band 36, Freiburg, München 2011 S. 101–120. Vgl. Dietrich Benner, Wissenschaft und Bildung. Überlegungen zu einem problematischen Verhältnis und zur Aufgabe einer bildenden Interpretation neuzeitlicher Wissenschaft, In: Zeitschrift für Pädagogik, 36, Heft 4 1990, S. 597–620. Dies ist kein Zirkel, sondern die sukzessive Realisierung auf der Grundlage dieser Einsicht aus der „Liebe zur Idee“, ausgehend von der Rolle eines Sokrates, wie im vorigen Kapitel erläutert.

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Staates, verstanden als institutionalisierte Ordnung der Gesellschaft, eine eigene Evaluation und zielgerichtete Modifikation der gesellschaftlichen Institutionen durch wissenschaftliche Beratung. Hierbei stellen die wesentlichen Identitäts-Kriterien des Staates den Orientierungsrahmen für (subjektive) politische Entscheidungen dar, durch deren Umsetzung je aktuell bestehende Probleme bewältigt werden sollen.73 Außerdem findet neben der bereits genannten Veröffentlichung kanonischen Wissens und neuer Erkenntnisse in allgemeinverständlicher Form die Überführung innerhalb der Universität statt, indem (wissenschaftliches) Wissen und die damit verbundene Methodenkompetenz in der Lehre vermittelt und sogar kontrolliert wird. Eben damit wird das kanonische Wissen in der Handlungspraxis des wissenschaftlich Gebildeten mit dessen subjektiven Erfahrungen konfrontiert. Darauf zielt auch Fichte ab, wenn er schreibt: „Diejenige Bildung allein, die da strebt, und die es wagt, sich allgemein zu machen, und alle Menschen ohne Unterschied zu erfassen, ist ein wirkliches Bestandtheil des Lebens; und ist ihrer selbst sicher.“74 Innerhalb der Universität ist die Lehre aber nur eine Form von Kooperation. Daneben erfolgt die in Disziplinen und Fragestellungen ausdifferenzierte Forschung kooperativ. So treten vermittels der Organisation von Wissenschaft die einzelnen Forscher nachhaltig zweckbezogen miteinander in Beziehung, sodass die Forschung durch die Wissenschaftler selbst koordinierbar wird. Die Kooperation als wissenschaftliche Tätigkeit folgt nicht primär dem Eigeninteresse, sondern dem gemeinsamen (komplementär angestrebten) Erkenntnisziel. Dabei ist die wissenschaftsinterne Kritik durch die Haltung der „Besonnenheit und Bedachtsamkeit“ gekennzeichnet.75 Die Kooperation der Forscher ist zugleich bei miteinander unvereinbaren Erkenntnissen durch ein Konkurrenzverhältnis geprägt. Dieses ist aber nur innerhalb des Kooperationsrahmens möglich und auflösbar. Der Austausch von Erkenntnissen hat nach Fichte die Form eines „offen geführten edlen Wettstreit[s] aller mit einander“.76 Die Kooperation hat einen meritokratischen Charakter, der allerdings vom Lob in der gesellschaftlichen Kooperation, auf deren Grundlage ein Verdrängungswettbewerb stattfindet, zu unterscheiden ist. Im wissenschaftlichen Konkurrenzverhältnis wird nicht nur das allgemein generierte Wissen rezipierend gewürdigt, sondern der Wissenschaftler selbst als Vor-Denker geehrt, wenn dessen 73 74 75

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Die Aufhebung der Trennung von wissenschaftlichen Institutionen und politischer Praxis würde eine Einheit wie in Platons Bild vom „Philosophenherrscher“ schaffen, wobei dann aber die Beachtung der unaufhebbaren Subjektivität politischer Entscheidungen fehlt. Johann Gottlieb Fichte, Reden an die deutsche Nation, in: Reinhard Lauth, Ernst Fuchs (Hg.), Johann Gottlieb Fichte. Werke 1808–1812, J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Bd. I, 10), Stuttgart-Bad Canstatt 2005, S. 247. Johann Gottlieb Fichte, Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, in: Reinhard Lauth, Erich Fuchs u. a. (Hg.), Johann Gottlieb Fichte. Nachgelassene Schriften 1810–1812, J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, (Bd. II, 12), Stuttgart-Bad Canstatt 1999, S. 352. Die wissenschaftliche Tätigkeit bzw. das wissenschaftliche Ethos verlangt also auch bestimmte subjektive Charaktereigenschaften, wie die o. g. „Liebe zur Idee“. Ebenso hängt die Entscheidung für eine bestimmte Disziplin oder Forschungsproblematik vom Interesse des Forschers ab. Die Tätigkeit des Forschens ist aber gerade in Methode und Gehalt unabhängig von den subjektiven Bedingungen. Johann Gottlieb Fichte, Deducirter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höhern Lehranstalt, die in gehöriger Verbindung mit einer Akademie der Wissenschaften stehe, in. Reinhard Lauth, Hans Gliwitzky, u. a. (Hg.), Johann Gottlieb Fichte. Nachgelassene Schriften 1807–1810, J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, (Bd. I, 8), Stuttgart-Bad Canstatt 1998, § 49.

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Erkenntnisse von anderen Wissenschaftlern als allgemeingültiges Wissen anerkannt werden. Dieser Wettstreit ist Ausdruck der Tatsache, dass es darin nicht um den persönlichen Vorteil, sondern um das geht, was für alle gleichermaßen wertvoll ist, nämlich das allgemeine Wissen. Nur wenn der Wettbewerb so verkehrt wird, dass der Ruhm selbst das Ziel des Forschens wird, kann dies zu einem Wettbewerb um einen persönlichen Vorteil werden, wie im Wettbewerb um materielle Ressourcen in der gesellschaftlichen Praxis.

2.2 Universität als Ort wissenschaftlicher Bildung (Schleiermacher) Ist der Prozess der moralisch­praktischen Bildung der Person, deren Erziehung in Schule und Familie stattfindet, auf die Gesellschaft ausgerichtet, so bedarf die wissenschaftliche Bildung einer spezifischen Institution, wenn sie nicht dem Prinzip der subjektiven Nützlichkeit und der Moralität folgt. Denn in ihr wird die Person systematisch an die Anforderungen der Wissenschaft herangeführt, wie auch die Wissenschaftspraxis in ihr eine feste Struktur erhält. Die Universität als wissenschaftliche Bildungseinrichtung kann in ihrer Forschung durchaus auf die gesellschaftliche Praxis Bezug nehmen, ohne jedoch zwangsläufig selbst ihrem Nützlichkeitsprinzip unterworfen zu sein, wie auch J. J. Engel und J. B. Erhard sagen77. Fichte setzt hingegen eher voraus, als dass er erläutert, dass das Erkenntnisstreben und die Wissensvermittlung an der Universität nur durch staatlich gewährleistete Autonomie erreicht werden können. Diese Autonomie der Wissenschaftsinstitutionen ist nicht bloß formalrechtlich gemeint, sondern die Notwendigkeit ergibt sich aus ihrer Allgemeinheit und damit der Abgrenzung von einem ‚Wissen‘, das nur lolaken Interessen dient. Aus dieser Bestimmung der Wissenschaftsinstitution erklärt sich aber auch die Notwendigkeit einer gewissen formalrechtlichen Autonomie. Die konkrete Beurteilung der Forschungspraxis ist freilich von der Kenntnis ihres inhaltlichen und methodischen Entwicklungsstandes abhängig. Sie kann durch weitere Erkenntnisse der wesentlichen Eigenschaften ihrer Objekte neue Zwecke und Handlungsmöglichkeiten erschließen. Da die Erkenntnismethode selbst dem Zweck der Entwicklung neuen lehrbaren Wissens unterliegt, hat auch die Wissenschaft eine praktische Seite, die der Frage nach der Adäquatheit der Mittel für diesen Zweck ausgesetzt ist. Offenkundig entspräche es nicht dem Kriterium von Wissenschaft, hier nach bloß subjektiven Interessen zu verfahren. Die Wahl der Erkenntnismethode ist noch nicht einmal bloß technischer Art, sondern zielt auf kanonische Allgemeinheit und ein allgemeines Gutes ab. Eine wohlbegründete Wissenschaftspraxis erfordert eben daher ein Wissenschaftsethos, dessen allgemeine Bestimmung Handlungsformen ausschließt, die dem allgemeinen Anspruch von Wissenschaft und Bildung zuwiderlaufen. Die Selbstausrichtung der Wissenschaft auf die Generierung von allgemeinem Wissen und dessen Vermittlung schließt aus, dass partikulare politische oder ökonomische Gruppen-Interessen für die Wissenschaftspraxis als Vorgaben für die Ausrichtung der Forschung dienen können. 77

Vgl. Johann Jakob Engel, Denkschrift über die Begründung einer großen Lehranstalt in Berlin, In: Ernst Müller, Gelegentliche Gedanken über Universitäten, Leipzig 1990, S. 10 f; Johann Benjamin Erhard, Ueber die Einrichtung und den Zweck der höheren Lehranstalten. Berlin 1802, S. 100 f; S. 134.

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Wichtiger ist noch die Freiheit der allgemeinen Artikulation und kritischen Überprüfung beliebiger Selbstverständlichkeiten oder Vorurteile, selbst wenn diese Kritik als Gefahr für eine öffentliche Ordnung erscheinen mögen. Dabei ist die Freiheit der Prüfung bzw. des Vorschlags einer Beurteilung von einer Predigt oder Missionstätigkeit zu unterscheiden. Keine Prüfung kann über die Formulierung einer Hypothese hinaus mit einer Erwartung an ein präferiertes Forschungsergebnis verbunden sein. Freilich kann schon die Vergabe von Aufträgen die Forschung in eine Richtung lenkem, die politischen oder ökonomisch partikularen Interessen entgegenkommen kann. Die Abgrenzung allgemeinen Wissens von der Nützlichkeit konkreter Kenntnisse führt uns zurück zur Unterscheidung allgemeiner Theorie als Arbeit am Normalbegriff und den angewandten Wissenschaften und Techniken.78 Jenes autonome Forschen basiert auf zugrunde gelegten Theorien79 und zielt auf deren Überprüfung oder Verbesserung. In den Theorien konkretisiert (und differenziert) sich der allgemeine Begriff der Wissenschaft im Hinblick auf die Forschung. Ganz allgemein ist unter dem Begriff einer Theorie ein System von in der Theorie formal herleitbaren oder formal als wahr gesetzten Sätzen und Regeln zu verstehen. Anhand der Theorie strukturiert sich das allgemeine Wissen eines Bereichs. Die Regeln müssen bestimmten Anforderungen entsprechen, wie einer transparenten Anwendung und Allgemeingültigkeit. Formale Wunschbedingungen für gute Theorien sind Kohärenz und Konsistenz der Sätze bzw. externe Brauchbarkeit der durch sie artikulierten Regeln. Ein theoretisches Wissen von einer typischen Sache liegt vor, wenn der Gebrauch der Regeln gute Orientierung leistet. Dabei gibt es Ausnahmen. Wenn sich etwa prognostizierte Ereignisse nicht eingestellt haben, kann das zufällig geschehen sein. Das würde das Wissen noch nicht infrage stellen. Man wird nie alle Fälle abdecken können. Ob eine Theorie einer mehr oder minder grundlegenden Modifikation bedarf, hängt davon ab, wie typisch die ‚Ausnahmen‘ sind. Die Gültigkeit einer Theorie erweist sich demnach erst in ihrer Anwendung, also in einer Praxis. Dies ist entweder (in den Natur- und Technikwissenschaften) die Laborpraxis bzw. die Natur oder (in dem Geistes- und Sozialwissenschaften) die geschichtlich-soziale Praxis. Der erste Fall ist ein Test, der einer Verifikation in der Form bestmöglicher Rechtfertigung der Setzung allgemeiner Sätze als Ausdrücke materialbegrifflicher Defaultinferenzen 78

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Immanuel Kant erklärt das Einteilungsprinzip der Universität in Fakultäten durch die Ausrichtung an den Bedürfnissen des Menschen und stellt ihr dann die in der philosophischen Fakultät zugrunde gelegte Vernunft voran. Nur diese kann die Bedürfnisse selbst zum Erkenntnisgegenstand machen (vgl. Kant Immanuel, Der Streit der Fakultäten, in: Wilhelm Weischedel (Hg.), Immanuel Kant Werkausgabe. Bd. XI Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, Frankfurt a. M. 1991, A 12 f.). Darin wird also die Grundlage der Praxis theoretisch erfasst, allerdings ohne sich selbst schon als Theorie zu erfassen. Allerdings differenziert Kant in der „Kritik der reinen Vernunft“ (Jens Timmermann (Hg.), Hamburg 1998, A 834/ B 862) die Beurteilung beider Ebenen: „Um deswillen muß man Wissenschaften, weil sie doch alle aus dem Gesichtspunkte eines gewissen allgemeinen Interesse ausgedacht werden, nicht nach der Beschreibung, die der Urheber derselben davon gibt, sondern nach der Idee, welche man aus der natürlichen Einheit der Teile, die er zusammengebracht hat, in der Vernunft selbst gegründet findet, erklären und bestimmen.“ Die folgenden wissenschaftstheoretischen Aussagen können nur thesenartig formuliert werden. Die vorgenommene Unterscheidung zum anwendungsbezogenen Wissen kann vielleicht eine Brücke zwischen der Gegenwart und den Überlegungen zum Beginn des 19. Jahrhunderts schlagen.

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oder Normalfallschlüsse dient, während im zweiten Fall die Anwendung weder einer rein technischen Kontrolle unterliegt, noch auf bestimmte Verwendungsbereiche und -zwecke beschränkt ist. So dient z. B. das Modell des homo oeconomicus in den Wirtschaftswissenschaften zur bedingten Analyse des Verhaltens von rationalen Egoisten, sozusagen im geistigen Tierreich reiner Trittbrettfahrer, ohne dass man glaubrn sollte, die Menschen verhielten sich normalerweise so. Die Geschichtswissenschaft entwickelt ihre Erkenntnisse deskriptiv aus der Gattungsgeschichte und geht insofern methodengeleitet vor, als sie allgemeines Wissen in die Rekonstruktion des Geschehens einfließen lässt, dieses aber eben damit als Instanziierung allgemeinen Geschehens und damit prototypisch deutet. Daher ist es falsch zu glauben, man lerne nie etwas aus der Geschichte. Es ist also hochironische Kritik, wenn Hegel sagt, nur das lehre die Geschichte, dass man aus ihr nichts lerne. Die erfolgreiche Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse einer Theorie bedeutet dann nicht nur, dass diese allgemein für wahr gehalten wird, weil sie im Prinzip gute Orientierung leistet, sondern zugleich auch, dass sie in der Anwendung die Realisierung subjektiver Zwecksetzung ermöglichen, d. h. Nützlichkeit generieren. Denn was allgemein falsch (schlecht) ist, kann zu keiner (gut) funktionierenden Praxis führen (oder nur durch zufällige glückliche Umstände ohne Sicherheit). Forschungsergebnisse haben also entweder einen „unmittelbaren Nutzen“, indem sie direkt in der Praxis angewendet werden, oder einen mittelbaren als Theorie, etwa in der Ermöglichung der Mittelsuche für variable Zwecksetzungen.80 Einen Nutzen zu haben ist aber etwas anderes als genuin nützlich für etwas zu sein. So kann ein Stock für viele Zwecke einen Nutzen haben, ohne selbst durch die Nützlichkeit (schlechthin) bestimmt zu sein. Nicht zuletzt aufgrund der prinzipiell offenen Anwendungskontexte theoretischen Forschens bedarf der Wissenstransfer in die Praxis in der heutigen Gesellschaft durchaus der (staatlichen) Regulierung, wobei der Staat das öffentliche Interesse der jeweiligen Gesellschaft der Leute, des Staatsvolks, institutionell repräsentiert. Die Wissenschaft selbst ist eine Art Prüfanstalt. Als solche darf sie sich nicht von einer gegebenen öffentlichen Meinung oder einer besonderen politischen Agenda abhängig machen.81 In bedingter Form allerdings können gesellschaftliche oder politische Interessen seitens der Wissenschaft zum Anlass für bestimmte unabhängige Forschungen genommen werden, ohne dass damit die Bedeutung der Erkenntnisse auf die veranlassenden Interessen beschränkt wäre. Um eine gelingende Praxis überhaupt sicherzustellen, muss also auch ‚der Staat‘, d. h. müssen seine Repräsentanten begreifen, was Wissenschaft ist, und deren relative Unabhängigkeit von allzu konkreten Zwecksetzungen institutionell sicherstellen. Populistische Diktaturen und Schein-Demokratien tendieren dabei zur Verachtung freier wissenschaftlicher Diskussion und ihrer Ergebnisse. Die institutionelle Struktur relativ autonomer Wissenschaftspraxis bleibt dabei auf die wissenschaftlich gebildeten und damit arbeitsteilig strukturierten Eliten mit ihrem je besonderen Spezialwissen ausgerichtet. Die 80

81

Daniel Friedrich Ernst Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über ein neu zu errichtende, in: Hans-Joachim Birkner, Gerhard Ebeling u. a. (Hg.), Kritische Gesamtausgabe, Schriften und Entwürfe (Abt.1), Band 6, Dirk Schmid (Hg.), Berlin, New York 1998, vgl. S. 28; sowie S. 41f. Vgl. ebd., S. 24.

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akademische Selbstverwaltung schützt dabei die freie Kooperation der Disziplinen und Wissenschaftler. Vor diesem Hintergrund fordert Schleiermacher für die Universität ‚demokratische‘ Strukturen mit äußerlicher „monarchischer Form“ bei rechtlicher Gleichheit.82 Die Besetzung von Führungspositionen soll nach Kriterien der persönlichen Kompetenz erfolgen. Zur wissenschaftlichen Fachqualifikation kommen noch Fähigkeiten im Wissenschaftsmanagement und die ‚philosophische‘ Perspektive auf Wissenschaft in der Gesellschaft im Ganzen hinzu. Die durch die Struktur der Institution festgelegte Autonomie wird, insbesondere wenn nach dem so genannten Harnack-Prinzip der Bestenauslese verfahren wird, durch die sie leitende Persönlichkeit sowohl praktisch umgesetzt, wie auch gegenüber der Politik verteidigt. Damit hängt die reale Autonomie der Wissenschaftsinstitutionen von der dadurch ermöglichten wissenschaftlichen Bildung ab und umgekehrt hängt diese von jener ab. Die Autonomie des Wissenschaftssystems beruht auf ihrer Rolle als Prüfinstanz lehrbarer Inhalte. Die praktische Vermittlungsleistung der Universität wurde bereits als Hinführung zum selbständigen Nachdenken im „Lernen des Lernens“83 auf der Grundlage der Einsicht in die bloß erst formale Bestimmung des schematisch erlernten Wissens84 erwähnt. Fichte betont entsprechend die Bedeutung des Nachvollzugs insbesondere anhand von Begründungen für einen selbständigen Umgang mit erlernten Wissensinhalten. Dies ist auch ein Ansatzpunkt zur Entwicklung einer so genannten Methodenkompetenz. Als geeignetes Mittel des Nachdenkens sieht Fichte den „sokratischen Dialog“ an, weil durch diesen auch als offener mündlicher Austausch Rückfragen in Bezug auf alle Arten scheinbarer Selbstverständlichkeit möglich sind. Dieses selbständige Denken soll und kann gezielt und kontrolliert von lehrenden Wissenschaftlern gefördert werden.85 Hinter die paradigmatische Einübung in das verständige Lesens tritt die extensive Lektüre konkreter schriftlicher Darstellungen komplexer Strukturen zurück. Texte, die ohnehin nur an eine breitere Öffentlichkeit und damit an völlig unbestimmte Adressaten gerichtet sind, gehören schon deswegen nicht zum Kanon universitärer Lehre, weil sie sich sozusagen unmittelbar lesen lassen. Dasselbe gilt in der Regel für die üblichen Darstellungen von Wissenschafts- und Philosophiegeschichte. Das hat die nicht immer glückliche Folge, dass es gerade in diesen Bereichen ein nicht genau überprüftes Ondit gibt, dass also die Geschichte der Institutionen und Ideen in vielen Momenten einer Dekonstruktion bedürfen, welche ein bloßes Hörensagen aufhebt. 82 83

84 85

Ebd., S. 67. Johann Gottlieb Fichte, Deducirter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höhern Lehranstalt, die in gehöriger Verbindung mit einer Akademie der Wissenschaften stehe, in. Reinhard Lauth, Hans Gliwitzky, u. a. (Hg.), Johann Gottlieb Fichte. Nachgelassene Schriften 1807–1810, J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, (Bd. I, 8), Stuttgart-Bad Canstatt 1998, § 5. Ebd., § 19. Ebd., §§ 7 u. 9. Schleiermacher hält den sokratischen Dialog hingegen für unpraktikabel, weil seines Erachtens Dialoge an der Universität faktisch nicht möglich sind (vgl. ders., Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über ein neu zu errichtende, in: Hans-Joachim Birkner, Gerhard Ebeling u. a. (Hg.), Kritische Gesamtausgabe, Schriften und Entwürfe (Abt. 1), Band 6, Dirk Schmid (Hg.), Berlin, New York 1998, S. 48). Leonard Nelson hat aber den sokratischen Dialog zu einem sokratischen Gespräch zur Anwendung in der Universität ausgebaut. Ders., Die sokratische Methode, in: Dieter Birnbacher, Dieter Krohn (Hg.), Das sokratische Gespräch, Stuttgart 2002, S. 21–72.

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Der Gedanke der Lehre aus Forschung ergibt sich aus der Ausrichtung auf die Befähigung zum selbständigen Nachdenken und Forschen des Studierenden, in Teilnahme an der Prüfung, Vertiefung und Erweiterung des Wissens und seiner Anwendungen überhaupt. Mit dieser Überlegung liefert Fichte den Maßstab für jede echte universitäre Lehre und für die Begründung der Untrennbarkeit von Forschung, Diskussion der Lehrinhalte und Lehre als Bildung selbständiger Prüf- und Urteilskraft. Die wissenschaftlich gebildete Person ist also durch Besitz eines allgemeinen Wissens ausgezeichnet, das im Vermögen seiner Anwendung auf besondere Fälle allererst praxisrelevant wird. Das beantwortet die Frage, ob die universitäre Lehre auch einen Anwendungsbezug wissenschaftlichen Wissens berücksichtigen sollte. Wie das verständige Lesen und Schreiben, Reden und Zuhören in einer Disziplin kann auch die praktische Anwendung begrifflicher Systeme oder Theorien in der Allgemeinheit, wie sie die universitas litterarum auch nach Aufgliederung in Teildisziplinen vermittelt, nur paradigmatisch in ihren Grundformen praktisch vermittelt werden. Freilich gibt es dann eine Kaskade der Techniken der Technikvermittlung bis herunter in die Fach(hoch)schulen und die Ingenieurausbildung. Schleiermacher zieht aus der Idee der wissenschaftlichen Bildung einer Person für die Praxis die Konsequenz, dass das Studium offenlassen kann, ob die Studierenden am Ende die Wissenschaft selbst oder eine praktische Anwendung zum Beruf machen. Auch ein auf Theorie und allgemeine Bildung ausgerichtetes Studium dient der beruflichen Praxis, gerade bei anspruchsvollen Berufen – also solchen, in denen Urteilskraft in der Vermittlung lesend erwerbbaren Wissens und einer Praxis seiner Umsetzung sozusagen lebenslang erforderlich ist: „Daher muß er nun aus demselben Grunde [weil es unterschiedliche Begabungen gibt] dafür sorgen, daß die Universitäten zugleich höhere Specialschulen sein für alles dasjenige, was von den in seinem Dienst nutzbaren Kenntnissen zunächst mit der eigentlichen wissenschaftlichen Bildung zusammenhängt; und wenn es auch auf diesen Gebiete nicht eben so nothwendig ist, ist es doch natürlich genug, auch hier die äußere Unterscheidung zu vermeiden.“86 Das Argument gegen eine institutionelle Trennung etwa von Theologie und Religionslehrerausbildung oder von Forschungs- und Lehruniversitäten (nicht aber zwischen Fachhochschulen und Universitäten) besteht darin, dass bloße Fachlehre die eigene Entwicklung begrenzt und daher eine frühzeitige Spezialisierung auf eine bestimmte Praxis, d. h. eine bloße Ausbildung in einer speziellen Technik, die ausschließlich auf mehr oder weniger enge 86

Daniel Friedrich Ernst Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über ein neu zu errichtende, in: Hans-Joachim Birkner, Gerhard Ebeling u. a. (Hg.), Kritische Gesamtausgabe, Schriften und Entwürfe (Abt. 1), Band 6, Dirk Schmid (Hg.), Berlin, New York 1998, S. 45, vgl. 45 f. Dagegen scheint Fichte eine institutionelle Trennung der Lehre von reiner und angewandter Wissenschaft von vornherein festzuschreiben, die nicht per se zwingend, aber im Rahmen der arbeitsteiligen Organisation der Wissenschaft gerechtfertigt ist (vgl. ders., Deducirter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höhern Lehranstalt, die in gehöriger Verbindung mit einer Akademie der Wissenschaften stehe, In. Reinhard Lauth, Hans Gliwitzky (Hg.), Johann Gottlieb Fichte. Nachgelassene Schriften 1807–1810, J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, (Bd. I, 8), Stuttgart-Bad Canstatt 1998, § 22). Die Forderung nach Einheit von reiner und angewandter Wissenschaft vertritt Fichte nicht weniger als Schleiermacher. Nur Humboldt verlangt reine Theorie auf der Universität (vgl. Wilhelm von Humboldt, Ueber die innere und äußere Organisation einer in Berlin zu errichtenden Lehranstalt, in: Andreas Flitner, Klaus Giel (Hg.), Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden. Band IV, Darmstadt 1982, S. 260).

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Anwendungsbereiche bezogen ist, die Möglichkeit zu einer flexiblen Weiterbildung im lebenslangen Lernen einschränkt. Zwar kann man von der speziellen Fachausbildung zur allgemeinen Bildung fortschreiten; doch dazu bedarf es der allgemeinen Fähigkeit, sich durch eigene Lektüre und Hören von Fachvorträgen weiterzubilden – was am Ende nur universitär im Kontext eines Verständnisses von Forschung, Theorie und Lehre insgesamt vermittelt wird. Fichtes Anliegen in seinen bildungstheoretischen Schriften scheint vorrangig in der Beschreibung der Möglichkeit des Übergangs von der Theorie zur Praxis zu liegen, während Schleiermacher und Humboldt sowie v. a. Schelling den Bildungsprozess innerhalb der Wissenschaftsinstitution Universität thematisieren. Dennoch beziehen auch sie sich (bis auf Schelling) auf die Modifikation des epistemischen Vermögens, des Lernens des lebenslangen Lernens durch Lektürekompetenz in den Fachdisziplinen und des Charakters samt subjektiver Urteilskraft.87 Die Entwicklung ist auch hier von ihrem Ziel her zu beschreiben. Dieses Ziel ist inhaltlich als Verhältnis der Person zum Wissen näher darzustellen. Hierbei tritt das Problem auf, die im weiten Sinn philosophischen Übersichten über die Allgemeinheit und Einheit des Wissens in ihrer relativen Notwendigkeit trotz aller Spannung zur Spezialisierung der institutionalisierten Forschung und der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen begreifbar zu machen. Für den Theologen Schleiermacher ist das Bildungsziel interessanterweise schwerpunktmäßig philosophisch: Es ist „das Bewußtsein von der nothwendigen Einheit alles Wissens, von den Gesezen und Bedingungen seines Entstehens, von der Form und dem Gepräge wodurch eigentlich jede Wahrnehmung, jeder Gedanke, ein eigentliches Wissen ist.“88 Wenn man Fichtes vage Beschreibung von der Ideen-Erkenntnis als Erkenntnis der Wesensbestimmung des Gegenstandes heranzieht, ergibt sich mit Schleiermacher eine Wissenskonzeption, die Platons taxonomische Begriffsbestimmung mit eidetisch-generischen Normalfallfolgerungen zur Darstellungen der Strukturen einer Wirklichkeit reformuliert, welche sich in Wiederholungen der immer gleichen Grundformen empirisch zeigen. Die theoretische „Rettung der Phänomene“ besteht eben darin, dass die Theorie die sich in den Erscheinungen zeigenden Formen oder Strukturen modellartig artikuliert. Diesem Wissenschaftsverständnis liegt der Gedanke einer kohärenten und konsistenten Einheit des Wissens zugrunde. Schleiermacher geht dann aber mit dem Blick auf die methodische Generierung („Bedingung“) von Wissen über die Betrachtung rein begrifflicher Zusammenhänge hinaus. Er weist darauf hin, dass, man nicht nur Rechenschaft für seine Behauptungen bzw. Thesen ablegen, sondern auch über das wissenschaftliche Denken selbst nachdenken muss, um Inhalte und Grenzen verbaler Lehren kompetent zu begreifen. Erst wenn der Bildungsprozess, den Platon mit der „Umwendung der Seele“ hin zu den allgemeinen Gegenstandsbestimmungen im Strukturwissen als notwendig erkannte, das Denken des wissenschaftlichen Denkens mitenthält, kann man Schleiermacher zustimmen, dass jeder 87 88

Schellings Sonderstatus beruht darauf, dass er die Universität bzw. das akademische Studium selbst ‚philosophisch‘ zu begründen beabsichtigt. Dieser Ansatz hat daher grundlegende Differenzen zu den in diesem Abschnitt Genannten und bedarf einer eigenen Problematisierung. Daniel Friedrich Ernst Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über ein neu zu errichtende, in: Hans-Joachim Birkner, Gerhard Ebeling u. a. (Hg.), Kritische Gesamtausgabe, Schriften und Entwürfe (Abt.1), Band 6, Dirk Schmid (Hg.), Berlin, New York 1998, S. 28.

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wahre Gedanke Wissen ist und jedes Wissen zum wahren Denken anleitet. Die wissenschaftliche Haltung realisiert sich also in der konkreten Anwendung von Formen-Wissen. Mit der These von der Einheit des Wissens stellt sich die Frage nach der Einheit der Wissenschaften trotz der arbeitsteiligen Einteilung von Forschung und Lehre in Fakultäten und Disziplinen. Schon Kant hat im „Streit der Fakultäten“ eine neue Ordnung zwischen den Fakultäten einführen wollen,89 indem er der Philosophie, verstanden als theoretische Wissenschaft, gegenüber der Theologie, Rechtswissenschaft und Medizin, verstanden als angewandte Wissenschaften, den theoretischen Vorrang gab. Dies haben zunächst Schelling (wie sich noch zeigen wird) und dann auch Fichte und Schleiermacher zum Anlass genommen, das Verhältnis der wissenschaftlichen Disziplinen für wissenschaftliche Bildung zu bestimmen, wie sie an der Universität erreicht werden soll. Die Vorstellung der universitas, also die das gesamte Wissen umfassende Universität, erhält so eine neue systematische Ausarbeitung. Fichte beschränkt sich dabei auf einen groben Entwurf einer „philosophischen Encyklopädie der gesamten Wissenschaft“90. Das Kriterium für die institutionelle Struktur ist das Wissen in seiner inhaltlichen Struktur. Indem der Gesamtzusammenhang des Wissens einsichtig wird, kann die Wissenschaft Orientierung stiften und Rechenschaft über das jeweils eigene Fach geben.91 Die Einteilung in Disziplinen drückt diese Ordnung des Wissens als ein arbeitsteilig verfasstes System nicht bloß der Forschung und Lehre, sondern auch der Bücher und Schriften der ‚höheren‘ Bibliotheken aus. Thematisch können dabei Typen sachlicher Phänomene oder Methoden der Forschung, Darstellung oder technischen Anwendung leitend sein.92 Alle drei nachkantischen Theoretiker sind sich aber einig, dass jede einzelne wissenschaftliche Tätigkeit ihren Grund in einem allgemeinen wissenschaftlichen Selbstverständnis haben muss, das allen Disziplinen zugrunde liegt. Erst dadurch können die Gegenstandsbereiche in der Wissenschaft abgegrenzt werden. Die logische Geographie der Einheit des 89 90

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S. Fn. 75. Ders., Deducirter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höhern Lehranstalt, die in gehöriger Verbindung mit einer Akademie der Wissenschaften stehe, in. Reinhard Lauth, Hans Gliwitzky, (Hg.), Johann Gottlieb Fichte. Nachgelassene Schriften 1807–1810, J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, (Bd. I, 8), Stuttgart-Bad Canstatt 1998, § 19. Vgl. ebd., § 21. Wissen hat also per se eine Orientierungsfunktion, nicht bloß geisteswissenschaftliches, wie Jürgen Mittelstraß sagt. Die Orientierungsleistung liegt darin, dass die Theorie auf die Praxis bezogen wird. Insoweit Mittelstraß selbst die Orientierungsleistung auf das Denken zurückführt (vgl. Jürgen Mittelstraß, Der Flug der Eule. 15 Thesen über Bildung, Wissenschaft und Universität, Frankfurt a. M. 1997, 12. These), ist ihm aber zuzustimmen. Seine Unterscheidung zwischen (kulturell-reflexivem) Orientierungs- und (technischem) Verfügungswissen (ebd., 2. These) ist dann nur noch eine lokale Differenzierung, die der Unterscheidung zwischen rein instrumentell und nur durch (politische) Kooperation erreichbaren Zwecken entspricht. Auf die Debatte um Joachim Ritters und Odo Marquards Kompensationsthese der Geisteswissenschaften kann hier nicht weiter eingegangen werden. Die Freiheit des Wechsels in andere Disziplinen kann zwar förderlich sein (vgl. Daniel Friedrich Ernst Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über ein neu zu errichtende, in: Hans-Joachim Birkner, Gerhard Ebeling u. a. (Hg.), Kritische Gesamtausgabe, Schriften und Entwürfe (Abt. 1), Band 6, Dirk Schmid (Hg.), Berlin, New York 1998, S. 58), aber sie ist kein Prinzip der Universitätsstruktur, da letztlich die Vertiefung einer Wissenschaft von der Spezialisierung abhängt. Dies schränkt auch Sinn und Geltungsanspruch von Inter- und Transdisziplinarität ein (vgl. Jürgen Mittelstraß, Transdisziplinarität. Wissenschaftliche Zukunft und institutionelle Wirklichkeit. Konstanz 2003).

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Wissens schreiben sie als Aufgabe der Disziplin Philosophie zu, die in der philosophischen Fakultät der theoretischen Sachwissenschaften die Rolle der Vermittlung allgemeiner Methoden übernehmen soll und damit weit enger als die alte philosophia definiert ist. Der Philosophie im engeren Sinn geht es ab jetzt um das wissenschaftliche Denken und Erkennen überhaupt,93 was später nicht mehr begriffen wird, nachdem man obendrein die historische Entwicklung von Wort, Begriff und Sache nicht mehr kennt. Die Philosophie leistet der ‚neuen‘ Idee um 1800 zufolge also die wissenschaftliche Grundlagenbildung im Blick auf die allgemeine wissenschaftliche Form als Rahmen für alle Ausdifferenzierung in den einzelnen Disziplinen. Dieser Idee zufolge verlangen alle wissenschaftlichen Fächer im Grundstudium oder ‚College‘ ein Philosophicum. Diese Praxis wurde im Lande ihrer Begründung am radikalsten aufgegeben, also an deutschsprachigen Universitäten, was keineswegs folgenlos für den Begriff von Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit geblieben ist. Denn jetzt zählt alles als Wissenschaft, was die faktische akademische Organisation dafür hält. Aus dem Wissen um Wissenschaft ist eine doxa geworden. Erst im Wissen über das Wissen erreicht das Sachwissen die letzte, höchste, allgemeinste, Ebene der theoretischen Betrachtung. In der Thematisierung des Wissens, Erkennens und der Wahrheit überhaupt wird nämlich das Prinzip der Einheit und der disziplinären Ausdifferenzierung des Wissens begründet. Es geht dabei z. B. um die Vielfalt im bloß formalen Begriff der Wahrheit oder um die Differenz zwischen allgemeinem, d. h. gattungstypischem, Wissen und empirischem Erkennen. Jede reflektierte Selbständigkeit wissenschaftlichen Erkennens setzt allgemeines Methodenwissen und die logische Geographie der Sachdisziplinen voraus.94 Die einzelnen Spezial-Disziplinen beziehen sich auf konkrete Probleme und Gegenstände und sind so je nähere Spezifikationen wie auch unterschiedliche Bestätigungen jener allgemeinen philosophischen, d. h. wissenschaftstheoretischen, Bestimmungen. Mit Hilfe der allgemeinen wissenschaftlichen Perspektive lässt sich dann die eigene Disziplin in den Gesamtbereich der Wissenschaften einordnen. Weil erst unter diesen Voraussetzungen (verbunden mit einem ausreichenden Maß an akademischer Freiheit) die Kompetenz zum theoretischen Erkennen selbständig realisiert werden kann, muss sich die Person einerseits einen Begriff von Wissenschaft überhaupt aneignen, andererseits ein spezifisches Verständnis des Gehaltes und der Methode einer einzelnen Disziplin entwickeln, innerhalb derer sie an konkreten Fragestellungen forscht. 93

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Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Deducirter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höhern Lehranstalt, die in gehöriger Verbindung mit einer Akademie der Wissenschaften stehe, in. Reinhard Lauth, Hans Gliwitzky (Hg.), Johann Gottlieb Fichte. Nachgelassene Schriften 1807–1810, J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, (Bd. I, 8), Stuttgart-Bad Canstatt 1998, § 16 und Daniel Friedrich Ernst Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über ein neu zu errichtende, in: Hans-Joachim Birkner, Gerhard Ebeling u. a. (Hg.), Kritische Gesamtausgabe, Schriften und Entwürfe (Abt. 1), Band 6, Dirk Schmid (Hg.), Berlin, New York 1998, S. 55. Vgl. ebd., S. 31. Vgl. diesbezüglich auch Martin Heidegger, Was heißt Denken?, in: Paola-Ludovika Coriando (Hg.), Gesamtausgabe Bd. 8, Abt. 1, Veröffentlichte Schriften 1910–1976, Frankfurt a. M. 2002) und Pirmin Stekeler-Weithofers Auslegung von Heideggers Satz „Die Wissenschaft denkt nicht.“ in: Ders., Was heißt denken? Von Heidegger über Hölderlin zu Derrida, Bonner philosophische Vorträge und Studien 21, Bonn 2004, inzwischen auch als Teil 1 in: Ders., Denken, Tübingen 2012.

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Daher fordert Schleiermacher, dass das Studium mit der Philosophie, also einer allgemeinen logischen und wissenschaftlichen Methodenlehre, beginnen muss.95 Es ist ein Zeichen des begrenzten Umfangs des Sachwissens, dass Schleiermacher noch sagen kann, dass alle einzelnen Sachdisziplinen wissenschaftlich gleichwertig seien und ihre Wahl dem Studierenden selbst zu überlassen sei. Dahinter steht die Vorstellung, dass man nur erst allgemein wissenschaftlich zu lesen, schreiben und forschen gelernt haben müsse, um sich dann beliebig zu spezialisieren. Das bestätigt unsere Diagnose, dass man damals die allgemeine wissenschaftliche Lesefähigkeit als mit dem erfolgreichen Ende des Gymnasiums abgeschlossen angesehen hat und das universitäre Studium vor der Promotion noch nicht, wie heute, als Einführung in disziplinäres Grundlagenwissen und damit in ausdifferenzierte Methoden und Fachsprachen bzw. Notationssysteme angesehen hat. Es ist andererseits sozusagen ein Beweis der engen Verbindung von Sprachwissen und Sachwissen, Lektürefähigkeit und inhaltlichem Vorwissen, dass heute ein allgemeines Stu­ dium Universale oder Philosophicum für eine Forschungstätigkeit in einer Sachwissenschaft wie der Mathematik, Physik, Chemie oder auch in den Gesellschaftswissenschaften bei Weitem nicht mehr ausreicht. Noch weit mehr als auf die USA und Großbritannien trifft seither auf das System der Wissenschaften das bonmot zu, es sei in verschiedene Länder getrennt durch eine Sprache, die sich disziplinär so aufgliedert, dass jedes unmittelbare Verstehen häufig bloß erst oberflächlich ist. Das erklärt auch die häufig beklagte Sprachlosigkeit zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Schleiermacher sieht dagegen noch das subjektive Interesse mit dem Verweis auf das „Talent“ als Wahlkriterium des Studiums einer Sachdisziplin an, übersieht damit die zu seiner Zeit schon beginnende Spezialisierung der genannten Wissenschaftsgroßbereiche, die am Ende nur noch in Ausnahmefällen oder in Grenzbereichen einen Fachwechsel weiterhin offen hält. Verräterisch ist der generische Singular „die Wissenschaft“ im folgenden Satz: „Die Wissenschaft, wie sie in der Gesamtheit der gebildeten Völker als ihr gemeinschaftliches Werk und Besitzthum vorhanden ist, soll den Einzelnen zur Erkenntniß hinanbilden, und der Einzelne soll auch wiederum an seinem Theil die Wissenschaft weiter bilden.“96 Der eigentliche Ort wissenschaftlicher Tätigkeit ist für Schleiermacher dann aber dennoch nicht die Universität, sondern die Akademie als eine Institution, die rein auf die Forschung ausgerichtet ist. Forschung ist für ihn das Ziel wissenschaftlicher Bildung und liegt dem universitären Bildungsprozess, also auch der Lehre, zugrunde. Schleiermacher setzt auf diese Weise mit der Entwicklung eines Verständnisses von Wissenschaft als solcher, des Spektrums der damaligen philosophischen Fakultät, die allgemeinste Form der Bildung an den Anfang der wissenschaftlichen Bildung, die sich erst später weiter ausdifferenziert. Die Philosophie im zwar engen, aber immer noch zu breiten Sinn wissenschaftlicher Methodenlehre und allgemeiner Lesefertigkeitsvermittlung ist hier noch allgemeine Grundlage für die selbständigen Tätigkeiten in den einzelnen Disziplinen, von der Mathematik über die Physik bis zur Physiologie und Psychologie. Der Idee nach 95

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Daniel Friedrich Ernst Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über ein neu zu errichtende, in: Hans-Joachim Birkner, Gerhard Ebeling u. a. (Hg.), Kritische Gesamtausgabe, Schriften und Entwürfe (Abt. 1), Band 6, Dirk Schmid (Hg.), Berlin, New York 1998, S. 35. Ebd., S. 31.

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wird die Sachausbildung bloß paradigmatisch verstanden und ist nicht auf eine Sachdisziplin beschränkt. Mit den im Studium erworbenen Kenntnissen und der Kompetenz zum wissenschaftlichen Arbeiten generell soll es nach Schleiermacher daher auch möglich sein, in jedem Beruf kompetent praktisch tätig zu werden, da die Fähigkeit zur selbständigen Aneignung der spezifischen Voraussetzungen als gegeben erscheint.97 Das Studium dient hier also keineswegs unmittelbar praktischen Zwecken. Diese aber sollen auf der Grundlage eines theoretischen Studiums selbständig erreicht werden können, da die allgemeine Sprach- und Handlungskompetenz in ‚der Wissenschaft‘ als schon gegeben bzw. erreicht betrachtet wird und sich durch die Anwendung im disziplinären Wissen angeblich nur noch extensiv erweitert. Die allgemeine Methode der Wissenschaft und die allgemeine Form von Theorie soll also nicht allein dadurch praktisch werden, dass wissenschaftliche Erkenntnisse von der Praxis, dem Staat und der Wirtschaft, rezipiert werden, sondern sie soll durch die Bildung der Personen selbst Eingang in die Praxis finden, wenn sie den Bereich der Wissenschaft verlassen. Der Bildungsprozess hat somit nach Schleiermacher eine hierarchische Struktur: Er führt von ‚der Philosophie‘ im erläuterten engen und doch noch zu weiten Sinn zu den wissenschaftlichen Spezialdisziplinen der philosophischen Fakultät und von dort erst in die höhere Fachausbildung etwa der Theologie, Jurisprudenz oder Medizin – so wie heute noch ein amerikanisches College in der Bachelorausbildung trotz aller Schwerpunkte oder ‚majors‘ ein Studium Universale und Philosophicum anbietet. Von der Philosophie im weiteren Sinne des Bereichs der wissenschaftlichen Gesamtfakultät ausgehend soll man also in allen anderen Bereichen tätig werden können. Aus dem Bezug des theoretischen Wissens auf die Praxis in der institutionalisierten Forschung begründet sich ein Interesse der Praxis an wissenschaftlich gebildeten Personen, weil deren Wissen und Können für Bereiche der Praxis konstitutiv und handlungsorientierend ist, wie die Einsicht in die „wahre Idee des Staates“98 für die Politik. Schleiermacher und Fichte stellen allerdings inkonsequenterweise in ihren Universitätskonzeptionen die Lehre in den Mittelpunkt. Die eigentliche Forschungstätigkeit spielt in Schleiermachers Überlegungen zur Universität nur eine untergeordnete Rolle, weil sie der Akademie zugeordnet ist. Darin weicht er nur insofern von Fichte ab, als er der Forschung einen bestimmten institutionellen Ort zuweist. Auch Fichte bezeichnet die Universität von vornherein (im Titel des Textes) als eine „Lehranstalt“, die zwar ihre Rechtfertigung in der Entwicklung der Wissenschaften hat und daraus den Lehrinhalt bezieht. Er nennt aber keinen eigenen Ort der Forschung. Bei beiden Autoren ist das Kriterium für die gute Lehre die Entwicklung der Kompetenz der Studierenden zum eigenständigen Verständnis und zur Generierung von allgemeinem Wissen.

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Vgl. ebd., S. 44 f. Ebd., S. 28.

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2.3 Wissenschaftliche Forschung als Bildungsideal (W. v. Humboldt) Auch Humboldts Rede von der „Bildung durch Wissenschaft“ meint eine systematische Förderung der Bildung einzelner Personen durch gesellschaftliche Institutionalisierung. Sein Diktum von „Einsamkeit und Freiheit“ bezieht sich, wie sich zeigen wird, gerade auf die Tätigkeit innerhalb der Institutionen der Wissenschaft, um Bildung für jeden sicherstellen zu können. Eine solche institutionalisierte Wissenschaft unterscheidet sich von dem personenbezogenen Wissenschaftsverständnis Platons. Dort wird der Zusammenhang von Theorie und Praxis in der Bildung des Einzelnen dialogisch thematisiert. Die Berücksichtigung von Institutionen ist eine Erweiterung dieser Perspektive, die Platons Begriff von wissenschaftlicher Bildung auch inhaltlich weiterentwickelt. Dies betrifft sowohl die Konzeption von Wissen als auch den Prozess der Ausdifferenzierung des Wissens, die zur Spezialisierung der einzelnen Forschungstätigkeit innerhalb einer Forschungsgemeinschaft führt. Sowohl das Verständnis von Wissenschaft als auch der Gesamtzusammenhang des Wissens (einschließlich seiner Erweiterung und Vertiefung) stellen hierbei zentrale Herausforderungen dar. Das theoretische Wissen wird entworfen, geprüft und kanonisiert durch das akademische System, in dem die Universität eine besondere Rolle erhält. Humboldt betont dabei mit weit größerem Nachdruck als Fichte und Schleiermacher die Rolle der Universität für die Forschung und postuliert somit die institutionalisierte Einheit von Forschung und Lehre. Von ihm stammt das berühmte Diktum von „Einsamkeit und Freiheit“ des Forschers. Mit der Einsamkeit ist jedoch keine Opposition zur Institutionalisierung von Wissenschaft gemeint, wie im Falle des einsamen Gelehrten, der am eigenen Schreibtisch forscht. Humboldt betont vielmehr die selbständige Forschungstätigkeit als Bildungsziel. Die Kooperation innerhalb der Universität wird damit keineswegs ausgeschlossen: „Da diese Anstalten [also die Universitäten] ihren Zweck indess nur erreichen können, wenn jede, soviel als immer möglich, der reinen Idee der Wissenschaft gegenübersteht, so sind Einsamkeit und Freiheit die in ihrem Kreise vorwaltenden Principien. Da aber auch das geistige Wirken in der Menschheit nur als Zusammenwirken gedeiht, und zwar nicht bloss, damit Einer ersetze, was dem Anderen mangelt, sondern damit die gelingende Thätigkeit des Einen den Anderen begeistere und Allen die allgemeine, ursprüngliche, in den Einzelnen nur einzeln oder abgeleitet hervorstrahlende Kraft sichtbar werden, so muss die innere Organisation dieser Anstalten ein ununterbrochenes, sich immer selbst wieder belebendes, aber ungezwungenes und absichtsloses Zusammenwirken hervorbringen und unterhalten.“99 Offensichtlich soll die Institutionalisierung der Wissenschaft in der Universität nicht zu einer Abgrenzung von anderen wissenschaftsrelevanten Tätigkeiten führen. Die Forschung einzelner Wissenschaftler steht immer schon im Kontext des Austauschs und der gemeinsamen Prüfung von Wissen – aber eben auch ihrer Lehrbarkeit, weil sie nur in der Lehre selbst geprüft werden kann. Wenn die Ungezwungenheit der Tätigkeit die „Freiheit“ näher bestimmt, gilt dies ebenso für das freie Verstehen und Nachvollziehen wie für eine gewisse Absichtslosigkeit in Bezug auf die Einsamkeit bzw. Selbstständigkeit. Das eine wie das 99

Wilhelm von Humboldt, Ueber die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, in: Andreas Flitner, Klaus Giel (Hg.), Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden. Band IV, Darmstadt, S. 255 f.

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andere besagt, dass die Wissenschaft keinem begrenzten externen Zweck unterworfen und doch lehr- und damit anwendbar sein soll. Ihrem Status nach sind alle Wissenschaftler auch nach Humboldt noch prinzipiell, d. h. unabhängig vom Sachgebiet und den konkreten Zweckerfüllungen, gleich. Darüber hinaus soll der einzelne Wissenschaftler selbst wie bei Platon keine wissenschaftsexterne Absicht seiner eigenen Arbeit zugrunde legen, etwa ein konkretes Streben nach Profit und Ruhm. Daher hat auch die sozio-kulturelle Bestimmtheit des Wissenschaftlers keine unmittelbare erkenntnisleitende Funktion im methodologischen Sinne.100 Nur in diesem Sinne der Unabhängigkeit kann die zitierte „reine Idee der Wissenschaft“ durch das Wissenschaftsethos realisiert werden. Das allgemeine Wissenschaftsethos stellt als gemeinsame Grundlage das Bindeglied der einzelnen Forscher dar, die sie zu einer Forschungsgemeinschaft vereinigt. Dies bedeutet zugleich ein Überschreiten der eigenen Sozialität, durch die sich der Bildungsprozess für die Wissenschaft öffnet. In der Universität soll „die objective Wissenschaft [d. h. die Erkenntnis von Ideen] mit der subjectiven Bildung“ [d. h. dem Stand des Wissens und Könnens der einzelnen Person]101 verbunden werden. Als ein Prozess, in dem das Subjekt denkend auf sich selbst verwiesen ist (statt im Handeln auf die Welt), scheint das Wort „Besinnung“102 in der Tat adäquater als „Einsamkeit“. Das Wort ist daher als Idiosynkrasie Humboldts zu lesen. Humboldt schränkt an anderer Stelle die Bedeutung des Wortes „Einsamkeit“ selbst ein. In „Unmassgebliche Gedanken über den Plan zur Errichtung des Litthauischen Stadtschulwesens“ heißt es: „Zu diesem SelbstActus (sic!) [d. h. der Einsicht in die reine Wissenschaft] im eigentlichsten Verstand ist nothwendig Freiheit, und hülfereich Einsamkeit“.103 Der Grund für diese Einschränkung ist, dass die Verwiesenheit auf das eigene Denken selbst nicht (vorrangig) durch isoliertes Lernen oder Rezeption von Monologen erreicht werden kann. So fährt er fort: „Das Kollegienhören ist nur Nebensache, das Wesentliche, dass man in enger Gemeinschaft mit Gleichgestimmten und Gleichaltrigen, und dem Bewusstseyn, dass es am gleichen Ort eine Zahl schon vollendet Gebildeter gebe, […], eine Reihe von Jahren sich und der Wissenschaft lebe.“ (ebd.) Hier wird die abgeschlossene Einsamkeit des Kollegienhörens gerade zur Nebensächlichkeit erklärt und die Gemeinschaftlichkeit zum Grundprinzip der Universität.104 Humboldt 100 Diese These impliziert, dass Forschung als Weg zu einer kanonischen theoria per se universell ist, während die Bildungsinstitutionen nationalstaatlich sind. Konkrete Forschungen sind dann einerseits von einem universellen Forschungsstand bestimmt, als Thematisierung bestimmter gesellschaftlicher Probleme andererseits auch regional geprägt. Beide Ebenen beeinflussen sich wechselseitig. 101 Ebd., S. 255. 102 Auch Helmut Schelsky interpretiert die Einsamkeit als Besinnung (vgl. ders., Einsamkeit und Freiheit, Düsseldorf 1971, S. 77); an anderen Stellen versteht er sie aber als eine „Lebensform“ und bezieht sich damit v. a. auf eine bestimmte institutionalisierte Ordnung (vgl. ebd., S. 72 ff.). 103 Wilhelm von Humboldt, Unmassgebliche Gedanken über den Plan zur Errichtung des Litthauischen Stadtschulwesens, In: Andreas Flitner, Klaus Giel (Hg.), Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden. Band IV, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1982, S. 191. 104 Dies entspricht Schleiermachers Argument für eine institutionalisierte Wissenschaft, die wesentlich durch Mitteilung und nicht „in einsamen Arbeiten und Unternehmungen“ vollzogen werde (Ders., Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über ein neu zu errichtende, in: Hans-Joachim Birkner, Gerhard Ebeling u. a. (Hg.), Kritische Gesamtausgabe, Schriften

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will betonen, dass für die Entwicklung des eigenen Denkens, Verstehens und der Geltungskontrolle samt Urteilskraft der Anwendbarkeit von Schemata und Formen des Unterscheidens und Schließens die intellektuelle Interaktion mit anderen von grundlegender Bedeutung ist, allerdings nicht im Sinne einer blinden Orientierung an sozialen Normen oder fremdem Wissen, sondern an einem gemeinsamen Wissenschaftsethos („Gleichgesinnte“), das aber als Ethos eben erstmal den Einzelnen betrifft. Dieser Gedanke liegt Humboldts Überlegungen zur (Reform der) Universität zugrunde. Die Entwicklung der Wissenschaft wird dabei nicht in erster Linie durch identische Überzeugungen erreicht, sondern durch den Dissens auf der gemeinsamen Grundlage einer ‚Wahrheitssuche‘,105 die sich für uns als Suche an der bestmöglichen Kanonisierung allgemeinen Wissens darstellt. Denn nicht zuletzt das Infragestellen tradierter Mythen und Schemata oder dann auch der eigenen Vorschläge und Überzeugungen durch andere zwingt den Einzelnen innerhalb der Gemeinschaft zur Rechtfertigung seiner Überzeugungen, um dadurch zur Anerkennung als Teil eines gemeinsamen allgemeinen Wissens zu gelangen. Im Prozess der wissenschaftlichen Bildung ist die Gemeinschaft also durch ein gemeinsames Grundanliegen definiert, innerhalb derselben und in Auseinandersetzung mit Anderen jeder seine eigene wissenschaftliche Ausrichtung in Besinnung auf die Erkenntnisobjekte selbständig entwickelt. Durch die Kooperation mit anderen Wissenschaftlern der eigenen Disziplin entsteht der oben schon genannte meritokratische Wettbewerb. Innerhalb der wissenschaftlichen Praxis spielt die subjektive Haltung durchaus eine Rolle. Es hat sich schon bei Fichte gezeigt, dass die „Liebe zur Idee“ wesentlich für jede Theoriebildung ist. Neben „Begeisterung“ werden auch „Besonnenheit“ und „Bedachtsamkeit“ als Züge des wissenschaftlichen Charakters genannt.106 Die Begeisterung kennzeichnet die subjektive Motivation des Erkenntnisprozesses, während die Besonnenheit und die Bedachtsamkeit die Art der Ausführung desselben betreffen. Die subjektiven Merkmale der Person sind darauf ausgerichtet, die ‚reifliche Überlegung‘ zur Grundlage eines immer auch Vergnügen bereitenden ‚Erkennens‘ zu machen, anstatt möglicherweise vorschnell selbstgefällige Urteile zu fällen. Besonnenheit und Bedachtund Entwürfe (Abt. 1), Band 6, Dirk Schmid (Hg.), Berlin, New York 1998, S. 22). Wäre diese Äußerung gegen Humboldt gerichtet, läge ein Missverständnis vor. Eine gewisse Nähe zu Humboldts Überlegung drückt sich darin aus, dass Schleiermacher zufolge der wissenschaftliche Erkenntnisprozess eine Tätigkeit der einzelnen Person ist, während die Wissenschaft insgesamt „ein gemeinschaftliches Werk sein muß“ (ebd., S. 28). Der Begriff der Gemeinschaft verweist darauf, dass im Allgemeinen alle Personen (nicht alle individuellen Subjekte) ihrem Begriff nach einen gemeinsamen Zweck, das allgemein Gute, verfolgen. Das aber muss durch die selbständige Tätigkeit der einzelnen Personen erreicht werden, so dass der Begriff der Einsamkeit die Selbstkontrolle und das wissenschaftliche Gewissen der vollen Person zu artikulieren versucht. 105 Humboldt warnt ausdrücklich vor der konformistischen Tendenz zur Homogenisierung wissenschaftlicher Überzeugungen an der Universität (vgl. ders., Ueber die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, In: Andreas Flitner, Klaus Giel (Hg.), Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden. Band IV, Darmstadt 1982, S. 259). 106 Vgl. „Besonnenheit und Bedachtsamkeit“ in der bereits erwähnten Textstelle bei Fichte (Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, in: Reinhard Lauth, Erich Fuchs u. a. (Hg.), Johann Gottlieb Fichte. Nachgelassene Schriften 1810–1812, J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. II, 12, Stuttgart-Bad Canstatt 1999, S. 352) und vgl. Schleiermacher (Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über ein neu zu errichtende, in: Hans-Joachim Birkner, Gerhard Ebeling u. a. (Hg.), Kritische Gesamtausgabe, Schriften und Entwürfe (Abt. 1), Band 6, Dirk Schmid (Hg.), Berlin, New York 1998, S. 49) zu Besonnenheit und Begeisterung.

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samkeit gelten daher als Ausdruck wissenschaftlicher Bildung und markieren das Resultat eines Prozesses der Selbstbestimmung, der aufgrund der entsprechenden subjektiven Verfassung objektive bzw. allgemeingültige Vernunfturteile ermöglicht. Folgendes Zitat Humboldts bringt noch einmal zum Ausdruck, wie – gerade auch durch die Vermischung von subjektiver Affektivität und Sachbezug – die innere Haltung der einzelnen Person zum Gelingen der Wissenschaft beitragen soll und umgekehrt die besondere kommunikative Form der Wissenschaft die innere Haltung formt: „Denn nur die Wissenschaft, die aus dem Innern stammt [d. h. aus einem Prinzip] und in’s Innere gepflanzt werden kann, bildet auch den Charakter um und dem Staat ist es ebenso wenig als der Menschheit um Wissen und Reden, sondern um Charakter und Handeln zu tun.“107 Humboldt konstatiert hier den hier schon öfter angesprochenen mittelbaren Praxisbezug bzw. spielt auf die bedingten Aussagen über mögliche Zweckverfolgungen an. Theoretisches Wissen zielt auf Praxis, aber nie bloß auf mein Tun und seinen Erfolg – sondern auch mittelbar auf die Bildung der Person. Wie aus dem Vorherigen deutlich wird, darf man diese Aussage nicht so deuten, dass Bildung einem Staatszweck unterstellt werde. Vielmehr geht es um die Notwendigkeit der Theorie für die Entwicklung der Gesellschaft wie der Menschheit auf der Grundlage der theoretischen und praktischen Selbsterkenntnis, auch ganz unabhängig davon, ob die Wahrheiten unangenehm sind oder nicht, unmittelbar nützlich sind oder nicht. Man kann ja auch eine Sprache nicht dadurch lernen, dass man nur die Wörter lernt, die als unmittelbar nützlich erkannt sind. In der Praxis wird die theoretische Einsicht in die Institutionen als solche für die wissenschaftlich gebildete Person zum objektiven Maßstab der Beurteilung jedes Handelns im Rahmen dieser Praxis. Ebenso ist die Einsicht in die allgemeine Bestimmung, etwa einer Person, ein theoretisches Wissen, das als Orientierung für Handlungsentscheidungen dienen kann, die das subjektive Interesse im moralischen Handeln realisieren. Die theoretische Perspektive entbindet nicht vom moralischen Urteil, sondern bezieht sich auf die Grundlage dieses Urteils, nämlich durch die Erkenntnis, dass Personen moralische Subjekte sind, während die Moralität in der Bezugnahme auf spezifischen Normen des Handelns besteht. Darin schließt sich Humboldt Fichtes Einsicht in die Möglichkeit der theoretischen Erkenntnis der Praxis durch die wissenschaftliche Bildung an.108 Die Normativität gründet in der theoretisch erkannten Gegebenheit der allgemeinen Struktur etwa von Institutionen als abstrakt-formale Bestimmung109. Handlungen sind aber 107 Wilhelm von Humboldt, Ueber die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, in: Andreas Flitner, Klaus Giel (Hg.), Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden. Band IV, Darmstadt, S. 258. 108 H. Schelsky spricht, in Bezug auf Humboldt, von dem Versuch, ideengeleitetes Handeln – also ein Handeln, das sich an einem normativen Ideal orientiert – zur herrschenden Verhaltensnorm zu machen (vgl. ders., Einsamkeit und Freiheit, Düsseldorf 1971, S. 64 f.) und hält daher die Universität für „die entscheidende sittliche Lehranstalt der Gesellschaft“ (ebd., S. 65). Die darin liegende Selbstbestimmung ist aber nicht mit individueller Subjektivität zu verwechseln, wie Schelsky m. E. Humboldts Grundgedanken über die Universität missversteht, nämlich als „Betonung der Einsamkeit des Individuums, das besinnliche Versenkung zur Universalität des Gedankens und zur Individualität der Person steigert […]“ (ebd., S. 77). Ein Subjekt ist, wie einleitend gesagt, auch ohne Hochschulbildung eine sittliche (moralische) Person, als solche aber mit allen anderen durch ein gemeinsames Ethos allgemeinen Wissens und dann auch des guten Handelns verbunden. 109 Die vergleichende Analyse unterschiedlicher Realisierungsformen einer Institution stellt eine Zwischenstufe dar, in der die Theorie eine engere Beziehung auf die gegenwärtige Handlungspraxis haben kann.

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nur in Bezug auf die geltenden Normen der realen Praxis geboten oder erlaubt. Unvollkommene reale Institutionen behalten gegenüber ihrer idealen Bestimmung, trotz ihrer Abweichung von dieser, deren praktische normative Verbindlichkeit. Die wissenschaftliche Haltung, die sich auf die Einsicht in allgemeine Bestimmungen bezieht, muss ihr Handeln der unvollkommenen Realität anpassen. Darauf weist Humboldt hin, wenn er in seiner „Antrittsrede an der Berliner Akademie der Wissenschaften“ sagt: „Die Wissenschaft aber giesst oft dann ihren wohlthätigen Segen auf das Leben aus, wenn sie dasselbe gewissermassen zu vergessen scheint. Denn sie nährt und bildet den Geist, dass alles, was er erzeugt, ihr Gepräge an sich trägt, ja sie stimmt ihn dergestalt glücklich, harmonisch und wahrhaft göttlich […], dass sich alles, was er behandelt, gleichsam ohne sein Zuthun, den höchsten Ideen anschmiegt, und dass er den schwer zu entdeckenden Punkt nicht verfehlt, auf welchem Gedanke und Wirklichkeit sich begegnen und freiwillig in einander übergehen.“110 Die Unterscheidung der realen und idealen Gründe für die Beurteilung des Handelns rechtfertigt einerseits Humboldts Gegenüberstellung eines „idealisch gebildete[n] Mensch[en]“ auf der einen, dem „bloss nützliche[n] Geschäftsmann“ auf der anderen Seite.111 Auf der Grundlage vorteilhafter Einflüsse des einen Bereichs auf den anderen – theoretische Orientierung und praktische Realisierung – macht andererseits Humboldts Aussage Sinn, dass theoretisches Wissen hinsichtlich der Funktion allgemeiner Orientierung für den Praktiker ebenso hilfreich sei, wie ein praktisches Können für den Theoretiker.112 Das auf wissenschaftliche Bildung gegründete theoretische Erkennen ist als explizites allgemeines Wissen nicht für die erfolgreiche Tätigkeit des Geschäftsmanns erforderlich, weil er sich innerhalb der normalen gesellschaftlichen Kooperationspraxis schon so verhält, wie es die konkreten Bedingungen zulassen. Dennoch ist allgemeine Bildung auch dem Geschäftsmann als Person hilfreich, wenn er darüber nachdenkt, was ein Geschäftsmann eigentlich ist und auf diese Weise einen Maßstab zur Orientierung hat, durch den er die Grenzen des eigenen Handlungsprinzips auch innerhalb einer sich wandelnden gesellschaftlichen Praxis einsehen kann. Und schließlich unterstützt die Orientierungsleistung allgemeinen Wissens auch moralisch-praktische Probleme. Ein naiv denkender Mensch könnte z. B. meinen, es sei moralisch gerechtfertigt, einen Dieb zu bestehlen. Nicht nur mit Blick auf die Institution Staat, sondern schon auf die allgemeine Form ethischer Regeln und der Idee des Rechts im Besonderen erweist sich dies aber als ein Unrecht vom gleichen Typ wie das erste. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind faktisch längst in die bestehende Gesellschaftsordnung implementiert, ob das die einzelnen Subjekte wissen oder nicht.113 Wissenschaftliche 110 Wilhelm von Humboldt, Antrittsrede in der Berliner Akademie der Wissenschaften, in: Albert Leitzmann (Hg.), Wilhelm von Humboldts Werke (=Königlich Preussische Akademie der Wissenschaften. 1. Abteilung (Hg.), Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften), Band 3: 1799–1818 , Berlin 1904, S. 220. 111 Wilhelm von Humboldt, Ueber den Geist der Menschheit, in: Andreas Flitner, Klaus Giel (Hg.), Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden. Band I, Darmstadt 1980, 16., S. 511. 112 Vgl. Wilhelm von Humboldt, Unmaßgebliche Gedanken über den Plan zur Einrichtung des Litthauischen Stadtschulwesens, in: Andreas Flitner, Klaus Giel (Hg.), Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden. Band IV, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1982, S. 189. 113 Jürgen Habermas zieht daraus den problematischen Schluss, dass die heutige Wissenschaft keines

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Bildung ist insbesondere für die zielgerichtete Entwicklung von Institutionen unverzichtbar. Aber nicht jede Person muss allseitig wissenschaftlich gebildet sein. Theoretische Reflexion macht implizite Implementierungen und topische Ortsbestimmungen partikularen Wissens in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung explizit. Der Mangel an philosophischer Reflexion erzeugt dagegen typische Unübersichtlichkeiten gerade der Moderne. Die in Fichtes, Schleiermachers und Humboldts Konzeptionen wissenschaftlicher Bildung liegende Autonomie ist von ihrer institutionellen Seite zu betrachten. Diese ist auf die inhaltlich-kompetenztheoretische zurückzuführen. Damit ist das Verhältnis zur gesellschaftlichen Praxis im Prinzip geklärt. Für eine weitergehende Interpretation der von Humboldt geprägten und hier thematischen Formel „Bildung durch Wissenschaft“ soll im Folgenden näher auf den Begriff des allgemeinen bzw. wissenschaftlichen Wissens eingegangen werden. Zum einen wird mit Schelling konkreter gefasst, was genau wissenschaftliches Wissen mit Blick auf die Ausdifferenzierung der Einzelwissenschaften immer noch bedeuten kann. Zum anderen wird der bildungstheoretische Status des wissenschaftlichen Wissens analysiert.

2.4 An Wahrheit ausgerichtetes Wissen und Handeln (Schelling) Die Herausforderung der Spezialisierung der Wissenschaften und damit des Wissens seit den Zeiten Platons wirft die Frage auf, ob allgemeines Wissen in wissenschaftlicher Forschung durch einen (institutionalisierten) Akt der ‚Ideen-Schau‘ (heute: ‚Strukturwissen‘) bloß in subjektiver Weise erreicht wird. Die Antwort ist ein klares Nein. Ausgangspunkt der weiteren Überlegung ist die Spezialisierung des Wissens in seiner Ausdifferenzierung in Einzelwissenschaften, die je besondere Gegenstandsbereiche zum Thema haben. Ist die damit verbundene Erkenntnisleistung der Subjekte durch eine Ideen-Konzeption, wie Platon sie vorstellte und wie sie von Fichte übernommen wurde, überhaupt adäquat beschreibbar? Dies soll anhand von Gedanken F. W. J. Schellings geprüft werden. Schelling unternimmt eine ‚Begründung‘ universitärer Lehre auf der Grundlage eines Ordnungsprinzips des Wissens überhaupt. Dessen Aneignung ist für ihn letztlich das Bildungsziel und der Zweck des Studiums, weil darauf nach seinem Urteil jede Forschungstätigkeit beruht. Damit ergibt sich der Status des philosophischen Wissens als begriffliche Voraussetzung der empirischen Disziplinen. Der bereits bei Fichte und Schleiermacher angesprochene, aber nicht ausgeführte Gedanke einer Enzyklopädie des allgemeinen Wissens als Bedingung empirischer Erkenntnis und des Verstehens mündlicher und schriftlicher Information ist hier inhaltlich entwickelt, wenn auch in noch etwas eigenwilliger Kommentarsprache. Die besondere Art der ‚Begründung‘ allgemeinen Wissens wird zwar bei Schelling abgesonderten Bereichs der Theorie mehr bedarf und somit die Trennung zwischen Universität und Fachhochschule hinfällig sei (vgl. ders., Vom sozialen Wandel akademischer Bildung, in: Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, Frankfurt a. M. 1988, S. 360 f.). Allerdings unterschätzt er die Differenz zwischen zweckbezogener Anwendung und zweckallgemeiner Forschung, auch wenn er mit Recht fordert, „einen praktisch folgenreichen Wissensstand nicht nur in der Verfügungsgewalt der technisch hantierenden Menschen weiterzugeben, sondern auch in den Sprachbesitz der kommunizierenden Gesellschaft zurückzuholen.“ (ebd., S. 372).

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noch nicht genügend klar. Sein Ansatz problematisiert aber immerhin die Frage und zwar im Ausgang von Kants Klassifikation von manchen ‚Urteilen‘, genauer: Sätzen oder Regeln, als ‚synthetisch a priori‘. Ganz allgemein heißt das, dass die Sätze zugleich material, also allgemein-sachhaltig sind, und als begriffliche Präsuppositionen fungieren. Hegel wird diesen allgemeinen Punkt deutlicher als Kant und Schelling sehen und in seiner Wissenschaft der Logik ausarbeiten. Damit wird auch die Tatsache klarer, dass am Ende alle formal als wahr bewerteten theoretischen Sätze den Status begrifflichen Allgemeinwissens und damit in einem weiten Sinn synthetisch-apriorisch in Geltung gesetzt sind. Im Gegensatz zu Fichte setzt Schelling bei der Erklärung des Bildungsbegriffs auf der Ebene des allgemeinen Wissens an. Dessen Darstellung ist eine Formulierung des Bildungsziels. Ihm ist auch der akademische Bildungsprozess verpflichtet. Das Ziel ist erreicht, wenn man weiß, was Wissen überhaupt ist, wie es sich in ein Gesamtsystem einzelner Wissensbereiche ausdifferenziert und wie es in der empirischen Erfahrung und Kommunikationspraxis richtig angewendet wird. Freilich ist das alles noch allzu allgemein, auch pathetisch und mythisch formuliert, zumal das Unbedingte einer Regel nur darin besteht, dass man sich alle Bedingungen kontrafaktisch und idealiter in den Prämissen artikuliert denkt. Schelling schreibt: „Es ist die Idee des an sich selbst unbedingten Wissens, welches schlechthin nur Eines und in dem auch alles Wissen nur Eines ist, desjenigen Urwissens, welches, nur auf verschiedenen Stufen der erscheinenden idealen Welt sich in Zweige zerspaltend, in den ganzen unermeßlichen Baum der Erkenntnis sich ausbreitet.“114 Dieses „Urwissen“ sei die Identität von Idealität und Realität, d. h. von Denken und Sein, die jedes (absolut) wahre Urteil schon zu seiner Voraussetzung habe, wenn es sich tatsächlich um (absolutes) Wissen handele. Hegel wird sehen, dass das alles nur ideal formulierte Kommentare zur Form underes Projektes einer Explikation von Regelwissen sind. In jeder anderen Lesart werden Schellings Ausdrucksformen unbrauchbar und irreführend. Die Annahme der Möglichkeit eines absoluten Wissens provoziert jedenfalls die Frage nach ihrem ‚Realitätsgehalt‘. Anders gesagt, es ist die fiktionale Redeform zu beachten, wie sie in jedem ‚göttlichen‘ Blick auf die Welt enthalten ist. Konkrete Erkenntnis-Subjekte in der Welt haben je nur begrenzte Perspektiven. Ihr Wissen ist notwendig bedingt und fallibel. Ein anderes Wissen gibt es aber nicht – es sei denn in idealen Fiktionen auf der Grundlage unseres realen Erfahrungswissens. . Schellings Konzeption scheint jedoch immerhin schon auf die Orientierungsfunktion allgemeinen Wissens abzuzielen. Sein idiosynkratisches Pathos setzt direkt bei der wissen(schaft)sinternen Bestimmung des Wissens an, um daraus die einzelnen Gegenstandsbereiche der empirischen Wissenschaften und einzelne Disziplinen abzuleiten. Dem stellt er den Bereich der Praxis gegenüber. Diese aber erhält erst durch die Aneignung der Theorie im Prozess der wissenschaftlichen Bildung ihren Sinn, wie sich noch etwas genauer zeigen wird. Für Schelling ist es ausgeschlossen, dass ein subjektives Interesse am Wissen des Wissens, etwa im Sinne der oben besprochenen Begeisterung, zum (alleinigen) Ausgangspunkt für die Analyse wissenschaftlicher Bildung dienen kann. Denn damit wird nur die Haltung 114 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Vorlesungen über die Methode (Lehrart) des akademischen Studiums, Walter E. Erhardt (Hg.), Hamburg 1990, S. 215.

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des einzelnen Subjekts zum Wissen beschrieben, das darin bloß von außen, also jenseits der Wissenschaft, betrachtet wird. Was Wissen ist, bleibt so noch ungeklärt. So nett es zu hören ist, so wenig hilft es weiter zu sagen, Wissen bestehe um seiner selbst willen, es sei Grund seiner selbst. Dasselbe gilt für die Formel von der Identität von Denken und Sein als dem – leider so noch nicht ausreichend verständlichen – Wahrheitskriterium für alles Wissen.115 Richtig ist allerdings, dass die Perspektive umzukehren und zu fragen ist, wie sich im Wissen das Gewusste als allgemeine Wirklichkeit ergeben soll. Wie also ist dieses Wissen bildungstheoretisch konkret zu verstehen? Und wie verhält es sich zum empirischen Erkennen? Wie funktionieren begriffliche Präsuppositionen im Verstehen von Sätzen und Aussagen? Wie verhalten sich Sprache und Rede? Der Bildungsprozess findet auf der Grundlage des durch diese Fragen (und die zu gebenden Antworten) bloß erst grob umrissenenen Rahmen-Wissens statt. Zentrale Einsicht ist, dass Sinnverstehen allgemeines Wissen, artikuliert in abstrakter Theorien, als begrifflichen Rahmen voraussetzt. Die Regeln des Rahmens werden schmatisch gelehrt und gelernt, wie jeder weiß, der Kinder kennt. Hier wird Pädagogik zu einem gemeinsamen Spiel der Vermittlung von Voraussetzungen eigenständigen Verstehens. Die begrifflichen Regeln sind dabei sowohl als rein terminologische als auch als generische Allgemeinheiten in so genannten Schriftsprachen schon auf die eine oder andere Weise ‚wissenschaftlich reflektiert‘. Das heißt, es werden Normen der rechten Unterscheidung und differentiellen Normalfallerwartungen, wie sie mit den Ausdrücken verbunden sind, durchaus gemeinsam kontrolliert, partiell sogar konstruiert und in Enzyklopädien bzw. Wörterbüchern kanonisiert. Gerade auch für die Kanonisierung historischen Wissens und empirischer Fakten muss schon verstanden sein, wie wir begrifflich unterscheiden und in Normalfällen schließen. Das setzt allgemeines Wissen voraus. Der Streit um das Ingeltungsetzen von Theorien als allgemeinen Sprachregelungen führt im guten Fall zu einer solchen Kanonisierung begrifflicher Normalfall- oder Idealbedingungen. Um für die wissenschaftliche Bildung ein entsprechendes Verständnis zu erreichen, eröffnet Schelling den Studierenden diese Perspektiven selbst in seinen „Vorlesungen über die Methode (Lehrart) des akademischen Studiums“. Darin leitet er den wissenschaftlichen Gehalt des Studiums und die Art seiner Vermittlung aus der spezifischen Verfasstheit des Wissens selbst her. In der „Urwissen“ genannten Identität von Denken und Sein soll idealiter festgelegt sein, was als Wissen gelten kann. Damit sei der Gegenstandsbereich bestimmt, innerhalb dessen allgemeine Sätze und einzelne Behauptungen über etwas Empirisches (a posteriori) als wahr gelten. Der Bereich der Empirischen ist alles, was es hier oder dort gibt. Es ist sozusagen das Reich des Vorhandenen im Sinne Heideggers oder der konstatierbaren Tatsachen im Sinn von Wittgenstein Tractatus (der freilich davon abstrahiert, dass es keine begriffsfreien Konstatierungen und damit keine unmittelbaren empirischen Wahrheiten gibt). Der Bereich des Begrifflichen betrifft alle Artformen. Ihnen korrespondieren begrifflich allgemeine Bedeutungen. Das Reich der Praxis ist das Dasein, die Zuhandenheit im Handeln bzw. die Anschauung in präsentischer Gegenwart hier und jetzt. Demgegenüber ist, wie sich gezeigt hat, das verbal lehrbare Wissen der mathēsis schon bei Platon alles das, was sinnvoll als Formenwissen, epistēmē, gesetzt ist. 115 Vgl. ebd., S. 218.

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Wissenschaftliche Behauptungen haben nach Schelling das besagte Urwissen zu ihrem Grunde, wobei die Identität von Wissen und Sein selbst nicht im gleichen Sinne gewusst werden kann wie eine Aussage über ein Sachobjekt, da es sich (auch) um ein spekulatives Meta-Wissen über die Reflexions- und Evaluationsbegriffe „wahr“, „Wissen“, „Gegenstand“, „existiert“ usf. handelt. Die Rede von der Identität von Denken und Sein oder Subjekt und Objekt ist hier also nur ein erster Artikulationsversuch. Als ausschließlich allgemeine Bestimmung ist nämlich das abstrakte Urwissen nur idealiter und kontrafaktisch eine Einheit und Ganzheit des Wissens. Seine Kohärenz mit dem Erfahrenen ist ja ein zweites Kriterium, gerade für empirische Wissensansprüche. Insofern bedeutet, etwas zu wissen, nicht nur eine abstrakte Identität von Denken und Sein, sondern auch ein Einpassen des Erkannten in die Gesamtordnung des Wissens.116 Beide ‚Kriterien‘, Identität und Kohärenz, liegen der empirischen Gegenstandserkenntnis zugrunde, müssen als solche aber selbst erst noch je konkret in Status und Rolle eingesehen werden. Die Identität von Denken und Sein eines erkennenden Subjekts ist für Schelling also Teil oder Moment einer allgemeineren Bestimmung ‚der Materie‘ oder ‚des Inhalts‘ durch eine Form – und umgekehrt der Form durch die Materie, nämlich in einem realen Tun, im Vollzug des Denkens. Aus dieser wechselseitigen Bezogenheit aufeinander konstituiere sich, meint Schelling, eine Einheit. Dieser Prozess geschehe auf zwei Ebenen. Zunächst sei das Absolute die Möglichkeit, „daß es [das Absolute als Identität] als Ideales seine Wesenheit in die Form, als das Reale, bildet, und [zweitens] daß es, weil diese in ihm nur eine absolute sein kann, auf ewig gleiche Weise auch die Form wieder in das Wesen auflöst, sodass es Wesen und Form in vollkommener Durchdringung ist.“117 Dieser Akt der Setzung der Identität soll nun kein menschlicher Erkenntnisakt sein, weil es dann bloß subjektive Setzungen wären und somit kein allgemeingültiges Wissen. Damit bewegt sich Schelling gedanklich zurück zu Berkeley und Descartes, die einen empirisch allwissenden Gott zum Inbegriff der empirischen Wahrheit machen: Die einzige Instanz, die zur Setzung der absoluten Identität, die als ontologische Bestimmung aller menschlichen Erkenntnis zugrunde liegt, in Frage kommt, ist daher auch für Schelling „Gott“118. Damit wird die Setzung von Wissen und das Endliche des empirischen Erkennens in seiner Abhängigkeit von begrifflichen Setzungen und Voraussetzungen gerade nicht verstanden, wie Hegel sieht. Stattdessen soll es eine ursprüngliche Einheit von je besonderen Formen und den allgemeinen Bestimmungen der konstitutiven Merkmale der materiellen Gegenstände, ihrem Wesen geben. Diese Identität sei nicht nach einer Seite hin auflösbar, sodass jede daraus folgende Unterscheidung bei der Bezugnahme auf eine Seite notwendig immer auch die andere miterfasse, da mit der Realität schon die Idealität gegeben sei und umgekehrt. So deutet Schelling die Natur als das „Bild der göttlichen Verwandlung der Idealität in die Realität“119. Die Realität sei somit die je schon gegebene Bestimmung der einzelnen Wesen, einschließlich des Menschen. Diese ontologisch statt begriffslogisch gedeutete Identität von Idealität und Realität werde dann nach Schelling für den Menschen erkennbar, indem sie durch eine „unmittelbare 116 117 118 119

Vgl. ebd., S. 216 f. Ebd., S. 219. Ebd., S. 220. Ebd., S. 219.

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Vernunft- oder intellektuelle Anschauung, die mit ihrem Gegenstande, dem Urwissen selbst, schlechthin identisch ist“120 als ideale Bestimmung desselben einsichtig werde. Damit wird man sich nicht zufriedengeben können. Schelling meint, in der Vernunftperspektive zeige sich die Konstitution beider Momente im jeweils Anderen. Zum einen zeige sich, dass das Sein im Denken als Sein erscheine, zum anderen zeige sich das Gedachte im Sein als Gedachtes. Jenes definiere das Handeln, dieses das Wissen. Das ist noch eine unbeholfene Form der Einsicht in zwei Richtungen der Passung (‚direction of fit‘): Im Handeln sorgen wir tätig dafür (‚see to it that‘), dass eine Aussage wahr wird, nämlich die, welche den handelnd erreichten Zustand darstellt. Im wissenden Erkennen hängt die Wahrheit davon ab, wie die Welt ist. Man weiß etwas, meint Schelling, wenn das gedachte allgemeine Wesen in der realen besonderen Form eines Objekts als dessen Wesen erkannt und dadurch bestimmt werde. Dieses Wissen – und das sei Wissenschaft – ist für Schelling die Wiedererkennung der oder die Teilhabe an der „göttlichen“ Idealität in der Natur und keine subjektive, partikulare Setzung des erkennenden Subjekts. Andererseits ergebe sich das Handeln dadurch, dass sich das besondere natürliche Handlungssubjekt als dieses besondere seiner allgemeinen Bestimmung nach denke.121 Wissen und Handeln bzw. Theorie und Praxis seien somit unter der Bedingung der wechselseitigen Durchdringung von Realität und Idealität die beiden einzig möglichen Ausdrucksweisen von deren ursprünglicher Identität. Die Notwendigkeit dieser Annahme ergebe sich daraus, dass erst auf dieser Grundlage die Objektivität des empirischen Wissens und Handelns gewährleistet zu sein scheint. Denn die Allgemeingültigkeit von Wissen und Handeln liege aufgrund der transzendenten Voraussetzung schon in der (richtigen) Tätigkeit der erkennenden Vernunft als deren Objekt. Das Wissen und Handeln des einzelnen Subjekts konstituiere sich somit aus seiner Vernunft heraus und damit in gewisser Unabhängigkeit von bloß animalischen Begierden bzw. enaktiven Perzeptionen und Reaktionen auf die präsentische Umwelt. Der objektiven Identitätsbestimmung nach sind Theorie und Praxis im Sinne von Wissen und Handeln für Schelling gleichrangig. Insbesondere könne das Wissen nicht je schon in den Dienst des Handelns gestellt sein, weil das ein verkürztes Verständnis davon sei, was es heißt, etwas zu wissen. Denn eine solche Dienlichkeit treffe nur auf den speziellen Fall des technischen Wissens zu, das aber auch erst als Wissen begriffen worden sein muss, um praktisch angewendet werden zu können. Ebenso lässt sich für Schelling die Praxis nicht einfach dem Wissen unterordnen. Tatsächlich verhalten sich beide Sphären komplementär zueinander. Dies wird, als vorläufige These formuliert, deutlich, wenn man die wissenschaftliche Bildung nicht allein auf die Theorie beschränkt, sondern zudem deren Relevanz für die Praxis berücksichtigt. Demnach hätte das Studium der Wissenschaft bei Schelling zwangsläufig eine moralisch-praktische Dimension, auch wenn der Fokus hauptsächlich auf dem Bereich des theoretischen Wissens liegt. Das Handeln gründet dann aber nicht in subjektiven Nützlichkeitsüberlegungen, sondern in einer noch etwas obskuren Wesensbestimmung. Es wird daher noch zu zeigen sein, wie sich jene zu Schellings Handlungskonzeption verhalten. 120 Ebd., S. 255. 121 Vgl. ebd., 219 f.; vgl. 7. VL; Ob diese Bestimmung hinreichend ist, soll hier nicht untersucht werden.

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Die allgemeine Struktur des Wissens und Handelns bezieht Schelling auf die wissenschaftlichen Disziplinen. Die Vernunft, die das Wissen als solches bestimmt, kennzeichnet die Philosophie, die deshalb keine Wissenschaft im eigentlichen Sinne ist, weil sie in dem Sinne allgemein ist, dass sie das Wissen selbst und damit den gesamten Bereich des Wissens als solchen, d. h. jeder möglichen Erfahrung, thematisiert. Die durch sie mögliche Erkenntnis betrifft die Identität des allgemeinen Wesens eines Objekts in seiner besonderen Form mit der „Idee“122, d. h. der allgemeinen geistigen Bestimmung. Dagegen kann eine ‚unwissenschaftliche‘, bloß erst rein empirische Erkenntnis nur einzelne wahrgenommene Phänomene bestimmen, ohne angeben zu können, ob die erkannten Eigenschaften für den Gegenstandstyp konstitutiv sind und Wissen generieren, das als solches nie bloß zufällig richtig sein kann. Der Bezug auf die Idee ist die Art des Erkennens in seiner grundlegendsten Bedeutung, weil in ihr die besondere Erscheinungsweise eines Objekts mit dessen allgemeiner Bestimmung übereinstimme, sofern das Erkennen tatsächlich von der Vernunft ausgehe. Die Ausdifferenzierung der Wissenschaft in einzelne Disziplinen hängt von den Gegenständen der Erkenntnis ab. Deren Erforschung konkretisiert sukzessive das von ‚der Vernunft‘ vorausgesetzte abstrakte (Ur-)Wissen in seiner Einheit und seinem Zusammenhang.123 Die Ausdifferenzierung des Wissens setzt bei dieser Unterscheidung zwischen Idealität und Realität an. Demnach ist für Schelling die Realität der Gegenstand der Naturwissenschaft und die Idealität der der Geisteswissenschaften, während deren ursprüngliche Einheit Gegenstand der Theologie ist. Gott ist ja in dieser Konzeption Inbegriff von Wahrheit und idealem Wissen. Schelling hat daher keine Mühe, die Offenbarung in der Geschichte durch Jesus Christus als vergeistigte Natur oder natürliche Geistigkeit zu deuten. Hier sei die Einheit von Geist und Natur bzw. Denken und Sein ausgesprochen und empirisch, historisch, gegeben oder beglaubigt.124 Wir erkennen, wie groß der Abstand zu unserem Denken ist. Rein durch Ausdifferenzierung des partiellen Wissens aus der zugrunde gelegten ‚göttlichen‘ Einheit sei ein Wissensanspruch objektiv bzw. allgemeingültig.125 Das Richtige dieses 122 Ebd. 123 Hierbei ist auf ein grundlegendes Problem hinzuweisen. Schelling zufolge hängt die Objektivität jeder konkreten Erkenntnis wie bei Kant von der Struktur einer schon theoretisch bzw. ideal bestimmten Wirklichkeit ab. Im Unterschied dazu wäre ein ideal gedachtes Sein frei von dieser erkenntnis-relationalen Voraussetzung. Im Unterschied zu Fichte thematisiert Schelling zwar das Problem der Idealität, aber nicht der kontrafaktischen Idealisierung im spekulativen Reflexionsbegriff des absoluten Wissens. 124 Vgl. ebd., S. 282 f. Schleiermacher (vgl. ders., Rezension Schelling, in: Michael Winkler, Jens Brachmann (Hg.), Friedrich Schleiermacher. Texte zur Pädagogik. Kommentierte Studienausgabe (Bd. 1), Frankfurt a. M. 2000, S. 70) hält diese Struktur für problematisch, weil er die empirische Ebene nicht als Ausdifferenzierung einer zugrundeliegenden Einheit versteht, sondern als jenseits davon liegend. Versteht man Schellings Identitätsthese als Bestimmung des Gegenstandsbereichs des Wissens, so kann man sie mit Schelling zur Basis des empirischen Wissens machen. 125 Die durch die Vernunft konstituierte Erkenntnisweise begründet nicht nur die Wissenschaft, sondern ermöglicht auch die Kunst als „wahre Objektivität der Philosophie in ihrer Totalität“ (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Vorlesungen über die Methode (Lehrart) des akademischen Studiums. Walter E. Erhardt (Hg.), Hamburg 1990, S. 284) und Religion als „reine Anschauung des Unendlichen“ (ebd., S. 278). Da Schelling selbst Geschichte mit Kunst gleichsetzt (ebd., S. 309 f.), kann man Schleiermachers Kritik, dass die Unterscheidung damit wieder aufgehoben ist, nur zustimmen (vgl. ders., Rezension Schelling, in: Michael Winkler, Jens Brachmann (Hg.), Friedrich Schleiermacher. Texte zur Pädagogik. Kommentierte Studienausgabe (Bd. 1), Frankfurt a. M. 2000, S. 70). Dennoch scheint ein

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Gedankens besteht in der Einsicht, dass das Wahre das Ganze ist. Mit anderen Worten, es bedarf einer holistischen Reflexion auf das Gesamt allen Wissens und aller Wissnschaften. Das Wissen der einzelnen Disziplinen ist also nicht allein durch einen lokalen Gegenstandsbezug bestimmt, sondern auch durch den Zusammenhang mit dem übrigen Wissen. Daher muss aus der Forschung der Disziplinen jeweils wieder die relative Einordnung in den Gesamtzusammenhang des Wissens hergestellt werden. Deswegen ist zum einen eine pragmatische Einteilung bloß nach einzelnen Problemstellungen ausgeschlossen. Diese können nicht von sich aus den Bereich des Wissens strukturieren, weil die Anwendbarkeit einer Wissenschaft, ihre Methode und ihr Wissen, bereits die geeignete Beschaffenheit aufgrund ihrer genuinen Gegenstandsbestimmung, etwa die kausale Wirkungsweise oder die immaterielle Beschaffenheit von Kräften voraussetzt. Zum anderen folgt aus dieser ‚Selbstkonstitution‘ des Wissens als solchem, dass weder einzelne angesammelte Wissensbestände (etwa in einer Enzyklopädie), noch reines Fachwissen einer einzelnen Disziplin hinreichend ist, um als (zureichende) wissenschaftliche Bildung gelten zu können. Erst auf der Grundlage eines einheitlichen Wissenschaftsverständnisses kann die Ausdifferenzierung des Wissens als eine Entwicklung der Wissenschaft verstanden werden.126 Das Problem des durch die zunehmende Spezialisierung verursachten Scheins der Zusammenhanglosigkeit der verschiedenen wissenschaftlichen Tätigkeiten bleibt somit ein praktisches Problem der Herstellung der Einheit, ausgehend von der jeweiligen Selbstpositionierung in ihr. In dieser je eigenen Perspektive und vermittels des allgemein geteilten allgemeinen strukturellen (Grund)Wissens soll die gemeinsame Forschungspraxis gründen. Dabei erhält der Forscher die Aufgabe, durch die spezielle Tätigkeit auf der Basis eines abstrakten Wissenschaftsverständnisses die Vereinbarkeit mit anderem Fachwissen zu prüfen. Die Perspektive des Fachwissenschaftlers fehlt in Schellings Darstellung jedoch völlig. Sie bleibt auf die Generierung allgemeinen Wissens über empirische Gegenstände auf der Basis der Erkenntnis des Wissens als Idee durch den einzelnen Wissenschaftler (bzw. Gott) beschränkt. Der Erkenntnisprozess beruht nach Schelling allein auf der Kompetenz, die Bestimmung des empirischen Gegenstands ‚seinem Wesen nach‘ mit der ‚allgemeinen Idee‘ zu identifizieren. Aus dieser „In-Eins-Bildung des Allgemeinen und Besonderen“ resultiert Schellings mythische Identität von Sein und Denken. Diese ‚Dialektik‘ könne im Studium angeblich nur entwickelt, nicht aber gelehrt werden.127 Sie zeichne das Subjekt selbst aus und könne nicht wie fehlendes Wissen angeeignet werden. Hier geht die tendenziell richtige Einsicht in die Grenzen des (verbal und schematisch) Lehrbaren wohl zu weit. Die ‚Dialektik‘ der Identitätsbestimmung kommt in den einzelnen empirischen Wissenschaften zur Anwendung und beruht damit auf den gedachten allgemeinen Gegenstandsbestimmungen der Philosophie, den „Ideen“128. Dadurch lassen sie sich einerseits selbst begründen, Schelling zufolge durch ihren göttlichen Ursprung, und andererseits auf die empirische Realität beziehen, indem die Reflexion auf sie eine spezifische Form erhält. Da Schelling Unterschied darin zu bestehen, dass Geschichte als Wissenschaft den Anspruch hat, das Wissen ihres gesamten Gebietes systematisch zu erschließen, während dies die Kunst nicht macht. 126 Daraus folgt natürlich noch nicht, dass deshalb Schellings System das einzig möglich wäre, wie sich auch noch mit Rekurs auf Hegels Enzyklopädie andeutungsweise zeigen wird. 127 Ebd., S. 267. 128 Ebd., S. 255.

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aber diese Erkenntnis als eine „intellektuelle Anschauung“129 versteht, bezieht sich die Vernunft zwar auf die Wahrnehmung, doch ist die darin erscheinende Form des Gegenstandes nicht auch als Form desselben gedacht, sondern bloß gegeben, was die (unmittelbare) Identität ergeben soll. Erst die abstrakte Rede von der absoluten Identität – und damit die rein theoretische Artikulation – kann die Identität in der Anschauung allgemein begründen. Da den Ideen so nur ihre Instanziierungen in der Welt zugeordnet werden, stellt sich für Schelling die Aufgabe der Prüfung der Gesamtordnung des Wissens nicht. Der Bildungsprozess vollendet sich nach Schelling ausschließlich durch „die vollkommene Durchbildung bis zum absoluten Wissen“130, also dem Wissen vom Wissen als Identität von Realität und Idealität. Erst dann sei Klarheit über das eigene Wissen erreicht und der Bildungsprozess habe sich vollendet. Das Problem ist, dass alles, was man dabei erreicht, ein Glauben ist, so dass Schelling nicht über den Rückfall Jacobis in den Glauben hinauskommt, gerade weil sein Wahrheitsbegriff wieder transzendent geworden ist. Wissenschaftliches Erkennen besteht zwar tatsächlich in der Konkretisierung abstrakten Wissens. Durch die Erkenntnis der allgemeinen Bestimmung empirischer Gegenstände kann deren rein faktische Gegebenheit aber überschritten werden. Schelling schreibt in diesem Sinne: „Alle wissenschaftliche Bildung […] besteht in der Fertigkeit, die Möglichkeiten zu erkennen, da im Gegenteil das gemeine Wesen nur Wirklichkeiten begreift.“131 Doch diese Einsicht steht bei Schelling in problematischer Umgebung. Indem das erkennende Subjekt durch die theoretische Vernunftperspektive die gedachte allgemeine Gegenstandsbestimmung in seiner realen Erscheinung von Objekten identifiziert, sind alle begrifflich (bei Schelling noch allzu stark: ‚notwendig‘) damit verbundenen Bestimmungen als wesentliche Eigenschaften zwangsläufig ebenfalls auf den Gegenstand bezogen, auch wenn sie gerade nicht am Objekt erkannt werden. Erscheinungen sind selbst schon realisierte, wesensmäßig mögliche, Seinsweisen eines Objekts. Darüber hinaus lässt sich von ihnen durch die Bezugnahme auf die wesentlichen Bestimmungen eines Objekts auf weitere mögliche Eigenschaften desselben schließen, insofern sie mit den notwendigen Bestimmungen kompatibel sind und im allgemeinen Wesen liegen. Diese zunächst als real gedachten Möglichkeiten können experimentell auf ihren Realgehalt hin überprüft werden, sodass sukzessive die Objektbestimmung vervollständigt wird. Die Erscheinung theoretischer und praktischer Möglichkeiten wird selbst erst dadurch möglich, dass ihr die Vorstellung des allgemeinen Wissens zugrunde liegt. Schelling postuliert aber keine Erkenntnis im Lichte des Allgemeinen, sondern aus demselben, weil nur so das einzelne Wissen überhaupt als Wissen bestehen könne. Damit geht er an der Typenverschiedenheit von allgemeinem Wissen (a priori) und empirischen Erkennen (a posteriori) vorbei. Die Allgemeinheit des Wissens überhaupt drückt sich bei ihm, wie noch bei allen Empiristen heute, als Allsatz in Bezug auf konkrete Objekte aus. Besonderheiten sollen durch Ausdifferenzierung dingfest gemacht werden. Weil die wirklichen Objekte je schon auf immanente Möglichkeiten hin betrachtet werden, liegt das Erkennen zwar tatsächlich in der 129 Ebd. 130 Ebd., S. 237 f. 131 Vgl. ebd., S. 246.

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Bestimmung eines konkreten realen Gegenstandes gemäß der idealen Allgemeinheit als Typ oder Gattungswesen. Nur sind Typen und Arten bloß generisch fixiert und bilden keine einfachen All-Mengen einzelner Exemplare wie in einer reinen Mengenlogik. Entsprechend gälte es, die Momente abstrakt-generischer Redeformen genauer zu begreifen.132 In seinen „Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums“ stellt Schelling die Empirie in den Kontext der wissenschaftlichen Bildung aus dem Absoluten, der Selbstkonstitution des Wissens, und nicht in eine Relation zum Absoluten. Aber nur diese zweite Perspektive würde Schellings praktisches Anliegen voranbringen, die wissenschaftliche Bildung in der akademischen Lehre auf das Ziel der absoluten Wahrheit hin auszurichten. Die Formulierung bloß des Entwicklungsziels wird auch der konkreten Realisierung des Ziels nicht gerecht, solange es nicht auch den Weg zur Erreichung des Ziels im Ausgang von der vorwissenschaftlichen Bildung berücksichtigt und die Möglichkeit des Übergangs erklärt. Hierbei wäre das empirisch-praktische Wissen einer Person und deren Transformation, die „Umwendung der Seele“, zu thematisieren gewesen, was sogar Kant erkannt hatte. So können Schellings Ausführungen nur als Formulierung des Bildungsziels und damit der Tätigkeit des Forschens verstanden werden. Schelling betont wie Fichte, Schleiermacher und Humboldt, dass die mit der Realisierung der wissenschaftlichen Bildung erworbenen Kompetenzen nicht auf die wissenschaftliche Tätigkeit begrenzt sind. Weil sich auf diese Weise die theoretische (Selbst-)Erkenntnis eines Subjekts konstituiert, ändert sich die Haltung des Subjekts zur Welt überhaupt. „Eine negative Bedingung ihres Besitzes [der Philosophie] ist die klare und innige Einsicht der Nichtigkeit aller bloß endlichen Erkenntnis. Man kann sie in sich bilden; in dem Philosophen muss sie gleichsam zum Charakter werden, zum unwandelbaren Organ, zur Fertigkeit alles nur zu sehen, wie es in der Idee sich darstellt.“133 Diese Haltung liegt auch dem vernünftigen Handeln zugrunde. Doch im Gegensatz zu Fichte fordert Schelling nicht die Konstitution einer Praxis aus der Wissenschaft, sondern geht von der eigenen Struktur des Handelns aus, der zufolge sich seine konkrete Bestimmung aus dem Denken derselben gibt – nach der oben beschriebenen Passungsrichtung der Herstellung von Zuständen einer bestimmen Art, also eines Seins aus dem praktischen Denken heraus, wie das auch schon Descartes gesehen hat. Da sich von dieser ‚Definition‘ des Handelns aus seine Polemik gegen die „Nützlichkeitsapostel“134 richtet, muss darunter das theoretisch selbstbestimmte Handeln zu verstehen sein, also die Aktualisierung seiner allgemeinen wesentlichen Bestimmung nach einer in ihr liegenden Möglichkeit. Dieses Verständnis von der Praxis deutet sich in Schellings Bemerkung an, dass die Zwecksetzungen ihren letzten Grund im „vernunftmäßigen Denken“135 und nicht in zufälligen Begehrungen haben müssten. Demnach ist das Ich als Handlungssubjekt immer schon auf eine Weise allgemein bestimmt. Es hat sich als Person zu verwirklichen. Die grundlegende Bedeutung der wissenschaftlichen Haltung zeigt sich in Schellings Freiheitsverständnis. Erst mit der zitierten „Durchbildung bis zum absoluten Wissen“ erlangt 132 Vgl. ebd., S. 249. 133 Ebd., S. 256. 134 Ebd., S. 221. Dies ist der Anlass für Habermas’ zu Beginn dieses Kapitels genannte Kritik an der Wissenschaft. 135 Ebd., S. 237.

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das Subjekt demzufolge seine Freiheit, die seine theoretische und praktische Selbstbestimmung begründen soll. Darunter ist nicht bloß die Handlungsfreiheit zu verstehen, sondern eine Freiheit, die im Denken selbst liegt, auf dem sowohl das Handeln als auch das Verhältnis zur eigenen wissenschaftlichen Disziplin beruht. Da der wissenschaftlich Gebildete das Wissen in seiner Ganzheit und Einheit (d. h. seinem Prinzip) erfasst, kann er Fachwissen selbständig darin verorten und zu anderem Fachwissen in Beziehung setzen. In der Theorie selbst liegt die Freiheit, wie zugleich auch die Notwendigkeit, weil für Schelling, der sich damit als wahrer Idealist ausweist, das Denken je schon in Zusammenhang mit dem Sein steht.136 Rein formalistisch verstandene Theorien können dabei nicht als Ausdruck von Freiheit bezeichnet werden. Auch die soziale Praxis müsse als real objektivierte allgemeine Freiheit verstanden wer137 den. Deren Fundierung in der ‚Notwendigkeit der Identität von Realität und Idealität‘ ist durch den Rekurs auf die Natur zu verstehen, weil Schelling davon ausgeht, dass diese schon eine gottgegebene ideale Seite hat. So hat das dem Menschen eigentümliche Denken eine ‚seiner Natur entsprechende‘ Verfasstheit. Zugleich stellt die soziale Praxis für das individuelle Handeln selbst die Notwendigkeit als dessen Rahmenbedingung dar. Eine rein auf das Handeln einzelner Subjekte bezogene Betrachtung subsumiert daher zwangsläufig dessen Freiheit unter die allgemeine Notwendigkeit. Darin zeige sich eine verkürzte Perspektive gegenüber der wissenschaftlichen Bildung. Denn in dieser erscheint die soziale Praxis notwendig als Ausdruck der allgemeinen menschlichen Freiheit.138 Konsequenter als jeder andere genannte Autor gründet Schelling die Universität auf den Zweck der wissenschaftlichen Bildung durch die selbst schon theoretisch fundierte Vermittlung der Wissenschaften, ihrer formalen und je inhaltlichen Bestimmung und Einheit nach, im Studium. Die institutionelle Ordnung muss sich entsprechend aus dieser inhaltlichen Bestimmung ableiten lassen und bedarf daher keiner eigenen Thematisierung. Damit bleiben die institutionellen Bedingungen aber nicht unberücksichtigt, sondern lassen sich in wissenschaftlicher Perspektive festlegen. Insbesondere kann darin der Einfluss des Staates auf die Universität geklärt werden. Aus Schellings Vernunftperspektive kann es keinen Gegensatz zwischen beiden Bereichen geben. Denn der Staat ist als ein geschichtlicher selbst Realisierung einer allgemeinen Vernunftbestimmung. Durch sie ist dessen Verhältnis zur Wissenschaft festgelegt, und zwar derart, dass er ihr Objekt ist, und auch die institutionalisierte Wissenschaft als ihm angehörig verstanden wird. Die Macht des Staates steht insofern nicht im Gegensatz zur Freiheit der Wissenschaft, sondern autorisiert sie überhaupt erst in ihrer autonomen Tätigkeit, indem sie 136 Vgl. ebd., S. 222. 137 Vgl. ebd., S. 277. 138 Allerdings wirft in dieser Konzeption die Möglichkeit des Missverhältnisses zwischen der Realität der sozialen Wirklichkeit und dessen idealer Verfassung seiner natürlichen Bestimmung nach die Frage nach der Anerkennung der Geltung sozialer, insbesondere rechtlicher Normen auf. Denn auch die Abweichung von der Idealbestimmung, etwa eines Staates, muss gewusst werden können und das Handeln muss auf ideale oder reale Normen festgelegt sein. Daraus zieht Schleiermacher die Konsequenz eines methodischen Vorrangs der Sozialität vor dem sich selbst klaren Wissen von einer idealen Normativität, die sich selbst durch einen wissenschaftlichen Erkenntnisprozess auf ein Ideal hin entwickelt (vgl. ders. Rezension Schelling, in: Michael Winkler, Jens Brachmann (Hg.), Friedrich Schleiermacher. Texte zur Pädagogik. Kommentierte Studienausgabe (Bd. 1), Frankfurt a. M. 2000, S. 75).

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ihm untergeordnet ist und ihn dadurch zum Gegenstand seiner selbst macht. Nur der Staat, der keinen Begriff von Wissenschaft hat und sie deshalb unterdrückt (weshalb wiederum ein hinreichendes Verständnis von Wissenschaft erschwert wird), kann diese von ihrer Funktion, der Generierung von Wissen, abbringen und partikularen Interessen unterwerfen.139 Der Grund für die Einschränkung der Wissenschaft liegt somit in einer politischen Praxis, der die allgemeine Bestimmung eines (guten, wahren) Staates fehlt. Dennoch wirkt sich dieser Umstand auf das Handeln aus, da der mangelhafte, aber normativ verbindliche Zustand des Staates unvereinbar mit der Orientierungsfunktion des allgemeinen Wissens ist. Am Beispiel des Staates wird zugleich deutlich, dass es allein um eine wesensmäßige (ideale) Bestimmung geht. Die ideale Allgemeinheit bleibt, wie schon bei Fichte, bei der Bestimmung durch die einzelne Person und ihrem Rückgriff auf eine unterstellte objektive Ordnung stehen. Auch bei Schelling hat das Forschen damit wesentlich den Charakter des Empfangens, statt dass damit die Praxis einer Forschungsgemeinschaft erfasst würde, in der jeder einzelne Forscher seinen Beitrag in kritischer Auseinandersetzung mit den anderen zu einer Ganzheit und Einheit des Wissens leistet. Einer Praxis also, die auf einer gemeinsamen Haltung und Einsicht in das Wissen als solches beruht. Zur Überwindung dieser Mängel soll abschließend ein Wissenschaftsverständnis vorgestellt werden, das sich nicht auf den problematischen Begriff der Idee, sondern auf den Begriff des Begriffs stützt. Damit variiert auch das Verständnis wissenschaftlicher Bildung.

2.5 Enzyklopädische Bildung und fachbegriffliche Gliederung (Hegel) Das von Fichte geforderte selbstbestimmte theoretische Denken und Erkennen als Ziel wissenschaftlicher Bildung soll sich dadurch einstellen, dass die subjektiven Nützlichkeitserwägungen in der kooperativen Handlungspraxis auf das Erkennen objektiver Ideen hin überschritten werden. Diese Ideen haben für die Praxis eine Orientierungsfunktion. Die Orientierung beruht auf der Allgemeinheit der Erkenntnis. So folgt aus der allgemeinen Tatsache, dass eine Person ein moralisches Subjekt ist, dass sie sich in ihrem Handeln an die geltenden Normen hält und sie auch selbständig evaluieren kann. Das selbständige Denken wird zum Umschlagpunkt, von dem aus der Blick zurück auf die Praxis gerichtet und diese als eine solche erfasst werden kann, in der das Subjekt als (nun umfassend gebildete) Person handelt, relativ unabhängig von subjektiven Interessen. Fichte sah diesen Punkt in der allgemeinen Betrachtung der Verhältnisse der gesellschaftlichen Gegenwart in ideeller Perspektive. Der Erkenntnisprozess verläuft bei Schelling als eine sukzessive Selbstentfaltung des Wissens, ausgehend von dessen abstrakter Bestimmung, die als Bildungsziel dem Bildungsprozess zugrunde liegt. Bei beiden, auch bei Humboldt140, aber nicht bei Schleiermacher, 139 Vgl. ebd., S. 235. 140 Humboldt hält ein „dreifaches Streben des Geistes“ für die Gegenstandsbestimmung erforderlich, ohne das näher zu erläutern: a) die „Ableitung aus einem ursprünglichen Prinzip“, b) „alles einem Ideal zubilden“ und c) „beides in einer Idee zu verknüpfen“ (Ders., Ueber die innere und äußere Organisation einer in Berlin zu errichtenden Lehranstalt, in: Andreas Flitner, Klaus Giel (Hg.), Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden. Band IV, Darmstadt 1982, S. 258). Es kann hier nicht näher ausgeführt werden, dass Humboldt auf eine Begründung wie Fichte und Schelling verzichtet.

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wird das allgemeine Wissen zwar durch rein formale Abstraktion begründet. Die Erkenntnis allgemeiner Ding-Bestimmungen gründet bei Fichte und Schelling – gemäß ihren Deutungen Platons – in einer göttlichen Idee bzw. Gott als Quelle des „Urwissens“, ohne dass sie selbst einer philosophisch-kritischen Prüfung unterzogen wird. Der zentrale Gedanke dieser Darstellungen ist, die Grundlage für den Erkenntnisprozess als je schon gegebene Objektivität darzustellen, durch die die Wahrheit des Wissens gewährleistet ist. G. W. F. Hegel macht hingegen Abstraktion und Ideation zu internen Strukturmomenten des Wissens – ohne Rekurs auf eine transzendente Fundierung, auf die sich das Denken als etwas ihm Vorgegebenes bezieht, das die Objektivität der Erkenntnis gewährleisten soll. Das Medium des Denkens ist bei Hegel nicht die Idee141, sondern der Begriff. Er fungiert nicht allein als Bezugnahme auf Gegenstände, sondern kann selbst, im Sinne seiner (möglichen) Verwendung im Denken, zum Erkenntnisgegenstand gemacht werden. Beide Ebenen, der Begriff als Medium wie als Objekt des Denkens, sind also wechselseitig aufeinander be­ zogen. Die Einsicht in ihren Zusammenhang und ihre konstitutive Bedeutung für das Wissen ermöglicht „absolute Bildung“, weil sich das Denken darin selbst im Vollzug ausweist.142 Das einzige Absolute, das es hier gibt, ist der Vollzug selbst. Die empirische Wahrheit ist das Sichzeigen im Vollzug, also das Phänomen, nicht anders als später in der philosophischen Phänomenologie Husserls und Heideggers. Die abstrakten Bestimmungen aber werden gesetzt. Sie liegen somit jenseits des denkenden Subjekts, insofern sie ihm vorgegeben, also allgemein gesetzt sind, weisen sich aber in ihrer Allgemeingültigkeit durch die Forschungspraxis insgesamt aus. Erst durch diese Einsicht des Denkens in seinen eigenen Grund, das begriffliche Denken als solches, gewinnt der Gedanke im vollen Sinne „Selbstständigkeit und Unabhängigkeit“143. Hegels Ansatz, das formal-abstrakte Denken begrifflich zu verstehen, ermöglicht in doppelter Hinsicht, empirisches Wissen als einen partiell eigenständigen Bereich innerhalb des bloß historischen ‚Wissens‘ oder ‚Erkennens‘ von Einzelsachen zu verstehen. Dies ist bildungstheoretisch relevant, weil auf diesem Wege empirisches Wissen sowohl Vorstufe als 141 Die Idee ist bei Hegel nicht die abstrakte Form, sondern die Einheit von Begriff und Gegenstand, also reale Manifestation von Arttypen, z. B. von Institutionen (vgl. ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Johannes Hoffmeister (Hg.) Hamburg 1995, § 1). 142 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gesammelte Werke (Bd. 21), Wissenschaft der Logik. Teil 1. Die objektive Logik. Bd. 1. Die Lehre vom Sein, Friedrich Hogemann, Walter Jaeschke (Hg.), Hamburg 1985, S. 42/ 25. (Die angeführten Seitenzahlen bezeichnen zuerst die der verwendeten Ausgabe, dann die der Originalausgabe.) Es ist zu beachten, dass Hegel in Kap. VI der „Phänomenologie des Geistes“ einen Bildungsbegriff entwickelt, der ausschließlich auf die gesellschaftliche Praxis bezogen ist. Diesen greift er in der ersten Vorrede der „Wissenschaft der Logik“ wieder auf und stellt ihm das theoretische Erkennen gegenüber (vgl. ders. Gesammelte Werke (Bd. 21), Wissenschaft der Logik. Teil 1. Die objektive Logik. Bd. 1. Die Lehre vom Sein, Friedrich Hogemann, Walter Jaeschke (Hg.), Hamburg 1985, S. 5/ VI). Zugleich rekonstruiert Hegel in der „Phänomenologie des Geistes“ die „Bildungsstuffen des allgemeinen Geistes“ vom bereits erreichten Standpunkt des Wissens aus, d. h. dessen eigene Konstitutionsbedingungen (Ders., Gesammelte Werke (Bd. 9), Phänomenologie des Geistes. Wolfgang Bonsiepen, Reinhard Heede (Hg.), Hamburg 1980, S. 25/ XXXIV): „Diß Werden der Wissenschaft überhaupt oder des Wissens, ist es, was diese Phänomenologie des Geistes, als der erste Theil des Systems derselben, darstellt.“ (ebd., S. 24/ XXXII) Die Praxis ist also bereits theoretisch erfasst und die Darstellung der Entwicklung der theoretischen Perspektive zeigt den Weg zu dieser Perspektive als einen Bildungsprozess. 143 Ebd., S. 43/ 25.

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auch Entwicklungsziel im Wissen und Denken des Denkens sein kann. Zum einen ermöglicht das begrifflich verfahrende Denken nach Hegel die empirische Forschungspraxis als einen Gesamtzusammenhang des Wissens aufzufassen, aber im Unterschied zu Schellings Konzeption zugleich auch die Entwicklung des Wissens als unsere Herstellung der Identität von ‚Sein‘ (Wirklichkeit) und Denken (Theorie) zu deuten. Es ist das je vorläufige Resultat einer kollektiven Forschungspraxis. Die Ausdifferenzierung des Wissens ist je dessen Verwirklichung selbst und nicht die sukzessive Implementierung einer bereits gegebenen Identität. In seiner Enzyklopädie der philosophischen, d. h. noch: theoretischen Wissenschaften gliedert Hegel das Wissen in die Wissenschaft der Logik, die insgesamt philosophische Reflexion auf das formal- und materialbegriffliche Allgemeinwissen ist, die Naturphilosophie und die Philosophie des Geistes. Dabei reflektiert die Naturphilosophie auf die Prinzipien der disziplinär sich aufgliedernden Naturwissenschaften. Als Themen nennt Hegel die Mechanik als (idealisiert atomare) Bewegungslehre, die Physik der Materie unter Einschluss des Elektromagnetismus (auch des Lichts) und der chemischen Stoff- und Reaktionslehre und, unter dem Titel „organische Physik“, die Lebenswissenschaften. Die Mathematik ist Gegenstand der Reflexionen der Logik. Der Titel „Geist“ steht für alle Themen der später mit Recht so genannten Geisteswissenschaften. Die Philosophie des Geistes reflektiert auf diese Themen, indem sie zugleich auf die sie thematisierenden Disziplinen reflektiert. Es ist ein Zeichen beginnender Geistverlassenheit, dass man sich heute des Titels „Geist“ schämt und zu Wörtern wie „mind“ (dt.: Gemüt) bzw. „Kultur“ (dt.: Pflege) greift. Die Themen der Geisteswissenschaften sind der subjektive, objektive und absolute Geist, also das personale Subjekt, die Institutionen personaler Bildung und Praxis und die spekulativen Reflexionsformen der Religion, Kunst und Philosophie. Das Wissen über den subjektiven Geist, also das personale Subjekt, gliedert sich thematisch in die psychophysischen Bedingungen der Lernfähigkeiten in einer differentiellen Anthropologie, die Realformen geistiger Kulturpraxis, explizit dingfest gemacht in einer Phänomenologie des Geistes als materialbegriffliche Reflexion auf die zu lernenden Formen des Verstandes und der Vernunft, und schließlich die Psychologie als Wissen über die Normalfallkompetenzen eines gebildeten personalen Subjekt samt dem zugehörigen Wissen über Privationen wie psychische Krankheiten, von denen die Gemütskrankheiten des „mind“ nur einen Teil ausmachen, oder auch Lerndefekte oder sittlich-moralische Defekte. Die Klammer aller Institutionen des objektiven Geistes ist der Staat (der weit mehr ist als bloße Regierung); die höchste Form der Person ist der Citoyen oder politisch gebildete und selbstbewusste Bürger. Teilinstitutionen sind das Recht, Wissenschaft und Bildungswesen und die durch das Eigentumsrecht staatlich in ihrem Rahmen verfasste ‚bürgerliche Gesellschaft‘ aller ‚freien‘ ökonomischen Kooperationen und Verträge – samt aller dadurch möglichen Abhängigkeiten (von der politisch enorm mächtig gewordenen Bourgeoisie) in der Arbeits- und Güterteilung der Gesellschaft. Es ist daher der Staat am Ende verantwortlich für alle Probleme der Rahmenbedingungen der Ökonomie und Gesellschaft – eine Einsicht, die Marx leider nur in ihrer kapitalismuskritischen Hälfte übernimmt. Als Spezialisierung wird so das bisherige Wissen, etwa hinsichtlich des Geltungsbereichs einzelner Erkenntnisse anhand von neuen Anwendungskontexten, immer auch wieder durch neue Erkenntnisse hinterfragbar und nicht bloß erweitert. Die Identitätsbeziehung von Wissensinhalt und Wirklichkeit verliert auf diese Weise ihre Ewigkeit oder

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Unveränderlichkeit. Die Identität von Sein und Denken wird so als bloß formales Kriterium erkannt. Zum anderen erlaubt Hegels Konzeption des begrifflichen Denkens, dass die wissenschaftliche Bildung als Weiterentwicklung der moralisch-praktischen Bildung verständlich wird. Das je schon vorhandene (partikulare, kontingente und unsystematische) Wissen – auch Meinungen und bloße Gewissheiten – ist selbst schon begrifflich verfasst, wenngleich nicht terminologisiert und bloß erst vage bestimmt.144 Eben dieses bildet die Grundlage wissenschaftlichen Denkens auf der Basis des Wissenschaftsethos (wie auch den Bezugspunkt dafür, wissenschaftliche Erkenntnisse in der Öffentlichkeit verständlich wiedergeben zu können). Das begriffliche Denken erscheint so als eine Präzisierung, Korrektur und Vertiefung alltäglicher Intuitionen und Überzeugungen. Diese, die sich unmittelbar an den gesellschaftlichen Konventionen, Erfahrungen und eigenen Interessen orientieren, sind daher hinsichtlich der Möglichkeit der Selbstüberwindung dieser Unmittelbarkeit hin zum theoretischen Erkennen und wissenschaftlichen Wissen, in dem die vorausgegangene Entwicklung vergegenständlicht wird, zu rekonstruieren. Dies kann hier nur ganz grob in einer übersichtsartigen Skizzierung von Grundgedanken in seiner „Phänomenologie des Geistes“ und „Wissenschaft der Logik“ erfolgen. Die „Phänomenologie des Geistes“ verfährt in dem Sinne phänomenologisch, als sie den Weg vom Bewusstsein zum Selbstbewusstsein anhand von realen, äußeren Phänomenen oder Vollzugsformen aufzeigt. Ein Phänomen ist, wir erinnern daran, was sich von selbst zeigt, was wir also längst schon kennen und in einer Phänomenologie nur explizit kommentieren. Dabei ist für die Entwicklung des Selbstbewusstseins die Entwicklung der Wissenschaft paradigmatisch, so aber, dass die Gefahren eines elitären bzw. rhetorischen Szientismus in der so genannten wissenschaftlichen Aufklärung nicht übersehen werden. Die Darstellung hat den Charakter einer Demonstration der Entwicklung eines personalen Subjekts, dem das einzelne empirische Subjekt, als sich bildendes Individuum, in dem Grade seiner Kompetenz-Entwicklung entspricht. Diesem Bildungsprozess liegt die Haltung der theoretisch-wissenschaftlichen Bildung als Ziel der Kompetenz-Entwicklung zugrunde und nicht nur die praktische, die als solche nicht immer schon selbstbewusst kontrolliert ist. In der Darstellung der Entwicklung des Bewusstseins weist Hegel, im Gegensatz zu Kant, die Bedeutung der Leiblichkeit und Sinnlichkeit, des Begehrens und der Leidenschaften nach, gerade in ihre Sublimierung oder Transformation des Subjekts zur Person (qua geistigem Subjekt). Anders als Schelling anerkennt er auch die relative Berechtigung des Nützlichkeitsdenkens.145 Zweckdenken bleibt zentrales Moment der Selbst-Konstitution der Person im Bereich der gesellschaftlichen Praxis, neben aller Vergemeinschaftung. Das personale Handlungssubjekt realisiert auf dieser Grundlage die im Denken bloß abstrakt bleibende moralische Selbstbestimmung der Person, wodurch es, im Zusammenhang mit der 144 Hegel zeigt darüber hinaus, dass abstraktes Denken auch schon in der gesellschaftlichen Praxis liegt und unter der Hand für die Meinungen maßgeblich ist (vgl. ders., Wer denkt abstrakt?, in: Eva Moldenhauer, Karl Markus Michel (Hg.), Werke 2, Jenaer Schriften: 1801–1807, Frankfurt a. M. 1986). Die implizite abstrakte Form kann durch die wissenschaftliche Rekonstruktion explizit gemacht werden, ist aber nicht auf den Bereich vorgängiger Meinungen beschränkt. 145 Vgl. Ders., Gesammelte Werke (Bd. 9), Phänomenologie des Geistes. Wolfgang Bonsiepen, Reinhard Heede (Hg.), Hamburg 1980, S. 314/528.

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Anerkennung durch andere Personen, sich selbst als Person in der Gesellschaft der Personen bestimmt. Der Entwicklungsprozess des Selbstbewusstseins findet sein Ziel in einem Wissen, das sich seiner konstitutiven Bedingungen als allgemeines Wissen bewusst ist: „Es [das Bewusstsein] muß sich ebenso zu dem Gegenstande nach der Totalität seiner Bestimmungen verhalten, und ihn nach jeder derselben so erfaßt haben. Diese Totalität seiner Bestimmungen macht ihn an sich zum geistigen Wesen, und für das Bewußtseyn wird er diß in Wahrheit durch das Auffassen einer jeden einzelnen derselben, als des Selbsts, oder durch das ebengenannte geistige Verhalten zu ihnen.“.146 Damit ist es sich seiner selbst und des Grundes seines Wissens bewusst und dies bedeutet, dass es um die Rolle der Wissenschaft als Institution der Begriffsentwicklung weiß.147 Die Begriffe werden damit nicht einfach als allgemeinen Bedeutungen gebraucht, sondern es wird begriffen, dass es eine geschichtlich entwickelte Kooperationsform ist, auf welcher alle empirische Ding-Bestimmung beruht. Dieser Reflexionsakt liegt jeder selbstbewussten Wissenschaft zugrunde. Die begrifflichen Bestimmungen (Definitionen von Termini) sind daher nur im Extremfall bloßer Abkürzungen, einer Art logischen Stenographie, rein formal. Wie schon bei Platon ist daher auch bei Hegel der letzte Grund des Erkennens das Wissen um das Gesetzsein der Begriffe, die verbale Kanonisierung allgemeinen Wissens. Das setzt ein gewisses Maß an Wissen über das Wissen, die aristotelische noēsis noēseōs, und ein Denken des Denkens voraus, vor und jenseits des bloßen Wissens über oder Denkens an Objekte und Sachen in der Welt.148 Aber in welchem Sinne ist dieses Wissen „absolut“? Die Antwort liefert Hegel in der „Wissenschaft der Logik“, die den durch die „Phänomenologie des Geistes“ frei gewordenen Blick für das begriffliche Denken im Allgemeinen ausführt. Dies resultiert in der folgenden, zunächst merkwürdig anmutenden Erkenntnis: „Der Begriff ist nicht nur die Seele, sondern freyer subjectiver Begriff, der für sich ist und daher die Persönlichkeit hat, – der praktische, an und für sich bestimmte, objective Begriff, der als Person undurchdringliche, atome Subjectivität ist, – der aber ebensosehr nicht ausschliessende Einzelnheit, sondern für sich Allgemeinheit und Erkennen ist, und in seinem Andern seine eigene Objecitvität zum Gegenstand hat.“ Abgrenzend fügt er hinzu: „Alles Uebrige ist Irrthum, Trübheit, Meynung, Streben, Willkühr, und Vergänglichkeit; die absolute Idee allein ist Seyn, unvergängliches Leben, sich wissende Wahrheit, und ist alle Wahrheit.“149 Die Sätze sind schwierig zu lesen. Sie sagen in verdichteter Form, was wir hier schon auseinandergelegt haben: Der Begriff und das zugehörige generische Vorherwissen ist das Medium, Vermittlung, des theoretischen und des praktischen Denkens, dann auch des empirischen Erkennens. Begriffliche Kompetenz wird somit zur wesentlichen Bedingung der selbstbestimmten Person. Sie kommt in der Beherrschung der sprachlichen Formen im Schreiben und Lesen, Reden und Verstehen zum Ausdruck.150 Als ein Element des (sprach146 Ebd., S. 422/ 743. 147 Vgl. ebd., S. 427 f./ 753. 148 Vgl. ders., Gesammelte Werke (Bd. 21), Wissenschaft der Logik. Teil 1. Die objektive Logik. Bd. 1. Die Lehre vom Sein, Friedrich Hogemann, Walter Jaeschke, Hamburg 1985, S. 12/ XIX u. S. 27/ 1 f. 149 Ders., Gesammelte Werke (Bd. 12), Wissenschaft der Logik. Teil 3. Die subjektive Logik oder die Lehre vom Begriff, Friedrich Hogemann, Walter Jaeschke (Hg.), Hamburg 1981, S. 236/ 371 f. 150 Die Sprache enthält außerdem singuläre Terme: Namen, Kennzeichnungen und deiktische Ausdrücke

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lich immer begleitbaren) vorstellenden Denkens ist der Begriff je schon gehaltvoll, derart, dass Gehalte der Wirklichkeit auf allgemeine Weise bezeichnet sind, die Dinge und ihre ArtEigenschaften ohnehin. Die Begriffe sind nicht unmittelbar abhängig von Einzelwahrnehmungen (experience), sondern als generische Bestimmungen beziehen sie sich auf Typen und Formen, durch die sich die einzelnen Objekte der Wahrnehmung so bestimmen lassen, dass es eine gemeinsame Bezugnahme auf sie und damit Objektivität allererst gibt. Der Begriff erhält daher im Erfahrungs- oder besser Wahrnehmungsurteil durch die Bezugnahme auf Objekte, die sich von Objekten anderer Art unterscheiden lassen, seine Objektivität. Empirische Urteile sind wahr, wenn sie als Informationen gemeinsame Erfahrungen ermöglichen. Der Erfolg der Kooperation hat wie der Misserfolg im allgemeinen Rückwirkung auf die begriffliche Ordnung als Bestätigung, Erweiterung oder Änderung der begrifflichen Ordnung. Diese ist immer schon gegliedert nach Art und übergeordnete Gattung. Die Einordnung und Abgrenzung einer Sache geschieht in einer Art ‚disjunktivem Schluss‘, durch den der Grund der Richtigkeit eines taxonomischen Urteils eingesehen werden kann.151 Dabei wird eine gewisse Kohärenz und Konsistenz der begrifflichen Ordnung vorausgesetzt. Die Rekonstruktion des Begriffs im Sinn des Begrifflichen, etwa in Form einer Enzyklopädie, legt die Struktur des Wissens und der Wissenschaften dar. Das begriffliche Schließen ist dabei im weitesten Sinne ein Anwenden von Theorien als Ausdruck allgemeinen Wissens. Dieses wird diskursiv, sogar im dialektischen Streit um beste Formulierungen und Explikationen, bestimmt und kanonisiert.152 Das so angeleitete gemeinsame Urteilen ist dann nicht bloß als Bezugnahme auf eine fixe Ordnung misszuverstehen, sondern als Teil einer Kooperationspraxis, in deren regelmäßigen Erfolg sich die Wahrheit des allgemeinen Wissens und die Richtigkeit der Begriffsanwendung zeigt, wobei im Fall der Misserfolges erst einmal eine Suche nach den möglichen Ursachen beginnt – so dass auf die ‚Falschheit‘ vorgeblichen Wissens nicht vorschnell zu schließen ist, sondern zunächst andere Arten von Fehlverständnisse und zufälligen Ausnahmen zu betrachten sind. Das macht die dynamische Ordnung des Verstehens aus. In Fichtes meritokratischen Wettbewerb geht es also um Beiträge zur Entwicklung des Begriffs. Die Identität von Sein und Denken dient dieser Praxis nur noch als formales Wahrheitskriterium. Wie ist aber die Personifikation des Begriffs im letzten Zitat zu verstehen? Das Denken als begriffliche Bezugnahme auf die Welt spezifiziert das denkende Subjekt selbst. Es verwie „Dieser“. Durch die Sprache sind sie mit Begriffen in einem empirischen Urteil verbindbar (z. B. „Dieser Stuhl ist wackelig.“). Im Falle der Reflexion auf Begriffe und Ideen wird von jeder konkreten empirischen Bezugnahme abstrahiert. 151 Eine detailliertere Analyse über den Zusammenhang von Begriff, Urteil und Schluss leistet Pirmin Stekeler-Weithofer (Ders., Warum ist der Begriff sowohl Urteil als auch Schluss?, in: Andreas Arndt, Christian Iber u. a. (Hg.), Hegels Lehre vom Begriff, Urteil und Schluss, Berlin 2006, S. 24–47. Demnach wird die Begriffsbestimmung erst im Rahmen der Konstitution der Gegenstandsbereiche der Wissenschaften als solche, d. h. explizit, vergegenwärtigt und ggf. modifiziert (ohne dass dabei der Objektbezug aufgegeben wäre). 152 Mind and World, Cambridge, Mass. 1994) und, daran anschließend, von David Bakhurst (ders., The Formation of Reason, Malden, Mass. 2011), die die geistige Tätigkeit des Begründens zum Maßstab der Bildung erklären, zu würdigen. Allerdings muss dazu diese Kompetenz als Resultat eines Bildungsprozesses und der Unterschied zwischen Theorie und Praxis verstanden werden.

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wendet jeweils bestimmte Begriffe und damit bestimmt es nicht nur das Objekt, sondern auch sich als Bezugnehmendes. Denn dieses ist zunächst so unbestimmt wie ‚das Ich‘153. Diese Allgemeinheit ist noch abstrakt und muss vom Subjekt in einer bestimmten Weise angewandt werden. Zunächst erfolgt die Bestimmung durch die ausschließliche Fokussierung auf das Objekt in einer Zwecksetzung. Darin muss sich die Begriffsbestimmung als adäquat erweisen, sodass sich auch die Irrtumsmöglichkeit einstellt. Damit hat das Subjekt empraktisch zugleich sich selbst bestimmt. Das Ich ist in einer Absicht oder Behauptung konkret bestimmt. Die praktische Selbstbestimmung ist die freie und selbständige Festlegung auf die eigene Seinsweise auf der Basis natürlicher und sozialer Gegebenheiten und kennzeichnet den abstrakten Begriff der Person, die „reine Persönlichkeit“, der sich in der theoretischen Betrachtung einstellt. Die Praxis ist der Bereich der konkreten Realität dieser abstrakt-begrifflichen Definition154. Die allgemeine Praxis macht die Dynamik der begrifflichen Gesamtordnung aus. Die absolute Bildung weiß innerhalb dieser Urteilspraxis um den richtigen Gebrauch der Be­ griffe aus Einsicht in ihre allgemeinen Bestimmungen. Dieses allgemeine Wissen um den allgemeinen Gebrauch allgemeiner Begriffe stiftet deren Orientierungsfunktion für die Person überhaupt. Da die wissenschaftliche Bildung weder als Bildung noch als Wissenschaft auf einen ökonomischen Nutzen hin (als bloß kontingentes und häufig sachfremdes Ziel) ausgerichtet ist (wie das bloß autistische instrumentelle Handeln in der Gesellschaft), bedarf sie eigener staatlicher Institutionen, die ihre Freiheit von zufälligen Zielen sicherstellt und zugleich die Möglichkeit einer Bildung bietet, die nicht schon auf vorgestempelte Verwertungen des Wissens aus ist. Dies ist ein Spezifikum der Universität. Sie ist aus der Sicht von Staat und Gesellschaft (die wir selbst sind!) nützlich, indem das dort generierte Wissen die Orientierung bietet, auf deren Grundlage allererst bestimmbar wird, was für die Subjekte nützlich sein kann, insbesondere dann, wenn Staat und die Gesellschaft selbst zum Erkenntnisgegenstand werden. Sowohl durch die Personen selbst wie auch durch die Publikation der Forschungsergebnisse findet ein Rückbezug des wissenschaftlichen Wissens und Könnens in Staat und Gesellschaft statt, der ihre Entwicklung – und die geschichtliche überhaupt – beeinflusst (und Fehlverständnisse ausräumt). In beiden Fällen wird also das Nützlichkeitsprinzip der Praxis nicht aufgehoben, sondern es werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Grundlage von Handlungsentscheidungen nach subjektiven Präferenzen gemacht, sodass die Forschungsergebnisse die Möglichkeiten von Handlungsoptionen und ihre Bewertung überhaupt erst eröffnen. Die schon seit Platons Zeit zunächst erst ganz langsam zunehmende Institutionalisierung, die zur Zeit Hegels besonders in der Gründung der Berliner Universität und der nach153 Das „reine Ich“ ist nach Hegel ein „abstracte[r] Gegenstand“ (Ders., Gesammelte Werke (Bd. 9), Phänomenologie des Geistes. Wolfgang Bonsiepen, Reinhard Heede (Hg.), Hamburg 1980, S. 107/110. 154 Ebd., S. ebd., S. 314/529. Dies impliziert natürlich die gesamte normative soziale Sphäre. Da es sich hier aber um die logische Betrachtung handelt, kann davon abgesehen und die Person als Gedanke thematisiert werden. Es sei also nur angemerkt, dass es hier um die formale allgemeine Seinsweise der einzelnen Person geht, die sie einsieht und realisiert.

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folgenden Reform aller Universitäten der Welt zu einer festen Form findet, stellt somit einen Prozess dar, der die Wissenschaft zwar weiter von der Gesellschaft entfernt hat. Damit erhielt sie jedoch eine gesicherte Existenz und feste Organisation, die eine freie und nur so kritische Entwicklung des Wissens für sich benötigt. Das sokratische Gespräch findet dabei in der Form der Wissenskontrolle im Rahmen akademischer Lehre statt. Die Folge ist, dass das so genannte „e-learning“ im allgemeinen Fall so viel bringt wie das Lesen eines Buches oder das Lernen von Schemata, keineswegs aber das Seminar ersetzen könnte. Nur wer schon lesen kann und die Schemata in der Anwendung schon beherrscht, wird so, dialogfrei, weiterkommen. Die Einrichtung der Universität als staatlicher Institution ist freilich nicht nur für die einzelne Person relevant. Durch den Einfluss der Wissenschaft auf die soziale Praxis in einem Staat können die politischen Ansichten und Entscheidungen der Bürger und Regierenden durch diese selbst geprüft werden, ohne dass ein Politiker zugleich Wissenschaftler sein muss, wie Platons ominöser „Philosophenkönig“. Auf diese Weise wird nicht nur der einzelnen Person ihre personale Selbstbestimmung einsichtig, sondern überhaupt allen die Autonomie des Staates in der Gestalt seiner jeweiligen geschichtlichen Verfassung. „Der höchste Punkt der Bildung eines Volkes ist nun dieser, auch den Gedanken seines Lebens und Zustandes, die Wissenschaft seiner Gesetze, seines Rechts und Sittlichkeit zu fassen; denn in dieser Einheit liegt die innerste Einheit, in der der Geist mit sich sein kann. Es ist ihm in seinem Werke darum zu tun, sich als Gegenstand zu haben; sich aber als Gegenstand in seiner Wesenhaftigkeit hat der Geist nur, indem er sich denkt.“155 Das Erreichen dieses „höchste[n] Punkt[es] der Bildung“ stellt Hegel als sukzessives Fortschreiten (in) der Entwicklung der Gattung dar, aus der die theoretische Bestimmung hervorgeht. Die Praxis als gesellschaftliche Realität innerhalb einer Kulturnation kann auf diese Weise mit der Bestimmung durch das (moralisch fundierte) Nützlichkeitsprinzip vom Bereich der Theorie bzw. Wissenschaft als eigenständiger Bereich abgegrenzt werden, indem sie theoretisch beschrieben und analysiert wird. Wenn die Gesellschaft den Sinn der Wissenschaft erkannt hätte, könnte diese jene abgrenzend bestimmen: Das wäre die sich praktisch selbst bedingende Wissenschaftsfreiheit. Unsere Erörterung wissenschaftlicher Bildung liefert eine Deutung von Humboldts Diktum „Bildung durch Wissenschaft“: Bildung besteht in der Weiterentwicklung der geistigen Kompetenzen der Person über die praktische Selbstbestimmung konkreter sozialer und natürlicher Bedingungen hinaus. Im theoretischen Erkennen wird u. a. die Praxis abstrakt, hinsichtlich ihrer konstitutiven Merkmale thematisch. Versteht man dies als eine theoretische Reflexion auf die Praxis – und zwar auf der Basis des Wissens davon, was Wissen als solches ist –, dann stellt dies eine qualitativ neue Stufe der Urteils-Kompetenz der Person und damit ihrer Bildung dar. Der Übergang wird einsichtig, wenn man die Reflexion als Abstraktion von der gesellschaftlichen Praxis versteht, die zuvor die Sphäre der Bildung war, sodass der Theoretiker je schon praktisch gebildet ist. Der Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis kann insbesondere durch Hegels begriffstheoretische Analysen hergestellt werden, da die Übergänge zwischen beiden Sphären eine Änderung des Status des Begriffs ist. Die Kom155 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Eva Moldenhauer, Karl Markus Michel (Hg.), Frankfurt a. M. 1995, S. 101.

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petenz im begrifflichen Denken setzt gerade auch in ihrem Erwerb ein subjektives Interesse (Besinnung und Begeisterung) am theoretischen Erkennen, an Wissen und Wahrheit voraus. Ein Absehen von jedem subjektiven Interesse gibt es jedoch nicht.

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Bettina kremBerg

„Aus Tradition Grenzen überschreiten“1. Autonomie und Fremdbestimmung an der Universität Leipzig. Ein Rückblick nach 2009 1. Einleitung Die Leipziger Universität kann auf eine über 600-jährige Geschichte zurückblicken. Nach Heidelberg ist sie die zweitälteste deutsche Alma Mater mit ununterbrochenem Lehrbetrieb. In diesen Jahrhunderten durchlief sie zahlreiche Entwicklungen und Umstrukturierungen, wobei vor allem das Jahrhundert zwischen 1850 und 1950 von Bedeutung ist. An den folgenreichen Konsequenzen mancher Entscheidungen der Universitätsleitung, der Politiker, der Studentenschaft und der Leipziger Bürger kann man nicht nur ermessen, wie sich Leipzig als Wissenschaftsstandort gewandelt hat, sondern auch inwiefern die Leipziger Universität durch die Zeit hindurch mit Blick auf die eigene Herkunftsgeschichte ein hochschulpolitisches Wissenschaftsideal formte und verfolgte. Das Ideal der Selbstbestimmung der Wissenschaft ist Kern jedes kritischen Denkens gegen Vorurteile, Aberglauben und ideologische Fremdbestimmung. Insofern darf man nicht nur die Gründung der Leipziger Universität 1409 als eine Grenzüberschreitung einer kleinen Gruppe von Magistern von Böhmen nach Sachsen, von Prag nach Leipzig verstehen. Vielmehr ist die ganze Geschichte der Leipziger Universität auch ein Symbol für Grenzüberwindungen. Die Erfahrung von Grenzen und Beschränkungen prägten und motivierten ein Ringen der Universität um Selbstbestimmung. Die Besinnung auf das Motto der Leipziger Universität „aus Tradition Grenzen überschreiten“ kann als Ausdruck des Willens aufgefasst werden, die Erfahrungen der Geschichte auf neue Anforderungen zu beziehen und Neues nicht ohne Aufhebung traditioneller Errungenschaften durchzusetzen. In diesem Motto vereinigen sich Tradition und Innovation. Diese Dialektik von strukturellen Brüchen und ideeller Kontinuität prägt die 600-jährige Geschichte des Wissenschaftsstandortes Leipzig, die hier zum Gegenstand der Betrachtung gemacht wird. Denn Denken – und ein dem gemäßes Handeln – ist Überschreiten der Gegenwart und des bloß Gegebenen.2 Worin konkret bestehen die Brüche, worin liegt die Kontinuität? Was ist es, das bewahrt wurde? Welche Orientierungen ergeben sich aus einer Zusammenstellung der Entwicklungen der letzten Jahrhunderte? Welches Wissenschaftsideal sollte im Zuge europäischer Reformbestrebungen wie „Pisa“ und „Bologna“, deutscher Bildungsmisere und europäischem Vereinigungswillen hochgehalten und verfolgt werden, um zukunftsweisend, das heißt nachhaltig, erfolgreich sein zu können? Fragen dieser Art motivieren unsere Auseinandersetzung mit 1 2

So lautet das Motto der heutigen Universität Leipzig. Vgl. Pirmin Stekeler-Weithofer, Ernst Blochs Utopie authentischer Bildung, in: Denken ist Überschreiten. Ernst Bloch in Leipzig. Begleitpublikation zur Ausstellung in der Galerie im Hörsaalbau 13. Mai bis 31. Juli 2004. Mit allen Ausstellungstexten und vier vertiefenden wissenschaftlichen Aufsätzen, Leipzig 2004.

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der Geschichte der Leipziger Universität, vor allem mit Blick auf das Maß an Selbst- oder Fremdbestimmung, das sie sich erkämpft, bewahrt, verspielt oder aufgibt. Nicht nur an den politisch-wirtschaftlichen Schaltstellen der Gesellschaft, sondern auch im allgemeinen Verständnis gilt es, ein Wissen über den strukturellen und ideellen Wandel von Bildungslandschaften zu gewinnen. Es ist ein Selbstbewusstsein zu entwickeln, das offen ist für eine bildungspolitische und gesamtgesellschaftliche Zukunft nicht nur des eigenen Wissenschaftsstandortes, sondern im europäischen und globalen Maßstab. Auch wenn wir Geschichte immer nur im Rückblick von ihrem mehr oder weniger gelungenen heutigen Ergebnis her betrachten, da uns eine andere Perspektive gar nicht zugänglich ist, ist dabei Panegyrik wie Lamento zu vermeiden. Nur das kann die Objektivitätsmaxime für geschichtliche Reflexionen „ohne Zorn und Eifer“, sine ira et studio, konkret meinen. Und dennoch ist die Dialektik eines Hin und Her im praktischen Ringen um bestimmte Ideale und ihre Durchsetzung gegen eine bloße Geschehenserzählung sichtbar zu machen. Institutioneller Wandel in Staat und Gesellschaft vollzieht sich ja nicht von allein, sondern muss jeweils neu erstritten und durchgesetzt werden. Weil die Universität nun nicht nur ein Ausbildungsort, sondern ein Bildungsort ist, kann es einer Gesellschaft auch nicht gleichgültig sein, wie und was dort gelehrt wird, wer Zugang zu ihr hat bzw. wer ausgeschlossen wird. Von all dem findet sich auch etwas in der wechselhaften Geschichte der Leipziger Universität wieder. Im Folgenden werden vor allem die wesentlichen Umbrüche der Geschichte in den Fokus gerückt. Sie können als Grundlage einer Analyse der Wandlungsprozesse der Leipziger Universität bis hinein ins 21. Jahrhundert dienen – als ein Paradigma für alle analog gelagerten Fälle. Alles Wissen ist strukturelles Formwissen. Und alles Strukturwissen beruht auf Analogien, dem weltbezogenen Realteil aller reinen, das heißt idealen oder sogar schon mathematischen, Formäquivalenzen oder Isomorphien. Eine Darstellung von strukturellen Entwicklungen und der Formen ist freilich immer nur abstrakt, bei engem Raum entsprechend skizzenhaft.3 Die relevanten ideellen Veränderungsprozesse, wie sie die Universität Leipzig bis heute durchlaufen hat, werden dabei ins Verhältnis gesetzt zur Frage nach der gesellschaftlichen Funktion von Bildung und Wissenschaft in sich wandelnden politischen Konstellationen. Das ist auch schon der Gedanke und Auftrag von Humboldts Berliner Universitätsgründung. Gegen das Ideal einer nur technischen Eliteuniversität mit dem Ziel, ein steuerbares Bürgerbeamtentum auszubilden, wie es beispielsweise heute noch die Grandes Écoles verfolgen,4 steht eine Wissenschaftsauffassung, die sich durch freies Forschen und Lehren, ein kooperatives Wettbewerbsmodell und kritische Mitbestimmung auszeichnet und damit dem Projekt der Autonomie der Universität neue Leidenschaft einhaucht. 3

4

Umfangreichere Literatur zur Geschichte der Universität Leipzig gibt es inzwischen in mehrbändigen Ausgaben. Vgl. unter anderem: Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009 (Gesamtausgabe in fünf Bänden). Herausgegeben im Auftrag des Rektors von der Senatskommission zur Erforschung der Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2009/2010. Detlef Döring, Cecilie Hollberg (Hg.), Erleuchtung der Welt. Sachsen und der Beginn der modernen Wissenschaften – 600 Jahre Universität Leipzig, 2 Bde., Dresden 2009; Konrad Krause, Alma mater Lipsiensis. Geschichte der Universität Leipzig von 1409 bis zur Gegenwart, Leipzig 2003; Lothar Rathmann; Siegfried Hoyer (Hg.), Alma mater Lipsiensis. Geschichte der Karl-Marx-Universität Leipzig, Leipzig 1984. Die École Supérieure fungiert als Ausbildungsstätte der Führungselite in Staat, Militär, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur und bildet dementsprechend die angesehenste Gruppe des französischen Hochschulsystems. Sie rangiert bis heute im Prestige vor den Universitäten.

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In welchem Umfang Selbstbestimmung und Freiheit an der Leipziger Universität je erreicht wurde und wird, wie viel politischer und ökonomischer Spielraum für dieses Ziel überhaupt gegeben war und ist, und was diesem Ziel im Wege stand und steht, darum geht es am Ende in diesem Beitrag. Dabei ist das Relative der jeweiligen besonderen Ausgangslage in den Blick zu nehmen, gerade um die Folgen nicht als rein zufällig zu verstehen und hinter den verschiedenen Ansätzen zu einer Hochschulreform eine Idee zu erkennen. Aus diesen Erfahrungen, nicht nur den Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, leiten sich dann auch die aktuellen Fragen zu einem europäischen und weltumspannenden Wissenschaftsprojekt ab. Es wird zu eruieren sein, welche inneren und äußeren Begrenzungen die Verwirklichung der Ursprungsidee der universitären Selbstbestimmung und Selbstverantwortung einschränken, um den Selbstbeschränkungen nationaler Provinzialität und der entsprechenden selbstverschuldeten Unmündigkeit im Blick auf eine selbstbewusste Entwicklung unserer Institutionen in Zukunft besser begegnen zu können.

2. Von der Gründung bis ins 18. Jahrhundert 2.1 Begrenzungen trotzen: Die Entstehung aus der Prager Universität Ende des 13. Jahrhunderts existiert in West- und Südeuropa schon eine blühende Hochschullandschaft. Mit Gründung der Prager Universität durch den böhmischen und zugleich römisch-deutschen König5 Karl IV. zieht 1348 der mitteleuropäische Raum nach; 1364 wird das Studium Universale in Krakau, 1365 in Wien, 1379 die Hohe Schule in Erfurt noch vor der in Heidelberg (1386) und Köln (1388) gegründet. Ein halbes Jahrhundert später markieren die machtpolitischen und hochschulpolitischen Entwicklungen in Prag den Ausgangspunkt der Entwicklungen, die zur Hochschulgründung in Leipzig (1409) führen.6 Am Anfang der Leipziger Universitätsgründung steht ein Machtkampf um nationale Vorherrschaft und Pfründe. Der entlädt sich nicht in Leipzig, sondern in Prag: Gegen Mittag des 9. Mai 1409 dringt der königliche Kommissar Nikolas Lobkowitz unter dem Schutz königlicher Wachen und unter Begleitung von Prager Ratsherren in den großen Saal der Artistenfakultät der Prager Karlsuniversität ein. Im Auftrag des böhmischen Königs Wenzel IV. nimmt er dem deutschen Rektor Henning Boltenhagen die Matrikelhefte, Siegel und Schlüssel ab.7 Boltenhagen und der Dekan der Artistenfakultät, Albert Bärentrapp, werden gewaltsam abgesetzt und die Universität von königlich-böhmischen Kommissaren übernommen. In der folgenden Zeit werden die deutschen Studenten und Lehrkräfte mehr und mehr ins Abseits gedrängt. Sie sehen keine andere Wahl, als Prag zu verlassen.8 5 6 7 8

Den Titel römisch-deutscher König trug ein Herrscher als Interimstitel in der Zeit von der Wahl zum König bis zur Kaiserkrönung. Es war also der Titel für gewählte Könige, die noch nicht zum Kaiser gekrönt wurden. Vgl. Siegfried Hoyer, Der Auszug der deutschen Studenten aus Prag und die Gründung der Universität Leipzig, Leipzig 1960. Vgl. Uwe Hauser, Jan Hus. Die Wahrheit siegt, Karlsruhe 2014, S. 21. Vgl. Siegfried Hoyer, Der Auszug der deutschen Studenten aus Prag.

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Ebenso wie dieser turbulente Beginn der Leipziger Universität spiegelt ihr struktureller Wandel über die Jahrhunderte meist auch die politischen Umbrüche der jeweiligen Zeit wieder. So geht dem Auszug der Magister und Studenten aus Prag 1409 eine politische Entscheidung Karls IV. voraus, die tief in die Geschichte des alten römisch-deutschen Reiches hineinreicht. Karl IV. stammt aus dem Geschlecht der Luxemburger. Diese unterhielten lange Zeit gute Kontakte zum französischen Hof und teilten die dort hochgehaltenen Bildungsideale. So erhält Karl in Paris eine für damalige Verhältnisse umfangreiche Erziehung und Bildung. Schon als junger Mann kann er daher auch in die machtpolitischen Verhältnisse des alten römisch-deutschen Reiches eingreifen. Mit seiner Verpfändungs- und Hausmachtpolitik9 erwirbt sich Karl IV., der zu jener Zeit sowohl römisch-deutscher König, König von Böhmen und König von Italien ist, 1355 den Kaisertitel und verzichtet im Gegenzug auf eine Wiederaufnahme der alten Italienpolitik im staufischen Stil. Prag erlebt dabei als Hauptstadt des Heiligen Römischen Reiches in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts sowohl politisch als auch wirtschaftlich und kulturell eine Hochzeit. So erteilt Papst Clemens VI. der Stadt 1347 auch das Privileg zur Gründung einer Universität.10 Diese wird ein Jahr später auch tatsächlich nach Pariser und neapolitanischem Vorbild in Prag gegründet. Damit wird die Alma Mater Carolina die erste Universität im östlichen Mitteleuropa. Karl vollbringt zugleich noch etwas anderes: Er macht seine Residenz Prag mit seiner umfangreichen Baupolitik zur „Goldenen Stadt“. Die Stadt wird damit nicht nur zur Hauptstadt des Heiligen Römischen Reiches (Sacrum Romanum Imperium), sondern zugleich zu einem der wichtigsten geistigen und kulturellen Zentren der Zeit.11 Künste und Wissenschaften blühen auf. Auch territorial vergrößert er sein Reich. Karls Heirat mit der Enkelin des polnischen Königs Kasimir soll den alten böhmisch-polnischen Konflikt beilegen. So wird Schlesien während Karls Amtszeit endgültig in den böhmischen Herrschaftsverband eingegliedert. Die Karlsuniversität entwickelt schnell internationale Bedeutung. Da sie die erste römisch-deutsche Universität nordöstlich der Alpen ist, ist ihr Einzugsgebiet anfangs enorm. Die Universität zieht nicht nur Studenten aus Böhmen, sondern auch aus Sachsen, Bayern, Schlesien und dem übrigen Gebiet des Heiligen Römischen Reiches sowie aus Frankreich, England und Italien an. Die Magister und Scholaren werden ihrer Herkunft nach den vier „nationes“12 9

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„Während der Judenpogrome in Deutschland im Jahr 1349, den so genannten Pestpogromen, machte sich Karl IV. der Mitwisserschaft schuldig. Um seine Schulden zu tilgen, verpfändete er das königliche Judenregal unter anderem nach Frankfurt am Main.“ (de.wikipedia.org/wiki/Karl_IV._(HRR), aufgerufen am 14.10.2019). Es trug als Steuer auch zur Finanzierung des Herrscherhauses bei. Damit bricht zugleich der kaiserliche Schutz für Juden zusammen. Vgl. František Graus, Pest. Geißler. Judenmorde. Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 86, Göttingen 1987. Den Stiftungsbrief unterzeichnete Karl IV. in seiner Eigenschaft als böhmischer König. Im Namen des Heiligen Römischen Reiches bestätigte er durch das Eisenacher Diplom vom 14. Januar 1349 das Privileg zur Errichtung einer Universität. Vgl. Wenzel Wladiwoj Tomek, Geschichte der Prager Universität. Zur Feier der fünfhundertjährigen Gründung verfasst, Prag 1849, S. 4. Davon zeugt noch heute die Inschrift „Praga Caput Regni“ am Altstädter Rathaus in Prag. „Nationes“ waren territorial gegliederte Korporationen von Studenten und Dozenten an Universitäten, die vor allem als Schutzbünde dienten. Aus ihnen entwickelte sich im 19. Jahrhundert im deutschen Sprachraum das studentische Verbindungswesen. Vgl. Sabine Schumann, Die „nationes“ an den Uni-

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zugeordnet: Böhmen, Polen, Bayern und Sachsen.13 Mit dieser Einteilung folgt die Karlsuniversität dem Pariser Modell der vier Himmelsrichtungen.14 Jede dieser „nationes“ hat ihre besonderen Statuten, besondere Beamte und einen Vorsteher. Diese Prokuratoren wählen den Rektor. Nur diejenigen dürfen Lehrer werden, die vom Bischof eine Lizenz dafür erhalten. Jede „Nation“ bekommt eine Stimme, die bei Abstimmungsfragen bezüglich universitärer Entscheidungen zählt. Mit der Entstehung von zunftartigen Verbänden, zunächst in Theologie, Jurisprudenz und Medizin, werden später die „nationes“ von den Fakultäten allmählich abgelöst. Deren Vorrecht ist es, selbständig akademische Grade zu verleihen. Die allerersten Universitäten schlossen sich noch an bestehende Kloster- und Domschulen an. Außerdem gab es, vor allem im späteren Mittelalter, viele lehrende Wandermönche. Eine zunehmend um ihrer selbst willen und nicht mehr für die kirchliche Ausbildung betriebene Wissenschaft entsteht erst im 12. und 13. Jahrhundert, allerdings zunächst regional beschränkt. Um 1155 erlässt Kaiser Friedrich I. (Barbarossa) ein Schutzprivileg für die ‚Wissenschaft‘, das Scholarenprivileg (Authentica Habita). Danach soll nicht mehr jeder unkontrolliert sein ‚Wissen‘ verbreiten. Vielmehr soll die Ausbildung von einem Fachpersonal (auch politisch) gelenkt werden. Das Wissen brauchen die Herrschenden, auch die päpstliche Kurie, insbesondere für Rechtswesen und Finanzverwaltung. Außerdem ist das Theologiestudium Voraussetzung für das pädagogische Lehrpersonal überhaupt. Am Anfang der Leipziger und Prager Universitätsgeschichte stehen aber nicht nur politische und wirtschaftliche Interessen des Königtums und der Kirche, sondern auch Emanzipationsbestrebungen der Lehrer im Sinne eines Freimachens aus diversen religiös-konfessionellen und politischen Zwängen. Daher ringen die Gelehrten bereits im 13. Jahrhundert um (partielle) Autonomie, etwa bei der Gestaltung der Lehrinhalte oder bei der Beurteilung von Wissensansprüchen. Wie schnell oder schleppend diese Entwicklung im mittelalterlichen Mitteleuropa aus heutiger Sicht vorangeht, hängt von der Perspektive der Urteilenden und ihrer Interessen ab und ist daher keine Sache ‚ohne Zorn und Eifer‘, sondern in der Regel unsere anachronistische Projektion. Immerhin ist klar, dass die Prager Universität bis ins 15. Jahrhundert hinein stark scholastisch geprägt ist. Bei allem, was Karl IV. bei der Gründung der Prager Universität vom Pariser Vorbild übernimmt, ist doch eines neu: Diese Universität wird von einem Herrscher gegründet und entwickelt sich nicht aus Klosterschulen wie die Vorgängeruniversitäten in Bologna, Paris, Oxford oder Salerno. An der Karlsuniversität Prag gibt es seit 1359 auch erste selbständige

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versitäten Prag, Leipzig und Wien. Ein Beitrag zur älteren Universitätsgeschichte, Berlin 1974. Andere Nationalitäten ordneten sich diesen „Nationes“ zu, so zählten zum Beispiel zu den Böhmen auch die Herrnhuter, Südslawen und Ungarn, zu den Bayern zählen auch die Österreicher, Schwaben, Franken und Rheinländer und zu den Sachsen neben den Meißnern und Sachsen auch die Dänen und Schweden. Vgl. Renate Dix, Frühgeschichte der Prager Universität. Gründung, Aufbau und Organisation 1348–1409, Bonn 1988. Das Pariser Prinzip der vier „nationes“ setzte sich im 13. Jahrhundert allgemein in Europa durch. So gab es an der Sorbonne die englische „Nation“ für die Nord- und Osteuropäer, außerdem die normannische, die pikardische und die gallische „Nation“. In Wien (gegründet 1365) gab es die österreichische, rheinische, ungarische und sächsische „Nation“. In Leipzig (gegründet 1409) gab es die meißnische, sächsische, bayrische und polnische „Nation“. Vgl. Sabine Schuhmann, Die „nationes“ an den Universitäten Prag, Wien und Leipzig. Ein Beitrag zur älteren Universitätsgeschichte, Berlin 1974.

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Graduierungen. Um die Stimmenverhältnisse der „nationes“ entzündet sich oft Streit, stehen damit doch auch immer Machtverhältnisse auf dem Spiel. So entscheiden die Verhältnisse der „nationes“ auch über kirchenpolitische Fragen, die für die gesamte spätmittelalterliche Gesellschaft damals folgenreich sein kann. Damit greifen kirchenpolitische Interessen im Gewande der Frage nach „nationaler“ Vorherrschaft oder Autonomie schon damals in den Universitätsalltag ein. In Prag spitzen sich die Konflikte am Ende des 14. Jahrhunderts zu, weil der böhmische König Wenzel (Václav) IV., Sohn Karls IV., mit den drei nichtböhmischen Universitätsnationen in Streit über die Beschickung des in Pisa geplanten Konzils und damit um seinen Machtbereich gerät. Durch die Veränderung der quantitativen Verhältnisse in den Gremien der Karlsuniversität versucht Wenzel IV., das Machtgefüge zu seinen Gunsten zu kippen. Er will sich auf diese Weise die Unterstützung der Prager Universität sichern, um beim Konzil in Pisa möglichst seine verlorene Kaiserschaft von Ruprecht von der Pfalz zurückzuerhalten.15 Daher befiehlt er, der einheimischen „Nation“ der Böhmen drei Stimmen zuzusprechen und den „Ausländern“ (Sachsen, Bayern und Polen) zusammen nur eine Stimme. Mit diesem Coup greift der König weit in die bereits gewonnenen Freiheiten der Universität ein, was vor allem die privilegierten ‚deutschen‘ Professoren und ihre Schüler als Gefährdung ihres Status begreifen. In Pisa versucht eine Gruppe von Kardinälen inzwischen, die Spaltung der Kirche, das abendländische Schisma, zu beseitigen.16 Denn dieses spaltet nicht nur die Kirche, sondern schwächt sie auch derart, dass sich in ihren Augen „ketzerisches“ Gedankengut zunehmend breitmacht. Angeprangert wird von Seiten der gesellschaftlichen Reformer (wie Jan Hus) vor allem der moralische Verfall innerhalb der Kirche. Die in Pisa versammelten Kardinäle setzen Papst Gregor XII. und seinen Gegenpapst Benedikt XIII. ab und wählen einen neuen (Alexander V.), der die Spaltung der Kirche überwinden soll. Dazu brauchen sie aber auch die weltliche Unterstützung des böhmischen Königs.17 Wenzel erklärt sich bereit, das Konzil von Pisa zu unterstützen, will aber bis zur endgültigen Beschlussfassung des Konzils beiden Päpsten gegenüber Neutralität wahren, während die ‚deutschen‘ „nationes“ zusammen mit Erzbischof Zbyněk am römischen Papst Gregor XII. 15

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Nach dem Tod von Kaiser Karl IV. übernahm sein Sohn Wenzel die Regierung und schaffte es zunächst, sich angesichts rivalisierender Fürsten, Ritterbruderschaften und Städtebünde zu positionieren. Später aber setzten ihn mehrere Kurfürsten (20. August 1400) ab und wählten Pfalzgraf Ruprecht, anerkannt auch durch den Papst. Vgl. Alois Gerlich, Habsburg-Luxemburg-Wittelsbach im Kampf um die Deutsche Königskrone. Studien zur Vorgeschichte des Königtums Ruprechts von der Pfalz, Wiesbaden 1960. Vgl. Das Konzil (oder besser die Synode) von Pisa war eine Kirchenversammlung, die zur Aufgabe hatte, das abendländische Schisma zwischen den in Rom und in Avignon residierenden Päpsten, das seit der Doppelwahl 1378 bestand, aufzuheben. Mehrere Anläufe zur Lösung der Papstfrage scheiterten zum einen an der unnachgiebigen Haltung der jeweiligen Päpste, zum anderen, weil sich zunächst keine weltliche Autorität fand, die hier eine Klärung herbeiführen konnte. Die Situation blieb also über mehrere Jahrzehnte unbefriedigend und schadete dem Ansehen des Papsttums, sodass durch das Schisma auch in ihren Augen „ketzerische“ Strömungen, die den moralischen Verfall der Kirche beklagten (John Wyclif in England, Jan Hus in Böhmen), Auftrieb bekamen. Vgl. Heribert Müller, Johannes Helmrath (Hg.), Die Konzilien von Pisa (1409), Konstanz (1414–1418) und Basel (1431–1449). Institution und Personen, Stuttgart 2007. Vgl. Renate Dix, Frühgeschichte der Prager Universität.

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festhielten. Vor diesem Hintergrund erlässt Wenzel das Dekret, das das Stimmenverhältnis der „nationes“ in der Universität kippen soll. Da die drei nicht-böhmischen „nationes“ eine neue Rektorenwahl auf der Basis des im Kuttenberger Dekret18 festgelegten Stimmenverhältnisses sabotieren, wird am 9. Mai 1409 zunächst Zdenko von Laboun die Rektoreninsignien übergeben19 und nur aus den Reihen der böhmischen „Nation“ ein neuer Rektor und ein neuer Dekan der Artistenfakultät eingesetzt.20 Als Folge der Absetzung des ‚deutschen Rektors‘ verlassen die Angehörigen der drei nichtböhmischen „Nationen“ Prag, „jeder nach seiner Richtung“, wie es in einer zeitgenössischen Chronik heißt.21 Das sind 80 Prozent des Prager Lehrpersonals und der Studenten. Dabei brodelt es schon länger in Böhmen.22 Die Universität ist nur einer der Austragungsorte dieses politischen Konfliktes. Außerdem verbreitet Jan Hus23 mit einer Gruppe von Universitätsangehörigen der böhmischen „Nation“ die als ketzerisch verurteilten Ansichten des englischen Reformers John Wyclif24 und wird dabei von den konservativen deutschen Magistern bekämpft. Diese rekrutieren sich aus der kleineren, aber höhergestellten Bürgerschaft und sind nicht willens, ihre Privilegien freiwillig aus der Hand zu geben.25 Gegenüber den drei 18

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An der Durchsetzung des Kuttenberger Dekrets war auch maßgeblich der böhmische Reformator Hieronymus von Prag beteiligt, der ebenso wie sein Mitstreiter Jan Hus die Kirche reformieren wollte und zum Mitbegründer der hussitischen Bewegung wurde. Er brachte aus Oxford Wyclifs Lehren nach Böhmen. Zdenko von Laboun (Zdeněk z Labouně), war ein Anhänger von Jan Hus und wurde auf Anweisung des Stadtrates im Januar 1410 inhaftiert, gefoltert und schließlich als Rektor entlassen. Sein Nachfolger wurde kurze Zeit später Jan Hus, der später auf dem Konzil von Konstanz als Ketzer verbrannt wurde. Vgl. Franz Häuser (Hg.), Von der Moldau an die Pleiße. Konstantin Ritter von Höfler (Hg.), Chronicon Lipsiense, in: Geschichtsschreiber der hussitischen Bewegung in Böhmen, Teil 1, Wien 1956, S. 10. Bereits 1385 gab es einen Auszug kleineren Umfangs aus Prag. Jan Hus (um 1369–1415) war christlicher Reformer, Dekan der philosophischen Fakultät und 1409/10 Rektor der Prager Universität und auch Wanderprediger. Mit seinen Bibelübersetzungen ins Tschechisch-Böhmische wurde er zum Vorläufer des Reformators Martin Luther, der später sagte: „[W]ir sind alle unbewußt Hussiten“ (Marin Luther, Brief an Spalatin [ca. 14. Februar 1520], in: Ders.: Briefe. Ausgewählte Schriften. Sechster Band. Herausgegeben von Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling, Frankfurt am Main 1982, S. 25.) Außerdem veränderte er als Hochschullehrer mit der Entwicklung der diakritischen Zeichen auch die Wiedergabe der tschechischen Sprache, die bis dahin in lateinischen Lettern wiedergegeben wurde. Er trat stark für die Selbstbestimmung der Böhmer und Tschechen ein. John Wyclif war ein englischer Philosoph, Theologe und Kirchenreformer, der die Lehre von der „Macht allein durch Gnade“ proklamierte, der zufolge Gott selbst jede Autorität direkt verleiht. Wyclif bestritt den politischen Machtanspruch des Papstes und propagierte eine Art König-Gottes-Gnadentum. In seinen Werken vertrat er die völlige Unterordnung der Kirche unter den Staat. Er unterstützte den Machtwillen der weltlichen Herrscher in mehreren Prozessen gegen den Papst und forderte für Kirchenmitarbeiter ein Leben in urchristlicher Bescheidenheit. Seine Schriften wurden wegen Ketzerei auf dem Konstanzer Konzil verbrannt. Vgl. Manfred Vasold, Frühling im Mittelalter. John Wyclif und sein Jahrhundert, München 1984. Böhmen war zu jener Zeit das einzige Königreich im Heiligen Römischen Reich, Prag war zugleich kaiserliche Residenzstadt. Wenn diese Ämter nicht gerade in Personalunion zusammenfielen, gab es neben dem deutschen König und/oder „römischen“ Kaiser den böhmischen König. Die Bevölkerungsmehrheit in Böhmen stellten Tschechen. Aber die Deutsch-Böhmen stellten den Großteil der Oberschicht, wovon viele hohe Kirchenämter innehatten. Wenn Jan Hus gegen die Missstände im Klerus predigte, traf dies entsprechend viele Vertreter der deutschen „Nation“. Vgl. Peter Hilsch, Johannes Hus. Prediger Gottes und Ketzer, Regensburg 1999.

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nicht-böhmischen „nationes“, die in ihrer Einstellung eher dem Realismus von Thomas von Aquin und Albert dem Großen anhängen, vertreten Wyclifs Anhänger eine nominalistische Philosophie, die alle Allgemeinbegriffe wie „Mensch“ oder „Gott“ als verstandesmäßige Begriffsbildungen statt als ontologische Existenzen auffasst. Nach Wenzels Dekret vom 18. Januar 1409 erhalten die Anhänger Wyclifts in Prag einen derartigen Auftrieb und Zulauf, dass die Karlsuniversität in den folgenden Jahren zum Zentrum der Hussitenbewegung wird.26 Sie erringt später, im Kuttenberger Religionsfrieden 1485, erstmals in der Geschichte Europas, eine landesgesetzlich verankerte Konfessionsfreiheit für Böhmen. Mitte Mai 1409 ziehen die „deutschen“ und „polnischen“ Lehrkräfte und Studenten von Prag nach Leipzig aus.27 Markgraf von Meißen, Friedrich IV., bemühte sich im Vorfeld schon länger um das päpstliche Privileg zur Gründung einer Universität in Leipzig. Er sieht darin die Möglichkeit, seine Politik zur Entwicklung des wettinischen Herrschaftsbereiches zu fördern. Ende 1409 kommt es zur Gründung einer neuen Universität in der Markgrafschaft Meißen, der Alma Mater Lipsiensis.

2.2 Grenzen überschreiten: Die Gründung der Universität Leipzig Die Gründungen von Universitäten zunächst in den letzten Dekaden des 14. und den ersten des 15. Jahrhunderts und dann erst recht nach der Mitte des 15. Jahrhunderts in Europa zeigen, dass die Bedeutung dieser Körperschaften für das geistige Leben der Völker gewachsen ist. Die Päpste und Kaiser übernehmen die Schutzherrschaft und damit die Kontrolle über die neuen Anstalt. Sie verleihen den Universitäten damit das Recht, eine juristische Körperschaft zu sein und einen Doktorgrad zu verleihen. Damit entsteht auch das Prinzip der akademischen Gerichtsbarkeit. Es erlaubt den Universitäten eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber lokalen Mächten und Machthabern und gleichzeitig eine Loyalität gegenüber Kaiser und/ oder Papst. Jetzt aber gewinnen auch lokale Mächte oder Städte Einfluss auf die Universitäten. Das vorrangige Ziel der in Leipzig angekommenen akademischen Exilanten aus Prag ist die Sicherung der inzwischen gewonnenen Rechte. Dabei stellt das Promotionsrecht ein Hauptmerkmal bei der Konstituierung der neuen Universität dar. Die von Universitäten verliehenen Grade verbinden nicht nur die einzeln existierenden hohen Schulen miteinander, sondern begründen auch innerhalb des christlichen Abendlandes eine wachsende soziale Schicht, nämlich die des Gelehrtenstandes. Mit dem päpstlichen Privileg, promovieren zu dürfen, erfolgt also zugleich die soziale Einordnung der Titelträger in die Ständehierarchie der Gesellschaft. Es sichert seinen Inhabern zudem gewisse Vorrechte zu und sorgt für eine 26

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Nachdem Jan Hus 1415 verbrannt wurde, versuchte Wenzel IV., die empörten hussitischen Anhänger von Kirchen- und Staatsämtern auszugrenzen. Dies führte zum Aufstand und dem ersten Prager Fenstersturz, bei dem die Hussiten das Rathaus stürmten und einige Ratsherren aus den Fenstern warfen. Bis 1434 folgten mehrere Hussitenkriege. Einige deutschsprachige Lehrer, die Anhänger der Hussiten waren, wie Peter von Dresden, Nikolaus und Friedrich von Dresden, übernahmen in Dresden die Kreuzschule. Vgl. Renate Dix, Frühgeschichte der Prager Universität.

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formale Vergleichbarkeit der akademischen Grade. Das bewirkt auch ein Gemeinschaftsgefühl der Gelehrten, unabhängig von ihrem Fach, ihrem Alter oder ihrer Herkunft.28 Leipzig ist damals ein in der damaligen Markgrafschaft Meißen gelegenes Handelszentrum. Nikolaus Lubich, ein aus dem Eisenacher Bürgertum stammender Hofmann, der in Wien und Prag studierte und als ehemaliger Prager Bekannte dort hat, übernimmt eine Vermittlerrolle zwischen Rom und dem Markgrafen. Lubich ist von 1389–1401 als Prokurator an der Kurie in Rom tätig, jetzt auch als Kanzler des Meißner Markgrafen. Er erwirkt vom neu gewählten Papst, Alexander V., die Bewilligung für ein Studium Generale in Leipzig. Mit der Bestätigungsbulle vom 9. September 1409 wird die Universität Leipzig offiziell anerkannt. Nur drei Monate später, am 2. Dezember 1409, erfolgt in Anwesenheit der wettinischen Landesherren im Thomaskloster die feierliche Eröffnung. Die Bestätigungsbulle bestimmt den Merseburger Bischof, in dessen Diözese Leipzig liegt, zum Kanzler der Universität.29 Sie weist den Bischof und das Naumburger Domkapitel an, die Magister, Doktoren und Scholaren hinsichtlich der ihnen zustehenden Rechte, Einkünfte und Güter zu schützen und zu unterstützen. Diese Bulle enthält auch Hinweise auf Anstrengungen zur Sicherung des Lehrbetriebes einer so genannten Artistenfakultät in Leipzig. Der Besuch einer Artistenfakultät, der späteren Philosophischen Fakultät, ermöglicht erstmals einer breiteren Bevölkerungsschicht den Erwerb einer elementaren Bildung, insofern sie über minimale Lateinkenntnisse verfügt. An solchen Artistenfakultäten werden üblicherweise die „sieben freien Künste“ gelehrt und „aristotelische Schriften“ gelesen.30 Diese Ausbildung propädeutischer Fähigkeiten bereitet die Studierenden auf das Studium an einer der drei höheren Fakultäten – nämlich der Theologie, Jurisprudenz und Medizin – sowie auf den Lehrerberuf vor.31 Am 2. Dezember 1409 wird Johannes Otto von Münsterberg aus der polnischen Universitätsnation zum Rektor gewählt und eine Universitätssatzung verlesen. Noch vor der offiziellen Eröffnung der Universität finden bereits erste Examen statt. So wird der Anspruch auf Gleichberechtigung mit den etablierten Universitäten bekräftigt und die innere Lebensfähigkeit der Fakultäten demonstriert. Eine der wichtigsten Verkündigungen bei der Eröffnung der Universität Leipzig ist deshalb auch die Zusage, dass die in Prag erworbenen Grade ohne weitere Prüfungen oder Gebühren anerkannt werden und alle bereits in Prag erbrachten Vorleistungen für akademische Graduierungen an der Leipziger Universität gültig sind.32 Zunächst bleibt die Einteilung in „nationes“ auch in Leipzig erhalten. Es werden die Universitätsmitglieder also nach Herkunft in sächsische, bayrische und polnischen „Nation“ unterteilt. Hinzu kommt die neu entstandene „meißnische Nation“. Im Wintersemester 28 29 30 31

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Vgl. Ingrid Baumgärtner, „De privilegiis doctorum“. Über Gelehrenstand und Doktorwürde im späten Mittelalter, in: Laetitia Boehm et al. (Hg.), Historisches Jahrbuch, 106. Jg., München 1986, S. 298–332. Bruno Stübel (Hg.), Urkundenbuch der Universität Leipzig von 1409 bis 1555. Im Auftrag der Königlich Sächsischen Staatsregierung, Leipzig 1879, 2. Hauptteil, Bd. 9, Nr. 1, S. 1 f. Die sieben freien Künste waren Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik. Vgl. Martin Kintzinger, Die Artisten im Streit der Fakultäten. Vom Nutzen der Wissenschaft zwischen Mittelalter und Moderne, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte, Bd. 4, 2001, S. 177–194; sowie Gordon Leff, Die artes liberales. 1. Das trivium und die drei Philosophien, in: Walter Rüegg (Hg.), Geschichte der Universität in Europa, Bd. 1: Mittelalter, München 1993, S. 289–302. Vgl. Konrad Krause, Alma mater Lipsiensis.

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1409/1410 lehren an der Leipziger Universität 43 Magister und studieren 369 Studenten. Davon kommt etwa die Hälfte aus Prag. Die zweite Hälfte setzt sich aus Neuimmatrikulierten und aus Studierenden anderen Universitäten zusammen, die nach Leipzig wechseln.33 Mit den Universitätsgründungen in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts wird die von Karl IV. im Sinne der westeuropäischen Vorbilder Paris und Bologna konzipierte Unterteilung der Studierenden und Universitätsangehörigen nach ihrer Herkunft in „nationes“ jedoch zunehmend obsolet, da nun immer mehr Studenten in den heimatlichen Ländern studieren. Für Leipzig jedoch wird die Aufteilung zunächst festgeschrieben, um zu demonstrieren, dass die verschiedenen „nationes“ gleiche Rechte „bei Versammlungen, bei Prüfungen in der Artistenfakultät, bei Vorteilen und Genüssen (von Pfründen usw.) sowie anderen Verfügungen, die […] getroffen werden dürfen“34, inne haben, also auch bei der Wahl des Rektors, der Mitglieder des Consiliums und bei Berufungen. Da nun jede „Nation“ eine festgelegte Anzahl von Pfründen – das heißt dotierte Plätze in den beiden gestifteten Kollegien sowie Verköstigung und den Bezug von Lebenshaltungskosten – erhält, werden – im Unterschied zu Prag – die Befugnisse der Akademiker auf den wichtigen Bereich der Pfründenbesetzungen ausgedehnt. Dass sich eine feste Einteilung auf Dauer nicht halten kann, liegt angesichts des Zuzugs Landesfremder nach Leipzig auf der Hand. Schon bald nach Gründung der Universität Leipzig kommt es daher auch zu ersten Differenzen über die Abgrenzung von Gebieten und einem Hin-und-her-Schieben von Professoren zu bestimmten „nationes“ und damit zu einem Rütteln an etablierten Machtverhältnissen.35 Die aus Paritätsüberlegungen geronnenen Festlegungen führen schließlich zu Missverhältnissen, die gerade ausgeräumt werden sollten. Doch von den inneren Disputen ist außerhalb der Universität wenig zu spüren. Insgesamt profitiert die Stadt Leipzig von der Universitätsgründung. Die Ansiedlung der Universität hebt bei den Bürgern das Ansehen ihrer Gründer und auch das der Stadt im Reichsgebiet. Sie ist ja jetzt nach Erfurt die zweite Universität in der Mitte des Reiches. Für die Wahl Leipzigs zum Sitz der Universität sprach wohl weniger die geographische Lage Leipzigs als seine Rolle als Handelsstadt: Die Bürger verfügten bereits zu Beginn des 15. Jahrhunderts über erhebliche Geldmittel; und die Stadt Leipzig ist mit etwa 5.000 Einwohnern in dieser Zeit hinter Erfurt mit 18.000 Einwohnern die bedeutendste Stadt in der Markgrafschaft Meißen.36 Hier verbinden sich Geld, relative Standesoffenheit und Bildung zu einer vielversprechenden Ausgangssituation, von der sich sowohl die Stadt als auch die Universität Vorteile erhoffen. Vom Rat der Stadt wird der Universität ein Gebäude in der Petersstraße übereignet und die Landesherren, Friedrich der Streitbare und Wilhelm der Reiche, bewilligen der Universität einen Jahresetat von 500 Gulden für 20 Magister. Das heißt: Auf jede „Universitätsna33

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Vgl. Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009 (Gesamtausgabe in fünf Bänden). Herausgegeben im Auftrag des Rektors von der Senatskommission zur Erforschung der Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2009/2010., Bd. 1: Spätes Mittelalter und frühe Neuzeit 1409–1830/31. Bruno Stübel, Urkundenbuch der Universität Leipzig, Leipzig 1879, Nr. 2, S. 4. 1411 legte der Markgraf den territorialen Bereich der meißnischen Nation auf die wettinischen Lande und das Bistum Meißen fest, sodass nun Besucher aus der zur Krone Böhmens gehörenden Lausitz nicht mehr zur polnischen, sondern zur meißnischen Nation zählten. Vgl. Ingo Bergfeld, Leipzig. Eine kurze Stadtgeschichte, Erfurt 2002.

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tion“ kommen fünf Magister.37 Die übrigen müssen ihren Lebensunterhalt aus Studien- und Prüfungsgebühren sowie anderen Einkünften selbst bestreiten. Der Lehrbetrieb findet in so genannten Kollegien statt. Dafür bekommt die Universität zwei abgabefreie Häuser in der Ritterstraße bereitgestellt, nämlich für die Einrichtung eines Großen und eines Kleinen Fürstenkollegs. Weitere drei Stiftungsstellen kommen mit dem sog. Frauenkolleg hinzu. Diese sind so genannte Professuren alter Stiftung, die bis 1830 mit Stiftungsprivilegien verbunden sind und nicht unmittelbar vom Universitätsetat abhängen.38 Die Stadt und die umliegenden Fürstentümer versorgen die Universitätsangestellten: Im großen Fürstenkolleg sind für zwölf Magister je 30 Gulden pro Jahr vorgesehen, einer von ihnen muss Theologe sein. Er erhält die doppelte Summe. Das kleine Fürstenkolleg bietet acht Magistern je zwölf Gulden. Außerdem nutzen diese 20 Kollegiaten die erworbenen Gebäude für Wohnung, Lektionen und Disputationen mit den Studenten. Die Kolleggebäude genießen Steuerfreiheit gegenüber der Stadt und stehen außerhalb der städtischen Gerichtsbarkeit.39 In der Folgezeit entstehen neue Fakultäten wie die juristische, die medizinische und die theologische nach altem Vorbild.40 Neben dem Großen und dem Kleinen Fürstenkolleg entsteht 1422 ein drittes Kolleg, das Frauenkolleg (Collegium beatae Mariae virginis) – benannt nach der gegenüberliegenden Marienkapelle, deren Patronin auch Schutzheilige der Polen und Schlesier ist. Die wirtschaftliche Fundierung dieses Kollegs besteht in Pfründen, die Magister der polnischen Nation bereits vor 1409 in Prag erworben und mit nach Leipzig gebracht haben. Diese werden teilweise auch privat genutzt. So geht zum Beispiel die Hälfte der Zinseinnahmen aus dem Dorf Groß-Tyntz in Schlesien an den Gründungsrektor Münsterberg bis zu dessen Tod (1426). Die andere Hälfte dieser Einkünfte empfängt der Magister Johann Hofmann bis zu dessen Tod (1442), obwohl er zunächst auch eine Stelle im Großen Fürstenkolleg innehat.41 Das Frauenkolleg sichert vier Magistern – drei Schlesiern und einem Preußen – die Versorgung. Zu den Dotierungen der Landesherren und dem Frauenkolleg kommen noch sechs Kanonikate, also kirchliche Pfründen aus den umliegenden Bistümern Naumburg, Zeitz und Meißen hinzu. Diese nehmen Theologen oder Kirchenrechtler in Anspruch. Die polnische Nation umfasst Lehrkräfte aus einer Reihe von mittel- und nordeuropäischen Gebieten: aus dem Polen der Jagiellonen und Schlesien, aber auch aus Böhmen und Mähren, Litauen, Russland und Österreich, ferner aus der Ober- und Niederlausitz. Später 37 38

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Diese Regelung galt als ein Provisorium. Im Wesentlichen kam die ausgeworfene Summe dem Großen und Kleinen Fürstenkolleg zugute. Vgl. Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009 (Gesamtausgabe in fünf Bänden). Herausgegeben im Auftrag des Rektors von der Senatskommission zur Erforschung der Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2009/2010. Bd. 5: Geschichte der Leipziger Universitätsbauten im urbanen Kontext, Leipzig 2009. Vgl. Siegfried Hoyer, Die scholastische Universität bis 1480, in: Lothar Rathmann; Siegfried Hoyer (Hg.), Alma mater Lipsiensis, S. 15. Vgl. www.research.uni-leipzig.de/agintern/baugeschichteuni/koll.htm, aufgerufen am 31.03.2018. Vgl. Marian Biskup, Die Bedeutung der Leipziger Universität für das intellektuelle Leben des polnischen Staates im XV. bis zur Mitte des XVI. Jahrhunderts, in: Karl-Marx-Universität Leipzig (Hg.), Leipziger Beiträge zur Universitätsgeschichte, Bd. 2, Leipzig 1988, S. 5–17; sowie Siegfried Hoyer, Beate Kusche, „Ego collegiatus“ – Die Magisterkollegien an der Universität Leipzig von 1409 bis zur Einführung der Reformation 1539. Eine struktur- und personengeschichtliche Untersuchung, 2 Bde., Evangelische Verlagsanstalt Leipzig 2009.

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kommen noch Schweden und Ungarn hinzu.42 Wie die anderen „Nationen“ ist auch die „polnische“ also ein Gemisch aus vielen europäischen Gebieten. Zahlreiche Leipziger Studenten stammen aus „Ordenspreußen“, das seit dem 13. Jahrhundert als Patrimonium Sancti Petri anerkannt ist und als päpstliches Lehen gilt.43 Leipzig hat einige Zeit mehr polnische Studierende als zum Beispiel die Universität Krakau,44 die erst ab dem Zweiten Thorner Frieden, 1466, einen größeren Zuwachs an polnischen Studenten bekommt. Damit spielt Leipzig als Universitätsstandort für das intellektuelle Leben des Königreichs Polen im Spätmittelalter und am Beginn der Renaissance eine große Rolle.45 Zwei Jahre nach Eröffnung der Leipziger Universität, 1411, erhält sie noch ein viertes Kolleg, das Bernhards- oder auch Bernhardinerkolleg, für studierende Mönche des Zisterzienserordens, was den halbkirchlichen Charakter des Studium Generale dokumentiert. Eigens für dieses Kolleg wird am östlichen Ende des Brühls in Leipzig neben der Marienkapelle auf dem Grundstück einer ehemaligen Vogtei ein Bau errichtet. Das Kolleg genießt eine Sonderstellung unter den Leipziger Kollegien. Das Kollegleben ist klösterlich ausgerichtet und wird ca. 100 Jahre lang nahezu unverändert fortgesetzt.46 Die universitäre Bildungseinrichtung in Leipzig weckt großes Interesse, zumal nicht nur Adlige ausgebildet werden, sondern auch jungen Bürgern über sie ein gesellschaftlicher Aufstieg möglich wird.47 Für den Bedarf reichen die Klosterschulen, über die Leipzig schon seit 1214 verfügt, ohnhin nicht mehr aus.48 Den ehemaligen Pragenses wird die gebührenfreie Inskription gewährt. Die überwiegende Zahl der Studenten stammt aus der „Mittelschicht“. Wer nachweisen kann, dass er weniger als zwölf Gulden im Jahr einnimmt – seine persönliche Habe an Kleidern und Büchern nicht mitgerechnet – lässt sich als Pauper in die Matrikel eintragen. Das befreit ihn zumindest von der Zahlung der Inskriptionsgebühren in Höhe von sechs Groschen, ab 1436 zehn Groschen.49 Aber die Leipziger Universität ist keine „Armenuniversität“, auch wenn die Zahl der Pauperes relativ hoch ist. Die Einschreibungs- und Prüfungsgebühren sind für alle, die es 42 43 44 45

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Vgl. Marian Biskup, Die Bedeutung der Leipziger Universität für das intellektuelle Leben des polnischen Staates., S. 7. Ebenda. Ebenda, S. 8. Die Bedeutung der „Clara Liptzk“ wird bis heute nicht gebührend gewürdigt. So ist beispielsweise der Frauenburger Kopernikuskreis ohne die Ausbildung der Studierenden der polnischen Nation an der Leipziger Universität nicht möglich gewesen. Vgl. Marian Bistrup, Die Bedeutung der Leipziger Universität für das intellektuelle Leben des polnischen Staates, S. 13. Im Zuge der Reformation wurden das Kloster 1543 aufgehoben, der Gesamtbesitz an die Stadt Leipzig verkauft und die Gebäude später abgerissen. An ihrer Stelle entstand – ganz im Nutzen für die Bürger der Stadt – eine städtische Zimmerei. Vgl. www.uni-leipzig.de/universitaet/universitaetsstiftung/stiftungsgeschichte.html, aufgerufen am 19.03.2018 Erfurt besuchten zum Beispiel zwischen 1401 und 1410 nur etwa 124 Scholaren pro Semester. Vgl. Horst Rudolf Abe, Die Frequenz der Erfurter Universität im Mittelalter, Erfurt 1956, in: Beiträge zur Geschichte der Universität Erfurt, Heft 1, S. 23. Aber es gab, wie an allen zentraleuropäischen Universitäten, auch in Leipzig Frequenzunterschiede. Der Tiefpunkt lag im Jahr 1416 mit nur 50 Einschreibungen. Die Ursachen dafür sind vielschichtig und reichen von Epidemien, Hungersnöten bis zu Kriegen. Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft., S. 19. Etwa die Klosterschule Sankt Thomas und einige Schreib- und Winkelschulen. Erler, Georg (Hg.), Codex diplomaticus Saxoniae, Hauptteil II: Die Urkunden der Städte und geistlichen Institutionen in Sachsen. Die Matrikel der Universität Leipzig, Bd. 1–3, 1885–1902, Matrikel 1, S. LIV.

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sich leisten können, nicht gering. Zwei Drittel dieser Gebühren gehen an die Universitätskasse, ein Drittel an den Rektor. Außerdem bringen einige Magister Geld mit nach Leipzig und kaufen Häuser, in denen sie Studentenunterkünfte einrichten. Auf diese Weise gelangt die Universität zu einem gewissen Vermögen.50 Ein Stipendienwesen im heutigen Sinn beginnt erst Anfang des 17. Jahrhunderts, und zwar aus öffentlichen Mitteln. Vorher gibt es vereinzelt Stiftungen aus privater Hand.51 Die Leipziger Universität verfügt so nach und nach über vergleichsweise ansehnliche eigene Möglichkeiten zur Versorgung eines Teils ihrer Universitätslehrer. Dennoch nimmt das Gefälle zwischen den versorgten und den nicht-versorgten Bakkalaren und Magistern zu, führt gelegentlich auch zu offenen Auseinandersetzungen.52 Da die Kollegiatur auf Lebenszeit verliehen wird, kommt es immer wieder zu Klagen über die schmalen Einkünfte der nachrückenden Kollegiaten.53 Das Bakkalaureat ist dabei ungefähr mit der mittleren Reife, also dem heutigen Schulabschluss der 10. Klasse vergleichbar. Dazu muss der Student ein getaufter Christ und mindestens 14 Jahre alt sein.54 Es verwundert nicht, dass oft nur die mit den nötigen Geldmitteln versehenen Scholaren die „Regelstudienzeit“ von anderthalb Jahren bis zum Bakkalaureat schaffen. Die meisten brauchen für das Propädeutikum an der Artistenfakultät zwei bis drei Jahre, manche sogar bis zu zehn Jahren. Zwar wird im späten Mittelalter vorausgesetzt, dass jeder Student lesen, schreiben und etwas Latein kann. Aber oft können diese Voraussetzungen erst im Paedagogicum geschaffen werden, das speziell für die Beseitigung dieser Wissenslücken eingerichtet wird. Aufgeteilt in Vorlesungen (lectiones), Diskussionen über die Vorlesungen (disputationes) und Übungen zur Anwendung des Gelernten (exercitium) bleibt der Lehrstoff konstant über die nächsten Jahrhunderte hinweg. Die Prüfung der Kenntnisse der Kandidaten beschränkt sich auf den Inhalt einer begrenzten Zahl von Büchern, die lateinische Umgangssprache und die Grundlagen der Grammatik. Nur fünf bis acht Prozent der Bakkalare setzen ihr Studium fort, um den Grad eines Magisters zu erwerben.55 Es reicht für viele Berufe sogar aus, gar keine Prüfungen abzu50

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Die akademischen Vermögensverwalter legten die Gelder gut am Kapitalmarkt an und investieren zumeist in sichere Hypothekendarlehen. Schon im 18. Jahrhundert fungierten die verschiedenen Universitätsstiftungen als eine Art Entwicklungsbank, denn mit dem immensen Stiftungskapital wurde die strukturelle Entwicklung des ländlichen Raumes und der Stadt Leipzig gefördert. Vgl. Geschichte der Universitätsstiftung: www.uni-leipzig.de/universitaet/universitaetsstiftung/stiftungsgeschichte.html, aufgerufen am 19.03.2018. Stipendienstiftungen in größerem Rahmen setzten in Leipzig relativ spät ein. Im Gründungsjahr gab es lediglich eine, die Wehe-Stiftung. Bis 1500 kommen zwölf Stiftungen mit 18 Stipendien unterschiedlicher Höhe dazu. Diese waren allerdings an spezifische Vergabebedingungen geknüpft. In den meisten Fällen hatten diese finanziellen Beihilfen nicht Arme oder besonders Begabte im Auge, sondern Landsleute, Familienangehörige oder Träger des gleichen Namens. Siegfried Hoyer, Die wirtschaftlichen Grundlagen., S. 16. Vgl. Ebenda. Erst 100 Jahre später durften auch zum Christentum konvertierte Juden in Leipzig studieren. Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft, S. 21. Am Anfang gingen zwei Drittel bis drei Viertel aller in Leipzig eingeschriebenen Studenten vor dem ersten Examen ab. In den Jahren 1429 bis 1432 legten nur 20 Prozent der Eingeschriebenen das Bakkalarexamen ab; und nur 3,8 Prozent erwarben zwei Jahre später den Magistergrad. Bis Ende des 15. Jahrhunderts stieg die Zahl allerdings auf 38 Prozent. Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft, S. 23.

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legen, sondern über ausreichende Grundkenntnisse zu verfügen. Die angehenden Magister jedoch müssen mindestens drei Jahre weiterstudieren und dürfen ab dem Alter von 21 Jahren den Magistergrad erwerben. Die Magister übernehmen während der zweiten Hälfte ihres Studiums einen Teil der Lehre. Sie sind Anwärter auf einen der sehr begrenzten und deshalb begehrten Professuren mit Lehrstuhl, der Position des Magister Regens. Mit den beruflichen Chancen, die sich mit einem Studium an einer Universität ergeben, verdichtet sich zwar das Netz an Universitäten und es vergrößert sich die Zahl der Studenten in Leipzig. Zwar erhält die Universität Leipzig im Verhältnis zu den Gesamteinnahmen des Landes nur einen recht bescheidenen Betrag von der Stadt. Dafür profitieren ihre Mitglieder von einigen Rechten wie dem zollfreien Ausschank von auswärtigem Bier in studentischen Herbergen, den Bursen56 oder der Versorgung mit anderen Lebensmitteln wie Brot und Fleisch, wie sie es schon in den ersten Hochschulen Frankreichs gibt.57 Die Universität ist an moderaten Lebensmittelpreisen auf dem städtischen Markt interessiert.58 Ab den 1440er-Jahren erlaubt die Universität Studenten, auch außerhalb der Bursen in der Stadt zu wohnen. Allerdings können sich solche Privatquartiere nur so genannte Standesstudenten leisten. Es entwickelt auch eine eigene universitäre Gerichtsbarkeit. Über diese kommt es z. B. zum Streit zwischen dem Bischof von Merseburg als Kanzler der Leipziger Universität und dem Rektor. Es geht um die Eingrenzung von Kompetenzen und den Modus Vivendi in der Stadt, also darum, wie mit Verfehlungen der Universitätsmitglieder umgegangen werden soll und wer wofür zuständig ist. Ein Statut von 1410 regelt schließlich die zivilen Vergehen der Universitätsangehörigen,59 wobei schon geringe Vorfälle zum Ausschluss aus der Bildungseinrichtung führen.60 Relegierte oder exkludierte Studenten müssen die Stadt verlassen, es sei denn, sie können eine Beschäftigung mit redlichem Handel oder Handwerk nachweisen. In der akademischen Männergesellschaft des 15. Jahrhunderts leben natürlich nicht nur disziplinierte Scholaren, sondern auch „Widerspenstige“ und „Rüpel“.61 Konflikte im städti56 57

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Das Wort Burse ist von dem lateinischen Wort „bursa“: dt. „Beutel“ bzw. „(Geld-)Börse“ abgeleitet. Die Bursen bezeichneten Lebensgemeinschaften, die aus einer gemeinsamen Kasse lebten und auch deren Behausung. Sie hielten sich bis ins 17. Jahrhundert hinein. Bier ist das Hauptgetränk der Zeit. Etwa 400 Bürger hatten um 1409 in Leipzig das Braurecht. Dabei brauten sie nicht nur für den eigenen Bedarf, sondern schenkten ihr Bier auch aus. Da das Leipziger Bier nicht besonders gut schmeckte, schenkten viele Gaststätten importiertes Bier aus. Auf dem lag aber Zoll. Der Rat der Stadt und die Universität gestatteten nun den zollfreien Ausschank des Fremdbieres in den Kollegien. Von dieser Vereinbarung profitierten die Leipziger Studenten und Magister, da an Bürger kein zollfreies Bier ausgeschenkt werden durfte. In einer Urkunde um 1470 beschwerte sich zum Beispiel der Rektor beim Landesherren wegen des unzureichenden Fleischangebotes in Leipzig. Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft, S. 32. Zunächst sollten leichte und schwere Körperverletzungen und Verstümmelungen geahndet werden. Zwei Jahre später kamen Waffentragen, Umhertreiben und nächtliche Ruhestörung, Spielen, Beleidigung des Rektors hinzu. Seit 1411 versuchte die Leipziger Universität das Recht zur Einkerkerung von Straftätern zu erhalten. Zur Vollstreckung der Urteile wurde oft der von der Stadt bereitgestellte KarzerTurm genutzt. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft, S. 36. Zum Beispiel Trägheit, Trunksucht, Umgang mit „liederlichen Frauen“, Diebstahl, Schulden, Widerspenstigkeit, Unbesonnenheit, Albernheit und fehlende Ehrerbietung. Vgl. Ebenda, S. 39. Aufsehen erregte zum Beispiel ein Diebstahl im Wintersemester 1482: Der Student Georg Krafft brach in die Nikolaikirche ein und stahl die dort die Kasse der Artistenfakultät. Vgl. Ebenda, S. 38.

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schen Umfeld, etwa die „Schusterfehde“62, sind daher auch ein wesentlicher Bestandteil des nicht immer glatten Weges, den Stadt und Universität bei der Gestaltung und Umgestaltung des universitären Lebens in Leipzig miteinander bewältigen. Vieles ändert sich mit dem Aufschwung der Städte.63 Weil sich das Studium an einer Universität nicht mehr allein mit theologischen, sondern auch weltlichen Dingen beschäftigt, erwartet man ein entsprechendes Verhalten der Studenten. Für die meisten zählt weniger das Zertifikat am Ende des Studium Generale als die reale Möglichkeit, in Lohn und Brot zu kommen. Der aus der Antike überkommene Wissenskanon bereitet zwar nicht direkt auf eine zukünftige Tätigkeit vor. Aber er ermöglicht es zum Beispiel, Schreiber einer Kanzlei, Lehrer einer Winkelschule zu werden. Die Landesfürsten erhoffen sich ‚Schriftgelehrte‘, nämlich Juristen, Mediziner, Theologen und Magister der freien Künste. Für die Arbeit in der Verwaltung sind Lateinkenntnisse, Rechnen, rhetorische Grundkenntnisse und eine Schulung im logischen Denken und Argumentieren geradezu Voraussetzung. Die mit dem Auszug der deutschen Magister und Studenten aus Prag vollzogene Gründung der Leipziger Universität gehört zur zweiten Welle von Universitätsgründungen in Mitteleuropa. Sie ist Folge und Ausdruck politischer Machtverschiebungen in einer Art Erneuerung der spätmittelalterlichen Gesellschaftsordnung, wie sie in Südeuropa schon früher eingesetzt hat.

2.3 Horizonte erweitern: Die Zeit des Humanismus und der Reformation Am Ende des 15. Jahrhunderts ist die Anzahl der Studierenden in Leipzig eben so hoch wie in Köln und Wien, obwohl Leipzig noch keine herausragende Lehrer vorzuweisen hat. Der scholastische Lehrbetrieb verbleibt in der tradierten Form des Studiums tradierter Stoffe.64 Die Stadt Leipzig steigt in der Zeit der Reformation aber zu einer Handels- und Finanzstadt von europäischer Bedeutung auf – an der Kreuzung zweier europäischer Fernhandelsverbindungen, der Via Regia und der Via Imperii. Gefördert wird diese Entwicklung später durch die Messeprivilegien von 1497 und 1507. Zugleich profitiert Leipzig durch seine Nähe zum Silberbergbau im Erzgebirge und zum Kupferbergbau im Mansfelder Land. Im Laufe des 15. Jahrhunderts steigt die Einwohnerzahl Leipzigs von ca. 5.000 auf 8.000 an.65 62

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Die „Schusterfehde“ war eine tagelange Konfrontation zwischen Studenten und Handwerksgesellen. Bei den Handwerkern waren die Studenten nicht gern gelitten. 1471 erließen die Schusterknechte einen Fehdebrief, in dessen Folge es sogar zu bewaffneten Auseinandersetzungen kam. Erst nach der Festnahme der Anführer konnten die Unruhen beendet werden. Vgl. Chronik der Universität Leipzig. Leipziger Schusterfehde 1471, www.archiv.uni-leipzig.de/news/schusterfehde-1471, aufgerufen am 04.03.2018. Bis zum Erwerb des Bakkalaureats mussten etwa acht Gulden und zwei Groschen Kolleggebühr für die ordentlichen Vorlesungen (die wahlfreien, außerordentlichen nicht mitgerechnet) gezahlt werden. Vgl. Siegfried Hoyer, Die scholastische Universität bis 1480, in: Lothar Rathmann (Hg.), Alma mater Lipsiensis, S. 28. Vgl. Band 1 der Geschichte der Universität Leipzig in fünf Bänden. Herausgegeben im Auftrag des Rektors von der Senatskommission zur Erforschung der Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2009/10. Vgl. Karlheinz Blaschke, Das Städtewesen vom 12. bis zum 19. Jahrhundert. Atlas der Geschichte und Landeskunde von Sachsen, Bd. II 6, Leipzig / Dresden 2003.

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Die Entwicklung der Leipziger Universität stagniert allerdings zunächst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Die Rektoren haben in akademischer Hinsicht einen überraschend niedrigen Rang im Vergleich zu anderen europäischen Universitäten. Die meisten Theologen kommen in den Jahren 1460 bis 1500 nicht über den Grad eines Bakkalars hinaus, nur drei von 47 sind Doktoren. In der Medizinischen und Juristischen Fakultät, die inzwischen gegründet wurden, sieht es nicht anders aus. Drei Viertel der Rektoren in Leipzig sind „bloß“ Bakkalare. Zudem ist die Zahl der Magistri Regentes im Consilium der Universität seit 1465 auf 24 begrenzt. Die Wartezeit beläuft sich auf fünf bis acht Jahre. Dadurch bietet sich einem Magister damals nur eine geringe Aufstiegschance.66 Erst Anfang der 1460er-Jahre kommt durch den Frühhumanismus ein wenig Bewegung ins universitäre Leben. Peter Luder verkörpert z. B. einen neuen Typus des ungebundenen Wanderredners und Verkünders einer neuen Weltanschauung verkörpert. Zu seine Anhängern in Leipzig67 gehören 1462 der Nürnberger Patriziersohn Hartmann Schedel und Heinrich Sterker aus Mellerstadt.68 Humanisten wie Luder versuchen, über die Erforschung der alten Sprachen einen Anschluss zu finden an die Lebensform der antiken Welt. Dabei spielen aber auch neue Ideale durchaus eine Rolle: Denn nicht nur gelehrter soll der spätmittelalterliche Mensch werden, sondern auch moralisch besser und damit vollkommener.69 Aber Luder hält es nur kurz in Leipzig. Er gehört zu denjenigen, die von Hochschule zu Hochschule ziehen. Trotz kurzer Verweildauer bringt er nicht nur eine geschulte Wissenschaftssprache mit nach Leipzig, sondern belebt auch Rhetorik, Stilkunst und Poesie. An einer akademischen Karriere ist er – wohl wegen ihrer Verschultheit – nicht interessiert. Luder folgen noch weitere Humanisten nach Leipzig. Sie bleiben allesamt nur wenige Semester in der Stadt,70 wecken den kritischen Geist der Studenten und Kollegiaten und erweitern deren geistige Horizonte.71 Literarisches Zeugnis der Auseinandersetzung der Humanisten mit der spätscholastischen Welt der Universitäten und der katholischen Kirche sind die so genannten Dunkelmännerbriefe (Epistolae obscurorum virorum), von denen die Mehrzahl aus Leipzig stammt.72 In 66 67 68 69 70 71

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Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft., S. 41 ff.; Alexander Sembdner, Stadt und Universität Leipzig im späten Mittelalter, Leipzig 2010, in: Universität Leipzig (Hg.), Beiträge zur Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 17. Hartmann Schedel studierte später in Padua Medizin und ließ sich später in Mellerstadt als Stadtarzt nieder. Er verfasste 1493 seine „Weltgeschichte“. Vgl. Franz Fuchs, Hermann Schedel, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 22, Berlin 2005, S. 600–602. Die beiden waren Freunde und verfassten Novellen nach dem Vorbild von Boccaccio und Aeneas Silvius. Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft., S. 41. Vgl. Nicolette Mout, Die Kultur des Humanismus. Reden, Briefe, Traktate, Gespräche von Petrarca bis Kepler, München 1998, S. 12. Zum Bespiel Konrad Celtis, Paul Schneevogel (Niavis), Buschius und Rhagius Aesticampianus. Vgl. Enno Bünz; Franz Fuchs (Hg.), Der Humanismus an der Universität Leipzig. Akten der in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Sächsische Landesgeschichte an der Universität, der Universitätsbibliothek und dem Leipziger Geschichtsverein, Pirckheimer Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung, Bd. 23, Wiesbaden 2009. Die „Dunkelmännerbriefe“ gehen auf den so genannten Pfefferkorn-Reuchlin-Streit zurück, der die gelehrte Welt nördlich der Alpen in zwei Lager spaltete. Ausgehend vom Kölner Streit um die Toleranz gegenüber den Juden entwickelte er sich zu einem Streit über die Freiheit der Wissenschaften. Angesehene Humanisten wie Ulrich von Hutten, Philipp Melanchthon und Hermann von dem Busche bekundeten Johannes Reuchlin ihre Sympathien in Briefen und Aufmunterungsschreiben. Einen Teil dieser Briefe veröffentlichte Reuchlin 1514. Das Werk enthält fingierte Briefe, die angeblich eine Reihe

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dieser literarischen Satire steht mit Köln vor allem Leipzig als Hochburg der „Via Antiqua“ im Mittelpunkt der Kritik, weil sich die Alteingesessenen weigern, neue Lehren zuzulassen. Im künstlerischen Gewande der Satire, der Parodie und der Komik werden in den Dunkelmännerbriefen die Zustände an den Universitäten gegeißelt und die veraltete Bildungswelt lächerlich gemacht.73 Die spätscholastischen Kleriker werden zum Beispiel als unwissend, denkfaul, orthodox und eifernd hingestellt, als philiströs-saturiert und auf sinnlichen Genuss bedacht. Ihre Methode bestehe vor allem im Zitieren.74 Die Vorwürfe der Dunkelmänner kommen nicht von ungefähr: Die Strukturen der Leipziger Universität sind aufgrund der Herrschaft von wenigen Privilegierten förmlich versteinert.75 Wer Pfründe in Naumburg oder Merseburg hat, kommt so gut wie gar nicht mehr nach Leipzig, um zu lehren. In der Theologischen Fakultät an der Spitze der Universität wird von humanistischen Wanderdozenten den „Fakultisten“ Habgier und Eigennutz vorgeworfen: Prüfungsergebnisse werden erkauft nach dem Motto: Hat er nicht Kunst, so hat er Gunst.76 Aber reformatorische und humanistische Ideen lassen sich auch in Leipzig nicht aufhalten. 1496 ergreift Kanzler Thilo von Merseburg schließlich die Initiative für eine Reform der Leipziger Universität, auch wenn sie erfolglos bleibt, weil der Rat der Magister nicht mitspielt.77 Eine zweite Reform initiiert der Landesherr. Sie wird durch die Folgen der wettinischen Hauptteilung von 1485 ausgelöst. Der wettinische Länderkomplex wird in der Mitte des Reiches zwischen den bisher gemeinsam regierenden Brüdern Ernst und Albrecht aufgeteilt. Die Universität Leipzig fällt den Albertinern zu, die ihren Sitz in Dresden nehmen. Die Ernestiner haben zunächst noch keine Hauptstadt, behalten aber die Kurwürde. Sie besitzen auf ihrem Territorium keine Universität, da Erfurt zu Mainz gehört. Als Friedrich III., der Weise, die Gründung der Universität in Wittenberg vorbereitet und Leipziger Koryphäen wie Martin Pollich von Mellerstadt als Gründungsrektor gewinnt und so von Leipzig abzieht, sieht sich das albertinische Leipzig einer unerwarteten Konkurrenz aus Wittenberg gegenüber. Die Gründung der kursächsischen Landesuniversität Wittenberg führt zu einem Umdenken an der konservativen Leipziger Universität. Denn man muss befürchten, dass die Immatrikulationszahlen in Leipzig einbrechen werden und damit auch eine wichtige Säule

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von Dominikanern, unter anderem aus Erfurt, Leipzig und anderen deutschen Städten, hauptsächlich an einen anderen Gelehrten schrieben und ihn teils um Rat fragten, teils ihn ihrer Solidarität in der Angelegenheit mit Reuchlin versicherten. Dabei sind die Briefe in Form und Inhalt so gestaltet, dass sie als Selbstentlarvung der Beteiligten wirken sollen. So herrscht ein fehlergespicktes Küchenlatein vor und in scholastischer Manier werden abstruse Etymologien lateinischer Begriffe bemüht. Vgl. Georg Witkowski, Geschichte des literarischen Lebens in Leipzig, Leipzig 1909. Epistolae obscurorum virorum. Briefe, in: Hedwig Heger (Hg.), Spätmittelalter, Humanismus, Reformation. Texte und Zeugnisse, 2. Teilband: Blütezeit des Humanismus und Reformation, München 1978. Dem Frühhumanismus, der in Leipzig eine ungewöhnliche Blüte erlebte, wurde vom Schwäbischen Bund das Eindringen in die Universität derart erschwert, dass die alten Strukturen nur noch fester wurden. „Alles wurde hinter verschlossenen Türen im Interesse weniger Privilegierter bestimmt, die alle verdrängten, die nicht ‚ihre Leute‘ waren. Begabungen spielten dabei keine Rolle, da bei diesem System kein Leistungszwang bestand und wissenschaftliche Stagnation die Folge war.“ Vgl. Max Steinmetz, Die Universität Leipzig und der Humanismus, in: Lothar Rathmann (Hg.), Alma mater Lipsiensis, S. 38 ff. Vgl. Felician Gess, Leipziger Universität im Jahre 1502, in: Kleinere Beiträge zur Geschichte von Dozenten der Leipziger Hochschule. Festschrift zum Deutschen Historikertag in Leipzig Ostern 1894, Leipzig 1894, S. 185. Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft., S. 42 f.

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des wirtschaftlichen Lebens der Stadt. Schließlich ist ein Studium in Wittenberg allein schon aufgrund der Lebenshaltungskosten günstiger als in Leipzig. Als die Wittenberger Universität am 18. Oktober 1502 gegründet wird, fordert der Leipziger Landesherr Herzog Georg vom Rektor und den Magistern ein schriftliches Gutachten über die Missstände und Vorschläge zu ihrer Beseitigung.78 In der Folge werden Cliquenwirtschaft und andere Missstände offengelegt. Herzog Georg reformiert daraufhin vieles an der Universität: Er befreit die obligatorischen Lektionen an der Artistenfakultät von Gebühren, verändert die Verteilung der Lektionen auch zugunsten von Nicht-„Fakultisten“, holt neue Leute nach Leipzig und schlägt einen gemeinsamen Tisch für ärmere Studenten vor.79 Damit berührt er ein soziales Problem der Studentenschaft. Die Sorge der Leipziger allerdings, dass die in Wittenberg neu gegründete Universität Studenten aus Leipzig abziehen könnte, erweist sich im Nachhinein als unbegründet. Denn nach einem ersten Ansturm auf Wittenberg kehren sich ab dem Sommersemester 1503 bis 1519 die Verhältnisse wieder um.80 Um die Jahreswende 1518/19 unternimmt Herzog Georg einen erneuten Anlauf zur Beseitigung der Missstände an der Leipziger Universität. Die akademischen Gremien entwerfen daraufhin einen Vorlesungsplan für alle Fakultäten, nutzen nun modernere Übersetzungen von Aristoteles, lesen Cicero oder Augustinus. Reformer wie Conrad Celtis, Ulrich von Hutten oder Peter Mosellan bekommen ein großes Publikum. Sogar anatomische Studien am Körper Verstorbener werden nun zugelassen. Jedoch erscheinen die Erweiterungen der Lehrinhalte als harmlos im Vergleich zu denen der Wittenberger Lehrer Luther und Melanchthon. Weiter angetrieben wird die Entwicklung durch den aufkommenden Buchdruck. Neue und frei zugängliche Lektürepläne werden herausgegeben. Paul Schneevogel aus Eger81, damals Dozent in Leipzig, sorgt für die Edition von acht antiken Klassikern, zum Teil in einer Übersetzung von Marsilio Ficino.82 Die werden in der ersten Leipziger Druckerei Brandis produziert. Das bringt Schneevogel zwar keine feste Stelle ein, er stirbt als Stadtschreiber 1514 in Bautzen, aber es ist der Beginn des Aufstiegs Leipzigs zu einer Stadt des Buchdrucks. Später folgen tausende Druckerzeugnisse anderer Klassikerausgaben, vor allem aus der großen und leistungsfähigen Druckerei von Melchior Lotter dem Älteren83. 78 79 80 81 82 83

Vgl. dies., Leipzig und Wittenberg. Ein Beitrag zur sächsischen Reformationsgeschichte, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 18 (1895), S. 43–93. Einen gemeinsamen Tisch für Studenten zu initiieren war insofern eine Reform, weil damit sowohl für das leibliche Wohl, zumindest eine Mahlzeit am Tag, gesorgt wurde und gleichzeitig die Studenten fester an die Universität gebunden werden konnten. Im Sommersemester 1503 kamen 352 Studenten nach Leipzig, nach Wittenberg nur 258. Bis 1519 betrug das Verhältnis etwa 330 in Leipzig zu 100 Studenten in Wittenberg. Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft, Leipzig 2010, S. 44. Vgl. Joachim Knape, Ursula Kocher, Paul Niavis (Paul Schneevogel), in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 19, Berlin 1999, S. 195 f. Marsilio Ficino war zu dieser Zeit Leibarzt bei Cosimo de’Medici und übersetzte in dessen Auftrag Schriften antiker griechischer Autoren, vor allem die Schriften Platons und Plotins, ins Lateinische. Vgl. Paul Oskar Kristeller, Die Philosophie des Marsilio Ficino, Frankfurt a. M. 1972. Bis Ende des 15. Jahrhunderts druckte und verlegte Melchior Lotter der Ältere als einer der ersten und bedeutendsten Drucker Leipzigs klassische Schul- und Studientexte in lateinischer Sprache sowie Schriften theologischer Art, die typographisch von besonderer Qualität sind. Ab 1500 kamen frühhuma-

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Die enge Verbindung von humanistischen Schriften mit dem Buchdruck und Buchhandel ist auch ein Grund, warum die gebildeten Bürger in Leipzig dann doch noch die humanistische Bildungsidee fördern. Dazu beigetragen hat sicherlich auch, dass mehrere Leipziger Druckverleger akademische Grade erwerben. Denn die philosophische Durcharbeitung der Texte, die Vereinheitlichung der Orthographie, die Korrektheit des ganzen Druckes sind nur möglich bei entsprechender Vorbildung. Insofern bewährt es sich bereits nach wenigen Jahrzehnten, eine große Bevölkerungsschicht zu einer breiten Allgemeinbildung geführt und mit der scholastischen Tradition teilweise gebrochen zu haben. Gerade auch Martin Luther profitiert vom Buchdruck in Leipzig enorm. Bis 1519 werden 45 seiner Einzelpublikationen in insgesamt 259 Auflagen gedruckt, davon 110 in Leipzig. Ohne die Bekanntschaft Luthers mit Lotter hätten seine Schriften nicht die Verbreitung gefunden, die sie hatten. Allerdings hatte Luther zeitlebens ein skeptisches Verhältnis zur Stadt Leipzig und die Stadt zu ihm.84 Die Verbreitungsmöglichkeiten, die sich durch den Buchdruck seit den letzten Dekaden des 15. Jahrhunderts ergeben, erleichtern den Studierenden den Zugang zur Literatur. Aber es entstehen bald Spannungen zwischen Traditionalisten und der humanistischen Moderne. Die humanistischen Dozenten werden in der Vergabe der Universitätsbenefizien benachteiligt. Ohne Prüfungsrechte – diese hat nur die scholastische Fakultät – scheitern die Humanisten daher an der überkommenen Struktur der Leipziger Universität. So ist am Ende des 15. Jahrhunderts zwar der Humanismus in den Studien der Leipziger Artistenfakultät durchaus etabliert, verschmilzt allerdings gleich wieder mit der vorherrschenden Via Antiqua der Schulwissenschaft.85 Trotzdem bleibt Leipzig bis in die ersten Dekaden des 16. Jahrhunderts die deutsche Universität mit den meisten Studierenden und rangiert in ihrer Bedeutung gleich hinter Paris. Sogar auf die italienischen Universitäten wird mit einer gewissen Geringschätzung herabgeblickt. Doch dann überholt die Universität Wittenberg sie für eine kurze Zeit in Rang und Namen.86 Luther, der dort lehrt, kritisiert auch die Lehrinhalte an den deutschen Universitäten. Er hält das Studium der aristotelischen Schriften als Grundlagenstudium an der Artistenfakultät für überflüssig. Seine Kritik ist dabei auch Ausdruck einer allgemeinen Bildungskrise in den 1530er-Jahren. Deutlich wird diese unter anderem an den anhaltend geringen Immatrikulationen an vielen europäischen Universitäten. Die Bildungskrise betrifft vor allem die Frage nach der Nützlichkeit eines Studiums überhaupt. Aufgrund des Festhaltens am alten Weg ist die Theologische Fakultät davon am stärksten betroffen. Einige Reformatoren,

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nistische Schriften hinzu. Nachdem er Martin Luther begegnete, druckte er nach 1517 auch zahlreiche seiner Reformationsschriften, darunter die berühmten 95 Thesen. Vgl. Jakob Franck, Melchior Lotter der Ältere, in: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 19, Leipzig 1884, S. 273–278. Bekannt ist die Disputation auf der Pleißenburg, bei der Luther, der Wittenberger Theologieprofessor Andreas Karlstadt und ihr Gegenspieler Johannes Eck von der bayrischen Landesuniversität Ingolstadt (ab 1800 Landshut, heute München) über Religionsfragen debattierten. Später predigte Luther noch dreimal in Leipzig: 1539 in der Schlosskirche und in der Thomaskirche sowie 1545 in der Paulinerkirche. Vgl. www.leipzig-lexikon.de/biogramm/luther_martin.htm, aufgerufen am 3.4.2018. Zwar sprachen einige damalige Koryphäen der Wissenschaft wie Martin Pollich von Mellerstadt und Konrad Wimpina ein elegantes Latein, aber sie standen weiteren Veränderungen im Lehrbetrieb der Artistenfakultät konservativ gegenüber, weil sie die neu edierten Texte der lateinischen Poeten für geistiges Heidentum hielten. Vgl. Gustav Bauch, Geschichte der Leipziger Frühhumanisten mit besonderer Berücksichtigung auf die Streitigkeiten zwischen Konrad Wimpina und Martin Mellerstadt, o. O. 1899. Max Steinmetz, Der Lehrbetrieb. Mißstände und Versuche einer Universitätsreform, S. 39.

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wie der zeitweilige Dekan der Wittenberger Theologischen Fakultät, Andreas Bodenstein aus Karlstadt, ziehen daraus die Konsequenz, ihre Professur niederzulegen und sich praktischen Dingen zuzuwenden. Eine tiefgreifendere Reformation an der Leipziger Universität ist erst nach dem Tod Herzog Georgs möglich. Dieser war ein entschiedener Gegner Luthers und Jan Hus’ gewesen.87 1539 führt Georgs Bruder Heinrich aber im Land die Reformation ein. Der Protestantismus wird Staatsreligion.88 Der Humanist Caspar Borner, der seit 1519 die Thomasschule leitet und an der Artistenfakultät lehrt, setzt als Rektor der Leipziger Universität die Reformation durch. Unterstützung erhält er in seiner Abwicklung der katholischen Universitätsangehörigen durch den Latein- und Griechisch-Professor Joachim Camerarius sowie Philipp Melanchthon. Es werden allerdings zuerst einmal bauliche Umstrukturierungen in Angriff genommen. Die Veräußerung von Klostergütern nach der Reformation ermöglicht es, eine Erweiterung der Universität zu finanzieren. Mit dem Gebäudekomplex des ehemaligen Dominikanerklosters St. Pauli (Paulinum) entsteht so auch ein neues universitäres Zentrum im Mittelpunkt der Stadt. Die bisherige Klosterkirche wird zur Universitätskirche. Im Mai 1542 erwirbt die Universität aus den Erträgen des aufgehobenen Klosters Pegau und des früheren Stiftes Petersberg bei Halle einen jährlichen Betrag von 2.000 Gulden für die Besoldung von Magistern und Doktoren aller vier Fakultäten. Kurz darauf erhält die Universität aus dem Grundbesitz des Dominikanerklosters die Eigentumsrechte über fünf Dörfer (Kleinpösna, Wolfshain, Holzhausen, Zuckelhausen und Zweenfurt) sowie verschiedene Waldstücke bei Liebertwolkwitz. Dieses Grundeigentum bleibt für mehrere hundert Jahre die wirtschaftliche Grundlage des Universitätsbetriebes. Das macht die Universität unabhängiger und finanziell einigermaßen selbstständig.89 Ab Mitte des 16. Jahrhunderts steigt die Zahl der Neuimmatrikulationen wieder. Die Bildungskrise ist zwar überwunden, aber eine Umstrukturierung des Lehrbetriebes lässt noch auf sich warten. Während Melanchthon in Wittenberg das Studium an der Artistenfakultät schrittweise verändert90, steht in Leipzig eine Reform noch aus, welche die Grundlagen für die Umgestaltung der mittelalterlichen Artistenfakultät zu einer neuzeitlichen philosophischen Fakultät legen könnte. Doch auch hier ist 1558, mit den neuen Statuten, die Umgestaltung der Artistenfakultät vorerst beendet. Die Leipziger Reform orientiert sich zwar am Vorbild der Wittenberger Fakultät, überwindet aber nicht vollständig den Einfluss der alten Universitätsverfassung.91 So erfolgt die Zusammensetzung des Fakultätsrates zum Beispiel nach wie vor 87 88 89 90

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So ließ Herzog Georg in seinem Land sämtliche Luther-Bibeln konfiszieren und kämpfte im Dessauer Bund gegen die Weiterverbreitung der Lutherischen Lehren. Das tat er mit drastischen Mitteln: Wer sich weigerte, die neue Religion anzunehmen, wurde des Landes verwiesen oder in Haft genommen. Am 25.5.1539 fand unter Anwesenheit von Martin Luther in Leipzig die Einführungsfeier der Reformation statt. Vgl. Erich Franke, Die Universitätsgebäude von 1409 bis ins 17. Jahrhundert, in: Heinz Füßler (Hg.), Leipziger Universitätsbauten, Leipzig 1961, S. 121–164; sowie www.research.uni-leipzig.de/agintern/ uni600/ug121.htm, aufgerufen am 3.12.2018. Es wurden neue Lehrstühle im Sinne des Humanismus eingerichtet. Jeder Student erhielt von einem Präzeptor einen persönlichen Studienplan. Das Bakkalaureat, die erste obligatorische Prüfung, wurde nicht mehr erforderlich. Die dominierende Logik wurde zugunsten einer Ausgeglichenheit zwischen sprachlichen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern reduziert. Statt Dialektik gab es nun mehr Rhetorik. Sie bestimmte bis ins 19. Jahrhundert maßgeblich die Ausformung der Philosophischen Fakultät in

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auf der Grundlage des „Nationen“-Konzeptes. Statt regelmäßig wiederkehrender Lektionen erhalten die Magister nun disziplinspezifische Lehraufträge. Am Ende dieses Prozesses verfügt die Leipziger Philosophische Fakultät über neun Lehrgebiete, ergänzt um humanistische Disziplinen wie griechische und lateinische Literatur. Nach dem Übergang des Paulinums in das Eigentum der Universität beginnen weitere umfangreiche Umbaumaßnahmen. Es entsteht ein großer Hörsaal für die theologische und die Artistenfakultät, außerdem Wohnräume für junge Magister und Schlafräume für die Studenten, Krankenräume und Arbeitsplätze für Handwerker. Darüber hinaus werden Handschriften und Bücher zu einer Universitätsbibliothek zusammengefasst.92 Ärmere Studenten leben in einem Konvikt.93 Während des Schmalkaldischen Krieges, 1547, in dem der Kaiser versucht, im Heiligen Römischen Reich den Protestantismus zurückzudrängen und gegenüber den Reichsstädten die kaiserliche Macht zu stärken, wird das Paulinum halb zerstört. Herzog Moritz, der nach der Wittenberger Kapitulation nun auch Kurfürst von Sachsen ist, stellt für den Wiederaufbau 14.000 Florin zur Verfügung.94 Neu ist auch, dass neben den privaten Stipendien, die regional oder lokal gebunden sind, Herzog Moritz 100 zusätzliche Stipendien stiftet. Der Krieg beeinträchtigt jedoch nicht nur die Arbeit des Konviktes, sondern hat auch Auswirkungen auf Leben und Kultur der Studenten. Seit 150 Jahren standen Waffentragen und Schlägereien für Studenten unter Karzer- und Geldstrafen. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts lockert sich nun das kategorische Waffenverbot in Leipzig. Im Schmalkaldischen Krieg werden Studenten als Söldner geworben und leisten auf der Pleißenburg Wachdienst. Es bilden sich studentische Landsmannschaften. Der immatrikulierte Student muss in dieser Zeit ein so genanntes „Penaljahr“ leisten. In diesem Penaljahr hat er Ritualen beizuwohnen, diverse Dienste zu leisten, sich widerspruchslos hänseln zu lassen sowie Gelage anderer zu bezahlen.95 Auch die Unterbringung der Studenten verändert sich im Laufe des 16. Jahrhunderts. Zunehmend nehmen die Studierenden privat Quartier bei Bürgern der Stadt. Das selbstständige Leben der Studierenden entzieht sie ein Stück weit der Kontrolle der Universität. In der Folge verändert sich auch die Zuständigkeit für schwere Vergehen von Angehörigen der Universität: Die Universität zieht die volle Strafgerichtsbarkeit an sich und bestraft ihre Angehörigen selbst.96 Während des Dreißigjährigen Krieges erreicht das Studentenleben den Berichten zufolge einen moralischen Tiefststand. Der Krieg fördert die allgemeine Disziplinlosigkeit: Schlägereien, Duelle, Trink- und Essgelage gehören zum Alltag der Studierenden.97 Für

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Leipzig. Die Universitätsbibliothek blieb zunächst Präsenzbibliothek. Das Konviktorium wurde im 19. Jahrhundert erneuert und überstand die Zeiten und Krisen bis ins 20. Jahrhundert. Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft, S. 56. Dieses Penaljahr betrug ein Jahr, sechs Monate, sechs Tage und sechs Stunden. Der Penalismus erfasste mehr oder weniger intensiv alle deutschen Universitäten und erreichte während des Dreißigjährigen Krieges seinen Höhepunkt. Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft, S. 62. Ebenda. Vgl. Günther Wartenberg, Die kursächsische Landesuniversität bis zur Frühaufklärung, 1540 bis 1680,

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Leipzig endet der Krieg mit dem Abzug der schwedischen Besetzer erst im Jahr 1650. Kursachsen kehrt zwar als kriegführendes Land nach dem Prager Frieden 1635 zur Neutralität zurück, bleibt aber weiterhin Schauplatz von Kampfhandlungen, die sich über 100 Jahre hinziehen: So ziehen der Nordische Krieg gegen Schweden 1706/07, der zweite Schlesische Krieg 1744/45 und der Siebenjährige Krieg 1756 bis 1763 die Universität in Mitleidenschaft und hinterlassen schwere Zerstörungen. Streitpunkt zwischen Stadt und Universität ist in dieser Zeit immer wieder die Beherbergung von Studenten in Bürgerhäusern. Zwar wird das Konvikt um 24 Plätze erweitert, aber die Krankenräume im Paulinum sind durch den Krieg nicht mehr benutzbar. Der Rat der Stadt Leipzig stellt Abhilfe in Aussicht. Von den 150 Stipendien, die der Kurfürst August nach der Schul- und Universitätsordnung von 1580 vor dem Krieg noch bereitstellen wollte, sind 70 Jahre und etliche Kriege später nur noch 75 wegen knapper Kassen übrig.98 Der Wissenschaftsbetrieb an der Philosophischen Fakultät bleibt in einem Übergangsstadium zwischen Propädeutik und eigentlichem Fachstudium stecken. Die Professoren arbeiten mit vorbereiteten Texten, die den Studenten vor dem Beginn der Vorlesung zur Verfügung gestellt werden; sie betreiben Textexegese oder diktieren ihre Ausführungen. Wie die Kirche unterwirft sich auch die Leipziger Universität der Verwaltung des frühabsolutistischen Staates. Sie wird zu einer Institution, welche die landesfürstliche Macht sichern soll.99 Dies führt zunehmend zu einem Verlust der Selbstständigkeit der Universität.100 Dennoch gehen in dieser Zeit auch namhafte Persönlichkeiten aus der Leipziger Universität hervor wie der Lyriker Paul Fleming, der Naturrechtler Samuel Pufendorf oder der Mathematiker und Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz.101

2.4 Denkschranken überwinden: Das Bildungsideal der Aufklärung Trotz Krieg und Zerstörung entwickelt sich der Kurstaat Sachsen und mit ihm Leipzig weiter. Daran hat die Leipziger Bevölkerung einen entscheidenden Anteil. Leipzig wird zu einer weltoffenen Handels- und Universitätsstadt mit einem starken Bürgertum, zu jener Lipsia literarum studiis et mercatura celebre Misniae oppidum102, während im konkurrierenden Dresden die fürstlichen und adligen Repräsentationsbauten von August dem Starken entstehen und eine eng mit dem Hof verbundene Handwerker- und Kaufmannschaft das Bild bestimmen.103 Aufgrund der Baubeflissenheit des Stadtrates erhält Leipzig ein Stadtbild, das seinem weltstädtischen Charakter entspricht, wie ihn etwa Gotthold Ephraim Lessing und in: Lothar Rathmann (Hg.), Alma mater Lipsiensis, S. 73 ff. 98 Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft., S. 68. 99 Günther Wartenberg, Die kursächsische Landesuniversität bis zur Frühaufklärung 1540 bis 1680, in: Lothar Rathmann (Hg.), Alma mater Lipsiensis., S. 69 ff. 100 Vgl. Max Steinmetz, Die Universität Leipzig und der Humanismus, in: Lothar Rathmann (Hg.), Alma mater Lipsiensis, S. 54. 101 Ebenda. Leibniz war ein Schüler von Jacob Thomasius, dem Vater des Aufklärers Christian Thomasius wird. 102 Übersetzung: Leipzig, eine durch wissenschaftliche Studien und Handel berühmte meißnische Stadt. 103 Vgl. Werner Fläschendräger, Universitätsentwicklung im Zeitalter der Aufklärung, 1680 bis 1789, in: Lothar Rathmann (Hg.), Alma mater Lipsiensis, S. 77 f.

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Johann Wolfgang Goethe in Leipzig kennenlernen.104 Die Alte Handelsbörse wird 1687 gebaut. In der Hainstraße entstehen prunkvolle Gebäude. Der Großbosische Garten und der Apels-Garten werden angelegt. Der Coffee-Baum und das Haus zur Schlange (Barthelshof) entstehen bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts. Auch der Buchhandel entfaltet sich in Leipzig weiter. Nach einer Krise an der Wende zum 17. Jahrhundert steigt Leipzig zum zentralen Handelsplatz von Druckerzeugnissen im Heiligen Römischen Reich auf. Bis zum Ende des Jahrhunderts verdrängt es Frankfurt am Main auf den zweiten Platz des Buchhandels – ungeachtet der bestehenden Zensur. Bürger, Akademiker oder Studenten bekommen so Zugang zu wissenschaftlicher Literatur. Die Universitätsbibliothek verfügt aber noch nicht über genügend Geld, auch nur die wichtigsten Werke zu erwerben. Hier springen vor allem noch Privatbibliotheken von Wohlhabenderen und Professoren ein.105 Insgesamt changiert Leipzig an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert aber noch zwischen Althergebrachtem, Etabliertem, und bürgerlich-progressiven Bestrebungen. Die aufklärerische Emanzipation, die zu neuen Grenzüberschreitungen innerhalb des starren Feudalsystems aufruft, ist unter anderem mit dem Namen Christian Thomasius verbunden. Dieser Rechtsgelehrte und Philosoph versucht, tradierte Schranken zu durchbrechen, indem er Collegia in deutscher Sprache anbietet und die erste deutschsprachige wissenschaftliche Zeitschrift, die „Monatsgespräche“, herausgibt.106 Auch tritt er für eine humane Strafordnung ein. Er trägt wesentlich zur Abschaffung von Hexenprozessen und Folter bei.107 Aber auch der Umbau der scholastischen Universität zu einer modernen Ausbildungsuniversität gehört zu den seinen herausragenden Leistungen seiner Initiativen. Er versteht universitäres Wissen nicht mehr in erster Linie nach dem Ideal der Gelehrsamkeit, sondern als Mittel zur Charakterbildung des bürgerlichen Individuums.108 Thomasius fordert soziale, kommunikative und moralische Kompetenzen von einem Absolventen der Universität. Urteilsbildung soll nicht 104 Günter Mühlpfordt, Die „sächsische Universität“ als Vorhut der deutschen Aufklärung, in: Karl Czok (Hg.), Wissenschafts- und Universitätsgeschichte in Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert. Beiträge des internationalen Kolloquiums November 1984 in Leipzig, Berlin 1987, S. 43. 105 Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft, S. 67. 106 Die Zeitschrift erschien von 1698 bis 1690 monatlich mit einer Druckauflage von 3.000 Exemplaren. Thomasius war lange Zeit der alleinige Verfasser. In den ersten Jahren veröffentlichte er unter einem Pseudonym. Die Zeitschrift sollte belehrend und zugleich unterhaltend sein. Er schrieb vorwiegend deutsch, nutzte Mittel der Ironie und Satire. Er verfasste seine Texte in Dialog-Stil, um die unterschiedlichen Standpunkte zu einem Thema darzustellen. Außerdem besprach er kritisch Bücher aus den Gebieten Rechtswissenschaft, Philosophie, Geschichte, Theologie und Politik, gelegentlich auch Medizin. Vgl. Max Fleischmann (Hg.), Christian Thomasius. Leben und Lebenswerk, (1931) Neudruck Aalen 1979. 107 Seine Professorenkollegen fühlten sich von Thomasius’ etwas ruppigen Aufklärungsversuchen persönlich angegriffen und klagten gegen ihn. So brachte er sogar die Regierung Dänemarks gegen sich auf und verscherzte sich die Sympathie mit dem sächsischen Landesherrn. Thomasius trieb es so weit, dass er Kursachsen fluchtartig verlassen musste und ins Nachbarland Brandenburg ging. Dort setzte ihn Friedrich III., später König Friedrich I. in Preußen, in der 1694 gegründeten Universität Halle als Gründungsprofessor ein. Halle wurde mit Christian Thomasius zu einem Zentrum der Aufklärung und strahlte auch auf Leipzig aus. Vgl. Steffen Martus, Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert. Ein Epochenbild, Berlin 2015, S. 96. 108 Vgl. Herbert Jaumann. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius, Leiden / New York / Köln 1995, S. 276–303.

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dadurch geschult werden, Wissen wie bisher historisch-enzyklopädisch einzuordnen, sondern zum Nutzen der Gesellschaft einzusetzen. Die Universität der Aufklärung versteht er als Ausbildungsstätte für eine Haltung, nämlich einer Einstellung, wie man Mitmenschen, dem Staat und der Gesellschaft, den Ideen und Gedanken anderer zu begegnen hat.109 Noch bevor unter anderen Wilhelm von Humboldt das Universitätsideal der Einheit von Lehre und Forschung für eine breite Allgemeinbildung ausformuliert, ist es vor allem Christian Wolff – Mathematiker, Physiker und Philosoph, Mitglied mehrerer Akademien, Enzyklopädist und Schule bildende Autorität110 –, der während seiner dreijährigen Leipziger Lehrtätigkeit (1703–1706) als Magister Legens111 sein Bildungsideal mit den Worten verkündet: „Tue, was die gemeinsame Wohlfahrt fördert; handle so, daß du selbst und deine Mitmenschen vollkommener werden“112. Thomasius und Wolff gehen aber von unterschiedlichen Voraussetzungen aus und verstehen den Menschen entweder in erster Linie über den Willen (Thomasianer) oder die Vernunft (Wolffianer). Mit dem Generationenwechsel in den akademischen Ämtern am Ende des 17. Jahrhunderts113 erweitert sich auch der Lehrstoff und die deutsche Sprache setzt sich als Unterrichtssprache langsam durch. Einen wichtigen Auftakt für die aufklärerischen Veränderungen bildet die Gründung der Leipziger Acta Eruditorum 1682 durch Otto Mencke, der ersten deutschen Zeitschrift von europäischem Ruf, die 100 Jahre lang erscheint. Seit dem 17. Jahrhundert profilieren sich zuerst in der philosophischen Fakultät auch naturwissenschaftliche Fächer. Generell nimmt die disziplinäre Vielfalt zu: Geschichtswissenschaft, moderne Sprachen, Mathematik erfahren einen enormen Aufschwung. Andere Fachbereiche werden, wie die Arabistik 1728, überhaupt erst gegründet.114 In enger Verbindung zur Medizin beginnt auch die Entwicklung des Faches Chemie. Der anfängliche Aufschwung stagniert jedoch bald wieder, weil „öffentliches Laboriren und Demonstriren“115 auf Widerstand stößt. Aber in der Promotionspraxis gibt es Neuerungen. Zwar verfassen die Professoren weiterhin die Thesen für die Studenten, die diese dann gegen Spitzfindigkeiten bestellter Opponenten zu verteidigen haben. Jedoch kommt im 18. Jahrhundert der untere Grad, das Bakkalaureat, durch Verbindung mit Magisterium bzw. Lizentiatur und Doktorat allmählich außer Gebrauch. 109 Stefan Martus, Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert, S. 103. 110 Ende 1702 legte Christian Wolff an der Leipziger Universität seine Magisterprüfung ab, ging anschließend nach Jena und kam 1703 wieder nach Leipzig. Er hielt Vorlesungen in Mathematik und Philosophie und Theologie. Als Mitglied der polnischen „Nation“ hatte er hier allerdings keine Aussicht auf eine Assessur oder Professur. Vgl. Werner Fläschendräger, Lomonossows Marburger Lehrer Christian Wolff und seine Beziehungen zur Universität Leipzig, in: Leipziger Beiträge zur Universitätsgeschichte, Bd. 1, S. 56. 111 Magister Legens wird ein Magister, indem er sich durch eine öffentliche Disputation das Recht erworben hat, an einer Universität Vorlesungen zu halten. 112 Vgl. Christian Wolff, Vernünftige Gedancken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen, und insonderheit dem gemeinen Wesen: „Deutsche Politik“ zur Beförderung der Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts, Halle/Saale, 1772. 113 Der Theologe und Historiker Adam Rechenberg war der Schwager von Thomasius und brachte den kritischen Aufklärungsgeist in die Geschichtsschreibung ein. Er eröffnete mit anderen den Angriff gegen die Barockscholastik. 114 Begründer der Arabistik in Leipzig war Johann Jakob Reiske (1716–1774). 115 Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Loc. 10538, Blatt 521 und Blatt 524.

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Anziehungskraft auf ein breiteres gebildetes Leipziger Publikum übt im 18. Jahrhundert das Wirken des Dichters Christian Fürchtegott Gellert116 und des Aufklärers Johann Christoph Gottsched117 aus. Gottsched tritt der „Deutschübenden Poetischen Gesellschaft“ bei und übernimmt bald deren Leitung. Sein Ziel ist die Aufwertung dieser Vereinigung des Bildungsbürgertums zu einer Akademie.118 Er gibt die erste „Moralische Wochenschrift Deutschlands“ heraus und wird 1730 außerordentlicher Professor für Poetik, vier Jahre später auch für Logik und Metaphysik. Gottsched veröffentlicht ein Lehrbuch der deutschen Poetik, in dem er „allgemeingültige Regeln“ der Dichtung und des literarischen Geschmacks aufstellt. Darin möchte er den erhöhten Rationalitätsstandards der Zeit entsprechen. Gellert stimmt in vielem mit Gottsched überein, kritisiert aber bald die Pedanterie und die Regelfixiertheit der frühneuzeitlichen Schulrhetorik. Er fordert dagegen Natürlichkeit und Genialität für die Produktivität von Dichtung.119 Insgesamt bleibt trotz der Neugründungen der Universitäten in Halle und Göttingen der Zustrom ausländischer Studierender in Leipzig sehr hoch. Das ist nicht nur der handelsbedingten Leipziger Offenheit zu verdanken, sondern auch den gelockerten Zulassungsregeln zum Studium. Zwar gibt es die Immatrikulation noch, aber keine fixierte Exmatrikulation. Kinderimmatrikulationen sind ebenso möglich wie die Einschreibung von Apothekern, Tanz- und Fechtmeistern, Reitlehrern, Barbieren oder Schankwirten. Nicht anders als heute schicken ehrgeizige Eltern ihre Kinder auf die Universität, um diesen eine gesellschaftliche Aufstiegschance zu bieten. Die Aufklärung führt auch zu einem leisen Beginn der Frauenemanzipation. Der Zugang zur Universität ist ihnen grundsätzlich möglich. Da es keine allgemein verbindlichen Zulassungsvoraussetzungen gibt, kann man Frauen jedenfalls nicht allgemein vom Studium ausschließen. Sie dürfen daher erstmals Vorlesungen hören, so wie Luise Adelgunde Victorie Gottsched die ihres Mannes. Meist geschieht das im 18. Jahrhundert allerdings nur außerhalb des Gesichtsfeldes der Männer: Dass „Frauenzimmer“ Professorinnen werden, ist an deutschen Universitäten noch völlig undenkbar.120 Die Leipziger Universität bildet zusammen mit den Universitäten in Halle und Jena dennoch das Zentrum der deutschen Aufklärung.121 Sie konkurrieren und kooperieren zugleich,122 116 Christian Fürchtegott Gellert hielt seit Mitte der 1740er-Jahre an der Leipziger Universität Vorlesungen über Rhetorik und Poesie. Vgl. Sibylle Schönborn; Vera Viehöver (Hg.), Gellert und die empfindsame Aufklärung. Vermittlungs-, Austausch- und Rezeptionsprozesse in Wissenschaft, Kunst und Kultur, Berlin 2009. 117 Johann Christoph Gottsched studierte Theologie und Philosophie in Königsberg. Er war Anhänger der deutschen Aufklärung, besonders von Christian Wolff. Um einer Zwangsrekrutierung für die Leibgarde des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I. zu entgehen, floh er 1724 nach Leipzig. 118 Walter Dietze, Gottsched und Leipzig (Leipziger Universitätsreden, Heft 46), Leipzig 1978, S. 11. 119 Vgl. Dietmar Till, Gellert und die Rhetorik. Antike Theorie und moderne Transformation, in: Sibylle Schönborn; Vera Viehöver (Hg.), Gellert und die empfindsame Aufklärung. Vermittlungs-, Austauschund Rezeptionsprozesse in Wissenschaft, Kunst und Kultur, Berlin 2009, S. 39–52. 120 Vgl. Beatrix Niemeyer, Ausschluss oder Ausgrenzung? Frauen im Umkreis der Universitäten im 18. Jahrhundert, in: Elke Kleinau; Claudia Opitz (Hg.), Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Bd. 1: Vom Mittelalter bis zur Aufklärung, Frankfurt a. M. 1996, S. 280–283. 121 Vgl. Günter Mühlpfordt, Halle-Leipziger Aufklärung. Kernstück der Mitteldeutschen Aufklärung, Halle 2010. 122 Vgl. Günter Mühlpfordt, Die „sächsische Universität“ als Vorhut der deutschen Aufklärung., S. 32 ff.

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zwischen Halle und Leipzig entwickelt sich sogar eine Art Gesinnungsgemeinschaft,123 wobei der Wolffianismus als Widerpart zu kursächsischen Orthodoxie anzusehen ist. Halle hat das Primat in Philosophie, Medizin und Naturwissenschaften. Leipzig baut mit Gottsched und Gellert seine Spitzenstellung in den „schönen Wissenschaften“, also Philologie und Literatur aus. Die enge Zusammenarbeit der beiden benachbarten Städte begleitet auch ein neuer Aufschwung des Leipziger Zeitschriftenwesens. Es entstehen nun Periodika in allen möglichen außeruniversitären Fächern wie Kunst, Musik, Theater. Auch Zeitschriften eigens für Frauen werden herausgegeben.124 Leipzig avanciert zur „Journalfabrik“ und zum „Mekka der Bücherfreunde“.125 Diese editorische Produktivität kommt auch der Volksbildung zugute. Gotthold Ephraim Lessing126 und Johann Wolfgang Goethe127, die Mitte des 18. Jahrhunderts in Leipzig studieren, empfinden das „Klein-Paris“ so als kleine Weltstadt. Die Messestadt ist elegant, hat ein reiches Kulturangebot, verfügt unter anderem über Theater, eine Kunstakademie in der Pleißenburg und ein umfassendes Studienangebot. Mit dieser Stellung als „Hauptstadt“ der deutschen Gelehrtenrepublik und Mittelpunkt pulsierenden Lebens steht in Konflikt, dass die besten Köpfe der Stadt vergrault werden:128 Wie die Leipziger Professorensöhne Gottfried Wilhelm Leibniz, Christian Thomasius, Karl Friedrich Bahrdt verlassen auch Samuel Pufendorf, August Hermann Francke, Paul Anton und Johann Matthias Gesner die Stadt. Dennoch ist an keiner deutschen Hochschule zu dieser Zeit die Teilnahme der Studenten am literarischen Leben, am Theater und an der Musik so intensiv wie in Leipzig. Das liegt auch daran, dass sich die Universität seit 1694 für noch mehr Studenten anderer Länder und Glaubensbekenntnisse öffnet,129 insbesondere seit 1752 für Söhne wirtschaftlich potenter böhmischer und polnischer Kaufleute jüdischer Konfession, die sich in Leipzig ansiedeln.130 Außerdem werden die Studenten nun nicht mehr nach Herkunft in „nationes“ in die Matrikel eingetragen, obwohl die „Nationen“-Verfassung bis zur Universitätsreform 1831 formal weiter besteht. 123 „Durch Vorlesungen und Schriften ihrer Professoren und Absolventen, infolge von Berufungen an auswärtige Hochschulen, sekundär durch Hörer und Leser, die dann selbst als Lehrer und Autoren wirkten, wurde sächsische Aufklärung in außersächsische Zonen getragen. Man verarbeitete ihre Ideen und Erkenntnisse, eiferte ihr nach. Sie diente als Richtmaß. Diese Modellfunktion der sächsischen Universitätsaufklärung erstreckte sich auf alle Entwicklungsstufen der deutschen Aufklärung, auf nahezu jedes Fach des aufklärerischen Wissensspektrums und, in unterschiedlicher Intensität und Zeitfolge, auf sämtliche Konfessionen, Stände, Stämme und Staaten.“ Günter Mühlpfordt, Die „sächsische Universität“ als Vorhut der deutschen Aufklärung, S. 32 f. 124 Zum Beispiel „Die vernünftigen Tadlerinnen“, Halle/Leipzig 1725/26; die Zeitschrift „Gattinnen, Mütter und Töchter“, Halle 1791, fortgesetzt als „Museum für das weibliche Geschlecht“. 125 Vgl. Dreyssig, Friedrich Christoph, Reisen des grünen Mannes durch Deutschland, Halle 1787, vgl. https://zs.thulb.uni-jena.de/receive/jportal_jpjournal_00000005, aufgerufen am 6.11. 2019. 126 Gotthold Ephraim Lessing kam am 20. September 1746 nach Leipzig. Er sollte Pfarrer werden und schrieb sich für das Theologiestudium ein. Das langweilte ihn jedoch und er hörte auch Vorlesungen in Logik, Naturrecht und Mathematik. 127 Johann Wolfgang Goethe kam mit 16 Jahren, im Herbst 1765, von Frankfurt am Main nach Leipzig, verlebte hier seine entscheidenden Bildungsjahre, wie er rückblickend schreibt, und lernte dabei das studentische Leben kennen. 128 Vgl. Günter Mühlpfordt, Die „sächsische Universität“ als Vorhut der deutschen Aufklärung, S. 42. 129 Das Ansehen Leipzigs als Stadt der Aufklärung, seine wirtschaftlichen und kulturellen Kontakte, veranlassten zum Beispiel auch Katharina II. 1767 dazu, 13 russische Adlige zum Studium nach Leipzig zu schicken. 130 Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft., S. 79.

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Obwohl es schon Ende des 17. Jahrhunderts Landsmannschaften gibt, schließen sich Anfang bis Mitte des 18. Jahrhunderts verstärkt Studenten zu „Societäten“ zusammen, zum Teil auch in Abgrenzung von anderen Bevölkerungsgruppen.131 Längeren Bestand hat zum Beispiel das „Wendische Predigerkolleg“, das sorbische Theologiestudenten 1716 gründen. 1755 öffnet sich die Gemeinschaft auch anderen Fächern. Zwar gehören Studenten zunächst und in der Regel keinen freimaurerischen Gesellschaften an. Später übernehmen einige Verbünde deren Gedankengut, so dass es am Ende des Jahrhunderts einige studentische Orden gibt, etwa den Indissolubilistenorden.132 Diese Studentenvereinigungen bilden gewissermaßen einen Ausgangspunkt für die spätere Entwicklung studentischer Verbindungen. Das Ende des 18. Jahrhunderts ist durch die revolutionären Ereignissen in Frankreich geprägt. Zunächst aber leidet Sachsen in dieser Zeit immer noch unter den Folgen des Siebenjährigen Krieges. Eine Revolution wie in Frankreich ist nicht zu erwarten. Dennoch befürchtet die Obrigkeit Unruhen. Die Professoren erhalten die Aufgabe, alle Schriften in Leipzig zu zensieren, um mögliche revolutionäre Impulse zu verhindern. Als sich einige von ihnen zu den Idealen der Revolution und zur Abschaffung des Absolutismus bekennen, werden Geldbußen verhängt oder Ermittlungen gegen sie eingeleitet. Einige emigrieren nach Frankreich.133 Die Niederlage bei Jena und Auerstedt und der Zusammenbruch Preußens führt zu Umorientierung der kursächsischen und thüringischen Verbündeten. Sie schließen sich Napoleon und dem Rheinbund an. Sechs Tage nach der Besetzung Sachsens, am 20. Oktober 1806, wird die Universität Halle geschlossen. Leipzig, Jena und Wittenberg kommen glimpflicher davon. Zwar steigen die Immatrikulationszahlen der Universität Leipzig durch den Zuzug aus Halle noch einmal auf über das Doppelte an, aber der Krieg zieht auch die Bewohner Leipzigs in Mitleidenschaft. Mit der „Völkerschlacht“ 1813 wendet sich das Blatt erneut; wieder stand Sachsen auf der Seite der Verlierer. Nach dem Wiener Kongress 1815 ist das Königreich Sachsen um zwei Drittel kleiner und hat die Hälfte seiner Bevölkerung verloren. Die zweite sächsische Universität, Wittenberg, geht an Preußen und wird zwei Jahre später mit Halle vereinigt. Leipzig ist jetzt wieder die einzige sächsische Universität.

3. Die Reform der Universität im 19. Jahrhundert 3.1 Das Land entwickeln: Umbrüche der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Schon 1806 werden in einem Reskript an die Universität die Vorgaben der Staatsregierung für ihre Reform mitgeteilt. Hierin wird „festgestellt“, dass die Einteilung in „nationes“ überholt ist, die Berufungsverfahren der Professoren modifiziert werden müssen, die mittelalterliche 131 Vgl. Rainer A. Müller, Landsmannschaften und Studentische Orden an deutschen Universitäten des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Historia Academica, Band 36, 1997. 132 1790 gründeten drei Leipziger Studenten nach Jenaer Vorbild den Orden der Unzertrennlichen, der 1792 ein Kartell mit den Jenaer Amicisten bildete. Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft, S. 92. 133 Vgl. Döring, Detlef, Die Französische Revolution von 1789 und ihre Auswirkungen im Blick der Universität Leipzig. In: Ders. (Hg.), Universitätsgeschichte als Landesgeschichte. Die Universität Leipzig in ihren territorialgeschichtlichen Bezügen, Leipzig 2007, S. 417–466.

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Gerichtsbarkeit zu überholen und die „Sittlichkeit und der Fleiß der Studenten“ im Sinne des Fortschritts und der Wissenschaft zu fördern sei.134 Die Kriegshandlungen 1806/1807 unterbrechen die Reformbestrebungen immer wieder. Aber noch 1806 legte der Senior der Universität, der Philologe Gottfried Hermann, dem Dresdner Oberkonsistorium die Reformpläne vor. Im September 1808 nimmt die „Commission zur Revision und Reformation der Leipziger Universität“ unter Leitung des Präsidenten des Oberkonsistoriums ihre Tätigkeit auf. Im Zuge des Dekrets zur Freiheit der Religionsausübung 1807 geht auch die Universität einen Schritt hin zur Entkonfessionalisierung und Säkularisierung ihrer Einrichtung. Sie entbindet zum Beispiel die Professoren der Theologischen Fakultät ab 1812 von der Pflicht, einen Eid auf die Konkordienformel zu leisten.135 Nach dem für die französische Armee desaströsen Russlandfeldzug 1812 wird der Unmut über die französische Besatzung so laut, dass am 14. Juli 1813 Napoleon persönlich einer Deputation der Universität Leipzig seinen Unwillen über die Haltung der Studentenschaft ausspricht. Professor Wilhelm Traugott Krug ruft dagegen die Studenten zum Kampf gegen Frankreich auf.136 Viele Freiwillige melden sich.137 Zwar siegt Napoleon 1813 noch einmal in den Schlachten bei Großgörschen und Bautzen. Aber Gebhard Leberecht von Blücher stoppt die französische Armee auf ihrem Vorstoß nach Berlin. Die Nordarmee und die Schlesische Armee vereinigen sich und drängen Napoleon von Norden und Süden Richtung Leipzig zur Entscheidungsschlacht. In der sog. „Völkerschlacht“ bei Leipzig stehen ca. 350.000 Verbündete 200.000 Franzosen und Soldaten des Rheinbundes gegenüber. Am Grimmaischen Tor werden die französischen Stellungen in der Stadt durch das 1. Ostpreußische Landwehrbataillon unter Major Karl Friedrich Friccius gestürmt.138 Der sächsische König wird gefangengenommen. Der Rheinbund löst sich auf. Auf dem Wiener Kongress wird Europa neu aufgeteilt. Die alte Ordnung des Ancien Régime wird wiederhergestellt.139 Die 1806 begonnenen Anstrengungen zur Reformierung der Universität werden erst ab 1818 umgesetzt. Anlass für einen verstärkten Einfluss des Staates auf die deutschen Universitäten geben die Karlsbader Beschlüsse von 1819.140 Bis dahin hatte sich z. B. der sächsische Staat damit begnügt, eine lockere Oberaufsicht über die Universität zu führen, die am Ende sogar von der obersten staatlichen Kirchbehörde wahrgenommen wird, welche die „überkommene Autonomie“ der Universität nicht in Frage stellen will. Es erfolgt 134 Vgl. Karlheinz Blaschke, Die Universität Leipzig im Wandel vom Ancien Régime zum bürgerlichen Staat, in: Karl Czok (Hg.), Wissenschafts- und Universitätsgeschichte in Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert, Berlin 1987. Seiten? 135 Karlheinz Blaschke, Die Universität Leipzig im Wandel vom Ancien Régime zum Bürgerlichen Staat, S. 137. 136 Vgl. Wilhelm Bruchmüller, Kleine Chronik der Universität Leipzig von 1409–1914, Leipzig 1914, S. 18. 137 Die Farben des Lützowschen Freicorps – schwarze Uniform, roter Kragen, goldene Knöpfe – wurden später die deutschen Nationalfarben. 138 Das Gemälde „Kampf vor dem Grimmaischen Tor“ von Wilhelm Straßberger erinnert im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig an die bewaffneten Auseinandersetzungen in Leipzig. 139 Vgl. Wilhelm Bruchmüller, Kleine Chronik der Universität Leipzig von 1409–1914. 140 Anlass für die Karlsbader Beschlüsse war die Ermordung des reaktionären deutschen Dramatikers August von Kotzebue am 23.3.1819 durch Karl Ludwig Sand, der zum radikaldemokratischen Flügel der Burschenschaften gehörte. Kotzebue wurde als Spitzel des russischen Zaren verdächtigt und hatte die burschenschaftlichen Ideale verspottet.

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nun zwar eine Verbesserung der finanziellen Förderung der Leipziger Universität und der Universitätsbibliothek,141 aber die Universität steht nun unter staatlicher Aufsicht, Burschenschaften werden verboten. Darüber hinaus wird mit gesetzlichen Maßnahmen gegen alle liberalen und nationalistischen Kräfte vorgegangen.142 Ab 1820 nimmt an der Leipziger Universität ein außerordentlicher Bevollmächtigter des Königs, also kein Universitätsangehöriger, seine Überwachungstätigkeit auf. Er wacht über die Staatstreue der Professoren und Studenten und macht gegebenenfalls bei der neu eingerichteten zentralen Untersuchungskommission in Mainz Meldung. Die Maßnahmen beinhalten auch eine allgemeine Pressezensur sowie die Möglichkeit zur Entlassung revolutionär gesinnter Lehrkräfte. Die erhöhte Nachfrage nach naturwissenschaftlichem, technischem und medizinischem Personal führt auch in Sachsen zur Herausbildung neuer Hochschulen mit Akademiecharakter.143 Diese sind zunächst aber keine staatlichen Ausbildungsstätten und auch weniger auf den Zweck der Ausbildung als den der Forschung ausgerichtet. Jetzt erstarken aber auch die Naturwissenschaften an der Leipziger Universität, zumal forschungsrelevante Sammlungen aus privater Hand bereitgestellt werden.144 Es gibt sogar Seminare, die eine neue Form der Zusammenarbeit zwischen Lehrenden und Lernenden als Unterrichtsform einführen. Statt Textexegese steht der Dialog und die aktive Mitarbeit der Studenten bei der Vermittlung von Fachwissen im Vordergrund.145 Die Gründung eines philologischen Seminars im Jubiläumsjahr der Leipziger Universität 1809 ist schließlich der Auftakt zur Entstehung weiterer Seminare, besonders die historischen Wissenschaften finden eine institutionelle Form. Verschiedene Faktoren verhindern jedoch eine grundlegende und nachwirkende Reform in Leipzig. Dazu gehören unter anderem die schlechte finanzielle Lage des Landes und der Universität und einflussreiche konservative Gegner.146 Zudem ist eine Universitätsreform zu diesem Zeitpunkt nur im Rahmen einer politischen und gesellschaftlichen Reform des gesamten Staatswesens denkbar und möglich. Die Strukturkrise der Leipziger Universität ist nämlich nur ein Symptom der Krise des gesamten Landes.147 Ein Schritt auf dem Reformweg von oben ist die Gründung eines staatlichen Universitätsgerichts. Es wird am 5. August 1829 eingesetzt, um die bisher vom Concilium Perpetuum wahrgenommene Gerichtsbarkeit gegenüber den Universitätsangehörigen zu übernehmen.148 141 1821 wurde ein jährlicher Zuschuss von 2.000 Reichstalern gewährt, der 1825 auf 4.000 Reichstaler erhöht wurde. Die Universitätsbibliothek erhielt jährlich 400 Reichstaler. 142 Heinz-Wilhelm Meier, Zitier- und Zutrittsrecht im parlamentarischen Regierungssystem. Beiträge zum Parlamentsrecht, Bd. 3, Berlin 1982, S. 39. 143 1765 entstand in Freiberg die Bergakademie, 1774–1780 die Tierarzneischule in Dresden, 1816 bekam Tharandt eine Forstakademie und Dresden 1828 noch eine polytechnische Schule. 144 Neben den aus privater Initiative entstehenden Sammlungen für die naturwissenschaftliche und medizinische Forschung wurde die bereits 1794 eingerichtete Sternwarte auf dem Turm der Pleißenburg, die bis 1861 als Observatorium für wichtige astronomische Beobachtungen und Aufzeichnungen genutzt wurde. 145 Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft, S. 103. 146 Vgl. Werner Fläschendräger, Universitätsentwicklung im Zeitalter der Aufklärung, 1680 bis 1789. Die akademische Verfassung und Bemühungen um ihre Reform, S. 128. 147 Hartmut Zwahr, Von der zweiten Universitätsreform bis zur Reichsgründung, 1830 bis 1871. Strukturkrise und Universitätsreform, S. 144 f. 148 Weitere Veränderungen waren: Die „Nationes“ wurden vollständig abgeschafft. Einzige Gliederung

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Zu einer Veränderung kommt es erst mit der Leipziger Erhebung vom 2. bis 6. September 1830. Da der Thronwechsel von Friedrich August I. zu Anton von Sachsen 1827 nicht zu politischen Neuerungen führt149, verhärten sich die Fronten zwischen Universität und sächsischer Regierung. Die Religionsunruhen in Dresden und Leipzig Ende Juni 1830 sowie die Folgen des Konjunktureinbruchs in der Textil- und Eisenindustrie verstärken die Probleme mit den Staatsorganen. Außerdem richten sich die Unruhen in Sachsen gegen die überkommene ständische Verfassung. Die Revolution von 1830 in Sachsen, aber auch der gescheiterte Frankfurter Wachensturm von 1833 bringen zunächst Repressionen und dann auch Verbote studentischer Verbindungen mit sich. Schon dem Königlichen Reskript von 1811 zufolge sind Studentenverbindungen eigentlich nicht gestattet,150 wurden aber von den staatlichen Organen geduldet, solange sie sich politisch zurückhielten.151 Als die Unzufriedenheit großer Teile der städtischen Bevölkerung mit der wirtschaftlichen, religiösen und politischen Situation eskaliert, kommt es auch zwischen Studenten und Obrigkeit am 25. Juni 1830 anlässlich der 300-Jahrfeier der Augsburgischen Konfession und in den Folgemonaten in Leipzig zu Konflikten.152 Die Dresdner Regierung droht mit der Besetzung der Stadt durch das Militär. Daraufhin bewaffnen sich die Leipziger Bürger und bilden zusammen mit den Studenten eine Kommunalgarde, an deren Spitze Mitglieder aus Ratsgeschlechtern, des städtischen Handels- und des Industriebürgertums stehen.153 Als es ein Jahr später im August 1831 wieder zu Unruhen kommt, gehen auch die Studentenkompanien gegen diese vor. Im April 1833 löst sich die Burschenschaftsverbindung in Leipzig auf. Einige ihrer Mitglieder werden inhaftiert.154

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blieben die vier Fakultäten. Das bedeutete die Aufhebung der Kollegien und die Priorität des Wissenschaftsbetriebes in der Universitätsverfassung. Die Philosophische Fakultät nahm die erste Stelle unter den Fakultäten ein. Das Collegium Decemvirale wurde aufgelöst. Das Collegium Professorum wurde zum Akademischen Senat umgebildet, dem unter Vorsitz des Rektors alle ordentlichen Professoren angehören. Die Wahlperiode des Rektors wurde auf ein Jahr verlängert. Die Unterscheidung zwischen Professoren alter und neuer Stiftung wurde aufgehoben. Konrad Krause, Alma mater Lipsiensis. Geschichte der Universität Leipzig von 1409 bis zur Gegenwart, S. 107. Anton von Sachsen folgte seinem Bruder Friedrich August I., der ohne Erben geblieben war, auf den Thron. Er war in Regierungsgeschäften gänzlich unerfahren und hatte nicht die Absicht, tiefgreifende Veränderungen durchzusetzen. Vgl. Leipzigs Erbhuldigungs-Feyer. Sr. Majestät Königs Anton von Sachsen, vom 23. Bis 25. October 1827. Kurz und treu beschrieben. Nebst einigen Nachrichten von der bei Höchst Dero Reise von Dresden nach Leipzig, namentlich in Oschatz veranstalteten Festlichkeiten, Oschatz 1827. Vgl. Sebastian Schermaul, Der Prozess gegen die Leipziger Burschenschaft 1835–38. Adolf Ernst Hensel, Hermann Joseph, Wilhelm Michael Schaffrath und ihr Wirken, Frankfurt a. M. 2015. Zwischenzeitlich zerfielen die Leipziger Burschenschaften in einzelne Gruppen, erneuerten sich aber 1829 aus den beiden Richtungen, die sich seit der Mitte der 20er-Jahre bildeten. Zum Beispiel bestand die zur „Lesegesellschaft“ gewandelte Leipziger Burschenschaft lange fort. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft, S. 106–110. Der Rektor erlaubte den Studenten – dem Verbot des Polizeipräsidenten zuwider –, zum Festumzug die Verbindungsuniformen zu tragen. Vgl. N. N., Der Körner-Commers der akademischen deutschen Studenten in Olmüz, in: Die Neue Olmüzer Zeitung, Nr. 1261, 28. August 1863. Dabei bildeten die Gewehre der aufgelösten Polizeistation, des Stadttheaters und der Gewehrmanufaktur des Großkaufmanns Sellier den Grundstock für die Bewaffnung. Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft, S. 113. Vgl. Ebenda.

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In Folge der Revolution in Sachsen155 leitet eine liberale Adelsfraktion an der Spitze der sächsischen Monarchie tiefer greifende Reformen durch. Das Kabinett um Graf Detlev von Einsiedel tritt zurück, Anton von Sachsen setzt seinen Neffen Friedrich August als jungen Mitregenten ein, und ein Jahr später tritt eine neue Verfassung in Kraft. Sachsen wird zur konstitutionellen Monarchie, der König behält die Souveränität, ist aber bei Regierungsgeschäften an die Minister und die beiden Kammern der Ständeversammlung gebunden. Die Universität wird dem neuen Ministerium für Kultus und öffentlichen Unterricht unterstellt. Professoren werden Staatsbeamte. Der Rektor behält aber die autonome Entscheidungsgewalt über das gesamte Universitätsvermögen. Unter dem Rektorat des Philosophen Wilhelm Traugott Krug wird 1830 die tradierte Einteilung der Universität in Nationen endgültig aufgehoben und die Universitätsverfassung an die neue konstitutionelle Staatsverfassung angepasst. Am 27. März 1830 erfolgte die Bildung eines Akademischen Verwaltungsausschusses, dem unter Vorsitz des Rektors die vier Dekane der Fakultäten sowie vier vom staatlichen Kirchenrat ernannte Mitglieder des Akademischen Senats angehören. Die wirtschaftliche Verknüpfung von Universitäts- und Staatsinteressen führt dazu, dass das klassizistische Universitätshauptgebäude, das Augusteum, gebaut und 1836 feierlich übergeben werden kann und sich somit die beengte Situation, die sich aus den Sparmaßnahmen und bildungspolitischen Fehlentscheidungen ergeben hatte, auflöst. Darüber hinaus wird mit dem Bedürfnis einzelner Hochschullehrer, Forschung und Ausbildung miteinander zu verbinden, ein qualitativ neues Lehrer-Schüler-Verhältnis hervorgebracht, das in Zirkeln und Gesellschaften persönlichkeitsformend und anspornend wirkt, auch durch Talentauslese und Begabtenförderung.156 Nach dem neuen Universitätsstatut liegt 1835 ein Gesetz für Studierende in Leipzig vor. Es enthält unter anderem die Ergebnisse der Universitätsreform für die Studierenden. In Zukunft hat jeder Studienbewerber Zeugnisse seiner Reife und seines sittlichen Betragens vorzulegen. Ist das Abitur in Preußen schon seit 1788 Vorbedingung für ein Studium, so holt Sachsen dies nun auch nach. Der zukünftige Student muss zudem versprechen, dass er keiner Verbindung oder Burschenschaft angehört. Dieses Verbindungsverbot nimmt einen ungewöhnlichen Raum ein. Ein Erlass von 1835 präzisiert, welche Disziplinarvergehen Studierender weiterhin der vom Rektor ausgeübten akademischen Rechtsprechung unterliegen.157 Die sächsische Landesuniversität Leipzig bildet in dieser Zeit besonders rasch einen bürgerlichen Charakter aus. Die Mehrheit der etablierten Professorenschaft folgt politisch dem Großbürgertum und sucht an dessen Seite ein gutes Auskommen mit Krone und Adel. Die Universitätsreformen von 1830 sind der Beginn eines jahrzehntelangen Prozesses, an dessen Ende der Umbau der mittelalterlichen Kollegien-Universität zur Staatsuniversität erfolgt. Die steht zugleich im Kontext der Reformierung des sächsischen Staates zur konstitutionellen Monarchie und reiht sich ein in den größeren Zusammenhang einer über Jahrhunderte andauernden Entwicklung einer ‚Verstaatlichung der Gesellschaft‘. Zugleich ist der Übergang von der Universitas Scholastica zur Universitas Literarum eine wichtige 155 Vgl. Michael Hammer, Kleinstaatliche Revolution in Sachsen. Volksbewegung und Obrigkeiten, Rede anlässlich der Verleihung des Horst-Springer-Preises 1995, Hg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung 2001, http://library.fes.de/fulltext/historiker/01132.htm, aufgerufen am 4.12.2018. 156 Ebenda. 157 Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft, S. 116 f.

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Voraussetzung für die internationale Ausstrahlung und Anziehungskraft der Universität in den nachfolgenden Jahrzehnten bis zum Ersten Weltkrieg. Einen Teil der Leipziger Reformen von 1830 umfasst den Um- und Neubau des seit längerer Zeit stark vernachlässigten Paulinums. Das Konvikt wird verlegt und ein Senatsgebäude entsteht, in dem auch der Kanzler sitzt. Mit der Zuweisung von Geldern in der Höhe, wie sie auch Berlin und München zukommen, erhält die Universität Leipzig ab 1834 einen festen Etat. Von nun an übernimmt der sächsische Staat auch die Zahlung der Professorengehälter. Trotz dieser Neuerungen wird die Abschaffung jahrhundertealten Eigentums der Universität als Demütigung empfunden. Denn über 400 Jahre hat die Universität als autonome Institution innerhalb der Stadt mit einer Vielzahl von Privilegien, ohne Verpflichtungen und Sonderrechten für ihre Angehörigen existiert, wie Steuerfreiheit, Schutz vor städtischer Polizeigewalt und Justiz. Die Begeisterung der Professoren über die staatlich vorgegebene Reform hält sich deshalb in Grenzen. Die Unabhängigkeit der Universität gilt für ihre Angehörigen als unschätzbares Gut: Jede Einmischung wird als Entmündigung aufgefasst. Den Eingriff des Staates in die Angelegenheiten der Universität – und sei es durch die Zahlung der Gehälter – ist für manche daher eine schmerzliche Grenzverletzung. Denn die Abhängigkeit der Universität von Staatsinteressen untergräbt die Autonomie von Forschung und Lehre. In die Zeit der Staatsreform fällt auch die Gründung der heutigen Sächsischen Akademie der Wissenschaften 1846158 unter dem Motto von Leibniz theoria cum praxi.159 Aus dieser Akademie gehen bis heute zahlreiche Lexika, Lehr- und Handbücher, Werkausgaben und Periodika hervor.160 Die Messestadt erlangt mit der Akademie der Wissenschaften und ihren Schriften auch als Buch- und Druckmetropole sowie Handels- und Umschlagsregion politischer Flugschriften für Ost- und Südosteuropa wieder große Bedeutung. Der akademische Senat der Universität wittert jedoch Konkurrenz und unterstellt der Einrichtung sogar „panslawistische Umtriebe“.161 Nachdem der König von Sachsen die Reichsverfassung abgelehnt und den Landtag aufgelöst hat, kommt es in Dresden zum Maiaufstand. Nach dem Rücktritt des Reformministeriums am 24. Februar 1849 und der Auflösung der zweiten Kammer des sächsischen Landtages am 28. April, erheben sich die Bürger in Dresden und Leipzig, um damit dem Votum des Parlaments gegen die Restriktionen des sächsischen Königs und seiner Minister mehr Nachdruck zu verleihen. In Leipzig versuchen die Bürger vergeblich, die Pleißenburg zu stürmen und die Annahme der Verfassung zu erzwingen. Der Rektor der Universität, Professor Otto Linné Erdmann, lässt an kampfbereite Studenten Gewehre ausgeben. Aber der Aufstand wird mit preußischer Hilfe blutig niedergeschlagen. 158 Anlass war der 200. Geburtstages von Gottfried Wilhelm Leibniz. Vgl. Gerald Wiemers und Elisabeth Lea, Planung und Entstehung der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig 1704–1846. Zur Genesis einer gelehrten Gesellschaft, Göttingen 1996. 159 Damit entspricht die Akademie einem allgemeinen Bedürfnis der Zeit nach gebildeter Lektüre und Umgang. Universitätsreformer wie Wilhelm Traugott Krug verhielten sich zum Akademiegedanken noch ablehnend. Vgl. Ders., Entwurf zur Wiedergeburt der Universität Leipzig und andrer Hochschulen, welche ihr mehr oder weniger ähnlich sind. in: Jahrbuch der Geschichte und Staatskunst, Band 1, Leipzig 1829, S. 1–38. 160 Vgl. Michael Hübner / Sächsische Akademie der Wissenschaften (Hg.), Die Publikationen 1846 bis 2000. Im Auftrag der Akademie herausgegeben, Stuttgart/Leipzig 2000. 161 Vgl. Hartmut Zwahr, Von der zweiten Universitätsreform bis zur Reichsgründung, S. 174 f.

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In den Jahrzehnten nach der Niederlage der bürgerlichen Revolution von 1848 führen konservative und rechtsliberale Professoren die Universität. Denn die politisch engagierten Studenten haben Leipzig verlassen, stecken im Gefängnis oder sind untergetaucht.162 Der Universität wird vom Ministerium ein Statut vorgelegt, das die 1830 begründete Machtstellung des akademischen Senats und der Ordinarien brechen soll. Der Staat bindet die Universität durch die Ernennung eines Regierungsbevollmächtigten und sechs Senatoren nun noch fester an sich. In der Messestadt gibt es, als der Jurist und Althistoriker Theodor Mommsen im Herbst 1848 eintrifft, ein differenziertes politisches Vereinswesen, das die Strömungen der Zeit spiegelt. Mommsen lernt in Leipzig nicht nur Robert Blum kennen, den überzeugten Republikaner und entschiedenen Führer der Linken im Frankfurter Parlament. Wie überall in Deutschland, so stellen die Vereine auch in der sächsischen Handelsmetropole eine derzeit wichtige politische Größe dar. Auf der linken Seite steht in Leipzig der „Vaterlandsverein“ der Demokraten, der sich schon früh zur außerparlamentarischen Opposition bekennt und für die uneingeschränkte Umsetzung der Märzforderungen, weitgehende Grundrechte und eine republikanische Verfassung eintritt. Im „Vaterlandsverein“ versammeln sich nicht nur Professoren und Freiberufler, sondern auch Handwerksgesellen und Arbeiter. Mommsen tritt unmittelbar nach seiner Ankunft dem „Deutschen Verein“ bei, der Liberale bzw. „Konstitutionelle“163 organisiert.164 Die nationale Verfassungsfrage rückt in diesen Monaten in den Brennpunkt des politischen Geschehens. Moritz Haupt, Otto Jahn und Theodor Mommsen drängen auf eine Beschleunigung der Beratungen um die Reichsverfassung. Am 27. März 1849 scheinen sie ihr Ziel erreicht zu haben: Im Frankfurter Parlament wird der Erbkaiserplan mit 267 gegen 263 Stimmen angenommen. Die großdeutsche Lösung ist endgültig abgelehnt. Auch Mommsen und seine Freunde blicken auf den preußischen König Friedrich Wilhelm IV., der zum Kaiser gewählt wird. Doch der lehnt die „mit dem Ludergeruch der Revolution behaftete“ Würde ab und löste am 27. April die preußische zweite Kammer auf.165 Die verschiedenen Vereine der Stadt bereiten ein Aktionsbündnis vor. Dieses fordert, die Kommunalgarde mit bewaffneten Bürgern zu verstärken und den Dresdner Aufständischen zu Hilfe zu eilen. Als man damit aber nicht durchdringt, ziehen Mommsen, Jahn und Haupt mit dem Ruf „Bürger heraus!“ durch die Straßen und fordern Passanten auf, sich zu einer Volksversammlung einzufinden.166 Das Bündnis währt indes nicht lange. Schon am Nachmittag des 4. Mai kündigen die Professoren des „Deutschen Vereins“ die weitere Zusammenarbeit auf. Ihre Solidarität gilt nun den Behörden und der Kommunalgarde. Diese Volte leitet das Ende der Leipziger Maierhebung ein, bevor sie richtig beginnt. 162 Vgl. Hartmut Zwahr, Von der zweiten Universitätsreform bis zur Reichsgründung, S.182 ff. 163 Schon Anfang Juli 1848 hatten sich die Vertreter einer stärker monarchistischen Richtung abgespalten und den „Deutschen Konstitutionellen Verein“ ins Leben gerufen. 164 Die drei Professoren Moritz Haupt, Otto Jahn und Theodor Mommsen und der Gymnasiallehrer Julius Ludwig Klee trafen sich regelmäßig mit den Verlegern Karl Reimer und Salomon Hirzel – den Besitzern der Weidmannschen Buchhandlung – sowie Hermann Härtel und Georg Wigand, in dessen Haus Mommsen und Jahn wohnten. Vgl. Stefan Rebenich, Theodor Mommsen, die deutschen Professoren und die Revolution von 1848, in: Alexander Demandt et al., Theodor Mommsen. Wissenschaft und Politik im 19. Jahrhundert, Berlin / New York 2005, S. 13–35. 165 Vgl. ebenda. 166 Lothar Wickert, Theodor Mommsen. Eine Biographie, 4 Bde., Frankfurt a. M. 1959–80, Bd. 1, S. 156.

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Die Restauration schlägt unter Führung des sächsischen Ministers Friedrich Ferdinand Freiherr von Beust zurück. In Dresden kämpfen der Architekt Gottfried Semper, der Komponist Richard Wagner, der Gymnasiallehrer Hermann Köchly, der sächsische Radikale Samuel Erdmann Tzschiraer und der russische Anarchist Michail Bakunin mit einigen hundert Handwerkern, Arbeitern und Studenten auf verlorenem Posten. Am 5. Mai treffen die preußischen Einheiten ein, die in viertägigen blutigen Straßen- und Häuserkämpfen die Rebellen besiegen. Über 250 Tote sind zu beklagen, und 727 Revolutionäre werden in den nachfolgenden Prozessen zu Zuchthausstrafen verurteilt, viele fliehen außer Landes. Als konservative Kräfte sogar so weit gehen, die alte Ständeordnung vor 1831 wieder herstellen zu wollen, opponieren sogar 21 Professoren als Senatsmitglieder der Universität Leipzig gegen die Regierung.167 Die Regierung in Dresden antwortet mit Disziplinarverfahren und will der Hochschule ein neues Universitätsstatut aufzwingen, das die Machtstellung des Senats und der Ordinarien brechen soll. Die Leipziger Professoren Moritz Haupt, Otto Jahn und Theodor Mommsen sowie der Privatdozent Gustav Fricke werden wegen ihrer politischen Aktivitäten entlassen. Das gleiche Schicksal trifft auch die Studenten, die an den Kämpfen in Dresden teilgenommen haben. Die Revolution von 1848/49 bringt Deutschland und auch der Universität Leipzig also nicht die erhofften Verbesserungen. Der Deutsche Bund wird wiederhergestellt. Die sächsische Regierung bekräftigt ihren Sieg mit dem Verbot aller Leipziger Burschenschaften und der Relegierung aller politisch engagierten Wissenschaftler.168 Ab 1850 wird ein Vereinsund teilweises Versammlungsverbot erlassen und die Pressefreiheit eingeschränkt. Nach dieser Revolution endet auch die kurze Periode des ersten Leipziger Studentenausschusses. Er scheitert an den politischen Gegensätzen innerhalb der Studentenschaft und an dem Unvermögen, eine für alle Seiten akzeptable Lösung zu finden.

3.2 Der Wissenschaft dienen: Die ‚Welt-Universität‘ bis zur Weimarer Republik Nach der Niederwerfung des Maiaufstandes 1849 in Dresden beginnt in der sächsischen Geschichte eine längere Zeit restaurativer und konservativer Politik durch das Kabinett von Friedrich Ferdinand Freiherr von Beust.169 Die Revolution ist zwar in vielen Punkten gescheitert, die politische Teilhabe breiter Bevölkerungsgruppen an der staatlichen Macht wird wieder beseitigt und die Gründung eines liberal-konstitutionellen Nationalstaates gelingt auch vorerst nicht. Gleichzeitig aber wächst Leipzig seit den 1830er-Jahren zur Großund Industriestadt heran.

167 Hierzu gehörten die Professoren Albrecht, Drobisch, Hartenstein, Haupt, Jahn, Roscher, Steinacker, Brockhaus, Weber, Erdmann, Weiße und Wuttke. Die Disziplinarverfahren gegen sie mussten allerdings am 2.8.1851 eingestellt werden. Vgl. Konrad Krause, Die Geschichte der Alma mater Lipsiens von 1409 bis zur Gegenwart, S. 123. 168 In der Folge der Märzrevolution mussten einige Professoren die Hochschule verlassen, darunter der Germanist Moritz Haupt und der Rechtswissenschaftler und Historiker Theodor Mommsen. 169 Friedrich Ferdinand von Beust war bis 1853 Kulturminister und für die Durchsetzung der politischen Richtung an der Leipziger Universität verantwortlich.

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Nach dem Sieg von 1866 gewinnt unter Leipziger Studenten und Professoren die politische Stimmung für die Gründung des Deutschen Reiches unter Führung Preußens zunehmend an Bedeutung. Außenpolitisch eskalieren die Spannungen zu Frankreich. Mit einer Demonstration bekennen sich Leipziger Studenten 1870 zu Preußen. Die propreußische Stimmung verbreitet sich in ganz Sachsen. Am 18. Juli 1870 fordern 800 Studierende in der Universität Leipzig den Krieg gegen Frankreich. Zwei Drittel der Leipziger Studenten beteiligen sich am Deutsch-französischen Krieg. Mehr als 60 fallen.170 Mit der Reichsgründung171 verlieren die Teilstaaten faktisch ihre Souveränität, auch wenn sie innenpolitisch noch relativ autonome Politik, zum Beispiel im Bildungswesen, betreiben können. Es entsteht eine Dualität von Staatsverwaltung und Selbstverwaltung auf den verschiedenen Ebenen.172 Die duale Ordnungslogik der deutschen Verwaltung entsteht durch Ungleichzeitigkeit von administrativer und politischer Modernisierung.173 Es ergibt sich eine Arbeitsteilung zwischen zentraler und dezentraler Verwaltung, die bis heute Bestand hat.174 Der deutsche Föderalismus hat seine Wurzeln in dieser späten Staatswerdung der Nation, zu der es 1871 formell auf Beschluss der Fürsten in Versailles kam.175 Mit der Reichsgründung setzt sich in der deutschen Verwaltung eine doppelte Logik der Organisation durch: einerseits die Logik einer Staatsverwaltung, die von oben nach unten durchorganisiert ist, andererseits eine Selbstverwaltung, die von unten nach oben agiert. In diesem Spannungsfeld befinden sich auch die höheren Bildungseinrichtungen, also Fachhochschulen und Universitäten.176 So soll gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine „Reform von oben“ möglichen sozialdemokratisch motivierten Unruhen entgegenwirken177 und Asymmetrien der einzelnen deutschen Länder im Hinblick auf die Wirtschaftskraft und Sozialstruktur ausgleichen.178 170 Eine Akte im Universitätsarchiv enthält ein Verzeichnis der Studierenden, die am Krieg teilgenommen und aus diesem Grund Gratifikationen von der Universität erhalten haben. Vgl. Universitätsarchiv Leipzig (=UAL), Rep. II/XIII 092. 171 Die Stadt Leipzig verlieh ihm bereits am 28.01.1871 die Ehrenbürgerwürde. Vgl. Hans-Jörg Eitel, Akademischer Bismarck-Kult an der Universität und in der Stadt Leipzig, in: Ulrich von Hehl (Hg.): Sachsens Landesuniversität in Monarchie, Republik und Diktatur. Beiträge zur Geschichte der Universität Leipzig vom Kaiserreich bis zur Auflösung des Landes Sachsen 1952. Leipzig 2005, S. 82. 172 Vgl. Wolfgang Seibel, Verwaltung verstehen. Eine theoriegeschichtliche Einführung, Frankfurt a. M. 2016, S. 70 f. 173 Die Veränderung der Verhältnisse politischer und ökonomischer Macht vollzog sich in Deutschland – anders als in Frankreich – seit dem 18. Jahrhundert auf friedliche Weise in einer Art Kompromiss. Die Krone überließ dem Landadel die Verwaltungskompetenzen auf der lokalen Ebene im Rahmen der so genannten Patrimonialgewalt, so dass der zentralstaatliche Verwaltungsunterbau in der Fläche lediglich bis auf die regionale Ebene hinunterreichte. 174 Dabei entwickelte sich in Deutschland eine professionelle und weitgehend rechtsstaatliche Verwaltung erheblich früher als eine allgemeine Verfassungsordnung, auch schon vor der parlamentarischen Kontrolle der Regierungsgewalt. Vgl. Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung soziale Bewegung von 1791 bis 1848, München 1989. 175 Vgl. Wolfgang Seibel, Verwaltung verstehen, S. 72. 176 Dies galt für die preußische Städtereform 1809 und später für die institutionelle Form der Körperschaft des öffentlichen Rechts. 177 Durch die Einführung einer für das damalige Europa ‚fortschrittlichen‘ Absicherung aller Arbeitsnehmer gegen die Risiken von Krankheit und Arbeitsunfällen und die Einführung einer gesetzlichen Rentenversicherung wollte man den Sozialisten den Wind aus den Segeln nehmen. 178 In den Gleichbehandlungsansprüchen der Fürstenstaaten in einem Reich waren Zentralisierungsschübe

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In den Jahren vor und nach der Reichsgründung wandelt sich die Universität Leipzig zu einer gesamtdeutschen Universität von internationalem Rang. Anspruchsvolle Wissenschaftsprojekte entstehen, die vom Rektor und Senat mit Nachdruck gefördert werden. Das Kultusministerium entscheidet finanziell großzügiger, in Berufungen weitsichtiger und bedachter. Es kommt zu einer Verfachlichung der akademischen Lehre und es entstehen neue wissenschaftliche Disziplinen.179 Neue Institutsbauten entstehen. Außerordentliche Professuren nehmen zu und Lehrstühle werden gegründet. Trotz rückläufiger Studentenzahlen etablieren sich neue Wissenschaftsgebiete. Das schafft Freiraum für die Forschung. Das „humboldtsche“ Bildungsideal der Verbindung von Lehre und Forschung trifft auch in Leipzig auf fruchtbaren Boden. Dabei geht es weniger um die Ausbildung universal einsetzbarer Bürgerbeamter und Staatsdiener. An dieser Förderung des Bildungswesens im Rahmen einer zweiten Reform hat der neue Kultusminister Carl von Gerber einen entscheidenden Anteil. Er setzt ab Mitte der 1850erJahre die neue Bildungspolitik im großen Stil durch.180 Unter Gerbers Aufsicht wird unter anderem die Oberaufsicht der Kirche über das Schulwesen beseitigt, ein neues Volksschulgesetz in Kraft gesetzt und die Fortbildungsschule Pflicht. Die vorbildliche Stellung in Sachen Schulwesen, die Sachsen im Norddeutschen Reich nun einnimmt, wird nach 1871 durch die feste Integration der Schule in das bürgerliche Gesellschaftssystem weiter bestätigt, was auch mit einer bevorzugten Förderung des höheren Schulwesens verbunden ist.181 Mit einer Rahmengesetzgebung abgesichert kann auf diese Weise auch den neuen Anforderungen in der industrialisierten Arbeitswelt Rechnung getragen werden. Die Reform, die nicht nur die Hochschulpolitik, sondern das gesamte Bildungssystem umfasst, ist vor allem deshalb beispielgebend, weil sie nicht nur bildungspolitisches Flickwerk darstellt, wie es dann im 20. Jahrhundert oft fabriziert wird, sondern ein allgemeines Bildungskonzept verfolgt, das gesellschaftliche Grundlagen für eine dauerhafte Anhebung des allgemeinen Bildungsniveaus schafft und nicht nur auf kurzfristige technische Erfolge setzt. Mit der Reform geht auch ein Anwachsen des technischen, im alltäglichen Leben anwendbaren Wissens einher, wie es für das 19. Jahrhundert charakteristisch ist. Das wiederum wirkt sich auch auf die Forschung und Bildung an den Universitäten aus. Der Reichtum Sachsens infolge der fortgeschrittenen Industrialisierung sowie die zunehmend bedeutende Stellung Leipzigs als Buch-, Handels- und Kulturstadt wirkt sich in diesem Zusammenhang besonders förderlich auf die Entwicklung der Alma Mater aus.182 Im Zuge eben dieser Schul- und Bildungsreform erlebt die Leipziger Universität ihre Hochzeit als gesamtdeutsche Bildungsstätte mit internationaler Ausstrahlung. Das hohe

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der Gesetzgebungspraxis angelegt, die sich in der Weimarer Republik unter einer demokratischen Reichsverfassung voll entfalten und in Westdeutschland unter dem 1949 verabschiedeten Grundgesetz konsolidieren sollten. Seitdem gibt es eine Arbeitsteilung in der Staatstätigkeit, in deren Rahmen Gesetzgebung überwiegend Bundessache, Gesetzesvollzug, also Verwaltung, überwiegend Ländersache ist. So begründete Richard Lepsius die Ägyptologie. 1874 wurden das Seminar für klassische Archäologie sowie das Fach Geographie gegründet. Ein Lehrstuhl für Kunstgeschichte entstand. Die Geschichtswissenschaft splitterte sich in die Lehrstühle für Mittlere und Neuere Geschichte auf. Nicht zuletzt erlangte das 1879 gegründete Institut für Psychologie mit Wilhelm Wundt Berühmtheit. Karl Czok, Der Höhepunkt der bürgerlichen Wissenschaftsentwicklung 1871 bis 1917, S. 193 f. Ebenda. Hartmut Zwahr, Von der zweiten Universitätsreform bis zur Reichsgründung, S. 184 ff.

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Niveau der Ausbildung sowie das aufgeschlossene Umfeld der Stadt ziehen die Studierenden aus allen Teilen Deutschlands und aus dem Ausland an. Die Studierendenzahlen wachsen jetzt rasant. Das hat sicher einen Grund auch darin, dass Leipzig ein großzügiges Konvikt und Stipendien zu bieten hat, so dass auch sozial Schwächere hier studieren können. Die Konzentration auf den Gegenstand und das Forschen unabhängig von der Ständeordnung macht das wissenschaftliche Arbeiten in diesen Jahren besonders fruchtbar. Auch die Vermögenslage der Leipziger Alma Mater verbessert sich in dieser Zeit wesentlich. Dank noch bestehenden Grundbesitzes wird die Leipziger Universität zu einer der reichsten Hochschulen des Deutschen Reiches. Gelder aus Verpachtungen und Mieten werden in den Ausbau der Universität reinvestiert. Nie zuvor hat die Universität so viele neue Gebäude und Umbauten erhalten wie damals. Sie prägen das Stadtbild zum Teil bis heute. Das Zentrum der Universität, das Paulinum, erhält zudem 1892/97 einen neuen Monumentalbau. Zusammen mit dem flankierenden Johanneum nach Süden und dem Borneanum nördlich des Paulinerhofes entstehen 28 Hörsäle mit fast 3.000 Plätzen. Außerdem entstehen neue medizinische und naturwissenschaftliche Institute. Nach dem Neubau des Chemischen Instituts 1866/68 entsteht zur Jahrhundertwende ein neues Universitätsviertel auch im Südosten der Stadt. Zur 500-Jahrfeier 1909 ist die Universität Leipzig eine gut ausgestattete moderne Großuniversität mit internationaler wissenschaftlicher Anerkennung. Der Ausbau der Naturwissenschaften geht voran. Es werden immer mehr bedeutende Gelehrte gewonnen.183 Disziplinen wie Astronomie, Botanik, Zoologie und Geowissenschaften erleben eine Blütezeit an der Universität. Die Medizinische Fakultät wird zu einer der führenden Einrichtungen in Deutschland, an der Gelehrte wie der Mediziner Carl Reinhold August Wunderlich und Carl Thiersch, der Geograph Friedrich Ratzel, der Psychologe Wilhelm Wundt und der Psychiater Paul Flechsig lehren. Leipzig wird dann im Deutschen Kaiserreich zwischen 1871 und 1918 auch in den mathematischen Studien führend. Der Ausbau der Universität ist eine wesentliche Voraussetzung dafür. Aber nicht nur für die technischen und naturwissenschaftlichen Fächer, sondern auch für die Umgestaltung der Geisteswissenschaften ist die sächsische Regierung nun bereit, größere Finanzmittel auszugeben. Immerhin beruht ein Teil des guten Rufs der Leipziger Universität auf den Geisteswissenschaften. Einen enormen Aufschwung nehmen die Einrichtung vor allem mit der Gründung des Historischen Seminars und solchen Koryphäen wie den Historikern Heinrich Wuttke und Heinrich von Treitschke, dem Archäologen Johannes Overbeck oder dem Historiker Karl Lamprecht. Auch die Fächer Pädagogik, Germanistik, Anglistik und Romanistik tragen dazu bei, dass Leipzig ein international angesehenes Sprachforschungszentrum wird. Allein in den Geisteswissenschaften entstehen bis zum Ersten Weltkrieg zwölf Forschungsinstitute.184 An der Philosophischen Fakultät werden zu jener Zeit zwei Tendenzen sichtbar: Trotz des Rückgangs des Einflusses der Theologie im Allgemeinen bleibt eine Bindung an das 183 So bekamen Physik und Chemie einen Aufschwung durch Wissenschaftler wie Gustav Theodor Fechner oder Wilhelm Ostwald. In der Mathematik waren es solche Größen wie Moritz Wilhelm Drobisch und Felix Klein. 184 Die konnten sich allerdings wegen der politischen Entwicklungen nicht mehr voll entfalten.

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lutherische Bekenntnis zu erkennen. Das Erstarken der Naturwissenschaften185 macht dagegen den Positivismus populär.186 Lamprecht trägt mit der Gründung des Instituts für Kultur- und Universalgeschichte dazu bei, dass Leipzig ein Zentrum für geschichtswissenschaftlicher Studien wird.187 Es werden Zeitungswissenschaften gegründet und Professoren der juristischen Fakultät wirken an der Ausarbeitung eines Bürgerlichen Gesetzbuches sowie an rechtswissenschaftlichen Handbüchern mit. Große Nachschlagewerke entstehen wie Albert Haucks fünfbändige Kirchengeschichte Deutschlands, die Religionsgeschichte wird 1912 als Fach begründet und eine Real-Enzyklopädie der protestantischen Theologie und Kirche wird herausgegeben.188 Auch die Kolonialpolitik Deutschlands wirkt sich auf die universitäre Lehre aus. Sie weckt das wissenschaftliche Interesse an außereuropäischen Kulturen, das betrifft nicht nur die Orientalistik. So entstehen Arbeiten zur Berbersprache oder zur Dichtkunst und Folklore afrikanischer Völker, zur Ethnographie, Ägyptologie und Prähistorie. Zeugnis dieser intensiven Auseinandersetzung ist das Museum für Völkerkunde, das 1869 gegründet wird und sich vorwiegend aus den Beständen der Privatsammlung des Königlich-Sächsischen Hofrats und Bibliothekars Gustav Friedrich Klemm zusammensetzt. Die philologischen Studien lösen zwar die Philosophische Fakultät, die jetzt in 19 Institute untergliedert ist, immer mehr in selbständige Fächer auf. Aber fast jeder Lehrstuhl der Fakultät ist mit einer hervorragenden Persönlichkeit besetzt189 und der interdisziplinäre Dialog floriert. Trotz dieses Aufschwungs der Einzelwissenschaften bleibt man der Idee der Geisteswissenschaften treu, nach dem es nicht nur um historische Fakten und empirische Kenntnisse geht, sondern um Einsichten in allgemeine und übergreifende Zusammenhänge, damit auch um theorieförmige und begriffssystematische Ordnungen von institionellen und kulturellen Verfassungen. Der Bildungsoptimismus der Zeit lässt sich auch an den Einschreibelisten ablesen.190 Die Studierendenzahlen verdoppeln sich. Leipzig rückt Ende der 1870er-Jahre für einige Jahre

185 Zum Leipziger „Positivistenkreis“ gehörten unter anderem Wilhelm Wundt, Wilhelm Ostwald, Wilhelm Paul Flechsig, Otto Heinrich Wiener, vielleicht auch der Chemiker Johannes Wislicenus, Friedrich Ratzel, Karl Bücher und Karl Lamprecht, aber auch Max Klinger. Siehe Karl Czok, Der Höhepunkt der bürgerlichen Wissenschaftsentwicklung, S. 212. 186 Vgl. Karl Lamprecht, Was ist Kulturgeschichte? Beitrag zu einer empirischen Historik, in: Herbert Schönebaum (Hg.), Karl Lamprecht. Ausgewählte Schriften zur Wirtschafts- und Kulturgeschichte und zur Theorie der Geschichtswissenschaft, Aalen 1974 (1896), S. 257–277 und 297–327. 187 Vgl. Karl Lamprecht, Deutsche Geschichte, 12 Bde., Berlin 1906–1911. 188 Vgl. Klaus Fitschen, Theologie, in: Senatskommission zur Erforschung der Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009. Fakultäten, Institute, Zentrale Einrichtungen, Bd. 4, S. 35–103. 189 Richard Lepsius begründete in Leipzig die Ägyptologie, Heinrich Wuttke machte sich als Historiker vor allem Autor der Geschichte der Schrift einen Namen, Johannes Overbeck wurde erster Professor am 1874 gegründeten archäologischen Institut, Friedrich Ratzel gilt als Begründer der Anthropogeographie, Wilhelm Wundt begründete in Leipzig die experimentelle Psychologie, Carl Ludwig begründete die moderne Physiologie, Paul Flechsig war einer der „Väter der Hirnanatomie“ und Anton Springer galt als einer der führenden Kunsthistoriker des 19. Jahrhunderts. Vgl. auch Walther Martin, Wesen und Wandel der Philosophischen Fakultät, in: Karl-Marx-Universität Leipzig. 1409–1959, Bd. I, Leipzig 1959, S. 53. 190 Liste der Professoren siehe: Karl Czok, Der Höhepunkt der bürgerlichen Wissenschaftsentwicklung 1871 bis 1917, S. 197.

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an die Spitze aller deutschen Universitäten.191 Gibt es im Wintersemester 1845/46 in Leipzig 8,4 Studenten auf eine Lehrkraft, so sind es 1880 bereits 18,3.192 In den Hörsälen sitzen nun nicht mehr nur immatrikulierte Studenten, sondern auch „unbescholtene Bürger reifen Alters“, zum Beispiel Offiziere. Eine Berechtigung als Hörer oder Hospitant kann jetzt jeder erwerben193 und es werden Geschlechter- und Standesbarrieren überwunden. Im Wintersemester 1906/07 werden erstmals vollberechtigte Studentinnen an der Leipziger Universität zugelassen.194 Die rasche Zunahme der Zahl ausländischer Studierender195 (von nur 81 im Wintersemester 1890/91 auf 904 im Wintersemester 1910/11) führt aber auch zu Problemen. Zugleich steigt der Anteil von Studierenden aus den neuen Mittelschichten, aus Familien von Angestellten, Lehrern und Pfarrern.196 Angesichts der stark erweiterten Universität mit den auf das Drei- bis Vierfache ausufernden Studentenzahlen, vielen neuen wissenschaftlichen Instituten, der Notwendigkeit umfassender Literaturstudien und des angehäuften Wissens in den einzelnen Fächern erhalten auch soziale Aspekte und die Schaffung notwendiger Arbeitsbedingungen stärkeres Gewicht. Die Studentenschaft will die sozialen Probleme auf eigene Initiative beheben, schafft Arbeitsämter für studentische Nebentätigkeiten, baut eine studentische Unfallversicherung auf und kümmert sich um das Wohnraum- und Mietproblem, das durch eine steigende Geburtenrate in den vorangegangenen Jahren sowie durch Zuwanderung und umfangreiche Eingemeindungen in Leipzig immer größer wird, zumal das Konvikt überfüllt ist. Außerdem unterbreitet ein neu eingerichtetes permanentes Studentenkomitee einen Vorschlag für eine Lesehalle.197 Zwar beginnt schon im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts die Ablösung der akademischen Gerichtsbarkeit zugunsten des öffentlichen, bürgerlichen Rechts nach dem Grundsatz der Gleichheit aller vor dem Gesetz. Aber erst 1878 bestimmt das neue Studenten-Gesetz die rechtliche Zugehörigkeit der Studenten neu.198 Bereits ein Jahr vorher wird die akademische Gerichtsbarkeit mit einem universitätsinternen Gericht, mit dem Amt des Pedells und mit eigenen Rechtsanwälten abgeschafft. Die Universität behält nur noch die disziplinarische Aufsicht über die Studierenden und kümmert sich um solche Probleme wie studentisches 191 Franz Eulenburg, Die Entwicklung der Universität Leipzig in den letzten hundert Jahren, Leipzig 1909, S. 30. 1859 gab es 904 Studierende, 1874 2.887 und 1904 studierten 4.115 Menschen an der Leipziger Universität. 192 Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft, S. 144. 193 Vgl. ebenda, S. 143. 194 Aber diskriminierende Einschränkungen blieben bestehen. Immerhin konnte ein Dozent mit Zustimmung des königlichen Ministeriums den Studentinnen auch die Teilnahme an seinen Vorlesungen und Seminaren verweigern. 195 Ab dem Wintersemester 1913 sollten die aus dem Zarenreich kommenden Studenten erst zwei Semester in ihrer Heimat studieren, ehe sie in Leipzig immatrikuliert werden konnten. Das benachteiligte jüdische Bewerber, die wegen der zaristischen Gesetze kaum Chancen auf einen Studienplatz dort hatten. Vgl. ebenda, S. 157. 196 Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft, S. 152. 197 Zu dieser Lesehalle kam es tatsächlich. Sie bestand bis 1923 und war zunächst eine selbständige Einrichtung an der Universität Leipzig. Später wurde sie der Universitätsbibliothek angegliedert. Um in ihr lesen zu dürfen, musste man Mitglied werden. 198 Gesetz, die Studirenden auf der Universität Leipzig betr., vom 28.2.1878 (GVOBI. Sachsen 1878, S. 19 ff.).

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Schuldenmachen oder Rufschädigungen gegenüber Instituten oder Personen und Strafen müssen weiterhin im Karzer abgesessen werden. Insgesamt aber gehen die Delikte stark zurück oder werden universitär kaum geahndet. Bildung zählt und bietet Aufstiegschancen.199 Verbindungen und Vereine entwickeln in den folgenden Jahrzehnten ein starkes nationales Selbstbewusstsein. Zentrales Anliegen dieser ‚Wilhelministischen Zivilreligion‘ ist der Erinnerungskult in nationalen Gedenktagen200 an Gedenkstätten201 und die Unterstützung der ‚Weltpolitik‘ Kaiser Wilhelms II.202 Schon seit den Freiheitkriegen gibt es in den nationalen studentischen Verbindungen verbreitet auch einen Antisemitismus,203 mit wenigen Gegenbewegungen.204 Zum Jahrestag ihres 500-jährigen Bestehens 1909 gehört die Leipziger Universität zu den Vorzeigeuniversitäten des Deutschen Reiches. Bereits 1906, drei Jahre vor dem Jubiläum, beschließt die Universität pompöse Feierlichkeiten und setzt eine Jubiläumskommission ein mit weitreichender Handlungsvollmacht. Es werden zehn Ausschüsse gebildet mit speziellen Aufgaben, einer davon ist ein „Damenausschuss“.205 Ursprünglich gab es sogar den Plan, eine Festhalle für 10.000 geladene Gäste zu errichten.206 Die Festrede soll der 77-jährige langjährige Professor, ehemaliger Rektor und Ehrenbürger der Stadt Leipzig Wilhelm Wundt halten.207 Teilnehmer an dem prunkvollen dreitägigen Fest in Leipzig sind das fast vollständige sächsische Königshaus, Prinz August Wilhelm als Vertreter des Kaisers, Fürsten aus deutschen Ländern, eine große Zahl illustrer ehemaliger Studenten, die 237 Mitglieder des Lehrkörpers und 17 Beamte der Universität, 478 Ehrengäste und 916 weitere Gäste, ca. 6.000 frühere Studenten und die 4.581 im Sommersemester 1909 immatrikulierten Studenten. Die Universität erhält 161 Grußadressen sowie 125 Geschenke und Stiftungen sowie 42 Widmungen, vor allem Bücher, Kompositionen und Dichtungen.208 In der weiteren Veranstaltung gibt es den Empfang für König Friedrich August von Sachsen durch den Rektor, die Dekane und 150 chargierten studentischen Verbindungen, einen Festgottesdienst, einen Festakt, einen Festzug, eine Theatervorstellung und ein Gewandhauskonzert.209 199 Das Ministerium in Dresden klagte alle Urteile ein, die eine ungenügende Grundlage hatten. Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft, S. 162–165. 200 Etwa im Gedenken an die Sedanschlacht oder die Reichsgründung. 201 Etwa das Niederwalddenkmal oder das auf dem Kyffhäuser, nicht zu vergessen das Hermannsdenkmal bei Detmold oder dann auch das Leipziger Völkerschlachtsdenkmal. 202 Davon zeugten auch solche Vereinsgründungen wie der „Verein für das Deutschtum im Ausland“. 203 Voran gingen die Turnvereine, Burschenschaften und Landsmannschaften. 204 „Der freie wissenschaftliche Verein“ zum Beispiel wurde mehrfach verboten. Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft, S. 168. 205 Dieser wurde nicht von einem Professor, sondern von der Gattin des Rektors, Frau Binding, geleitet und hatte die mitreisenden Ehegattinnen zu betreuen. Dazu gehörten unter anderem der freie Eintritt ins Leipziger Bildermuseum und ein großer gemeinsamer Teeabend für die rund 420 weiblichen Ehrengäste des Jubiläums. Vgl. Karl Binding, Die Feier des fünfhundertjährigen Bestehens der Universität Leipzig, amtlicher Bericht im Auftrage des akademischen Senats. Erstattet von Karl Binding, Leipzig 1910. 206 Für die Festhalle auf dem Messeplatz war der Germanist Albert Köster verantwortlich. Für ihn ergab sich eine besondere Arbeitslast, denn die Festhalle musste erst errichtet werden, und dann galt es, darin einen gemeinsamen Festschmaus für über 10.000 geladene Gäste zu koordinieren. Vgl. ebenda. 207 Vgl. ebenda, S. 158–183. 208 Vgl. Karl Binding, Die Feier des Fünfhundertjährigen Bestehens der Universität Leipzig. 209 Die Finanzierung konnte trotz Schwierigkeiten mit Unterstützung der Staatsregierung und der Stände

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Die Universität platzt aber aus allen Nähten. Der unter Karl Lamprechts Rektorat 1910/11 vorgeschlagene Plan, die Universität vom Zentrum ins Grüne zu verlegen, scheitert an finanziellen Schwierigkeiten. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges wird, wie überall in Deutschland, euphorisch begrüßt.210 Viele Studenten folgen dem Aufruf auf freiwilligen Kriegsdienst.211 Die studierenden Frauen leisten Sanitätsdienst. In der Armee dienende Studenten werden beurlaubt.212 Versehrte Offiziere dürfen dagegen ein Studium beginnen. Die Studierenden werden gegen Ende des Krieges aufgefordert, in der Rüstungsindustrie auszuhelfen.213 Wie andere Universitäten steht auch Leipzig vor der Aufgabe, während des Krieges das Lehrangebot an die geringere Zahl der noch in Leipzig anwesenden Studenten anzupassen, ohne den Rahmen und die Form des Studienbetriebes zu verändern. Außerdem gibt es ab 1915 Kurse mit gestrafftem Stoff für zurückgekehrte Kriegsteilnehmer. Der Studienbetrieb ist durch die zunehmende Zahl von Einberufungen aus Studentenschaft und Lehrkörper nur unter großen Mühen und Belastungen aufrecht zu erhalten. Aber an allen Fakultäten herrscht relative Kontinuität im Lehrangebot. Die Lehrveranstaltungen werden an die veränderte Situation angepasst. Schon im Wintersemester 1914/15 werden Vorlesungen mit thematischen Bezügen zum Krieg angeboten.214 Als die Ernährungslage im Land kritischer wird, sorgt die Universitätsleitung für ein warmes Mittagessen für alle Studenten und Studentinnen. Der Lehrkörper der Universität unterstützt vor allem „geistig“, also propagandistisch, die Kriegsführung des Deutschen Reiches. Einen „Aufruf an die Kulturwelt“215, der die

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gelöst werden. Der Landtag bewilligte mit dem Etat 1908/09 für das Jubiläum 189.000 Mark. Vgl. Wolfgang Tischner, Das Universitätsjubiläum 1909 zwischen universitärer Selbstvergewisserung und monarchischer Legitimitätsstiftung, in: Ulrich von Hehl, (Hg.): Sachsens Landesuniversität in Monarchie, Republik und Diktatur. Beiträge zur Geschichte der Universität Leipzig vom Kaiserreich bis zur Auflösung des Landes Sachsen 1952, S. 95–114. Am 27. Juli 1914 fand eine Großkundgebung der Universität zur Unterstützung des bevorstehenden Kriegsausbruches in Verbindung mit der Verabschiedung der einberufenen österreichischen Kommilitonen statt. Die Studenten wurden zur freiwilligen Meldung für den Kriegsdienst in der Studentenzeitschrift aufgerufen. Ein Appell des Rektors Otto Meyer forderte zur Mitwirkung im Sanitätsdienst und in der Landwirtschaft auf. Auch der moralische Druck von außen war groß, so dass sich in einer Welle der Begeisterung viele Studenten am Krieg beteiligten. Im WS 1914/15 waren 59 Prozent, im SS 1915 bereits 70 Prozent der eingeschriebenen männlichen Studierenden im Kriegs- bzw. Ersatzdienst tätig. Dieser Anteil steigerte sich in den späteren Kriegsjahren auf 85 Prozent. Vgl. Ulrike Gätke-Heckmann, Die Universität Leipzig im Ersten Weltkrieg, in: Ulrich von Hehl, (Hg.), Sachsens Landesuniversität in Monarchie, Republik und Diktatur. Beiträge zur Geschichte der Universität Leipzig vom Kaiserreich bis zur Auflösung des Landes Sachsen 1952, S. 148. Das betraf etwa 75 Prozent der an der Universität eingeschriebenen Studenten. Ulrike Gätke-Heckmann, Die Universität Leipzig im Ersten Weltkrieg, in: Ulrich von Hehl (Hg.), Sachsens Landesuniversität in Monarchie, Republik und Diktatur. Beiträge zur Geschichte der Universität Leipzig vom Kaiserreich bis zur Auflösung des Landes Sachsen 1952, S. 148. So bot die Juristische Fakultät eine Vorlesung über „Kriegsvölkerrecht“ an, und in der Wirtschaftswissenschaft gab es ein Kolleg „Krieg und Volkswirtschaft“. An der medizinischen Fakultät gab es verstärkt praktische Übungen für den eventuellen Einsatz an der Front oder in den Lazaretten. Darüber hinaus gab es eine Vorlesung über Kriegschirurgie, Kriegsschädigungen und psychische und nervöse Störungen als Kriegsfolge. Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft, S. 192 f. Vgl. Jürgen und Wolfgang von Ungern-Sternberg, Der Aufruf „An die Kulturwelt“. Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1996.

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Kriegsziele akademisch „begründet“ und zum Beispiel die begangenen Kriegsverbrechen in Belgien leugnet, trägt auch die Unterschriften der Leipziger Professoren Karl Lamprecht (er übte später Selbstkritik), Wilhelm Wundt und Wilhelm Ostwald. Die „Erklärung der Hochschullehrer des deutschen Reiches“ wurde von 165 der 244 an der Leipziger Universität beschäftigten Professoren unterschrieben. Auch eine „Kundgebung der deutschen Universitäten an die Universitäten des Auslandes“ wird nach längerer Diskussion mit abmildernder Überarbeitung des Textes unterstützt.216 Durch den Krieg werden zwar keine Gebäude und Einrichtungen der Leipziger Universität zerstört, jedoch ist durch die kriegsbedingten Einschränkungen und die internationale Isolation die wissenschaftliche Entwicklung für längere Zeit unterbrochen. Wie alle Teile der Bevölkerung haben auch die Professoren und Studenten unter dem Mangel an Wohnungen, Heizungs- und Stromversorgung sowie dem Verpflegungsnotstand, zum Beispiel während des sog. „Steckrübenwinters“ 1916/17, zu leiden. Mit Hilfsmaßnahmen wie der Gründung der Ortsgruppe des Akademischen Hilfsbundes (AHB) im Januar 1916 zur Unterstützung kriegsgeschädigter Akademiker oder der Ausgabe von Mittags- und Abendmahlzeiten im Burgkeller für Studenten nach festen Preisen wird versucht, die Not zu lindern.217 Der Krieg entzieht der Universität immer mehr Mittel. Die Lebensbedingungen verschlechterten sich. Die Universität gerät in den Sog der allgemeinen kriegsbedingten Krise.218 Am Ende stehen die Namen von 1.396 Universitätsangehörigen – 1.370 Studierende, 12 Lehrkräfte und 14 Angestellte – auf dem Sockel des 1919 in Auftrag gegebenen und 1924 eingeweihten Denkmals für die Toten des Ersten Weltkrieges in Leipzig. Von allen deutschen Universitäten hat Leipzig die größten Kriegsverluste zu verzeichnen.219

4. Eine deutsche Universität im 20. Jahrhundert 4.1 Grenzen akzeptieren: Die Zeit der Weimarer Republik Die politische Lage nach Kriegsende im Jahr 1918 ist keineswegs stabil. Nach dem Vorbild der Kieler Matrosen rebellieren am 6. November 1918 die Soldaten der Fliegerkaserne in Großenhain. Über dem Dresdener Schloss markiert eine rote Fahne die Zeitenwende. Der Kaiser flieht und der König von Sachsen – Friedrich August III. – untersagt als letzte Amtshandlung den Einsatz von Waffen gegen die Protestierenden. Die Treuebekenntnisse des Rektors der Leipziger Universität zur neuen Weimarer Verfassung ändern wenig an der im 216 Ulrike Gätke-Heckmann, Die Universität Leipzig im Ersten Weltkrieg, in: Ulrich von Hehl (Hg.), Sachsens Landesuniversität in Monarchie, Republik und Diktatur. Beiträge zur Geschichte der Universität Leipzig vom Kaiserreich bis zur Auflösung des Landes Sachsen 1952, S. 153. 217 Allerdings profitierte die Universität Leipzig finanziell von zahlreichen Nachlässen, mit denen sie bedacht wurde. Auch gefallene Soldaten vermachten ihr Vermögen der Universität. Es wurden meist Stiftungen gegründet, um das Geld zu verwalten und es so zu verwenden, wie es der Stiftungsgeber es verfügt hatte. Eine solche Stiftung gründeten zum Beispiel auch der Germanist Albert Köster und seine Frau, für ihren ältesten Sohn Wolfgang, der im Krieg gefallen ist. 218 Vgl. Helmut Arndt, Die Universität von 1917 bis 1933. Novemberrevolution und Weimarer Republik, in: Lothar Rathmann (Hg.), Alma mater Lipsiensis, S. 226 ff. 219 Ebenda.

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Kern republikskeptischen Haltung des gesamten Bürgertums.220 Aufrufen zu Aufständen der auch in Leipzig inzwischen gegründeten Arbeiter- und Soldatenräte tritt die Studentenschaft in Gestalt eines studentischen Vertretungsausschusses entgegen. In den Händen kaisertreuer Verbindungen soll dieses Organ studentischer Selbstverwaltung gegen die Arbeiter- und Soldatenräte vorgehen. Ein hinzukommender Bürgerausschuss, dem 180 Gruppierungen des Großbürgertums angehören, verfolgt dasselbe Ziel. Im Zuge der Novemberrevolution entfernen Studenten auf Anordnung des Rektors zum Beispiel auch die rote Flagge auf dem Hauptgebäude und hissen die Fahne des Adelshauses der Wettiner. Eine zeitweilige Schließung der Universität begründet der akademische Senat mit der ernsten politischen Lage nach den Wirren der Münchner Räterepublik. Am 11. Mai 1919 wird Leipzig von der Reichswehrbrigade unter General Georg Ludwig Rudolph Maercker mit 15.000 Soldaten besetzt.221 Ein so genanntes Freiwilligenregiment bildet sich, zu dem auch viele Studierende gehören.222 Auf einer Studentenversammlung am 23. Mai 1919 wirbt General Maercker persönlich bei den Studenten für den Eintritt in das Regiment. Ohne größeres Blutvergießen wird die Ordnung in der Stadt wiederhergestellt.223 Trotz häufiger Streiks und Unruhen infolge der hohen Arbeitslosigkeit in der Nachkriegszeit wird das Zeitfreiwilligenregiment erstmalig im Januar 1920 mobilisiert, nachdem sich in Leipzig ein Generalstreik gegen das Betriebsrätegesetz abzeichnet. Bei möglichen Streikversuchen soll es militärisch eingreifen und Demonstrationen auflösen.224 Am 18. Januar 1919 beginnt in Versailles der Friedenskongress der Entente-Mächte. Da die Einwände der deutschen Regierung gegen den Versailler Vertrag nur zu marginalen Änderungen führen, tritt Reichskanzler Philipp Scheidemann am 20. Juni 1919 zurück. 225 Zwei Tage später stimmt die Nationalversammlung dennoch mit Zweidrittelmehrheit für die Unterzeichnung. Sie befürchtet die Besetzung des Rheinlands durch Truppen der Siegermächte. Die Universität beteiligt sich Ende Mai am „Protest aller deutschen Universitäten gegen den Gewaltfrieden“.226 220 Vgl. Helmut Arndt, Die Universität von 1917 bis 1933. Novemberrevolution und Weimarer Republik, S. 232 f. 221 Das Leipziger Zeitfreiwilligenregiment hatte bereits 2.000 Mitglieder. Im Januar 1920 hatte es eine Stärke von 3.377 Mann. Ungefähr ein Drittel waren Studenten. Viele Bürger unterstützten das Zeitfreiwilligenregiment, weil sie einen Putsch linker Kräfte befürchteten. Vgl. Claus Kristen, Ein Leben in Manneszucht. Von Kolonien und Novemberrevolution. „Städtebezwinger“ Georg Maercker, Stuttgart 2018. 222 Auf Länderebene wurden seit März 1919 Einwohnerwehren als Selbstschutzorganisationen mit polizeilichen Aufgaben gebildet. Aus diesen gingen die Zeitfreiwilligenregimenter hervor, die militärisch eingesetzt werden sollten. 223 Vgl. Claus Kristen, Ein Leben in Manneszucht: Von Kolonien und Novemberrevolution. „Städtebezwinger“ Georg Maercker, Stuttgart 2018. 224 Vgl. Hagen Schulze, Freikorps und Republik. 1918–1920, Boppard am Rhein 1969. 225 Der Versailler Vertag tritt schließlich nach der Ratifizierung am 20. Januar 1920 in Kraft. 226 Auf einer Protestversammlung der Universität am 14. Mai nannte Rektor Kittel den Vertrag „Mordfrieden“. Es wurde eine Resolution verabschiedet, in der der „Gewaltfrieden“ als ungeheuerlicher Rechtsbruch angeprangert wurde. Vgl. Anja Schubert, Die Universität Leipzig und die deutsche Revolution von 1918/19, in: Ulrich von Hehl, Sachsens Landesuniversität in Monarchie, Republik und Diktatur. Beiträge zur Geschichte der Universität Leipzig vom Kaiserreich bis zur Auflösung des Landes Sachsen 1952, S. 179.

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Auf die militärische und politische Entwicklung des Kapp-Putsches227 hin drängt der Vorsitzende des Bürgerausschusses, Walter Goetz,228 die Spitzen der städtischen Behörden und den Rektor der Universität zu einem Treuebekenntnis für Reichspräsident Friedrich Ebert und Reichskanzler Bauer.229 Am 13. März 1920 wird in Berlin und dann auch in Leipzig der Generalstreik ausgerufen. Die Universität wird vorläufig geschlossen. Bald kommt es auch an der Universität zu strukturellen/institutionellen Veränderungen. Neben die Dozentenversammlung tritt eine allgemeine Universitätsversammlung, welche in besonderen Fällen dem Gesamtwillen der Leipziger Universität Ausdruck verleihen soll. Die Studenten erhalten ein begrenztes Recht auf Selbstverwaltung. Ihre Vertretung, der Allgemeine Studentenausschuss (AStA), übernimmt auch die Aufgabe der Unterstützung ärmerer Studenten. Weitergehende Reformvorschläge230, zum Beispiel von Carl Heinrich Becker, stoßen jedoch auf Widerstand der konservativen Professorenschaft.231 Becker schlägt in sieben Punkten vor, universitäre Hierarchien teilweise abzubauen, Einkommensunterschiede innerhalb des Lehrkörpers zu reduzieren und Nichtordinarien ebenso wie Studenten besser in die Universität zu integrieren: 1. die Schaffung einer einheitlichen Gruppe von planmäßigen Professoren; 2. die Verbesserung der Lage der Privatdozenten; 3. die Öffnung der universitären Selbstverwaltung für Nichtordinarien; 4. die Integration der Studierenden in die Universitätsstrukturen; 5. die Einführung einer Altersgrenze für Hochschullehrer; 6. eine Reform der Kolleggeldpraxis sowie 7. eine Objektivierung des Habilitationsverfahrens. Becker bemüht sich auch um eine pädagogische Reform der Universitäten, die sich auch als Staatsbürgerschulen begreifen sollen, und wünscht sich dazu eine Stärkung der so genannten Synthesewissenschaften Soziologie, Zeitgeschichte und Politikwissenschaft sowie der von ihm geförderten Auslandsstudien. Die Studierenden der Leipziger Universität sind von der Inflation besonders hart betroffen, 232 was sich am Rückgang der Immatrikulationszahlen ab 1921 zeigt.233 Die Mensa wird zur Notküche. Es wird eine Darlehenskasse gegründet.234 Die Zahl ausländischer Studenten nimmt aber zu.235 227 Sebastian Haffner, Die verratene Revolution 1918/19, Bern 1969; sowie Johannes Erger, der KappLüttwitz-Putsch. Ein Beitrag zur deutschen Innenpolitik 1919/20, Düsseldorf 1967. 228 Anja Schubert, Die Universität Leipzig und die deutsche Revolution von 1918/19, S. 171–191. 229 Vgl. ebenda. 230 Carl Heinrich Becker war Staatssekretär im Preußischen Kultusministerium. Vgl. Carl Heinrich Becker, Gedanken zur Hochschulreform, Leipzig 1919. 231 Ein Rektorenwechsel fand am 31. Oktober 1920 statt. Vgl. Brandenburg, Erich, Rede des abtretenden Rektors Dr. Brandenburg. Bericht über das Studienjahr 1919/1920, Leipzig o. J., S. 36. 232 Im Juni 1919 riefen zum Beispiel Berliner Freistudenten, Wandervögel und Korporierte zur Gründung eines „Hochschulrings deutscher Art“, später „Deutscher Hochschulring“, auf. 233 In einem Vortrag über die Not der Leipziger Studentenschaft berichtete Professor Rudolf Kittel über die Ergebnisse einer erstmalig durchgeführten Umfrage: Während ein Student früher mit 100–150 Mark gut leben konnte, reichten jetzt 400–600 Mark nicht aus. Es gab Studenten, die keine Wohnung hatten und im Bahnhof kampierten und kein warmes Mittagessen hatten. Vgl. Rudolf Kittel, Die Universität Leipzig im Jahr der Revolution 1818/19, Stuttgart 1930. 234 Vgl. Immanuel Birnbaum, Die Entstehung der studentischen Selbstverwaltung in Deutschland 1918/1919, in: Festschrift für Hermann Wandersleb zum 75. Geburtstag, Bonn 1970, S. 37–48; Die deutsche Studentenschaft in den ersten Jahren der Weimarer Republik, in: Wilhelm Zilius, Adolf Grimme (Hg.), Kulturverwaltung der Zwanziger Jahre, Stuttgart 1961, S. 19–48. 235 1921 zu 1922 ging die Zahl der Immatrikulationen um 1.000 zurück. Im Wintersemester 1922/23 waren

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Es gibt eine verstärkte Nachfrage für praktische Disziplinen wie Nationalökonomie, Landwirtschaft oder Chemie. Die Bautätigkeit konzentriert sich auf Dringendes, den Ausbau der Kliniken und der Institute der Medizinischen Fakultät. Die bereits vor dem Krieg geplante Veterinärmedizinischen Fakultät kann zum Wintersemester 1923/24 ihren Lehrbetrieb aufnehmen.236 1923 wird der Bau für das Röntgeninstitut an der Chirurgischen Klinik fertig gestellt. Der Neubau der Universitäts-Frauenklinik wird 1928 in Betrieb genommen. Seit 1923 entstehen in Marienbrunn mehrere universitätseigene Häuser für Professoren. Für den Hochschulsport erwirbt die Universität 1926 ein Bootshaus und baut 1929 eine Universitätsturnhalle. Aus über Jahre gesammelten Geldern wird ein Studentenwohnheim gebaut und 1931 eingeweiht. So behauptet die Universität Leipzig während der 1920er Jahre ihre Stellung als drittgrößte Universität in Deutschland nach Berlin und München: Die Studentenzahlen sind im Sommersemester 1923 mit 5.630 Immatrikulierten wieder relativ hoch und bleiben in den Folgejahren relativ konstant. Politisch orientierte Studentenorganisationen fassen in der Zeit der Weimarer Republik in Leipzig aber nur langsam Fuß.237 Als Folge des Weltkriegs verlieren die deutschen Universitäten ihre Spitzenposition in der Welt. Das liegt keineswegs nur an der einseitigen Förderung der anwendungsorientierten Forschung für Kriegszwecke und einer Vernachlässigung der Grundlagenforschung während der Kriegsjahre, sondern vor allem auch am Boykott deutscher Wissenschaft und den Gegenreaktionen in Deutschland in seiner zunehmenden wissenschaftlichen und geistigen Isolierung.238 Hatte die Leipziger Universität noch um die Jahrhundertwende und vor 1914 mit ihren herausragenden Gelehrten und deren wissenschaftlichen Leistungen eine hohe internationale Anerkennung gefunden239 wäre jetzt ein Neuanfang erforderlich. Die allgemeine Finanznot240 verlangsamt aber den Aufholprozess.241 Die 1920 gegründete „Notgemeinschaft der deut-

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870 ausländische Studierende, vorwiegend aus Südosteuropa, immatrikuliert. Vgl. Helmut Arndt, Die Universität von 1917 bis 1933, S. 233 f. Der Erste Weltkrieg verzögerte zwar die Realisierung, es wurde jedoch bereits 1916 mit ersten Bauarbeiten begonnen. Die Stadt Leipzig stellte das Baugelände (60.000 m²) kostenlos zur Verfügung. Der Studienbetrieb wurde in zehn Instituten mit 97 Studierenden im Wintersemester 1923/24 aufgenommen. Vgl. Konrad Krause, Alma mater Lipsiensis. Geschichte der Universität Leipzig von 1409 bis zur Gegenwart, S. 260–264. Der Versuch, am 13./14. Dezember 1919 in Leipzig eine sozialistisch-studentische Reichsorganisation zu schaffen, führt zwar zur Gründung des „Sozialistischen Studentenbundes Deutschlands und Österreichs“. Doch der Studentenbund tritt in der Öffentlichkeit des Universitätslebens kaum in Erscheinung. Auch der Mitte März 1922 in Leipzig gegründete „Verband sozialistischer und kommunistischer Studenten Deutschlands und Österreichs“ hat nur begrenzten Einfluss auf das universitäre Leben. Hinzu kommt der Boykott wissenschaftlicher Einrichtungen in Deutschland als Folge des Versailler Vertrages, der Deutschland die Alleinschuld am Ersten Weltkrieg gab. Deutschland wird von internationalen wissenschaftlichen Veranstaltungen ausgeschlossen und deutsche Forschungsbeiträge finden keine Aufnahme mehr in internationale Bibliographien. Allerdings ist die deutsche Wissenschaft nicht ganz unschuldig an ihrer Isolierung: Sie diskreditiert sich schon zu Beginn des Krieges in der internationalen Wissenschaftsgemeinschaft durch militaristische Pamphlete namhafter deutscher Gelehrter. Unter anderem waren 14 Nobelpreisträger dieser Zeit durch Studium, Promotion, Habilitation, als wissenschaftliche Mitarbeiter oder Professoren mit der Universität verbunden. Seit 1913 hatte es keine Erhöhungen der Etats für wissenschaftliche Einrichtungen mehr gegeben. Vgl. http://www.dfg.de/dfg_profil/geschichte/notgemeinschaft/entstehung/index.html, aufgerufen am 6.12.2018. Man erwog sogar aus eben diesen Gründen, die Universitätsbibliothek mit der am Ort ansässigen Deutschen Bücherei zusammenzulegen.

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schen Wissenschaft“, die spätere „Deutsche Forschungsgemeinschaft“, sowie der im gleichen Jahr gebildeten „Vereinigung von Förderern und Freunden der Universität Leipzig e.V.“, versuchen, Mittel aus privaten Quellen für die Wissenschaftsentwicklung und für Publikationen zu gewinnen.242 Eine spürbare Erholung vom Krieg setzt erst unter den Bedingungen einer relativen politischen Stabilisierung nach 1924 ein. Mit dem Abschluss des Locarno-Vertrages und dem Eintritt Deutschlands in den Völkerbund im Jahr 1925 beginnen sich die Wissenschaftsbeziehungen wieder zu normalisieren.243 Darüber hinaus treten führende Gelehrte, etwa Albert Einstein, für eine Entspannung der Lage und die Aufnahme in internationale wissenschaftliche Gesellschaften ein.244 Führende Gelehrte können so ab 1926 wieder an internationalen Kongressen teilnehmen und an alte wissenschaftliche Kooperationen kann wieder angeknüpft werden. Noch vor anderen deutschen Universitäten wird am 17. November 1925 in Leipzig der „National-Sozialistische Deutsche Studentenbund“ (NSDStB) gegründet. Er beantragt ein Jahr später die Zulassung als akademischer Verein.245 Er gewinnt zwar nur langsam an Einfluss. Aber es gibt allgemein rechtskonservative und rechtsradikale Tendenzen an der Universität. So verfolgt z. B. der Leipziger Soziologie Hans Freyer den Gedanken einer konservativen Revolution.246 Nach der Reichstagswahl vom 14. September 1930 und einem Wechsel des Hochschulgruppenführers steigt die Zahl der Mitglieder im NSDStB allerdings von 63 auf 256 an und der NSDStB gewinnt 1931 die Wahlen zum AStA, verliert aber ab 1932 sein Übergewicht zunächst wieder. Das Ziel, die studentische Verfassung auf das „Führerprinzip“247 242 Im Oktober 1920 entschied das Reichsinnenministerium, für das Haushaltsjahr 1921 „zur Förderung der von der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft verfolgten Zwecke“ 20 Millionen Mark zur Verfügung zu stellen. Im gleichen Monat einigten sich die Mitglieder der Notgemeinschaft über ihre Rechtsform und Arbeitsweise, und am 30. Oktober 1920 folgte schließlich ihre Gründung als Verein. 243 Für die durch Aufnahme in den Völkerbund angestrebte schnelle Re-Integration in die Völkergemeinschaft war die deutsche Außenpolitik zunächst bereit, auf einen ständigen Ratssitz – und damit einen Großmachtstatus – zu verzichten. Frankreich jedoch blockierte zunächst jegliche Annäherung. Erst ein Politikwechsel Frankreichs und Strukturwandel im internationalen System ermöglichte eine durch Sanktionsandrohungen unbelastete Debatte über die Außenpolitik in Deutschland. Vorbereitet haben diese Entwicklung die Außenminister von Frankreich und Deutschland, Aristide Brian und Gustav Stresemann, die dafür beide 1926 den Friedensnobelpreis verliehen bekommen. 244 Vgl. Siegfried Grundmann, Einsteins Akte. Wissenschaft und Politik. Die Berliner Zeit, Berlin/Heidelberg 2004. 245 Vgl. Helmut Arndt, Die Universität von 1917 bis 1933., S. 236. 246 Wie weit die Kritik an Hans Freyer in der Nachkriegszeit als geistiger Vorläufer und Unterstützer des Nationalsozialismus berechtigt ist, muss hier offen bleiben. Vgl. Hans Freyer, Revolution von rechts, Jena 1931. 247 Das Führerprinzip war im Nationalsozialismus das politische Konzept zur Gleichschaltung aller gesellschaftlichen Bereiche. Anfangs in den NS-Parteiorganen angewendet, wurde es nach der Machtergreifung auf alle gesellschaftlichen Einrichtungen übertragen. „Das Führerprinzip ordnet eine Gruppe (ein Volk, eine Organisation etc.) ohne Einschränkungen den Entscheidungen des jeweiligen Führers unter, der wiederum gegenüber Untergebenen und Vorgesetzten die unmittelbare Verantwortung trägt.“ (so Knaurs Lexikon. Th. Knaur Nachf., Berlin 1939, S. 454). An den deutschen Hochschulen führte Baden im August 1933 als erstes Land dieses „Führerprinzip“ ein. Durch das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung wurde es bald auf alle Universitäten übertragen. Vgl. Konrad Krause, Alma mater Lipsiensis, S. 288

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umzustellen, misslingt trotz Bespitzelung von Lehrenden oder Anzettelung von Tumulten.248 249 Gegen die Erhöhung von Studiengebühren in Sachsen250 wehrt sich, wie zu erwarten, ein Teil der Studenten, fordert Lehrmittelfreiheit, eine Erhöhung der Pflichtsemesterzahl bzw. Förderungszeit und die Beendigung der „Farce der Selbstverwaltung“251. Im Abschlussbericht der Rektoren werden demgegenüber die großen Anstrengungen der Wirtschaftsselbsthilfe bei der Aufrechterhaltung der Grundversorgung der Studenten zu akzeptablen Preisen hervorgehoben.252 Wie ebenfalls zu erwarten, verhält sich die Universität insgesamt zeitgeistkonform. So orientiert sich das „Institut für Leibesübungen“ am Wehrsportgedanken (und pflegt insgeheim die Idee des Revanchismus). Und schon 1931 rief der AStA zur sogenannten „Grenzarbeit im deutschen Osten“ auf: „Deutschlands Gesicht muß sich nach Osten wenden! Hier ist noch Lebensraum, hier ist altes Kulturland zu schützen und zu pflegen! Wir jungen Akademiker marschieren mit dieser Blickrichtung nach Osten!“253 Nach dem 30.1.1933 beherrschen Nazi-Studenten mit braunen SA-Uniformen und ihren Forderungen nach Bücherverbrennungen das Erscheinungsbild der Alma Mater.254 Der Lehrkörper passt sich weitgehend an die Bewegung an. Es verwundert daher nicht, dass die vollständige Einbeziehung der Leipziger Universität in das nationalsozialistische Herrschaftsgefüge nahezu widerstandslos erfolgt. 255

4.2 Ideale verraten: Die Leipziger Universität in der NS-Zeit Vor allem jüngere Hochschullehrer treten in die NSDAP ein, aus Karrieregründen oder Überzeugung. An der Medizinischen Fakultät Leipzig liegt der Anteil Mitte der 30er-Jahre bei 73,5 Prozent.256 An anderen Universitäten sind schon im Sommer 1933 20–25 Prozent der Dozenten der NSDAP beigetreten.257 Erfüllungsgehilfen sind insbesondere die 100 Professoren der Leipziger Alma Mater, die den Jenenser Aufruf zur Gruß- oder Ergebenheitsadresse 248 Dabei musste die Universität für zwei Tage geschlossen werden. Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft, S. 226–229. 249 Zur sozialen Lage der Studierenden vgl auch Helmut Arndt, Die Universität von 1917 bis 1933., S. 254. 250 Die Notverordnung der Landesregierung vom 21. September 1931 erhöhte die Studiengebühren von 40 auf 65 Reichsmark pro Semester, und statt 20 waren jetzt 25 Reichsmark Einschreibegebühr zu entrichten. Vgl. ebenda, S. 230. 251 Vgl. Beilage zur AStA-Wahl, in: Die Leipziger Studentenschaft, 14. Halbj. 1930, Nr. 2. 252 Zur Gesamtlage vgl. auch Helmut Arndt, Die Universität von 1917 bis 1933., S. 229. 253 Vgl. Die Leipziger Studentenschaft, 14. Halbjahr, 1931, Nr. 3, S. 2. 254 Die Studentenschaft hatte es im vorauseilenden Gehorsam besonders eilig: Sie ordnete schon im April 1933 die Auflösung des AStA an. Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft, S. 231–249. 255 „Es war eine vollkommen vergebliche Sache, an der Universität gegen den Nationalsozialismus aufzutreten, denn ein erheblicher Teil der Dozentenschaft neigte den Ideen dieser radikalen Rechtspartei zu oder hatte keinerlei Lust, sich gegenüber der sichtbar aufsteigenden neuen Macht die Finger zu verbrennen.“ Vgl. Walter Goetz, Historiker in meiner Zeit, Köln/Graz 195, S. 78. 256 Vgl. http://research.uni-leipzig.de/agintern/uni600/ug240.htm, aufgerufen am 7.12.2018. 257 Vgl. Michael Grüttner, Die deutschen Universitäten unterm Hakenkreuz, in: Michael Grüttner, John Connelly (Hg.), Zwischen Autonomie und Anpassung. Universitäten in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, Paderborn 2003.

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an Adolf Hitler anlässlich der Wahl zum Reichskanzler unterzeichnen.258 Der designierte Rektor, Arthur Golf, hisst am 10. März eigenhändig die Hakenkreuzfahne. Das trägt dazu bei, dass noch mehr Mitglieder des Lehrkörpers der NSDAP beitreten,259 z. B. die Professoren Arthur Golf, Georg Gerullis, Hans Überschaar und Hans Volkelt. Andere, wie Walter Goetz, treten für ihre verleumdeten jüdischen Kollegen ein und fordern im Senat disziplinarische Vorgehen gegen den NSDStB.260 Der letzte frei gewählte Rektor der Leipziger Universität, Hans Achelis, ist zögerlich bei der Umsetzung der neuen Politik, leistet aber auch kaum Widerstand. In die Amtszeit seines Nachfolgers Arthur Golf fällt dagegen die Umsetzung des „Reichsgesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“,261 auf dessen Grundlage die Entlassung von Juden und „politisch unzuverlässigen Subjekten“ erfolgt.262 Anlässlich der neuerlichen Wahlen vom 12. November 1933 und der Absicht, den am 19. Oktober vollzogenen Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund durch eine Volksabstimmung bestätigen zu lassen, kommt es in Leipzig am Vorabend dieser Wahlfarce zu einer großen Kundgebung des NS-Lehrerbundes (NSLB), Gau Sachsen. Auf ihr legen bekannte deutsche Wissenschaftler wie Ferdinand Sauerbruch, Wilhelm Pinder und Martin Heidegger das „Bekenntnis der deutschen Professoren zu Adolf Hitler“ ab, appellieren an die „Gebildeten der Welt“, der Politik Adolf Hitlers Verständnis entgegenzubringen und geben sich überzeugt, dass dieses „neue Deutschland“ ein Reich des Friedens, der Wohlfahrt und der Verständigungsbereitschaft sei.263 Die öffentliche Rhetorik steht im Kontrast zur ‚Säuberungsarbeit‘ der Ausschüsse264, in deren Gefolge 19,3 Prozent des Lehrkörpers der deutschen Universitäten entlassen werden.265 Die Entlassungsquote für Frauen ist mit 43,8 Prozent übrigens mehr als doppelt so hoch als bei Männern. Das Kultusministerium verbietet natürlich alle linksgerichteten Studentenverbünde und lässt nicht konforme Studierende verhaften oder exmatrikulieren. Auch in Leipzig werden Doktortitel einfach aberkannt.266 Mit der Unterstellung der Hochschulen 258 Nicht alle Professoren ließen sich gleichschalten. Zu denen, die ihre Unterschrift nicht gaben, gehörte unter anderem der Ordinarius für Theoretische Physik Werner Heisenberg. 259 Rede des antretenden Rektors Dr. Arthur Golf: 1. Nationalsozialismus und Universität, in: Rektoratswechsel an der Universität Leipzig am 31. Oktober 1933, Leipzig o. J., S. 28 f. 260 Vgl. Carsten Heinze, Die Pädagogik an der Universität Leipzig in der Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945, Bad Heilbronn 2001, S. 32 ff. 261 Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933, in: Reichsgesetz, Deutsches Reichsgesetzblatt, Bd. 1933, Teil 1, Nr. 34, S. 175–177. 262 In Leipzig betraf das von 1933 bis 1935 insgesamt 68 Personen der Universität. Im Zeitraum von 1933 bis zum Ende des Krieges 1945 waren an der Universität sechs Professoren als Rektoren im Amt. Nicht alle von ihnen ließen sich von den Nationalsozialisten vereinnahmen. 263 Helmut Arndt, Niedergang von Studium und Wissenschaft, 1933 bis 1945, in: Lothar Rathmann (Hg.), Alma mater Lipsiensis, S. 261; siehe auch: Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten zu Adolf Hitler und zum nationalsozialistischen Staat, überreicht von NSLB, Deutschland/Sachsen, Dresden 1934, S. 11. 264 In einem Schreiben der Universitätsangehörigen vom 10.03.1933 an den Rektor wurde gefordert, Habilitationen von Juden und Ausländern zu verhindern, die (sozialdemokratische) „Leipziger Volkszeitung“ und die „Neue Leipziger Zeitung“ innerhalb der Universität nicht mehr auszulegen, sie durch den „Völkischen Beobachter“ zu ersetzen und den Boykott gegen die Juden konsequent umzusetzen. 265 Michael Grüttner; Sven Kinas, Die Vertreibung von Wissenschaftlern aus den deutschen Universitäten 1933–1945, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Nr. 55, 2007, S. 123–186, hier: S. 147. 266 Vgl. Thomas Henne (Hg.), Die Aberkennung von Doktorgraden an der Juristenfakultät der Universität Leipzig 1933–1945, Leipzig 2007.

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unter die Landesministerien, ab 1934 unter das „Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung“, sichern sich die Nationalsozialisten den direkten Zugriff auf die Universitäten und beenden jede akademische Selbstverwaltung. Dabei begann der politische Abgrenzungs- und Autonomieverlust der Universität bereits Mitte 1933 mit der Vereinbarung vom 25. April 1933, in der die Länder den Zugang von Abiturienten zum Hochschulstudium entscheiden.267 Da nach den hohen Studierendenzahlen an den deutschen Hochschulen seit 1928 eine adäquate Aufstockung des Lehrkörpers nicht finanzierbar ist, versuchten die Bildungsminister die Zugangszahlen zu drosseln.268 Eine langfristige Lösung wurde nicht angedacht, da Hochschulfragen für Hitler keine Priorität haben. Am 20. März 1933 wird auch Leipzig ein „Nationaler Ausschuss zur Erneuerung der Universität Leipzig“ unter der „Fachschaftsleitung“ der NSDAP und zwei Studentenführern gebildet, in dessen Folge ein „Amt für Kameradschaftserziehung“ entsteht. Für die Neuimmatrikulierten organisiert der NSDStB ein sogenanntes ‚Kameradschaftshaus‘ für 150 Studenten in der Karl-Heine-Straße 11.269 Mit der Neustrukturierung der Studentenschaft einher gehen die Denunziation missliebiger Hochschullehrer270, die Vertreibung jüdischer Studierender und der Anspruch, neben den Professoren als gleichberechtigte Kraft bei der „Profilierung des neuen nationalsozialistischen Absolventen-Typs“ mitzuwirken.271 Vor allem schlagende Verbindungen bilden bis zu diesem Zeitpunkt den Kern der rechtsgerichteten Studentenschaft. Den größten waffenstudentischen Verband bildet mit knapp 9.000 studentischen Mitgliedern und gut 25.000 „Alten Herren“ die Deutsche Burschenschaft. Ihre Mitglieder sind angetan von der neuen Bewegung. Sie sehen den Nationalsozialismus zunächst im Sinne der korporationsstudentischen Ideale.272 Dennoch ist das Verhältnis zwischen der Deutschen Burschenschaft und dem NSDStB nicht unproblematisch. Zwar teilt man ideologische Grundideen, wehrt sich aber noch gegen Gleichschaltung. Die Corps wollen an ihrer Selbstständigkeit und Selbstbestimmtheit festhalten. Im Oktober 1935 verbietet die NSDAP die Doppelmitgliedschaft im NSDStB bzw. der Hitlerjugend und einer Verbindung, woraufhin sich die Deutsche Burschenschaft ‚freiwillig‘ gleichschaltet. Mit der Schaffung des „Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Bildung“ am 1. Mai 1934 unter Reichsminister Bernhard Rust beginnt systematisch eine nazistische Bildungs- und Wissenschaftspolitik. Es soll sogar schon eine NS-Geschichte als Lehrfach 267 Vgl. Reichsgesetz vom 25. April 1933 gegen die Überfüllung der deutschen Schulen und Hochschulen, Reichsgesetzblatt Teil 1, Berlin, 26. April 1933, Nr. 43. 268 Die Zahl der Studierenden in der praktischen Pädagogik verringerte sich von 490 (1930) auf 33 (1938). Am Romanischen Institut studierten 1938 lediglich 31 Studenten gegenüber etwa 600 im Jahre 1930. Ähnlich war es am Musikwissenschaftlichen Institut, wo die Zahl der Studierenden von 220 (1932) auf 30 (1938) sank. Vgl. Helmut Arndt, Niedergang von Studium und Wissenschaft, S. 266. 269 Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft, 236–249. 270 1933 wurden auf der Grundlage dieser Paragraphen 20 Hochschullehrer der Universität Leipzig und zwischen 1935–1938 wurden insgesamt 44 Professoren gemäß den §§ 3, 4 und 6 des „Reichsgesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ (BBG) entlassen. Zudem wurde das Mittel der Zwangsemeritierung eingesetzt, um den Eindruck zu vermeiden, es könnten politische Motive dahinterstecken. Vgl. Ronald Lambrecht, Politische Entlassungen in der NS-Zeit. 24 biographische Skizzen von Hochschullehrern der Universität Leipzig, Leipzig 2006, in: Beiträge zur Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Reihe B, 11, S. 23. 271 Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft, 236–249. 272 Michael, Grütter, Studenten im Dritten Reich, Paderborn et al. 1995, S. 37.

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eingerichtet werden, was aber am Mangel geeigneter Dozenten scheitert. 1934 wird Rektor Arthur Golf, wie oben schon erwähnt, nicht mehr vom Senat gewählt, sondern eingesetzt. In den fünf Fakultäten wird das „Führerprinzip“ eingeführt. Die Lehrbefähigung wird zwar von der Hochschule ausgesprochen. Eine Lehrberechtigung erteilt jedoch das Ministerium. Im gleichen Jahr wird eine neue Universitätsverfassung beschlossen, die den Rektor zum „Führer“ der Hochschule bestimmt. Aus der dem Studentenwerk zugeordneten „Studienstiftung des deutschen Volkes“ werden nun alle jüdischen Studierenden und Gegner des NS-Regimes ausgeschlossen. Außerdem werden Mitglieder kommunistischer und sozialdemokratischer Studierendenverbände exmatrikuliert. Seit dem Wintersemester 1934/35 führt das sächsische Volksbildungsministerium darüber hinaus an allen Hochschulen neue Studentenausweise ein, an deren Farbe die Zugehörigkeit zu den nun geschaffenen Kategorien erkennbar ist: braune für die Mitglieder der Deutschen Studentenschaft, blaue für Ausländer und gelbe für jüdische Studenten. Einige Institute verweigern Juden auch die Benutzung ihrer Bibliotheken. Die erste Universitätsverfassung, die nun für das gesamte Reich gilt, tritt am 3. April 1935 in Kraft. Im Mittelpunkt dieser „Richtlinien zur Vereinheitlichung der Hochschulverwaltung“ steht die Stellung des Rektors als „Führer der Hochschule“. Mit Inkrafttreten der Richtlinien wird reichseinheitlich bestimmt, dass der Rektor dem Reichswissenschaftsminister unmittelbar untersteht und ihm gegenüber allein rechenschaftspflichtig ist. Der Prorektor und die Dekane werden auf Vorschlag des Rektors vom Reichswissenschaftsminister ernannt. Senat und Fakultäten erhalten dagegen nur noch Beratungsfunktionen. Neben der Einführung eines Numerus Clausus an der Universität Leipzig wird nun der so genannte politische „Charakterwert“, die „nationale Zuverlässigkeit“ und die „genetische Herkunft“ Zulassungsbedingung zum Studium. Außerdem legt das Gesetz gegen die Überfüllung von Schulen und Hochschulen von 1933 fest, dass der Frauenanteil unter den neuzuzulassenden Studierenden nicht mehr als zehn Prozent betragen dürfe.273 Frauen müssen daher zum Bestehen der Eignungstests höhere Punktzahlen erreichen.274 Ausländische Studierende, die bisher das Bild Leipzigs und seiner Universität maßgeblich mitgeprägt und zu dessen internationalem Ansehen mitverholfen hatten, verlassen Leipzig. Das Studium beginnt für Neuimmatrikulierte ab dem Sommersemester 1934 mit einem obligatorischen halbjährigen Arbeitsdienst vor dem eigentlichen Studium. Sie erhalten dabei eine quasimilitärische Grundausbildung. Die Frauen beschäftigen sich mit „Brauchtumspflege“ und dem Erlernen „häuslicher Pflichten“.275 Während in der Weimarer Zeit die Hochschulen von den Ordinarien beherrscht werden, erscheinen jetzt sehr selbstbewusst auftretende nationalsozialistische Studentenführer als die eigentlichen Herren der Universität, obwohl ihnen zunächst weitaus geringere institutiona273 Als sich in den Jahren 1936/37 ein Mangel an Akademikerinnen und Akademikern abzuzeichnen begann, ermutigte die NS-Propaganda ausdrücklich auch Frauen zur Aufnahme eines Studiums. Vgl. Michael Grüttner, Studenten im Dritten Reich, Paderborn/München/Wien/Zürich 1995, S. 488. 274 Auf Grund dieser Regelungen wurde auch von einem „geschlechtsspezifischen Numerus Clausus“ gesprochen. Vgl. Claudia Huerkamp, Geschlechtsspezifischer Numerus Clausus. Verordnung und Realität, in: Elke Kleinau / Claudia Opitz (Hg.), Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung in Deutschland, Bd. 2, Vom Vormärz bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. et al. 1996. 275 Vgl. Helmuth Arndt, Niedergang von Studium und Wissenschaft.

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lisierte Mitbestimmungsrechte zugebilligt, als diese das erhofft und erwartet hatten. Dennoch können sie durch geschickte Personalpolitik und Kontakte in das neu gegründete Reichserziehungsministerium erheblichen Einfluss auf Berufungsverfahren, auf die Schaffung neuer Lehrstühle und selbst auf die Ernennung von Rektoren gewinnen. Nach 1934 gehen in allen deutschen Hochschulen aufgrund der Wehrpflicht die Studierendenzahlen vorläufig zurück. Gibt es im Wintersemester 1932/33 noch 7.224 Studierende an der Leipziger Universität, so sind es im Sommersemester 1939 nur noch 1.829. Der Anteil der Studentinnen in der gesamten Leipziger Studentenschaft nimmt noch stärker ab: von 937 im Sommersemester 1933 zu 157 Frauen im Sommersemester 1939. Frauen dürfen nicht mehr Jura studieren, da ihnen eine Tätigkeit als Staatsanwalt, Richter oder Rechtsanwalt in einem als „männlich“ definierten Staat von vornherein verwehrt wird.276 Dagegen steigt die Zahl der Sportlehrerinnen-Anwärter. Ein Promotionsverbot für Juden gibt es in Leipzig seit 1937. Ab November 1938 sind sie ganz vom Studium und aus der Universität ausgeschlossen. Nationalsozialistische Lehrinhalte etablieren sich in den neuen Fächern „Erb- und Rassenkunde“, „Wehrwissenschaft“, auch „Geopolitik“. Die Vor- und Frühgeschichte und Volkskunde wird germanozentrisch überformt. Das Karl-Lamprecht-Institut wird in ein Institut für politische Geistesgeschichte umgewandelt. Das Chemische Institut beugt sich rüstungswirtschaftlichen Forderungen. Am Institut für politische Wissenschaft, das zur Philosophischen Fakultät gehört, liest Hans Freyer über die Probleme eines „nationalen Sozialismus“ und Arnold Gehlen über die Quellen der „Rassenidee“. An der Medizinischen Fakultät gibt es obligatorische Vorlesungen zu „Erb- und Rassenpflege“.277 In der „Deutschen Mathematik“ und „Deutschen Physik“ wird der weltweit renommierte Werner Heisenberg in Leipzig als „Judenzögling“ denunziert.278 Hohe Funktionäre des NSDStB erwerben akademische Grade bei Hans Freyer und anderen Ordinarien.279 Die vorab aussortierten geisteswissenschaftlichen Oberseminar-Teilnehmer werden später führende SS-Leute. Nationalsozialistische Studenten, die schon früh der SS beitreten, bauen die Prüfstelle für „staatsfeindliche Literatur“ in der Deutschen Bücherei auf. So beseitigen die akademischen NS-Kader nach und nach auch die letzten Reste der Lehr- und Forschungsfreiheit. Auch Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischen Erkrankungen, aber auch sozial Unangepasste gehören zu den Opfern der nationalsozialistischen deutschen Exklusionspolitik.280 Insbesondere die 1901 eröffnete Heil- und Pflegeanstalt Leipzig-Dösen, die Universität Leipzig und die Stadtverwaltung der Reichsmessestadt, vor allem das Gesundheitsamt mit der Abt. IV Hygiene und Rassenpflege, spielen für die Umsetzung der „Euthana276 Vgl. Eva Marie von Münch, Frau und Robe. Juristinnen in Deutschland. Eine Dokumentation, 1900– 1984, Hg. vom Deutschen Juristinnenbund, München 1984. 277 Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft, S. 243 f. 278 Vgl. „Weiße Juden“ in der Wissenschaft, in: Das Schwarze Korps. Vgl. www.archiv-uni-leipzig.de/jeosemberg/Physik_Deutsche_Familie/Heisenberg_und_die_Deutsche_Ph/galerie_korps.html, aufgerufen am 02.04.2018. 279 Gerhard Krügers „Student und Revolution. Ein Beitrag zur Soziologie der revolutionären Bewegung“ untermauert den studentischen „Bildersturm“ von 1933/34. Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte Leipziger Studentenschaft, S. 245. 280 Etwa 400.000 Menschen wurden zwischen 1933 und 1945 zwangssterilisiert, mehr als 250.000 wurden ermordet.

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sie“ eine unrühmliche Rolle. Der Arzt Werner Catel gilt dabei als einer der Initiatoren dieser Verbrechen in Leipzig.281 Ab 1934 wurden in Leipzig 604 Menschen zwangssterilisiert, 624 Kinder ermordet und 1940 weitere 860 Kinder nach Pirna-Sonnenstein „verlegt“ und dort ermordet.282 Es gibt aber auch Widerstand an der Universität, zum Beispiel die Gruppe Mehnert283, die sich als „Spiel- und Wandergruppe der Deutschen Arbeitsfront“ lange Zeit tarnen kann. Zu Mehnert, der am Japanischen Institut studiert, stoßen auch Mitglieder der bündischen Jugend, Oberschüler und Lehrlinge. Sie stellen Informationsmaterial her, vertreiben es und übermitteln Interna aus der Universität an die Auslandsleitung der KPD in Prag. 1935 fliegt die Gruppe auf und die Gestapo verurteilt Mehnert zu einer hohen Haftstrafe.284 Daneben gibt es auch die Gruppe um Georg Sacke285, der später im Konzentrationslager Sachsenburg interniert wird.286 Nur wenige Professoren mit humanistischem oder auch konservativem Hintergrund wie Theodor Litt und Hans-Georg Gadamer stehen dem Regime und seiner Politik kritisch gegenüber und nehmen später Kontakte zu führenden Repräsentanten der Verschwörung gegen Hitler auf, an deren Spitze der ehemalige Leipziger Oberbürgermeister Carl Goerdeler steht.287 Der Widerstand, den Theodor Litt oder der Ordinarius für Theoretische Physik Werner Heisenberg, der Physiker Friedrich Hund, der Mathematiker Barthel L. van der Waerden, der Mathematiker Otto Hölder oder der Physiker und Chemiker Karl Friedrich Bonhoeffer offen oder versteckt gegen Entscheidungen der Nationalsozialisten leisten, besteht oftmals im abwartenden Nichtstun oder Verschleppen der Ausführungen von Anordnungen. Theodor Frings und Martin Gildemeister zum Beispiel erreichen, dass so Studenten ihre Promotion fertig stellen konnten, obwohl sie unter die Rassengesetze fielen.288 Am 1. September 1939 werden mit dem Überfall auf Polen vorübergehend alle deutschen Universitäten geschlossen. Am 5. September verfügt das „Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung“ aber wieder die Öffnung der großen Lehranstalten, wozu Leipzig gehörte. Leipzig nimmt, ausgenommen die Theologische Fakultät, am 11. September 1939 seine Arbeit wieder auf. Inzwischen hat das Reichserziehungsministe281 Werner Catel musste zwar auf intensiven Druck 1960 seinen Lehrstuhl an der Universität Kiel räumen. Er wurde aber nie rechtlich belangt und starbt 1981 unbehelligt. Vgl. https://www. leipzig.de/fileadmin/ mediendatenbank/leipzig-de/Stadt/02.5_Dez5_Jugend_Soziales_ Gesundheit_Schule/53_Gesundheitsamt/Psychiatrie/euthanasieverbrechen_schulinfo-neu.pdf, aufgerufen am 4.12.2018. 282 Der Künstler Gunter Demnig hat am Eingang der ehemaligen Heilanstalt in Leipzig-Dösen 2016 eine Stolperschwelle für die Opfer errichtet. 283 http://www.hu-berlin.de/japanologie/chronik/mehnert.html, aufgerufen am 7.12.2018. 284 Später bekleidete Mehnert wichtige Parteifunktionen in der SED und baute als Chefredakteur des Mitteldeutschen Rundfunks, Sender Leipzig, dessen Sendeprogramm und Mitarbeiterstab auf. Sein Studium brachte er zum Abschluss und promovierte 1948. Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft. 285 Viele Mitglieder der Widerstandsgruppen, zu denen neben Georg und Rosemarie Sacke auch Hermann Reinmuth, Maria Grollmuß, Margarete Blank und Wolfgang und Hildegard Heinze gehörten, wurden zum Tode verurteilt oder starben in Konzentrationslager. Rosemarie Sacke wurde später die erste Direktorin der Arbeiter- und Bauernfakultät der Universität Leipzig. 286 Vgl. Helmut Arndt, Niedergang von Studium und Wissenschaft, S. 269 ff. 287 Vgl. Ines Reich, Carl Friedrich Goerdeler. Ein Oberbürgermeister gegen den NS-Staat, Köln 1997. 288 Vgl. Konrad Krause, Alma mater Lipsiensis, S. 289.

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rium die Umstellung des Studienbetriebes auf Trimester angeordnet. Doch im Frühjahr 1941 kehren die Hochschulen wieder zur Semestereinteilung zurück. Der Ausbruch des Krieges führt zunächst einmal zu massiven Verschiebungen in der Zusammensetzung der Studentenschaft. Die meisten NSDStB-Funktionäre melden sich sofort nach Kriegsbeginn freiwillig zur Front. 93 Prozent der „Kameradschaftsführer“ sind im März 1940 bei der Wehrmacht. Ein großer Teil der männlichen Studenten wird ebenfalls gleich nach Kriegsbeginn eingezogen. An den Universitäten befinden sich daher zu einem großen Anteil jugendliche Anfangssemester sowie eine im Laufe der Kriegsjahre rasant wachsende Anzahl weiblicher Studierender. Als sich nämlich bereits in den Jahren 1936/37 ein Mangel an Akademikern abzuzeichnen beginnt, ermutigt die NS-Propaganda jetzt ausdrücklich auch wieder Frauen zur Aufnahme eines Studiums. Ab 1939 schreiben sich immer mehr Frauen für ein Studium ein. Der Frauenanteil unter den Studierenden an den Universitäten steigt von 19 Prozent im Wintersemester 1939/40 auf 47 Prozent im Wintersemester 1943/44.289 In den Kriegssemestern steigt die Zahl der Immatrikulierten in Leipzig, da kasernierte Soldaten zum Studium freigestellt werden. Allerdings wird das Studium erschwert durch Propagandaeinsätze, einen Mangel an Lehrbüchern und die teilweise Zerstörung der Universitätsgebäude und Bibliotheken ab 1943. Den Studenten werden kriegsunterstützende Einsätze verordnet, die sie in der Rüstungsindustrie, in der Landwirtschaft oder im Sanitätsdienst in den besetzten Gebieten ableisten müssen. Auch Teile des Lehrkörpers werden an die Front abgeordnet, zum Beispiel ist der Rektor der Leipziger Universität, Artur Knick, als Stabsarzt im Einsatz. Da viele Funktionäre des NSDStB an der Front sind, lässt der ideologische Druck auf die Studierenden nach. Allerdings wächst auch die Zahl der Denunzianten, die auf Einzelinitiative handeln und ihre Kommilitonen anschwärzen. In den letzten Kriegsmonaten fallen Universitätsangehörige dem Terror der Gestapo zum Opfer.290 Darunter sind auch Margarete Blank, Margarete Bothe, Maria Grollmuss, Siegmund Hellmann und Hermann Reinmuth.291 Leipzig ist ein Produktionszentrum der Luftwaffenrüstung und Munitionsfertigung sowie als wichtiger Eisenbahnknotenpunkt. Obwohl Leipzig zunächst als luftangriffsicher galt, weil es zu weit weg von den britischen Luftstationen liegt, wird es in den letzten Kriegsjahren Ziel von 24 Luftangriffen.292 Am 4. Dezember 1943 trifft ein erster schwerer Luftangriff der Royal Air Force Leipzig. Zerstört werden u. a. 1.067 Geschäftshäuser, 472 Fabrikgebäude, 56 Schulen, 29 Messehäuser und 9 Kirchen. Etwa 140.000 Menschen werden obdachlos. 58 von insgesamt 92 Instituten und Kliniken der Universität werden teilweise zerstört.293 Infolge weiterer Bombenangriffe im Februar und März 1944 und im Frühjahr 1945 werden 289 Michael Grüttner, Studenten im Dritten Reich, S. 488. 290 Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft, S. 236–249. 291 https://www.archiv.uni-leipzig.de/geschichte/universitatsgeschichte/ehrenbuch-der-universitat-leipzig/ hingerichtet-ermordet-in-der-haft-verstorben/, aufgerufen am 5.12.2018. 292 Die Luftangriffe über Leipzig forderten über 5.000 Todesopfer – auch Wehrmachtsangehörige, ausländische Arbeitskräfte, Kriegsgefangene, Flüchtlinge, sicher auch KZ-Häftlinge in den Lagern der bombardierten Rüstungswerke. An die bei den Luftangriffen Umgekommenen erinnert die neu gestaltete Abteilung XXVIII auf dem Leipziger Südfriedhof. 293 Vgl. Mark Lehmstedt (Hg.), Leipzig brennt. Der Untergang des alten Leipzig am 4. Dezember 1943 in Fotografien und Berichten, Leipzig 2003; Birgit Horn-Kolditz, Die Nacht, als der Feuertod vom Himmel stürzte. Leipzig, 4. Dezember 1943. Deutsche Städte im Bombenkrieg. Gudensberg-Gleichen 2003.

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zwölf weitere Universitätsgebäude getroffen.294 Von den 103 Instituten, Kliniken und Verwaltungsgebäuden sind nur 16 Gebäude ohne nennenswerte Schäden geblieben. 87 Gebäude sind entweder vollständig zerstört oder schwer beschädigt. Der Bibliotheksbestand ist zu 70 Prozent vernichtet.295 Die Anweisung zum „totalen Kriegseinsatz“ der Studenten am 6. September 1944 setzt dem Studienbetrieb beinahe ein Ende. Manche Fakultäten verlagern wegen der Angriffe permanent ihren Ort. Einige Seminare finden in Wohnungen der Professoren oder noch unbeschädigten Universitätsräumen bis in die letzten Tage vor dem Einmarsch der US-Armee vom 17. bis 19. April 1945 statt.296

4.3 Mauern errichten: Die Karl-Marx-Universität in der DDR Schon eine Woche vor der Kapitulation erhält die Universität von der amerikanischen Besatzungsmacht297 die Genehmigung zur Wahl eines neuen Rektors mit der Auflage, der Kandidat dürfe kein Parteimitglied der NSDAP sein. Einige Professoren lehnen eine Kandidatur ab.298 Die Wahl fällt auf den konservativen Bernhard Schweitzer299 300 Der Archäologieprofessor Schweitzer sieht seine wichtigste Aufgabe vor allem in der Erhaltung des Personalbestandes, die „Rettung der Selbstbestimmung“ der Universität durch eine neue Satzung und die Selektion von Dekanen.301 Am 19. Mai ernennt er seinen Freund Hans-Georg Gadamer zum kommissarischen Dekan der philosophischen Fakultät. Schon 1944 war ein im Rahmen der Vorbereitungen der amerikanischen Militärverwaltung in Deutschland und unter Leitung des Politikwissenschaftlers Harold Zink erarbeitete „Handbuch der Prinzipien und Maßnahmen der Besatzungspolitik für Deutschland“ veröf294 Vgl. Birgit Horn, Leipzig im Bombenhagel? Angriffsziel „Haddock“. Zu den Auswirkungen der alliierten Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg auf die Stadt Leipzig, Leipzig 1998. 295 Vgl. Heinz Füßler, Leipziger Universitätsbauten, Leipzig 1961. 296 Zur Reaktion auf die Niederlage in Stalingrad vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft, S. 236–249. 297 Am 18. April 1945 ziehen die US-amerikanischen Truppen in die Stadt, es gibt aber noch Straßenkämpfe in vielen Stadtteilen und um Gebäudekomplexe wie den Hauptbahnhof, das Rathaus und das Völkerschlachtdenkmal und zwar bis zur Kapitulation am 8. Mai. Es herrscht zu dieser Zeit daher noch Kriegsrecht über der Stadt. Versammlungen von mehr als fünf Personen sind untersagt. Lehrveranstaltungen sind nicht mehr möglich. Nur die Kliniken arbeiten weiter. Die einstweilig eingesetzte militärische Stadtregierung unter dem amerikanischen Major Keaton erlässt Verordnungen und Proklamationen, die unter anderem die Herausgabe von Zeitungen und das Benutzen von Fotoapparaten verbieten oder die Sperrstunde regeln. Vgl. http://research.uni-leipzig.de/agintern/uni600/ug252.htm, aufgerufen am 6.12.2018. 298 Zum Beispiel Heinrich Bornkamm, Theodor Frings, Theodor Litt, Ludwig Wiegmann, Burckhardt Helferich, Eberhardt Schmidt. Zustimmung gibt es bei den Professoren Albrecht Alt, Friedrich Hund und Bernhard Schweitzer. 299 Bernhard Schweitzer unterzeichnete 1933 zwar das Bekenntnis der deutschen Professoren zu Adolf Hitler, trat 1937 in die Volkswohlfahrt ein, wurde aber nie NSDAP-Mitglied. Vgl. Helga A. Welsh, Entnazifizierung und Wiedereröffnung der Universität Leipzig 1945–1946. Ein Bericht des damaligen Rektors Professor Bernhard Schweitzer, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jahrgang 33, 1985, Heft 2, S. 339–372, hier S. 339. 1948 ging er nach Tübingen. 300 Hans-Georg Gadamer, der die Organisation leitete, war bei dieser ersten Wahl nicht im Gespräch. 301 Hans-Georg Gadamer wurde zum kommissarischen Dekan der philosophischen Fakultät gewählt.

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fentlicht worden.302 Gemäß den Vereinbarungen von Jalta war allerdings klar, dass die Amerikaner Leipzig wieder verlassen würden. Ihnen folgten die Verlage Brockhaus, Thieme, Dieterich, Insel, später auch Ernst Reclam, aber auch führende Wissenschaftler und leitende technische Angestellte, insbesondere aus den naturwissenschaftlichen Instituten. Dabei wurden auch umfangreiche Bestände des Handapparates der Universitätsbibliothek mitgenommen.303 Die politische Hoheit über die Universität Leipzig geht dann nach der Teilung Deutschlands in vier Zonen zunächst an die Oberbefehlshaber der neuen Besatzungsmacht, der Sowjetunion, über. Nach der Bildung einer provisorischen sächsischen Landesverwaltung wird die Universität Leipzig am 18. Juli 1945 dieser unterstellt.304 Da der Rektor Bernhard Schweitzer als zu konservativ gilt, wurde am 21. Januar 1946 eine neue Wahl angesetzt, bei der Hans-Georg Gadamer zum Rektor gewählt wird. Dieser nimmt, anders als Schweitzer, auch Marxisten im Lehrkörper auf. Um den Ausbau einer humanistischen Führung der Universität bemüht, ernennt er den Latinisten Friedrich Klinger zu seinem Nachfolger. Bei der Überprüfung des Lehrkörpers im Rahmen der Entnazifizierung kommt es zur Entlassungen von 40 Hochschullehrern am 31. Oktober 1945 und noch einmal 60 am 15. November 1945.305 Wegen des Verfahrens wird die Universität erst am 5. Februar 1946 mit 101 Lehrkräften wiedereröffnet. Die Lehre wird wiederaufgenommen. 1.261 Studenten werden im ersten Nachkriegssemester zum Studium zugelassen. Ebenso wie die Lehrkräfte werden auch sie auf ihre politische Zuverlässigkeit überprüft.306 Die Überprüfung der Studienanwärter dauert bis in die letzten Tage vor der Eröffnung der Universität. Die sowjetische Militäradministration reduziert die Immatrikulationszahl auf 1.500. Als Zeichen der ideologischen Neuausrichtung findet die Wiedereröffnungsfeier nicht in der Universitätskirche statt, sondern im größten Filmtheater Leipzigs, dem „Capitol“. Zwei Tage vor der Wiedereröffnung, am 3. Februar 1946, publiziert die Presse in der sowjetischen Besatzungszone einen von den vier im Osten bestehenden Parteien und der Einheitsgewerkschaft unterzeichneten Aufruf, der entsprechend qualifizierte Arbeiter zu einem Studium ermutigen will, um intellektuelle Reserven zu mobilisieren. Den Interessenten werden Kurse zur Vorbereitung des Studiums angeboten, die ab Dezember 1947 zum festen Bestandteil der Universität werden.307 302 Damit ist es den Besatzungsmächten möglich, Handlungsrichtlinien für die Beurteilung und Reglementierung des Bereichs „Bildungswesen und Religionsangelegenheiten“ abzuleiten. 303 Vgl. Dietmar Keller, Die Universität nach der Zerschlagung des Faschismus bis zum Aufbau der entwikkelten sozialistischen Gesellschaft. 1945 bis 1949, in: Lothar Rathmann (Hg.), Alma Mater Lipsiensis, S. 272 ff. 304 Vgl. Alexandr Haritonov, Sowjetische Hochschulpolitik in Sachsen 1945–1949, Weimar 1995. 305 Unter den Medizinern gab es zum Beispiel 75 Prozent NSDAP-Mitglieder. Vgl. Gesetz Nr. 104 zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1946. Vgl. Helga A. Welsh, Entnazifizierung und Wiedereröffnung der Universität Leipzig 1945–1946. Ein Bericht des damaligen Professors Schweitzer, in: Institut für Zeitgeschichte München-Berlin (Hg.), Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 33, 1985, H. 2, S. 340–355. 306 Hans-Georg Gardamer erhielt zum Beispiel bereits am 10. Mai 1945 einen Fragebogen der amerikanischen Streitkräfte über seine politische Vergangenheit. Die Sowjetische Militäradministration verlangte später erneut Auskunft. Vgl. Jean Grondin. Hans-Georg Gadamer. Eine Biographie, Tübingen 1999; sowie Konrad Krause, Alma mater Lipsiensis. Geschichte der Universität Leipzig von 1409 bis zur Gegenwart, S. 309 ff. 307 Die Vorbereitungskurse wurden 1946 auf sieben Monate begrenzt, aber ab 1949 erweitert, da es wegen Wissenslücken verschiedentliche Schwierigkeiten im Fachstudium gab.

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Mit dem Erlass der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung über die Zulassung zum Universitätsstudium, der auf den Befehl Nr. 50 von Marschall Schukow zurückgeht, wird das Studium an den Hochschulen und Universitäten für alle das gleiche Recht auf Bildung gesetzlich festgeschrieben. Ein Novum ist, dass vor allem auch Arbeiter- und Bauernkinder nun vorerst ohne Reifeprüfung an einer Oberschule ein Studium aufnehmen können, wenn sie zuvor erfolgreich einen qualifizierenden Sonderkurs absolvieren. Keine Zulassung zum Studium erhalten Kandidaten bei vormaligem Engagement für die NSDAP.308 Mit der Wiedereröffnung wird zugleich die Handelshochschule als eigenständige Fakultät eingegliedert.309 Die Selbstverwaltung der Universität wird eingeschränkt. Die Bewerber werden politischen Auswahlkriterien im Sinne des Marxismus-Leninismus unterworfen. Das Prinzip der fachlichen Qualifikation wird untergeordnet. Die ersten Jahre nach dem Krieg sind in Deutschland und Europa Mangeljahre. Alles Lebenswichtige wird rationiert. Für Alleinstehende ohne eigenen Haushalt wie Studenten sind die Zeiten besonders hart. Der tägliche Energieverbrauch einer Familie ist mit 500 Watt für den Betrieb aller Geräte limitiert. Bei Überschreitung droht Stromabschaltung. Damit begrenzt sich auch das abendliche Selbststudium. Außerdem kann die Mensa 1946 nur 500 statt 1.500 Studenten versorgen. Die Studierenden sind in der Nachkriegszeit meist privat untergebracht. Stipendien gibt es kaum, aber zum Glück sind die Lebenshaltungskosten in der sowjetischen Besatzungszone gering. Im Januar 1946 entsteht an der Leipziger Universität aus einer studentischen Vertretung die „Arbeitsgemeinschaft demokratischer Studenten“, die eine Vortragsreihe zur demokratischen Erneuerung der Universität organisiert. Unterstützung erfährt sie nicht nur von führenden Funktionären wie Gerhard Ellrodt, sondern auch von Otto Grotewohl und Walter Ulbricht, also der Spitze der in Gründung befindlichen Sozialistischen Einheitspartei Deutschland (SED) als (erzwungene) Vereinigung von KPD und SPD. Auch der damalige Oberbürgermeister Leipzigs, Erich Zeigner, steht den Initiativen zur Erneuerung der Universität beiseite. Gemeinsam mit den städtischen Organen organisieren sie das nach dem Krieg Lebensnotwendige wie Wärme, Licht, Bücher und Schreibpapier für die Wiederaufnahme des Universitätsbetriebs. Während in den drei westlichen Besatzungszonen bald nach der Eröffnung der einzelnen Universitäten Studentenräte wiedererstehen, werden in der sowjetischen Besatzungszone die frei gewählten Organe bekämpft. Unliebsame Kritiker werden von der Universität entfernt, wie das Beispiel Wolfgang Natonek belegt. Natonek wird 1946 zum Vorsitzenden des Leipziger Studentenrates gewählt und kritisiert die neuen politisch-ideologischen Zulassungsvoraussetzungen für das Studium. Daraufhin werden er und weitere Mitglieder des Vorstandes des Studentenrates verhaftet. Ihm wird Spionage vorgeworfen. Er wird zu 25 Jahren Haft verurteilt, von denen er acht Jahre im Gefängnis verbringen muss.310 Die mit den Besatzungs308 Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft, S. 252. 309 Erster Dekan wurde Friedrich Lütge, der vormalige Rektor der Handelshochschule. 310 Vgl. Gerald Wiemers, Jens Blecher, Studentischer Widerstand an der Universität Leipzig 1945–1955, Beucha 1998; Waldemar Krönig, Klaus-Dieter Müller, Anpassung, Widerstand, Verfolgung. Hochschule und Studenten in der SBZ und DDR 1945–1961. In memoriam Wolfgang Natonek (1919–1994), Köln 1994. Seit 2001 ist die Natonekstraße in Leipzig-Gohlis nach ihm und seinem Vater, dem WeltbühneAutor Hans Natonek benannt.

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gruppen ins Land gekommenen Sicherheitsorgane, zum Beispiel das NKWD311, ahnden also jeden Widerstand häufig mit Deportation der Verurteilten in die UdSSR.312 Mitte der 40er-Jahre ist der Einfluss von der SED und der Jugendorganisation Freie Deutsche Jugend (FDJ) aber noch gering313 Der Zuwachs der Mitglieder der FDJ ist Folge davon, dass sich der Studentenrat am 1. August 1950 (unfreiwillig) selbst auflöst, nachdem die Blockpartei-Mitglieder der Jugendorganisation der LDPD und CDU aus politischen Gründen bei der dritten Studentenratswahl 1948 von der Liste gestrichen werden. Damit wird die FDJ zur einzigen Vertretung der Studierenden gemacht.314 Zur so genannten „führenden Rolle der Arbeiterklasse“, die nunmehr von der SED-Parteiführung als ideologisches Leitbild beschworen wird, gehört das Ziel, eine „Volksuniversität“ aufzubauen. Bereits am 3. Februar 1946 veröffentlicht der „demokratische Block“ der „antifaschistischen Parteien“ und der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund FDGB einen Aufruf, in dem es unter anderem heißt: „Der Besuch der höheren Schule, die Möglichkeit zur wissenschaftlichen Arbeit war im Wesentlichen ein Vorrecht des Besitzes. Wir wollen heute den bisher zurückgehaltenen Schichten die Möglichkeit geistiger Arbeit geben, um damit an der geistigen Führung des Staates auch die bisher Ausgeschalteten beteiligen zu können. Zwei Wege werden zur Universität führen: Erstens die Arbeiterfakultät, die neben dem Beginn des Universitätsstudiums das nötige geistige Wissen vermitteln wird. Zweitens Die Begabtenprüfung, die die allgemeine geistige Reife zum Besuch der Vorlesungen feststellen soll.“315 Ein weiteres Anliegen der „Bildungsreform“ ist weltanschauliche Bindung an den Staat. Es werden Kurse gegeben zur „demokratischen Erziehung der Studenten“, die sie zum „wissenschaftlichen Sozialismus“ bekehren sollen. Im Oktober 1946 entsteht gemäß dem Befehl Nr. 205 der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) als Novum der deutschen Universitätsgeschichte die Pädagogische Fakultät und auf Befehl Nr. 333 der SMAD entsteht eine Gesellschaftswissenschaftliche Fakultät. Die ehemaligen Lehrstühle für deutsche Landes- und Volkskunde, für Kultur- und Universalgeschichte und das Historische Institut sind zunächst mit „bürgerlichen“ Historikern besetzt. Sie werden durch Personen ersetzt, die eine marxistische Geschichtsvorstellung vertreten. Auch in der Juristenfakultät wird das Personal ausgetauscht. 311 Das Народный комиссариат внутренних дел (NKWD), seit 1946 MWD (russisch für: Volkskommissariat für innere Angelegenheiten), gab es seit der Oktoberrevolution 1917. Es übernahm Aufgaben des Innenministeriums sowie des Geheimdienstes. Ab 1934 unterstand ihm die Hauptverwaltung der Gulags. Vgl. Ralf Stettner, Die GULag des NKWD/MWD 1934–1956, in: „Archipel GULAG“. Stalins Zwangslager. Terrorinstrument und Wirtschaftsgigant, Paderborn 1996, S. 133 f. 312 So erging es zum Beispiel dem Studenten Herbert Belter (SED), der in Moskau erschossen wurde. Im Dezember 1947 waren es zwei weitere Leipziger Studenten, die mit dem Vorwurf der Westverbindungen festgenommen wurden und zwei Münchner Studenten, die in der sowjetischen Besatzungszone zu Besuch waren. Das waren der Verbindungsmann der evangelischen Kirche Werner Ihmels und der Vorsitzende der Hochschulgruppe Herman Mau. Mau kam wieder frei und ging in den Westen, Ihmels starb in der Haft an Tuberkulose. Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft, S. 267. 313 Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft, S. 259–263. 314 Vgl. Elke Stodolka, Die Entwicklung der FDJ-Hochschulgruppe der Universität Leipzig 1945/46–1955, Leipzig 1984. 315 Gerhild Handel und Gottfried Schwendler (Hg.), Chronik der Karl-Marx-Universität Leipzig 1945 bis 1959, Leipzig 1959, S. 18.

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Anfang März 1946 nehmen 225 sogenannte ‚Arbeiter- und Bauernkinder‘ zwischen 17 und 37 Jahren ein Studium im ersten Kurs an der neu gegründeten Vorstudienanstalt in Leipzig auf. Sie wird Ende 1947 in die Universität eingegliedert, nachdem sie anfangs zur Volkshochschule gehörte. Kurz vor Gründung der DDR 1949 wird unter Rektor Georg Gadamer die erste Arbeiter- und Bauernfakultät (ABF) als Nachfolgeeinrichtung der Leipziger Vorstudienanstalt eröffnet. 440 Studierende werden aufgenommen. Nach dem ersten Studienjahr an der ABF spezialisiert sich die Ausbildung in den gesellschaftswissenschaftlichen, mathematisch-naturwissenschaftlichen und medizinisch-biologischen Fachrichtungen. Durch Stipendien, kostenloses und lebensmittelmarkenfreies Mittagessen sowie kostenlose Lehr- und Lernmittel wird die materielle Grundlage für ein Studium an der ABF geschaffen. Ziel der ABF ist die Abschaffung der bisherigen Bildungsprivilegien der bürgerlichen Schichten. Die soziale Zusammensetzung der Studentenschaft soll verändert und langfristig eine neue Intelligenz, rekrutiert aus der Klasse der Arbeiter, ausgebildet werden – und das in einem Land, das der Form nach alle zu Angestellten macht. Die Arbeiter- und Bauernfakultäten waren dementsprechend von Anfang an nur als Bildungseinrichtungen auf Zeit vorgesehen.316 Ende der 1950er Jahre verlieren sie ihre Funktion. Mit der Erweiterten Oberschule und der Berufsausbildung mit Abitur waren Voraussetzungen zum Erwerb der Hochschulreife entstanden, die ab 1961 die Schließung der meisten ABF erlaubten. Die ABF der Universität Leipzig wird 1962 geschlossen.317 Die Maßnahmen zur Heranbildung einer „neuen Intelligenz“ aus den Reihen der nach wie vor als Klasse angesehenen Arbeiter- und Bauernschaft sind am Ende aber nie so erfolgreich, wie man es sich in der Parteiführung wünscht. In der Folgezeit steht die universitäre Entwicklung unter dem Zeichen weiterer Effektivierungsbestrebungen. Im Vordergrund steht die weitere Festigung eines „Bündnisses zwischen Arbeiterklasse und Intelligenz“.318 Mit der Erziehung zu staatstreuen Bürgern soll das Verhältnis von Universität und Praxis verbessert werden. Der Einfluss des SED-treuen FDJ ist bei der Umsetzung dieser Bestrebungen federführend. Vor allem Studierende der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät beginnen 1949, Studiengruppen und Studiengemeinschaften zu gründen, die den Vorlesestoff vertiefen und fachlich diskutieren. Es finden sich über 250 Studiengruppen zusammen. Sie führen später zur Einrichtung staatlicher Seminargruppen.319 Der Marxismus-Leninismus wird zur Staatsideologie. Die Auseinandersetzung um Inhalte wird dennoch zunächst mehr oder weniger lebhaft unter Lehrenden und Studierenden weitergeführt.320 Um Ernst Bloch, den Direktor des Philosophischen Instituts, bildet 316 Etwa 35.000 Absolventen begannen auf den Arbeiter- und Bauernfakultäten in der DDR das Abitur erreicht und meistens anschließend ein Studium. An der Universität Leipzig gab es 5.000 ABF-Studenten. Hans Georg Gadamer, Arbeiter-Studium und Universität, in: Kultur und Kritik, Heft 6, Leipzig 1994, S. 112–122. 317 Siegfried Hoyer, „Arbeiter an die Universität“. Die Vorbereitungskurse zum Hochschulstudium in Sachsen 1946–1949, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte, Bd. 71 (2000), S. 239–261. 318 So stellt es das Tübke-Gemälde im Foyer des alten Rektorats der Universität Leipzig dar. 319 Vgl. Dietmar Keller, Die Universität nach der Zerschlagung des Faschismus bis zum Aufbau der entwikkelten sozialistischen Gesellschaft, in: Lothar Rathmann (Hg.), Alma mater Lipsiensis, S. 283 ff. 320 Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft., S. 277; sowie Ingrid und Gerhard Zwerenz, Sklavensprache und Revolte. Der Bloch-Kreis und seine Feinde in Ost und West, Reinbek 2004.

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sich zum Beispiel in den 50er-Jahren ein Zirkel, in dem Varianten eines „realen Sozialismus“ diskutiert werden.321 Auf dem III. Parteitag der SED 1951 werden schließlich die nächsten Schritte und die „Grundzüge einer sozialistischen Hochschulreform“ formuliert und eine zweite Hochschulreform der DDR eingeleitet. Eingeführt werden das Zehn-Monats-Studienjahr, das obligatorische Studium der „Grundlagen des Marxismus-Leninismus“, der Pflichtunterricht in Russisch, der deutschen Sprache und Literatur sowie des Sports sowie das Berufspraktikum. Zudem soll sich der Studienablauf für jeden Studiengang nach einem allgemeinen verbindlichen Plan gestalten und es wird ein Fernstudium eingeführt, das auch der arbeitenden Bevölkerung ermöglichen soll, ein – ggf. berufsbegleitendes – Studium aufzunehmen. An den Instituten der Fakultäten werden wissenschaftliche Räte berufen, die für einen koordinierten Studienablauf und die Einhaltung der Studienpläne zu sorgen haben. Im April 1951 verfügt das Staatssekretariat die Aufgliederung der alten Philosophischen Fakultät in eine Philosophische, eine Landwirtschaftlich-Gärtnerische und eine Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät. Es gibt einige Neugründungen von Instituten, zum Beispiel das Institut für Publizistik und Zeitungswissenschaft, ein Institut für Geschichte des deutschen Volkes (später Institut für Deutsche Geschichte) und ein Institut für Geschichte der Völker der UdSSR. Das seit 1949 bestehende Lektorat für Sorbisch wird 1951 in ein Institut umgewandelt. Aus dem gesellschaftswissenschaftlichen Institut wird das Institut für MarxismusLeninismus, das 1969 zur Sektion für Marxismus-Leninismus erweitert wird. Anfang Februar 1953 schlägt der Medizinstudent Wilfried Wehner – anlässlich des 135. Geburtstages von Karl Marx – der FDJ-Hochschuldelegiertenkonferenz vor, den akademischen Senat der Universität zu bitten, die Umbenennung der Leipziger Universität in „KarlMarx-Universität Leipzig“ zu beantragen. Damit soll gemäß einem Aufruf des Zentralkomitees der SED zum Andenken an den Begründer des „wissenschaftlichen Sozialismus“ auch symbolisch angeknüpft werden. Der ‚Bitte‘ wird im Mai gleichen Jahres entsprochen. Der Beschluss des Ministerrats der Regierung der DDR, der Universität die Namensverleihung zu bewilligen, erfolgte am 30 April. Anlässlich des Geburtstages von Karl Marx am 5. Mai erfolgt die Namensgebung in einem feierlichen Festakt. Eine von der Regierung gestiftete Karl-Marx-Büste wird im Rektorat enthüllt. Im Herbst 1954 zählt sie 11.898 Studenten, wovon 49,3 Prozent, also knapp die Hälfte, ‚Arbeiterkinder‘ (nach Definition der DDR) sind.322 Das Studium wird ab den 50er-Jahren in die zentrale Wirtschaftsplanung des Staates eingegliedert. Dazu gehört auch eine straffe Organisation des Studiums und eine starke Verschulung der Wissensvermittlung. Eine autonome Wahl von Lehrinhalten durch Studenten oder Lehrpersonal, selbständiges Denken oder kritisches Hinterfragen von Methoden sind bei der parteitreuen Universitätsleitung nicht gefragt. Die Universitäten der westlichen Besatzungszonen Deutschlands knüpfen nach 1945 schnell wieder Kontakte zu Hochschulen anderer Länder. Im Osten Deutschlands fehlen solche Anstrengungen zunächst. Aber im Zusammenhang mit den III. Weltfestspielen der Jugend und Studenten im Jahr 1951 kommen auf Einladung der FDJ elf Nigerianer zum 321 Ebenda. 322 Inwiefern diese Zahl den tatsächlichen Anteilen entspricht, kann nicht genau gesagt werden. Bekannt ist aber, dass es in der DDR immer wieder die Tendenz gab, die gewünschten Ergebnisse durch Uminterpretationen anzupassen.

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Studieren in die DDR. Da sie erst die deutsche Sprache erlernen und ihre Schulkenntnisse erweitern müssen, entsteht an der ABF Leipzig eine „Abteilung Ausländerstudium“, aus der im Juni 1961 das heute noch bestehende Herder-Institut hervorging. Bis zum Studienjahr 1956/57 beginnen dort 1.183 Studenten und Studentinnen aus 24 Ländern einen einjährigen Sprachkurs.323 Die Zahl der Ausländer erhöht sich rasch weiter. In den 50er- und 60er-Jahren stammen alle ausländischen Studierenden aus sozialistischen Staaten und den arabischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Staaten der so genannten Dritten Welt. Allerdings ist das Studieren ausländischer Studenten an das Wohlwollen und die freundschaftlichen Beziehungen der jeweiligen Länder bzw. deren Regierungen zur Regierungspartei der Sowjetunion, der KPdSU, geknüpft.324 Gibt es zwischen diesen Staaten Differenzen, kann dies schnell zum Ausschluss vom Studium führen. Die DDR nimmt allerdings auch großzügig Flüchtlinge aus Ländern auf, in denen linke Regierungen gestürzt worden sind. Sie ermöglicht ihnen die Fortsetzung oder den Beginn eines Studiums in der DDR. Das geschieht am umfangreichsten nach dem Militärputsch in Chile 1973. Außerdem bekommen nach der internationalen Anerkennung der DDR und der Aufnahme der DDR in die UNO 1973 nun auch einige devisenstarke und selbstzahlende Studierende aus Westeuropa und Nordamerika die Möglichkeit, in der DDR zu studieren, zumal die DDR diese Devisen zur Beschaffung wichtiger Rohstoffe und zur Begleichung der Staatsschulden benötigt.325 Nach der Gründung der DDR 1949 wird auch das Stipendienwesen neu geregelt. Je nach sozialer Herkunft – wobei die Arbeiter und Bauern als vermeintliche Staats-Klientel besonders profitieren sollen – gibt es zwei Grundstipendien in unterschiedlicher Höhe, außerdem Leistungsstipendien in zwei Stufen. Anfangs zählt bei der Vergabe der Stipendien der Notendurchschnitt, später darüber hinaus das gesellschaftliche Engagement im Sinne des Staates. Fast 90 Prozent aller Studierenden erhalten in der DDR ein Stipendium. Das ist angesichts der entstehenden Staatsangestelltengesellschaft nicht eigentlich verwunderlich. Bei der Höhe des Stipendiums zählt der soziale Status. Für diese Alimentierung erwartet der Staat Loyalität. In diesem Sinn müssen Studierende ab Ende der 50er-Jahre auch eine Verpflichtung unterschreiben, in der sie sich einverstanden erklären, in den ersten drei Jahren nach Abschluss des Studiums an dem Ort tätig zu sein, an dem sie aus Perspektive des Staates gebraucht werden. Im Fokus staatlicher Überwachung stehen schon kurz nach dem Krieg die „renitente“ Theologische Fakultät und ihre Studierendenvereinigungen. Schon auf der II. Parteikonferenz 1952 proklamiert Walter Ulbricht, dass der Einfluss der Kirche auf die Jugend unterbunden werden soll.326 So wird im Prinzip von Anfang an von Seiten der DDR-Diktatur hart gegen Studierende vorgegangen, die der Jungen Gemeinde angehören. Zum Beispiel werden sie exmatrikuliert, wenn sie nicht aus der Evangelischen Studentengemeinde austreten. Zwar entspannt sich das Verhältnis von Staat und Kirche in den nachfolgenden Jahrzehnten etwas und die entsprechenden Studierenden werden rehabilitiert, aber Mitte der 1950er- und 323 Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft, S. 274. 324 Zum Beispiel im Fall China und UdSSR. 325 In den 1980er-Jahren holte DDR-Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski eine große Zahl Studierender aus Libyen, Syrien und Kamerun, deren Regierungen kommerzielle Vereinbarungen mit der DDR eingingen, auch nach Leipzig. 326 Beschluss der II. Parteikonferenz der SED, Berlin 1952.

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60er-Jahre verschärft sich die Lage erneut. Die Jungen Gemeinden werden als illegale Jugendorganisationen bezeichnet. Tausende christliche Schüler müssen die Oberschule verlassen oder bekommen keinen Studienplatz. Sogar die Bahnhofsmissionen müssen schließen und konfessionellen Pflegeheimen droht die Enteignung. Auf Druck aus Moskau ändert die DDR-Führung Anfang der 50er-Jahre ihren Kurs: Statt auf direkte Angriffe setzt man nun auf ideologische Auseinandersetzung. Die Einführung der Jugendweihe und die Verbannung des Religionsunterrichtes aus den Schulen gelten dabei als Mittel, die junge Generation weltanschaulich dem Einfluss der Kirchen zu entziehen. Als Siegfried Schmutzler zum neuen Studentenpfarrer an der Leipziger Universität wird, warten die staatlichen Organe offenbar nur auf eine Gelegenheit, gegen ihn und vermeintlichen „Feinde des Sozialismus“ vorgehen zu können. Es kommt bei einer kirchlichen Vortragswoche in Böhlen Ende Februar 1957 zu Konfrontationen. Schmutzler wird verhaftet und für fünf Jahre inhaftiert. Über 20 weitere Studenten werden relegiert oder getadelt. Auch bei den Medizinstudenten regt sich Widerstand. Sie fordern die freie Wahl der ersten Fremdsprache. Sprachwissenschafts- und Linguistik-Studenten wollen frei und kritisch über die Politik der DDR diskutieren.327 Nach dem XX. Parteitag der KPdSU gibt es Spannungen in der Sowjetunion, in Polen und in Ungarn. Der Tod Stalins 1953 bringt auch eine Zäsur in die sowjetische Politik. Eine neue „kollektive Führung“ versucht mit einem neuen Kurs die krisenhafte Entwicklung zu korrigieren und das politische System durch einen Kurswechsel zu stabilisieren. Das führt zum Ende der Massenrepressalien und Gefangene im ‚Archipel Gulag‘ werden amnestiert. In der Außenpolitik stehen die Zeichen auf Entspannung gegenüber dem Westen. Die Lebenslage der Bevölkerung soll durch vermehrte Konsumgüterproduktion nachhaltig verbessert werden. Diese neue Linie galt auch für die Satellitenstaaten, inklusive der DDR.328 Doch die Weichenstellungen der Politik kommen zu spät. Die DDR steckt in einer ersten Staats- und Existenzkrise. Anfang der 50er-Jahre und dann noch einmal Anfang der 60erJahre kommt es zu massenhaften Fluchtbewegungen aus dem Osten in den Westen Deutschlands. Auslöser für die Erhebung sind administrative Normerhöhungen, Preiserhöhungen und Versorgungsengpässe, die im Zusammenhang mit dem Beschluss zum ‚Aufbau des Sozialismus in der DDR‘ stehen. Die Republikflucht der Studierenden stellt nicht nur eine Form des politischen Protestes dar, sondern hinterlässt aus ökonomischer Sicht auch einen volkswirtschaftlichen Schaden. Die DDR-Staatsführung gibt die Schuld am Weggang hochqualifizierter Leute zunächst dem „Klassengegner im Westen“. Damit werden aber die zentralen Probleme des Aufbaus eines Staats-Sozialismus nur übertüncht. Die falsch gestellten Weichen in der Politik führen zu Unruhen gerade in der arbeitenden Bevölkerung: Am 17. Juni 1953 streiken 497.000 Arbeiter und Ingenieure in 593 Betrieben in Ostdeutschland. Es gibt größere Unruhen in rund 370 Orten. 418.000 Menschen beteiligen sich an Demonstrationen. Sowjetische Militärkommandanten verhängen vielerorts 327 Die ‚Rädelsführer‘ der Medizin-Studenten wurden relegiert und gingen nach Westberlin, die Sprachwissenschaftsstudenten mussten längere Haftstrafen verbüßen und die Teilnehmer des Bloch-Seminars mussten entweder auch ins Gefängnis oder die Universität verlassen. Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft, S. 276–277. 328 Vgl. András B. Hegedüs; Manfred Wilke (Hg.), Satelliten nach Stalins Tod. Der „Neue Kurs“. 17. Juni 1953 in der DDR – Ungarische Revolution 1956, München 2000.

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den Ausnahmezustand.329 Sowjetische Panzer fahren in den größeren Städten auf. Insgesamt werden 55 Menschen getötet.330 Über 10.000 Menschen werden festgenommen, viele von ihnen kommen ins Gefängnis. Am 13. August 1961 wird die Mauer gebaut. Als im August die Berliner Sektorengrenze schließt, ist Urlaubszeit. Professoren, Assistenten und Studenten sind in der Semesterpause. Einen Monat später beginnen überall in der DDR die Lehrveranstaltungen unter neuen Voraussetzungen: Wer lehrt und studiert, hat sich auf Lebenszeit mit dem System zu arrangieren. Dies führt dazu, dass es für viele Jahre keinen internationalen wissenschaftlichen Austausch gibt, der über den Ostblock hinausreichte.331 Der Bau der Mauer ist ein gravierender Einschnitt für die DDR. Die Bevölkerung reagiert darauf mit Bestürzung, die Unterstützer des Regimes mit begeisterter Zustimmung. Es ist daher nicht allzu schwer, für den ‚Schutz des Sozialismus‘ auch an den Hochschulen für Freiwillige in der „Nationalen Volksarmee“ (NVA) zu werben. So ‚beschließt‘ die Universitätsparteileitung, zusammen mit dem Rektor, im Jahr des Mauerbaus 1961, alle Beschäftigten im Alter von 18 bis 23 Jahren ihren „freiwilligen“ Ehrendienst in der NVA leisten zu lassen.332 Mit dem Mauerbau kann die Emigration hochqualifizierter Arbeitskräfte zunächst unterbunden werden. Die DDR versucht ab Anfang der 60er-Jahre ihr System von innen her zu stabilisieren und der aufbrechenden volkswirtschaftlichen Schwierigkeiten Herr zu werden. Die Leipziger Universität unternimmt allerlei Anstrengungen zur Verbesserung von Lehre und Forschung. Reformen und Modernisierungsvorhaben sorgen für Optimismus und Aufbruchsstimmung. Praxisnahe Forschung und Ausbildung hochqualifizierter Fachleute für die Wirtschaft heißt die Hauptaufgabe. Der akademische Senat der Leipziger Universität fordert dementsprechend die Universitätsangehörigen auf, „in Lehre und Forschung höchste wissenschaftliche Leistungen zu erstreben“333 Darüber hinaus werden Kooperationsvereinbarungen mit verschiedenen Betrieben getroffen, da wert gelegt wird auf eine enge Verbindung von Theorie und Praxis. Vor allem mit Großbetrieben wie dem Kombinatsbetrieb Böhlen, den Kombinat Wolfen, VEB Carl Zeiss Jena, mit Tier- und Landwirtschaftsbetrieben, aber auch mit den staatlichen Organen, den Bezirks- und Kreisleitungen, gibt es enge Verbindungen. Allerdings gehen die erheblichen Investitionen für die wissenschaftliche und technische Entwicklung zu Lasten anderer Bereiche der Volkswirtschaft, zum Beispiel der Konsumgüterherstellung. Die steht nunmehr wieder hinten an, sodass in diesem Bereich über die Jahre erst Stagnation und dann enormer Aufholbedarf zum Westen Deutschlands erzeugt wird. Die studentische Lebenssituation verändert sich wenig. Der Bau von Studentenheimen ist in der DDR-Planwirtschaft dem Aus- und Neubau von naturwissenschaftlichen und medizinischen Instituten nachgeordnet. Gerade einmal 200 Wohnheimplätze entstehen bis Mitte der 50er-Jahre. 1959 werden erstmals 700 Notquartiere in den Messehäusern errichtet. In Leipzig gibt es infolge der geringen Zahl von Neubauten, der Errichtung vor allem kleiner und mittelgroßer Wohnungen, durch den Verfall alter Bausubstanz und einem langsamen 329 Ilko-Sascha Kowalczuk, 17. Juni 1953 – Volksaufstand in der DDR. Ursachen – Abläufe – Folgen, Bremen 2003, S. 257 f. 330 Bei weiteren 20 Personen ist die Todesursache noch nicht geklärt. Vgl. Ebenda. 331 Vgl. Dietmar Keller, Die Universität nach der Zerschlagung des Faschismus bis zum Aufbau der entwikkelten sozialistischen Gesellschaft., S. 309 f. 332 Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft, S. 280. 333 Universitätszeitung der Karl-Marx-Universität vom 5. September 1961.

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Bevölkerungswachstum starken Bedarf auch der einheimischen nichtstudentischen Bevölkerung an Wohnraum. Erst im September 1968 gibt es „Maßnahmen zur Verbesserung der Unterbringung von Studenten der Universität und Hochschulen“. In der Folge entstehen ab den 70er-Jahren an verschiedenen Standorten der Stadt Leipzig Wohnheime mit über 5.000 „Normbetten“. Die Zimmermiete ist erschwinglich, wenngleich die Zimmer oft überbelegt sind.334 Unter wieder erschwerten wirtschaftlichen Bedingungen, die durch die verfehlte Planwirtschaft und geringere Absatzmärkte im Westen bedingt sind, beginnen Ende der 1960erJahre trotzdem die Vorbereitungen für den Neubau der zentralen Universitätsgebäude am Karl-Marx-Platz. Die SED-Parteispitze des Bezirkes Leipzig fordert nachdrücklich den Wiederaufbau bzw. die Restauration des traditionsreichen Augusteums, weil es unter Denkmalschutz steht. Die Universität fordert aber einen Neubaukomplex. Die Versetzung der Universitätskirche wird als undurchführbar verworfen. Daraufhin ordnet der Rat der Stadt am 21. Juni 1960 eine Untersuchung der Bebauung der Süd- und Westseite des Karl-MarxPlatzes „ohne Altsubstanz“ an. Im Zuge dieser Entwicklung ist den damaligen Entscheidungsträgern der Universität ein gehöriges Maß an Mitverantwortung für die Zerstörung des alten Universitätskomplexes zuzuweisen. Es gab zwar nie eine explizite Forderung der Universität zur Sprengung der Universitätskirche, aber das war immer Teil des Vorhabens. Die Grundsteinlegung für den neuen Universitätskomplex erfolgt am 4. Oktober 1968. Von 1968 bis 1972 wird das Universitätshochhaus in Form eines aufgeschlagenen Buches gebaut. Als höchstes Gebäude Leipzigs ist seine Silhouette zum Symbol für die Messe- und Buchstadt geworden. An der Stelle der Giebelwand der Paulinerkirche wird zum 25. Jahrestag der DDR 1974 das Bronzerelief „Aufbruch“ mit dem Marxkopf im Zentrum aufgestellt.335 Eine weitere Umgestaltung des Universitätscampus erfolgt in den Jahren 1973 bis 1978. Der Umbau der Mensa in der Grimmaischen Straße folgt mit Beginn des Herbstsemesters 1973. Gesellschaftswissenschaftliche Zweigstelle der Universitätsbibliothek und der Hörsaalkomplex in der Universitätsstraße werden 1974 eröffnet. 1975 ist der Neubaukomplex einschließlich der Außenanlagen nach einer insgesamt sechsjährigen Projektierungs- und Bauzeit fertiggestellt und in vollem Betrieb. Neben dem Eingang zu den Hörsälen wird 1981 anlässlich des 200. Geburtstags Karl Friedrich Schinkels das von ihm entworfene Portal des ehemaligen Universitätshauptgebäudes am Augustusplatz aufgestellt. Das geplante Auditorium Maximum, das für das gesamte kulturelle Leben der Universität eine wichtige Rolle gespielt hätte, wird nicht realisiert. Stattdessen kann die Universität für ihre alljährlichen Immatrikulationsfeiern und einige andere Veranstaltungen das 1981 fertiggestellte Neue Gewandhaus nutzen. Schon zu Beginn der 60er-Jahre, besonders nach dem Beschluss der DDR-Regierung über den „weiteren Aufbau des Sozialismus unter den Bedingungen der wissenschaftlichtechnischen Revolution“ kündigen sich auch inhaltliche und strukturelle Veränderungen im 334 Oft sind bis in die 90er-Jahre die kleinen Stuben mit vier Studierenden (zwei Doppelstockbetten) belegt. Vier Stuben müssen sich eine Dusche und Toilette auf dem Flur teilen. Vgl. Siegfried Hoyer, Kleine Geschichte der Leipziger Studentenschaft, S. 282. 335 Es war 1970 bis 1973 von den Künstlern Frank Ruddigkeit, Klaus Schwabe und Rolf Kuhrt geschaffen worden. Sie hatten sich bei einem Wettbewerb um die Gestaltung des Denkmals unter anderem gegen Bernhard Heisig und Willi Sitte durchgesetzt. Das Bronzerelief ist 14 m lang, 7 m hoch und 33 t schwer.

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Hochschulwesen an. Im Herbst 1965 unterbreitet das Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen „Prinzipien zur weiteren Entwicklung der Lehre und Forschung an den Hochschulen der DDR“. Darin wird gefordert, dass die Hochschulen einen größeren Beitrag zur Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus zu leisten haben. Bildungsvorlauf, langfristige und planmäßige Wissenschaftsentwicklung und eine enge Verflechtung von Universität und gesellschaftlicher Praxis stehen auf der Agenda. Nachdem auf der IV. Hochschulkonferenz 1967 diese Aufgaben diskutiert werden und ihre Umsetzung geplant wird, beschließt am 1. Dezember 1968 das Konzil der Karl-Marx-Universität, das seitdem eine ständige Einrichtung der Hochschule ist, die „Grundsätze zur Auseinandersetzung der Gesamtkonzeption zur Weiterführung der III. Hochschulreform“.336 Nachdem an der Universität bis etwa Mitte der 60er-Jahre der Aufbau von Instituten der Asien- und Afrikawissenschaften im Wesentlichen abgeschlossen ist, wird mit der Bildung der Sektion Asien-, Afrika- und Lateinamerikawissenschaften im Dezember 1966 ein neuer Entwicklungsschritt der Regionalwissenschaften eingeleitet. Sie ist auch die erste Sektion dieser Wissenschaftsgebiete an einer ostdeutschen Universität überhaupt. Zur Sektion gehören vier Institute und drei Abteilungen bzw. Fachrichtungen. Allgemeinverbindlicher Forschungsschwerpunkt ist die vergleichende Untersuchung zur „nationalen Befreiungsrevolution“ seit 1917 und zur „antikapitalistischen Entwicklung“, gemeint ist eine ‚sozialistische Geschichtsschreibung‘. Auf diese Weise soll die „geschichtsphilosophische Mission“ des Marxismus mit Daten untermauert werden. Die Einführung von Sektionen ermöglicht eine einheitliche Leitung der Universität, die inzwischen in zehn Fakultäten mit 114 Instituten, 24 Kliniken, zwölf Abteilungen und einige separate Institute sowie eine medizinische Fachschule unterteilt ist. Immerhin arbeiten und studieren an der Leipziger Universität um 1970 2.900 Wissenschaftler, 7.000 Mitarbeiter nichtwissenschaftliches Personal und 13.000 Studierende.337 Es entstehen in Leipzig 16 Sektionen, die Wissenschaftler von Instituten eines oder verschiedener Wissenschaftsgebiete zusammenführen. Die Bereiche Medizin und Theologie bleiben davon ausgenommen. Das Franz-Mehring-Institut, das Institut für internationale und westdeutsche Fragen, das HerderInstitut, das Institut für Körpererziehung, das Institut für tropische Landwirtschaft und Veterinärmedizin sowie das Geophysikalische Institut unterstehen unmittelbar dem Rektor. Ein vom Minister für Hoch- und Fachschulwesen berufener gesellschaftlicher Rat fungiert als beratendes und kontrollierendes universitäres Organ. Doch an der inhaltlichen Ausgestaltung von Forschung und Lehre ändert sich wenig. Das mag auch daran liegen, dass in den 70er-Jahren bereits alle immatrikulierten Studierenden das DDR-System von Grund auf durchlaufen haben und nach dessen Auslesekriterien zum Studium zugelassen worden sind. Damit fehlt für beinahe zwei Dekaden das kritische Potential, an dem es noch 20 Jahre vorher nicht mangelte. Auch der mit Recht angemahnten Formenvielfalt steht nunmehr ein starrer Studien- und Stundenplan gegenüber. Praxisnähe finden Medizinstudenten allein durch ein einjähriges Praktikum als Krankenpfleger bzw. Krankenschwester vor dem Studium. 336 Vgl. Konrad Krause, Alma mater Lipsiensis, 324–378; Senatskommission zur Erforschung der Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte (Hg.), Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009. Das zwanzigste Jahrhundert 1909–2009, Bd. 3, Leipzig 2010. 337 Vgl. Jens Blecher; Gerald Wiemers, Die Universität Leipzig 1943–1992, Erfurt 2006.

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Bis zum Jahre 1968 unterliegt die Karl-Marx-Universität einem erheblichen Ideologisierungsprozess: Der Beginn eines Studiums soll zugleich der Anfang einer Persönlichkeitsumwandlung werden. Träger der Ideologie sind diejenigen Hochschullehrer, die propagandistisch eine politische Erziehung vermitteln sollen.338 Bis 1989 bleibt zum Beispiel in jedem Studiengang die ‚Disziplin‘ Marxismus-Leninismus Prüfungsfach. Mit der dritten Hochschulreform verfolgt die SED vor allem das Ziel, die Schlüsselpositionen und Leitungspositionen mit zuverlässigen Polit-Kadern zu besetzen. Außerdem geht es darum, jegliche Kritik am Staat und seinen Funktionären frühzeitig zu entdecken und zu unterbinden. Die Hauptquelle der Informationsbeschaffung sind inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit MfS, die regelmäßig über die Umsetzung der Reform berichten.339 Der Ausbau des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), der sich von Ende der 1960erJahre bis Anfang der 1980er-Jahre erstreckt, muss im Zusammenhang mit der damaligen Außen- und Innenpolitik der DDR und vor dem Hintergrund des Kalten Krieges verstanden werden. In ganz Europa gibt es Bewegungen, die für Abrüstung eintreten. Zwischen den beiden deutschen Staaten gibt es eine Entspannungspolitik, die scheinbar auf die beiderseitige Anerkennung zweier deutscher Staaten und damit eine auf Dauer gestellte Teilung Deutschlands hinausläuft. Diplomatische Beziehungen werden aufgenommen, die es wieder ermöglichen, dass BRD-Bürger in die DDR einreisen dürfen. Außerdem kommt es in der SED zum Machtwechsel. Der neue Staatschef Erich Honecker gilt – gerade in Abgrenzung von Walter Ulbricht – zunächst als Verkörperung der jüngeren Generation. In der Folge kommt es zu einer politischen Liberalisierung und einem Bündel sozialpolitischer Verbesserungen für die DDR-Bevölkerung.340 Diese Maßnahmen führen jedoch als Nebenfolge zu einer erhöhten Verschuldung des Staates und zu einem katastrophalen Wirtschaftszustand. Die neue Westpolitik bedeutet zeitgleich eine außenpolitische Befreiung der DDR und eine innenpolitische Gefährdung. Um die innerer Sicherheit zu bewahren, erfolgt ein massiver personeller und struktureller Ausbau des MfS.341 Ereignisse wie der Prager Frühling 1968, die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann 1976 und die Ausweisung des Regimekritikers Rudolf Bahro 1979 lösen Solidaritätswellen unter der Bevölkerung aus und ziehen Proteste und Flugblattaktionen, zum Beispiel an der Martin-Luther-Universität Halle, nach sich.342 In der Regel handelt es sich bei den Protesten an der Universität um Einzelaktionen von Studenten, die oft mit deren Ausschluss vom Studium enden.343 Hochschuldozenten sind so gut wie nicht betroffen, da sie sich bereits der SED-Diktatur angepasst haben. Von daher ist nachzuvollziehen, dass der Geist des Aufruhrs, der 1968 an den Universitäten in Paris und der Bundesrepublik oder beim Prager Frühling herrschte, in der DDR nicht ankommt. Selbst Lehrverbote für überzeugte Marxisten und zugleich bei den Studenten beliebte Wis338 Elise Catrain, Hochschule im Überwachungsstaat. Strukturen und Aktivitäten des Ministeriums für Staatssicherheit an der Karl-Marx-Universität Leipzig (1968/69–1981), Leipzig 2013, S. 26. 339 Vgl. Ebenda, S. 34. 340 Vgl. Ebenda, S. 81. 341 Das Ministerium für Staatssicherheit gewann seit 1967 durchschnittlich über 3.000 neue Mitarbeiter pro Jahr hinzu. Vgl. Elise Catrain, Hochschule im Überwachungsstaat, S. 83. 342 Die Quellenlage über die Leipziger Universität in dieser Zeit ist spärlich. Vgl. Elisa Carain, Hochschule im Überwachungsstaat, S. 84. 343 Vgl. Ebenda, S. 135.

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senschaftler wie Robert Havemann an der Humboldt-Universität (1965) oder Ernst Bloch in Leipzig (1961) waren kein Anlass zu einem Hochschulstreik. Das Ministerium für Staatssicherheit hat sich bald an der Universität so weit aufgebaut, dass man in Bezug auf die 70er-Jahre von einer flächendeckenden Überwachung sprechen kann.344 Zudem ist die Universität inzwischen so umstrukturiert, dass Protest-Aktionen von vornherein ausgeschlossen sind, da permanent und sorgfältig die „Linientreue“ kontrolliert wird. Die dritte Hochschulreform Mitte der 60er-Jahre bedeutet eine weitergehende Ideologisierung der Universität. Weil deutlich wird, dass das alles mit der Gleichschaltung der Universität enden wird, gehen wieder einige Professoren nach Westdeutschland. Anfang der 70er-Jahre orientiert sich die Universität Leipzig wieder stärker kulturpolitisch. Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung und die Frage nach einer „sozialistischen Lebensweise“ rücken ins Zentrum. Im Zuge dieser Neuerung entsteht auch ein Domizil für die studentische Freizeitgestaltung, die Moritzbastei. 1973/1974 entdecken Studierende auf der Suche nach Räumlichkeiten für einen Studentenklub deren Reste. Sie überzeugen die Universitätsleitung und die Stadt vom Wiederaufbau. Anders als in anderen Studentenstädten der DDR fehlt bis Mitte der 70er-Jahre in Leipzig ein Studentenklub. Also machen sich die Studierenden auf Initiative des 1. Sekretärs der FDJ-Leitung der Universität, Norbert Gustmann, an die Aufgabe, die ehemalige Festungsbastion neben dem Universitätskomplex auszugraben und in den Gewölben Klubräume zu gestalten.345 1973 beginnen die Planungen, 1974 die ersten Bauarbeiten. Ca. 50.000 Studierende arbeiten über die Jahre hin freiwillig am Ausbau des Studentenklubs mit. Am 1. Dezember 1979 wird der Oberkeller als erster Bauabschnitt in Betrieb genommen. Am 5. Februar 1982 erfolgt die Übergabe des gesamten Gebäudes als „Europas größter Studentenclub“ an die Karl-Marx-Universität Leipzig.346 Das neue Wohnungsbauprogramm von 1973, das bis 1990 alle Wohnungsprobleme beseitigen will, bringt besonders für die Studierenden Entlastungen. So werden nun Ehen auch unter Studierenden sowie Lehrenden mit Wohnraum gefördert und die Lage berufstätiger Mütter mit Kindern erleichtert. Weitere Wohnheime zur Unterbringung der Studenten werden in Leipzig gebaut. Die Zahl der Kindergarten- und Krippenplätze steigt, Erholungsurlaube werden verlängert. Aufgrund lohnpolitischer Maßnahmen Mitte der 70er-Jahre erhöhen sich auch die Löhne und Gehälter für die Mitarbeiter der Karl-Marx-Universität. Nach der dritten Hochschulreform und neuen Reisemöglichkeiten am Anfang der 1980erJahre setzt sich ein festes Curriculum von Lehre, Prüfungen und gesellschaftspolitischen Anforderungen während des Studiums durch. Im ersten Studienjahr findet ein dreiwöchiger Studentensommer mit Arbeitseinsätzen, meist in der Landwirtschaft, statt. In den folgenden Jahren gibt es nach Geschlechtern getrennt ein Reservisten- und ein Zivilverteidigungslager. Wer an solchen Veranstaltungen nicht teilnimmt, muss mit Repressalien und ggf. einer Kürzung des Leistungsstipendiums rechnen. Der erleichterte Reiseverkehr in die „sozialistischen Bruderstaaten“ macht immerhin Studienaufenthalte oder den Studentenaustausch möglich und eröffnet wenigstens einen begrenzten internationalen Horizont. Allerdings behindern oft 344 Vgl. Ebenda, S. 288. 345 Vgl. Peter Kunz, Susann Morgner, Die Moritzbastei in Leipzig, Leipzig 2003; sowie Roman Schulz, Zwischen Hörsaal 13 und Moritzbastei, Leipzig 2009. 346 Vgl. Universität Leipzig, Universitätsjournal, Heft 4/2003, S. 39.

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bürokratische Hürden bei der Anerkennung erbrachter Seminar- und Prüfungsleistungen ein durch solchen Austausch ergänztes Studium. Ab Mitte der 80er-Jahre gibt es dann auch mehr Freiräume im Studium selbst. So können sich die Studierenden erstmals selbst nach individuellen Kriterien einen Stundenplan zusammenstellen und Interessen außerhalb des Faches nachgehen. Außerdem wird ein Hochbegabten-Stipendium für so genannte „Beststudenten“ eingeführt. Ein echter internationaler Wettbewerb fehlt allerdings.347 Gegenüber anderen Gruppen aber gehören Studierende und linientreue Wissenschaftler zu den staatlich privilegierten Gruppen. Wer als Studienbewerber den üblichen Weg von den Jungen Pionieren über die FDJ bis zum Wehrdienst in der Volksarmee beschritten hat, kann anschließend mit einem Studienplatz rechnen. Aber nur zwölf Prozent eines Jahrgangs haben die Chance, die erweiterte zwölf-klassige polytechnische Oberschule und später eine Hochschule zu besuchen. Die spätere Wahl des Studienplatzes ist reglementiert und auf die Bedürfnisse des Staates abgestimmt. Frischen Wind bringt erst die Aufnahme der intensiven Diskussionen und Reformansätze in der UdSSR Ende der 80er-Jahre in die Hochschulen. Die Leipziger Universität wird in der Endzeit der DDR zu einem Ort der Diskussion zwischen Akademikern und Studierenden um Glasnost und Perestroika. Ein Fanal bildet die Zerschlagung der Demokratiebewegung am 4. Juni 1989 durch das chinesische Militär auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking. Bei dem Massaker kommen Tausende ums Leben. In Berlin werden 120 Bürgerrechtler, die dem Staatsrat der DDR eine Eingabe gegen die Wahlfälschungen vom 7. Mai übergeben wollen, zeitweilig festgenommen. Plötzlich wird das Leipziger Straßenmusikfestival, das von Leipziger Gruppen organisiert wird, von der Polizei verboten. Regimekritische Gruppen werden vom offiziellen Kirchentag ausgeschlossen und veranstalten eine Protestveranstaltung.348 Ende Juli reisen die ersten DDR-Bürger über Nachbarstaaten aus. Das liberalere Ungarn öffnet seinen Grenzzaun zu Österreich hin. Ab Mitte August 1989 herrscht im SED-Politbüro offenkundig völlige Ratlosigkeit, wie mit dieser Krise im Land weiter umgegangen werden soll. Junge Menschen wollen für eine bessere Umwelt, gegen die Pressezensur, für Reisefreiheit und gegen das Massaker auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens friedlich demonstrieren. Am 4. September 1989 findet erstmals auf dem Nikolaikirchhof im Anschluss an das Friedensgebet eine Montags-Demonstration statt. Schon drei Wochen später ist der Sperrriegel der Sicherheitskräfte um die Nikolaikirche dem Druck der inzwischen vielen

347 Das verdeutlicht ein Zitat von Roman Schulz, der damals selbst in Leipzig Student war und ein Buch über seine Studentenzeit geschrieben hat: „Wir durften nicht nach Paris – machte nichts – die Pragreisen waren fantastisch. Wir sahen das San Francisco Winterland nicht – machte nichts – denn die kamen alle zu uns. Wir konnten nicht nach Pompeji reisen – machte nichts – die Ausgrabungen in der Lausitz blieben unvergesslich. Wir bekamen nicht alle Bücher in der Bibliothek – machte nichts – wir lasen, was wir hatten. Wir ergatterten nur begrenzt gute Schallplatten – machte nichts – Tesla-Tonbandgeräte waren unverwüstlich. Wir wählten nicht alle Seminare und Vorlesungen selbst aus – machte nichts – diskutiert haben wir trotzdem. Wir konnten nicht alle Probleme klar ansprechen, aber im Sprachgebrauch und ‚Zwischen-den-Zeilen-lesen‘ lernten wir schnell.“, Roman Schulz, Zwischen Hörsaal 13 und Moritzbastei, S. 12. 348 Vgl. Stadt Leipzig, der Oberbürgermeister (Hg.) Leipzig erinnert an den Herbst ‘89, Leipzig 1999.

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tausend Demonstranten nicht mehr gewachsen.349 In fast allen Städten finden Montagsdemonstrationen statt. Oppositionelle Gruppen gründen das „Neues Forum“ und beantragen die Zulassung ihrer Bürgervereinigung. Daraufhin gründen sich weitere Bürgerbewegungen, zum Beispiel „Demokratie jetzt“. Der damalige Außenminister der BRD, Hans-Dietrich Genscher, der selbst von 1948–1950 in Leipzig Rechtswissenschaften studierte, erklärt in Prag, dass die Flüchtlinge in der Prager Botschaft in die BRD ausreisen dürfen. Inzwischen nehmen an den Montags-Demonstrationen in Leipzig 25.000 Menschen teil. Am 9. Oktober 1989 sind es dann 70.000 und am 23. Oktober über 250.000.350 Es kommt zu Ausschreitungen und einem brutalen Einsatz von Polizei, Sondereinheiten und Kampfgruppen. Der Einsatz von Armee-Einheiten wird vorbereitet. Die DDR-Regierung will die Situation wieder in den Griff bekommen und hebt den visafreien Reiseverkehr in die ČSSR auf. Der Bahnverkehr steht teilweise still und zwischen den Sicherheitskräften und Ausreisewilligen kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, einige werden festgenommen. Inzwischen werden in Leipzig bereits Hunde und Wasserwerfer gegen die Demonstranten eingesetzt.351 Die DDR-Regierung und ihre Funktionäre sind vollkommen überfordert. Egon Krenz, bisher stellvertretender Staatsratsvorsitzender, löst den jahrzehntelang als Regierungschef amtierenden Erich Honecker ab. Schließlich tritt am 7. November die gesamte Regierung zurück und zwei Tage später wird die Mauer nach Westberlin mit dem Vorlesen eines neuen Reisegesetzes durch Günter Schabowski geöffnet. Zwar gibt es von der Nachfolgeregierung mit Hans Modrow noch Bestrebungen, eine neue Regierung zu bilden, aber das gelingt schon deswegen nicht, weil bereits Verhandlungen über eine Vertragsgemeinschaft mit der Bundesrepublik im Gange sind.352 Michael Gorbatschow stimmt der deutschen Wiedervereinigung zu und die Besatzungsmächte ziehen sich aus beiden Teilen Deutschlands in den kommenden Jahren zurück. Schließlich tritt die DDR der BRD bei und die deutsche Einheit ist am 3.Oktober 1990 formell wiederhergestellt. In der Zeit dieser sogenannten Wende kann von normalem Studienbetrieb nicht die Rede sein. Stattdessen werden Demonstrationen organisiert, es wird debattiert, es werden Eingaben an Erich Honecker verfasst, es wird zum Dialog und für friedliche Demonstrationen ermahnt und gebetet. Dabei treffen sich die Studierenden auch, um die Gründung einer von der FDJ unabhängigen Studierendenvertretung vorzubereiten.353 Schon bald nimmt diese Vertretung an deutsch-deutschen Kongressen teil und engagiert sich gegen den seit 1990 offen zutage tretenden Ausländerhass, denn Wohnheime, in denen ausländische Studierende untergebracht sind, werden plötzlich zur Zielscheibe für Wut und Zerstörung.354 Schon im November 1989 nennen sich die verschiedenen Sektionen der Leipziger Universität um. Die Sektion „Wissenschaftlicher Kommunismus“ heißt nun „Politikwis349 350 351 352

Vgl. Ebenda. Vgl. Ebenda. Vgl. Ebenda. Vgl. Hans-Hermann Hertle, Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989, Berlin 1999, S. 269–278. 353 Vgl. https://kmu.leipzig8990.de/leipzig.php?article=25, Rektor vom 18.10.1989, aufgerufen am 03.04.2018. 354 Vgl. https://kmu.leipzig8990.de/leipzig.php?article=60, Plakat des Studentenrates vom 16.2.1990, aufgerufen am 03.04.2018.

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senschaften und Soziologie“, die Sektion „Marxistisch-Leninistische Philosophie“ einfach „Philosophie“. Die Universitätsleitung um Rektor Horst Hennig kündigt eine Verwaltungsreform innerhalb der Universität an. Ziel ist es, Wissenschaftler von bürokratischem Ballast zu befreien. Von ideologischem Ballast befreit sie sich durch einen gründlichen Akten-Check bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) auf mögliche Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit. Die neue Reisefreiheit für DDR-Bürger führt sofort zu einer Mobilität der Studierenden, wie die Berichte von einjährigen Zusatzstudien an der Universität Sussex in Großbritannien oder der Universität in Turku in Finnland zeigen.355 Zugleich müssen aber alle kubanischen Studenten mit Ablauf des Studienjahres in ihre Heimat zurückkehren. Rektor Horst Hennig tritt am 22. Juni 1990 auf Druck der Öffentlichkeit zusammen mit seinen Prorektoren zurück.356 Nach der Wiedervereinigung, für die der Einigungsvertrag prinzipiell die Rückgabe von „volkseigenen“ Immobilien an die Alteigentümer vorsah, muss die Universität die Rückgabe ihres Stiftungseigentums durch einen beim Bundesverwaltungsgericht erfolgreichen Prozess erzwingen. Es kommt zu einem gerichtlichen Vergleich mit dem Freistaat Sachsen über das Körperschaftsvermögen der Universität.357 Rektorat und Senat erklären sich schweren Herzens und unter Zurückstellung schwerwiegender Bedenken prinzipiell zu diesem Kompromiss bereit unter der Voraussetzung, dass die Staatsregierung im Sinne der Entwicklungsperspektive für die Universität Leipzig dieser ihre Unterstützung bei der Neugestaltung des Universitätskomplexes und der Wiedererrichtung eines geistigen Zentrums am Augustusplatz mit dem Blick auf das 600-jährige Universitätsjubiläum im Jahr 2009 zusichert. Ende der 1990er-Jahre entwickelt ein Arbeitskreis unter Leitung von Rektor Professor Volker Bigl erste konkrete Leitvorstellungen in Form von neun Thesen zur „zukünftigen Funktion und baulichen Gestaltung des Universitätshauptgebäudes am Leipziger Augustusplatz“. Die Leitvorstellungen werden veröffentlicht und nach Diskussion im Februar 2000 vom Konzil beschlossen. Der marode DDR-Universitätskomplex aus den 70er-Jahren soll möglichst schnell einem modernen, zukunftsorientierten Universitätscampus weichen.358 355 Vgl. https://kmu.leipzig8990.de/leipzig.php?article=93, Universitätszeitung vom 15.12.1989, aufgerufen am 03.04.2018. 356 Ab 1980 war Henning Professor für anorganische Chemie und Prorektor für Naturwissenschaften; er übernahm am 2. Dezember 1987 das Rektorenamt. 357 Der Kern des Vergleiches bestand darin, dass die Universität ihre Grundstücke in der Universitäts-, Ritter-, Schiller- und Goethestraße als Körperschaftseigentum behält und damit die langen und guten Traditionen an diesem angestammten innerstädtischen Standort weiterführen konnte, während die bislang und auch künftig universitär genutzten Grundstücke außerhalb des Ringes (unter anderem die Liebigstraße, Johannisallee, Emil-Fuchs-Straße, Talstraße) an den Freistaat übergingen. Dieser Vergleich mit der Staatsregierung bedeutete auch, dass die beim Bundesverwaltungsgericht anhängige Revisionsklage der Universität gegen den Verkauf des ehemaligen Universitätshochhauses am Augustusplatz zurückgezogen wurden. Vgl. https://www.uni-leipzig.de/service/kommunikation/ medienredaktion/nachrichten.html?ifab_modus =detail&ifab_ uid=..&ifab_id=143, aufgerufen am 26.11.2018. 358 Für den innerstädtischen Campus wird am 27. August 2001 vom Freistaat Sachsen in Zusammenarbeit mit der Universität und der Stadt Leipzig ein EU-weiter Realisierungswettbewerb in zwei Phasen zur Neu- und Umgestaltung des innerstädtischen Universitätskomplexes am Augustusplatz ausgeschrieben.

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4.4 Grenzen öffnen: Die Leipziger Universität in der Wendezeit Seit Anfang des Jahres 1990 gibt es in allen Instituten Bemühungen, die Studiengänge zu reformieren und Stellen neu zu besetzen. Es entsteht ein neuer Studienaufbau mit Studienablaufplänen, die ein Grund- und Aufbaustudium, Haupt- und Nebenfach sowie Spezialisierungen gliedern.359 Die Regelstudienzeit beträgt zehn Semester und schließt mit dem Diplom ab. In der Hoffnung, das Studium und seine Bedingungen selbst autonom mitbestimmen zu können, kommt es zu einem regelrechten Reformeifer.360 Die Nachwendezeit ist aber nicht nur die Zeit des Mauerfalls und der Befreiung, sondern auch eine Zeit des schwierigen Umbruchs. Akademien werden aufgelöst, Institute abgewickelt, die staatlich organisierte Industrieforschung bricht weg, Lebensentwürfe scheitern. Von 1989 bis 1992 schrumpft die Zahl der Angestellten der Universität (die Kliniken ausgenommen) von 6.200 auf weniger als 2.500.361 Cornelius Weiss wird am 13. Februar 1991 der erste demokratisch gewählte Rektor nach der Wiedervereinigung.362 Er kritisiert die DDR-treue Haltung der Angestellten an der Universität Leipzig vor und während der Wendezeit. Gleichzeitig wendet er sich gegen eine allzu radikale Abwicklung der Institute und Mitarbeiter363 und plädiert für die Autonomie der Hochschule.364 „Die Universität als Ganzes trug leider absolut nichts zur längst überfälligen Wende bei, wie es ihr als geistigem Zentrum der Stadt wohl angestanden hätte. Im Gegenteil, sie wartete ab, hüllte sich in Schweigen, bremste gar, erwies sich wie schon so oft in ihrer Geschichte als vorsichtig, konservativ, ja als reaktionär. Schlimmer noch, auch nach der Wende, als kritische Worte schon nicht mehr gefährlich waren, fehlte der Universität in den meisten Bereichen die Kraft und vielleicht auch der Wille zur Aufarbeitung der Vergangenheit, zur Trauerarbeit, zur geistigen Erneuerung und zur demokratischen Umgestaltung von innen heraus.“ 365

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Ziel des Wettbewerbs war die „funktionale und gestalterische Neu- und Umgestaltung des innerstädtischen Universitätskomplexes, der Vorentwurf für den Neubau eines Institutsgebäudes mit kommerziellen Bereichen, einer Aula, eines großen Hörsaals und einer Mensa sowie die bauliche Integration von Haupt-, Seminar- und Hörsaalgebäude“. Der Wiederaufbau der historischen Universitätskirche St. Pauli gehörte ausdrücklich nicht zur Aufgabenstellung. Darauf hatten sich die Gremien der Universität 1999 mit großer Mehrheit geeinigt. Ende 2004 beginnen die Arbeiten für den neuen innerstädtischen Campus. Die Nutzung und der Betrieb des Paulinums – Aula und Universitätskirche St. Pauli sind am 14. September 2017 auf die Universität Leipzig übergegangen. Vgl. Uta Kösser, Diplom, Magister, Bachelor. Studiengang und Institut für Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig, Erlangen 2008, S. 50. Vgl. Ebenda., S. 54. Die Zahlen variieren. Conrad Weiss galt als regimekritischer Naturwissenschaftler. „Abwicklung“ bedeutet die formelle Schließung diverser Institute und Sektionen in den fünf neuen Ländern und Berlin – und die Entlassung der Mitarbeiter, zumeist gefolgt von ‚Neugründungen‘ mit zum Teil neuem Personal. „Mit der Demo in Dresden begann zehn Tage vor Weihnachten – und mehr als ein Jahr nach der Wende – das große Erwachen an den ostdeutschen Universitäten: Studenten besetzten Rektorate, boykottierten Seminare, belagerten Kirchen. In Schwerin forderten aufgebrachte Studiosi den Rücktritt des Kultusministers, in Erfurt stürmten sie den Landtag. 60 Kommilitonen der Ost-Berliner Humboldt-Uni hielten an den Weihnachtstagen eine Mahnwache ab, 12 Leipziger Studenten waren sogar in Hungerstreik.“ Vgl. „Der Spiegel“ vom 31.12.1990, vgl. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13503240.html, aufgerufen am 16.10.2019. Rektor Cornelius Weiss in: Uwe Schlicht, DDR-Hochschulen nach 1989, Die Universität trug leider

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Studierende und Lehrende haben sich mehrheitlich nicht so aktiv wie andere Bevölkerungsgruppen an der Wende beteiligt,366 auch wenn schon in den 80er-Jahren die Systemtreue der Studierenden an der Karl-Marx-Universität stark nachgelassen hatte.367 Anfang Dezember 1989 legt das Ministerium für Bildung der DDR einen Verordnungsentwurf „Demokratische Mitbestimmung der Studenten“ vor.368 In diesem wurden Regelungen für die Arbeit der Studentenräte formuliert. Zum Erlass einer solchen Verordnung kam es dann infolge der sich 1990 überschlagenden Ereignisse nicht mehr. Am Tag des Mauerfalls gründet sich auch in Leipzig ein unabhängiger Studentenrat, der von der Universitätsleitung in allen Belangen hinzugezogen wird. Im Sommer 1990 wurde so ein Hochschulrahmengesetz für Sachsen entworfen. Es sah zunächst vor, dass in allen universitären Gremien Professoren, Studenten und der akademische Mittelbau jeweils ein Drittel der Stimmen erhalten. Neben dieser Drittelparität forderte das studentische Papier ein Stipendium für alle Studierenden, das unabhängig vom Einkommen der Eltern gezahlt werden soll. Es war aber klar, dass man sich am bestehenden westdeutschen Hochschulrahmengesetz zu orientieren hatte.369 Es werden nun die Fachbereiche Rechts-, Wirtschafts- und Erziehungswissenschaften sowie Philosophie und Geschichte in Leipzig wie an fast allen Hochschulen Ostdeutschlands zunächst aufgelöst und dann neu gegründet. Auch die als „Rotes Kloster“ bekannte Sektion Journalistik in Leipzig muss schließen. Die Studierenden können zwar ihre Studien fortsetzen und beenden. Die Hochschullehrer der abgewickelten Institute aber werden in eine so genannte Warteschleife versetzt: In den kommenden sechs Monaten schrumpft ihr Gehalt auf 70 Prozent der alten Bezüge. Danach folgt entweder die Berufung an eines der neu zu gründenden Nachfolgeinstitute oder der Gang zum Arbeitsamt.370 Einige Hochschullehrer zerbrechen an diesem Umgang mit ihrem Lebenswerk. Auch für die Studierenden ist der Umbruch nicht nur Aufbruch und Euphorie. Das ostdeutsche Bildungssystem, und daher auch Abiturnoten oder Studienleistungen, gelten als minderwertig. Zu den oftmals chaotischen Verhältnissen wegen Personalmangels, Überfülnichts zur Wende bei. Das schwierige Erbe der DDR, in: Tagesspiegel vom 29.09.2010. 366 Vgl. Christian Füller: Die Rolle der Studierenden beim Umbruch in den DDR-Universitäten 1989–1990, Berlin 1991, S. 52–68; Malte Sieber / Ronald Freytag, Kinder des Systems. DDR-Studenten vor, im und nach dem Herbst ’89, Hamburg 1993, S. 71–147; sowie Mechthild Küpper, Die Humboldt-Universität. Einheitsschmerzen zwischen Abwicklung und Selbstreform, Berlin 1993, S. 109–117. 367 In den 80er-Jahren war – nach den Untersuchungen „Studentenintervallstudie 1977“ und „Student 89“ – unter den DDR-Studenten ein signifikanter Ablösungsprozess von der SED- und Staatsführung zu beobachten. Die einschränkungslose Verbundenheit mit der SED, im Jahre 1977 noch 32 Prozent, war im Frühjahr 1989 auf sieben Prozent gefallen. Diejenige mit der FDJ hatte einen Rückgang von 1977 36 Prozent auf 1989 2 Prozent zu verzeichnen. Vgl. Uta Starke, Ostdeutsche Studenten zwischen Wende und deutscher Einheit, in: hochschule ost 8/1992, S. 16–21, hier S. 16 f. 368 Ministerium für Bildung, Demokratische Mitbestimmung der Studenten, Berlin/Ost, 7.12.1989, unveröffentlicht. 369 Vgl. Ralf Geißler, Die Geister, die ich berief, in: Die Zeit, Nr. 43/2010; vgl. https://www.zeit. de/2010/43/S-Universitaet-Leipzig (aufgerufen am 27.11.2018). Erst in der zweiten Hälfte der 90erJahre konnten sich übrigens Studierendenverbände wie die Juso-Hochschulgruppen oder der Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) in den Hochschulen der ehemaligen DDR mit nennenswerter Wirkung etablieren. 370 Vgl. Uta Kösser, Diplom, Magister, Bachelor. Studiengang und Institut für Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig, Erlangen 2008, S. 50.

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lung der Seminare oder Änderungen der Studienordnung kommt die permanente Unsicherheit darüber dazu, ob das Studium wirklich noch beendet werden kann. Unter den über Jahrzehnte vom DDR-Staat ausgesuchten und an ihn angepassten Professoren und Dozenten an der Leipziger Universität regt sich aber verhältnismäßig wenig Widerstand gegen die Abwicklung. Ostprofessoren gehen, Westprofessoren besetzen ihre Stellen. Die Nachfolgeinstitute der nun geschlossenen Sektionen und Fachbereiche sollen, zumindest in Sachsen, von westdeutschen Professoren aufgebaut werden. Diese Entscheidungen führen verständlicherweise zu emotionalen Reaktionen an den Ost-Unis. Juristen in Leipzig und Berlin bereiten Verfassungsklagen gegen die Abwicklung vor. Hans Joachim Meyer, der letzte DDR-Wissenschaftsminister und spätere Wissenschaftsminister Sachsens, nimmt zwar die Naturwissenschaften und die Medizin aus dem Abwicklungskonzept heraus.371 Aber eben daher schwingen sich manche ihrer Professoren zu moralischen Richtern über die sachlich mit den politischen Entwicklungen enger verbundenen Geisteswissenschaften auf. Die Gründungsdekane werden überwiegend im Ministerium in Dresden ausgesucht und bestellt. Das sind auch in den Naturwissenschaften zumeist westdeutsche Kollegen. Es folgen eine Fachprüfung und eine Prüfung der Systemnähe des akademischen Personals. Manche können bleiben, wie zum Beispiel Werner Bramke, der zum bürgerlichen Widerstand gegen den Nationalsozialismus geforscht und internationales Renommee erworben hatte.372 Ein Drittel der neu ausgeschriebenen Stellen und die Mehrzahl der Leitungspositionen wird von westdeutschen Akademikern besetzt.373 Trotz der Zusicherung des Ministers an die Studierenden, dass diese ihr Studium fortsetzen können, kommt es zur Jahreswende 1990/91 zur Besetzung des Leipziger Rektoratsgebäudes von Studierenden, die für den Erhalt ihres Studiums kämpfen und der Versicherung keinen Glauben schenken. Prominente Autoren wie Stephan Hermlin und Christa Wolf erklären sich mit den studentischen Protesten solidarisch und kündigen Lesungen an. Ausdruck dafür ist der siebentägige Fußmarsch gegen die Abwicklung von Berlin nach Leipzig und die fünftägige Fahrraddemo von Leipzig nach Berlin.374 371 Vgl. zu Leben und Leistung von Hans Joachim Meyer dessen Autobiographie mit dem Titel „In keiner Schublade“, Freiburg i. Br. 2015. 372 Vgl. Ralf Geißler, Die Geister, die ich berief, in: Die Zeit, Nr. 43/2010; vgl. https://www.zeit. de/2010/43/S-Universitaet-Leipzig (aufgerufen am 27.11.2018). 373 Ebenda. 374 Peer Pasternack, Die StuRa-StoRy Studentische Interessenvertretung in Ostdeutschland seit 1989, S. 40; vgl. http://www.peer-pasternack.de/texte/pp_art.pdf, aufgerufen am 27.11.2018. Die Untersuchung „STUDENT 9245“ ergab, dass sich lediglich ein Prozent der Studierenden dauerhaft in studentischen oder anderen hochschulischen Selbstverwaltungsorganen engagiert. Vier Prozent beteiligen sich gelegentlich und elf Prozent gaben solcherart Beteiligung als persönliches Vorhaben an. Ihnen gegenüber standen über vier Fünftel, denen die Vertretung eigener Interessen völlig gleichgültig ist. Zum Vergleich: Zwei Jahre zuvor, im Frühjahr 1990, war fast die Hälfte der ostdeutschen Studierendenschaft zu einem hochschulpolitischen Engagement mehr oder minder stark entschlossen. Immerhin acht Prozent wirkten selbst in einem „StudentInnenrat“ mit. Gänzliche Ablehnung erfuhr ein aktives Eintreten für studentische Interessen seinerzeit lediglich durch fünf Prozent. Vgl. Ulrich Heublein, Eine unruhige Generation an den ostdeutschen Hochschulen? Erste Gedanken über mögliche Prädispositionen für die Entwicklung studentischen Selbstbewußtseins in den neuen Bundesländern, in: Friedrich W. Busch / Beate Rüther / Peter-Paul Straube (Hg.), Universitäten im Umbruch. Zum Verhältnis von Hochschule, Studenten und Gesellschaft, Oldenburg 1992, S. 162–174, hier S. 169. Vgl. auch Roman Schulz, Zwi-

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Erreicht werden am Ende einige Vereinbarungen mit den Ministerialverwaltungen über die vorläufige Hochschulordnung. Sie umfasst detaillierte Regelungen zu den Bereichen Lehre und Studium, Zugangsberechtigungen und zu erwerbende Abschlüsse, Personal, zur Selbstverwaltung und Organisation der Hochschule. Insgesamt sichert die Vereinbarung die Durchsetzung der Grundsätze der Freiheit von Kunst und Wissenschaft sowie Forschung, Lehre und Studium und schafft die notwendigen Rahmenbedingungen für die Erneuerung der Hochschulen im vereinigten Deutschland. Alle weitergehenden Entscheidungen bezüglich der Neustrukturierung der Universitäten und Hochschulen finden nach der Wiedervereinigung in der Verantwortung der einzelnen neu eingesetzten Länderregierungen statt. Darunter fällt beispielsweise auch die Entscheidung, die im jeweiligen Land liegenden Hoch- und Fachschulen als Einrichtungen des Landes weiterzuführen oder abzuwickeln.375 Darüber hinaus werden Regelungen über Stipendien und die Arbeit des Studentenwerkes vereinbart. In den Instituten werden in der Übergangszeit kommissarische Direktoren eingesetzt und befristete Arbeitsverträge ausgestellt. Die politische und fachliche Evaluierung, die bis September 1992 an der Leipziger Universität stattfindet, bringt für viele Kollegen dann doch das Aus. Andere stellen sich ihr erst gar nicht und gehen vorzeitig in den Ruhestand.376 Weil auch fachlich höchst kompetente Kollegen die Institute verlassen müssen, kommt es zu Problemen bei der qualitativen Absicherung der Lehre. Viele Lehrstühle werden in der Folge oft mit Professoren besetzt, die in den alten Bundesländern entweder als zweite Wahl gegolten hätten oder dort aufgrund der übergroßen Zahl an Habilitierten keinen Lehrstuhl erhalten hätten. Einige sind sehr engagiert in der Lehre und tragen aktiv bei zum Wiederaufbau der Institute, andere interessieren sich nicht wirklich dafür. Daher verwundert es nicht, dass mancher neu berufene Professor die Leipziger Universität auch nur als Sprungbrett nutzt, um später wieder an den etablierten westdeutschen Universitäten zu landen.377 Es gibt aber auch solche, die der Leipziger Universität die Treue halten und ihre Lebenszeit und Energie in den Neuaufbau der Universität stecken.378 Ihrer Mitwirkung ist es zu verdanken, dass die akademische Landschaft auf dem Gebiet der ehemaligen DDR nicht einfach zur „ostdeutschen Forschungswüste“ wird, wie es der damalige Vorsitzende der Max-Planck-Gesellschaft, Hans Zacher, formuliert hat.379 Manche Probleme sind bis heute nicht überwunden. Das zeigt sich an den zu erwartenden Ergebnissen der Exzellenzinitiative, in der außer den Berliner Universitäten und techschen Hörsaal 13 und Moritzbastei, S. 113. 375 Vgl. Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag) vom 31. August 1990, S. 49.; Vgl. Uta Kösser, Diplom, Magister, Bachelor, S. 55. 376 Vgl. Ebenda., S. 63. 377 So berichtet Cornelius Weiss (Gründungsdekan): „Es kamen schon Dünnbrettbohrer“, in: Ralf Geißler, Die Geister, die ich berief. Nach 1990 hatte die Uni Leipzig einen radikalen Umbruch zu bewältigen – er wirkt bis heute nach, in: zeit online, vom 21. Oktober 2010. 378 So berichtet Cornelius Weiss, der erste Gründungsrektor der Leipziger Universität nach der so genannten Wende: „Die Gründungsdekane brannten vom Feuer der Solidarität für die ostdeutschen Kollegen.“, in: Ralf Geißler, Die Geister, die ich berief, in: zeit online, vom 21. Oktober 2010. 379 Ralf Geißler, „Die Ostforscher konnten sich weniger gut verkaufen“, Gespräch mit Peer Pasternack, in: Die Zeit 43/2010, https://www.zeit.de/2010/43/S-Universitaet-Leipzig-Interview, aufgerufen am 27.11.2018.

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nisch ausgerichteten Hochschulen die anderen Universitäten auf dem Gebiet der ehemaligen DDR von vornherein kaum Chancen hatten. Es wurde und wird bis heute institutionell zu wenig gegengesteuert. Möglicherweise wird insbesondere die langfristige Bedeutung der Geistes- und Sozialwissenschaften im System der politischen Bildung und für eine freie Bindung an die gemeinsamen Projekte in Gesellschaft und Staat, dabei auch die Rolle der Lehrer bei der Herausbildung der politischen Haltung der Bürger bis heute generell unterschätzt – was sich am Ende auch in der Politikskepsis und damit im Wahlverhalten der Bevölkerung zeigt.

4.5 Barrieren überwinden: Die Universität Leipzig ab den 90er-Jahren Die Umgestaltung der Leipziger Universität ist mit der offiziellen Neugründung der Institute am 2. Dezember 1993 zunächst abgeschlossen. Von den 1.792 Rufen an Professoren gehen im Jahr 1994 66 Prozent an Personen aus den „neuen Ländern“ und 559 an Wissenschaftler aus der alten Bundesrepublik sowie 39 an Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft. Ein Fünftel der ehemaligen DDR-Professoren werden in Sachsen neu berufen. Die ehemals mit Personal großzügig ausgestatteten Universitäten der DDR müssen nun mit der Hälfte der Beschäftigten auskommen, bei Verdoppelung der Anzahl der Studierenden. Der Personalbestand wird von 21.000 Wissenschaftlern auf 11.000 verringert.380 Diese Daten zeigen zusammen mit den Prozentzahlen der Abiturienten bzw Hochschullassungen, erstens, dass das Universitätswesen der DDR noch eine Art Elite-Betrieb ist im Vergleich zu den Massenhochschulen der BRD nach den 60er Jahren, zweitens, dass die „Intelligenz“ in der DDR insgesamt, nicht zuletzt aufgrund ihrer bedeutenden Rolle für die Bindung der leitenden Personen an den Staat, eine bevorzugte Position einnimmt, aller Rhetorik über eine klassenfreie Gesellschaft und der Einheit von Intelligenz, Arbeitern und Bauern im Staat zum Trotz. Es ist daher verständlich, dass der drohende oder reale Verlust einer privilegierten gesellschaftlichen Position eher zur Ablehnung der neuen politischen Verhältnisse führt. Wie weit es richtig ist, davon zu reden, dass Chancen zu einer gesamtdeutschen Reform besonders auch der Hochschulen nach 1990 nicht genutzt worden seien, ist daher durchaus fragwürdig. Andererseits scheint es nur so, dass die Reformen, die es im Westen Deutschlands gab und die 1976 zu einem Hochschulrahmengesetz führen, nach der politischen Wende 1982, dem Wechsel von Helmut Schmidt (SPD) zu Helmut Kohl (CDU), und mit der dritten Novellierung des Hochschulrahmengesetzes 1985 die Stellung der Professoren stärken.381 In Wahrheit wird eine zentrale Verwaltung und der staatliche sowie privatwirtschaftliche Einfluss stärker.382 Das ändert auch die Tatsache nicht, dass die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und der Wissenschaftsrat wesentliche Institutionen der deutschlandweiten Selbstverwaltung der Universitäten sind. An ihrer Seite stehen private ‚Ratgeber‘ wie das vom BertelsmannKonzern finanzierte Centrum für Hochschulentwicklung (CHE). Die Organisationsstruktu380 Vgl. Uta Kösser, Diplom, Magister, Bachelor, S. 55. 381 Vgl. dazu Dietrich Goldschmidt, Hochschulpolitik, in: Wolfgang Benz (Hg.), Die Bildungspolitik der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M. 1989, Bd. 1, S. 354–389, hier S. 370. 382 Vgl. auch Arne Heise, Henrike Sander, Sebastian Thieme, Das Ende der Heterodoxie? Die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften in Deutschland, Wiesbaden 2017, S. 33.

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ren der wissenschaftlichen Landschaft der BRD werden infolgedessen per Landeshochschulgesetz und Universitätsstatuten „importiert“383 384. Freilich haben Studienordnungen in der Umbruchs- und Nachwendezeit keine Dauer, weder im Osten noch im Westen. Neufassungen werden zu einem Dauerzustand. So entstehen in den 90er-Jahren in vielen Bereichen aus den ostdeutschen Diplomstudiengängen erst Magisterstudiengänge und später dann Masterstudiengänge mit einem zeitlich vorgelagerten sechssemestrigen Bachelor.385 Es gelingt, in Leipzig ein breites Lehrangebot zu halten, auch weil mit fachlich nahestehenden Einrichtungen innerhalb der Universität – in den Geisteswissenschaften zum Beispiel mit dem Simon-Dubnow-Institut (SDI), dem Zentrum für Höhere Studien (ZHS) und dem Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) – zusammengearbeitet wird. Im Jahr 1999 kommt es schließlich zur Erklärung von 29 europäischen Bildungsministern über die Gründung eines europäischen Hochschulraumes, die auf europaweit vergleichbare Abschlüsse und ein gestuftes Studiensystem von Bachelor und Master an allen europäischen Hochschulen abzielt. Damit ist der so genannte „Bologna-Prozess“ eingeläutet.386 Vorausgegangen ist dieser Erklärung eine Unterzeichnung der Magna Charta Universitatum von 388 Universitätspräsidenten im Jahr 1988387 sowie die Lissabon-Konvention388. Vereinbart wird darin, bis 2010 einen europäischen Hochschulraum zu schaffen, der drei Hauptziele verfolgt: 1. die Förderung von Mobilität, 2. die Förderung von internationaler Wettbewerbsfähigkeit und 3. die Förderung von Beschäftigungsfähigkeit. Ein dreizyklisches System von Bachelor, Master und Doktorat wird europaweit eingeführt. Zwar waren wesentliche Aspekte der Bologna-Erklärung in der deutschen Hochschulreform-Diskussion der 1990er-Jahre bereits enthalten, aber erst der Bologna-Prozess zehn Jahre später beschleunigt die Umstellung auf die neuen Studiengänge. Trotz langer Vorbereitungszeit sind die Beteiligten vor Ort auf den Bologna-Umschwung wenig vorbereitet. Auch viele Leipziger Hochschullehrer stehen den Neuerungen ablehnend gegenüber, auch weil die Neuerungen neben den alltäglichen Anforderungen und Mitteln und zunehmender Studierendenzahlen einzuführen sind. Unzureichende personelle, Sachmittelund räumliche Ausstattungen gehören daher zu den Defiziten dieses Umstellungsprozesses.389 Aber die Hochschulfinanzierung ist prekär und die Mitarbeiter der Universitäten sind überlastet. Der staatliche Anteil an der Finanzierung liegt in Deutschland inzwischen bei ca. 90 Prozent, der private bei 10 Prozent. Die Bundesländer tragen von den 90 Prozent 80 Prozent, 383 Peer Pasternack, Wissenschaftsumbau. Der Austausch der Deutungseliten, in: Hannes Bahrmann und Christoph Links, Am Ziel vorbei. Die deutsche Einheit. Eine Zwischenbilanz, Berlin 2005, S. 231. 384 Wolfgang Kaschuba, Neue Götzen, neue Rituale. Die Berliner Humboldt Universität im Kulturkonflikt, in: Süddeutsche Zeitung, vom 20./21.03.1993, S. 49. 385 Vgl. Uta Kösser, Diplom. Magister. Bachelor, S. 125. 386 Vgl. https://www.cicic.ca/docs/bologna/Magna_Charta.en.pdf, aufgerufen am 28.11.2018. 387 Diese betont die Einheit und Freiheit von Forschung und Lehre, den Schutz der Bildungsinteressen der Studierenden, den Informationsaustausch der europäischen Universitäten sowie die transnationale Mobilität von Lehrenden und Studierenden. 388 Die Lissabon-Konvention von 1997 ist das erste völkerrechtliche Abkommen zur gegenseitigen Anerkennung von Studienabschlüssen. Es wurde vom Europarat und der UNESCO gemeinsam erarbeitet. 389 Justine Suchanek et al. (Hg.), Bologna (aus)gewertet. Eine empirische Analyse der Studienstrukturreform, Göttingen 2012.

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der Bund 10 Prozent. Während aber die staatlichen Grundmittel im Zeitraum 1995 bis 2008 nahezu stagnieren, verdoppeln sich die Drittmitteleinnahmen. Während so Forschungsausgaben über den Drittmittelanstieg konstant gehalten werden, fließt in die Hochschullehre kaum Geld, obwohl die Betreuungsanforderungen deutlich wachsen. Studiengebühren, die 2008 im Schnitt fünf Prozent der universitären Gesamteinnahmen ausmachen, stehen nach ihrer Wiederabschaffung in den meisten Bundesländern als Beitrag zur Finanzierung der Lehre kaum noch zur Verfügung. Aber es gibt auch Erfolge zu verzeichnen. Seit den 90er-Jahren verfügt die Universität, die seit 1991 wieder Universität Leipzig bzw. Alma Mater Lipsiensis heißt, über 14 Fakultäten, fast 20 Spezialzentren und Studienkollegs, ein integriertes Studentenwerk, das sich um die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Belange der Studierenden kümmert, ein Universitätsklinikum, ein eigenes Radio: „mephisto 97,6“, sowie 15 Studentenverbindungen und ein Senioren-Convent. Die Leipziger Alma Mater ist an drei Max-Planck-Instituten beteiligt und an sieben An-Institute angegliedert. Auch bei einer sächsischen Initiative kann sie sich mit dem Projekt „Life“, das Volkskrankheiten erforscht, als moderner Forschungsstandort behaupten. Anreize aus der Stadt, Leipzig zu einer attraktiven Studentenstadt zu machen, gibt es auch aus dem Rathaus einige, zum Beispiel die BioCity, die ein gemeinsames Projekt von Stadt und Universität ist und ohne die die Biotechnologie an Leipzig vorbeigegangen wäre, oder das Biomasseforschungszentrum. Im Rahmen der Universitätsfeierlichkeiten 2009 entstehen Kooperationen zwischen der Universität, der Leipziger Wirtschaft und städtischen Unternehmen, der Sparkasse Leipzig oder BMW.390 Auch eine Großinvestition am Institut für Oberflächenmodifizierung (IOM) wird getätigt mit Mitteln des Bundes, Sachsens und der EU. Hier entsteht für elf Millionen Euro auf 2.800 Quadratmetern ein Ort, an dem neueste Ionen- und Laserstrahlen der Plasmatechnologien erforscht werden können. Hinzu kommt ein Nano-Analytikum. Im Prinzip haben die Universitäten in Ostdeutschland inzwischen den Anschluss an das westdeutsche Niveau erreicht; dennoch bleibt der ostdeutsche Raum, wie der vorhersehbare Ausgang der Exzellenzwettbewerbe zeigt, eine Art „Wissenschaftslandschaft zweiter Klasse“391 und ein Wirtschaftsraum ohne autonome Führungspositionen für große Industrien.392 Es ist zu hoffen, dass der Zustrom aus den alten Bundesländern und dem Ausland in eine attraktive Stadt wie Leipzig daran lokal etwas ändert.393 Das ist der Hintergrund dafür, dass die Jubiläumsfeierlichkeiten zum 600-jährigen Bestehen der Universität Leipzig auch von Studentenprotesten begleitet wurden.394 Im Vorfeld 390 Universität als intellektueller und kultureller Magnet. Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung im Interview, in: Universität Leipzig, Universitätsjournal, Heft 2/2011, S. 4–5. 391 Vgl. Mario Beck, Defizit bei akademischer Fertigungstiefe. Wissenschaftler aus Leipzig und Halle diskutieren an der Uni über die ostdeutschen Hochschulen, in: Leipziger Volkszeitung, vom 07.10.2011. 392 Für Leipzig bedeutete das den Abbau von 170 Arbeitsplätzen. Vgl. Mario Beck, „Wir stoßen an unsere Grenzen“. Kritik an Hochschulpolitik bei feierlicher Uni-Immatrikulation. Studentenrat kündigt Demo an, Leipziger Volkszeitung, vom 13.10.2011. 393 Vgl. Immer mehr aus dem Westen studieren im Osten. Anstieg um bis zu 150 Prozent. Neue Länder: Sehr willkommen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, vom 14.10.2011. 394 Sabrina Dünschede, Solange sich nichts ändert, gibt’s hier keinen Grund zu feiern, Leipziger Studenten protestieren, in: Kreuzer, vom 17. April 2009; Studenten besetzen die Uni Leipzig, in: Sächsische Zeitung, vom 17. April 2009.

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der Feierlichkeiten wurde freilich der gesamte innerstädtische Campus neugebaut, eine wunderbare mehrbändige Universitätsgeschichte entsteht, Sonderbriefmarken und Gedenkmünzen werden herausgegeben. Verglichen mit dem 500jährigen Jubiläum der Universität Leipzig fallen die Feierlichkeiten jedoch gemäßigt aus. Der imposante Neubau am Augustusplatz (die Arbeiten auf dem „Leibnizforum“ fanden im Oktober 2012 ihren Abschluss“395) war freilich, wie das in einer freien Gesellschaft auch gut so ist, begleitet von vehement geführten Diskussion über den originalgetreuen Wiederaufbau der Universitätskirche St. Pauli. Dazu beschließt die Sächsische Staatsregierung am 28. Januar 2003, eine Art Wiederaufbau zu fördern. Es kommt zu einem Eklat. Der amtierende Rektor Volker Bigl und die Prorektoren treten aus Protest gegen die Landesregierung zurück, nachdem sich schon vorher starke Spannungen wegen des sächsischen Hochschulvertrages über die zukünftige Hochschulfinanzierung aufgebaut haben. Bigl sieht in der Dresdner Kehrtwende eine „beispiellose Einmischung in die universitäre Selbstverwaltung“.396 Der Festakt zum 600. Gründungstag der Universität Leipzig am 2. Dezember 2009 wird mit 700 Gästen aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur begangen.397 In Anbetracht des Eingreifens der Sächsischen Staatsregierung in die Diskussion um die Ausrichtung des Augusteums und der Paulinerkirche ist es bezeichnend, dass Oberbürgermeister Burkhard Jung in Anwesenheit des Bundespräsidenten Horst Köhler und des Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich in seiner Festrede an die Worte des Philosophen Jacques Derrida erinnert, dass die Universität einen Raum darstellt, der „bedingungslos von jeder einschränkenden Bedingung frei sein sollte.“398 Freilich bezieht sich diese Idee der Autonomie der Universität nur auf die interne Prüfung von Sachfragen und nicht auf eine Autonomie als Institution. Offen bleibt auch, wie weit die Exzellenzinitiative des Bundes ihr Ziel erreichen kann, international exzellente Spitzenforschung zu fördern und die Leistung und Strahlkraft des deutschen Universitätssystems zu erhöhen.399 Titel wie „Profilbildung“, „internationale Wettbewerbsfähigkeit“ und „Interdisziplinarität“ spiegeln nicht wieder, was eigentlich eine gute Forschung aus Lehre und Lehre aus Forschung ausmacht. Außerdem wird mit der prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Hochschulen die Schubkraft ihres traditionellen Wettbewerbs untereinander geschwächt.400 Die Schaffung bloßer Lehruniversitäten zweiten Ranges wäre jedenfalls ein hochschulpolitischer Irrweg. Die Anpassung an EU-Richtlinien seit 2000 erschwert freilich auch manche längerfristige Planung für die Universitäten. Das Geld wird oft nicht nur verzögert zur Verfügung 395 https://www.paulinerverein-dokumente.de/app/download/7852263820/2012_12_02+Baugeschehen. pdf?t=1507550353, aufgerufen am 16.10.2019. 396 http://www.spiegel.de/lebenundlernen/uni/kopflose-uni-leipzig-ein-rektor-hat-fertig-a-233009.html, aufgerufen am 4.12.2018. 397 https://www.uni-leipzig.de/fileadmin/ul/Dokumente/2009_Chronik.pdf, aufgerufen am 16.10.2019. 398 Vgl. https://www.leipzig.de/buergerservice-und-verwaltung/stadtverwaltung/oberbuergermeister/ reden/rede-anlaesslich-des-festaktes-zum-600-jaehrigen-jubilaeum-der-universitaet-leipzig/, aufgerufen am 29.11.2018. 399 Zwischen 2006/07 und 2012 kamen neun ausgewählte Universitäten in den Genuss, zunächst auf fünf Jahre beschränkt, jeweils zusätzliche Fördermittel in dreistelliger Millionenhöhe für ihr gesamtuniversitäres Zukunftskonzept zur Verfügung gestellt zu bekommen. In einer weiteren Förderperiode von 2012 bis 2017 wurden insgesamt elf Universitäten auf diese Weise gefördert. 400 Vgl. Richard Münch, Die akademische Elite. Zur sozialen Konstruktion wissenschaftlicher Exzellenz, Frankfurt a. M. 2007, S. 297.

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gestellt, sondern die Förderrichtlinien zur Durchsetzung von EU-Beschlüssen, etwa die so genannte Lissabon-Agenda401, sind sehr hoch angesetzt.402 Insgesamt verschiebt sich das Verhältnis von Grundmitteln zu Drittmitteln.403 Das Steuerungsinstrument der Drittmittel404 aber ist ambivant, zumal es zu einer bloß kurzfristigen Projektemacherei führt. Nachhaltige Lehre, die auf die nunmehr rückläufigen Grundmittel bei gleichzeitig stärkerer Betreuungsanforderungen durch die Modularisierungsvorgaben von „Bologna“ angewiesen ist, bleibt so unterfinanziert.405 Diese Konstellation macht es Hochschulen immer schwerer, ihrem Kerngeschäft nachzugehen, der Vermittlung von Wissen und Bildung im Kontext von Forschung. Zudem zeigt die globale Finanz- und Bankenkrise ab 2007/08 Wirkungen, wenn auch in Deutschland nicht so drastisch wie im Fall der EliteUniversitäten anderer Länder.406 Die ohnehin bereits geringeren öffentlichen Ausgaben für Wissenschaft und Forschung sinken von ca. einem Prozent des Bruttoinlandproduktes (BIP) Ende der 1980er-Jahre in der alten Bundesrepublik auf 0,8 Prozent des BIP in den 90er-Jahren in Gesamtdeutschland. Außerdem führt die Öffnung des europäischen Hochschulraumes im Rahmen des „Bologna“-Prozesses mit der Mobilität der Studierenden und den Versuchen, die Lehr- und Forschungsqualität mittels Rankings zu messen, zwangsläufig zu einem verstärkten Wettbewerb um finanzielle Ressourcen. Dabei wären die Folgen der Rankings dringend je neu zu prüfen.407 Der Wettbewerb um Studierende, öffentliche Finanzmittel, Drittmittel, Reputation und Sichtbarkeit verlangt z. B. größere Organisations-, Management-, Personal- und Zugangsautonomie. Wie die Anpassungen im Hochschul-, Dienst- und Besoldungsrecht insgesamt wirken, ist dabei durchaus unklar – da eine wissenschaftliche Karriere der Tendenz nach unattraktiver wird.408 Die Finanzmittelknappheit deutscher Hochschulen korreliert dabei einer vergleichsweise niedrigen staatlichen Ausgabenquote für Bildungsinvestitionen. In keinem Mitgliedstaat der 401 Die Lissabon-Agenda war ein Sondergipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs im März 2000, der zum Ziel hat die EU innerhalb von zehn Jahren zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Aber die Kernziele – wie die Erhöhung der Beschäftigungsquote auf 70 Prozent und die Erhöhung der Investitionen für Forschung und Entwicklung auf drei Prozent – wurden nicht erreicht. 402 Frank Johannsen, Ministerin von Schorlemer, Sachsen will Forschung ausbauen. Freistaat besser als EU-Schnitt. Defizit bei Engagement von Unternehmern, in: Leipziger Volkszeitung, vom 28.10.2011. 403 „Auf einen Euro Drittmittel entfielen im Jahr 1995 knapp zwei Euro Grundmittel für die Forschung, im Jahr 2008 nur noch 85 Cent.“ Wolfgang Marquardt, Neue Entwicklungen der Hochschulfinanzierung in Deutschland. Bericht des Vorsitzenden zu aktuellen Tendenzen im Wissenschaftssystem, Sommersitzung des Wissenschaftsrates in Berlin vom 08.07.2011. 404 Vgl. Alexander Krützfeld, Neue Rektorin der Uni Leipzig. „Sie wird es sehr schwer haben.“ Uni-Altrektor Cornelius Weiss über die bevorstehende Amtszeit von Beate Schücking, in: Leipziger Volkszeitung vom 14.01.2011. 405 Dabei wurde nicht nur die Forschung zunehmend durch Drittmittel finanziert, auch die Verteilung der Grundmittel wurde im Rahmen der leistungsorientierten Mittelvergabe partiell vom Erfolg in der Drittmitteleinwerbung abhängig gemacht. 406 http://www.spiegel.de/lebenundlernen/uni/uni-crash-durch-finanzkrise-harvard-verliert-gigantischevermoegenswerte-a-596739.html, aufgerufen am 2.12.2018. 407 https://www.heise.de/tp/features/Ranking-der-Universitaeten-zunehmend-unter-Kritik-3415839.htm l, aufgerufen am 7.12.2018. 408 Vgl. Richard Münch, Die akademische Elite. Zur sozialen Konstruktion wissenschaftlicher Exzellenz, Frankfurt a. M. 2007, S. 297.

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OECD, so die Hochschulrektorenkonferenz, ist der Anteil der öffentlichen Ausgaben für Bil-

dung an öffentlichen Ausgaben niedriger als in Deutschland.409 Gezielte finanzielle Hilfen des Bundes für den Hochschulbereich werden gegenwärtig noch erschwert durch die primäre Länderzuständigkeit für die Hochschulen. Das im Grundgesetz, Artikel 30, verankerte Kooperationsverbot, das aus den Erfahrungen mit der zentralen Bildungsverwaltung in Deutschland bis 1945 hervorgegangen ist, hat unerwünschte Nebenfolgen.410 Einige Politiker fordern die Erhöhung der finanziellen Mittel vom Bund, ohne diesem ein Mitspracherecht an der Bildungspolitik zuzugestehen.411 Eine Kooperation412 von Bund und Ländern im Bereich der Bildung bedürfte dagegen einer Grundgesetzänderung.413 Im November 2014 hat der Bundestag mit Zweidrittelmehrheit die Weichen dafür zwar gestellt. Da der Bund in Erfüllung einer Länderforderung im Zuge dieser Änderung die gesamten BAföG-Kosten übernimmt, fehlen ihm dafür nun die angesetzten 1,2 Milliarden Euro für die Unterstützung einzelner Universitäten. So haben die beiden Föderalismusreformen 2006 und 2009 vor allem den Abstimmungsbedarf zwischen Bund und Ländern erhöht, aber weniger die grundsätzliche Auseinanderentwicklung der Landeshochschulsysteme bewirkt. Auch die Wirtschaft verfolgt die Bologna-Reform durchaus kritisch.414 Die Unternehmen sehen, dass die Einführung des Bachelors als berufsqualifizierender Abschluss nicht unbedingt dazu führte, dass mehr rudimentär, aber vermutlich hinreichend gut (aus-)gebildete Studierende die Universität nach dem abgeschlossenen Bachelor-Studium verlassen. Ca. zwei Drittel der Bachelor-Absolventen schließen ein Masterstudium an.415 Auch die mit der Bologna-Reform verbundene Hoffnung auf eine rückläufige Abbrecherquote hat sich nicht 409 Bei Berücksichtigung sowohl der öffentlichen als auch der privaten Ausgaben wendet Deutschland 5,3 Prozent seines BIP für die Bildung auf (alle Bildungsbereiche zusammengenommen), was einem Anstieg gegenüber dem Niveau von 2005 (5,0 Prozent) entspricht, allerdings weniger ist als der OECDDurchschnitt (6,2 Prozent). Auch der Anteil der Bildungsausgaben an den öffentlichen Ausgaben insgesamt hatte sich mit 10,5 Prozent im Vergleich zu 9,8 Prozent im Jahr 2005 erhöht, liegt aber unter dem OECD-Durchschnitt (13,0 % Prozent). Vgl. http://www.oecd.org/education/ country%20note%20 Germany%20%28DE%29.pdf, aufgerufen am 29.11.2018. 410 2006 forderten die Grünen, 2015 die Linke, 2017 auch SPD und die FDP, das Kooperationsverbot aufzuheben; CDU und AfD waren dagegen. 411 Zum Beispiel der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg Winfried Kretschmann. Vgl. Nadine Emmerich, Kretschmann hält an Kooperationsverbot fest, auf www.gew.de/aktuelles/ detailseite/ neuigkeiten/kretschmann-haelt-an-koopertionsverbot-fest/ vom 06.05.2017, aufgerufen am 30.03.2018. 412 So für die Bundestagsfraktion der CDU/CSU 2010 deren bildungs- und forschungspolitischer Sprecher, Albert Rupprecht (http://www.cdu.de/archiv/2370_31363.htm, aufgerufen am 7.12.2018). Die SPD, Linke und Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag formulierten dazu im selben Jahr jeweils eigene Anträge, Vgl. http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2010/30111149_kw23_de_bildung/index. html, aufgerufen am 6.12.2018; sowie Peer Pasternack (Hg.), Hochschulen nach der Föderalismusreform, Leipzig 2011, S. 351. 413 104b Abs. 1 GG: „Der Bund kann, soweit dieses Grundgesetz ihm Gesetzgebungsbefugnisse verleiht, den Ländern Finanzhilfen für besonders bedeutsame Investitionen der Länder und der Gemeinden (Gemeindeverbände) gewähren“, das heißt, er kann nur insoweit tätig werden, wie er selbst die Gesetzgebungsbefugnis besitzt. 414 Vgl. Jürgen Kaube, Was die Unternehmen von Bachelors halten. Eine Studie des Instituts für Mittelstandsforschung belegt, dass die Werte der Bologna-Reform bei den Firmen nicht sehr hoch im Kurs stehen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, vom 01.06.2011, S. N7. 415 Vgl. dazu z. B. https://www.tagesspiegel.de/wissen/20-jahre-sorbonne-erklaerung-der-bachelorcheck/22594448.html, aufgerufen am 16.10.2019.

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erfüllt. Immerhin sind die Auslandsstudiensemester deutlich gestiegen.416 Eine Qualitätssteigerung in der Hochschullehre kann selbst der Wissenschaftsrat als nachdrücklicher Befürworter des Bologna-Reformprogramms nicht feststellen.417 Hoffnungen werden daher auf den mindestens bis 2025 laufenden Zukunftspakt gesetzt.418 Sachsen gehört zu der Gruppe der ostdeutschen Bundesländer und damit zu den Ländern, die noch 2008 eine abnehmende Studiennachfrage erwarteten. Durch Aussetzung der Wehrpflicht, doppelte Abiturjahrgänge (durch den Wechsel von G9 auf G8 an westdeutschen Gymnasien) und einer steigenden Studierneigung wurden die Prognosen um ein Drittel übertroffen.419 Der Freistaat Sachsen will daher jetzt die erforderlichen Rahmenbedingungen schaffen, damit die Ziele des Hochschulpaktes erreicht werden.420 Für die Leipziger Universität heißt das, ihr Profil noch internationaler und interdisziplinärer auszubauen.421 Obwohl inzwischen mehr Frauen als Männer eine Hochschulzugangsberechtigung erwerben, studieren insgesamt mehr Männer als Frauen.422 Zwar gibt es an der Universität Leipzig z. B. ein Career Center, ein Frauen- und Geschlechterforschungsinstitut, Unterstützung bei Dual Careers, Projektgruppe familienfreundliche Hochschule, Professorinnenförderung und ein Wiedereinstiegsstipendium sowie ein Gleichstellungsbüro. Dennoch sinkt der Frauenanteil von Qualifikations- zu Qualifikationsebene.423 Ein deutlicher Rückgang der Frauenanteile zeigt sich zum Beispiel bei den Habilitationen: In den Jahren 2009 bis 2011 habilitierten sich insgesamt 102 Personen, von denen nur 28 weiblich waren, das heißt weniger als 27 Prozent. Unterschiede zwischen den verschiedenen Fachbereichen zeigen sich auf dieser Ebene kaum noch.424 Immer noch sind 77 Prozent der Professorenstellen von Männern besetzt. Zwar wird die Alma Mater Lipsiensis zum ersten Mal in ihrer über 600-jähringen Geschichte seit 2011 von einer Rektorin geleitet. Jedoch finden sich auf den übrigen Leitungsebenen (Prorektorate, Dezernate, Dekanate, Kanzler/in) derzeit 21 Männer und nur drei Frauen.425 416 Anja Kühne und Tilman Warnecke: Der Bachelor-Check. Vor 20 Jahren begann die große europäische Hochschulreform. Wurden die Ziele erreicht?, in: Der Tagesspiegel, 24. Mai 2018, S. 22. 417 Vgl. https://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/8639-08.pdf, S. 78 ff., aufgerufen am 28.11.2018 418 https://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/hginfo_1713.pdf, aufgerufen am 28.11.2018. 419 Vgl. Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst des Freistaates Sachsen, Hochschulentwicklungsplanung 2025, Stand 22. November 2016, S. 3, mit einem Verweis auf die statistische Veröffentlichung der KMK, Dokumentation 205, Juli 2014. Vgl. http://www.studieren.sachsen.de/download/HEP_2025_1. pdf, aufgerufen am 29.11.2018. 420 Vgl. ebenda. 421 Vgl. auch Rektorin der Leipziger Universität, Beate Schücking, in: Leipziger Volkszeitung vom 10.07.2018. 422 Ca. zwei Drittel Frauen des Schulabsolventenjahrganges 2010 entschieden sich bis zum Jahr 2014 für ein Studium in Deutschland, drei Viertel waren es bei den Männern. Seither ist dieses Verhältnis stabil. Vgl. ebenda, S. 10.Von 100 Studierenden im Jahr 2015 waren 55 Männer und 45 Frauen gegenüber 2005 mit 53 Männern und 47 Frauen. 423 Vgl. http://www.gleichstellung.uni-leipzig.de/fileadmin/user_upload/gleichstellungsbuero/Gleich- stellung/GSK_Fassung_4__mit_Unterschriften_mit_3mmBeschnitt.pdf, S. 7., aufgerufen am 29.11. 2018. 424 Vgl. „Jahresspiegel 2011“ unter http://www.zv.uni-leipzig.de/fileadmin/user_upload/Service/ PDF/Publikationen/ jahresspiegel_2011.pdf, S. 11-15, aufgerufen am 29.11.2018. 425 Zum „Machtmissbrauch“ von Ordinarien vgl. https://www.zeit.de/2017/46/machtmissbrauch-wissenschaft-universitaeten-strukturen/seite-2, aufgerufen am 29.11.2018.

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Anzeichen eines Kulturwandels sind dennoch zu bemerken. Die Junge Akademie, eine Vereinigung akademisch hochdekorierter Wissenschaftler unter 40 Jahren, hat Ende 2018 ein Papier vorgelegt, in dem sie die Abschaffung des Lehrstuhlsystems fordert.426 Ihr Vorbild sind flachere Hierarchien und eine so genannte Department-Struktur, wie sie an britischen und amerikanischen Universitäten üblich sind. Allerdings führt das zu einer Art Vereinzelung von Hochschullehrern als bloßen Angestellten an einer Institution ohne wirkliches Mitspracherecht. Auch die Situation für Postdoktoranden ist schwierig. 427 Seit 2016 ist zumindest das novellierte Wissenschaftszeitvertragsgesetz in Kraft.428 Arbeitsverträge dürfen danach nur noch befristet werden, wenn sie drittmittelfinanziert sind oder der Qualifizierung dienen. Die Laufzeit von Zeitverträgen muss der Qualifizierung angemessen sein bzw. der Dauer des Drittmittelprojektes entsprechen.429 Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert zwar Kurzzeitprojekte. Verlässliche Perspektiven für längerdauernde Projekte gibt es aber nicht.430 Es hilft auch nicht, dass in der DFG die Wissenschaftler die Projektanträge sozusagen gegenseitig evaluieren.431 Im Zuge der Bologna-Reform sollten Studiengänge kürzer, Absolventen jünger und mobiler und die europäischen Hochschulabschlüsse vergleichbarer werden. Die Studienzeiten haben sich aber kaum verkürzt, in manchen Fächern hat sich die Situation verschlechtert, sogar nach der Änderung der Regeln zum Numerus Clausus und den Wartezeiten für eine Medizinstudium.432 Die Wissenschaftsminister der Länder in der Kultusministerkonferenz haben sich im Jahr 2018 zwar geeinigt, nicht nur Abiturienten mit Spitzennoten zum Medizinstudium zuzulassen. Wie das aber gehen soll, wenn im Fach Medizin im Wintersemester 2017/18 für deutschlandweit 43.184 Bewerber nur 9.176 Studienplätze zur Verfügung stehen, ist unklar. In ihrem Hochschulentwicklungsplan macht die Universität Leipzig bereits 2011 gegenüber dem Sächsischen Wissenschaftsministerium deutlich, dass sie genauso groß ist wie die älteste Universität Deutschlands, Heidelberg, aber einen weit geringeren Teil an staatlichen 426 Zur Abschaffung der Lehrstühle“ vgl. https://www.zeit.de/2017/42/junge-akademie-lehrstuehle-abschaffung, aufgerufen am 16.10.2019 und https://www.gew.de/aktuelles/detailseite/neuigkeiten/lehrstuhlprinzip-ueberwinden-arbeitsbedingungen-verbessern/, aufgerufen am 29.11.2018. 427 Vgl. Joachim Nettelbeck, Ihr müsst die Besten verführen. Für Doktoranden in den Geistes- und Sozialwissenschaften wird derzeit viel Geld ausgegeben. Doch für die eigentlichen Träger der Forschung, die „Postdocs“, fehlen anregende Milieus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, vom 05.10.2011. 428 http://www.dfg.de/download/pdf/foerderung/rechtliche_rahmenbedingungen/handreichung_wisszeit vg. pdf, aufgerufen am 8.12.2018. 429 Leider hatte der Gesetzgeber bei der Novellierung des Gesetzes mit unbestimmten Rechtsbegriffen gearbeitet, denn es ist ungenau, was zum Beispiel „angemessen“ bedeutet. 430 Vgl. Susan Böhmer et al., Wissenschaftler-Befragung 2010. Forschungsbedingungen von Professorinnen und Professoren an deutschen Universitäten, Bonn 2011 (iFQ-Working Paper No. 8), S. 85–86. 431 Schon seit Jahren werden Rufe laut, die DFG zu reformieren. Vgl. Roland Reuß und Volker Rieble, Die freie Wissenschaft ist bedroht. Fördert die mächtige Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) den Ideenklau und die Selbstbedienung? Transparenz ist für sie ein Fremdwort. Dieses Monopol ist bedenklich, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, vom 19.10.2011, S. N5. 432 Vgl. Astrid Herbold, Kippt der NC? Die Abiturnote regelt, wer in Deutschland was studieren darf. Noch. Denn nun wird entschieden, ob der Numerus clausus verfassungswidrig ist, in: Die Zeit, vom 29.09.2017, S. 69.

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Mitteln erhält als diese.433 Im Jahr 2016 umfasste der Etat der Leipziger Universität, inklusive Medizin, 408,9 Million Euro. Davon sind 108,3 Million Euro Drittmittel. 248 Studiengänge werden angeboten, darunter 85 Bachelor- und ebenso viele Masterstudiengänge. In Heidelberg umfasst der Etat im gleichen Jahr 701,8 Million Euro und 121,5 Million Euro stammen aus Drittmitteln. Die Universität Heidelberg bot 192 Studiengänge an, darunter 96 Bachelorund 90 Masterstudiengänge sowie Lehramtsstudiengänge. Die Bundestregierung will bis 2021 ca. elf Milliarden Euro mehr für den Bereich Bildung und Forschung mobilisieren.434 Das Geld soll unter anderem zur Förderung von professoralem Personal an Fachhochschulen, für neue Tenure-Track-Professuren und die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses eingesetzt werden. Die Gewerkschaft GEW hält im Rahmen des OECD-Berichtes „Bildung auf einen Blick“ allerdings 55 Milliarden Euro für nötig, um die Unterfinanzierung des gesamten Bildungswesens aufzufangen.435 Nur noch 15 Prozent der Studierenden beziehen überhaupt noch Ausbildungsförderung. Die Idee, das BAföG in Stipendienformen zu überzuführen, war ein guter Ansatz. Das „Deutschlandstipendium“ war aber kein Erfolg, nur knapp ein Prozent, nämlich 24.900 junge Menschen, nahmen es im Wintersemester 2017/2018 in Anspruch.436 Immerhin wurden die allgemeinen Studiengebühren 2013 abgeschafft.437 In Frankreich – und auch in anderen Staaten, bspw. den USA und Großbritannien – gehören zum Begriff der Eliteuniversität eine nach dem Bedarf ausgerichtete Zugangsbeschränkung von Leistungseliten zum Bildungssystem. Insbesondere an den von Fachministerien verantworteten Grandes Écoles führt die geringe Anzahl an Studienplätzen oft dazu, dass die Aufnahmekriterien sehr anspruchsvoll und nicht nur leistungsabhängig sind. Forschung und eine weitere akademische Karriere nach dem Master werden an diesen Hochschulen in der Regel nicht angeboten. Solche Zugangsbeschränkungen wären in unserem Land als kaum oder gar nicht vereinbar mit dem Grundgesetz angesehen. Es entbehrt daher nicht der Ironie, dass sich ausgerechnet die renommierte französische Verwaltungshochschule Ecole Nationale d’Administration (ENA) nach Willy Brandt benannt hat, der sich vehement gegen diese Form der Elitenbildung ausgesprochen hat.438 433 Gerhard Besier, Aus den Universitäten sind gigantische Baustellen geworden, in: Links!, 9/2011. 434 Inzwischen hat der Deutsche Bundestag den Haushalt 2019 beschlossen und will dem Bundesministerium für Bildung und Forschung BMBF ca. 18,3 Milliarden Euro zur Verfügung stellen. Vgl. https://www.bmbf.de/de/der-haushalt-des-bundesministeriums-fuer-bildung-und-forschung-202.html, aufgerufen am 8.12.2018. 435 Vgl. Neuer Schwung und alter Trott? Große Koalition und Hochschulpolitik, in: www.bafoeg-rechner. de/Hintergrund/art-202´82-grko-hopo-interview-keller.php, aufgerufen am 30.03.2018, sowie https:// www.gew.de/aktuelles/detailseite/neuigkeiten/tepe-kuenftige-bundesregierung-muss-kooperationsverbot-endlich-abschaffen/, aufgerufen am 6.12.2018. 436 Mit dem Stipendium werden seit 2011 Studierende gefördert, deren Werdegang herausragende Leistungen in Studium und Beruf erwarten lässt. Die Stipendien in Höhe von 300 Euro kommen je zur Hälfte vom Bund und aus privaten Mitteln sowie der Wirtschaft. Allerdings sind 300 Euro zum Leben zu wenig. 437 Allerdings zahlen Langzeitstudierende weiterhin 500 Euro und Zweitstudierende 350 Euro im Jahr. Das ist aber eine zu vernachlässigende Größe, denn von den Gebühren sind derzeit nur 54 Langzeitstudierende in Leipzig überhaupt betroffen. Vgl. Artikel: Langzeitstudenten müssen zahlen. Siehe www. mdr.de/sachsen/leipzig/leipzig-gebuehren-langzeitstudenten-100.html, vom 02.10.2017, aufgerufen am 30.03.2018. 438 Die Absolventen des ENA – vom amtierenden Premierminister Dominique de Villepin bis zu Präsidentschafts-Kandidatin Ségolène Royal – besetzen häufig Spitzenpositionen in Politik, Wirtschaft und

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Im jüngsten internationalen „Times Higher Education Ranking“ der besten Universitäten weltweit hat es die Münchner LMU zwar mittlerweile auf Platz 32 hochgearbeitet. Es folgen die TU München auf Platz 44 und die Universität Heidelberg auf Platz 47. Doch von der Spitze sind sie weit entfernt.439 Dort stehen die englischen Universitäten Oxford und Cambridge, es folgen sechs US-Universitäten. Danach kommen im Ranking asiatische Universitäten. Vor allem die japanischen Universitäten haben in den letzten Jahren aufgeholt. Doch solche Rankings sind mit großer Vorsicht zu genießen, zumal sie wenig über das Gesamtsystem der höheren Bildung und Forschung eines Landes aussagen. Dennoch wird der Wettbewerb im Rahmen der bundesrepublikanischen Exzellenzinitiative weitergeführt. Es erhalten 34 deutsche Universitäten über die nächsten sieben Jahre 2,7 Milliarden Euro für insgesamt 57 Exzellenzcluster, also Forschungsverbünde zu speziellen Themen. Das Gesamtvolumen der Exzellenzstrategie steigt auf 523 Millionen Euro jährlich. Durch den Projektcharakter entsteht ein hoher administrativer Aufwand bei der Bewerbung, die Nachhaltigkeit bleibt gleichzeitig fraglich. Die Universitäten sind nach dem Auslaufen der Förderung allein oft nicht in der Lage, die Forschung auf dem Niveau beizubehalten. Zusammengefasst heißt das: Das Exzellenzprogramm hat die deutsche Hochschullandschaft gespalten, und zwar nicht nur in Exzellenz- und Nicht-Exzellenz-Hochschulen. Es profitieren besonders die Natur- und Ingenieurswissenschaften, während die Geistes- und Sozialwissenschaften an Reputation und Ressourcen verlieren. Die langfristigen Folgen in der Gesellschaft, die Lockerungen der Bindungen an ein gemeinsames Projekt der Lebensgestaltung im Einzelstaat, in Europa und in der globalen Welt beginnen sich schon einzustellen. Daher stellt sich die Frage, ob mit solchen hochschulpolitischen Instrumenten wie der Exzellenzförderung die richtigen Signale gesetzt werden. Schließlich gründen die Geistes- und Sozialwissenschaften weniger im Fortschritt einzelwissenschaftlicher Erkenntnisakkumulation als in der Vermittlung von geistes- und gesellschaftswissenschaftlichem Wissen, das immer mit einer Bildung eigenständig denkender Persönlichkeiten verbunden ist. Die Maßstäbe der gegenwärtigen Hochschulpolitik können daher die Leistungen der Geisteswissenschaften gar nicht adäquat erfassen, wiewohl sie doch in vielen Exzellenzclustern enthalten sein mögen.

4.6 Schlussbemerkungen Die Geschichte der Universität Leipzig ist eine Geschichte von Grenzüberwindungen unterschiedlicher Art, Ländergrenzen, Grenzen der religiösen Weltanschauung und Ideologie, Grenzen der Politik, Grenzen der Verwaltung, Grenzen eines technisch-schematischen Verständnisses von Welt, Grenzen überholter Angepasstheit und begrenzter Denkhorizonte. Seit der Friedlichen Revolution erlebt die deutsche Universitätslandschaft Zäsuren und Umbrüche so schnell wie kaum zuvor. Eine Reform jagt die nächste. Doch im Moment scheint Verwaltung. 439 Vgl. https://www.handelsblatt.com/unternehmen/beruf-und-buero/the_shift/weiterbildungsexpertemarco-esser-staatliche-unis-sind-nicht-vorbereitet-am-freien-markt-zu-konkurrieren/23121772. html?ticket=ST-37063927-OzvNaXeWKZbnbtISgp4L-ap2, aufgerufen am 16.10.2019.

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ein europäischer Bildungsraum noch immer mehr eine „symbolpolitische Utopie“440 zu sein als ein real angestrebtes Ziel. Um dieses zu erreichen, bedarf es nämlich umgreifender Reformen nicht nur der Hochschulen, sondern des gesamten Bildungssystems, und zwar in ganz Europa. Die immer wieder ausgerufene „Bildungsmisere“ führt außerdem dazu, dass viele Menschen hierzulande das gegenwärtige deutsche Bildungssystem für ungerecht, teuer, ineffizient, träge und undemokratisch halten.441 Daran haben bislang leider auch die europäischen Hochschulreformen nichts geändert. Der „Bologna“-Prozess, der versucht, die akademischen Standards zu harmonisieren und Barrieren der Mobilität für Studenten und Lehrer zu entfernen, konzentriert sich auf quantifizierbare Ergebnisse, statt tiefgreifende Strukturveränderungen vorzunehmen und zu kritischem Denken zu ermutigen. Dabei muss es um die Herausbildung von selbstbestimmten und kreativen Persönlichkeiten gehen, nicht einfach um Arbeitsmarktkonformität von „Humankapital“, zumal jeder Konformismus kritische institutionelle Enwicklungen zumindest bremst. Ob dabei die „deregulierte Hochschule“ das geeignete Mittel ist, bleibt umstritten. Sicher, Hochschulen sollen befreit sein von den Zwängen staatlicher Detailsteuerung. Das sind die Lehren aus den zwei vorangegangenen autoritären Systemen im 20. Jahrhundert. Doch Deregulierung führt noch nicht automatisch zu mehr Autonomie und Selbstbestimmung an der Hochschule, sondern zunächst nur zur Zentralisierung von Entscheidungskompetenzen bei deren Leitung. Das betrifft Personalentscheidungen ebenso wie die Gestaltung von Studienprogrammen. Waren früher an dem einen die Ministerien, an dem anderen die Institute maßgeblich beteiligt, geben nun Hochschulleitungen bis in die inhaltliche Gestaltung einzelner Module hinein den Ton an. Deregulierung führt daher auch zu neuen Konfliktlinien innerhalb der Hochschulen. Mit einem Zugewinn von Autonomie oder Freiheit hat dies wenig zu tun. Wollen sich Hochschulen mehr Selbstbestimmung erobern, dann dürfen nicht fachfremde Leitungsebenen oder Verwaltungen über die Inhalte und die Form der Lehre entscheiden, und sei es auch die im eigenen Hause. Vielmehr muss dann die Mitbestimmung der Lehrenden und Studierenden am Lehrprogramm und seiner Ausführung im Zentrum stehen. Es muss eine Kooperation auf Augenhöhe entstehen.442 Im Mittelpunkt der Hochschule sollte die Freiheit und Selbstbestimmung nicht nur der Lehre und Forschung als Abstraktum, sondern der sie mittragenden und mit Leben erfüllenden Menschen als Lehrenden oder Studierenden stehen. Die Vermittlung von so genannten Schlüsselqualifikation kann also nicht allein in der Beherrschung technischer oder administrativer Sekundärtechniken bestehen, sondern vor allem im Vorleben und Einüben von Verantwortung. Insofern verleiten die Leistungsmaßstäbe der Konkurrenzfähigkeit und gleichzeitigen Homogenisierung der europäischen Bildungslandschaft im Zuge von „Pisa“ und 440 Pirmin Stekeler-Weithofer, Europäischer Bildungsraum – symbolpolitische Utopie oder zu verfolgendes Projekt. 40 Thesen zur unbewältigten Gegenwart unseres Schul- und Hochschulsystems, in: Sächsische Akademie der Wissenschaften, Denkströme, Heft 5 (2010): www.denkkstroeme.de/heft-5/s_18-33_stekeler-weithofer, aufgerufen am 29.11.2018. 441 Vgl. Was bildet ihr uns ein? Bildungsblog der jungen Generation: www.wasbildetihrunsein.de/worumes-geht/, aufgerufen am 31.03.2018. 442 Vgl. Bettina Kremberg, Teilhabe, Vernunft und Bildung. Der Begriff der „Mitbestimmung“ in seiner Kooperationsproblematik, und Pirmin Stekeler-Weithofer, Die Begrenzung der Mitbestimmung und ihre Folgen in der Umgestaltung des Bildungssystems, in: Bettina Kremberg (Hg.), Mitbestimmung und Hochschule, Aachen 2006, S. 173–190 sowie S. 191–216.

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„Bologna“ bisher eher zu Anpassung, als dass sie die souveränen Träger der Gesellschaft von morgen bilden würden. Ein „survival of the fittest“ – also ein Überleben der am meisten Angepassten – bedeutet für freies Forschen und Lehren auf lange Sicht den Tod. Zur Autonomie als Selbstverantwortung innerhalb der europäischen Bildungslandschaft gehört idealerweise die Selbstbestimmung darüber, in welcher Form und in welcher Zeit ein Studium zu absolvieren und wie die Lehre gestaltet ist. Eine Verschulung des Studiums und eine Regelstudienzeit steht dem konträr entgegen. Wissensdrang entsteht vom Kindergarten über Schule und Oberschule bis hin zur Universität vor allem aus der intrinsischen Motivation, eigenständig seinen Horizont zu erweitern und sich als der, der man ist, an der gesellschaftlichen Entwicklung zu beteiligen. Dazu gehört vor allem auch Mut zu selbstständigem Denken und Handeln. Die gegenwärtige Resignation in vielen Teilen der Bevölkerung rührt eben gerade auch daher, dass Widerspruchsgeist allzu schnell wegerzogen wird. Wo Menschen weder Selbstbestimmung noch gesellschaftliche Verantwortung lernen, werden sie anfällig für einen scheinbar sinngebenden nationalen Populismus. Freiheit ist Selbstbestimmung und Selbstverantwortung in einer Gemeinschaft, welche Bildung und die kritische Wissenschaft hochschätzt. Reformen sind dabei immer als kooperativer Prozess zu begreifen und die Betroffenen bei Entscheidungsfindungen mit einzubeziehen.

Quellen und Literatur Archivbestände a) Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden Loc. 10538, Blatt 521 und Blatt 524 b) Universitätsarchiv Leipzig UAL, Rep. II/XIII 092

Bibliografie Abe, Horst Rudolf, Die Frequenz der Erfurter Universität im Mittelalter (=Beiträge zur Geschichte der Universität Erfurt, Heft 1), Erfurt 1956. Allgemeiner Studierendenausschauss (AStA) der Universität Leipzig, Aufruf, in: Die Leipziger Studentenschaft, 14. Halbjahr, 1931, Nr. 3, S. 2. Arndt, Helmut, Die Universität von 1917 bis 1933. Novemberrevolution und Weimarer Republik, in: Lothar Rathmann (Hg.), Alma mater Lipsiensis. Geschichte der Karl-Marx-Universität Leipzig, Leipzig 1984, S. 229–260. Arndt, Helmut, Niedergang von Studium und Wissenschaft, 1933 bis 1945, in: Lothar Rathmann; Siegfried Hoyer (Hg.), Alma mater Lipsiensis. Geschichte der Karl-Marx-Universität Leipzig, Leipzig 1984, S. 261–271. Bauch, Gustav, Geschichte der Leipziger Frühhumanisten mit besonderer Berücksichtigung auf die Streitigkeiten zwischen Konrad Wimpina und Martin Mellerstadt, o. O. 1899. Baumgärtner, Ingrid, „De privilegiis doctorum“. Über Gelehrenstand und Doktorwürde im späten Mittelalter, in: Letitia Boehm et al. (Hg.), Historisches Jahrbuch, 106. Jg., München 1986, S. 298–332. Beck, Mario, Defizit bei akademischer Fertigungstiefe. Wissenschaftler aus Leipzig und Halle diskutieren an der Uni über die ostdeutschen Hochschulen, in: Leipziger Volkszeitung vom 07.10.2011.

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martin eichler

Aspekte universitären Selbstverständnisses im 19. Jahrhundert im Blick von Rektoratsreden und der 500-Jahrfeier der Universität Leipzig 1909 1. Die Inauguration der Leipziger Rektoren 1.1 Der Rechenschaftsbericht In den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wiederholt sich im Zuge der Amtseinführung eines neuen Rektors der Leipziger Universität jedes Jahr das gleiche Ritual.1 Es beginnt mit einem standardisierten Rechenschaftsbericht des scheidenden Rektors. Dieser grüßt die „hochansehnliche Versammlung“ und beginnt seine Rede in der Regel damit, das vergangene Jahr, so heißt es 1883, als „Jahr ruhigen Gedeihens“2 zu charakterisieren. Es gilt als Glück, in ruhigen Zeiten zu leben; die Universität als Ort, an dem man unberührt vom Weltgeschehen seinen Aufgaben nachgeht. Nur selten wird die „stille Arbeit“3 der Wissenschaft durch äußere Ereignisse so gestört, dass dies Widerhall in einer der Ansprachen findet. 1870/71, in den Jahren der Reichsgründung und des Krieges gegen Frankreich, ist aber eben dies der Fall. Hier bricht sich ein gewaltsames äußeres Geschehen Bahn und das nationale Selbstverständnis der Leipziger Professoren manifestiert sich vor der Öffentlichkeit. Doch abgesehen von solch exzeptionellen Ereignissen präsentiert sich die Leipziger Universität in diesen Reden als in sich selbst ruhende Institution. Verbindungen zur Welt außerhalb des wissenschaftlichen Kontextes finden kaum Erwähnung. Standard ist die Dankesformel an das Bildungsministerium und – seltener – an die sächsische Standesvertretung als wesentlichen Geldgeber der Universität.4 Auch die Schenkungen und Stiftungen wird erwähnt, welche von Privatpersonen erbracht werden. Der erste Dank jedoch gilt dem sächsischen Königshaus.5 1

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Franz Häuser (Hg.) (2009): Die Leipziger Rektoratsreden 1871–1933. 2 Bände, Berlin und New York. Die Leipziger Reden zur Übergabe des Rektorats wurden seit 1862 auf Deutsch gehalten. Soweit ersichtlich wurde 1871 die erste Rede vom Rektor selbst gehalten. Davor war es der Dekan der theologischen Fakultät. Wilhelm His (1883): Bericht über das Studienjahr 1882/83, in: Häuser 2009, 350–356, 350. Johannes Wislicenus (1894): Bericht über das Studienjahr 1893/94, in: Häuser 2009, 589-600, 590. Nach der Auskunft von Wilhelm Wundt hat der sächsische Landtag nicht einmal „die im Interesse der Hochschule gewünschten Bewilligungen abgelehnt oder auch nur zu kürzen versucht“. Wilhelm Wundt (1909a): Festrede, in: Karl Binding (Hg.): Die Feier des Fünfhundertjährigen Bestehens der Universität Leipzig, Leipzig 1910, 158–183, hier 178 f. Von Wundts Festrede existieren zwei voneinander abweichende Textfassungen, die im Folgenden als Wundt 1909a und Wundt 1909b angegeben werden. Vgl. Wilhelm Wundt (1909b): Die Leipziger Hochschule im Wandel der Jahrhunderte. Festrede zur 500jährigen Jubelfeier der Universität Leipzig, in: Ders: Reden und Aufsätze, Leipzig 1913, 344–397. Vgl. dazu auch Wolfgang Tischner (2005): Das Universitätsjubiläum 1909 zwischen universitärer Selbstvergewisserung und monarchischer Legitimitätsstiftung, in: Ulrich von Hehl (Hg.): Sachsens Landesuniversität in Monarchie, Republik und Diktatur, Beiträge zur Geschichte der Universität Leipzig vom Kaiserreich bis zur Auflösung des Landes Sachsen 1952. Leipzig 2005, 95–114, hier 111.

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Nahezu jährlich besucht der sächsische König Albert die Universität, besichtigt neueröffnete Institute und nimmt an Vorlesungen neu berufener Professoren teil. In den Darstellungen der Leipziger Rektoren ist es sein Vorgänger König Johann6, der den Aufschwung der Universität seit den 1860er Jahren wesentlich angestoßen und im Folgenden begleitet hat.7 Die betonte Nähe zum Königshaus ist dabei auch Ausdruck eines während der Restaurationszeit nach der 1848er Revolution geschlossenen Kompromisses zwischen den staatlichen Institutionen und der Universität.8 Letztere hatte nach 1820 stets an ständischen Privilegien eingebüßt, bis sich ein Gleichgewicht hergestellt hatte, welches in der Würdigung des Königshauses seinen Ausdruck findet.9 Die Landesuniversität ist vom Staat als nützliche Institution an6

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Johann regierte von 1854 bis 1873. Folgt man Wilhelm Ostwalds Erinnerungen, dann ist der Aufschwung der Leipziger Universität vor allem ihm zu verdanken. Nach 1865, so führt er aus, erfolgt der Aufstieg der Universität zu einer „Weltuniversität […] deren Studentenzahl bald die aller anderen deutschen Schwesteranstalten mit Ausnahme von Berlin übertraf. König Johann von Sachsen hat diese Schöpfung, an der er sich mit Recht einen erheblichen Anteil zuschreiben durfte, stets mit besonderer Freude betrachtet. Er liebte es, gelegentlich ohne jede Ansage und Begleitung in schlichtem Gewande in den Vorlesungen einzelner Professoren zu erscheinen, die ihn interessierten, und diese waren ein für allemal ersucht worden, von seiner Anwesenheit keine sichtbare Notiz zu nehmen. Er setzte sich dann zu den Studenten auf eine Bank, wo er gerade Platz fand. Man kann sich leicht vorstellen, welchen starken Einfluß zum Guten dies auf die Professoren hatte, da die üblichen Auszeichnungen nicht selten erkennbar durch die Beobachtungen beeinflußt wurden, welche der König bei solchen Gelegenheiten anstellen konnte.“ Wilhelm Ostwald (1927a): Lebenslinien. Eine Selbstbiographie, Zweiter Teil: Leipzig 1887–1905, Berlin, 84 f. Nach den Angaben bei Blecher verzeichnete die Universität jedoch 1872 erst den dritten Besuch König Johanns in dessen bereits dreißigjähriger Regierungszeit. Vgl. Jens Blecher (2010): Landesuniversität mit Weltgeltung. Die Alma Mater Lipsiensis zwischen Reichsgründung und Fünfhundertjahrfeier 1871–1909, in: Hartmut Zwahr und Jens Blecher: Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009. Band 2. Das neunzehnte Jahrhundert, Leipzig 2010, 553–848, 608. Der im Folgenden auf das universitäre Selbstverständnis zu untersuchende Zeitraum zwischen 1860 und 1900 gilt im Allgemeinen als der Höhepunkt der deutschen Universitätsentwicklung. Eine genaue Zeiteingrenzung lässt sich hierbei nicht vornehmen, da eine komplexe Institution wie die Universität mit mehreren Zwecken und einer Vielzahl von Wissenschaften keinen einheitlichen Konjunkturverlauf kennen kann. Doch lassen sich immer wieder Textzeugen finden, wonach sich die Ordinarien der Universitäten in diesem Zeitraum auf einem Höhepunkt der Entwicklung der eigenen Institution wähnen. Dies steht in Übereinstimmung mit einer Vielzahl von Indikatoren, wie den steigenden Ausgaben für Bildung, der Einstellung neuer Ordinarien, den sich erhöhenden Frequenzzahlen, der relativen Anzahl der auf Deutsch veröffentlichten Artikel oder etwas später der Vergabe des Nobelpreises an deutsche Ordinarien. Vgl. Bernhard vom Brocke (1990): Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Kaiserreich. Vorgeschichte, Gründung und Entwicklung bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in: Rudolf Vierhaus und Bernhard vom Brocke (Hg.): Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und Struktur der Kaiser-Wilhelm / Max-Planck Gesellschaft, Stuttgart 1990, 17–162, hier 22; Frank Pfetsch (1974): Zur Entwicklung der Wissenschaftspolitik in Deutschland: 1750–1914, Berlin; Konrad H. Jarausch (1981): Higher Education and Social Change. Some Comparative Perspectives, in: Roy Lowe (Hg.): The History of Higher Education. Major Themes in Education. Vol III: Universities and the State, Routledge 2009, 5–35. Die Auseinandersetzungen zwischen Universität und sächsischem Staat, sowie die inneruniversitären Spannungen bezüglich dieses Verhältnisses, sind wesentlicher Gegenstand des zweiten Bandes zur Geschichte der Universität Leipzig. Vgl. Hartmut Zwahr (2010): Im Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft. Von der Universitätsreform bis zur Reichsgründung 1830/31–1871, in: Zwahr und Blecher 2010, 19–552. Dies gilt nicht allein für die Universität Leipzig. Es war die Regel, dass an deutschen Universitäten zu Ehren des jeweiligen Königs eine Festrede gehalten wurde. Oftmals war dies zugleich die einzige Rektoratsrede. Die 1810 gegründete Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin leistete sich, ihrem reprä-

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erkannt, seine Beamten haben sie weitestgehend selbst durchlaufen, sie genießt einen internationalen Ruf und ist darüber hinaus Prestigeobjekt in der Konkurrenz der deutschen Monarchien. Der Rechenschaftsbericht variiert formal hinsichtlich der Abfolge des Darzustellenden, nicht aber im Dargestellten selbst. Die Verbesserungen des „Lehrmaterials“ werden geschildert. So gut wie jedes Jahr kann die Eröffnung eines Instituts oder die Einrichtung eines Seminars verkündet werden. Die Universität wächst, was sich nicht zuletzt in der fast stetig steigenden Zahl der eingeschriebenen Studenten (Frequenz) äußert. Doch auch wenn die Studentenzahlen größer werden, das Hauptaugenmerk der Rektoren liegt auf den Veränderungen im Lehrkörper der Universität. Namentlich werden die Habilitierten erwähnt. Säuberlich werden die Beförderungen vom Privatdozenten zum außerordentlichen Professor, von diesem zum Ordinarius, gelistet. Persönliche Worte findet der Rektor bei den „teuren Toten“10 unter den Professoren, aber auch die verstorbenen Beamten werden genannt und die Zahl der gestorbenen Studenten. Die „ehrenvollen“ Wegberufungen an fremde Universitäten werden aufgezählt; sie sind, wie die Toten und die Ruheständler, unter „Verlusten“ verbucht. Schließlich werden die Zugänge verzeichnet, die neuen Professoren in den Lehrkörper aufgenommen.11 Die Angabe der Zahl der Promovenden pro Fakultät, der besuchten Jubiläen anderen Universitäten, von Feierlichkeiten unterschiedlicher Art und der Tätigkeit des Universitätsgerichts runden den Bericht ab, der stets geschlossen wird mit der Angabe der Preisschriften der einzelnen Fakultäten, die jedoch nur von wenigen Studenten beantwortet werden.

1.2 Die Rektoratsrede Nach dem Rechenschaftsbericht erfolgen die feierliche Übergabe der Amtsinsignien sowie der Amtseid des neuen Rektors. Dieser hält im Anschluss die Rektoratsrede. Bernhard Windscheid, Rektor von 1884, formuliert den wissenschaftlichen Anspruch der meisten Vorträge allgemeingültig. Er beabsichtige, „einige allgemeine Betrachtungen über die Wissenschaft, welcher mein Leben gewidmet ist […] auf dem Standpunkt des wissenschaftlich Gebildeten überhaupt“12 darzustellen. Rund zwei Drittel der Vorträge haben allgemeinbildenden Charakter. Sie präsentieren ein besonders interessant oder relevant erscheinendes Thema aus dem jeweiligen Fachgebiet in für Gebildete verständlicher Form. Was als jeweils relevant erscheint, ist dabei kaum unter einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Es gibt Naturwissenschaftler, die sich um die spekulativen Grenzgebiete ihres Gegenstandsbereiches bemühen und über die „Chemie und das Problem der Materie“ referieren oder über den Zusammenhang von „Gehirn und Seele“. Es

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sentativen Charakter entsprechend, insgesamt drei solcher Reden. Ein Festrede zum Geburtstag des „Landesherrn“, eine Gedächtnisrede zur Erinnerung an den Gründer der Universität und eine Rede zum Rektoratswechsel. Karl Lamprecht (1911): Bericht über das Studienjahr 1910/11, in: Häuser 2009, 1004–1015, 1005. Vgl. den Beitrag von Katharina Middell in diesem Band. Bernhard Windscheid (1884): Recht und Rechtswissenschaft, in: Häuser 2009, 375–386, 375.

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werden allgemeine Begriffsbestimmungen vorgenommen, nach „Gesundheit“, „Recht“ oder der „Eigenart des Christentums“ wird gefragt.13 Auch Reiseerzählungen – wie zum Beispiel die „Erforschung der Antarktis“ – fehlen nicht gänzlich. Eine weitere Gruppe von Vorträgen hat erbaulichen Charakter. Sie werden meist von Philosophen oder Theologen gehalten und haben Themen wie die „sittliche Würdigung des Berufs“14 oder referieren über den „sittlichen Wert der Wissenschaft“. Daneben gibt es historische Vorträge und selbst einige mit politischem Impetus.15 So referiert der Rektor von 1904/1905 über die „evangelische Kirche und die soziale Frage“ und am Vorabend des ersten Weltkrieges findet sich ein Vortrag „Fichte über das Volk“.16 Eine zweite Gruppe von Vorträgen, die nicht trennscharf von den allgemeinbildenden zu unterscheiden ist, kann man als Überblicksvorträge über das vom Rektor repräsentierte Fach charakterisieren. Dies sind immer auch Vorträge, die das eigene Fach legitimieren sollen. In ihnen reflektieren sich die spezifischen Entwicklungen der einzelnen Fächer und indirekt auch ihre jeweilige Stellung in der Hierarchie der Wissenschaftsdisziplinen. Man kann – anhand der mehr oder weniger bewusst gewählten rhetorischen Strategie – aufstrebende und niedergehende Wissenschaften identifizieren. So werden in den Naturwissenschaften immer wieder Fortschrittsgeschichten erzählt. Überzeugend gelingt dies 1877 – einige Jahre nach Darwin – dem Zoologen Leuckart. Vor „wenigen Jahren“ noch, so führt er aus, „erschien das Studium der Zoologie als eine ziemlich harmlose um nicht zu sagen müssige Beschäftigung.“17 Sie „galt höchstens als ‚beschreibende‘ Wissenschaft“18. Nun jedoch sei sie zu einer „Macht“19 geworden, die sich „aus der Betrachtung der Einzelfälle […] zu einer einheitlichen Auffassung der Lebenserscheinungen erhoben“ habe.20 13

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Einige Themen scheinen dabei wie ein Wanderpokal durch das deutsche Kaiserreich zu ziehen. Vgl. stellvertretend: Emil Ponfick (1892): Das Wesen der Krankheit und die Wege der Heilung. Rede bei Antritt des Rectorats der Universität Breslau am 15. Oktober, Berlin; Felix Dahn (1895): Über den Begriff des Rechts. Rede gehalten bei Übernahme des Rektorats der Universität Breslau am 15. Oktober, Leipzig. Die in den folgenden Fußnoten erwähnten Rektoratsreden, die nicht an der Universität Leipzig gehalten wurden, sind dem Onlinearchiv unter „http://www.historische-kommission-muenchen-editionen. de/rektoratsreden“ entnommen (letzter Aufruf 31.01.2018). Der Leipziger Tradition entsprechend, weisen viele der Reden einen Bezug auf Martin Luther auf. Dieter Langewiesche formuliert in seiner Untersuchung der Leipziger und Berliner Rektoratsreden die These, dass es in ihnen um „gesellschaftspolitische Reflexionen mit Blick auf die großen Fragen der Zeit“ gehe. Vgl. Dieter Langewiesche: Die „Humboldtsche Universität“ als nationaler Mythos. Zum Selbstbild der deutschen Universitäten im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Historische Zeitschrift Band 290 (2010), 53–91, hier 54. Dies trifft etwas stärker für Berlin als für Leipzig zu. So spricht Ernst Curtius an der Berliner Universität bspw. über Kolonisation und Griechentum. Vgl. Ernst Curtius (1883): Die Griechen als Meister der Colonisation. Rede zum Geburtsfeste Seiner Majestät des Kaisers und Königs in der Aula der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 22. März, Berlin. Dennoch sind gesellschaftspolitische Reden auch in Berlin nicht die Regel. Auch Fichtes Reden an die Nation waren nicht allein in Leipzig Thema. Vgl. Erich Schmidt (1908): Fichtes Reden an die deutsche Nation. Rede zur Feier des Geburtstages Seiner Majestät des Kaisers und Königs gehalten in der Aula der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 27. Januar, Berlin. Rudolf Leuckart (1877): Über die Einheitsbestrebungen in der Zoologie, in: Häuser 2009, 219–234, 220. Leuckart 1877, 220. Leuckart 1877, 219. Leuckart 1877, 231. Weitere Beispiele für solche Fortschrittsgeschichten sind etwa Franz Hofmann (1888): Die Quellen und die Ausbreitung der Volkshygiene, in: Häuser 2009, 457–468 und Wilhelm Kirchner (1899): Die Entwicklung der Landwirthschaft im 19. Jahrhundert, in: Häuser 2009,

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Nicht alle Rektoren sehen ihre Wissenschaft in einer so beneidenswerten Position. Orientiert man sich an den Titeln der Leipziger Vorträge, dann scheint im Besonderen in den Altertumswissenschaften und in der Philologie ein Legitimationsbedürfnis vorhanden zu sein. Die Rektoren dieser Fachgebiete referieren über „Aufgaben und Ziele einer antiken Literaturgeschichte“, über „die Bedeutung des indischen Altertums“, über „Aufgaben der classischen Philologie“ oder über „Ziele und Methoden der griechischen Geschichtsschreibung“. Die Naturwissenschaften müssen in der Regel nicht (mehr) erklären, was ihre Aufgaben sind oder welche Bedeutung sie besitzen. Sie scheinen selbstverständlich. Die klassischen Philologien, obwohl personell stark in der Universität verankert, befinden sich dagegen in einer Krise. So heißt es 1891, die Philologie sehe sich einer „schiefen und geradezu verkehrten Beurteilung ausgesetzt“21 und schon 1887 verliert Otto Ribbeck als Vertreter der antiken Literaturgeschichte für einen Moment die Contenance. Er polemisiert gegen „banausische Verächter“ und „gegen in die Luft bauende Weltverbesserer“.22 1897 wiederum versucht der als Rektor amtierende Althistoriker Curt Wachsmuth für die historische Methode ein Daseinsrecht neben der naturwissenschaftlichen nachzuweisen.23 Eine dritte – in Leipzig seltene – Gruppe von Reden kann man als Reflexionen auf die allgemeine Wissenschafts- und Universitätsentwicklung charakterisieren. Hierbei lassen sich zwei Typen ausmachen. Zum einen finden sich zwei Reden über die Entwicklung der Universität im 19. Jahrhundert. 1881 referiert der Germanist Friedrich Zarncke über die „Geschichte und Einheit der philosophischen Fakultät“, 1882 der Anatom Wilhelm His über die „Entwickelungsverhältnisse des academischen Unterrichts“. In beiden Reden ist die erstaunte Bewunderung der ungeheuren Entwicklung der Universität in den letzten knapp einhundert Jahren mit Händen zu greifen. Den zweiten Typus bilden zwei Vorträge, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts gehalten werden.24 Sie versuchen den Aufgabenrahmen der Universität neu

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723–740. Sie waren keine Besonderheit der Leipziger Universität. Vgl. Gustav Magnus (1862): Über die Fortschritte auf dem Gebiet der Naturwissenschaften. Festrede auf der Universität zu Berlin am 3. August, Berlin; Friedrich Rüdorff (1887): Die Fortschritte der Chemie in den letzten fünfundzwanzig Jahren. Rede zum Geburtsfeste seiner Majestaet des Kaisers und Koenigs in der Aula der technischen Hochschule zu Berlin am 21. Maerz, Berlin. Justus H. Lipsius (1891): Die Aufgaben der classischen Philologie der Gegenwart, in: Häuser 2009, 531–541, 531. Otto Ribbeck (1887) Aufgaben und Ziele einer antiken Literaturgeschichte, in: Häuser 2009, 435–446, 435. Curt Wachsmuth (1897): Über die Ziele und Methoden der griechischen Geschichtsschreibung, in: Häuser 2009, 679–689. Die Theologie hat ähnliche Legitimationsprobleme, auch wenn sich dies in den Titeln zumindest der Leipziger Reden nicht ausdrückt. Vgl. reichsweit: Eduard Riehm (1881): Religion und Wissenschaft. Rektoratsrede gehalten am 12. Juli, Gotha 1881; Paul von Schanz (1900): Ist die Theologie eine Wissenschaft? Rede gehalten zur Feier des Geburtsfestes Seiner Majestät des Königs an der Universität zu Tübingen den 25. Februar, Stuttgart 1900; Carl Johann Christian Holsten (1887): Ist die Theologie Wissenschaft? Akademische Rede zum Geburtsfeste des höchstseligen Grossherzogs Karl Friedrich am 22. November, Heidelberg 1887. Überblickt man die Rektoratsreden im Gesamten, so finden sich um 1900 zunehmend Vorträge dieses zweiten Typs. Vgl. Wilhelm Kahl (1909): Geschichtliches und Grundsätzliches aus der Gedankenwelt über Universitätsreformen. Rede zur Gedächtnisfeier des Stifters der Universität König Friedrich Wilhelm III. in der Aula am 3. August, Berlin 1909; Max Rubner (1910): Unsere Ziele für die Zukunft. Rede zum Antritt des Rektorates der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin gehalten in der Aula am 15. Oktober, Berlin 1910.

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zu justieren. In ihnen reflektiert sich die nun wahrgenommene Krise der Universitäten,25 die sich schlagwortartig durch das stetige Ansteigen der Frequenz und die zunehmende Überlastung der Professoren in Forschung und Lehre kennzeichnen lässt. So referiert der Ökonom Karl Bücher 1903 über „alte und neue Aufgaben der deutschen Universitäten“ und 1910 gilt die Rede des Historikers Karl Lamprechts der „gegenwärtigen Entwicklung der Wissenschaften“ und dem „Gedanken der Universitätsreform“.26 Eine vierte Gruppe von Reden hat einen lokalen Bezug. Der Mediziner Thiersch referiert 1876 über das Thema „Altes und Neues über die drei grossen Hospitäler Leipzigs“, der Rechtshistoriker Stobbe 1878 anlässlich der Eröffnung des Reichsgerichtes in Leipzig über die Geschichte von „Reichskammergericht und Reichsgericht“. Die meisten der Leipziger Reden enden mit mahnenden Worten an die Kommilitonen. Wenn sich in der Rede selbst keine Reflexionen auf die Universitätsentwicklung finden, so ist hier der Ort, um die Idee der Universität, oder das was man dafür hält, in wenigen, meist standardisierten, Schlagworten darzustellen und den Studenten „noch ein gutgemeintes Wort mitzugeben.“27 Bestandteil der Übergabe der Amtswürde ist schließlich ein vom neu inaugurierten Rektor veranstaltetes Abendessen, bei dem im Wesentlichen die Ordinarien der Universität 25

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In ihnen artikuliert sich auch ein Krisenbewusstsein welches gegen Ende des 19. Jahrhunderts den Fortschrittsoptimismus der Gründerjahre verdrängt und welches sich nicht allein als Krise der Universität sondern als Krise der bürgerlichen Kultur Ausdruck verschafft. Vgl. bspw. Wolfgang J. Mommsen (1994): Bürgerliche Kultur und künstlerische Avantgarde 1870–1914, Berlin; Wolfgang Lichtblau (1996): Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende, Frankfurt a. M. In den Leipziger Rektoratsreden ist das Krisenbewusstsein zwar nur bedingt spürbar, dennoch reflektiert sich die Krise des Selbstverständnisses der bürgerlichen Kultur auch an der Universität in verschiedenen Problemkomplexen. Innerhalb der bürgerlichen Eliten zeichnen sich Zerwürfnisse ab, die hinsichtlich der Universität entlang der Frage nach dem Wert des humanistischen Gymnasiums, nach der Rolle der technischen Hochschulen, sowie der Bedeutung der technischen Wissenschaften insgesamt ausgetragen werden. Diese Auseinandersetzungen sind in der Regel nicht neu und verlaufen auch nicht synchron, verdichten sich jedoch in strikten Frontstellungen. Nach Fritz K. Ringers klassischer Darstellung artikuliert sich die Krise als Gegenbewegung gegen die Moderne und damit auch gegen die modernen Naturwissenschaften. Zunehmende Kritik würde an einem „neuen Realismus“, geübt, der Macht und Erfolg überschätze, Wissen mit praktischen Ergebnissen gleichsetze und ins Profane und Ordinäre absinke. Vgl. Fritz K. Ringer (1968): Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890–1933, München 1983, 230. Eine neue Suche „nach dem Echten und Wahren“ (ebd., 232) setze ein. Weiteres Symptom der Krise an den Universitäten ist die Angst vor dem Verlust der führenden Rolle Deutschlands im internationalen Vergleich. Als Bedrohung wird der Aufstieg der Vereinigten Staaten wahrgenommen. Ein gewisser Überblick über Literatur zu den zeitgenössischen Debatten um die Universitätsreform findet sich bei Riese. Vgl. Reinhard Riese (1977): Die Hochschule auf dem Wege zum wissenschaftlichen Großbetrieb. Die Universität Heidelberg und das badische Hochschulwesen (1860-1914), Stuttgart, 13. Vgl. auch den Beitrag von Katharina Middell in diesem Band. Karl Lamprecht konstatiert in einem Rückblick auf seine Rektoratszeit 1910, dass das „gesamte Leben der Universität, wie dasjenige anderer deutscher Universitäten […] mit der inneren Entwicklung Deutschlands seit den achtziger Jahren […] nicht gleichmäßig fortgeschritten“ war. (Karl Lamprecht: Rektoratserinnerungen, Gotha 1917, 11). Bücher 1903, 837. Reichsweit lassen sich bezüglich der Adressaten zwei Typen von Rektoratsreden ausmachen. Reden an die Studenten und Reden an die Universitätsangehörigen. Die Antrittsrede des Rektors der Berliner Universität beispielsweise richtet sich vornehmlich an Studenten. An der Universität München sind die Antrittsreden des Rektors bis in die 1860er Jahre hinein sogar mit „Rede an die Studirenden der Ludwig-Maximilians-Universität zu München“ betitelt.

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anwesend waren. Die Tagebuchaufzeichnungen von Gustav Theodor Fechner,28 welche die Rektoratswechsel 1862 und 1864 beschreiben, zeichnen das Bild einer weinseligen Runde gleich gesinnter Männer, die sich eine Art Wettstreit liefern, der über Toasts ausgetragen wird. „Sieger“ ist derjenige, der in der Lage ist, die geistreichsten Trinksprüche zu kreieren, bzw. auf diese zu reagieren. Man könnte vermuten, dass unter dem Mantel des Witzes mehr und anderes angesprochen werden kann, als in den offiziellen Reden, doch Fechners Aufzeichnungen sind nicht ausführlich genug, um sich hier ein Bild zu machen. Deutlich wird der gemeinsam geteilte kulturelle Hintergrund in der antiken Bildungstradition. So witzelt man darüber, welcher Rektor nun mit Nero zu vergleichen sei und welcher nicht.29 Insgesamt findet hier die Inauguration einen Abschluss, der von den Quellen nur unzureichend erfasst wird. Die Rektoratsreden – und hier wiederum die an der Universität Leipzig gehaltenen – bilden die Hauptquelle dieser Untersuchung zu universitären Selbstverständnis im 19. Jahrhundert. Darüber hinaus wird auf ähnlich gelagerte Vorträge zurückgegriffen – etwa auf Beiträge bei den Versammlungen der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte30 oder auf Festreden bei Universitätsjubiläen. Eine weitere Quelle sind Denkschriften. Hinzukommen schließlich noch Lebenserinnerungen verschiedener Ordinarien, wie etwa von Wilhelm Wundt, Emil Fischer oder Wilhelm Ostwald. In den Rektoratsreden tradieren die Ordinarien für sich, ihre Kollegen und ihre Kommilitonen eine strukturelle Groborientierung der deutschen Universitätsidee. Die dabei häufig verwendeten Chiffren reduzieren die Komplexität der jeweiligen Situation und machen sie handhabbar und begreifbar. Die positive Funktion einer solchen Reduktion ist es, komplexe Zusammenhänge überhaupt erst kommunikabel zu machen. Im negativen Sinn führt eine solche Verkürzung notwendig zu Präzisionsverlusten, ‚Fehlern‘ oder eben auch zu ‚Mythen‘, also zu nicht ganz richtigen Standarderzählungen komplexerer Prozesse. Die Rektoratsreden haben als öffentliche Reden einen hohen persuasiven Anteil. Sie sind – neben der Darstellung der eigenen wissenschaftlichen Leistung – im aristotelischen Sinne Lobpreisungen (Panegyriken) der eigenen Institution. Zwar erfahren sie in der Regel keine erhöhte öffentliche Aufmerksamkeit31, doch als Rede an die eigene Klientel sollen sie die eigenen Reihen festigen und gegen potenzielle Bedrohungen stärken. Dazu existieren verschiedene Strategien, die jeweils auf die Umstände der wahrgenommenen Bedrohung Bezug nehmen. Das einfachste Legitimationsargument ist der Verweis auf den eigenen Erfolg. Es kann vor allem in den Naturwissenschaften eingesetzt werden. Ein anderes Argument ist der Appell an die eigenen Traditionen und die zu verteidigenden Zwecke der Institution. Es wird vor allem in den Geisteswissenschaften benutzt. Dazu werden verschiedene Bedrohungsszenarien aufgebaut, die in Schlagwörtern ihren Ausdruck finden, wie beispielsweise dem des Zerfalls der Universität in verschiedene Fachschulen. In den Leipziger Rektoratsreden werden die Bedrohungen in der Regel als von außen kommend dargestellt. Dies überdeckt die Konflikte im Rahmen der 28 29 30 31

Gustav Theodor Fechner: Tagebücher 1829–1879, 2 Bände, Stuttgart 2004, 473–476 und 595–600. Vgl. auch Zwahr 2010, 518 f. Fechner 2004, 474. Zur Geschichte dieser Institution vgl. Pfetsch 1974, 252 ff. Das ist beim 500jährigen Leipziger Universitätsjubiläum anders. Über diese Feier wird in so gut wie allen deutschen Zeitungen und Magazinen berichtet. Vgl. Tischner 2005.

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Institution selbst. Polemiken gegen universitätsinterne Gegenpositionen finden sich in der Regel nicht. Die Konflikte – etwa zwischen reiner Wissenschaft in der philosophischen Fakultät und praktischer Wissenschaft in den anderen Fakultäten – werden erst dann sichtbar, wenn man verschiedene Rektoratsreden miteinander vergleicht. Die Rektoratsreden – besonders jene, die sich explizit mit wissenschaftlichen Themen beschäftigen – sind aber auch Ausdruck der Praxis der Ordinarien. Sie sind die Selbstreflexion auf das eigene Tun im Rahmen einer bestimmten rhetorischen Praxis. Sie gehen damit über eine „bloße“ Rhetorik hinaus und erweisen sich im wörtlichen Sinne als selbst-bewusst. In diesem Sinne kann man von der Universität als einer (relativ) transparenten Institution sprechen. Das im Folgenden zu untersuchende universitäre Selbstverständnis, die „Idee der deutschen Universität“, lässt sich grob in drei Teilaspekte untergliedern. Sie sind vielfach untereinander verknüpft, können aber analytisch getrennt und gesondert erörtert werden. Der erste Komplex umfasst die Schlagworte der „Freiheit der Wissenschaften“ und der „Freiheit der Universität“, d. h. die ideelle und die institutionelle Seite ungehinderter Forschung. In diesem Zusammenhang soll vor allem die Beziehung zwischen der Universität als korporativer Institution und dem Staat als Geldgeber und wesentlicher Einflussgröße auf das universitäre Geschehen dargestellt werden. Der zweite Komplex fragt nach den Zwecken der Universität und ihrem Zusammenspiel. Meist werden hier drei genannt: (die als Einheit gedachte) Forschung und Lehre, bestimmte Formen allgemeiner Bildung, sowie die Berufsausbildung. Die Zwecke der Universität besitzen kein gemeinsames Schlagwort. Sie werden von den Ordinarien per se als widerspruchsvoll und konfliktbeladen erlebt. Einer der grundlegenden ideellen Konflikte in diesem Zusammenhang ist die Frage nach theoretischer oder praktischer Orientierung der Universität, der dementsprechend auch in diesem Kontext diskutiert werden kann. Der dritte Komplex lässt sich unter den Chiffren der „Einheit der Wissenschaften“ sowie den institutionellen Spiegelungen dieser Einheit, der „Einheit der philosophischen Fakultät“, bzw. der „Einheit der Universität“ zusammenfassen. Diese Einheiten werden im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend als prekär empfunden. Erste Versuche der Aufspaltung der philosophischen Fakultät sind zu konstatieren. Die Schlagworte, welche die Idee der Universität zum Ausdruck bringen sollen, lassen sich durch die zusammenhängenden Momente der Widersprüchlichkeit und der Allgemeinheit charakterisieren. Dies verweist auf ihre rhetorische Funktion. Unter ihrem Dach versammeln sich stets eine Mehrzahl von Praxen und Vorstellungen, die – obwohl Gemeinsames beinhaltend – konfligieren können. Unterscheidungen wie die zwischen aufgehobenen oder gebändigten und absoluten, sowie zwischen internen und externen Widersprüchen kann man zur Analyse von Institutionen wie z. B. der Universität gebrauchen. Insofern das universitäre Selbstverständnis keinen gemeinsamen Ausdruck findet, insofern also keine gemeinsamen Titelwörter existieren, auf die sich die Ordinarien einigen, kann dies zum Beispiel Anzeige für eine Krise bestimmter universitärer Formen sein, seien sie intern oder extern hervorgerufen. In diesem Sinne ist die Idee der Universität kein monolithisches Gefüge von Aussagen, sondern ein Feld von Auseinandersetzungen, das sich durch Widersprüche und Einsprüche konstituiert.32 32

Dies gilt nicht erst für die Rektoratsreden, sondern bereits für die Denkschriften zur Gründung der Ber-

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Es existiert nicht zu jedem einzelnen die Idee der Universität betreffenden Teilaspekt ein – und sei es noch so abstrakter – Konsens. Die Betonung der Widersprüchlichkeit soll der Gefahr vorbeugen, nur eine Position der Debatte um die Idee der Universität als ebensolchen zu postulieren. Zu beachten ist jedoch, dass die Entwicklung der komplexen Institution Universität bestenfalls näherungsweise durch die Differenzierungen des Widerspruchsbegriffs erfasst werden kann. Bei der Universität kann oftmals nicht genau gesagt werden kann, was innere, was äußere Einflusskräfte darstellen. Dies zeigt sich besonders am Verhältnis von Staat und Universität, welches im nächsten Kapital zur Sprache kommt.

2. Artikulationen des Selbstverständnisses der Universität 2.1 Die Freiheit der Wissenschaft und die akademische Freiheit Das Selbstbewusstsein der Ordinarien drückt sich vor allem in den Titeln „Freiheit der Wissenschaft“ und „akademische Freiheit“ aus. In den Reden der Leipziger Rektoren ist erstere auf engste an die Zielvorstellung der Wahrheitssuche gebunden und verknüpft mit dem Prinzip der innerwissenschaftlichen Kritik. Keine Lehre, so formuliert 1874 der Theologe Baur, dürfe „Axiome gelten […] lassen, welche eines Beweises nicht […] bedürfen.“33 Sein Fachkollege Luthardt spricht vom „Geist der Kritik“.34 Der Philosoph Max Heinze spricht davon, dass „nur aus wissenschaftlich zwingenden Gründen […] das, was Wissenschaft hält und gewinnt, seine Geltung“35 hat. Fechner urteilt über den 1864 in Leipzig als Rektor antretenden Theologen Kahnis verhalten, weil dieser „früher als strenger Orthodoxer angesehen“36 worden sei. Immerhin habe er sich nun „so weit auf freie Forschung eingelassen, dass er von den Orthodoxen als Abtrünniger angesehen ist“.37 Der Zoologe Leuckart nennt 1877 – mit Blick auf Darwin – den Preis der wissenschaftlichen Freiheit: „Die Wissenschaft sucht und will nichts anderes als die Wahrheit – und die Erkenntniss der Wahrheit ist auch dann ein Gewinn, wenn sie uns gewisser Vorrechte beraubt, die wir auf Grund gewohnter Anschauungen und hergebrachter Traditionen für uns beanspruchen.“38 Um zur Erkenntnis der Wahrheit zu gelangen, bedürfe es nach den Worten von Heinze der „Freiheit von Selbstsucht“ sowie der „Freiheit […] von allen möglichen Rücksichten nach außen hin“, d. h. der „Freiheit von menschlichen Autoritäten [und der] Freiheit von Vorurteilen“.39 Die Universitäten werden von den Rektoren als der Ort dargestellt, an denen diese Freiheit statthat und an dem ihre institutionellen Bedingungen, die „akademische Freiheit“, geschaffen seien. Doch ist die akademische Freiheit, als Freiheit einer Institution, ein komple-

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liner Universität, die oft als jene Textzeugen gelten, in denen die Idee der deutschen Universität zuerst formuliert wurde. In den verschiedenen Denkschriften findet sich eine Vielzahl von Argumenten, auf die später je nach Gelegenheit von verschiedener Seite zurückgegriffen wird. Gustav Baur (1874): Rede des antretenden Rectors, in: Häuser 2009, 117–131, 119. Christoph Ernst Luthardt (1880): Die sittliche Würdigung des Berufs, in: Häuser 2009, 293–301, 293. Max Heinze (1883): Über den sittlichen Werth der Wissenschaft, in: Häuser 2009, 357–366, 365. Fechner 2004, 595. Fechner 2004, 595. Leuckart 1877, 234. Heinze 1883, 364.

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xerer Begriff als die Freiheit der Wissenschaften. Sie sind nicht zwangsläufig im Einklang miteinander und lassen den Schluss zu, wie ihn der jüdische Pathologe Karl Weigert auf Grund eigener Erfahrungen 1906 formuliert, „daß ‚Freiheit der Universität‘ durchaus nicht in jeder Beziehung mit ‚Freiheit der Wissenschaft‘ zusammenfällt.“40 Einige – wenn auch keine der Leipziger – Rektoratsreden tragen die akademische Freiheit im Titel.41 Aber auch in Leipziger Reden wird sie als verwirklicht beschworen. 1911 formuliert der Theologe Heinrici: „Ein amerikanischer Gelehrter hat auf Grund seiner Eindrücke gesagt: ‚Die deutsche Universität ist heute der freieste Fleck, den es auf der Welt gibt. […] Jeder Möglichkeit des Denkens wurde nachgegangen, um zu neueren, tieferen, unerschütterlichen Grundlagen zu gelangen.‘ Wir sind stolz auf diese Freiheit.“42 Es gibt Standardbeispiele, die herangezogen werden, um die besonderen Bedingungen an deutschen Universitäten zu verdeutlichen. Eines davon ist die Vivisektion. Du Bois-Reymond kommt in der Rede zur Eröffnung des Physiologischen Instituts in Berlin 1877 nicht umhin, die in Preußen erlaubte Vivisektion gegen die englischen Verhältnisse zu kontrastieren. „Sie wissen, daß im klassischen Land der Fuchshetzen, der Hahnenkämpfe und des Taubenschießens […] die höheren Schichten der Gesellschaft plötzlich von empfindsamer Philozoie ergriffen, bei Parlament und Regierung das Verbot […] der Vivisektiones durchgesetzt haben“43, um schließlich zu einer Eloge auf die ‚deutsche‘ Wissenschaftsfreiheit anzusetzen: „Jawohl. Dieselbe Regierung, die, von schwächlichem Manchestertume frei, das Vaterland groß machte, lässt die Gelehrten gewähren, weil sie weiß, worum sie sich zu kümmern hat“.44 Gehen die Ordinarien auf die Lehr- und Lernfreiheit ein, dann folgt meist im selben Atemzug ihre Charakterisierung als deutsche Eigentümlichkeit. Das Attribut „deutsch“ gehört für sie zum Begriff der akademischen Freiheit wie zu dem der Freiheit der Wissenschaft. So führt Rudolf Virchow aus, dass „Lehr- und Lernfreiheit“ etwas seien, „auf welche wir allen Grund haben, bei einer Vergleichung mit anderen Nationen Europas stolz zu sein“.45 Emil du 40 41

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Zitiert nach Bernhard vom Brocke (1980): Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im deutschen Kaiserreich 1882–1907. Das System Althoff, in: Peter Baumgart (Hg.): Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs, Stuttgart 1980, 9–118, hier 88. Vgl. Hermann Helmholtz (1877): Über die akademische Freiheit der deutschen Universitäten. Rede gehalten beim Antritt des Rectorats an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 15. October, in: Ders.: Vorträge und Reden. Band 2, Braunschweig 1896, 191–212; Max Stadlbaur (1848): Über die akademische Freiheit. Rede an die Studirenden der Ludwig-Maximilians-Universität gehalten bei dem Antritte seines Rectorates, München; Franz Xaver Linsenmann (1888): Die sittlichen Grundlagen der akademischen Freiheit. Rede zur Feier des Geburtsfestes seiner Majestät des Königs Karl von Württemberg, den 6. März, Tübingen. Georg Heinrici (1911): Die Eigenart des Christentums, in: Häuser 2009, 1025–1037, 1029. Auch Friedrich Paulsen bezieht sich auf diese Aussagen von Stanley Hall aus den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts. Vgl. Friedrich Paulsen (1902): Die deutschen Universitäten und das Universitätsstudium, Berlin, 286. Emil du Bois-Reymond (1877a): Der physiologische Unterricht sonst und jetzt. Bei Eröffnung des neuen physiologischen Instituts der Berliner Universität am 6. November gehaltene Rede, in: Estelle du Bois-Reymond (Hg.): Reden von Emil du Bois-Reymond in zwei Bänden, Leipzig 1912, 630–653, hier 646. Emil du Bois-Reymond 1877a, 647. Das Beispiel der Vivisektion spricht dafür, dass die Einschätzung von Joseph Ben-David, wonach die Freiheit von Forschung und Lehre auch in anderen Ländern vorhanden bzw. sogar stärker verankert war, differenzierungsbedürftig ist. Vgl. Joseph Ben-David (1971): The Scientist’s Role in Society, Chicago 1984, 120. Rudolf Virchow (1892): Lernen und Forschen. Rede beim Antritt des Rectorats an der Friedrich-Wil-

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Bois-Reymond formuliert 1869, dass der deutsche Geist keine Grenzen der Forschung kenne und dass nirgends eine solche Freiheit der Forschung wie in Deutschland herrsche.46 Auch in Karl Bindings Eröffnungsrede zur 500-Jahrfeier der Universität Leipzig findet die Freiheit der Universität ihren Ausdruck in stolzer Rhetorik. Die Universität als ewige Institution „wird jünger in dem selben Maße, in dem sie die Fesseln abstreift, die wissenschaftliche Forschung und Lehre teils durch menschlichen Machtanspruch, teils durch die Sprödigkeit ihrer eigenen Mittel angelegt worden sind.“47 Anders als Binding suggeriert, ist der Prozess der Befreiung der deutschen Universitäten zum Wohle der Wissenschaft keine Selbstbefreiung. Die Korporation Universität streift nicht einfach die Fesseln ab; sie werden ihr – auch gegen ihren Willen – abgestreift. Die zur Forschung notwendigen Produktionsmittel werden ganz überwiegend von den jeweiligen Bundesstaaten gestellt.48 Die Freiheit der Wissenschaft wird ebenso von diesen garantiert und von ihnen zumindest teilweise erst durchgesetzt. Dabei haben die deutschen Staaten an der Freiheit der Wissenschaft als auch an der Freiheit der Universitäten an und für sich kein unmittelbares Interesse, sondern gewähren sie nur deshalb, weil bzw. insoweit sie erfolgreich sind.49 Die deutschen Universitäten insgesamt werden in den Jahrzehnten nach 1810 zu „Staats-Universitäten“ mit Forschungsauftrag, oft gegen den Widerstand der eingesessenen Ordinarien, die ihre überkommenen Vorstellungen der traditionellen Universität verteidigen. Paulsen bestimmt in seiner zuerst 1885 erschienenen „Geschichte des gelehrten Unterrichts“ die Gründungen des 17. und 18. Jahrhunderts, die Universitäten Halle und Göttingen, als die ersten Staatsuniversitäten.50 In einer Berliner Rektoratsrede von 1877 reflektiert Hermann Helmholtz auf die Erfolgsbedingungen der deutschen Universitäten. Wesentlich sei ein „Kern innerer Freiheit“51. 46 47 48

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helms-Universität zu Berlin am 15. October, Berlin 1892, 6. Emil du Bois-Reymond (1869): Über Universitätseinrichtungen. In der Aula der Berliner Universität am 15. Oktober 1869 gehaltene Rektoratsrede, in: Estelle du Bois-Reymond 1912, 356–369, hier 358 f. Karl Binding (1909): Eröffnungsrede, in: Ders (Hg.): Die Feier des Fünfhundertjährigen Bestehens der Universität Leipzig, Leipzig 1910, 58–83, hier 78 f. Leipzig gilt als die reichste der großen deutschen Universitäten. Nach den Angaben von Franz Eulenburg deckte die Leipziger Universität 1834 53 % ihrer Ausgaben aus eigenem Einkommen. Auch 1906 steht Leipzig noch an der Spitze der deutschen Universitäten, was die Einnahmen aus eigenem Vermögen angeht. Sie kann noch ein Fünftel ihrer Ausgaben durch diese decken. Vgl. Franz Eulenburg (1909): Die Entwicklung der Universität in den letzten hundert Jahren, Stuttgart, Leipzig 1995, hier 141 und 147 ff. Nach dem Material von Frank Pfetsch steigen die sächsischen Staatsaufwendungen für die Wissenschaft zwischen 1850 und 1914 von 0,5 Millionen auf 7,2 Millionen Mark. In absoluten Zahlen liegt Sachsen an dritter Stelle der deutschen Länder. Berücksichtigt man den relativen Anteil der Ausgaben für die Wissenschaft am Etat so liegt Sachsen hinter Baden an zweiter Stelle. Ungewöhnlich hoch sei der Anteil der Ausgaben für die Hochschulen am Wissenschaftsetat. Vgl. Pfetsch 1974, 57 f. Rainer A. Müller formuliert, dass die Lehr- und Wissenschaftsfreiheit auf die „merkantilistisch-utilitaristischen Interessen des aufgeklärten Absolutismus an einem effizienten, zeitgemäßen, fortschrittsorientierten Unterricht“ zurückgehe. Rainer A. Müller (2001): Vom Ideal zum Verfassungsprinzip. Die Diskussion um die Wissenschaftsfreiheit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Rainer Christoph Schwinges (Hg.): Humboldt International. Der Export des deutschen Universitätsmodells im 19. und 20. Jahrhundert, Basel 2001, 349–366 , hier 350. Die 1737 eröffnete Universität Göttingen sei keine Gelehrtenkorporation mehr gewesen. Friedrich Paulsen (1919): Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Band 2, Leipzig, 10 f auch 127. Helmholtz 1877, 201.

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Zu diesem Kern gehören verschiedene Rechte, von denen die Lehrfreiheit der Dozenten und die Lern- bzw. Hörfreiheit der Studenten betont werden. Auch die Möglichkeit des Universitätswechsels der Studierenden wird genannt.52 Darüber hinaus findet das Berufungsrecht der Fakultäten Erwähnung, sowie das Recht der Privatdozenten, Vorlesungen zu geben, also zu ‚lesen‘.53 Helmholtz bezeichnet die Lehrfreiheit der Dozenten als „Heiligthum“54 der deutschen Nation. Das Statut der philosophischen Fakultät der Universität Göttingen postuliert bereits 1837 die „verantwortungsbewusste Freiheit der Lehre“, mit der allerdings markanten und dehnbaren Einschränkung, „sofern sie Abstand halte von Lehren, die die Religion, den Staat und die guten Sitten verletzen“.55 In Preußen und Österreich erlangt die akademische Freiheit nach 1848 Verfassungsrang. „Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei“ lautet der entsprechende Paragraph der Preußischen Verfassung.56 Die beiden Aspekte der Hörfreiheit und der Lehrfreiheit nennt der nachmalige Leipziger Rektor Wilhelm Traugott Krug bereits 1819 in einer Denkschrift.57 Er definiert die Lehrfreiheit durch zwei Elemente. Zum einen dürfe jeder mit der entsprechenden Befähigung, d. h. dem entsprechenden Abschluss, lehren, zum zweiten erfolge die Lehre nicht nach vorgegebenen Lehrplänen oder Lehrbüchern. Diese „engen nur den Geist ein und hindern den Fortschritt der Wissenschaft.“58 Unter Hörfreiheit versteht Krug, dass der Studierende sowohl die Professoren als auch die Vorlesungen selbst bestimmen könne, sowie, dass die Zeiteinteilung zwischen Vorlesung, Selbststudium und Freizeit ihm allein obliege.59 Sylvia Paletschek fasst zusammen, dass die Lehr- und Lernfreiheit als „besonderes Kennzeichen und Erfolgsrezept der deutschen Universität galt, […] die an keiner anderen europäischen Universität so ausgeprägt sei. Diese Freiheit der Lehre und Forschung wurde als eine spezifisch deutsche historische Tradition aus der früheren korporativen Eigenständigkeit der Universitäten und aus der Durchsetzung von Aufklärung und Rationalismus abgeleitet.“60 52

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Die studentische Freiheit war über lange Jahre ein höchst umstrittenes Thema. Überblickt man etwa die zahlreichen Denkschriften zur Gründung der Berliner Universität, dann ist einer der Hauptstreitpunkte, ob die Vergnügungsmöglichkeiten einer Großstadt wie Berlin nicht die Studenten vom Studieren abhalte. Vgl. etwa: Johann Jacob Engel (1802): Denkschrift über die Begründung einer großen Lehranstalt in Berlin, in: Ernst Müller (Hg.): Gelegentliche Gedanken über Universitäten, Leipzig 1990, 6–17, bes. 8 f.; Friedrich August Wolf (1807): [Vorschläge], in: Ernst Müller 1990, 44–54, bes. 47; Johann Gottlieb Fichte (1807): Deduzierter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höheren Lehranstalt, die in gehöriger Verbindung mit einer Akademie der Wissenschaften stehe, in: Ernst Müller 1990, 59–158, 71 f. Noch Emil du Bois-Reymond kommt 1869 zu dem Schluss, dass die Lernfreiheit der Studenten vielleicht nicht immer praktisch sei, aber als ein „hohes Gut“ zu gelten habe. Sie sei ein „wichtiges Bildungsmittel“ des studentischen Charakters (du Bois-Reymond 1869, 367). Helmholtz 1877, 201. Vergleicht man etwa die heutige Universitätsgeschichtsschreibung mit Reflexionen in der Art von Helmholtz’ Rede, so zeigt sich, dass wesentlichen Momente des Erfolges der deutschen Universitäten bereits von den zeitgenössischen Rektoren benannt werden. In diesem Sinne kann man von der Universität als relativ selbsttransparenter Institution sprechen. Helmholtz erwähnt weiterhin die Verbindung des Forschers mit dem Lehrer – nur derjenige dürfe lehren, der gut forsche (Helmholtz 1877, 203) – und die gute Ausstattung mit Lehrmitteln (Helmholtz 1877, 205). Helmholtz 1877, 205. Vgl. Rainer A. Müller 2001, 353. Vgl. Rainer A. Müller 2001, 364. Wilhelm Traugott Krug (1819): Kotzebue und die deutschen Universitäten, Leipzig, 66 ff. Krug 1819, 67. Vgl. Krug 1819, 69. Sylvia Paletschek (2002): Die Erfindung der Humboldtschen Universität. Die Konstruktion der deut-

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Krug spricht sich dagegen aus, dass es in der Lehre positive Vorgaben des Staates geben solle.61 Bei Helmholtz wird deutlich, dass die erwähnten Freiheiten solche von Gnaden des Staates sind. Er habe die „letzte Entscheidung in fast allen wichtigen Universitätsangelegenheiten“.62 Seine Berliner Rede – und das gilt auch für die Formulierungen der Leipziger Rektoren – hat in ihrem konstatierenden Ton appellativen Charakter, die genannten Freiheiten zu erhalten. Binding nennt den Staat einen „Freunde“63 und ermahnt ihn doch, die Freiheit der Universität nicht einzuschränken, diese sei keine „reine Staatsanstalt“.64 Die Freiheit der Universität sei sein eigener Nutzen. „[W]enn wir Weltschulen bleiben, umso mehr nützen wir dem Staat.“65 Wilhelm Wundt rekurriert in seiner Festrede auf Wilhelm von Humboldt und Friedrich Schleiermacher. Ihnen zufolge solle der Staat sich nicht in die „innere Tätigkeit“66 der Wissenschaft einmischen. In der Einleitung zum einflussreichen Band „Fichte, Schleiermacher, Steffens über das Wesen der Universität“ mit Schriften aus der Zeit der Gründung der Berliner Universität schildert Eduard Spranger 1910 eine Art ewige Spannung zwischen Staat und Wissenschaft.67 „Die Wissenschaft ist absolut liberal; der Staat aber als feste Gestaltung historischer Lebensformen ist immer konservativ. Diese Antinomie läßt sich nicht verdecken und nicht beseitigen. Sie muß immer wieder zu Zusammenstößen führen, die das in alten Staatsformen gesicherte Leben gefährden. Es kommt also darauf an, wenn man den Staat nicht ausschalten kann und will, das kompossible Maximum von Lehr- und Forschungsfreiheit im Rahmen des Staates zu realisieren. […] Jeder neue Konflikt aber beweist, daß hier nur ein labiles Gleichgewicht erzeugt ist, und daß die Gegenwirkung dieser heterogenen Kräfte selbst nicht aufgehoben werden kann.“68 Selbst wenn Sprangers Charakterisierung rhetorische Kraft entfaltet, das Verhältnis von Universität und Staat lässt sich durch einfache Gegensätze nur unzureichend beschreiben.

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schen Universitätsidee in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Historische Anthropologie 10, 2002, 183-205, hier 184. Vgl. Krug 1819, 68. Helmholtz 1877, 200. In der Forschungsliteratur zum Thema bestreitet etwa Gert Schubring die Autonomie der Universitäten in Preußen. Man müsse von einer „konsequente[n] Verstaatlichung“ ausgehen. Trotz dieser Aussage spricht allerdings auch Schubring von einer „innere[n] Autonomie“ und „korporative[n] Elemente[n]“ der Universität. Die vom Staat erwünschten Universitätszwecke würden durch die Gewährung gewisser Freiheiten gewährleistet. Gert Schubring (1991): Spezialschulmodell versus Universitätsmodell: Die Institutionalisierung von Forschung, in: Ders. (Hg.): ‚Einsamkeit und Freiheit‘ neu besichtigt. Universitätsreformen und Disziplinenbildung in Preußen als Modell für Wissenschaftspolitik im Europa des 19 Jh., Stuttgart 1991, 276–326, hier 316 f. Auch Rüdiger vom Bruch und Rainer A. Müller sprechen vom „grundsätzlich staatsinterventionistische[n] Charakter der deutschen Bildungs- und Wissenschaftssysteme“. Rüdiger vom Bruch und Rainer A. Müller (Hg.): Formen außerstaatlicher Wissenschaftsförderung im 19. und 20. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Stuttgart 1990, 11. Binding 1909, 81. Binding 1909, 81. Binding 1909, 81. Wilhelm Wundt 1909a, 174. Eduard Spranger (1910): Einleitung, in: Ders. (Hg.): Fichte, Schleiermacher, Steffens über das Wesen der Universität, Leipzig 1910, VII–XLI. Spranger 1910, XX f.

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Es sind immer bestimmte Handlungsmöglichkeiten, die durch staatliche Verordnungen geschlossen, eingeschränkt oder eröffnet werden und sich dann wiederum positiv oder negativ auf die Freiheit der Wissenschaften im Rahmen der Universität auswirken können. Mehr noch, es ist nicht einmal ausgemacht, inwieweit die Universität nicht selbst als staatliche Institution zu analysieren ist, d. h. ob ein wirklicher Gegensatz von Universität und Staat überhaupt besteht. Ein solcher lässt sich nur dann konstruieren, wenn man die Institution Universität als korporative Einrichtung begreift, die sich gegen den staatlichen Einfluss behaupten muss. Dass es bei vielen Ordinarien ein solches Selbstverständnis gab, ist nicht von der Hand zu weisen. Die zwei folgenden Abschnitte zeigen jedoch, dass bei der Ausübung des Berufungsrechts und der Entstehung des Seminars der staatliche Einfluss so groß war, dass staatliche Akteure durchaus auch als Teil der universitären Institution, nicht allein als ihr Gegenpart begriffen werden können. Die Veränderungen in der Institution Universität sind also nicht auf sauber zu trennende interne oder externe Entwicklungsfaktoren zurückzuführen. Der externe Faktor Staat wird spätestens im 19. Jahrhundert selbst zu einer internen Einflussgröße. 2.1.1 Die Berufungen In seiner Universitätsgeschichte bestimmt Paulsen den Unterschied zwischen Staatsuniversitäten und den Universitäten als Gelehrtenkorporationen an Hand des Kriteriums der Berufung. In Halle und Göttingen seien bereits im 18. Jahrhunderts die Berufungen von den jeweiligen Staatsorganen vorgenommen worden, daher könne man bei ihnen von Staatsuniversitäten sprechen.69 Zwar liegt im 18. Jahrhundert nach den Aussagen von William Clark das Recht der Berufung generell in der Hand des jeweiligen Souveräns, doch ändert diese Korrektur der Aussage Paulsen nichts an der Bedeutung des Kriteriums selbst.70 Allerdings wurde das Berufungsrecht durch den Souverän oftmals nicht im Sinne der Förderungen der Wissenschaften gebraucht, wenn es denn überhaupt ausgeübt wurde. Clark erzählt die Geschichte der 1750 nach Vorschlag der Fakultät bereits per Brief vollzogenen Berufung des Professors Kypke in Königsberg, die nach Einspruch des preußischen Königs wieder rückgängig gemacht werden musste, da dieser die Stelle seinem Feldprediger Bock versprochen hatte.71 Anders gelagert ist die Berufung des Hallenser Professors Klotz in den 1760er Jahren nach Gießen auf einen Lehrstuhl für orientalische Sprachen. Klotz führt in seinem Dankesschreiben aus, dass er zwar kein Hebräisch könne und auch von Orientalistik generell keine Ahnung habe, jedoch binnen vier Wochen in der Lage sei, sich den Stoff insoweit anzueignen, wie ihn die Studenten in Gießen je benötigen würden.72 Diesen Fällen von Nepotismus73 bzw. Unwissenheit seitens staatlicher Stellen gegenüber der kor69 70 71 72 73

„Halle und Göttingen erhalten durch die Minister zu Berlin und Hannover […] ihre Lehrer, bei Göttingen wird ausdrücklich betont: ohne Befragung der Fakultäten.“ „[S]ie sind Staatsanstalten, die von der Regierung gegründet und verwaltet werden.“ (Paulsen 1919, 127, auch 10) William Clark (2006): Academic Charisma and the Origins of the Research University, Chicago, 243. Clark 2006, 282. Clark 2006, 243. Die Berufung kam nicht zu Stande und vermutlich ist Klotz’ Antwort nicht ganz ernst gemeint. Vgl. Conrad Bursian: Klotz, Christian Adolph, in: Allgemeine Deutsche Biographie. Band 16, Leipzig 1882, 228–231. Noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts kann der preußische König – quasi als Naturgewalt – in den

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porativen Institution können ähnliche innerhalb der Universität selbst an die Seite gestellt werden. Marita Baumgarten74 analysiert den Wandel in der Berufungspraxis der Universitäten im 19. Jahrhundert. Erst in diesem setzt sich die wissenschaftliche Leistung als entscheidendes Kriterium der Ernennung der Ordinarien durch. Noch im 18. Jahrhunderts ergaben sich dagegen viele Berufungen aus familiären Verbindungen.75 Clark referiert einen Roman von Christian Salzmann (1783–88), in welchem ein begabter junger Dozent erst dadurch die Chance auf eine Berufung erhält, dass er eine Professorentochter ehelicht.76 Auch die Statistik ist deutlich: An der kleinen Universität Rinteln seien 68 von 171 Professoren im Zeitraum von 1621 bis 1809 verwandt gewesen; in Marburg belaufe sich die Zahl der verwandten Ordinarien zwischen 1653 und 1806 auf rund ein Drittel.77 Diese Zahlen und Fälle zeigen, dass man vor dem 19. Jahrhundert weder den staatlichen Institutionen noch den Universitäten in Bezug auf die Ausrichtung der Universitäten auf die Freiheit der Wissenschaft einen besonderen Kredit geben kann. Im 19. Jahrhundert verkomplizieren sich die Verhältnisse: Der Staat wirkt nun oftmals als Modernisierungsfaktor, indem er beispielsweise Berufungen gegen die eingesessenen Professoren durchsetzt, damit allererst die Disziplinenbildung vorantreibt und eine Ausrichtung auf die Forschung gewährleistet. Es finden sich jedoch auch immer wieder Berufsverbote gegen politisch unbotmäßige Professoren; und selbst die Fakultäten argumentieren mitunter politisch gegen unliebsame Lehrstuhlkandidaten. So will der Staat Sachsen 1832 – unmittelbar nach der antiständischen Universitätsreform in Leipzig – Lorenz Oken zum Ordinarius ernennen. Oken, der 1820 die Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte mit begründet und in der „Isis“ eine einflussreiche naturphilosophische Zeitung herausgibt, gilt später als heroische Gründungsfigur der deutschen Naturwissenschaften, oder wie Rudolf Virchow es ausdrückt, als „Mann [, der] bis zu seinem Tode alle Zeichen des Märtyrers an sich getragen hat, […] als […] eine[r] jener Blutzeugen, welche die Freiheit der Wissenschaften für uns erkämpft haben.“78 1832 jedoch wendet sich die philosophische Fakultät gegen ihn – und nicht etwa der sächsische Staat. Sie denunziert ihn als politisch unzuverlässig.79 Nachdem dies offenbar im Ministerium auf taube Ohren stößt, greift sie Okens akademische Reputation an.80 Die Existenz solcher Fälle macht verständlich, warum sich – gewissermaßen präventiv – Wilhelm von Humboldt in seiner Denkschrift von 1809 dafür ausspricht, dass der Staat die richtigen „Männer“ für die Universitäten auszuwählen habe.81 Obwohl Humboldt generell

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Berufungsprozess eingreifen. So wurde etwa 1890 Fritz Gustav von Bramann nach Halle berufen. Der Chirurg hatte 1887 den preußischen Kronprinzen am Kehlkopf operiert – wahrscheinlich erfolgreich. Vgl. vom Brocke 1980, 84. Marita Baumgarten (1997): Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert, Göttingen. Baumgarten 1997, 269 f. Clark 2006, 241. Clark 2006, 242. Rudolf Virchow (1877): Die Freiheit der Wissenschaften im modernen Staat. Rede gehalten in der dritten allgemeinen Sitzung der 50sten Versammlung deutscher Naturforscher und Aertze zu München am 22.09, Berlin, 6. Clark 2006, 239. Scheinbar hat sie damit Erfolg. Oken wird nicht ernannt. Die fünfbändige Universitätsgeschichte verzeichnet den Namen Oken nicht. Wilhelm von Humboldt (1809): Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaft-

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auf der Autonomie der Universität beharrt, weicht er in diesem Fall davon ab. Humboldts Akzeptanz der Einschränkung der universitären Autonomie wird auch von anderen geteilt. 1909 beruft sich Karl Binding auf Humboldts Denkschrift (die damals gerade entdeckt worden war und deren eigentliche Karriere im Arsenal der Verteidigung der Freiheit von Forschung und Lehre daher erst noch bevorstand). Er zitiert ihn zustimmend: „Der Staat hat nur zu sorgen für Reichtum […] an geistiger Kraft durch die Wahl der zu versammelnden Männer und für Freiheit in ihrer Wirksamkeit“.82 Gegen diese positiv wahrgenommene Einschränkung der akademischen Freiheit stehen die bekannten Fälle von staatlicher und politischer Einflussnahme. Weite Aufmerksamkeit findet mit Recht der Fall der so genannten Göttinger Sieben, die 1837, nach einem Protestschreiben gegen einen Verfassungsbruch des Monarchen, die Göttinger Universität verlassen mussten. Aber auch noch Jahrzehnte später kommt es zu politischen Berufsverboten, wie etwa bei dem Sozialdemokaten Leo Aron in Berlin. Das Schicksal der sieben Göttinger Ordinarien zeigt die politisch bestimmte Funktionsform des deutschen Universitätsraumes. So führt Hartmut Zwahr aus, dass der zuständige sächsische Beamte Falkenstein – zu dieser Zeit Kreisdirektor in Leipzig – „aus den der Universität Göttingen entstehenden Verlusten Nutzen zu ziehen und dadurch die Attraktivität der Universität Leipzig zu erhöhen“ suchte.83 Die dabei geschmiedeten Pläne scheiterten zum Großteil am Widerstand konservativer Kreise. Dennoch nahm die Universität Leipzig mit dem Juristen Eduard Albrecht als Privatdozenten und dem Physiker Wilhelm Weber als Ordinarius letztlich immerhin zwei der Göttinger Sieben auf.84 Dabei bewegten sich die Göttinger Ordinarien als Liberale noch in einem von den Eliten weitgehend geteilten politischen Horizont. Für offen agierende Sozialdemokraten gegen Ende des 19. Jahrhunderts galt dies nicht, auch wenn der Fall Aron, der sich von 1890 bis 1900 hinzog, zeigt, dass sie sich nicht völlig außerhalb des gesellschaftlich akzeptierten Rahmens aufhielten. Dem Privatdozenten der Physik wurde am 20.01.1900 „nach hartnäckigem und mutigem Widerstand seiner Korporation […] die venia legendi entzogen“.85 Vom Brocke weist darauf hin, dass es sich auch in diesem Fall nicht um eine einfache Opposition von „Staat“ und „Fakultät“ gehandelt haben kann. Zwar stellt sich die philosophische Fakultät der Berliner Universität hinter ihren Privatdozenten, über den sie, bis ein eigenes „Lex Aron“ verabschiedet wird, das alleinige Disziplinarrecht besitzt, doch gibt es auf der „anderen“ – der staatlichen Seite – Interessengegensätze. Der eigentlich zuständige Ministerialdirektor Althoff forciert die Maßregelung Arons nicht, vielmehr ist es der Preußische König, der durch Einflussnahme industrieller Kreise den Entzug der Lehrerlaubnis anstrebt.86

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lichen Lehranstalten in Berlin, in: Ernst Müller 1990, 273–282, hier 282. Binding 1909, 81. Zwahr 2010, 178. Auch andere der Göttinger Sieben fanden an deutschen Universitäten neue Stellen. Der Historiker Friedrich Christoph Dahlmann wurde nach Jena berufen, der Orientalist Georg Heinrich August Ewald nach Tübingen. Das Abwerben von andernorts politisch unliebsamen Professoren ist dabei keine Besonderheit des 19. Jahrhunderts. So wurde Christian Wolff 1723 nach seiner politisch-religiös motivierten Vertreibung aus Halle auch von Sachsen aus umworben, ging aber schließlich nach Marburg. Vgl. Döring 2009, 730. Vom Brocke 1980, 95. Vom Brocke 1980, 97.

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Man kann für das 19. Jahrhundert zwar in vielen Fällen von den zwei sich gegenüberstehenden Instanzen „Fakultät“ und „Staat“ sprechen, doch diese Dichotomie sollte die internen Konflikte im Staat wie in der Fakultät selbst nicht übertünchen. Zwar ist die Kennzeichnung der Fakultät als einer konservativen, ständischen Institution, die sich insbesondere durch ihre Trägheit auszeichne, in vielen, aber nicht in allen Fällen richtig. Dieser Trägheit arbeiten – ebenso idealtypisch – die zuständigen Beamten der jeweiligen Kultusbehörden entgegen. Sie greifen bei Neuberufungen oftmals nicht mehr auf die Fakultäten als Wissensressource zurück, sondern führen vielmehr Korrespondenz „with selected professors for advice on appointments“.87 Diese Praxis wurde laut Clark bereits im 18. Jahrhundert üblich, auch wenn Fälle wie derjenige des Hallenser Professors Klotz nicht unbedingt für die universale Geltung des Standards sprechen. Der Rückgriff auf einzelne Experten erlaubte es, die Fakultäten zu umgehen. Auch diese Art des staatlichen Eingriffes wurde nicht generell abgelehnt. 1795 spricht sich etwa die „Berlinische Monatszeitschrift“ für sie aus und von dem Göttinger Historiker Meiners ist die Beobachtung überliefert, dass die Fakultäten selten oder nie die fähigsten Kandidaten vorschlagen würden, obwohl sie von ihnen Kenntnis hätten.88 Wilhelm Ostwald erwähnt in seinen Lebenserinnerungen den Erfolg des Tandems Falkenstein/Ludwig. „Nach Leipzig war Ludwig 1865 berufen worden. […] Die Leipziger Universität führte damals ein ziemlich verborgenes Dasein; hier griff der ausgezeichnete Minister v. Falkenstein ein und verstand innerhalb eines Jahrzehnts durch glückliche Berufungen ein blühendes wissenschaftliches Leben in Leipzig zu entwickeln. […] Als Berater für Medizin und Naturwissenschaften diente dem Minister Karl Ludwig, dessen vornehme Gesinnung und ebenso scharfes wie objektives Urteil er bald erkannt hatte. So wurde Leipzig in erstaunlich kurzer Zeit von einer Provinzuniversität zu einer Weltuniversität umgeschaffen“.89 Nach Ostwald Einschätzung ändert sich diese Beratungspraxis unter dem darauffolgenden Minister Gerber, wofür auch der neue sächsische König Albert mitverantwortlich gewesen sei. „Zu der Zeit, als ich nach Leipzig kam, gehörten diese Dinge längst der Vergangenheit an. König Johann war 1873 gestorben. […] Dann starb auch Falkenstein und unter dem Minister Gerber, der vorher juristischer Professor in Leipzig gewesen war, ging jene bewußte Pflege der Universität im Sinne höchster wissenschaftlicher Leistungen zurück. Ludwigs segensreicher Einfluß war nicht mehr wirksam. Er wurde methodisch vernachlässigt, so daß es dem König selbst auffiel und er eine persönliche Einladung Ludwigs nach Dresden anordnete. Dort empfing er ihn mit den herzlich gemeinten Worten: ‚Willkommen, lieber Herr Geheimer Rat; wir haben uns so lange nicht gesehen.‘ Ludwig antwortete trocken: ‚Majestät hätten nur zu befehlen gebraucht.‘.“90 Was Ostwald hier anekdotisch schildert, lässt es dahingestellt, ob tatsächlich einzelne Personen einen so großen Einfluss auf den Erfolg oder Misserfolg eines universitären Gesamtgefüges haben konnten. Allerdings ist es plausibel, dass im Zuge der Konkurrenz der deutschen Staaten eine geschickte und informierte Berufungspolitik einen wichtigen Faktor bilden konnte. Dass jedenfalls auch Falkensteins Nachfolger Gerber nicht völlig scheiterte, zeigt sich an Ostwald selbst. Ostwalds Berufung wurde von seinem Fachkollegen Wislice87 88 89 90

Clark 2006, 246. Beide Angaben nach Clark 2006, 246. Ostwald 1927a, 84 f. Ostwald 1927a, 84 f. Vgl auch die Ausführungen von Katharina Middell in diesem Band.

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nus vorangetrieben. Dieser „brachte persönlich bei dem Sächsischen Kultusminister Gerber, dessen Vertrauensmann er war, als letzte Möglichkeit mich in Vorschlag.“91 In der konkreten Entscheidungssituation umgeht Wislicenus die Fakultät, die in „Gegensätzen“ verharrt sei und „zu keinem Entschluß kam“,92 obwohl sogar auswärtige Gutachter herangezogen worden seien, die sich „sehr günstig“ über Ostwald geäußert hätten. Wislicenus legt die auswärtigen Gutachten dem Minister vor und „hatte […] persönlich meine Berufung befürwortet, zu der der Minister auch ohne Fakultätsbeschluß berechtigt war; er glaube, daß darnach auch verfahren [worden; M. E.] sei“.93 In anderer Hinsicht zeigt sich die Trägheit der Fakultäten im Falle der Berufung Wilhelm Wundts nach Leipzig. In diesem Fall kommt es allerdings nicht zu einer Blockade von Entscheidungen, sondern, folgt man Wundts Selbstdarstellung, zu seiner Berufung. „Das Rätsel dieser [meiner; M. E.] Berufung löste sich mir erst viel später. Hinter ihr stand nicht die Fakultät und nicht einmal ein irgend erheblicher Teil derselben, sondern eine einzige Persönlichkeit: das war kein anderer als Friedrich Zöllner, der Astrophysiker. Er war in der Tat der einzige nicht nur unter den Naturforschern, sondern, abgesehen von den Vertretern der Philosophie selbst, wahrscheinlich der einzige unter ihren Mitgliedern, der an der Sache ein wirkliches Interesse nahm. Den anderen, deren Gedankenkreis noch zumeist dem eben vergangenen Zeitalter absoluter philosophischer Gleichgültigkeit angehörte, lag die Sache ziemlich ferne, aber um so leichter ließen Sie sich durch einen einzelnen Kollegen bestimmen, der sich derselben mit einigem Interesse annahm. […] So bildete dieser Fall einen augenfälligen Beleg für die Tatsache, daß nicht bloß das Interesse, sondern gelegentlich wohl auch die Interesselosigkeit für den Gegenstand die Quelle einmütiger akademischer Beschlüsse sein kann.“94 Als Paradigma einer aktiven Berufungspolitik gilt der preußische Ministerialdirektor Althoff. Dieser verfügte über ein engmaschiges Netz von beratenden Ordinarien und ließ sich von diesen regelmäßig mündlich oder schriftlich informieren. Vom Brocke konstatiert in seiner maßgeblichen Studie zu Althoff: „Gegenüber dem Vorschlagsrecht der Fakultäten nahm Althoff für sich die größere Übersicht und kraft der ihm zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten auch die höhere Einsicht in Anspruch.“95 Er charakterisiert Althoff als Bürokraten im Dienste der Wissenschaft,96 der stets gegen die Konkurrenzfurcht und Cliquenwirtschaft der Ordinarien aufgetreten sei.97 Althoff wird aus Sicht seiner Zeitgenossen für sein oftmals hartes und elitäres Vorgehen nicht nur gerügt.98 So schreibt der Sozialdemokrat Mehring 1908, dass Althoff das Verdienst 91 92 93 94 95 96 97 98

Wilhelm Ostwald (1926): Lebenslinien. Eine Selbstbiographie. Erster Teil: Riga-Dorpat-Riga 1853– 1887, Berlin, 265. Ostwald 1926, 266. Einer der Kritikpunkte sei gewesen, dass Ostwald „zu viel und zu schnell publiziere“ (266). Ostwald I, 266. Wundt 1921, 287 f. Wundts Bericht wirft auch ein Licht auf die Einheit der philosophischen Fakultät. Vom Brocke 1980, 83. Vom Brocke 1980, 113. Vom Brocke 1980, 83. Max Weber wirft – in seiner sonst durchaus differenzierten Beurteilung – Althoff vor, dass seine Vorgehensweise korrumpierend gewirkt habe. Er habe die Betroffenen in persönliche Abhängigkeiten gebracht. Vgl. Max Weber (1911): Diskussionsbeitrag, in: Verhandlungen des IV. deutschen Hochschullehrertages in Dresden 1911, Leipzig 1912, 66–77, bes. 72 ff.

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habe, im „Sumpfe der akademischen Gevatterschaft“ aufgeräumt zu haben.99 Vom Brocke fasst diese Sichtweise zusammen: „Gelehrte wie Paulsen, Delbrück, Schmoller und Harnack sahen daher die Gefahren, die die Freiheit von Forschung Lehre an den Hochschulen bedrohten, nicht so sehr durch das Ministerium kommen, das im Gegenteil unter Althoff einen Schutzwall bilde, als von den Ansprüchen der Fakultäten, der politischen Parteien und der gesellschaftlichen Interessengruppen.“100 Wie bereits der Fall Aron zeigt, ist auch bezüglich Althoff der Gegensatz zwischen bestimmten staatlichen Interessen und Fakultätsautonomie nicht als absoluter zu begreifen. Althoff erkannte das Selbstergänzungsrecht der Fakultäten bei der Besetzung von Lehrstühlen grundsätzlich an.101 Nach den von Paulsen zusammengestellten Angaben des preußischen Ministeriums waren gut 16 Prozent aller Berufungen zwischen 1882 und 1900 solche, die nicht auf Vorschläge der Fakultät zurückgingen.102 Wofür Althoff paradigmatisch steht, ist die Förderung von „Spitzenkräften“103, die aus unterschiedlichen Gründen aus dem universitären Rahmen gefallen wären. Er konnte kraft seiner Position die Trägheit der Korporation überwinden. Vom Brocke nennt Heinrich Hertz oder Robert Koch, besonders aber Emil Behring und Paul Ehrlich. Letzterer formuliert 1907 in einem Dankesbrief: „Ich persönlich danke Ihnen meine ganze Karriere und die Möglichkeit, meine Ideen nutzbringend auszugestalten. Als Assistent herumgeschubst, in die engsten Verhältnisse eingezwängt – von der Universität absolut ignoriert – kam ich mir ziemlich unnütz vor. Ich […] galt als Mensch ohne Fach, d. h. vollkommen unverwertbar. Wenn Sie da nicht mit starker Hand und genialer Initiative für mich eingetreten wären, wenn Sie mir nicht mit rastlosem Eifer und gütiger Freundschaft die Arbeitsmöglichkeiten zurechtgemacht hätten, unter denen ich mich entwickeln konnte, wäre ich vollkommen brachgelegt gewesen.“104 Das System der Beratung und der Information, welches von Althoff zu einer gewissen Perfektion gebracht, jedoch keineswegs erfunden wurde, zeichnet sich durch seinen informellen Charakter aus. Es ist stark an die jeweiligen Personen und ihre Handlungsimperative gebunden. In seinem, der Tendenz nach, autokratischem Charakter, entspricht es weder der Selbstbestimmungsidee einer Korporation noch den klassischen Vorstellungen einer nach Vorschrift arbeitenden Staatsbürokratie, sondern beruht auf dem persönlichen Kontakt zwischen einzelnen agierenden Personen und deren Urteilsvermögen. Als persönliches Verhältnis basiert es wesentlich auf Vertrauen und den Erfahrungen, die den jeweiligen Kontakten entstammen. Als autokratisches Regime war es in der Entscheidungsfindung schnell und effizient. Die Arbeit der Ministerien lässt sich noch durch ein zweites Moment charakterisieren, welches dann doch den Vorstellungen eines rationalen bürokratischen Apparates entspricht. Es handelt sich um das Dossier über einzelne Ordinarien oder auch einzelne Berufungsakten. Der Geschichte dieser Akten ist insbesondere William Clark nachgegangen. „The dossier is a marvelous ministerial tool to narrate individual academic lives.“105 Es zeigen sich bedeutende 99 100 101 102 103 104 105

zitiert nach vom Brocke 1980, 88. Vom Brocke 1980, 89. Vom Brocke 1980, 89. Paulsen 1902, 101 f. Zwischen 1817 und 1882, vor Althoffs Zeit, waren es hingegen knapp 28 %. Vom Brocke 1980, 92. Zitiert nach vom Brocke 1980, 93. Clark 2006, 291.

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Unterschiede zwischen den einzelnen deutschen Staaten, die Clark als „The Germanies“ bezeichnet. So gibt es im Land Hannover bereits ab 1712 Dossiers für jeden Akademiker.106 Preußen hingegen begnügte sich lange mit chronologischen Aufzeichnungen der Geschehnisse an den Universitäten. Erst um 1809 finden sich Akten zu einzelnen hervorragenden Berufungen an die Berliner Universität.107 In Bayern wiederum hatte ab 1806 jeder Professor sein eigenes Dossier beim Innenministerium.108 2.1.2 Das Seminar Auch das Seminar als Prunkstück der deutschen Forschungsuniversität lässt sich im Spannungsfeld der akademischen Freiheit analysieren. Es ist vielleicht sogar im selben Maße eine „Erfindung“ staatlicher und partiell auch kirchlicher Stellen wie der autonomen Korporation Universität. Zählt man das Seminar (sowie das Labor und das Institut) zu den institutionellen Teilformen der Universität, dann verändert man in gewisser Hinsicht die Definition der Universität selbst. Die genannten Einrichtungen unterliegen nämlich nicht direkt den klassischen korporativen Entscheidungsgremien, sondern bilden sich im Wechselspiel zwischen staatlichen Ansprüchen und individueller Forscherpersönlichkeit. William Clark charakterisiert das Seminar als Bastard zweier Traditionen, die eine wesentlich staatlicher Deszendenz, die andere der sich entwickelnden Forschungsidee entspringend. Neben dem offiziellen Vorlesungsbetrieb entstanden an den deutschen Universitäten im 17. und 18. Jahrhundert verschiedene mehr oder weniger informelle und auch nicht immer voneinander abzugrenzende Einrichtungen, wie die „Professorentische“, die privaten Kollegien oder die privaten, gelehrten Gesellschaften. Die Professorentische waren bezahlte Konversationsstunden, an denen eine Anzahl von Studenten mit dem Professor, der sich um das Essen zu kümmern hatte, dinierte und auf diesem Wege Protektion erlangte.109 Die privaten Kollegien waren von sehr unterschiedlicher Natur. Sie wurden von Universitätsangehörigen oftmals in privaten Räumlichkeiten abgehalten; die Teilnehmer bezahlten direkt an den Lehrenden. Häufig waren es Vorlesungen traditionellen Stils, bei einigen war jedoch auch die aktive Mitarbeit der Studenten gefordert, entweder in Form von Konversation oder von schriftlichen Arbeiten. Clark findet Anzeichen dafür, dass es auch das Angebot von praktischen Laborübungen gegeben habe.110 In den privaten Kollegien konnten Innovationen des Lehrplanes stattfinden. So hielt Kant jahrelang ein Kollegium zur „Anthropologie“ und der Göttinger Philologe Christian Gottlob Heyne eines zur „Archäologie“ ab.111 Die privaten oder gelehrten Gesellschaften wiederum waren als Protoseminare ursprünglich häufig Einrichtungen zur Übung des Predigens.112 Im 18. Jahrhundert diffundierten sie aus der Theologie in die übrigen Wissenschaf106 107 108 109 110 111 112

Clark 2006, 248. Clark 2006, 250. Clark 2006, 289. Clark 2006, 150 f. Clark 2006, 152. Clark 2006, 153. Neben diesen ortsgebundenen Gesellschaften existierten im 17. Jahrhundert auch überregionale Gesellschaften wie die „fruchtbringende Gesellschaft“ oder die „Leopoldina“ welche kein theologisches Profil auswiesen.

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ten. Gelehrte Gesellschaften zeichneten sich durch eine Satzung und feste Mitgliedschaften aus. Die Teilnehmer hatten gewisse Pflichten: „For ordinary members, that usually meant writing.“113 In den oft wöchentlichen Sitzungen wurden die entstandenen Texte dann vorgestellt und von anderen Mitgliedern kritisiert.114 Die Institution, welcher dem Forschungsseminar seinen Namen gab, stammt laut Clark von den Jesuiten. Diese entwickelten im 16. Jahrhundert pädagogische „seminara“. Dies waren Ausbildungsstätten für Lehrer, welche sich ab dem 17. Jahrhundert auch im protestantischen Deutschland finden. Das erste „Seminar“ für höhere Schulen wurde 1695 in Halle eröffnet, „which soon had a branch for training advanced members in the humanities“.115 Clark beschreibt den Zweck der Hallenser Einrichtung als Unterstützung fortgeschrittener armer Studenten, die eine Karriere als Lehrer einschlagen wollten. Das Göttinger Seminar von 1738 kann als erstes Seminar im heutigen Sinne angesehen werden. Es verband „aspects of the private societies and pedagogical seminars. [It] translated the notion of the state-funded theological seminar(y) into the arts and philosophy faculty“.116 Unter dem Einfluss von Christian Gottlob Heyne, der das Göttinger Seminar seit 1763 leitete, begann sich der später so eigentümliche Forschungscharakter auszubilden. Ab den 1770er Jahren und vielleicht im Zusammenhang mit dieser Entwicklung kam es zu weiteren Seminargründungen in der Philologie. Wittenberg folgte 1771, Erlangen 1778 usf., bis im Jahre 1838 alle deutschen Universitäten mit Ausnahme Würzburgs philologische Seminare besaßen.117 Auch bereits existierende private gelehrte Gesellschaften für Philologie wurden „offiziell“, d. h. in Seminare umgewandelt.118 Die Bedeutung des Göttinger Seminars als eigentlicher Entstehungsstunde der Institution wurde bereits früh im 19. Jahrhundert anerkannt. Clark verweist auf Aussagen der zweiten Generation von Seminarleitern nach Heyne, namentlich auf Christoph Daniel Beck (Leipzig) und Friedrich August Wolf (Halle), die in den Jahren 1809/1810 die Ursprünge des Seminars in Göttingen verorteten.119 Im späten 19. Jahrhundert sind aus dem einen Grün113 Clark 2006, 158. 114 Für die Entwicklung der Leipziger gelehrten Gesellschaften vgl. Detlef Döring (2010): Anfänge der modernen Wissenschaften. Die Universität Leipzig vom Zeitalter der Aufklärung bis zur Universitätsreform 1650–1830/31, in: Enno Bünz et al. von der Senatskommission zur Erforschung der Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte (2010): Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009. Bd. 1: Spätes Mittelalter und Frühe Neuzeit, Leipzig 2010, 521–771, 665 f. Auch Döring betont die Bedeutung der Gesellschaften für die „Ursprungsgeschichte der Seminare des 19. Jahrhunderts“. Vgl. Döring 2010, 666. 115 Clark 2006, 159. 116 Clark 2006, 159. 117 Clark 2006, 160. 118 Das erste Seminar in Leipzig, 1809 gegründet, ging aus einer 1784 eingerichteten philologischen Gesellschaft hervor. Vgl. Hans-Peter Müller (2009): Klassische Archäologie, in: Ulrich von Hehl et al. von der Senatskommission zur Erforschung der Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte (Hg.) (2009): Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009. Bd. 4,1 u. 4,2. Fakultäten, Institute, zentrale Einrichtungen, Leipzig 2009. Hartmut Zwahr erwähnt für die Universität Leipzig acht private Gesellschaften, die zu Seminaren werden. Vgl. Hartmut Zwahr (1984): Von der zweiten Universitätsreform bis zur Reichsgründung, 1830–1871, in: Lothar Rathmann (Hg.): Alma Mater Lipsiensis. Geschichte der Karl-Marx-Universität Leipzig, Leipzig 1984, 141–190, hier 145. Vgl. auch Ulrich Johannes Schneider (1999): Philosophie und Universität. Historisierung der Vernunft im 19. Jahrhundert, Hamburg, 82. 119 Clark 2006, 142.

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dervater dann in der Regel zwei geworden. Paulsen, noch den Vorgänger Heynes hinzunehmend, sieht unter den Seminaren „die philologischen Seminare unter Gesner und Heyne in Göttingen, F. A. Wolf in Halle“ an der Spitze.120 Und Wilhelm Wundt verortet das Leipziger philologische Seminar in der Nachfolge Halles und Göttingens.121 Clark charakterisiert die frühen philologischen Seminare als Mischung eines bestimmten Lehrstils mit einer bestimmten finanziellen Förderungsweise durch den Staat.122 Die Entwicklung einer sich rationalisierenden Bürokratie finde sich hier verwoben mit der Herausbildung der Idee und Praxis der Forschung.123 Betrachtet man die Seminare aus Perspektive des Staates, so lassen sie sich als Einrichtungen bezeichnen, die gegen die „alte“ korporative Universität gegründet wurden. Sie sind nicht eingebunden in die klassische Universitätsstruktur, sondern funktionieren an den Fakultäten vorbei. Sie haben staatlich oktroyierte Satzungen, ihr Leiter heißt „Direktor“, nicht Professor und ist direkt von den zuständigen staatlichen Gremien ernannt. Die geförderten Studenten sind in der Regel vom Staat ausgewählt, auch wenn in einigen Fällen ein Vorschlagsrecht der Direktoren existiert.124 Schließlich werden die Studenten vom Staat alimentiert. Die Art der Förderung differiert dabei von Universität zu Universität. Sie reicht bis zu Unterkunft, Verpflegung und Taschengeld, prinzipiell allen Seminaristen stehen „free private collegia (lessons) and patronage“ zu.125 Der Preis, den die Studierenden dafür zu zahlen hatten, war „Anpassung“126; bei Faulheit oder Aufmüpfigkeit drohte der Rauswurf. Eine weitere Besonderheit ist die Evaluierung der Studenten. Die Ministerien haben ein Interesse zu wissen, welche Seminaristen sie später für den Staatsdienst, d. h. insbesondere als Lehrer, verwenden können.127 So fordert der zuständige Minister Gedike von Wolf, dem Direktor des ersten philologischen Seminars in Halle, unmittelbar nach dessen Gründung 1787 eine Auflistung der „aptitudes, abilities and talents of each and every seminarist“.128 Wolf wehrt sich zuerst gegen eine solche Evaluierung. Er will nur die Besten nennen und das Seminar im Gesamten bewerten. Nach einigem Briefwechsel schickt Wolf schließlich aber die geforderten Berichte.129 Anfangs haben diese noch „diskursiven“ Charakter, doch später werden es Listen mit quantitativen Bewertungsstandards, also Benotungen. Über die Liste von 1806 urteilt Clark: „Bureaucratic rationalisation achieved perfection here.“130 120 Paulsen 1902, 59. Heyne und Wolf, Göttingen und Halle, werden auch in der modernen Literatur oft als Gründungsfiguren genannt. Vgl. etwa Bernhard vom Brocke (2001a): Die Entstehung der deutschen Forschungsuniversität, ihre Blüte und ihre Krise um 1900, in: Schwinges (2001), 367–401, 373. 121 Wundt 1909a, 171. Allerdings würdigt die 1888 veröffentliche Festschrift zum 150jährigren Jubiläum der Göttinger Universität die Erfindung des Seminars nicht. Stattdessen geht Prorektor Ritschl auf die herausragenden historischen Studien der Universität ein. Vgl. Albrecht Ritschl (1887): Festrede, in: Universität Göttingen (Hg.): Die Feier des 150jährigen Bestehens der Georg-Augusts-Universität 1887, Göttingen 1888, 54–70, bes. 69. 122 Vgl. Clark 2006, 158. 123 Clark 2006, 142. 124 Vgl. Clark 2006, 161. 125 Clark 2006, 167. 126 Clark 2006, 162. 127 Vgl. Clark 2006, 160 f. 128 Clark 2006, 127. 129 Clark 2006, 128. 130 Clark 2006, 128.

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Differierend von Staat zu Staat werden die Seminare seit Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr so stark reguliert.131 Die Direktoren können sie zunehmend für ihre eigenen Interessen nutzen. Auch hier gilt Göttingen als führend. Heyne wird bereits 1765 erlaubt, die Seminarstruktur nach seinem Gutdünken zu modifizieren.132 F. A. Wolf erreicht für sein Seminar in Halle „complete control of the institute“.133 Er konnte sowohl dessen Mitglieder bestimmen, als auch die Seminarinhalte auswählen. Dies begünstigt die Ausrichtung auf die Forschung. Auch die Kriterien für die Aufnahme in das Seminar ändern sich von der Bedürftigkeit hin zur Leistungsfähigkeit.134 Diese wird zunehmend über schriftliche Aufnahmetests bewertet.135 Nach Angaben von Gert Schubring war August Böckhs philologisches Seminar in Berlin das erste, welches in seiner Satzung 1812 auch die Erweiterung der Wissenschaft, also die Forschung, erwähnt.136 Ausgerichtet auf die Forschung war aber schon Heynes Seminar in Göttingen. Es fanden dort keine lehrpraktischen Übungen mehr statt; stattdessen gab es methodologisches Training, Übungen in grammatischer Analyse und Textinterpretationen. Laut Clark kann man hier erstmals von modernen Seminarpraktiken sprechen.137 Generell erlangte der schriftliche Ausdruck zunehmende Bedeutung. Kommuniziert wurde über Texte. Exemplarisch kann hierfür die Satzung des Seminars der Universität Bonn von 1819 herangezogen werden. Jeder Seminarist hatte alle acht Wochen einen Text zu produzieren, der dann vom Seminarleiter wie von einem Mitstudenten kritisiert wurde. Die Seminarregeln von 1822 in Königsberg lauteten ähnlich. Der produzierte Text musste „mindestens acht Tage“ vor seiner Besprechung an einen oder zwei Opponenten weitergegeben werden, welche ihn dann in der Seminarsitzung zu kritisieren hatten.138 Im 19. Jahrhundert werden die Seminarpraxen oft unter allgemeinen Formeln gefasst. Carl Neumann intendiert 1869 die Gründung eines mathematisch-physikalischen Seminars in Tübingen: Dieses solle „den Verkehr zwischen Dozenten und Studenten in der Weise vermitteln […], daß die letzteren zu selbständiger Arbeit veranlasst und stufenweise zu einer wenn auch kleinen eigenen Produktion auf einem der Forschung noch offenen Gebiete hervorgehoben werden sollen“.139 Wundt schreibt von der „Erziehung des Schülers zum selbständigen Forscher“,140 Bücher von der „Anleitung zum wissenschaftlichen Arbeiten“,141 131 Vgl. Clark 2006, 161 f. Auch Gerd Schubring geht davon aus, dass mit den Seminaren die alten Strukturen der Universität umgangen wurden. Es kam zu einer Art Interessenkoalition einzelner Professoren und des Staates. Allerdings verortet Schubring die Seminare in die Zeit nach Humboldt. Vgl. Gerd Schubring (2001): Mathematik und Naturwissenschaften zwischen Spezialschul-Struktur und Forschungs-Imperativ: in: Schwinges 2001, 402–443, 418. Die Lockerung der Aufsicht des Staates gilt nicht allein für die Seminare. So unterscheidet etwa Eduard Spranger zwischen der Epoche der Aufklärung mit starker Staatskontrolle und der Epoche des Neuhumanismus mit gelockerter Kontrolle. Vgl. Spranger 1910, XI. 132 Clark 2006, 166. 133 Clark 2006, 166. 134 Vgl. Clark 2006, 167. 135 Vgl. Clark 2006, 177. 136 Schubring 2001, 410. 137 Vgl. Clark 2006, 174. 138 Vgl. Clark 2006, 178. 139 Neumann nach Stichweh 1984, 366. 140 Wundt 1909a, 173. 141 Bücher 1903, 831.

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Paulsen davon, dass die Studierenden „selbstständig wissenschaftlich arbeiten zu lernen“142 hätten. Wilamowitz betont, dass das Lernen zu lehren sei.143 Liebig kritisiert 1840 die preußischen Universitätsverwaltungen, dass an den dortigen Universitäten in der Chemie die „Gelegenheit zu arbeiten und sich zu üben“ nicht bestehen würde.144 In diesen Zitaten gehen Seminar- und Laborpraxis ineinander auf, jedoch sind es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem die naturwissenschaftlichen Labore und Institute, die zumindest im Selbstverständnis der Naturwissenschaftler den eigentlichen Erfolg der Universitäten begründen. Liebigs Kritik an den preußischen Verhältnissen zu Beginn der 40er Jahre gibt einen Hinweis darauf, dass die Unterstützung naturwissenschaftlicher Forschung lange Zeit nicht im Fokus staatlichen Interesses stand. Auch wenn es umstritten ist, inwieweit Liebigs Kritik an der Vorherrschaft der Naturphilosophie in Preußen zutrifft,145 so wird doch zumindest in den Rektoratsreden der Berliner Universität bestätigt, dass die finanzielle Unterstützung naturwissenschaftlicher Forschung im Sinne des Auf- und Ausbaus von Instituten erst nach 1850 einsetzte.146 1893 spricht Rudolf Virchow davon, dass unter Friedrich Wilhelm III. (1797–1840) die „Neugestaltung der wissenschaftlichen Anstalten“ auf „vereinzelte Fälle“ beschränkt blieb und dass auch sein Nachfolger Friedrich Wilhelm IV. (1840–1861) „mehr den Kunstinstituten, als den wissenschaftlichen Anstalten“ zugewendet gewesen sei.147 Dem entspricht auch der Schwerpunkt der Seminare. Wie geschildert, besaßen bis 1838 alle deutschen Universitäten außer Würzburg philologische Seminare; solche für andere Disziplinen blieben selten. Naturwissenschaftliche bzw. mathematisch-naturwissenschaftliche Seminare wurden zunächst in Bonn (1825), Königsberg (1834) und Halle (1837–1839) eingerichtet.148 Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzen sich diese 142 Paulsen 1902, 79. 143 „Es ist ja nicht mehr, als dass wir einem jeglichem behilflich sind bei der Selbstbefreiung durch eigene Kraft zu eigenem Denken und Sinnen. Wir können nur Lernen lehren“. Ulrich von WilamowitzMoellendorff (1887): Ansprache an die Studierenden, in: Universität Göttingen (Hg.): Die Feier des 150jährigen Bestehens der Georg-Augusts-Universität 1887, Göttingen 1888, 89–93, 92. 144 Justus Liebig (1840): Ueber das Studium der Naturwissenschaften und über den Zustand der Chemie in Preußen, Braunschweig, 41. 145 Du Bois-Reymond argumentiert 1877, dass es entgegen Liebigs Aussagen in Preußen bereits früh konkrete Pläne zur Gründung eines chemischen Laboratoriums gegeben hätte – auch wenn er einräumen muss, dass ein solches erst 1841 eröffnet wurde. Vgl. du Bois-Reymond 1877a, 638 f. Gerd Schubring geht so weit, das häufige Urteil über den Einfluss der Naturphilosophie in Preußen als ein spätes Ergebnis von Liebigs Philippika gegen Preußens Politik selbst darzustellen. Unter dem Kultusminister Altenstein hätte es keine Dominanz der Naturphilosophen bzgl. der Besetzung der chemischen Lehrstühle in Preußen gegeben. Vgl. Schubring 2001, 421 ff. 146 Was im Groben für alle deutschen Bundesstaaten zutrifft. Vgl. Peter Borscheid (1976): Naturwissenschaft, Staat und Industrie in Baden (1818–1814), Stuttgart. In Bayern gab es bspw. 1830 keinen naturwissenschaftlichen Unterricht an den Gymnasien. Vgl. Pfetsch 1974, 300. 147 Rudolf Virchow (1893): Die Gründung der Berliner Universität und der Übergang aus dem philosophischen in das naturwissenschaftliche Zeitalter. Rektoratsrede gehalten am 3.8., in: Wilhelm Weischedel (Hg.): Idee und Wirklichkeit einer Universität. Dokumente zur Geschichte der Friedrich-WilhelmsUniversität zu Berlin. Gedenkschrift der Westdeutschen Rektorenkonferenz und der freien Universität Berlin zur 150. Wiederkehr des Gründungsjahres der Friedrich-Wilhelms-Universität, Band 1, Berlin 1960, 416–430, hier 426. 148 Clark spricht darüber hinaus von einem Seminar für Physik in Leipzig (1835). Vgl. Clark 2006, 163. In anderen Darstellungen wird das Seminar in Leipzig als „Physikalisches Institut“ bezeichnet. Es wurde von Gustav Theodor Fechner gegründet. Vgl. Jonas Flöter und Sebastian Kusche (2009): Die Univer-

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mehr und mehr durch. Stichweh hat die Seminarpraxen in der Physik in diesem Zeitraum untersucht. Danach schwankten die naturwissenschaftlichen Seminare in ihrem Charakter zwischen Fach- und Graduiertenstudium.149 Der Zugang zu ihnen sei nun jedoch explizit auf die Leistung der Studierenden ausgerichtet.150 Der Aufstieg der Naturwissenschaften in Deutschland wird im Allgemeinen mit der Gründung von Liebigs Laboratorium Mitte der 1820er Jahre in Gießen in Zusammenhang gebracht.151 Ende des 19. Jahrhunderts werden die ersten Rektoratsreden über Liebig gehalten152 und sein Einfluss hervorgehoben.153 Neben Liebig gelten Johannes Müller und Alexander von Humboldt als Gründungsheroen.154 Mit dem Erfolg der Naturwissenschaften etabliert sich eine zweite Gründungsgeschichte des Erfolges der deutschen Universität, die sich von der Geschichte des Seminars unterscheiden lässt. In den Geisteswissenschaften wird immer wieder auf das Seminar Bezug genommen. So bezeichnet Paulsen sie als „Pflanzschulen der wissenschaftlichen Forschung“155, welche seit den 1820er Jahren aus der Philologie in andere Disziplinen überwandern156 und den Geist der Forschung in die Labore tragen. Die Geschichte der Naturwissenschaften lässt sich jedoch auch anders schreiben. Justus Liebig studiert in Frankreich. Alexander von Humboldt verbringt die meiste Zeit seines Lebens in Paris. Von Frankreich aus wandert die Idee

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sität Leipzig in ihrer wissenschaftsorganisatorischen Entwicklung 1409–2009. Von vier zu vierzehn Fakultäten, in: Ulrich von Hehl et al. von der Senatskommission zur Erforschung der Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte (Hg.) (2009): Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009. Bd. 4,1 u. 4,2. Fakultäten, Institute, zentrale Einrichtungen, Leipzig 2009, 13–34, 24. Rudolf Stichweh (1984): Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen, Frankfurt a. M., hier 365. Bei Stichweh heißt es: „[E]s komme nicht auf die Bedürftigkeit an, vielmehr nur auf die Leistungen des Studenten“. (Stichweh 1984, 365) Er wertet Seminarstatuten aus, die in der „Zeitschrift für mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht“ (Bd. 4–6, 1873–7) abgedruckt wurden. Vgl. Ben-David 1971, 118; Borscheid 1976, 28; Clark 2006, 448, Timothy Lenoir (1992): Politik im Tempel der Wissenschaft, Forschung und Machtausübung im deutschen Kaiserreich, Frankfurt a. M. und New York, 65; Eric Ashby (1974), The Idea of a University, in: Roy Lowe (ed): The History of Higher Education. Major Themes in Education. Vol. II, Routledge 2009, 241–260; vom Brocke 2001a, 377; Günter Wendel (1975): Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 1911–1914, Zur Anatomie einer imperialistischen Forschungsgesellschaft, Berlin; Detlef Döring (1988): Die Leipziger Universität in der Zeit des Vormärz (1840/41), in: Rektor der Karl-Marx-Universität Leipzig (Hg.): Leipziger Beiträge zur Universitätsgeschichte. Band 2, Leipzig 1988, 27–36, 30. Differenzierend bspw. Pfetsch 1974, 156. Ernst von Meyer (1898): Justus von Liebig als Reformator der Chemie. Festrede zur Feier des Geburtstages und des Regierungsjubiläums Seiner Majestät des Königs am 23. April, in: Bericht über die Königlich Sächsische Technische Hochschule zu Dresden für das Studien-Jahr 1897/98, Dresden 1898, 25–34; Adolf von Baeyer (1892): Liebigs Verdienste um den Unterricht in den Naturwissenschaften. Rede beim Antritte des Rektorats der Ludwig-Maximilians-Universität gehalten am 26. November, München 1892. Bücher 1903, 833; Paulsen 1902, 275 f. Emil du Bois-Reymond schildert die Bedeutung der Kosmos-Vorlesungen Alexander von Humboldts von 1828. Vgl. Emil du Bois-Reymond (1883): Die Humboldt-Denkmäler. Aus der Rektoratsrede, in: Weischedel 1960, 402–412, 408; vgl. auch: Emil du Bois-Reymond (1858): Gedächtnisrede auf Johannes Müller. Gehalten in der Leibniz-Sitzung der Akademie der Wissenschaften am 8. Juli, in: Estelle du Bois-Reymond 1912, 135–317. Paulsen 1919, 258. Paulsen 1919, 273.

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der Forschung nach Deutschland über und fasst hier an den Universitäten Fuß.157 Wilhelm His schildert diese Entwicklung für die Medizin.158 Noch 1801 erfolgten die Vorlesungen in Leipzig an Hand verschiedener Lehrbücher.159 His erwähnt „die ausserordentlich magere Ausstattung des Lectionscatalogs mit Demonstrationen“.160 Im Allgemeinen sei von einer „vorwiegend literarischen Erziehung“161 der Medizinstudenten zu sprechen. Erst durch französischen Einfluss sei ein „positiverer Zug“ in die medizinische Wissenschaft gekommen. Auch Paul Zweifel führt 1900 aus, dass die „auf Beobachtung“162 gegründete Richtung der medizinischen Forschung aus Frankreich (und Italien) stamme.163 Virchow spricht 1877 von der „grossen Pariser Schule“, rühmt das „Genie unserer Nachbarn“ und bezeichnet die Franzosen als „Bahnbrecher“.164 In seiner Gedächtnisrede auf Johannes Müller zitiert Emil Du Bois-Reymond 1858 einen Brief von 1827, in dem Müller davon spricht, in Berlin ein Institut wie das von Cuvier in Paris aufzubauen.165 Die 40er und 50er Jahre in Berlin erscheinen ihm endlich so glanzreich wie Paris davor.166 In diesen Positionen leben Elemente einer Diskussion wieder auf, die vor der Gründung der Berliner Universität geführt wurde. 1807 fordert F. A. Wolf für Berlin eine Anstalt wie in „Paris das Institut national und die école polytechnique“.167 Rüdiger vom Bruch geht so weit zu behaupten, dass die Universität Ende des 18. Jahrhunderts auch in Deutschland generell als Auslaufmodell gegenüber den (französischen) Fach- oder Spezialschulen galt.168 Catherine Goldstein greift zeitgenössische Positionen auf, die die Niederlage Preußens in den 157 Pfetsch schreibt, dass die erste Generation deutscher „Erfahrungswissenschaftler“ entweder bei Berzelius in Stockholm oder in Frankreich studiert habe. Vgl. Pfetsch 1974, 157. 158 Wilhelm His (1882): Über Entwicklungsverhältnisse des academischen Unterrichts, in: Häuser 2009, 333–349. 159 Vgl. His 1882, 338. 160 His 1882, 338 f. 161 His 1882, 340. 162 Paul Zweifel (1900): Kurzer Rückblick über die Entwicklung der Naturwissenschaft und der Medizin im 19. Jahrhundert, in: Häuser 2009, 749–768, hier 762. 163 Zweifel 1900, 763. 164 Virchow 1877, 25. 165 Du Bois-Reymond 1858, 179. Vgl. auch du Bois-Reymond 1883, 406ff; Emil du Bois-Reymond (1882): Goethe und kein Ende. Rede bei Antritt des Rectorats der Königlichen Friedrich-Wilhelms Universität zu Berlin am 15. October, Leipzig 1882, 22 ff. 166 Du Bois-Reymond 1858, 182. Diese Positionen werden auch in der modernen Forschung immer wieder aufgegriffen. So sei das Vorbild des Gießener Laboratoriums die Pariser „École Polytechnique“ gewesen. Vgl. Borscheid 1976, 38. Gleiches gelte für die 1825 in Karlsruhe gegründete erste technische Hochschule. Vgl. Sigfrid von Weiher (1990): Vorgeschichte und Gründung der physikalischtechnischen Reichsanstalt in Berlin, in: Rüdiger vom Bruch und Rainer A. Müller (Hg.) (1990): Formen außerstaatlicher Wissenschaftsförderung im 19. und 20. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Stuttgart, 53–62, 53. Auch Karl-Heinz Manegold betont den großen Einfluss der Pariser École. Vgl. Karl-Heinz Manegold (1970): Universität, Technische Hochschule und Industrie. Ein Beitrag zur Emanzipation der Technik im 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der Bestrebungen Felix Kleins, Berlin, 19 ff. 167 Wolf 1807, 50. 168 Rüdiger vom Bruch (1999): Langsamer Abschied von Humboldt. Etappen deutscher Universitätsgeschichte 1810–1945, in: Mitchell G. Ash (1999) (Hg.): Mythos Humboldt. Vergangenheit und Gegenwart der deutschen Universitäten, Wien, 29–57, hier 31.

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Napoleonischen Kriegen auf den wissenschaftlichen Vorsprung der Franzosen im 18. Jahrhundert zurückführen. „In dieser Situation lautet eine Antwort der Generäle, die Erklärung, Entschuldigung und Heilmittel zugleich ist: Frankreich verdanke seinem Sieg der wissenschaftlichen Ausbildung seiner Militärs; Preußen schulde seiner Niederlage Schulen wie der École polytechnique“.169 Allerdings setzt sich diese Position in Bezug auf die Gründung der Berliner Universität gerade nicht durch. Der preußische Beamte und Mathematiker August Crelle, der nach Frankreich geschickt wurde, um die dortigen Verhältnisse zu beobachten, vertritt 1804 die später siegreiche Position: „In Frankreich werde zuviel Gewicht auf unmittelbare, konkrete und praktische Probleme gelegt, zum Nachteil einer wahren, die Persönlichkeitsentwicklung fördernden Bildung.“170 Damit, so Goldstein, setze sich der Neuhumanismus gegen den Aufklärungsrationalismus durch,171 und die Universitäten erhalten sich als korporative Institution, bzw. werden – wie Berlin und Bonn – in dieser Tradition neu begründet. Dies ändert jedoch nichts daran, dass die Erfolge, die französische Wissenschaftler um die Wende zum 19. Jahrhundert aufweisen, nicht der korporativen Universität entspringen. Deren Überreste seien lediglich noch „Dressuranstalten für die einzelnen Zweige des öffentlichen Dienstes“ gewesen.172 Frankreich, welches nach der Charakterisierung von Hermann Helmholtz alle historische Formen über den Haufen geworfen und getrennte Institutionen für Lehre und Forschung herausgebildet hat,173 wird so selbst zu einem geheimen Ursprung des Erfolges der deutschen Universität im 19. Jahrhunderts. Dies löst die strenge Entgegensetzung der nationalen Bildungsmodelle, die von den Ordinarien immer wieder tradiert wird, partiell auf. 2.1.3 Nationaler Universitätsraum und internationale Wissenschaft Dennoch werden die Universitäten fast immer im nationalen Bezugsrahmen gedacht. Paulsen charakterisiert die Universitäten 1902 als eine „nach außen abgeschlossene, nach innen zusammengeschlossene Welt“.174 Es bestehe eine „Einheit aller Universitäten deutscher Zunge untereinander“.175 Die einzelne Universität gilt nicht als vollständige Institution, sondern wird fast immer im Universitätenverbund gedacht. Sie steht im regen Austausch mit andern Universitäten, in einem „Wechselverhältnis geistigen Empfangens und Gebens“ zwischen den „verschiedenen Pflanzstätten“176 der Wissenschaft, wie Baur formuliert. Dabei sind es zwei Momente, welche den eigentümlichen Zusammenhalt des Universitätsverbundes hervorbringen. Wilamowitz-Moellendorff benennt sie in einer Göttinger Rede von 1887: „Ein edler Wettstreit und ein neidloser Austausch der Kräfte ist für jedes menschliche Wirken 169 Catherine Goldstein (1989): Zahlen als Liebhaberei und Beruf im siebzehnten und neunzehnten Jahrhundert, in: Michel Serres (1989) (Hg.): Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, Frankfurt a. M. 1994, 487–525, hier 520. 170 Goldstein 1989, 520. 171 Vgl. Goldstein 1989, 521. 172 Bücher 1903, 829. 173 Helmholtz 1877, 199 f. 174 Paulsen 1902, 561. 175 Paulsen 1902, 561. 176 Gustav Baur (1875): Bericht über das Studienjahr 1874/75, in: Häuser 2009, 132–139, 136.

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unendlich segensreicher als ein bequemer Vorrang.“177 Die Konkurrenz und die Möglichkeiten von Ordinarien sowie Studierenden, die Universität zu wechseln, gelten im Selbstverständnis der Zeitgenossen als bedeutender Teil des Erfolgsprojektes „deutsche Universität“. Der Leipziger Rektor Schmidt spricht davon, dass das „Wandern von Universität zu Universität für die volle Entwicklung der Einzelnen wie für die Blüte der deutschen Universitäten überhaupt als wesentlich scheint“.178 Tatsächlich ergeben sich aus der „politischen Dezentralität“ und der „kulturellen Homogenität“179 Deutschlands sowie der doch beträchtlichen Anzahl existierender Universitäten eine ganze Reihe von Vorteilen gerade auch gegenüber Frankreich. Das von Land zu Land, von Universität zu Universität differierende Institutionengefüge ermöglicht den „Praxistest“ verschiedener institutioneller Regelungen.180 Die hohe Mobilität von Studenten und Dozenten verbreitet das Wissen um institutionelle wie wissenschaftliche Innovationen. Du Bois-Reymond betont als weiteren Vorteil der „Kleinstaaterei“, dass die Dozenten bei (politischen) Konflikten mit dem jeweiligen Staat die Universität wechseln könnten.181 Weiterhin erlaubt die Vielzahl an Universitäten ein „gewisses Maß an Diversität und damit Berücksichtigung sehr verschiedenartiger, auch lokaler Interessen.“182 An einigen Aussagen Ernst Haeckels kann man die herrschende Konkurrenz nicht in der reflektierenden Draufsicht, sondern in actu beobachten. Haeckel macht aus seiner Abneigung gegen die Berliner Universität keinen Hehl, sie sei ein „Hort der Reaction“. Ein Entzug der Facultas docendi, wie bei Eugen Dühring geschehen,183 wäre an Haeckels Jenaer Universität niemals möglich gewesen.184 „[D]as grösste Übel, das die deutsche Wissenschaft treffen könnte, wäre ein Berliner ‚Monopol der Erkenntnis‘, die Centralisation der Wissenschaft.“185 Davor bewahre „hoffentlich […] die vielfache Differenzirung und die vielseitige Individualität des deutschen National-Geistes, der vielgeschmähte deutsche Particularismus.“186 Die 177 Wilamowitz-Moellendorff 1887, 90. 178 Adolf Schmidt (1874): Bericht über das Studienjahr 1873/1874, in: Häuser 2009, 105–115, 106. 1930 wird Abraham Flexner „the wandering of the university instructor“ als einen der Garanten des Erfolges der deutschen Universitäten im 19. Jahrhundert bestimmen. Abraham Flexner (1930): Universities. American, English, German (Auszug), in: Roy Lowe (ed): The History of Higher Education. Major Themes in Education. Vol I: The Origins and Dissemination of the University Ideal, Routledge 2009, 116–125, hier 123 f. 179 Rudolf Stichweh (1984): Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen, Frankfurt a. M., 77. 180 „Politische Dezentralität ist die Voraussetzung dafür, dass Innovationen auch schon an nur einer Landesuniversität ausprobiert werden können. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit von Innovationen – man denke nur an die Vielzahl von Reformversuchen in deutschen Universitäten des 18. Jahrhunderts – und mindert die Kosten im Falle des Fehlschlagens einer Innovation.“ (Stichweh 1984, 76 f.) 181 Emil du Bois-Reymond 1869, 359. 182 Stichweh 1984, 77. 183 Dühring wurde 1877 die venia legendi entzogen. 184 Haeckel 1978, 6 f. 185 Haeckel 1978, 92. Neben Haeckels abschätzigen Einschätzungen finden sich selten Bemerkungen über einen möglichen exzeptionellen Charakter der Berliner Universität. Dies bestätigt die Einschätzung von Langewiesche über den problematischen Gehalt der lange Zeit in der deutschen Geschichtsschreibung angenommenen Vorbildfunktion der Berliner Universität. Vgl. Langewiesche 2010. 186 Haeckel 1978, 92.

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„Kleinstaaterei“ sei „segensreich und fruchtbringend […] für die deutsche Wissenschaft“187, ihre glänzensten Vorzüge verdanke sie „den vielen kleinen Universitäten, welche in regem Wettstreit einander zu überflügeln suchten.“188 Betonen die Ordinarien die Vorzüge des Universitätsverbundes, so denken sie diesen in einem nationalen oder zumindest deutschsprachigen Rahmen.189 Reflexionen auf die Universität als Institution vollziehen sich so gut wie ausnahmslos durch Hinweise auf die Verhältnisse in den andern „Kulturstaaten“ und Abgrenzung von diesen.190 Die englischen Universitäten werden als wissenschaftsfern charakterisiert, an ihnen gäbe es keinen „Geist der Forschung“191, sie bildeten ‚den Gentleman‘. Die französischen Universitäten hingegen seien zu Fachschulen geworden, an denen nur noch Berufsausbildung stattfinde. Mit der Konzentration der Institutionen auf Paris habe dort eine „Centralisation der Wissenschaft“ stattgefunden, die „hoechst verderbliche Früchte“ hervorgebracht habe.192 187 Haeckel 1978, 92. 188 Haeckel 1978, 92 f. 189 Mit Langewiesche kann man von einem selbstverständlichen Nationalismus der Ordinarien sprechen. Vgl. Langewiesche 2010, 55f. 190 Inwieweit das russische Kaiserreich zu diesen gezählt wird, ist eine nicht eindeutig zu beantwortende Frage. Die russischen Universitäten und Akademien lassen sich bis weit in das 19. Jahrhundert hinein gar nicht als Einrichtungen mit klassisch nationalstaatlichem Selbstverständnis charakterisieren. Vielmehr ordnen sie sich eher in die Logik einer imperialen Politik unter Modernisierungsdruck ein. Die Modernisierungsbemühungen russischer Zaren seit dem 18. Jahrhundert – allen voran Peter I. – führen in diesem Zusammenhang dazu, dass bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges eine beträchtliche Anzahl der zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Stellen mit deutschen oder doch deutschstämmigen Personen besetzt war. Im Zuge des sich entwickelnden russischen nationalen Selbstverständnisses in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es dabei an den betreffenden Einrichtungen selbst zur Bildung sogenannter deutscher und russischer Parteien. Die nationale Identitätspflege und der Kampf um Einflussbereiche wurden so im Rahmen der Institutionen eines Staates ausgetragen. Aus deutscher Perspektive werden die russischen wissenschaftlichen Institutionen in aller Regel nicht als gleichwertige Konkurrenten wahrgenommen. Wie dargestellt, erfolgen hier die Standardabgrenzungen in Bezug auf die englischen und französischen Universitätssysteme. Dies liegt zum einen hauptsächlich an der wahrgenommenen Rückständigkeit der russischen Institutionen, zum anderen aber auch an ihrer sich erst durchsetzenden nationalen Verfasstheit. Dabei waren die wissenschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Wissenschaftsräumen selbst durchaus reichhaltig und vielfältig, gerade weil sie in ethnischer Hinsicht nicht als rein internationale Beziehungen zu charakterisieren sind. Viele derjenigen russischer Studenten, die sich Zeitweise an deutschen Universitäten aufhielten, publizierten später auf Deutsch. Deutsche Professoren unternahmen Vortragsreisen durch das russische Reich. Die russischen Institutionen waren darum bemüht, deutsche Professoren zu berufen etc. Eine weitere Besonderheit der deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen ergibt sich aus der Existenz einer deutschsprachigen Führungsschicht im Baltikum. Diese national- und traditionsbewusste Elite unterhielt mit der Universität Dorpat eine eigene Elitenbildungsstätte, die durch ihre deutschsprachige Verfasstheit als Teil des deutschen Universitätssystems im russischen Reich betrachtet werden kann. Reichhaltige Materialien zu diesem Themenkomplex enthalten die Publikationen des Forschungsprojektes „Wissenschaftsbeziehungen im 19. Jahrhundert zwischen Deutschland und Russland auf den Gebieten Chemie, Pharmazie und Medizin“ der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Vergleiche etwa Ortrun Riha und Marta Fischer (2010) (Hg.): Naturwissenschaften als Kommunikationsraum zwischen Deutschland und Russland im 19. Jahrhundert. Relationes 6, Aachen 2010. Vgl. auch die Veröffentlichungen der Publikationsreihe: Ingrid Kästner und Dietrich von Engelhardt (Hg.): Deutsch-russische Beziehungen in Medizin und Naturwissenschaften, Aachen 2000–2008. 191 Helmholtz, 1877, 198 f. 192 Haeckel 1978, 92.

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Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts haben die Ordinarien in ihrem nationalen Selbstverständnis Anlass zur Zufriedenheit, nicht nur in ihren Augen gelten die deutschen Universitäten als die „besten der Welt“193. Erst mit dem Aufstieg der amerikanischen Universitäten ändert sich dies.194 Dem nationalstaatlich-partikularen Selbstverständnis der Institution Universität steht in der Regel ein universales Wissenschaftsverständnis gegenüber, da – in den Worten von Wilhelm Ostwald – „die Wissenschaft das übernationalste ist, was es gibt.“195 Nur selten jedoch finden sich weitergehende Überlegungen zur Universität als universaler Institution. Dem international beachteten Anlass des 500-jährigen Jubiläums der Leipziger Universität entsprechend, charakterisiert etwa Karl Binding 1909 die Universitäten als „Weltschule“.196 Die Universitäten seien eine „Gesamt-Organisation des Wahrheitsdrangs der ganzen Menschheit“197 und bildeten „richtig gesehen […] in den Augen der Welt zusammen nur ihre eine Hohe Schule“.198 Allein die Universität habe als wahrhaft universale Institution das Mittelalter überstanden. Der „Weltstaat [ist] dahingesunken, die Weltkirche hat ihre Welt mit anderen Kirchen teilen müssen: die Weltschule aber – sie hat sich erhalten, und ich sage kühnlich: sie stirbt nicht“.199 2.1.4 Der Streit um die Abstammungslehre Jenseits institutioneller Fragestellungen und der nationalen Färbung der Diskussion, wurde die Freiheit der Wissenschaft sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch in der innerwissenschaftlichen Debatte an einzelnen wissenschaftlichen Theorien oder Praxen verhandelt. Eine der langwierigsten dieser Diskussionen um die Freiheit der Wissenschaft entzündet sich nach der Veröffentlichung von Charles Darwins Abstammungstheorie im Jahre 1859. In 193 Emil du Bois-Reymond 1869, 358. 194 Vgl. hierzu Hugo Münsterberg (1904): Die Amerikaner. Band 2, Berlin, 57 ff. Münsterberg betont unter anderem die Unübersichtlichkeit und Diversität, der amerikanischen Verhältnisse. (Münsterberg 1904, 59 f.) „Keine Schablone kann da neue Regungen unterdrücken.“ (Münsterberg 1904, 64). Riedler warnt 1898 vor Amerika als „mächtigste[m] zukünftige[n] Gegner“. (Riedler 1989, 31) Vgl. bspw. auch Adolf von Harnack (1909): Denkschrift zur Begründung von Forschungsinstituten, in: Weischedel 1960, 446– 456, hier 448; Verhandlungen des IV. deutschen Hochschullehrertages in Dresden 1911, Leipzig 1912, 53 ff. 195 Ostwald (1927b): Lebenslinien. Eine Selbstbiographie. Dritter Teil. Gross-Bothen und die Welt 1905–1927, Berlin 275. Ostwald spricht sich im Kontext dieses Zitats gegen die nationale Gliederung internationaler wissenschaftlicher Organisationen aus. In eine ähnliche Richtung wie Ostwald weist du Bois-Reymond: „Ist die Literatur das wahre intranationale, so ist die Naturwissenschaft das wahre internationale Band der Völker.“ (du Bois-Reymond 1877b, 598) 196 Karl Binding (1909): Eröffnungsrede, in: Ders (Hg.): Die Feier des Fünfhundertjährigen Bestehens der Universität Leipzig. Leipzig 1910, 58–83, hier 78 f. 197 Binding 1909, 79. 198 Binding 1909, 80. 199 Binding 1909, 78. Der mögliche Loyalitätskonflikt zwischen der Verpflichtung auf den sie beherbergenden Staat und dem universalen wissenschaftlichen Anspruch wird – das zeigen die Reaktionen während des ersten Weltkrieges – nach 1914 unterdrückt. Vgl. etwa Kurt Flasch (2000): Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch, Berlin; Wolfgang J. Mommsen (Hg.): Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996.

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Deutschland fand sie unter den Zoologen rasch Anhänger – und die Zoologie generell nahm einen bedeutsamen Aufschwung. Als eine der drei klassischen, den Menschen aus dem Zentrum rückenden Theorien, war sie aber vor allem von katholischer Seite heftigen Angriffen ausgesetzt. Wir betrachten hier die Debatte zwischen zwei der am stärksten in der deutschen Öffentlichkeit stehenden Naturwissenschaftler, Rudolf Virchow und Ernst Haeckel, als Beispiel. In dieser Debatte – die 1877/78 in Virchows Rede „Die Freiheit der Wissenschaften im modernen Staat“ und Haeckels Entgegnung „Freie Wissenschaft und freie Lehre“ kulminierte – findet sich eine eigentümliche und bemerkenswerte Verknüpfung von erkenntnistheoretischen und normativen, d. h. auf die Praxis der Freiheit von Forschung und Lehre bezogenen, Aspekten. Wenn es oben hieß, die Freiheit von Lehre und Forschung sei ein Herzstück des Selbstverständnisses der deutschen Ordinarien gewesen, so ist es Virchow, der die Freiheit der Lehre angreift. Er beginnt seine Rede, rhetorisch geschickt, mit einem Lob der gegenwärtigen deutschen Verhältnisse. Noch 1822 hätte die Versammlung der Naturforscher „im Dunkel des Geheimnisses“200 stattfinden müssen, doch nun im Jahr 1877 sei „München […] ein Ort […] welcher es vertragen kann, die Vertreter der Wissenschaften in vollständigster Freiheit zu hören.“201 Virchow sieht die errungene Freiheit allerdings bedroht und schlägt eine Strategie der „Mässigung“ vor, um „diesen factischen Besitz […] für die Dauer zu sichern“202 Er fordert einen „gewissen Verzicht auf Liebhabereien und persönliche Meinungen“203, worunter er vor allem die „Willkür beliebiger persönlicher Speculation“204 versteht. Virchow möchte eine Grenzlinie zwischen „wirklicher Wissenschaft“ und „Speculation“ ziehen, die dort beginne, wo Theorien noch nicht bewiesen worden seien.205 Nur das gesicherte Wissen solle und müsse in den Wissensschatz der Nation aufgenommen werden, d. h. an den Schulen206, aber auch an den Universitäten als wahr gelehrt werden.207 Virchows Hauptgegner ist die in seinen Augen noch nicht ausreichend bewiesene Abstammungslehre. Er führt die Auseinandersetzung mit ihr jedoch nicht allgemein, sondern beschränkt sich auf die Frage nach dem Übergang vom Anorganischen zum Organischen, auf die sogenannte „Urzeugung“ (Generatio aequivoca) und suggeriert, mit der Kritik an dieser den gesamten Darwinismus zu treffen. Statt Wissenschaft sei die Abstammungslehre eine Weltanschauung, ganz wie die Schöpfungslehre. Virchow psychologisiert sie als Bedürfnis. „[W]er sagt, ich brauche absolut eine Formel, ich muss mit mir ins Reine kommen, ich will eine zusammenhängende Weltanschauung haben, der muss entweder eine Generatio aequivoca oder die Schöpfung annehmen.“208 Die Abstammungslehre entspreche einem „sehr menschlichen“ Bedürfnis nach Verallgemeinerung und ganzheitlicher Betrachtung.209 Allerdings sei nichts „gefährlicher“ als die vorzeitige, unbegründete 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209

Virchow 1877, 6. Virchow 1877, 7. Virchow 1877, 7. Virchow 1877, 7. Virchow 1877, 7. Virchow 1877, 8. Virchow 1877, 10 f. Virchow 1877, 31. Virchow 1877, 20 f. Virchow 1877, 19.

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Synthese.210 Dies habe die Naturphilosophie zu Anfang des Jahrhunderts zur Genüge gezeigt. Virchow spricht sich dabei nicht für ein Verbot des Forschens an unbewiesenen Problemstellungen aus. „Wir müssen strenge unterscheiden zwischen dem, was wir lehren wollen, und dem, wonach wir forschen wollen.“211 Die Forschung solle frei bleibe, aber wonach geforscht wird „soll nicht ohne Weiteres Gegenstand der Lehre sein“.212 Virchows Rede setzt Haeckels eine offensive Dreifachverteidigung entgegen. Zum einen greift er Virchow politisch an, zum zweiten ist er darum bemüht, Virchows Begriff des „wissenschaftlich Bewiesenen“ als nicht haltbar darzustellen, zum dritten versucht er, Virchows Forderung nach Abschaffung der Lehrfreiheit ad absurdum zu führen. Politisch sei der eigentlich liberale Virchow zum „Werkzeug der gefährlichsten Reaction“213 geworden, wie Haeckel eine anonyme Quelle zustimmend zitiert. Virchow werde nun von allen „clericalen und reactionären Organen“ als Kronzeuge benannt.214 Es sei ein „Creatist“.215 Tatsächlich argumentiert Virchow in klassischer Weise konservativ. Er spricht den nicht gebildeten Menschen die Fähigkeit ab, unmittelbar darüber urteilen zu können, welcher Status wissenschaftlichen Aussagen zukommt. Man könne nicht „jedem Bauernjungen“ sagen: „[D]as ist thatsächlich, das weiss man und das vermuthet man nur“.216 Dies sei den Experten oder doch zumindest den Eliten zu überlassen; und nur die anerkannte wissenschaftliche Wahrheit dürfe in der Öffentlichkeit verbreitet werden. Für Virchow wird die Wissenschaft dabei selbst zu einer Art Glaubenssystem, aber nicht im Sinn einer Gruppenmeinung, sondern als kanonisch gesetztes Wissen. Die Menschen hätten im 19. Jahrhundert Vertrauen in sie gewonnen, nun gelte es, dieses Vertrauen – diesen „Glauben an die Wissenschaft“217 – nicht wieder zu zerstören. Bei allem Elitismus der hier zu Tage tritt, zeigt Virchow damit ein historisches Bewusstsein, welches Haeckel nicht besitzt. Für Virchow können die Institutionen der Wissenschaft wieder zerstört werden; es gelte, Maßnahmen zu treffen, dass dies nicht geschehe. Haeckel hingegen vertritt einen unmittelbaren Fortschrittsoptimismus und Glauben an ‚die Wissenschaft‘: die wissenschaftliche Weltanschauung werde sich durchsetzen. Dies führt auf die erkenntnistheoretische Grundlagendiskussion zwischen Virchow und Haeckel. Virchow lässt als Beweis einer wissenschaftlichen Lehre nur „sichere Tatsachen“218 bzw. „Erfahrungssätze“ zu.219 Höchstes Beweismittel sei der „Versuch“.220 Immer wieder warnt er vor vorzeitigen Induktionsschlüssen und vor einer zu schnellen Verallgemeinerung der einzelnen gefundenen Zusammenhänge.221 Er zeigt an mehreren Beispielen aus der Geschichte der Naturwissenschaften, wie Induktionen scheitern können. Trotz dieser Kritik an 210 211 212 213 214 215 216 217 218 219 220 221

Virchow 1877, 22. Virchow 1877, 28. Virchow 1877, 29. Haeckel 1878, 2. Haeckel 1878, 3. Haeckel 1878, 14. Virchow 1877, 26. Virchow 1877, 22. Virchow 1877, 24. Virchow 1877, 20. Virchow 1877, 24. Vgl. Virchow 1877, 18.

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verfrühten Induktionen die, wie die Auseinandersetzung mit Haeckels Theorie der Zellseele zeigt, durchaus ihre Berechtigung hat,222 bleibt Virchow bei der Bestimmung dessen, was als „sichere Thatsache“ zu gelten habe und was nicht, verständlicherweise vage. Denn es gibt keine theoriefreien Konstatierungen von Tatsachen. Wohl aber gibt es den Unterschied zwischen experimentell reproduzierbarem Wissen und einer Rekonstruktion der Vergangenheit von heute her. Am deutlichsten wird sein kritisches Verständnis eines bewiesenen Zusammenhanges an seinen Ausführungen zur Theorie der „Urzeugung“. Diese sei nicht als „positive Thatsache“223 aufgefunden worden. Ein „thatsächlicher Beweis“224 für sie liege nicht vor, denn „kein Mensch hat je eine Generatio aequivoca sich wirklich vollziehen sehen.“225 Virchow will also zunächst nur etwas als Tatsache gelten lassen, was im Experiment erzeugbar oder in wiederholter Weise beobachtbar ist. Allgemeine Aussagen über einzelne historische Tatsachen lassen sich auf diesem Weg nicht eigentlich verifizieren. Die Folge ist, dass alle Erzählung und Geschichte, wie etwas gewesen ist, immer ein gutes Maß an hypothetischem Glauben enthält. Diesen logischen Aspekt in Virchows Argumentation, der übrigens für jedes Verständnis der Möglichkeit von allen Formen von Verschwörungstheorien wichtig ist, greift Haeckel an. Anstatt durch Erfahrungsbeweise sieht Haeckel die Evolutionstheorie durch die „Gesammtheit der biologischen Erscheinungen“ verifiziert, die eine hinreichend große Basis für ihre Anerkennung bieten würde.226 Virchows Beharren auf einer absolut objektiven Wissenschaft, auf einer klaren Grenze zwischen subjektiven Überzeugungen und objektivem Wissen, setzt Haeckel entgegen, dass Theorien immer subjektiv seien, und nie allein aus „objectiven Thatsachen“227 bestehen könnten. Insofern dürften nach Virchows Kriterium letztlich keine Wissenschaften mehr gelehrt werden, nichts außer beobachteten Tatsachen,228 nichts „was nicht absolut sicher sei“.229 Die Axiome der Mathematik seien unbewiesen230, die Grundbegriffe der Physik wie Materie oder Kraft unklar.231 Disziplin für Disziplin verweist Haeckel auf deren jeweils umstrittene Grundlagen. Schließlich sei auch Virchows eigene Lehre nicht frei von spekulativen Elementen. So vertrete er die These, dass Versteinerungen „wirklich Überreste von ausgestorbenen Organismen sind, obgleich gar kein ‚sicherer Beweis‘ dafür zu liefern ist“.232 Haeckel bezeichnet die Abstammungslehre als „historische Naturwissenschaft“, die mit ihrer „historische[n] und genetische[n] Methode […] im Gegensatze zur exakten und experimentellen Methode der Physiologie“233 stehe. Sie entziehe sich den experi222 223 224 225 226 227 228 229 230 231 232 233

Vgl. Virchow 1877, 14 f; Haeckel 1878, 40 ff. Virchow 1877, 20. Virchow 1877, 20. Virchow 1877, 20. Haeckel 1878, 14. Selbst eine Art von Experiment gäbe es, wenn man die Zucht der Haustiere als Beweis anerkenne. Vgl. Haeckel 1878, 17. Haeckel 1878, 52. Vgl. Haeckel 1878, 8. Haeckel 1878, 51. Haeckel 1878, 53. Haeckel 1878, 53. Haeckel 1878, 56. Haeckel 1878, 26 f.

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mentellen Beweisen der anderen Naturwissenschaften und gehorche differierenden Standards. Virchows Forderung nach Abschaffung der Lehrfreiheit führe – so Haeckel – sich selbst ad absurdum. Als ehemaliger Schüler Virchows weiß er, „dass Virchow als Lehrer uns, seine Schüler, ständig an seinen Problemen Theil nehmen liess. […] Und welcher geistreiche und in seiner Wissenschaft lebende Lehrer würde dies nicht thun?“234 Denn es gäbe nichts Besseres als ein „Denken an den Problemen der Forschung“.235 Nun ist Virchow in der Forderung nach der Zensur der Lehre nicht ganz so eindeutig, wie Haeckel es darstellt. Es geht ja viel eher um die Frage, was für die Lehre als allgemeines Wissen zu kanonisieren ist, und das dürfen dann keine noch erst zu prüfenden Hypothesen sein. Daher liegen bei Virchow – unausgesprochen – zwei Zwecke der Universität im Konflikt. Wie bei Kant gibt es eine akademische, interne, Denkfreiheit bei der Formulierung und Prüfung von Hypothesen. Sein zweites Augenmerk liegt aber auf dem Zweck der Sicherung der nachhaltigen Verlässlichkeit und Überzeugungskraft der Wissenschaft. Dabei komme den Wissenschaftlern und Lehrern eine besondere Aufgabe zu. Diese sollten nur lehren, was eindeutig bewiesen sei. Das ist die Einsicht in die Rolle der Kanonisierung von nachhaltig Lehrbarem durch die Wissenschaft. Es sei daher auch für die Wissenschaft gefährlich „in die Köpfe der Schullehrer dasjenige hineinzutragen, was wir bloss vermuthen.“236 Es geht hier nicht darum, ob Virchow die Lehrenden genauso wenig wie die Bauernjungen zu derjenigen Elite zählt, die mit Fragen wissenschaftlicher Wahrheit kompetent umgehen können. Es geht darum, dass er wie Kant die Kaskade der institutionellen Form der Prüfung und kanonischen Lehre von Wissen in den akademischen Wissenschaften wie kaum ein anderer begriffen hat. Freilich muss auch die akademische Elite an der Universität ausgebildet werden. Hierfür schlägt Virchow einen Mittelweg vor. „[W]ir müssen den Lernenden jedesmal sagen, wenn wir weiter gehen: ‚dieses ist aber nicht bewiesen, sondern das ist meine Meinung, meine Vorstellung, meine Theorie, meine Speculation‘.“237 Dies würde Haeckels Schilderungen von Virchows eigenen Lehrmethoden nicht mehr widersprechen238 und einer der meist gebrauchten Formeln des universitären Selbstverständnisses des 19. Jahrhunderts genügen: der Einheit von Forschung und Lehre.239

234 235 236 237 238

Haeckel 1878, 63. Haeckel 1878, 63. Virchow 1877, 26. Virchow 1877, 26. In einer Rektoratsrede von 1892 revidiert Virchow seine Position. Als hätte er dies nicht 15 Jahre zuvor selbst gefordert schreibt er nun: „Man kann gern zugestehen, dass Streitfragen, die unter den Gelehrten selbst noch nicht ausgetragen sind, von dem Unterrichte in den Schulen ausgeschlossen […] werden.“ Dann seien sie „dem Unterrichte in den Fachwissenschaften der Universität vorbehalten“. (Virchow 1892, 22) 239 Oder wie Haeckel es in diesem Zusammenhang formuliert: Lehre und Forschung „sind innig und untrennbar verbunden“. (Haeckel 1878, 69)

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2.2 Die Zwecke der Universität Die Debatte zwischen Virchow und Haeckel erlaubt es, zum zweiten großen Komplex des universitären Selbstverständnisses überzugehen: Zur Frage nach den Zwecken der Universität. Sylvia Paletschek fasst das Selbstverständnis der „Zeitgenossen“ bezüglich der Zwecke der Universität zusammen und sieht eine „eine dreifache Aufgabenbestimmung […]: Wissenschaftliche Berufsausbildung (insbesondere für den Staatsdienst), die Fortentwicklung der Wissenschaften sowie die Vermittlung von Allgemeinbildung.“240 Bernhard vom Brocke bestimmt die Zwecke als „humanistische Menschenbildung, berufliche Fachbildung und wissenschaftliche Forschung“.241 Friedrich Paulsen schließlich findet die Formulierung, dass die Universität eine „Werkstätte der wissenschaftlichen Forschung und Anstalt für den höchsten wissenschaftlichen Unterricht, und zwar sowohl für den allgemein-wissenschaftlichen als fachwissenschaftlichen und beruflichen“ sei.242 2.2.1 Forschung und Lehre Über weniges sind sich zumindest die Leipziger Rektoren mehr einig als über die Zusammenführung zweier Kernaufgaben der Universität, über die Einheit von Forschung und Lehre. Wachsmuth schreibt 1897: „Wir dienen alle einer Herrin und nur der einen; ihr aber in doppelter Weise; wir sind bestrebt die wissenschaftliche Erkenntnis durch eigene Forschung zu fördern und die Jugend in die Zucht wissenschaftlichen Denkens zu nehmen.“243 Heinze referiert 1883 über den doppelten Zweck der Universität hinsichtlich der Förderung der Wissenschaft und in ihrer Funktion als lehrende Einrichtung.244 Auch in Rektoratsreden außerhalb Leipzigs wird das Prinzip wieder und wieder beschworen. So formuliert Trendelenburg 1857: „Es liegt in der Idee des Universitätslehrers, dass sich in ihm Forschung und Unterricht vereinigen […] und gegenseitig beleben.“245 Auch Virchow beharrt auf der Einheit von Lehre und Forschung, denn zumindest ein Teil der Studenten müsse qua Anschauung und Anleitung zum Forscher erzogen werden.246 Wilhelm Wundt greift in der Festrede von 1909 das Standard-Narrativ in Sachen „Forschung und Lehre“ auf. Bedingt durch „die von nun an mit unwiderstehlicher Macht sich durchsetzende Verbindung von Lehre und Forschung“247, sei es zu Beginn des 19. Jahrhun240 Paletschek 2002, 184. 241 Vom Brocke 1990, 23. 242 Paulsen 1902, 4. Virchow, sich auf das Studium konzentrierend, spricht von zwei Zielen: „Ziel des Universitätsstudiums“ sei „allgemeine wissenschaftliche und ethische Bildung und volle Kenntniss der Fachwissenschaft.“ (Virchow 1892, 8) Sowohl bei Virchow wie bei Paulsen findet sich die Abgrenzung gegen die „reine Fachschule“. Vgl. Virchow 1892, 25; Paulsen 1902, 2 f. 243 Wachsmuth 1897, 679. 244 Vgl. Heinze 1883. 245 Adolf Trendelenburg (1857): Die überkommene Aufgabe unserer Universität. Aus der Rektoratsrede, in: Weischedel 1960, 380–391, hier 384. 246 Vgl. Virchow 1892, 25. 247 Wundt 1909a, 171.

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derts zum Bruch „mit dem schulmäßigen Lehrbetrieb“248 gekommen. Bis dahin sei die Forschung nur die private Nebenbeschäftigung des Lehrers gewesen, nun würde sie zum Zweck der Universität. Der sich mit Seminar und Labor durchsetzende Forschungsimperativ wird hier also in direkter Verbindung mit der Lehre begriffen. Anfang des 19. Jahrhunderts ist dies keineswegs unumstritten, wie ein kurzer Blick in die Diskussionen zur Gründung der Berliner Universität zeigt. Von Humboldt sind die Aussagen bekannt, daß die „Wissenschaft immer als ein noch nicht ganz aufgelöstes Problem“ zu betrachten sei und man „daher immer im Forschen bleiben“ solle.249 Wissenschaft sei ein Prozess im Werden. Diese Herangehensweise an Wissenschaft – auch wenn selten so prägnant ausgedrückt – ist kein neuer Gedanke, sondern schlicht der Ausdruck neuzeitlicher Wissenschaftspraxis. Umstritten ist die enge Verknüpfung der Institution der Universität mit der Wissenschaft und die Frage, ob Forschung nicht Einrichtungen vorbehalten bleiben soll, in denen keine Ausbildung stattfindet – den Akademien oder akademienähnlichen Institutionen wie den späteren Kaiser-Wilhelm- bzw. Max Planck-Instituten. Während Humboldt selbst die Universität gegenüber der Akademie als Forschungseinrichtung bevorzugt, der „Gang der Wissenschaft“ sei dort lebendiger250, plädiert Hufeland für eine „lehrende Akademie“251. Schleiermacher argumentiert, dass die eigentliche Forschung ihren Platz an den Akademien habe. Dort seien die besten Wissenschaftler und durch sie finde die einzelne Forschung statt.252 Die Universität solle zwar den wissenschaftlichen Geist anregen,253 doch dies heißt für Schleiermacher nicht Forschung, sondern Vermittlung des Einheitssinns der Wissenschaft, Ausbildung des spekulativen Blicks. Er spricht sich explizit dagegen aus, tiefer gehende Forschung an der Universität zu betreiben,254 dies würde den „philosophischen Geist“ brechen. Fichte wiederum führt aus, dass an der Universität Stoffund Methodenbücher (Kunstbücher) gelesen werden müssten. Diese Stoffbücher seien nicht abgeschlossen. Es gilt die „Data weiter auszuarbeiten und zu verbinden und so mehr des bisher noch nicht durchdrungenen Stoffes der Fakta durch den Grundbegriff zu durchdringen“.255 Eigene Erkenntnisse sind in der Vorlesung zu verbreiten; es sei ihr traditionelles Problem, dass hier bloß Gedrucktes wiederholt werde. Sinnvoll sei die Verbesserung des Gedruckten.256 Was bereits im Stoffbuch stehe, gesichertes Wissen, solle den Schülern nicht gelehrt werden.257 Entdeckungen würden wiederum im Wesentlichen an der Akademie gemacht.258 248 249 250 251 252 253 254 255 256 257 258

Wundt 1909a, 171. Humboldt 1809, 274. Humboldt 1809, 280. Christoph Wilhelm Hufeland (undatiert, um 1807): Ideen über eine neu einzurichtende Universität, in: Weischedel 1960, 16–27, hier 23. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1808): Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn, in: Ernst Müller 1990, 159–253, hier 174 und 179. Schleiermacher 1808, 176. Schleiermacher 1808, 182. Fichte 1807, 144 f. Fichte 1807, 59 ff. Fichte 1807, 145. Fichte 1807, 115 f. Schmithals führt aus, daß noch Mitte des 19. Jahrhunderts die Sächsische Akademie in Leipzig als Forschungsinstitution gegründet wurde, während die Universität – im Selbstverständnis der Wissenschaftler – eher die Lehraufgaben übernehmen sollte. Vgl. Friedemann Schmithals (1999): Abstrakte Wissenschaft oder gute Lehre? Der Chemiker Wilhelm Ostwald. Lehre jenseits einer fragwür-

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Sowohl Schleiermacher als auch Fichte denken Lehre und Forschung in der Hinsicht getrennt, dass der Wissenschaftler in seiner Jugend lehren, im Alter hingegen forschen solle.259 Wenn Fichte darüber hinaus schreibt, letzter Zweck des Studierens sei „keineswegs das Wissen, sondern vielmehr die Kunst, das Wissen zu gebrauchen“ und die Universität260 als „Schule der Kunst des wissenschaftlichen Verstandesgebrauches“261 bezeichnet und auch die Prüfungen so gestalten möchte, dass es nicht um Wiedergabe des Wissens geht, sondern um seine Anwendung,262 dann erweist sich dies durchaus als anschlussfähig für institutionelle Entwicklungen wie Seminar und Labor. Doch Fichte denkt nicht in solchen Institutionen, sondern hält – wie auch Schleiermacher, Wolf und wohl auch Humboldt – an der philosophischen Vorlesung, bei ihm im Sinne eines freien Vortrags, fest.263 Dabei ist sie Bedeutung der Vorlesung selbst im 19. Jahrhundert umstritten. Sie nimmt im Pantheon der erfolgreichen Neuerungen keinen hervorragenden Platz ein, sondern wird von Seminar, Labor und Institut überstrahlt.264 Wilhelm Ostwald etwa wertet die ‚klassische‘ Vorlesung ab, sie solle möglichst „durch eine systematische Anleitung zu persönlich abgestuftem Selbststudium“ ersetzt werden.265 Paulsen verteidigt sie gegen den Vorwurf der Passivität, auch wenn er selbst einschätzt, dass es eine Entwicklung weg von der digen Tradition, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte, Band 2, 1999, 23–37, hier 30. 259 Fichte 1807, 112 f; Schleiermacher 1808, 213. Gut 100 Jahre später hat sich diese Einschätzung umgekehrt. Von Wettstein führt auf der Hochschullehrertagung aus, dass es oft vorkäme „dass ein Hochschullehrer mit zunehmendem Alter […] die Fähigkeit der schöpferischen wissenschaftlichen Arbeit einbüßt, aber ein vortrefflicher Lehrer bleibt.“ Richard von Wettstein (1911): Referat, in: Verhandlungen des IV. deutschen Hochschullehrertages in Dresden 1911, Leipzig 1912, 15–23, hier 22. 260 Fichte nennt die ihm vorschwebende Einrichtung nicht „Universität“, sondern „höhere Lehranstalt“. Darin zeigt sich sein Bemühen um eine grundlegende Reform der Institution. 261 Fichte 1807, 62 f. 262 Fichte 1807, 66. 263 Vgl. Schleiermacher 1808, 192; Wolf 1807, 49. Insofern ist es rezeptionsgeschichtlich interessant, daß Walter Rüegg Seminar und Institut als „eigentliches Kernstück des Humboldtschen Universitätsmodells“ bezeichnen kann. Walter Rüegg (2007): Das Autonomieverständnis von Humboldts Universitätsmodell, in: VSH-Bulletin, 1, 2007, URL: http://www.ch-hochschullehrer.ethz.ch/pdfs/2007_01_S17_Rueegg. pdf, Aufruf 16.03.2010. Friedemann Schmithals, auf der anderen Seite, geht so weit, die ‚mangelhafte Lehre‘ als „Humboldts Methode“ zu bezeichnen. (Schmithals 1999, 27) Auch Gert Schubring vertritt die Position, daß die Institution des Seminars nicht den Humboldtschen Intentionen entsprach und dass sich das neue Konzept bei der Heranbildung des forschenden Nachwuchses erst nach Humboldt entwickelte. Humboldt wird hier die Position zugeschrieben, daß die fortgeschrittene Studentenausbildung eher individuell sein sollte und nicht institutionalisiert. Vgl. Schubring 2001, 409 ff. 264 So betont der Berliner Rektor Schwendener, „dass seit zwei bis drei Jahrzehnten ein wesentlicher und immer noch wachsender Teil der Lehrthätigkeit, für einzelne Disziplinen wohl der beste und wichtigste, sich in den Laboratorien, Institutionen und Seminarien concentriert hat. Den einleitenden Vorlesungen ist zwar die Aufgabe geblieben, ein ganzes Wissensgebiet im Zusammenhange darzustellen und dadurch jedem tieferen Eindringen in dasselbe vorzuarbeiten […]. [A]ber das sichere Beobachten, das selbständige Sichten und Combinieren der Thatsachen, das verstandesgemäße Denken, – das alles wird doch hauptsächlich in den eben genannten Instituten, welche der speziellen Pflege des Fachstudiums gewidmet sind, gelehrt und gelernt.“ Simon Schwendener (1887): Über Richtungen und Ziele der mikroskopisch-botanischen Forschung. Rektoratsrede, Berlin 1887, 3 f. 265 Ostwald 1911, 263. Ostwald verallgemeinert hier seine eigenen Erfahrungen. Im ersten Band seiner Lebenserinnerungen betont er wiederholt, dass er sich seine Kenntnisse vorwiegend im Selbststudium angeeignet habe. Vgl. Ostwald 1926.

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Vorlesung hin zum Seminar gegeben hätte.266 Sie solle „fortgehende systematische Darstellung einer Wissenschaft“267 sein, einen systematischen Überblick geben268; und „Führerdienste leisten“.269 Im Gegensatz zum Buch sei sie lebendig und könne durch Experimente viel anschaulicher sein, als jedes Stück Schrift.270 Dazu müsse sie jedoch so wie bei Fichte als „freier Vortrag“271 gestaltet werden und sich an die „Gesprächsform“ annähern272. Schließlich helfe sie auch dem Dozenten, indem sie ihm einen Blick auf das Ganze verschaffe.273 Emil Du Bois-Reymond betont einen anderen, den möglichen öffentlichkeitswirksamen, Aspekt der Vorlesung. Es sei die viel besuchte Kosmos-Vorlesung Alexander von Humboldts im Jahre 1828 gewesen, welche den Anlass zum Aufschwung der Naturwissenschaften in Deutschland gegeben hätte.274 Dass Forschung und Lehre nicht prinzipiell im Einklang stehen müssen, wird beispielsweise aus Emil Fischers Charakterisierung der eigenen Vorlesungspraxis ersichtlich. Auch Fischer kennt einerseits den belebenden Charakter der Schilderung ungelöster Probleme. „Wenn der Zuhörer merkt, daß der Redner nicht nur von allgemein anerkannten Dingen, sondern auch von seinen eigenen geistigen Produkten Einiges hergibt, so wird die persönliche Fühlung mit dem Redner enger, die Aufmerksamkeit gespannter und der geistige Gewinn größer.“275 Auf der anderen Seite kann eine solche Praxis jedoch auch zur Verwirrung führen. Fischer referiert über „ausgewählte Kapitel der theoretischen Chemie.“ […] Das schien auch zu gelingen, aber in der Folge habe ich einen großen Fehler begangen, indem ich die vorgetragenen Lehren einer Kritik unterzog, um das Bleibende als gesetzmäßig Erkanntes zu trennen von allem hypothetischen Beiwerk. […] Für mich selbst war dieser Versuch sicherlich sehr belehrend, aber bei meinen Zuhörern habe ich Unheil angerichtet und einige davon konnten bittere Klagen darüber nicht verschweigen: ‚Wo soll das hin‘, sagten sie zu mir, ‚wenn man nach den Darlegungen eines Professors sich solche theoretischen Kenntnisse mühsam erwirbt, und hinterher erfahren muß, daß vieles doch noch zweifelhaft ist‘. Ich habe daraus die Lehre gezogen, daß man in Vorträgen für Studierende mit der Kritik sehr vorsichtig sein 266 267 268 269 270 271 272 273

Vgl. Paulsen 1902, 79. Paulsen 1902, 237. Vgl. Paulsen 1902, 240. Paulsen 1902, 242. Vgl. Paulsen 1902, 246. Paulsen 1902, 255. Paulsen 1902, 261. Vgl. Paulsen 1902, 247. Eine eigene Geschichte besitzt die physikalische Experimentalvorlesung. Diese ist keine Erfindung des 19. Jahrhunderts, sondern reicht in ihren Anfängen bis ins 17. Jahrhundert zurück. Dieser Abkunft nach war sie bis weit ins 19. Jahrhundert hinein eher ein Unterhaltungsmittel, in der die Professoren versuchten, mit möglichst spektakulären Experimenten bei den Zuhörenden Interesse zu finden. Vgl. Stichweh 1984, 345–356. Trotz dieser Beobachtung, erfahren viele Ordinarien im 19. Jahrhundert die Experimentalvorlesung durchaus als Neuland. So schildert du Bois-Reymond, dass es um 1840 noch kaum Versuche in den Vorlesungen gegeben hätte. Die benötigten Instrumente hätten oft selbst hergestellt werden müssen. „Wir sägten, hobelten und bohrten, wir feilten, drechselten und schliffen.“ (du Bois-Reymond 1877a, 634). 274 Vgl. du Bois-Reymond 1883, 408 f. 275 Fischer 1918, 78.

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muß und am besten nur Dinge bringt, die als sicherer oder vermeintlich sicherer Besitz der Wissenschaft gelten.“276 Probleme solcher Art sind es jedoch nicht, die ab den 1880er Jahren die Einheit von Lehre und Forschung fragwürdig werden lassen. Stattdessen ist es das Wachstum der Institution Universität, welches in verschiedenen Hinsichten die Einheit bedroht. Auf individueller Ebene fühlen sich viele Ordinarien durch die Doppelbelastung überfordert. Auf institutioneller Ebene wird wegen der zunehmend aufwändigeren Forschung die Universität als geeigneter institutioneller Rahmen in Frage gestellt. Hinzu tritt eine sich immer weiter ausdifferenzierende Wissenschaftslandschaft, deren Disziplinen nicht mehr alle in die Universität integrierbar scheinen. Als bedeutender Vorteil der Einheit von Lehre und Forschung wird oftmals das persönliche Verhältnis von Lehrer-Schüler Verhältnis genannt. Wilhelm Ostwald schreibt, man könne „gar keinen günstigeren Entwicklungsboden denken, als die Mitarbeit an der Forschertätigkeit eines schöpferischen Geistes“.277 Doch zumindest an den großen Universitäten sei – so Virchow 1892 –, „die persönliche Einwirkung des Lehrers auf den einzelnen Schüler naturgemäß eine sehr beschränkte“.278 Man kann sich dies vor Augen führen, wenn man Emil Fischers Aussagen folgt, der von 1879 bis 1881 als außerordentlicher Professor für analytische Chemie in München tätig war. „Da an der Universität München nur ein einziges chemisches Institut bestand, so wurde dasselbe nicht allein von Chemikern, sondern noch viel mehr von Apothekern und Medizinern in Anspruch genommen. […] Zu meiner Zeit betrug die Zahl der Praktikanten […] etwa 150. Da mir die Aufsicht über das Ganze anvertraut war, so konnte ich dem einzelnen Studierenden immer nur einige Minuten widmen und selbst mit dieser Einschränkung dauerte der Rundgang durch beide Säle etwa zwei Tage.“279 Die Konsequenz der stetig steigenden Studentenzahlen war zum einen eine erhöhte Arbeitsbelastung der Professoren – vom Brocke berichtet von Nervenzusammenbrüchen wegen Überarbeitung –,280 zum anderen die nachlassenden Förderungsmöglichkeiten der einzelnen Studierenden. Früh griffen die Ordinarien auf ihre Assistenten als Pufferinstanz zurück. „Mein Hauptaugenmerk mußte darauf gerichtet sein, die Assistenten zu einer verständigen Tätigkeit anzuhalten.“281 276 Fischer 1918, 79. Fischer greift hier am praktischen Beispiel und – wie es scheint – ohne grundsätzlichen Anspruch Aspekte der Argumentation Virchows wieder auf. 277 Wilhelm Ostwald (1911): Die Universitäten der Zukunft und die Zukunft der Universitäten, in: Annalen der Naturphilosophie 10 (1911), 256–269, 262. 278 Virchow 1892, 9. Auch Wilhelm Ostwald konstatiert 1930 rückblickend, dass die Blüte der naturwissenschaftlichen Forschung an den Universitäten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelegen habe. Der Laborunterricht sei jedoch bald bei der hohen Zahl der Studierenden schwieriger geworden, da ein unmittelbarer Kontakt zwischen Lehrer und Student kaum noch hergestellt hätte werden können. Vgl. Wilhelm Ostwald (1930): Naturwissenschaftliche Forschungsanstalten, in: Ludolph Brauer u. A. (Hg.): Forschungsinstitute. Ihre Geschichte, Organisation und Ziele, 2 Bände, Hamburg 1930, Bd. 1, 66–92, hier 85. 279 Fischer 1918, 81. 280 Vgl. vom Brocke 1990, 87f. Erwähnt werden Emil Fischer und Wilhelm Ostwald. 281 Fischer 1918, 81 f.

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Allerdings erwies sich diese Maßnahme als nicht ausreichend.282 Der preußische Ministerialdirektor Althoff versuchte, dem Problem der Überlastung zunächst individuell zu begegnen, indem die Lehrdeputate bestimmter Ordinarien verringert wurden.283 Ebenso gab es Bemühungen, Forschungsprofessuren einzurichten – im Falle des Chemikers van’t Hoff, war dies 1896 auch erfolgreich. Im Großen brachten diese inneruniversitären Maßnahmen jedoch keine Linderung des Reformdruckes. Nach der Schilderung Lenoirs wurden Althoff so die „allmählich nur noch unzulänglichen Möglichkeiten“ der Labore an den deutschen Universitäten klar.284 Daher setzte er auf die Möglichkeit der „Trennung von Lehre und Forschung durch den Aufbau staatlich unterstützter Forschungseinrichtungen“.285 Zunehmend entstanden außeruniversitäre Forschungsinstitute.286 Vor allem die Gründung der „Physikalisch-Technischen Reichsanstalt“ (PTR) 1887 gilt als Zäsur.287 Diese fungierte „als technische Prüfanstalt und Zentrum physikalischer Grundlagenforschung“.288 Bedeutend ist auch das „Preußische Institut für Infektionskrankheiten“, das 1891 entstand. Sein Gründungsdirektor und heutiger Namensgeber Robert Koch schrieb bereits 1886 in der ersten Ausgabe der von ihm herausgegebenen „Zeitschrift für Hygiene“ von der Bedeutung der „Begründung eigener Institute“, die es ermöglichen „in der neuen Richtung energisch und erfolgreich vorzugehen“.289 In der Etablierung des Instituts für Infektionskrankheiten reflektiert sich ein weiterer Grund für die Entstehung universitätsexterner Forschungsanstalten. In seinem Zweck war es so spezialisiert, dass es in den universitären Rahmen nur noch bedingt hineinpasste. Für die anorganische Chemie hat Jeffrey A. Johnson die Argumente untersucht, die herangezogen wurden, um ein der PTR analoges Institut, die chemische Reichsanstalt, zu etablieren.290 Auch hier spielte die Ausdifferenzierung der Wissenschaften eine wichtige Rolle. In Deutschland hatte sich die organische Chemie an den universitären Institutionen als führend etabliert.291 Als sich um 1900 eine Konjunktur der physikalischen Chemie anbahnte, waren die Universitätsinstitute zu träge, um sich anzupassen.292 Die sich neu vertiefende Forschungsrichtung stellte höhere Anforderungen an die Apparate und die Ausbildung der Wissenschaftler.293 Darüber hinaus ließ die hierarchische Struktur der bestehenden Institute mit einem Ordinarius an der Spitze eine Ausweitung der Forschung in andere Richtungen 282 283 284 285 286 287 288 289 290

Ostwald 1930, 85. Vgl. vom Brocke 1990, 87 f. Lenoir 1992, 112. Lenoir 1992, 113. Für eine Aufzählung von Forschungsinstituten vor 1905 siehe vom Brocke 1990, 89. Vom Brocke 1990, 90. Vgl. auch Pfetsch 1974, 109–123. Vom Brocke 1990, 90. Robert Koch (1886): Zur Einführung, in: Zeitschrift für Hygiene, No.1, 1886, 1–2, 1. Jeffrey A. Johnson (1990): Vom Plan einer chemischen Reichsanstalt zum ersten Kaiser-Wilhelm Institut: Emil Fischer, in: Vierhaus und vom Brocke 1990, 486–515. 291 Johnson 1990, 487. Leipzig bildet hier mit zwei Instituten eine Ausnahme. Das „Physikalisch-Chemische Institut“ wurde 1870 so benannt. Gustav Wiedemann erhielt hier 1871 den ersten Lehrstuhl für physikalische Chemie in Deutschland. Vgl. Lothar Beyer und Helmut Papp (Leitung) (2009): Chemie und Mineralogie, in: Ulrich von Hehl et al. von der Senatskommission zur Erforschung der Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte (Hg.): Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009. Bd. 4,1 u. 4,2. Fakultäten, Institute, zentrale Einrichtungen, Leipzig 2009, 1335–1408, hier 1342 f. 292 Johnson 1990, 488. 293 Johnson 1990, 488 f.

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oftmals nicht zu. Wesentlich war aber letztendlich, dass die deutschen Einzelstaaten das Geld nicht aufbringen konnten oder wollten, um mehrere chemische Institute an einer Universität zu unterhalten. Die Gründung einer chemischen Reichsanstalt scheiterte zwar, die Planungen für sie können aber als Vorlauf für die sich schließlich 1911 etablierende „Kaiser-WilhelmGesellschaft zur Förderung der Wissenschaften“ mit den dazugehörigen Kaiser-WilhelmInstituten verstanden werden.294 Eine in mehrerer Hinsicht mustergültige Argumentation für die Einrichtung außeruniversitärer Forschungseinrichtungen stellt die 1909 verfasste Denkschrift zur Begründung von Forschungsinstituten des Theologen und Wissenschaftsorganisators Adolf von Harnack dar. Harnack setzt sich in dieser für die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ein. Die Bedeutung des Topos der Einheit von Forschung und Lehre zeigt sich darin, dass Harnack gar nicht anders kann, als ihn zu affirmieren. Er nennt zwei Grundsätze der Organisation der Wissenschaft in Preußen. Der erst lautet „Forschung und Unterricht müssen auf engste verbunden sein.“295 Harnack meint also, nur auf dieser allgemein akzeptierten Grundlage argumentieren zu können. Mit dem zweiten Grundsatz erweitert er jedoch das wissenschaftliche Institutionenspektrum über die Universität hinaus. „[D]er vollständige und sichere Betrieb der Wissenschaften bedarf Akademien, Universitäten und relativ selbständige Forschungsinstitute.“296 Harnacks rhetorisches Geschick zeigt sich in der Hinzuziehung Wilhelm von Humboldts als Kronzeugen. Er betont gleich im ersten Satz der Schrift, dass die „Organisation der Wissenschaft […] in Preußen […] auf den Gedanken und Grundsätzen Wilhelm von Humboldts“ beruht.297 Dies ist oftmals als Zugeständnis an die Bedeutung Humboldts als Begründer der deutschen Universitätsidee gedeutet worden, neuere Forschungen haben jedoch einen komplexeren Sachverhalt nachgewiesen.298 Harnack berief sich demnach mit der Bezugnahme auf Humboldt auf die neuhumanistische Tradition und suggerierte historische Tiefe und eine konservative Grundausrichtung. Doch tatsächlich wurde Humboldts Denkschrift erst ein Jahrzehnt vor Harnacks Schreiben entdeckt und Humboldt selbst im 19. Jahrhundert zwar als Organisator der preußischen Bildungsreform Anfang des Jahrhunderts gewürdigt, nicht jedoch als deren Ideengeber. Harnack ist damit einer derjenigen, die Humboldts Schlagworte erst bekannt machen. Er ist Stifter der Tradition, auf die er sich beruft. 294 Zur Gründungsgeschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft existieren mehrere Studien. Vgl. etwa Lothar Burchardt (1975): Wissenschaftspolitik im Wilhelminischen Deutschland. Vorgeschichte, Gründung und Aufbau der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, Göttingen; Vierhaus und vom Brocke 1990; Wendel 1975. 295 Von Harnack 1909, 447. 296 Von Harnack 1909, 447. 297 Von Harnack 1909, 446. 298 Zentral ist dabei der Aufsatz von Sylvia Paletschek (2001): Verbreitete sich ein „Humboldt’sches Modell“ an den deutschen Universitäten im 19. Jahrhundert? in: Schwinges 2001, 75–104. Auf Fragen des Humboldtbezugs im 20. Jahrhundert geht bereits der Tagungsband von Mitchell G. Ash (Hg.): Mythos Humboldt. Vergangenheit und Gegenwart der deutschen Universitäten, Wien 1999 ein. Aufgegriffen wird der Aufsatz von Paletschek etwa von Markus Huttner (2004): Der Mythos Humboldt auf dem Prüfstand. Neue Studien zu Wirklichkeit und Wirkkraft des (preußisch-)deutschen Universitätsmodells im 19. und 20. Jahrhundert, in: Ders., Gesammelte Studien zur Zeit- und Universitätsgeschichte, Münster 2007, 219–230.

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Harnack argumentiert dabei an der äußersten Grenze des Interpretationsspielraums. Er erwähnt nur eine der beiden Bezeichnungen Humboldts für die Forschungsinstitute, das „Hilfsinstitut“, nicht jedoch das „leblose Institut“299. So kann er besser suggerieren, dass er hier lediglich eine Humboldtsche Idee umzusetzen plant, während er diesen in zumindest einer Hinsicht entgegenhandelt. Alles, was man aus den wenigen Zeilen, die Humboldt diesen Instituten widmet, herauslesen kann, spricht dafür, dass es sich bei den „leblosen Instituten“ um Einrichtungen handelt, die von Wissenschaftlern der Universität wie der Akademie benutzt werden sollen, jedoch nicht um solche, die mit eigenem Personal „belebt“ werden müssten.300 Die zweite rhetorische Strategie, auf die Harnack zurückgreift, ist der internationale Vergleich. Anders als die Herausbildung der Forschungsuniversität war die zunehmende Gründung von Forschungsinstituten kein nationaler, sondern ein internationaler Prozess.301 Der Konkurrenzkampf zwischen den „Kulturnationen“ fand hier Ausdruck und alle Beteiligten waren eifrig darauf bedacht, den Anschluss an die Entwicklung nicht zu verlieren. Rhetorisches Standardargument war demnach die reale oder virtuelle Bedrohung der eigenen Vormachtstellung im wissenschaftlichen Bereich. Harnack betont, dass die deutsche Wissenschaft zwar nicht generell, doch „auf wichtigen Linien der Naturforschung hinter der andere Länder zurückgeblieben“ und „in ihrer Konkurrenzfähigkeit auf schärfste bedroht“ sei.302 Besonders die Vereinigten Staaten erwiesen sich oft als überlegen. Verhängnisvoll sei dies deshalb, weil die Wissenschaft nicht allein einen wirtschaftlichen Faktor darstelle, sondern auch einen „national-politisch[en]“303. Harnack vermutet mehrere Gründe für diese Entwicklung, fokussiert aber „ein entscheidendes Versäumnis“304: „Die Errichtung von Forschungsinstituten, wie sie einem Humboldt als dritter Faktor in der wissenschaftlichen Gesamtanstalt vorschwebten, hat in Preußen und Deutschland nicht Schritt gehalten mir der großen Entwicklung der Wissenschaft.“305 Die „großen anderen Kulturnationen haben die Zeichen der Zeit erkannt, und sie haben in den letzten Jahren ungeheure Aufwendungen für die Förderung der naturwissenschaftlichen Forschung gemacht“. Es wurden Institute gegründet „frei von jeglicher Verpflichtung zum Unterrichte“.306 Eine einhellige (negative) Reaktion der Universitäten auf die Pläne zur Errichtung von Forschungsinstituten gab es nicht, zumal die Forderungen nach ihnen überwiegend aus dem 299 Humboldt 1809, 283. 300 Bei Jürgen Kuczynski findet sich dazu der Kommentar. „Manche Wissenschaftsorganisatoren meinen heute, dass die Humboldtschen Hilfsinstitute als Vorgänger der modernen Forschungsinstitute etwas an den Haaren herbeigezogen sind. Aber ganz abgesehen davon, dass die Haare sehr schön sind, meine ich, dass ein solcher Bezug erlaubt ist.“ Jürgen Kuczynski (1975): Das Rätsel der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, in: Ders.: Studien zu einer Geschichte der Gesellschaftswissenschaften. Bd. 2, Berlin, 170–208, 176. Kuczynski vertritt die Position, dass auch die Humboldtschen Hilfsinstitute „hauptberufliche Forscher“ anstellten. (ebd. 177) 301 Vgl. vom Brocke 1990, 25. 302 Von Harnack 1909, 448. 303 Von Harnack 1909, 448. 304 Von Harnack 1909, 449. 305 Von Harnack 1909, 449. 306 Von Harnack 1909, 551. Darüber hinaus nennt Harnack auch einige der oben erwähnten Argumente. Ganze Disziplinen passten in den Rahmen der Hochschulen nicht mehr hinein. Die Apparate seien zu teuer geworden und nur noch von „jungen Gelehrten“ zu meistern, nicht mehr von Studenten. Vgl. von Harnack 1909, 449.

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universitären Spektrum selbst kamen.307 Vom Brocke berichtet von einer Angst der Universitäten vor Bedeutungsverlust.308 Diese ist auch auf dem IV. deutschen Hochschullehrertag 1911 in Dresden spürbar. Eine generelle Ablehnung von Forschungsinstituten ohne Lehrverpflichtung wird dort jedoch nicht artikuliert. Stattdessen kann man von einer vorsichtigen Zustimmung sprechen. Der Hauptredner, von Wettstein, der in vielen Punkten die Meinung der Teilnehmer ausdrückt, bemerkt, generell „haben wir allen Grund, die Begründung selbständiger Forschungsinstitute mit größter Freude und Dankbarkeit zu begrüßen.“309 Er erwähnt jedoch auch ein „Unbehagen“, welches „in vielen Hochschulkreisen“ zu beobachten sei.310 Besorgnis gebe es wegen einer zukünftig möglichen Benachteiligung der Universitäten hinsichtlich der finanziellen und technischen Ausstattung. In seinen Bedenken am weitesten geht der Ordinarius der Technischen Hochschule Hannover Georg Barkhausen, der die Gefahr von reinen Unterrichtsanstalten gegeben sieht.311 Von Wettstein findet schließlich die Formel, dass die Forschungsinstitute eine „notwendige Ergänzung unserer Hochschulen bilden […], aber nicht in wissenschaftlicher Hinsicht an ihre Stelle treten“ sollen.312 Der Hauptstreitpunkt der Versammlung betrifft das institutionelle Verhältnis zwischen Universität und Forschungsinstituten.313 Von Wettstein spricht sich gegen eine Angliederung der Forschungsinstitute an die Hochschulen aus314 und trifft damit – orientiert man sich an den Wortmeldungen und den Beifallsbekundungen – nicht die Stimmung der Mehrheit. Sein wesentliches Argument ist, dass bei einer Integration der Institutsdirektoren in die Fakultäten Professoren zweierlei Rechts geschaffen würden. Es gäbe dann Ordinarien mit Lehr- und Prüfverpflichtung und solche ohne Pflichten, die dennoch eine Stimme im Fakultätsrat hätten.315 Die Vorteile einer Verbindung von Forschungsinstitut und Universität – die Nutzung ihrer Kapazitäten durch die Universitäten sowie die Möglichkeit der Lehre durch Personal der Forschungsinstitute – würden sich auch ohne eine personelle Verknüpfung der Institutionen ergeben.316 Für eine Personalunion plädiert etwa Karl Binding – auch wenn er gewisse Schwierigkeiten auf Grund einer neuen Doppelbelastung eingesteht.317 Die geisteswissenschaftlichen Forschungsinstitute seien eine „innere notwendige Ergänzung“318 der bestehenden Seminare 307 Auf die bedeutende Rolle der Industrie möchte ich in diesem Zusammenhang nicht eingehen. Vgl. dazu Burchardt 1975; Kuczynski 1975; Wendel 1975. 308 Vom Brocke 1990, 65. 309 Von Wettstein 1911, 16. Als Begründung führt er einerseits das bekannte Argument an, wonach neue Disziplinen in ihnen besser aufgehoben seien. Auch seien Menschen ohne Lehrbefähigung dort besser untergebracht. Die Freiheit von den universitären Traditionen sei ebenfalls ein möglicher Pluspunkt. Schließlich könnten oppositionelle wissenschaftliche Anschauungen gezielt gefördert werden. Vgl. ebd. 16 f. 310 Von Wettstein 1911, 17 f. 311 Georg Barkhausen (1911): Redebeitrag, in: Verhandlungen des IV. deutschen Hochschullehrertages in Dresden 1911, Leipzig 1912, 40–41. 312 Von Wettstein 1911, 18. 313 Vom Brocke kommt zu dem Schluss, dass es Reaktionen aus universitären Kreisen waren, die eine personelle Integration der Institutsleiter in die Universität verhinderten. Vgl. vom Brocke 1990, 65. 314 Von Wettstein 1911, 18 f. 315 Von Wettstein 1911, 19. 316 Von Wettstein 1911, 20. 317 Karl Binding (1911): Redebeitrag, in: Verhandlungen des IV. deutschen Hochschullehrertages in Dresden 1911, Leipzig 1912, 35–37. 318 Binding 1911, 37.

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und dienten vor allem der Anregung der Produktivität der Gelehrten. Karl Lamprecht – dessen Name mit der Gründung der ersten geisteswissenschaftlichen Forschungsinstitute in Deutschland verbunden ist –319 plädiert ebenfalls für eine enge Bindung von Universität und Institut, für einen „organischen Zusammenhang“.320 In diesem Sinne bezeichnet er die Pläne zur Gründung der Kaiser-Wilhelm-Institute als „dilettantisch“.321 Die Institute „müssen von unten wachsen“322, die Seminare seien ihre „Zelle“.323 Am Beispiel seines Instituts für Universalgeschichte führt Lamprecht kurz aus, was darunter zu verstehen ist. Die 25 Übungen, die dort abgehalten würden, teilten sich in Gruppen, die verschiedene Anforderungsgrade hätten. Erst zur vierten Gruppe, zur vergleichenden Kulturgeschichte, gehörten „eigentlich Forschungsinstituts-Studien“.324 Eine klare Frontstellung zwischen Befürwortern und Gegnern von Ordinariaten mit und ohne Lehrverpflichtung konstruiert Wilhelm Ostwald.325 Dieser hatte aufgrund von Überlastungssymptomen immer wieder Anläufe genommen, sich von der Verpflichtung zur Vorlesung an der Universität Leipzig entbinden zu lassen. Nach recht komplizierten Verhandlungen verweigerte die Fakultät ihm dieses Privileg. Blecher merkt an, dass die „Mehrheitsmeinung der Geisteswissenschaftler […] in der beantragten Freistellung […] eine prinzipiell mit dem Universitätsbetrieb nicht zu vereinbarende Angelegen319 Auf Lamprechts Initiative wurden 1914 unter der Trägerschaft der König Friedrich August-Stiftung in Leipzig die ersten geisteswissenschaftlichen Forschungsinstitute Deutschlands eröffnet. 320 Karl Lamprecht (1911): Redebeitrag, in: Verhandlungen des IV. deutschen Hochschullehrertages in Dresden 1911, Leipzig 1912, 4–44, hier 43. Insofern ist die Einschätzung Stichwehs zu ergänzen, dass es nach 1870 verpasst wurde das Seminar in eine Graduiertenschule umzubilden. Vgl. Stichweh 1984, 375. Forderungen danach gab es durchaus, sie setzten sich lediglich nicht durch. 321 Lamprecht 1911, 40. 322 Lamprecht 1911, 42. 323 Lamprecht 1911, 44. 324 Lamprecht 1911, 43. Darüber hinaus charakterisiert Lamprecht sein Institut als republikanisch organisiert, nicht autokratisch. (ebd., 44) Die Mitarbeiter „werden in vielfachen Gesprächen hin- und hergeleitet werden müssen und leiten ihrerseits wieder den Chef.“ (ebd., 44 f.) Lamprecht weicht damit vom sogenannten Harnackprinzip ab, welches dem Institutsdirektor eine quasi diktatorische Position einräumt. Welches Organisationsmodell angemessener ist, ist umstritten. In einem Sammelband aus dem Jahre 1930 wird die zentrale Schwierigkeit des Harnackprinzips angedeutet: Der Erfolg der Institute hänge einzig von den Fähigkeiten seines Direktors ab. Vgl. Ludolph Brauer u. A. (1930): Vorwort der Herausgeber, in: Dies. 1930, IX–XVI, hier XIV. Die herausragende Stellung des Direktors entspricht der typischen des Institutsleiters an den universitätsinternen Instituten des 19. Jahrhunderts. Jeffrey A. Johnson sieht in ihr einen der wesentlichen Gründe dafür, warum die Naturwissenschaften in Deutschland – hier am Beispiel der Chemie – letztlich doch wieder ins Hintertreffen gerieten. „Unfortunately the success or failure of a second-generation institute depended almost wholly on the personality of one man. The director had to be ‘a cross between gospel preacher, father of an orphans’ home, and businessman, besides which he must above all carry on research.’ So wrote Jacobus H. van’t Hoff“. (Jeffrey A. Johnson 1985, 509. Vgl. auch Ben-David 1971, 125 ff.) Folgt man diesen Einschätzungen, dann scheint Wilhelm Wundts Labor in Leipzig eine Ausnahme gewesen zu sein. Kurt Danziger betont, wie sehr dort der kooperative Aspekt im Vordergrund gestanden hätte. „[T]here was a definite community of investigators who worked on a range of related topics within an overall conceptual framework provided by Wundt.“ Kurt Danziger (1990): William Wundt and the emergence of experimental psychology, in: R. C. Olby, G. N. Cantor, J. R. R. Christie and M. J. S. Hodge (Hg.): Company to the History of Modern Science, London 1990, 396–409, 402. 325 Vgl. Wilhelm Ostwald (1911): Die Universitäten der Zukunft und die Zukunft der Universitäten, in: Annalen der Naturphilosophie 10 (1911), 256–269.

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heit“326 sah. Ostwald selbst greift das Argument auf, dass die Einrichtung von Forschungsprofessuren zu Ordinarien erster und zweiter Klasse führen würde und kontert es mit der bösen Bemerkung, dass dies doch bereits jetzt der Realität entspreche und sich institutionell dementsprechend auch widerspiegeln solle.327 Ostwalds Angriff auf die traditionelle Universität ist umfassend. Er setzt an der doppelten Funktion der Universität als Ausbildungsstätte und als Forschungsstätte an. Es gebe schlicht zwei Zwecke des Unterrichts an den Universitäten. Die „Ausbildung für das Amt“ und die „Einführung in die Technik des Entdeckens“.328 Er plädiert für die Einrichtungen zwei voneinander getrennter Institutionen. „Es handelt sich um die Trennung des regelmäßigen Unterrichts für die wissenschaftlichen Berufe, der auf die Übermittlung bestimmter Kenntnisse und Fertigkeiten ausgeht, von dem persönlichen Unterrichte, der sich auf die spezielle Ausbildung zu schöpferischer wissenschaftlicher Arbeit bezieht.“329 Die „Fachschule“ stelle dabei die Vorbereitung auf die „Forschungsschule“ dar.330 In letzterer sollten Forschung und Lehre nicht mehr getrennt sein.331 Ostwald greift für seine Argumentation auf den tradierten Universitätsbegriff zurück, wendet ihn aber gegen jene, die ihn herkömmlicher Weise affirmieren. Bei Ostwald zeigt sich so in aller Deutlichkeit die Unschärfe des Begriffes der Universität. Sie besteht für ihn aus den korporativen Entscheidungsgremien, d. h. vor allem aus Fakultät und Senat. Diese wären für die Forschung aber gar nicht maßgebend. Institute, Labore und – wie man hinzufügen kann – Seminare unterstehen diesen Gremien nicht und gehören damit auch nicht zur Fakultät. Die bestehenden Forschungsanstalten seien keine korporativen Einrichtungen, sondern beruhten auf einer „bestimmten Persönlichkeit“.332 Ostwalds eigene Erinnerungen unterstreichen diese Sichtweise. „Die geringe Festigkeit meines persönlichen Verhältnisses zur Fakultät war weitgehend dadurch bedingt, daß grundsätzlich alle Angelegenheiten, welche die Institute betrafen, nicht durch die Fakultät gingen, sondern unmittelbar zwischen dem Ministerium und dem Institutsleiter verhandelt wurden.“333 Da die Forschung in diesem Sinne außerhalb der Fakultäten stattfinde, sei sie de facto bereits jetzt nicht an den universitären Rahmen gebunden und könne auch de jure aus ihm gelöst werden.334 2.2.2 Reine und angewandte Wissenschaft Eng mit der Diskussion der Zwecke der Universität verbunden ist die Frage nach dem Zweck von Wissenschaft und Forschung. Begreift man die Universitäten als Forschungseinrichtungen, stellt sich die Folgefrage, zu welchem Zweck diese Forschung eigentlich betrieben 326 Blecher 2010, 689. Zu den Vorgängen um Ostwalds Verlassen der Universität siehe 688–690. Vgl. auch: Ostwald 1927a, 441 ff. 327 Ostwald 1911, 262. 328 Ostwald 1911, 262. Aus Ostwalds Vorschlag ließen sich Bachelor und Master entwickeln. 329 Ostwald 1911, 262. 330 Ostwald 1911, 263. 331 Ostwald 1911, 262. 332 Ostwald 1911, 264. Anders als Lamprecht affirmiert Ostwald damit das Harnackprinzip. 333 Ostwald 1927a, 442 f. 334 Ostwald 1911, 260 f.

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wird.335 Ist Forschung erst durch ihre Anwendbarkeit in der Praxis gerechtfertigt oder liegt in der Erkenntnis der Welt bereits selbst ein Legitimationsmoment.336 Es stehen sich zwei handlungsleitende Imperative gegenüber. Der Leipziger Jurist Windscheid charakterisiert 1884 die „letzten Ziele der Rechtswissenschaft [als] praktische Ziele“.337 Dies sei gut so. „Es ist schön, sich im Äther der reinen Erkenntnis zu wiegen; es ist schöner, für das Wohl der Menschheit zu arbeiten.“338 Der Psychologe Paul Flechsig postuliert 1894 hingegen, dass es ein „wissenschaftliches, über die unmittelbaren praktischen Bedürfnisse hinausstrebendes Denken in der Medicin“339 gebe. Die „edelste Seite unseres Wesens“ sei der „Erkenntnistrieb“.340 Auf der einen Seite steht damit die Idee nützlicher Wissenschaft – hier verbunden mit der hehren Idee des „Wohles der Menschheit“ – auf der anderen die anthropologische Bestimmung des Menschen als homo contemplativus, der „reine“ Wissenschaft betreibt und darin seinen Daseinszweck verwirklicht. Die Vermittlung dieser beiden Konzepte gelingt nicht immer. Werner von Siemens, der dem eigenen Selbstbild nach sein Leben lang „als Mann der Wissenschaft wie als Techniker“341 agierte, betont einerseits, „daß die Wissenschaft nicht ihrer selbst wegen bestehe zur Befriedigung des Wissensdranges der beschränkten Zahl ihrer Bekenner, sondern daß ihre Aufgabe die sei, den Schatz des Wissens und Könnens des Menschengeschlechtes zu vergrößern und dasselbe dadurch einer höheren Kulturstufe zuzuführen.“342 Andererseits gesteht er ein, dass „wissenschaftliche Forschung nicht Mittel zum Zweck sein“343 dürfe und dass „gerade der deutsche Gelehrte […] sich von jeher dadurch ausgezeichnet [hat], daß er die Wissenschaft ihrer selbst wegen, zur Befriedigung seines Wissensdranges betreibt, und in diesem Sinne habe auch ich mich stets mehr den Gelehrten wie den Technikern beizählen können, da der zu erwartende Nutzen mich nicht oder doch nur in besonderen Fällen bei der Wahl meiner wissenschaftlichen Arbeiten geleitet hat.“344 Im Groben lassen sich der Trennung verschiedene institutionelle Spaltungen innerhalb und außerhalb der Universität zuordnen. Die Geschichte der Universität des 19. Jahrhunderts345 ist auch eine Auseinandersetzung darum, welche Wissenschaft welcher Institution und damit welcher Richtung zuzuordnen sei. Als eigentliche Hochburg der ‚reinen‘ Wissen335 Hier ließe sich die Frage nach der Bedeutung der technischen Hochschulen und ihrer möglichen Integration in die Universitäten stellen, die aber weiter unten unter der Überschrift der Einheit der Wissenschaften diskutiert werden soll. 336 Immanuel Lazarus Fuchs (1899): Über das Verhältniss der exacten Naturwissenschaft zur Praxis. Rede bei Antritt des Rectorates gehalten in der Aula der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität am 15. October, Berlin; Gustav Robert Kirchhoff (1865): Ueber das Ziel der Naturwissenschaften. Vortrag zum Geburtsfeste des höchstseligen Grossherzogs Karl Friedrich von Baden und zur akademischen Preisvertheilung am 22. November, Heidelberg. 337 Windscheid 1884, 379. 338 Windscheid 1884, 379. 339 Paul Flechsig (1894): Gehirn und Seele, in: Häuser 2009, 601–618, 601. 340 Flechsig 1894, 617. 341 Werner von Siemens (1892): Lebenserinnerungen, Berlin, 79. Siemens 1892, 79 f. 342 Siemens 1892, 269. 343 Siemens 1892, 269. 344 Siemens 1892, 269. 345 Die Kategorie des Nützlichen hatte dabei noch im 18. Jahrhundert das wenig umstrittene Primat an den Universitäten. Nach dem Narrativ von Paulsen ist es erst das Zeitalter Goethes, welches Bildung und Wissen als sich selbst Wertvolles aufzufassen beginnt. Vgl. Paulsen 1919, 191 ff.

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schaften gilt die philosophische Fakultät mit den ihr angeschlossenen Laboren, Instituten und Seminaren. Anwendungsorientierter sind hingegen die drei ‚höheren Fakultäten‘ der Theologie, Rechtswissenschaften und Medizin. Im Wesentlichen außerhalb des universitären Rahmens stehen die betriebswirtschaftlichen und technischen Fächer, die in den Technischen Hochschulen und – ab dem Ende des 19. Jahrhunderts – in Handelshochschulen instituiert sind.346 Interessanter sind jedoch vielleicht diejenigen Wissenschaften, die nicht eindeutig einem Gebiet zuzuordnen sind. Eine Wissenschaft, die im 19. Jahrhundert besonders im Spannungsfeld zwischen ‚Reinheit‘ und Anwendung steht, ist die Chemie.347 Die sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelnde chemische Industrie ist einer der ersten erfolgreichen modernen Industriezweige Deutschlands. Ihren Ursprung findet sie wesentlich im universitären Bereich. Die produzierten Waren – etwa Farbstoffe und Dünger – werden teilweise in Universitätslaboren entwickelt; die Gründer bedeutender chemischer Betriebe besitzen eine universitäre Ausbildung; und auch nach ihrer Etablierung ist ein reger personeller, monetärer und ideeller Austausch zwischen Industrie und Universität zu beobachten.348 Als einflussreichster Vertreter der chemischen Wissenschaften um die Mitte des 19. Jahrhunderts kann Justus Liebig bezeichnet werden. Die Gründer der deutschen chemischen Industrie sind im Wesentlichen seine Schüler.349 Seine Forschungen stehen in jenem Grenzbereich zwischen reiner Wissenschaft und Anwendungsorientierung, die die Chemie im Gesamten auszeichnet. Als Wissenschaftsorganisator und -lobbyist finden sich in seinen Schriften zudem immer wieder Reflexionen auf besagtes Verhältnis. Blickt man zuerst auf Liebigs „Chemische Briefe“350, die von 1844 an in immer neuen Ausgaben veröffentlicht wurden, so findet sich in der Vorrede zur ersten Auflage kein eindeu346 Vgl. Hans Bunte (1896): Wissenschaftliche Forschung und chemische Technik. Festrede bei dem feierlichen Akte des Rektorats-Wechsels an der Badischen Technischen Hochschule zu Karlsruhe am 31. Oktober, Karlsruhe; Otto Kammerer (1903): Ist die Unfreiheit unserer Kultur eine Folge der Ingenieurskunst? Rede zum Geburtsfeste Seiner Majestät des Kaisers und Königs Wilhelm II. in der Halle der Königlich Technischen Hochschule zu Berlin am 26. Januar, Berlin; Johannes Thiele (1904): Reine und technische Chemie. Rede zur Feier des Geburtstages Seiner Majestät des Kaisers am 27. Januar in der Aula der Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg, Straßburg; Hugo Hartung (1909): Die wissenschaftlichen Grundlagen des technischen Hochschulunterrichtes. Vortrag bei dem Antritt des Rektorats am 1. März. In: Bericht über die Königlich Sächsische Technische Hochschule zu Dresden für das Studien-Jahr 1908/09. Dresden 1909, 45–48; Georg Ferdinand Helm (1910): Die Stellung der Theorie in Naturwissenschaft und Technik. Festrede zur Feier des Geburtstages Seiner Majestät des Königs am 25. Mai, in: Bericht über die Königlich Sächsische Technische Hochschule zu Dresden für das StudienJahr 1910/11. Dresden 1911, 33–40. 347 Um 1860 – erst einige Jahrzehnte nach der Chemie – entwickelt die Physik ein praktisches Anwendungsgebiet – die elektrotechnische Industrie. Vgl. Stichweh 1984, 387. 348 Vgl. etwa die Biografie von Emil Fischer (1918) mit einer Vielzahl von Hinweisen. Die Gründung der deutschen chemischen Industrie ist in sich selbst ein wirtschaftssoziologisch hoch interessanter Prozess, da er temporal und lokal klar zu identifizieren ist und da die beteiligten Personen untereinander vielfache Beziehungen unterhalten. Insofern ist er etwa mit der Entstehung der Heimcomputerindustrie in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts im Silicon Valley zu vergleichen. Siehe dazu Manuel Castells (1996): Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Das Informationszeitalter I, Opladen 2004, bes. 66 f. 349 Zu den Schülern vgl. Borscheid 1976, 83 ff. Vgl. dazu auch die Aussagen bei Isabelle Stengers (1989): Die doppelsinnige Affinität: Der newtonsche Traum der Chemie im achtzehnten Jahrhundert, in: Serres 1989, 527–567; bes. 565 ff. 350 Justus Liebig (1844): Chemische Briefe, Leipzig 1865.

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tiges Bild. Liebig wendet sich hier an den „gebildeten Menschen“, dem die „Kenntniss“ der „verborgenen Fäden […] welche sich die dem Leben und der Wissenschaft zugewachsenen Erwerbungen knüpfen“ „ein Bedürfniss“ sei. Dem Gebildeten sei „die erste und wichtigste Bedingung der Entwickelung und Vervollkommnung seines geistigen Lebens […] das Bewusstwerden der Ursachen und Kräfte, die so vielen und reichen Erfolgen zu Grunde liegen“. Die Erwerbung dieser Kenntnisse sei „an sich schon Gewinn“. Allerdings bleibt Liebig bei dieser in sich selbst ruhenden Bestimmung des Erwerbs wissenschaftlicher Kenntnisse nicht stehen. Denn, „[i]ndem er [der Gebildete; M. E.] Besitz von den ihm gebotenen geistigen Gütern nimmt, erwächst ihm der Vortheil, sie nach seinem Willen und Vermögen zu seinem Nutzen zu verwenden, zur Vermehrung dieser Reichthümer beitragen, ihre Segnungen zu verbreiten und fruchtbringend für Andere zu machen.“ Liebig versucht in dieser populären Darstellung, beide Aspekte zu verbinden. Er will die „Erörterung der wichtigsten und schwierigsten Fragen in der Wissenschaft, in so fern sie einflussreich für den weiteren Fortschritt und die Anwendungen sind“.351 Liebig hat ein Gespür für die Legitimationsbedürfnisse seiner Wissenschaft. 1840 führt er die Auseinandersetzung hauptsächlich noch mit dem von ihm als dominant empfundenen naturphilosophischen Zeitgeist. An die preußische Regierung appellierend, betont er immer wieder die Bedeutung der wissenschaftliche Lehre als Grundlage für Anwendung aller möglichen Art.352 Chemie und Physik als Mittel der Industrie seien in anderen Ländern viel weiter fortgeschritten.353 Es sei paradox, dass die preußische Regierung den Fortschritt der Chemie verhindert, obwohl er doch in ihrem eigenem Interesse sei.354 Er selbst wolle als Wissenschaftler die Wissenschaft nicht nach dem materiellen Nutzen beurteilen, der Staat solle dies jedoch tun.355 Wie kritisch er selbst das Kriterium des (unmittelbaren) Nutzens aus wissenschaftlicher Perspektive sieht, wird in einer (späten) Rede über Francis Bacon deutlich.356 Der Grundsatz der Nützlichkeit wird darin als der „offene Feind der Wissenschaft“357 bezeichnet. „Weder der Nutzen, noch die Erfindung, noch Herrschaft oder Macht sind Ziele der Wissenschaft.“358 Ziel der Wissenschaft seien einzig Wahrheit und Erkenntnis. Liebig befindet sich damit nicht im Gegensatz zu seinen frühen Aussagen. Er hat hier lediglich einen anderen Adressaten, nämlich die Wissenschaftler selbst. Er skizziert eine Idee von nicht unmittelbar anwendungsorientierter Grundlagenforschung, die sich von der Technik, der Anwendung wissenschaftlicher Kenntnisse auf den einzelnen Fall, abhebt. Sie zeigt sich in einer weiteren Rede, die er in seiner Funktion als Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hält.359 In dieser reagiert er auf den Antrag von Abgeordneten des bayerischen Landtages, der 351 352 353 354 355 356 357 358 359

Alle Zitate dieses Absatzes bis dato: Liebig 1844, VII; Kursivsetzung M. E. Liebig 1840, 6 f. Liebig 1840, 12. Liebig 1840, 7. Liebig 1840, 8. Justus Liebig (1863): Über Francis Bacon von Verulam und die Methode der Naturforschung, München. Liebig 1863, 51. Liebig 1863, 46. Justus Liebig (1861): Die moderne Landwirthschaft als Beispiel der Gemeinnützigkeit der Wissenschaften. Akademierede, Braunschweig 1862.

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Akademie der Wissenschaften eine „gemeinnützigere Richtung“ zu geben.360 Dies sei nicht Zweck der Wissenschaft, sie gebe keine Gebrauchsanweisungen für einzelne Fälle, sondern „sie beschäftigt sich nur mit dem, was Allen gemeinsam nützt und dies sind die Ideen, welche das Tun der Menschen beherrschen und leiten; sie untersucht, ob diese Ideen den Gesetzen der Vernunft oder der Natur entsprechen und setzt an die Stelle der unvollkommenen die vollkommneren“.361 Die Wissenschaft wirkt indirekt, wie Liebig in einer verklausulierten Formulierung ausdrückt: „[D]er Kundige weiß, dass kein großer Fortschritt in der Welt in unserer Zeit überhaupt möglich ist ohne die Wissenschaft und dass der Vorwurf, dass sie nicht gemeinnützig sei, die Bevölkerung und nicht die Männer der Wissenschaft trifft, die, jeder in seiner Weise, ihre Ziele unbeirrt verfolgen, unbesorgt wegen des künftigen Nutzens, den ihre Arbeiten nicht ihnen, nicht einem einzelnen Lande, sondern dem Menschengeschlecht bringen.“362 Liebigs Idee von Grundlagenforschung ist dabei in seinem Wissenschaftsverständnis fundiert. Schon 1840 formuliert er, dass die Chemie nicht unmittelbar auf die Natur zugreife, vielmehr bestehe das chemische Studium hauptsächlich darin, die chemische Sprache zu erlernen, die eine Interpretation der Natur ermögliche.363 Er greift weiterhin auf die klassische Unterscheidung von Wesen und Erscheinung zurück, um zu verdeutlichen, was die Chemiker tun. Entgegen der Idee einer reinen „Experimentalwissenschaft“, die sich lediglich mit den Regeln der Oberfläche beschäftige, gelte es, die „Ursachen und Gesetze [aufzusuchen], die diesen Regeln zu Grunde liegen“.364 2.2.3 Die Berufsausbildung Die Spannung zwischen angewandter und reiner Wissenschaft zeigt sich nicht zuletzt am dritten Zweck der Universität, der Berufsausbildung. Friedrich Paulsen beobachtet 1902 eine „Antinomie zwischen der gelehrten und der beruflichen Bildung“365 an den Universitäten. Diese entspringe ihrem doppelten Zweck als Ausbildungsstätte für besondere Berufe und als Forschungseinrichtung. Die Antinomie durchziehe alle Fakultäten, seitdem auch an der ehemals nur Grundlagen vermittelnden philosophischen Fakultät Lehrer ausgebildet werden. Die Wahrnehmung des Spannungsverhältnisses ist bereits früh im 19. Jahrhundert vorhanden. 1810 schreibt der nachmalige Leipziger Rektor Krug, dass die Lehrer der Universität 360 361 362 363 364

Liebig 1861, 28. Liebig 1861, 28. Liebig 1861, 33. Vgl. Liebig 1840, 24. Liebig 1840, 24. Ähnlich heißt es in den chemischen Briefen: „Wie ganz anders stellen sich jetzt aber die Entdeckungen des Naturforschers dar, seitdem der geistige Hauch einer wahren Philosophie ihn dahin geführt hat, die Erscheinungen zu studiren, um zu Schlüssen auf ihre Ursachen und Gesetze zu gelangen.“ (Liebig 1844, 2) Neben Liebigs Konzept von Grundlagenforschung, das reine und angewandte Wissenschaft insoweit vermittelt, als sie der Forschung eine immer mögliche Anwendungsfähigkeit zugesteht, gibt es auch andere Versuche die beiden Sphären miteinander in Einklang zu bringen. Für Helmholtz ist es das Ziel der Naturbeherrschung, welches an der letzten Stelle der Zwecke der Wissenschaft stehe. Die Jagd nach unmittelbarem praktischen Nutzen sei nicht zwar zielführend, doch habe die Wissenschaft das gemeinsame Ziel „den Geist herrschend zu machen über die Welt“ (Helmholtz 1877, 29). 365 Paulsen 1902, 539.

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eine „Akademie“ bilden würden, die Universität jedoch immer auch eine „Kunstschule“ sei, die „Geschäftsmänner“ ausbilde.366 Das so konstruierte Spannungsverhältnis sieht er dadurch gemindert, dass den Geschäftsmännern Gelehrsamkeit nicht schade würde.367 Der Zweck des Studiums sei ein zweifacher: Die „freie Entwickelung des durch die Schule schon reifer gewordenen Geistes im Gebiete der wissenschaftlichen Erkenntnis, um entweder diese Erkenntnis einst selbst zu erweitern oder doch geschickt aufs Leben anzuwenden.“368 Die Ordinarien der Universität verstehen sich selbst in aller Regel nicht als Ausbilder für bestimmte Berufe.369 Die Berufsausbildung wird als notwendiger Bestandteil der Universitäten anerkannt, doch erscheint er häufig als ein von außen – von Staats wegen370 – oktroyierter Zweck, der ungeliebt ist, den man aber zu akzeptieren hat.371 Immer wieder findet man Versuche, der Berufsausbildung verbal Grenzen zu setzen, um einer möglichen Bedrohung der im Selbstverständnis eigentlichen Aufgabe, der wissenschaftlichen Praxis, zu entgehen.372 Der Leipziger Rektor Heinze etwa akzeptiert die Berufsausbildung als Zweck der Universität. Er dürfe aber nicht der einzige werden, dann geriete die Universität zur technischen Anstalt.373 His formuliert 1882 vorsichtig, dass die höhere Berufsausbildung mit der „rein wissenschaftlichen nicht unbedingt“ zusammenfalle.374 Er sieht einen Konflikt zwischen den Zwecken der Universität als Forschungseinrichtung und als Fachschule. Letztere sei „in den Intentionen der Regierungen wohl die wesentlichste Bedeutung unserer Anstalten“.375 His spricht dabei als Mediziner, also als ein Mitglied einer der drei „höheren“ Fakultäten, denen traditionell bestimmte Berufsbilder zugeordnet sind. Auch bei ihm hat der Forschungsimperativ klar Vorrang. Dass das Primat der Forschung aus der Perspektive auszubildender praktischer Ärzte ein Problem darstellen kann, stellt wiederum Paulsen heraus. Er beklagt 1902 den Zustand der medizinischen Praktika an preußischen Universitäten, welche hoffnungslos überfüllt seien und den angehenden Ärzten dadurch kaum Möglichkeiten bieten würden, sich praktisch zu erproben. Paulsen führt dies auf den herrschenden Forschungsimperativ an den medizinischen Fakultäten zurück.376 Eine charakteristische Formulierung, welche die Spannung zwischen Berufsausbildung und wissenschaftlicher Forschung zu glätten versucht, ist die der „wissenschaftliche[n] 366 367 368 369 370

371 372 373 374 375 376

Krug 1810, 84. Krug 1810, 85. Krug 1819, 23. Die Ausbildung zum Wissenschaftler wird nicht als Berufsausbildung verstanden. Wesentliches Einflussmittel staatlicher Behörden waren die Prüfungen. Vgl. Peter Lundgreen (2010): Studium zwischen Forschungsorientierung und Berufskonstruktion, in: Rüdiger vom Bruch (Hg.): Die Berliner Universität im Kontext der deutschen Universitätslandschaft nach 1800, um 1860 und um 1910, München 2010, 111–127 und Paulsen 1902, 426–452. Vgl. zu dieser Einschätzung auch Ringer 1968, 99. Paulsen formuliert objektivierend: Der akademische Unterricht sei in „erster Linie ein rein wissenschaftlicher. […] Nicht die Vorbildung für den praktischen Beruf, sondern die Einführung in die wissenschaftliche Erkenntnis und Forschung steht vorne an“. (Paulsen 1902, 5) Heinze 1883, 357 f. His 1882, 346. His 1882, 345. Paulsen 1902, 521.

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Berufsbildung“.377 Felix Klein formuliert 1898, dass es das Ziel sei, „durch wissenschaftliche Studien die Grundlage für die spätere höhere Berufstätigkeit zu schaffen.“378 Inwieweit diese Vermittlung greift und was unter ihr zu verstehen ist, ist jedoch umstritten. Es stehen sich idealtypisch drei Positionen gegenüber. Die erste wird von der vermittelnden Formel unmittelbar nicht umfasst, da sie die Berufsausbildung nicht als Zweck – zumindest der philosophischen Fakultät – anerkennt. Diese Position wird von bestimmten Bildungstheoretikern dem Neuhumanismus zugeschrieben und fällt damit nur bedingt in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Spranger formuliert sie etwa 1910 unter Berufung auf Schelling, Schleiermacher, Fichte und Steffens. Insofern Wissenschaft die Erkenntnis des Allgemeinen im Besonderen sei, „folgt daraus die Verwerfung jedes bloß praktischen Fachstudiums und die überragende Stellung der philosophischen Fakultät. Auf ihr beruht die Einheit aller Wissenschaft, da sie durch keine Spezialtendenzen künftiger Berufe beeinflußt ist.“379 Mit dieser Idee von Wissenschaft wird oftmals – etwa mit Bezug auf Humboldt – ein Begriff von Individualität verbunden, der die höchste Form der Verwirklichung der Person in der Ausbildung ihrer Potenziale versteht. Ziel ist damit die Selbsttätigkeit des Subjekts, nicht die Ausbildung zu einem Beruf.380 Die zweite Position versteht unter wissenschaftlicher Berufsbildung die Vermittlung allgemeiner wissenschaftlicher Kenntnisse. Der Leipziger Rektor Gerhard Seeliger formuliert diesen Anspruch 1905. Die Universität solle sich nicht auf das „Technisch-Praktische, sondern auf das Allgemeinwissenschaftliche der Ausbildung“381 konzentrieren. Wilhelm Wundt sieht diese Praxis – zumindest für eine gewisse Zeitspanne der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – bei der Oberlehrerausbildung an der Leipziger Universität gegeben. Er schreibt im Zusammenhang mit der Einheit der philosophischen Fakultät, dass diese in Leipzig real gewesen sei, da „die Scheidung nach Fachstudien infolge der einheitlicheren Organisation des damals einen noch größeren Teil der Studierenden umfassenden Oberlehrerberufs eine weniger ausgeprägte war als heute.“382 Paulsen betont, dass die philosophische Fakultät traditionell die Aufgabe der „allgemein-wissenschaftlichen Vorschule für die oberen Fakultäten“383 besitze. Allerdings gerate diese gegenüber dem Forschungszweck mehr und mehr in den Hintergrund.384 Die Vernachlässigung der Vermittlung allgemein-wissenschaftlicher Kenntnisse versucht nun ausgerechnet einer der kämpferischsten Lobbyisten für die technischen Hochschu377 Bücher 1903, 830. 378 Klein 1898, 9. 379 Spranger 1910, VXIII. Schubring stellt Helmut Schelsky in diese Tradition (vgl. Schubring 1991, 276), spricht aber auch selbst von einer Ideologie der zweckfreien Wissenschaft und der nicht-berufsbildenden Funktion bei Schleiermacher. Vgl. Schubring 1991, 304. Abraham Flexner argumentiert 1930 gegen die Berufsausbildung an der Universität. Vgl. Flexner 1930, 19. Jura und Medizin hätten an den Universitäten deshalb ihre Berechtigung, weil in diesen Fachgebieten Forschung möglich sei. Vgl. Flexner 1930, 21. 380 Vgl. etwa Georg Jäger, Heinz-Elmar Tenorth (1987): Pädagogisches Denken, in: Karl-Ernst Jeismann, Peter Lundgreen (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Band III: 1800–1870. Von der Neuordnung Deutschlands bis zur Gründung des Deutschen Reiches, München 1987, 71–104, hier 75. 381 Gerhard Seeliger (1905): Ständische Bildungen im deutschen Volk, in: Häuser 2009, 873–884, hier 884. 382 Wundt 1921, 294. 383 Paulsen 1902, 531. 384 Paulsen 1902, 531.

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len für sich auszunutzen. Alois Riedler betont in einer 1899 gehaltenen Rektoratsrede, dass eine solche Ausbildung an den technischen Hochschulen gegeben sei, nicht jedoch an den Universitäten.385 An den Technischen Universitäten erhielten alle Studenten eine Ausbildung „in den grundlegenden Naturwissenschaften“.386 Dagegen vermöge die „Universität […] eine wahrhaft allgemeine Bildung nicht mehr zu gewähren“.387 Ihre Fakultäten seien die wirklichen „Fachschulen“ geworden, an denen mehr und mehr eine Spezialistenausbildung stattfinde.388 Die dritte Position bezüglich der wissenschaftlichen Berufsausbildung betont weniger den allgemein-wissenschaftlichen Aspekt, sondern den praktischen. Wilhelm Ostwald etwa spricht in dieser Hinsicht ganz allgemein von einem „regelmäßigen Unterricht für die wissenschaftlichen Berufe, der auf die Übermittlung bestimmter Kenntnisse und Fertigkeiten ausgeht“.389 Diese Fertigkeiten sind auch technischer Natur. Die Seminar- und Laborarbeit ist oftmals weniger auf die Vermittlung von Wissen, als auf das Erlernen bestimmter, durchaus auch eintöniger, Methoden ausgelegt.390 Ostwald schildert in seinen Lebenserinnerungen den mentalen Typus, den dies voraussetzt: „Ein weiterer Punkt, in dem sich damals mein Arbeitsstil festsetzte, ist durch den Mangel an Scheu vor eintönigen Wiederholungsarbeiten gekennzeichnet. Für meine Feuerwerke waren gelegentlich hunderte von Papierhülsen zu kleben und zu füllen und ähnliche Arbeiten in vielfacher Wiederholung zu leisten. Ich habe derartiges nie als abstoßend langweilig empfunden.“391 Auch wenn der grundlegende Konflikt zwischen Forschungsimperativ und Berufsausbildung über das 19. Jahrhundert derselbe bleibt, so wechseln doch immer wieder die Schauplätze. Wie bereits erwähnt, erhält die philosophische Fakultät mit der Verstaatlichung der Lehrerausbildung ein ihr zugewiesenes Berufsbild.392 Die technischen Wissenschaften hin385 Alois Riedler (1899): Die technischen Hochschulen und ihre wissenschaftlichen Bestrebungen. Rektoratsrede der Technischen Hochschule zu Berlin, Berlin. 386 Riedler 1899, 5. Er zählt unter anderem Mechanik, Statik, Dynamik, höhere Mathematik und Geometrie auf. Vgl. ebd., 6. Wundt weist diese Position Riedlers zurück. Die grundlegende naturwissenschaftliche Ausbildung an den Technischen Universitäten sei speziell auf die Bedürfnisse des Ingenieurberufs zugeschnitten. An Hand der Mathematik schreibt er: „Der Lehrbetrieb, der den Techniker auf seinen Beruf vorbereiten soll, ist heute in vielen Beziehungen ein anderer als derjenige, der die Mathematik als allgemeine theoretische Wissenschaft im Auge hat […] Dies hängt aber innig zusammen mit dem Fortschritt der Technik selbst und mit der Rückwirkung, die dieser seinerseits auf die Ausbildung bestimmter mathematischer Gebiete ausgeübt hat.“ (Wundt 1921, 296 f.). 387 Alois Riedler (1898): Unsere Hochschulen und die Anforderungen des zwanzigsten Jahrhunderts, Berlin, hier I. 388 Vgl. Riedler 1898, I, 1899, 5. Paulsen affirmiert diesen Sprachgebrauch. Durch die Lehrerausbildung sei die philosophische Fakultät auch zu einer „Fachschule“ geworden. (Paulsen 1902, 528) 389 Ostwald 1911, 262. 390 Vgl. His 1882, 343. Stichweh beschreibt dies als „formale Bildung“. Im Experimentalpraktikum werde keine Allgemeinbildung vermittelt, sondern formale Bildung. So wurde etwa die Präzisionsmessung eingeübt. Vgl. Rudolph Stichweh (1994): Physik an deutschen Hochschulen: Akademische Kultur und die Entstehung einer wissenschaftlichen Disziplin (1780–1920), 132–155, hier 144. 391 Ostwald 1926, 27. 392 Hier spielt das Seminar eine entscheidende Rolle. Clark betont: „The philology seminars served as pedagogical institutes for the state.“ (Clark 2006, 166) Die Philologen lösten seit Ende des 18. Jahrhunderts die Theologen als Lehrer ab. Vgl. Clark 2006, 170 mit quantitativen Angaben.

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gegen instituieren sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts außerhalb des universitären Rahmens. Obwohl die Debatte um diese Exklusion das ganze Jahrhundert hindurch nicht abreißt,393 so mehren sich um die Jahrhundertwende die Stimmen für ihre (Re-)Integration. Die Debatte darum wird auch unter den Vorzeichen der Berufsausbildung geführt. Bücher etwa konstatiert 1903 ein „seit dem zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts“ unbefriedigtes Bedürfnis nach „wissenschaftlicher Berufsbildung“.394 Die drei alten höheren Fakultäten könnten die neuen „Berufsstellungen“ nicht auffangen.395 Deshalb habe sich „neben der Universität […] ein Kranz von Hochschulen gebildet“, die „mehr und mehr aber der Universität sich auch darin angeglichen haben, dass sie sich ihr Lebensprinzip: die Verbindung selbstständiger wissenschaftlicher Forschung mit der Anleitung zum wissenschaftlichen Arbeiten, zu eigen machten“.396 Gerade dieses Charakteristikum verbiete die Herablassung, mit der ihnen viele Ordinarien entgegentreten würden.397 Bücher bietet ein weiteres Argument für die Integration technischer Hochschulen auf. Die technischen Wissenschaften in Form der Kameralistik – einer Art Verwaltungswissenschaft – hätten bis ins 19. Jahrhundert hinein bereits an den deutschen Universitäten bestanden.398 Ein zweites Argument fügt Felix Klein hinzu. Die technische Wissenschaft sei mit der Medizin, aber auch mit der Rechtswissenschaft oder der Theologie zu vergleichen. In allen diesen Fächern gäbe es keine reine Praxisausbildung, sondern die Herangehensweise „durch wissenschaftliche Studien die Grundlage für die spätere höhere Berufstätigkeit zu schaffen“.399 Wilhelm Wundt argumentiert hingegen pragmatisch für die Integration neuer Fächer in die Universität. Die Ziele der Hochschulbildung hätten sich schlicht erweitert.400 Auch die alten Hochschulen müssten sich neuen Zwecken öffnen.401 Der Bedarf an Akademikern sei in allen Bereichen angestiegen, während vormals vor allem die Kirche und der Staat auf sie zurückgegriffen hätten, sei es nun die Gesellschaft, die ihrer Bedürfe anmelde.402 Die Lehrerausbildung an der philosophischen Fakultät im Allgemeinen und in den philologischen Seminaren im Speziellen stellt ein besonderes Problem dar. Paulsen spricht von einer „viel schärfer“ hervortretenden Problematik als in den oberen Fakultäten, „weil die philosophische Fakultät am allerwenigsten auf die Forderungen des künftigen Berufs eingeht.“403 Die Lehrerausbildung falle „einfach“ mit der Ausbildung zum Gelehrten zusammen.404 393 Literaturangaben bei Manegold 1970, 44. Vgl. auch: Carl Biedermann (1886): Mein Leben und ein Stück Zeitgeschichte. Band 1. 1812–1849, Breslau, 60 f.; Carl Friedrich Nebenius (1833): Ueber technische Lehranstalten in ihrem Zusammenhange mit dem gesammten Unterrichtswesen und mit besonderer Rücksicht auf die polytechnische Schule zu Karlsruhe, Karlsruhe. 394 Bücher 1903, 830. 395 Bücher 1903, 830. 396 Bücher 1903, 831. 397 Bücher zitiert einen nicht genannten Ordinarius, der auf die Integration technischer Fächer mit „Jetzt zieht auch bei uns das Banausentum ein.“ reagiert. (Bücher 1903, 831) 398 Vgl. Bücher 1903, 832. Nach den Angaben bei Nebenius gab es noch in den 1830 Jahren eine eigene kameralistische Fakultät an der Münchner Universität. Vgl. Nebenius 1833, 25. 399 Vgl. Klein 1898, 8 f. 400 Vgl. Wundt 1909b, 388. 401 Vgl. Wundt 1909b, 391. 402 Vgl. Wundt 1909b, 393. 403 Paulsen 1902, 539. 404 Paulsen 1902, 538. Vgl. auch Paulsen 1919, 454. Stichweh spricht von einer „paradoxe[n] Kombina-

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Allgemeinwissenschaftliche Grundlagen würden kaum vermittelt, wobei doch gerade diese für den Lehrerberuf besonders wichtig seien. Paulsen spricht von den legitimen Ansprüchen zweier Interessengruppen, die zu einer „wirklichen Antinomie“405 führen würden. Die philosophische Fakultät argumentiere mit der Notwendigkeit der Beibehaltung ihres grundsätzlich wissenschaftlichen Charakters. Darüber hinaus seien fachgebildete Lehrer besser geeignet, das Interesse an der Wissenschaft, „die Liebe zur Erkenntnis“ zu entzünden und so auch die Fähigkeit zu selbständiger Arbeit einzuüben.406 Die Schulverwaltung wiederum beharrt auf einer Ausbildung, die Lehrer hervorbringe, welche keine reinen Spezialisten sein sollten, sondern zumindest auch den Schulstoff beherrschten und generell eine „gewisse Weite und Beweglichkeit der Bildung und der Interessen“407 mitbrächten. Trotz der konstatierten Schwierigkeiten spricht sich Paulsen gegen eine separierte Lehrerausbildung aus.408 Die Lehrer würden ihre kulturelle Stellung verlieren, wenn sie nicht mehr so wie bisher an den Universitäten integriert wären, ihr Bezug zum Bildungsbürgertum ginge verloren und sie sänken auf das Niveau von Volksschullehrern herab.409 In diesem Sinne müssten auch zumindest einige von ihnen an der Wissenschaft mitarbeiten, dies sei geradezu eine „Lebensfrage“ für den Lehrerstand.410 Dass der liberale Friedrich Paulsen hier auf eine Argumentation zurückgreift, die weniger mit der Qualität der Lehrerausbildung als mit der Sicherung des eigenen Berufsstandes zu tun hat, mag überraschen. Er positioniert sich damit jedenfalls in einer kulturpolitischen Debatte, die hauptsächlich um einen spezifischen Lehrerberuf geführt wird, den des Lateinlehrers. Um die Bedeutung und den Einfluss des altsprachlichen Unterrichts wird eine der erbittertsten, langwierigsten und – gemessen an der Zahl der Beiträge – umfassendsten kultur- und bildungspolitischen Diskussionen der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts geführt. Zentrale Frage dabei ist, ob die Vermittlung der lateinischen Sprache und Grammatik am humanistischen Gymnasium eine hinreichende Vorbildung für die vielfältigen universitären Ausbildungsgänge darstelle. Die Befürworter argumentieren, dass es gerade die hier geleistete formale, vor allem grammatikalische, Bildung sei, welche für den Universitätsbesuch prädestiniere.411 Die Gegner beklagen das Fehlen der Vermittlung mathematischer und naturwissenschaft-

405 406 407 408 409 410 411

tion von ‚Forschungsimperativ‘ und intendierter Berufsbildung“. (Stichweh, 1984, 369) Dies sei „eine Konstante der philologischen Seminare und wird von ihren naturwissenschaftlichen Nachfolgern übernommen“. (Stichweh 1984, 369) Hingegen schätzt Felix Klein 1898 ein, dass sich auch der Seminarzweck von der Lehrerausbildung zur „Steigerung der rein wissenschaftlichen Studien“ verschoben habe. (Klein 1898, 9) Paulsen 1902, 539. Paulsen 1902, 539 f. Paulsen 1902, 541. Paulsen 1902, 542. Paulsen 1902, 542. Paulsen 1902, 551. Die Statuten der Seminare in Königsberg 1828 und Halle 1839 sprechen davon, man wolle Lehrer bilden, die fähig seien „die Wissenschaft nicht nur fortzupflanzen, sondern auch zu erweitern“. (Stichweh, 1984, 369) Vgl. etwa Carl Thiersch (1861): Über Lehren und Lernen. Prorektorenrede, Erlangen; August Wilhelm Hofmann (1880): Die Frage der Theilung der philosophischen Facultät. Rede zum Antritt des Rektorats, Berlin, 29–37.

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licher Kenntnisse an den humanistischen Gymnasien412 sowie einen viel zu detaillierten Unterricht in lateinischer Grammatik.413 Alles in allem führen die Philologen und ihre Unterstützer ein Rückzugsgefecht,414 was sich nicht zuletzt in der Verteidigungshaltung bemerkbar macht, aus der heraus sie argumentieren. So beschwört Ludwig Lange geradezu die „hohen Werte“ der klassischen Sprachen „für die allgemeine Vorbildung der zum höheren Dienst in Staat und Kirche und zur Pflege der Wissenschaften berufenen Jugend.“415 Dies sei „durch langjährige Erfahrung zweifellos festgestellt“.416 Auch Lange greift in seiner Argumentation – wie schon Paulsen – auf Argumente der Berufsstandsicherung zurück. Vom Lateinunterricht hänge sogar „die Zukunft der allgemeinen Bildung der leitenden Classen der Gesellschaft“ ab.417 Er diene der Erhebung über das alltägliche Leben.418

412 So lobpreist Liebig die Chemie als Bildungsmittel. „Das Studium der Naturwissenschaften als Mittel der Erziehung ist ein Bedürfniss unserer Zeit. […] Keine unter allen Wissenschaften bietet dem Menschen eine grössere Fülle von Gegenständen des Denkens, der Ueberlegung und von frischer sich stets erneuernder Erkenntniss dar als wie die Chemie; keine ist mehr geeignet, das Talent der Beobachtung in der Entdeckung von Aehnlichkeiten und Verschiedenheiten in den Erscheinungen in gleicher Weise zu wecken und die Gesetze des Denkens in ihren strengen Methoden der Beweisführung für die Wahrheit einer Erklärung oder in der Aufsuchung der Ursachen und Wirkungen einer Erscheinung gleich anschaulich und geläufig zu machen.“ (Liebig 1844, 1). 413 Stellvertretend hier Emil Fischer: „Im August 1869 bestand ich in Bonn das Abiturientenexamen, und das Abgangszeugnis beweist, daß ich kein schlechter Schüler gewesen bin. Trotzdem habe ich zu meinem eigenen Bedauern dem Gymnasium kein freundliches Gedenken bewahren können. Ich halte mich für verpflichtet, das hier auszusprechen, weil ich das Gefühl habe, daß das humanistische Gymnasium die Anforderungen nicht erfüllt, die man an es stellt, und nicht, wie meist behauptet wird, seinen Zöglingen die allgemeine geistige Reife gibt, die zum Besuch der Hochschule nötig ist. Ich spreche hier nicht als Naturforscher, der es immer beklagen mußte, auf der Schule einen ungenügenden mathematischen Unterricht genossen zu haben. Mein Urteil bezieht sich auch auf den sprachlichen Unterricht, der in der jetzigen Form mit der unmäßigen Betonung grammatikalischer Kenntnisse sicherlich verkehrt ist. Wieviel kostbare Zeit haben wir auf das unsinnige Auswendiglernen von Regeln verwenden müssen! Die seltensten Ausnahmen von einer Deklination oder Konjugation, die selbst dem Berufsphilologen in der Praxis kaum vorkommen, mußte man wissen, um ein guter Schüler zu sein. Von den Schönheiten der klassischen Literatur, von ihrem engen Zusammenhang mit der bewundernswerten allgemeinen griechischen Kultur war beim Unterricht fast nie die Rede. Ich bin fest überzeugt, hätten unsere Lehrer auf solche Dinge den Hauptnachdruck gelegt, die meisten von uns wären ihnen mit Begeisterung gefolgt, während wir so den Geschmack am klassischen Altertum geradezu verloren haben und froh waren, mit dem Abiturium diese Studien aufgeben zu können.“ (Fischer 1918, 44). 414 Nach eigener Aussage ändert etwa Emil du Bois-Reymond seine Position. 1869 sei er noch der Meinung gewesen, dass Schüler von Realgymnasien nicht für die Universität geeignet seien, nun – 1877 – stellt er fest, dass es die Gymnasiasten seien, welche nicht richtig auf den medizinischen Beruf vorbereitet sind, die Realgymnasiasten hingegen schon. Emil du Bois-Reymond (1877b): Kulturgeschichte und Naturwissenschaft. Im Verein für wissenschaftliche Vorlesungen zu Köln am 24. März gehaltener Vortrag, in: Estelle du Bois-Reymond 1912, 567–629, hier 609 f. Insgesamt beklagt er ein „Zurückbleiben des Gymnasiums hinter den Forderungen der Zeit“ (ebd., 616). 415 Ludwig Lange (1879): Über das Verhältnis des Studiums der classischen Philologie auf der Universität zu dem Berufe des Gymnasiallehrers, in: Häuser 2009, 269–280, 269. 416 Lange 1879, 269. 417 Lange 1879, 269. 418 Lange 1879, 270.

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2.2.4 Aspekte des Bildungsbegriffes Die Diskussion um den Lateinunterricht und die Lehrerausbildung führt ins Zentrum der Debatte um den Bildungsbegriff der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Begriff wird in diesem Zeitraum ohne einen konsensualen Bedeutungskern verwendet. Stattdessen steht er im Spannungsfeld verschiedener kultureller, politischer und gesellschaftlicher Ansprüche und Interessen. Zentral ist dabei einmal die Konfliktlinie zwischen einem praktischen und einem humanistischen Bildungsideal. Wilhelm Wundt bezeichnet jenes an einer Stelle als „neues Bildungsideal“, welches „auf Vielseitigkeit der Bildung und auf praktische Verwertung der Mittel dringt“.419 Dem kann man einen inhaltlichen Bildungskern gegenüber stellen, der in engem Zusammenhang mit dem Erlernen des Lateins (und des Griechischen) erworben werden soll. Die universitäre Bildung – so die Konstruktion – schließe an die im humanistischen Gymnasium erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten an und schaffe so eine klar distinguierte Bildungselite. Dieser Bildungsbegriff wird an den Universitäten hauptsächlich von der Philologie repräsentiert und tradiert. Die Ordinarien der klassischen Philologien verstehen sich als die Hüter einer schichtspezifischen Allgemeinbildung, die in der Kenntnis von Griechisch und Latein besteht. Durch diese Kenntnis wird ein eigentümlicher Begriff von Kultur geprägt, der das deutsche Bildungsbürgertum ähnlich wie in Großbritannien und durchaus auch Frankreich von der übrigen Bevölkerung separieren soll. In Langes Worten werden „opferfreudige Vaterlandliebe“, „wahre Bürgertugend“ und „unbedingter Gehorsam gegenüber den Gesetzen und der staatlichen Ordnung“ gefördert.420 Der Philologe Lipsius spricht 1891 von der Antike als „Bildungsmittel“.421 Die Philologen seien die „Hüter über die idealen Güter der Nation“.422 Die Fronten sind hier durchaus verhärtet. Den hehren Worten – die sich auf die gefühlte Bedrohung der eigenen Vormachtstellung zurückführen lassen423 – kann man etwa Wilhelm Ostwalds bissige Bemerkung gegenüberstellen, der unter Berufung auf Eugen Dühring ausführt, „daß der einzige erkennbare Zweck der klassischen Philologen auf der Universität sei, Lehrer auszubilden, die ihrerseits wieder das Material zu neuen Lehrern liefern, und so im ewigen Kreislauf weiter, ohne daß es jemals zu einer tätig fördernden Mitwirkung an den Aufgaben des Lebens käme“424. Man kann dem noch die Aussage Liebigs zur Seite stellen, der gegen bestimmte Kreise polemisiert, die Naturwissenschaftler „nicht als Menschen betrachten, weil sie kein Griechisch verstehen“.425 419 Wundt 1909b, 394. 420 Lange 1879, 269. Ab und an wird der Vaterlandsliebe noch ein allgemeiner Humanismus an die Seite gestellt. So spricht Baur davon, dass die Universitätsangehörigen miteinander verbunden seien „in dem Ringen nach demselben Ziele: etwas zu werden und zu leisten für ihr Volk und Vaterland, für das Wohl der menschlichen Gesellschaft“ (Baur 1874, 130). 421 Lipsius 1891, 539. 422 Lipsius 1891, 541. 423 Lamprecht kritisiert noch im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts den Führungsanspruch der klassischen Philologie in den Geisteswissenschaften. Karl Lamprecht: Rektoratserinnerungen, Gotha 1917, 11. 424 Ostwald 1927a, 106. 425 Liebig 1840, 46. Ein klassische Studie zu den Auseinandersetzungen zwischen Wirtschafts- und Bil-

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Dennoch wird man der Philologie nicht gerecht, wenn man sie nur als Gralshüterin des deutschen Bildungsbürgertums betrachtet. In der Ausbildung zum klassischen Philologen kreuzen sich zwei Bildungsbegriffe des 19. Jahrhunderts. Neben der Vermittlung eines Kanons und der Produktion einer Elite ist die philologische Ausbildung auch die Vermittlung methodischer Kenntnisse. Mehr noch, die Philologie steht – wie geschildert – mit dem Seminar und der Entwicklung der Prinzipien philologischer Kritik am Anfang des Aufschwunges der deutschen Universitäten. Bezüglich dieser methodischen und formalen Anforderungen besteht kein wesentlicher Unterschied zu den Ausbildungsinhalten etwa an den technischen Hochschulen. Das Wirtschaftsbürgertum mit seinen Realgymnasien und technischen Hochschulen und das Bildungsbürgertum mit seinen humanistischen Gymnasien und Universitäten kommen hier in gewissem Sinne überein. Dies wird durchaus auch von Zeitgenossen beobachtet. So kennzeichnet Bücher die Universitäten als „Erscheinung einheitlicher nationaler Bildungsstätten für die führenden Klassen, speziell das Beamtentum.“426 Nach seiner Einschätzung empfing „die gesamte akademische gebildete Klasse von der gemeinsamen Alma Mater auf breitester Grundlage aufgebaute streng wissenschaftliche Erziehung […] die die soziale Gleichwertigkeit aller Glieder derselben verbürgte. […]. [D]er Geistliche und der Gymnasiallehrer, der Richter, der Verwaltungsbeamte, der Arzt […] sie alle fühlten doch das Gleiche“.427 Für Bücher gibt es keinen Grund, die technischen und ökonomischen Wissenschaftler nicht mit in diesen Kreis aufzunehmen. Sie stünden auf derselben wissenschaftlichen Grundlage. Und selbst wenn die heutigen Ingenieure noch nicht das geistige Niveau derjenigen hätten, die die Universität besuchen, so würden sie doch durch die Universität veredelt werden können und „aufsteigen in die Geistesaristokratie der Nation“.428 An die konservativen Gegner einer Integration der technischen Hochschulen gerichtet, betont er, die zukünftigen Ingenieure seien zu „erfüllen mit dem Geist der Wahrheit […] mit jenem Idealismus, der auf deutschen Universitäten schon so lange seine Heimstätte hat“.429 Die wissenschaftliche Arbeit wird den Ordinarien zum Klassenbewusstsein. Charakteristisch drückt sich dies bei Ritschl in einer Festrede zum 150sten Jubiläum der Universität Göttingen aus: „Wir alle aber sind einig in dem Vorsatz, durch gewissenhaft und angestrengte Arbeit die Erkenntnis der Wahrheit, jeder in seinem Gebiete, zu befördern; wir wissen uns demgemäß darin verbunden, den aristokratischen Charakter unserer Gemeinschaft aufrecht zu erhalten, welche nicht Bestand hat, wenn sie aufhören sollte, aristokratisch zu sein“.430 Baur pflichtet dem bei. Er redet einer „collegialische[n] Gesinnung“ das Wort, „in welcher wir uns wechselweise ernste und gewissenhafte Forschung und den Muth der Wahrheit

426 427 428 429 430

dungsbürgertum, bzw. zwischen „Realisten“ und „Humanisten“ ist: Ringer 1968. Vgl. auch Lenoir 1992, 18–52. Bücher 1903, 829. Bücher 1903, 830. Bücher 1903, 837. Bücher 1903, 837. Ritschl 1888, 69 f. Versucht man Ritschls Aussage nicht tautologisch zu lesen, dann zielt sie vermutlich wiederum auf den Unterschied zwischen Gymnasium und Realgymnasium ab.

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zutrauen, jeden Tüchtigen auf seinem Gebiet gelten lassen“431 und Luthardt konstatiert „die Gemeinsamkeit der sittlichen Betrachtungsweise unserer Tätigkeit“.432 Wundt bezeichnet den Vorsatz Ritschls als „altes Bildungsideal“.433 Es sehe „den höchsten Wert der Wissenschaften in ihnen selbst“434 und stelle „an die wissenschaftliche Arbeit die Forderung einer strengen, darum aber auch notwendig bis zu einem gewissen Grade einseitigen Vertiefung in die Probleme“.435 Es müsse mit dem oben charakterisierten neuen Ideal der praktischen Verwertbarkeit der wissenschaftlichen Arbeit „in Einklang“436 gebracht werden. Wundt ist hierbei nicht ganz so optimistisch wie Bücher. „Diese Aufgabe ist vielleicht die schwerste, die jemals an die Hochschule herangetreten ist“.437 Doch handele es „sich nicht um einen Kampf unversöhnlicher Gegner aus dem nur einer von beiden als Sieger hervorgehn konnte, sondern um die Aufgabe, mit jenem in der Vergangenheit neu errungenen, für die Gegenwart alten Bildungsideal das neue der Zukunft zur Einheit zu verbinden“.438 Konkreter wird Wundt selbst nicht, doch scheint besagte Einheit nicht in bestimmten Bildungsinhalten zu liegen, sondern eher eine bestimmte Form des Weltumgangs zu sein. Die immer wiederkehrende Formel der „selbständigen Arbeit“ bzw. „selbständigen, wissenschaftlichen Arbeit“ charakterisiert es.439 Schon bei Krug findet sich die Formulierung, wonach der höhere Zweck der Universität die Ausbildung eines „selbständigen Charakters“440 sei. Wundt spricht von der „selbständige[n] Aneignung des Stoffes“441 und formuliert: „Weil die Universität nicht zu Automaten und willenlosen Werkzeugen, sondern zu selbstständig denkenden Menschen und zu Charakteren erziehen soll, eben deshalb ist für sie die Forschung selbst das letzte und wichtigste Hilfsmittel der Lehre.“442 Die so entstehenden Persönlichkeiten bezeichnet Clark als „normalized but individualized academic personae“.443 Er schildert zum einen die Disziplinierungsstrategien, also die Anleitung zum Arbeiten, denen die Studierenden unterlagen, betont aber zum anderen auch einen „Kultus an Autonomie“, welcher dem entgegenstand.444 Dieser kulminiert in einem Geniebegriff, in der Idee der schöpferischen Forscherpersönlichkeit. So wendet sich du BoisReymond wie folgt an die Studierenden: „Sie müssen hier nicht glauben, sondern versuchen und wagen.“445 Charakteristisch ist jedoch, dass er seinen Aufruf zugleich wieder einschränkt: 431 432 433 434 435 436 437 438 439 440 441 442

Baur 1874, 130. Luthardt 1880, 293. Wundt 1909, 394. Wundt 1909, 394. Wundt 1909, 394. Wundt 1909, 394. Wundt 1909, 394. Wundt 1909, 396. Vgl. auch die Formulierungen im Abschnitt zum Seminar. Krug 1919, 23. Wundt 1909b, 370. Wundt 1909b, 371. Nach der Einschätzung von Danziger entspricht dies auch der der Praxis in Wundts eigenem Seminar. Trotz hunderter abgenommener Dissertationen gründete Wundt keine eigene wissenschaftliche Schule sondern wirkte durch seine experimentelle Praxis. Vgl. Danziger 1990, 404. 443 Clark 2006, 181. 444 Clark 2006, 172. Augenfälliges Beispiel sei etwa die auffällige Kleidung der Seminaristen gewesen. Vgl. ebd. 445 Du Bois-Reymond 1877a, 651.

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Das neugegründete physiologische Institut, welchem die gerade zitierte Rede gewidmet ist, sei nicht der Genies wegen da, sondern für den „Durchschnittskopfe“.446 Zwischen „normalized“ und „individualized“ bleibt eine nicht ganz überbrückbare Spannung. Felix Klein etwa fragt 1898 besorgt, ob man die Spitze gegenüber der Masse nicht zu sehr fördere.447 Für Carl Binding hingegen steht fest, dass die Seminare – durch Schulung „in der Methode“448 – dazu gedient hätten, „die Mittelmäßigkeit viel höher zu bringen“.449 Die „Produktivität“ des Gelehrten sei hingegen nicht besonders angeregt worden, ja mehr noch, seine Originalität könne durch die strenge methodische Schulung sogar gebrochen werden.450

2.3 Einheit der Wissenschaft und die der philosophischen Fakultät Wie beim Begriff der Freiheit, die sich im universitären Kontext in eine akademische und eine wissenschaftliche unterteilen lässt und deren Verhältnis immer wieder Konflikte produziert, so ist auch der Begriff der Einheit ein doppelter. Die Idee der Einheit der Wissenschaften wird institutionell flankiert von der Einheit der Universität im Gesamten und von der Einheit der philosophischen Fakultät im Speziellen. Die Diskussionen um diese beiden Aspekte verlaufen in der Regel nicht getrennt, sind aber in verschiedenen Hinsichten trennbar. Die grundlegendere Debatte ist jene um die Einheit der Wissenschaften. Die Frage nach der Einheit der philosophischen Fakultät bzw. der Universität richtet sich letztlich nach ihr aus. Dabei führt die Ausdifferenzierung der Wissenschaften ab 1860 zu einer verstärkten Debatte um die Aufspaltung der philosophischen Fakultät. 2.3.1 Die Einheit der Wissenschaft Im historischen Verlauf stellt sich die Frage nach der Einheit der Wissenschaften zunächst als Auseinandersetzung zwischen Naturphilosophie und Naturforschung dar. In dieser Diskussion der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden einige der Argumente und Schlagworte geprägt, die durch das gesamte 19. Jahrhundert hindurch relevant sind. Bei den Generationen von Naturwissenschaftlern, die in den zwanziger bis vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts an den Universitäten studierten, ist teilweise ein regelrechter Furor gegen ein – in der Regel als „spekulativ“ bezeichnetes – Denken vorhanden. So polemisiert Justus Liebig bereits 1940, die Naturphilosophie sei „vom Anfang an Staub“ gewesen.451 Über die Ansichten des Naturphilosophen Steffen urteilt er, sie „sollten Ekel erregen“.452 Carl Ludwig lobt in seiner 1878 gehaltenen Gedächtnisrede auf Ernst Heinrich Weber diesen dafür, dass seine Habilitation, „nirgends den geringsten Beigeschmack der damals geübten Naturphilosophie verräth.“453 446 447 448 449 450 451 452 453

Du Bois-Reymond 1877a, 651. Klein 1898, 10. Binding 1911, 36. Binding 1911, 36. Binding 1911, 37. Liebig 1840, 8. Liebig 1840, 42 FN. Carl Ludwig (1878): Rede zum Gedächtniss an Ernst Heinrich Weber, Leipzig 1878, 6.

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Diese betreibe lediglich ein „Spiel mit Begriffen“, Weber selbst hingegen sei „Naturforscher“ gewesen.454 Du Bois-Reymond spricht in Bezug auf Goethe von einem „Fehler der deutschen Uranlage, der erkannt werden muss, damit man ihn bekämpfen könne. Dieser Fehler, welcher übrigens in der Tiefe mit grossen Eigenschaften zusammenhängt, ist der Hang zur Deduction gegenüber der Induction, zur Speculation, deren zu stark geschwellter Luftball leicht im Steigen platzt“.455 Helmholtz gibt 1862 die Einschätzung, Hegels Naturphilosophie, sei den Naturforschern „absolut sinnlos“456 erschienen, und Virchow datiert das Ende des philosophischen Zeitalters auf Hegels Tod im Jahre 1831.457 Diese harten Urteile erklären sich erstens daraus, dass man die Debatten um die Gründung der eigene Disziplinen schon sprachlich nicht mehr versteht, da die eigene Sprache ja auf Kenntnissen aufbaut, die damals noch gar nicht vorhanden waren. Außerdem werden sie, zweitens, in einer Haltung der Konkurrenz aus der Perspektive einer materieller Mittel bedürftigen Naturwissenschaft formuliert, die in direktem Konflikt mit anderen Themen, nicht, wie man meint, mit differierenden Wissenschaftsverständnissen steht. Sie berücksichtigen z. B. nicht, dass die Naturphilosophie mit ihrem synthetisierenden Anspruch bereits selbst Ergebnis eines zunehmenden Naturwissens ist, das konzeptionell die Befreiung aus der Zwangsjacke der mathematischen Theorie bloßer Mechanik bzw. Gravitationsdynamik fordert, ohne welche die Physiologie oder Chemie z. B. nie zu Wissenschaften geworden wären.458 In diesem Sinne forderte etwa der Arzt Carl Gustav Carus schon 1822 eine Vermittlung zwischen der reinen Naturbeobachtung, welche „eine unendliche Mannigfaltigkeit von Erscheinungen“459 zu untersuchen habe und der „speculative[n] Betrachtung […], welche […] die Einheit fordert“.460 Es gehe – so Carus – um eine angemessene Wechselwirkung von Beobachtung und Spekulation.461 Spekulation meint hier die Bildung neuer Theorien und Modelle in einem gegenüber der Physik Newtons neuem Format. Gegenwärtig sei die philosophische Seite hinter der sinnlichen Seite zurückgeblieben. Es herrsche eine „unübersehbare Masse einzelner Beschreibungen und Beobachtungen“.462 Der geschmähte Henrik Steffens sieht im Jahre 1844 den Konflikt zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft mit eindeutigem Ergebnis beendet. „Die großen Entdeckungen einerseits in der Physik, dann in der Geologie, endlich in der komparativen Physiologie, hatten einen jeden Keim spekulativer Ansichten erstickt, und die Naturphilosophie ward als ein willkürliches, phantastisches Spiel betrachtet“.463 Die Berliner Universität sei geteilt gewesen und die eine Richtung „mit bloß vereinzelten Untersuchungen beschäftigt, bildete die eigentlich fruchtbarste Richtung des Universi454 455 456 457 458 459 460 461 462 463

Ludwig 1878, 6. Du Bois-Reymond 1882, 25. Helmholtz 1862, 8. Vgl. Virchow 1892, 429. Zur Zunahme des Wissens vgl. Wolf Lepenies (1976): Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, München. Carl Gustav Carus (1822): Von den Anforderungen an eine künftige Bearbeitung der Naturwissenschaften. Rede gelesen am 19. September 1822 in der ersten Zusammenkunft deutscher Naturforscher und Aerzte, Leipzig 1822, 13. Carus 1822, 14. Vgl. Carus 1822, 20 f. Carus 1822, 26. Henrik Steffens (1844): Die Universität zu Beginn der dreißiger Jahre, in: Ders.: Was ich erlebte, Band 10, Breslau, 332–335, hier 333.

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tätslebens. […] Sie hat […] ihren Ruf begründet“464. Es sei der praktische Erfolg der Naturwissenschaften, der die spekulative Naturphilosophie in das Hintertreffen geraten lässt. Dabei mag Steffens selbst die Naturphilosophie allzu einseitig bloß als wissenschaftliche Gesamtschau missverstanden haben. Dennoch bleibt die wissenschaftliche Praxis weiterhin nach einem Schema von systematischer Zusammenschau und Einzelforschung geordnet.465 Die Zusammengehörigkeit dieser beiden Momente wird immer wieder formuliert und eingefordert. Dabei scheinen die meisten Ordinarien der zunehmenden Ausdifferenzierung der Disziplinen und der zunehmenden Spezialisierung der einzelnen Wissenschaftler quasi hilflos gegenüber zu stehen. Die Einheit der Wissenschaften wird nur noch in vagen Metaphern umschrieben. Diese sind das bloß noch rhetorische Residuum der umfassenden philosophischen Entwürfe aus dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Diese waren der letzte Versuch, das System der Wissenschaften und der Lehre nicht bloß praktisch und im Nachhinein zu gliedern, sondern explizit thematisch und methodisch nach Großdisziplinen und Teilbereichen zu ordnen. Baur spricht beispielsweise davon, dass die Wissenschaftler „Mitarbeiter sind an demselben Bau“466 und Luthardt vom „sachliche[n] Organismus der verschiedenen Wissensgebiete“.467 Aber tiefer als die Organismusmetapher reicht ein solche Rede nicht. Indirekt wird die Ausdifferenzierung auch bei Theodor Fechner deutlich, der mit einer in seinem Tagebuch wiedergegebenen Tischrede zur Inauguierung des neuen Leipziger Rektors im Herbst 1864 eigentlich etwas Anderes intendiert. Fechner erzählt die folgende Begebenheit: „Auf einer der frühern Leipziger Messen war auf dem Roßplatz eine Bude, worin das merkwürdige Schauspiel vorgeführt wurde, dass ein Wolf und ein Lamm, eine Katze und eine Ratte, ein Fuchs und ein Huhn, ein Habicht und eine Taube, kurz, lauter Thiere, die sich sonst nur feindlich begegnen, ganz verträglich aus der selben Schüssel speisten, als wenn sie die beßten Freunde wären.“468 Dies sei der Zustand den Fechner beim Diner vorfinde. „[U]nser heutiger Versammlungssaal ist auch eine solche Bude, worin Orthodoxe und Rationalisten, Materialisten und Idealisten, Atomistiker und Dynamiker, Reactionäre und Fortschrittsmänner, ganz verträglich aus den selben Schüsseln speisen, als wenn sie die beßten Freunde wären, während sonst jeder wider den anderen ist, einer immer den anderen todt machen will, und wenn er ihn nicht todt machen kann, wenigstens kein gutes Haar an ihm zu lassen sucht.“469 464 Steffens 1844, 333. 465 Trendelenburg unterscheidet Wissenschaftler von Spezialisten. Der Ehrentitel Wissenschaftler sei nur an diejenigen zu vergeben, die zu Synthesen fähig seien. „Es bleibe die Bedingung, dass das Besondere im Allgemeinen verharre.“ (Trendelenburg 1857, 386) Vgl. auch Karl von Vierordt (1865): Die Einheit der Wissenschaften. Eine Rede gehalten in der Aula der Universität Tübingen am 6. März zur Feier des Geburtsfestes Seiner Majestät des Königs Karl von Württemberg, Tübingen; Josef Neuhäuser (1888): Die Wissenschaften und die Wissenschaft. Rede gehalten beim Antritt des Rectorats der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität am 18. October, Bonn 1889; Julius Kaftan (1907): Die Einheit des Erkennens. Rede gehalten zur Gedächtnisfeier des Stifters der Berliner Universität König Friedrich Wilhelm III in der Aula am 3. August, in: Ders.: Drei akademische Reden. Tübingen 1908, 48–71. 466 Baur 1874, 130. 467 Luthardt 1880, 293. 468 Fechner 2004, 598. 469 Fechner 2004, 598.

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Nachdem Fechner einige mehr oder minder ernst gemeinte Gründe für den gegenwärtigen Frieden angegeben hat, kommt er auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen. Der normalerweise herrschende Streit ist in Fechners Augen „doch gar nichts Schlimmes, sondern vielmehr etwas recht Gutes“.470 Der Streit sei nicht nur gut, „damit wir unsere gute Anstellung behalten“471, sondern „der Streit um die Weisheit, die Wissenschaft, [kann auch dazu] beitragen, sie lebendig, in Bewegung, in Fortschritt und Wachsthum zu halten. Was wäre es, wenn die Weisheit ein- für allemal fertig wäre und wir sie bloß wie ein altes Collegeheft abzubeten hätten“?472 Es ist nun bemerkenswert, wer sich in Fechners Darstellung streitet. Die Gegensatzpaare sind, bis auf eines, einzelnen Wissenschaften zuzuordnen. Orthodoxe Theologen streiten mit Rationalisten, materialistische Philosophen mit idealistischen und Naturwissenschaftler hängen entweder einer dynamischen oder einer Atomlehre an. Die vorgestellten Tiere haben wenig miteinander gemein, sie beziehen sich nur als Paare aufeinander. In diesem Sinne beobachtet auch Helmholtz, dass die Verbindung aller Wissenschaften „lockerer als je“ erscheine.473 Er fragt rhetorisch: „Wer soll noch das Ganze übersehen, wer die Fäden des Zusammenhangs in der Hand behalten und sich zurecht finden?“474 Immer wieder liest man Formulierungen wie die Haeckels, der oder jener sei „der Letzte“ gewesen, der diese oder jene Wissenschaft noch habe zusammenhalten können.475 Wilhelm His verschiebt die Synthesearbeit gleich auf zukünftige Generationen. Er beruft sich zwar auf einen „zu tief in der menschlichen Natur“ liegenden Drang nach „allgemeineren Gesetzen […] als daß er auf Dauer unterdrückt werden könne“476, konstatiert damit aber gerade seine derzeitige Suspendierung. Inhaltlich scheint die Einheit der Wissenschaften nicht mehr gewährleistet. Sie muss auf anderem Gebiet gesucht werden. Die Standardantwort liegt in der Selbstcharakterisierung der eigenen Praxis. Man betreibt Forschung. Baur formuliert 1874: „Wir sind alle verbunden durch den Monismus desselben wissenschaftlichen Strebens“477 und der Historiker Seeliger spricht 1905 vom „einheitliche[n] Streben nach rein wissenschaftlichem Erkennen“.478 Über den gemeinsamen Forschungsimperativ hinaus existieren Versuche, eine Gemeinsamkeit in den Methoden der Wissenschaften festzustellen. So konstatiert Adolph Wagner eine „Gleichartigkeit aller wissenschaftlichen Arbeit“.479 Du Bois-Reymond widerspricht 1882 der weit verbreiteten Wahrnehmung, es gäbe ein Zersplitterung der Wissenschaften. Er beharrt auf einer „Gesamtheit der dem Versuch, der messenden Beobachtung und der Rech-

470 471 472 473 474 475 476 477 478 479

Fechner 2004, 599. Fechner 2004, 599. Fechner 2004, 599. Helmholtz 1862, 3. Helmholtz 1862, 6. Vgl. Haeckel 1878, 26. His 1882, 345. Baur 1874, 129 f. Seeliger 1905, 884. Adolph Wagner (1895): Die akademische Nationalökonomie und der Socialismus. Rektoratsrede, Berlin, 5.

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nung zugänglichen Erscheinungen: Mechanik, Akustik, Optik“480. Auch inhaltlich näherten sich die Wissenschaften einander an.481 Es endet die Methodenähnlichkeit zumeist einfach bei der Trennung von Geistes- und Naturwissenschaften. Der Germanist Karl Weinhold bringt dies – ungewollt – zum Ausdruck. Er fordert auf der einen Seite, die Universität dürfe „kein naturwissenschaftliches und kein philosophisches Zeitalter scheiden, weil sie auf der Continuität des gesammten wissenschaftlichen Lebens beruht“.482 Für sein eigenes Forschungsgebiet zieht er derweil eine klare Grenze. Seine Kollegen sollten unterlassen „zu begehren, dass eine Uebertragung des naturwissenschaftlichen Blütenstaubes auf philologische Stempel geschehe“. Dies würde – so legt er nahe – nur Bastarde produzieren.483 So bleibt eine Bruchstelle zwischen Natur- und Geisteswissenschaft, mit der umgegangen werden muss. Die Wissenschaften wandern „nicht alle auf demselben Weg“ schreibt Wachsmuth 1897484 und Baur formuliert 1874: „Aber indem wir dem gemeinsamen Ziele nachtrachten, gehen unsere Wege auseinander: sie scheiden sich im Grossen und Ganzen nach dem Dualismus der Wissenschaften, welche vorzugsweise die Gesetze des natürlichen, und derjenigen, welche vorzugsweise die Gesetze des geistigen Lebens zu erforschen und anzuwenden bemüht sind.“485 2.3.2 Die Einheit der philosophischen Fakultät Institutionell reflektiert sich die Einheit der theoretischen Wissenschaften in der Einheit der philosophischen Fakultät. Die zuletzt angesprochene Trennung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften zeigt jedoch bereits, dass diese Einheit prekär ist. 1881 referiert der Germanist Friedrich Zarncke über die „Geschichte und Einheit der philosophischen Fakultät“. Die Liste der Wissenschaften unter ihrem (Leipziger) Dach ist lang. Zarncke erwähnt Sprachwissenschaften, Geschichte, Staatswissenschaft, Nationalökonomie, Pädagogik, die Naturwissenschaften, Mathematik, Astronomie, Landwirtschaft, Tierheilkunde etc.486 Leicht entstehe der Eindruck einer „Universitätsrumpelkammer“487, für die nicht ohne weiteres anzugeben sei, worin eigentlich das Gemeinsame bestehe. Über Jahrhunderte fand die Einheit der vormaligen Artistenfakultät dadurch Ausdruck, dass jeder 480 Du Bois-Reymond 1882, 145. 481 Du Bois-Reymond 1882, 147. 482 Karl Weinhold (1893): Rede bei Antrittes des Rectorats der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität, Berlin, 5. 483 Weinhold 1893, 4. 484 Wachsmuth 1897, 679. 485 Baur 1874, 130. 486 Friedrich Zarncke (1881): Über Geschichte und Einheit der philosophischen Fakultät, in: Häuser 2009, 311–323, 311. 487 Zarncke 1881, 311. Es gibt darüber hinaus auch andere Versuche der Klassifizierung der Wissenschaften. Berühmt ist etwa die ebenfalls in einer Rektoratsrede vorgenommene Differenzierung von Windelband zwischen denjenigen Wissenschaften, welche „ das Einzelne in der geschichtlich bestimmten Gestalt“ und denjenigen, welche „das Allgemeine in der Form des Naturgesetzes“ untersuchen. Vgl. Wilhelm Windelband (1894): Geschichte und Naturwissenschaft. Rede zum Antritt des Rektorats der Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg gehalten am 1. Mai. Windelband bezeichnet beide Wissenschaften als „Erfahrungswissenschaften“ und grenzt sie so noch einmal von der Mathematik ab.

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Ordinarius jedes ihrer sieben Fächer hätte lehren können.488 In ihr versammelte sich das als allgemein geltende Wissen der Zeit. Doch sei, so Zarncke, eine solche Art von Allgemeinbildung durch die pure Fülle des gegenwärtigen Wissens nicht mehr denkbar.489 Wie viele andere legitimiert Zarncke die Einheit der philosophischen Fakultät durch die einheitliche Idee der Forschung, welche die Wissenschaften verbinde. Gemeinsam sei den Wissenschaften eine Idee von Forschung, die die wissenschaftliche Erkenntnis als Selbstzweck verstehe, da sie dem „Wesen der Dinge“ nachgehe und keinem praktischen Zweck unterstehe.490 Der einigende Zweck der Forschung verbinde Natur- und Geisteswissenschaften und rechtfertige die institutionelle Einheit der philosophischen Fakultät.491 Die Einheit der philosophischen Fakultät ist trotz aller Bekenntnisse zur Einheit prekär, auch wenn dies von Universität zu Universität unterschiedlich stark erlebt wird. Wundt schildert dies in seinen Lebenserinnerungen. Für ihn „boten in der Tat die drei Universitäten, die ich kennen gelernt, bemerkenswerte Kontraste, die vielleicht typisch für die damalige Mannigfaltigkeit der Zustände an verschiedenen Orten gewesen sind“.492 So hätten in Heidelberg, „keineswegs immer friedliche Zustände gewaltet. Noch erinnere ich mich, wie sich hier die Historiker über die »Apotheker« beschwerten, die sich ohne Sachkenntnis in die Angelegenheiten der Geisteswissenschaften einmischten. Da war denn doch für Männer wie Bunsen und Kirchhoff der Ehrenname der Apotheker gewiß kein besonderes Friedenszeichen“.493 In Zürich war die philosophische Fakultät bereits getrennt, mit dem Ergebnis, „daß z. B. die Beziehungen der sogenannten philosophischen […] zur theologischen Fakultät, mit der sie einen großen Teil der Zuhörer gemeinsam hatte, tatsächlich nähere waren als zu der naturwissenschaftlichen“.494 In Leipzig hingegen „machte nun die […] damals noch in hohem Grade erhalten gebliebene Einheit der Fakultät einen wohltuenden Eindruck“.495 Wundts differenzierte Einschätzung wird durch Wilhelm August Hofmann bestätigt, der in einer Rektoratsrede von 1880 systematisch die Gründe für und gegen die Einheit der philosophischen Fakultät untersucht.496 Hofmann berichtet einerseits von ausgedehnten Diskussionen an verschiedenen deutschen Universitäten über diesen Sachverhalt,497 andererseits werden auch die unterschiedlichen institutionellen Regelungen, die zum Zeitpunkt der Rede 488 Diese sog. Sieben Freien Künste unterteilten sich in ein trivium mit den Fächern Grammatik, Rhetorik, Dialektik/Logik und ein ein quadrivium mit den Fächern Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. 489 Zarncke 1881, 321. Allerdings sind die Fächergrenzen im 19. Jahrhundert noch lange nicht so undurchlässig wie später. Erstaunlich viele Naturwissenschaftler verlegten sich ab einem gewissen Zeitpunkt auf die Philosophie. Bekannte Beispiele für Leipzig sind Wilhelm Wundt, Wilhelm Ostwald und Theodor Fechner. 490 Zarncke 1881, 321. 491 Zarncke 1881, 322. 492 Wundt 1921, 293. 493 Wundt 1921, 293. 494 Wundt 1921, 293. 495 Wundt 1921, 294. Für den Zeitpunkt 1921 schränkt Wundt jedoch ein, dass die „ freilich nicht mehr für die Gegenwart und noch weniger vielleicht für die Zukunft“ zuträfe (Wundt 1921, 296). 496 Hofmann 1880. 497 Diskussionen mit ablehnendem Bescheid hätte es in Wien, Breslau, Kiel und Königsberg gegeben (Hofmann 1880, 9). Ebenso in Gießen. (Hofmann 1880, 7).

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bereits etabliert waren, ausgeführt.498 Hofmanns systematische Frage ist, ob „die philosophische Facultät in ihrer mannichfaltigen Gliederung, mit ihrer täglich wachsenden Mitgliederzahl, noch den Bedürfnissen der Zeit [entspricht], – oder empfiehlt sich im Hinblick auf die Verschiedenartigkeit der von ihr vertretenen Zweige des Wissens eine Scheidung in zwei oder mehrere Fakultäten?“499 Dabei steht vor allem die Trennung der philosophischen Fakultät in eine naturwissenschaftliche und eine geisteswissenschaftliche im Zentrum der Diskussion. Der Aufstieg der Naturwissenschaften bringt es mit sich, dass „sie den Anspruch erheben, aus dem Verbande der Facultäten auszuscheiden“.500 Robert von Mohl sei der erste gewesen, der dies prophezeit habe. Er schrieb 1832: „Die Zeit dürfte nicht fern sein, in welcher auch die Naturwissenschaften überall als eigene Facultät sich abrunden werden.“501 In einer pro und contra Argumentation referiert Hofmann die einzelnen Gründe. Für die Trennung sprächen die „hohe Stufe der Ausbildung, auf welcher die Naturwissenschaften angelangt sind“502 sowie die große Zahl an Disziplinen.503 Durch die Überzahl der Geisteswissenschaftler ergäbe sich in der Einheit eine Benachteiligung der Naturwissenschaften.504 Die Machtverhältnisse lägen auf Seiten der geisteswissenschaftlichen Fächer und jene Mehrheit verstünde zu wenig von den spezifischen Bedürfnissen der Naturwissenschaft, um ihr wirklich gerecht zu werden.505 Damit seien Probleme bei der Lehrstuhlbesetzung506 und bei der Bewilligung von Sachmitteln gegeben.507 Schließlich sei die Einheit der Fakultät ineffizient. Die vielen Sitzungen zu Themen die jeweils die Interessen vieler Anwesender nicht berührten, brächten ein hohes Maß an Zeitvergeudung mit sich.508 Die Gründe, die für die Einheit sprechen, macht Hofmann sich letztlich zu Eigen. Er erwähnt das Standardargument für die Einheit der Wissenschaften, es handele sich bei ihr um „von jeder praktischen Verwerthung der gewonnenen Erkenntniss absehende Forschung.“509 Er weist die Entgegnung zurück, dass man die Naturwissenschaft klar durch die ihnen eigenen Methoden der Beobachtung und des Versuchs distinguieren könne. Über alle Fächer gesehen, sei die Methodenvielfalt so groß, 498 Tübingen habe als erste Universität die Trennung 1863 eingeführt. (Hofmann 1880, 7). Die Universitäten München und Würzburg besäßen noch eine unitare Fakultät jedoch mit zwei relativ autonomen Sektionen. (Hofmann 1880, 10 f.) Auch in Bonn gäbe es spezielle Versammlungen, welche die jeweils nur einen Teilbereich betreffenden Angelegenheiten vordiskutieren würden. Ähnliches gelte für Leipzig (Hofmann 1880, 51 f.). 499 Hofmann 1880, 4. Vgl. auch: Johann Kaspar Bluntschli (1877): Über die Eintheilung der Facultäten. Rede zum Geburtsfeste des höchstseligen Grossherzogs Karl Friedrich von Baden und zur akademischen Preisvertheilung am 22. November, Heidelberg; Karl Heinrich von Weizsäcker (1878): Über die Facultäten-Eintheilung der Universität. Rede gehalten am 6. März zur Feier des Geburtsfestes Seiner Majestät des Königs Karl von Württemberg. 500 Hofmann 1880, 6. 501 Hofmann 1880, 7. 502 Hofmann 1880, 12. 503 Hofmann 1880, 12. 504 Hofmann 1880, 13. 505 Hofmann 1880, 13. 506 Hofmann 1880, 14. 507 Hofmann 1880, 14. 508 Hofmann 1880, 14. Vgl. auch Fischer 1918, 77 f. 509 Hofmann 1880, 14.

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dass man auf dieser Grundlage keine Trennung durchführen könne.510 Den Hinweis auf die Benachteiligung weist er als unzutreffend zurück. Nirgends seien die Verhältnisse für die Naturwissenschaft besser als in Deutschland, nirgendwo gäbe es eine bessere materielle Ausstattung.511 Zwar sei es richtig, dass die Geisteswissenschaftler an allen philosophischen Fakultäten eine mehr oder weniger große Majorität besitzen, doch sei dies kein Nachteil. Denn „die Mitglieder einer unitaren Facultät sind nicht engherzige Sonderbündler […] sondern weitsichtige Männer, welche in dem Gewinne des kleinsten Theiles eine Bürgschaft für die Förderung des Ganzen erkennen“.512 Eine Benachteiligung sei so „äußerst unwahrscheinlich“.513 Schließlich sei die Durchsetzungsfähigkeit einer einheitlichen Fakultät staatlichen Behörden gegenüber sogar größer, als die einer viel kleineren naturwissenschaftlichen Fakultät.514 Einzig das Argument der Zeitersparnis sei nicht von der Hand zu weisen, jedoch könne diese auch durch eine andere Organisationsform innerhalb der Fakultät, etwa der Einrichtung spezieller Kommissionen erreicht werden.515 Vielfältig seien nun die Vorteile der einheitlichen Fakultät. Der persönliche Kontakt bleibe erhalten und die vorhandenen „wissenschaftlichen Berührungspunkte“516 könnten genutzt werden.517 Der wissenschaftlichen Spezialisierung, die den „Blick aufs grosse Ganze“ trübt518, werde die Möglichkeit der Kenntnisnahme anderer Wissenschaften entgegengesetzt. Die Einheit wirke konfliktmindernd. „In der Trennung verschärfen sich die Gegensätze, in der Vereinigung gleichen sie sich aus.“519 Zwei Argumente beschließen Hofmanns Gedankengang und leiten zugleich zur Frage der Einheit der Universität über. Hofmann benennt zum einen eine „Urangst“ deutscher Ordinarien des 19. Jahrhundert. In der Zweiteilung der Fakultät sei ein „Übergang zur Fachschule […] leise angedeutet“.520 Zum anderen zerfalle mit der philosophischen die gemeinsame Grundlage der oberen Fakultäten.521 Damit stehe die Einheit der Universität im Ganzen auf dem Spiel. 510 511 512 513 514 515

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Hofmann 1880, 15. Vgl. Haeckel 1878, 26 f. Hofmann 1880, 17. Hofmann 1880, 18. Hofmann 1880, 19. Hofmann 1880, 19. Hofmann 1880, 20. Dies hebt auch Emil Fischer hervor. „Bei dieser Gelegenheit will ich nicht unterlassen darauf hinzuweisen, daß in München die philosophische Fakultät vernünftigerweise in zwei Sektionen geteilt war, und daß für alle Geschäfte, die uns Naturforscher betrafen, nur die mathematischnaturwissenschaftliche Sektion in Betracht kam. Ich halte das für einen großen Vorzug gegenüber den preußischen Universitäten, wo die philosophischen Fakultäten nicht geteilt sind und deshalb in toto alle Geschäfte erledigen müssen. Das bringt z. B. in Berlin, wo die Zahl der Ordinarien das halbe Hundert längst überschritten hat, eine recht mühsame Geschäftsführung mit sich, die zahllose, langdauernde Sitzungen nötig macht“ (Fischer 1918, 77). Hofmann 1880, 21. Auch Helmholtz betont die Vorteile eines gegenseitigen Erfahrungsaustausches, allerdings im Rahmen der Gesamtinstitution Universität. Vgl. Helmholtz 1862, 11. Hofmann 1880, 22. Hofmann 1880, 21. Dies ist nicht die Beobachtung aller Ordinarien: So schreibt Fischer, die gemeinsamen Fakultätssitzungen führten von „Zeit zu Zeit zu heftigen und sehr überflüssigen Auseinandersetzungen über prinzipielle Fragen zwischen den Vertretern der Natur- und Geisteswissenschaften“ (Fischer 1918, 78). Hofmann 1880, 25. Hofmann 1880, 25 f.

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2.3.3 Die Einheit der Universität Wilhelm Wundt spricht 1909 von einer „Exaktheit der Forschung und […] Differenzierung der wissenschaftlichen Methoden […] der die Hochschulen um die Mitte des 19. Jahrhunderts nahezu in Sammelstätten unabhängiger Fachschulen und gänzlich zusammenhangslos gewordener wissenschaftlicher Einzelarbeiten zu verwandeln schien.“522 Er verwendet das Präteritum auch wenn nicht ganz deutlich wird, was sich im Präsens geändert haben sollte. Der Wunsch jedenfalls, dass die Universität keine „Spezialschule“523 oder ein „Nebeneinander einzelner Fachschulen“524 werden solle und es verhindert werden müsse, „dass der grosse Organismus der Universitas […] in abgeschlossene und selbstgenugsame Facultäten auseinanderfalle“525 bzw. dass eine „Zersplitterung in blosse Fachschulen“ geschehe,526 wird fast allgemein geteilt.527 Über allgemeine Formulierungen hinaus, die fordern, dass die Universität „in der Wechselwirkung aller […] Glieder lebendig erhalten werde“528, oder konstatieren, dass das „Wesen der deutschen Universität […] ein bewusstes Ganzes“529 sei, kommt der philosophischen Fakultät eine besondere Funktion für den Erhalt der Einheit zu. Emil du Bois-Reymond spricht von ihr als „Grundlage“ der Universität. Sie biete vorbereitende und allgemeinbildende Vorlesungen an530 und dadurch komme auch der „Durchschnittskopf“ einmal an die „Schwelle der reinen Wissenschaft“.531 Gebe man, wie in Süddeutschland bereits praktiziert, die Einheit der Fakultät auf, so ginge diese Grundlage verloren. Die Fakultät, das „Palladium der idealen Bestrebungen, der Kultus der reinen Wissenschaften“532, könne ihre Funktion als verbindendes Glied der Universität dann nicht mehr wahrnehmen. Die Universität drohe zu zerfallen und zu einem Sammelsurium von Fachschulen zu werden.533 Die philosophische Fakultät wird so als zentrale Stätte der Universität im Sinne einer Forschungseinrichtung bestimmt. „[S]ie ist die Facultät der freien, in keinem Dienste stehenden Wissenschaft, ihre Bestrebungen sind zunächst auf die Lehre der Wissenschaft ihrer selbst wegen gerichtet.“534 Eigentlich, so Paulsen, haben an ihr alle Wissenschaften ihren Ort,535 in wissenschaftlicher 522 523 524 525 526 527 528 529 530 531 532 533 534 535

Wundt 1909b, 367. Baur 1874, 130. Seeliger 1905, 884. Baur 1874, 130. Wagner 1885, 4. Wilhelm Ostwald ist einer der wenigen, welcher für eine Auflösung der philosophischen Fakultät in Fachschulen plädiert. Vgl. Ostwald 1911, 264. Baur 1974, 130. Ernst Curtius (1881): Wissenschaft, Kunst und Handwerk. Rektoratsrede, Berlin, 3. Auch wenn – wie bereits dargestellt – diese Funktion zunehmend verloren geht. Du Bois-Reymond 1869, 361. Du Bois-Reymond 1869, 363. Du Bois-Reymond 1869, 363. Hofmann 1880, 5. Paulsen 1902, 527. In diesem Zusammenhang spricht Paulsen von der philosophischen Fakultät als „wissenschaftlicher Grossbetrieb“. (Paulsen 1902, 530) Harnack, mit dem diese Formulierung oft in Zusammenhang gebracht wird, verwendet sie wahrscheinlich erst 1905. Vgl. Bernhard vom Brocke (2001b): Im Großbetrieb der Wissenschaft. Adolph von Harnack als Wissenschaftsorganisator und Wissenschaftspolitiker – zwischen Preußischer Akademie und Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, in: Hubert Laitko (Hg.): Theoria cum praxi - Anspruch und Wirklichkeit der Akademie, Berlin 2001, 61–144;

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Hinsicht seien die anderen Fakultäten bloße Ableger. Nur in Bezug auf die Anwendung des Wissens erscheine die philosophische Fakultät als Vorschule.536 So wird auch die Einheit der Universität über den Begriff wissenschaftlicher Forschung gedacht, mit der philosophischen Fakultät als Nukleus. Bücher formuliert 1903: Die Einheit der Universität „beruht […] auf der Einheit des wissenschaftlichen Gedankens“537 und Curtius pflichtet ihm bei: „Die freie Forschung – das ist das Erste, das wir Alle als ein Gemeinsames anerkennen“.538 Begleitet wird diese Einheitsidee von der immer wieder beschworenen gemeinsamen Mentalität. Ritschl betont, dass die Korporation durch die „Freiheit in wissenschaftlicher Forschung und Lehre“ und durch das „Gemeingefühl“ gesichert werde.539 Hofmann schwärmt von einem „Gefühl der Einheit und Untheilbarkeit“, das er in Berlin erlebe540 und Seeliger von einer „idealen Gemeinschaft“, in der „die akademischen Bürger dauernd verbunden“ seien.541 Nüchterner spricht Paulsen in diesem Zusammenhang von Elitenbildung und der Einheit der Eliten.542 Umstritten bleibt, wer zu dieser Elite dazugehören darf und wer nicht.543 Nicht alle teilen die Position des Hygienikers Franz Hofmann, der 1888 in einer Leipziger Rektoratsrede formuliert: „Der freiheitliche Rahmen der Universität gestattet, dass sich derselben neue Fächer und Wissensgebiete einreihen lassen“.544 Es ist diese Position, die sich in der Rückschau letztlich durchsetzt.

3. Zusammenfassung Bezogen auf die Universitäten schreibt sich die zweite Hälfte des langen 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum als Erfolgsgeschichte vor allem der Naturwissenschaften. Die deutschen Universitäten befinden sich in einer historisch einzigartigen Situation. Für einen kurzen Moment sind sie in einer weltweiten Spitzenposition. Deutsch ist anerkannte Wissenschaftssprache. Das zeigt sich auch daran, dass viele der Quellen, die in diesem Aufsatz verwendet wurden, aus Onlinearchiven amerikanischer Universitäten stammen. In den Rektoratsreden spiegelt sich selbstbewusst dieser Erfolg. Die Rektoren und Ordinarien finden für ihn eine Reihe von Schlagwörtern auf die sie immer wieder zurückgreifen, um diesen einzuordnen und zu erklären. Die erste dieser Chiffren ist die Freiheit der Wissenschaft und die akademische Freiheit. Die Universitäten werden prinzipiell als Ort gedacht, an dem nach der Wahrheit geforscht

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Christian Nottmeier (2004): Adolf von Harnack und die deutsche Politik 1890–1930. Eine biographische Studie zum Verhältnis von Protestantismus, Wissenschaft und Politik, Tübingen, 263. Paulsen 1902, 528. Bücher 1903, 829. Curtius 1881, 4. Ritschl 1888, 56. Hofmann 1880, 37. Seeliger 1905, 884. Paulsen 1902, 555 f. Dies gilt wiederum besonders für die Frage nach der Eingliederung der Technischen Hochschulen in den universitären Rahmen. Hofmann 1888, 457.

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werden soll. Das Beispiel der Vivisektion zeigt, dass zumindest in Teilen der Naturwissenschaften ein Verständnis von Forschung vorherrscht, das es erlaubt, sich über bestimmte tradierte Werte hinwegzusetzen. Als komplexes institutionelles Gefüge entpuppt sich die institutionelle Freiheit der Universität. Staatliche Eingriffe und universitäre Selbstverwaltung stehen in vielfacher Beziehung, in Widersprüchen und Konflikten. Einerseits kann „der“ Staat als Modernisierungsfaktor begriffen werden, der in verschiedener Hinsicht tradierte Strukturen aufbricht, da auch „er“ am Forschungsimperativ und seinen Konsequenzen Interesse hat. Dies zeigt sich etwa an der Entstehung des Seminars, welches sich jenseits von Fakultätsstrukturen entwickelt und zu einem der wichtigsten Faktoren des universitären Erfolgs im 19. Jahrhundert wird. Andererseits kann die Universität als Ausbildungsstätte für Lehrer und Staatsdiener selbst als eine staatliche Institution eingeordnet werden. Auch hierin ist einer der Gründe für die Freiheit der Institution zu sehen. Zwischen Staat und Universität herrscht weitgehende Übereinstimmung der Interessen. Die handelnden Personen verstehen sich auf beiden Seiten als Teil der herrschenden Elite, die an einem nationalen Projekt teilhat. Dieses Elitenbewusstsein ist im 19. Jahrhundert noch weitgehend ungebrochen. Weite Teile der Gesellschaft, wie exemplarisch etwa der Fall Aron zeigt, waren ausgeschlossen. Bei allen Konflikten im Einzelnen war die Universität im 19. Jahrhundert eine geteilte Idee staatlicher und wissenschaftlicher Eliten und dies trug dazu bei, denn relativen Spielraum von Lehr- und Hörfreiheit nicht zu gefährden, auf den die Rektoren und Ordinarien in Ihren Reden so stolz Bezug nehmen. Auch in den Debatten um den Zweck der Universität findet sich diese Einheit wieder. Einerseits ist die wissenschaftliche Berufsausbildung an den höheren Fakultäten und zunehmend auch an der philosophischen Fakultät unbestrittener Bestandteil der Universität. Durch die immer wieder beschworene Einheit von Forschung und Lehre wird ein Persönlichkeitstypus als Idealbild gefördert, welcher in seiner Funktion als Wissensproduzent selbständig und frei agieren kann. Umstritten ist – und dies ist eine durchaus aktuelle Debatte – ob und wann die innerwissenschaftliche Kritik, also das beständige Infragestellen der Ergebnisse der Wissensproduktion, in der Lehre und dann auch in der Gesellschaft vermittelt werden soll. Einen Kampf um Integration führen die technischen Wissenschaften, welche mit den technischen Gymnasien und technischen Hochschulen im 19. Jahrhundert einen ungeheuren Aufschwung nehmen. Politisch sind sie als Teil der besagten Elite zu betrachten, kulturell existieren jedoch Differenzen. In der Diskussion um angewandte oder reine Wissenschaft zeigt sich dieser Konflikt, mehr noch aber in der Frage nach der Einheit der Wissenschaft und der Einheit der Universität. Die philosophische Fakultät erweist sich mehr und mehr als unfähig, die sich herausbildende wissenschaftliche Vielfalt unter ihrem Dach zu versammeln. Die Einheit der Universität bleibt jedoch bestehen. Sie ist in der Lage, die sich neu herausbildenden Wissenschaften zu integrieren.

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katharina middell

Die Universität Leipzig um 1900 „Es ist dies ein hoch erfreulicher Anfang des neuen Jahrhunderts, der zeigt, dass die Universität Leipzig kräftig aufwärts streben und in emsiger Arbeit ihren Platz behaupten will.“1

1. Einleitung Wie „denkt“ eine Universität und für welche Vision ihrer selbst tritt sie ein? Aus diesen Fragen, denen im folgenden Abschnitt für die Zeit um die vorletzte Jahrhundertwende nachgegangen werden soll, entstehen einige methodische Folgeprobleme: Wer ist die Universität oder, anders gesagt, wer repräsentiert sie auf allgemein akzeptierte Weise? Es liegt nahe, denen, die von den anderen Professoren in das Amt des Rektors gewählt und damit zu Sprechern der akademischen Gemeinschaft auf Zeit berufen wurden, das erste Stimmrecht einzuräumen. Deshalb gründet der erste Abschnitt dieses Beitrags auf den Rektoratsreden, die zu Anfang und zu Ende der jeweiligen Amtszeiten gehalten und zumeist auch separat veröffentlicht wurden.2 Diese Texte passen sich in den rituellen Rahmen der Übergabe von Amtsgeschäften ein, sie mussten ein Mindestgebot an Feierlichkeit berücksichtigen und sind naturgemäß weit weniger direkt im Aufdecken von Missständen als manche private Korrespondenz oder polemische Einlassung in Streitschriften. Dies in Rechnung gestellt, haben sie doch den Vorzug, dass sie regelmäßig und über einen langen Zeitraum hinweg vorgetragen wurden und damit den Vergleich entlang der Zeitachse, aber auch entlang der Fächergrenzen erlauben, der das Bild von der gleichförmigen Ausübung des Rektorenamtes eintrübt und Hinweise auf Spannungen und Widersprüche gibt, die im Denken über die Universität Leipzig bei den Zeitgenossen auftauchten. Eine zweite Spur führt zu den Berufungen neuer Professoren. Auch wenn die Zahl der Studierenden massiv anstieg und ein akademischer Mittelbau immer mehr von der wachsenden Lehrbelastung tragen musste, galt die Universität um 1900 doch noch vorrangig oder sogar ausschließlich als Kongregation von Professoren; ein Zusammenschluss von Individualisten, die sich zunehmend als Vertreter ihres jeweiligen Faches, aber eben auch als Pfeiler der akademischen Gemeinschaft sahen. Die Aufnahme eines neuen Kollegen war ein allseits gründlich bedachter Akt, der reichlich Material in den Archiven hinterlassen hat, denn die Bewerber wurden, als Forscher, Lehrer, auch nach Passfähigkeit, beurteilt und gegeneinander gewogen, bevor man die Wahl traf. Umgekehrt war die Gemeinschaft stets bedroht, einen der ihren zu verlieren, wenn eine andere Universität (bzw. Ministerialbehörde) rief. Dann galt es zu entscheiden, ob man den Umworbenen ziehen ließ und sich nach Ersatz umsah oder ob man versuchte, im Wettbieten bei Gehalt und Ausstattung des betreffenden Instituts mitzuhalten. All dies ging nicht ohne Erörterung der Vision ab, die man von der eigenen Hochschule hatte, denn die Kandidaten standen nicht selten für verschiedene Ausrichtungen 1 2

Rede des abtretenden Rektors Paul Zweifel, 31. Oktober 1901, in: Rektoratsreden, Bd. I, S. 775. Sie liegen inzwischen gesammelt vor: Leipziger Rektoratsreden 1871–1933, hg. von Franz Häuser, 2 Bde., Berlin / New York 2009.

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im Verständnis des Fachs, und manche sollten das Fach überhaupt erst an die Leipziger Universität bringen. Andere Hochschulen hatten dann bisweilen den Bann schon gebrochen und das neue Feld zum Berufungsgebiet gemacht. Eine Vision der eigenen Universität zu haben, bedeutete also nicht nur, beschwörende Sonntagsreden zu halten, sondern in der alltäglichen Entwicklung aufmerksam zu beobachten, was sich anderswo tat, und neue Überlegungen – die es gerade in dieser herausfordernden Phase um 1900 vielfach gab – einzubeziehen oder aber zu neutralisieren. Ein solcher Blick über die Mauern der Universität hinaus hatte für Leipzig drei Schwerpunkte. Einigkeit bestand, erstens, unter den Professoren der Alma Mater Lipsiensis, dass es darum geht, den Platz unter den großen Drei des deutschen Universitätssystems zu verteidigen, indem man beispielsweise darauf achtgab, möglichst Professoren nur nach Berlin und München, nicht aber an kleinere Hochschulen im Reich durch Wegberufung zu verlieren, andererseits für die Besten aus den Mittelrängen der Liga attraktiv und selbst wählerisch zu sein. Anerkannte Gelehrte galten als Voraussetzung für wachsende Studentenzahlen. Diese wiederum waren die Grundlage für höhere Zuweisungen aus dem Staatshaushalt, die dann auch bessere Bedingungen für geeignete Berufungskandidaten bedeuteten, womit sich der Kreis des Erfolgs schloss.3 Dabei galt es, zweitens, nach der Reichseinigung 1871 die wachsenden Begehrlichkeiten der preußischen Kultusbürokratie zu beachten, gestaltend für das gesamte Reich und zum eigenen Vorteil tätig zu werden. Besonders Friedrich Althoff, der im Laufe der Jahre zur allseits respektierten Eminenz der Hochschulpolitik geworden war,4 griff in nicht wenigen Fällen in die sächsische Berufungspolitik ein, für die er formal gar nicht zuständig war. Die Leipziger hatten sich einzugestehen, dass sie dieses Schwergewicht im Reich unter Preußens politischer Führung nicht ignorieren konnten, wenn ihre Vision Chancen auf Realisierung haben sollte. Drittens aber verstanden sich Leipzigs Universitätsvertreter als Repräsentanten einer jahrhundertealten Landesuniversität und leiteten daraus eine besondere Sorgfaltspflicht des Landesherrn ebenso wie das Monopol auf diese Zuwendung ab. Die Erörterung des Plans, in der Hauptstadt Dresden eine Universität zu errichten, dient im dritten Abschnitt des Beitrags als Testfall, um zu untersuchen, was geschieht, wenn dieser Teil des Selbstverständnisses auch nur ansatzweise in Frage gestellt wurde und warum solche dramatischen Reaktionen festzustellen sind. 3

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„Unsere sächsische Staatsregierung ist, seit die Universität in die neue Phase ihrer Entwicklung eingetreten, allezeit in weiser Fürsorge bemüht gewesen, durch die Gewinnung tüchtiger Lehrkräfte wie durch die Schaffung neuer Institute und die Erweiterung der vorhandenen die Lösung der großen Aufgaben zu fördern, die der Hochschule gestellt sind, und unsere sächsische Volksvertretung hat sich nie einer für die Zwecke der Universität an sie gerichteten Forderung der Regierung versagt. Nicht ein einziges Mal hat, so weit die Erinnerung der ältesten Generation unter uns zurückreicht, unser Landtag die im Interesse der Hochschule gewünschten Bewilligungen abgelehnt oder auch nur zu kürzen gesucht […].“ Wilhelm Wundt, Festrede zur fünfhundertjährigen Jubelfeier der Universität Leipzig. Mit einem Anhang: Die Leipziger Immatrikulationen und die Organisation der alten Hochschule, Leipzig 1909, S. 38. Aus der überbordenden Fülle der Literatur über Friedrich Althoff sei verwiesen auf Bernhard vom Brocke, Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deutschen Kaiserreich 1882–1907: Das „System Althoff“, in: Peter Baumgart (Hg.), Bildungspolitik in Preußen zur Zeit das Kaiserreiches, Stuttgart 1980, S. 9–118; ders., Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik im Industriezeitalter. Das „System Althoff“ in historischer Perspektive, Hildesheim 1991.

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Das Jubiläumsjahr 1909 bietet für die Untersuchung deutlich mehr Anhaltspunkte als das eher glanzlose von 1809, zumal es sich an einem „Wendepunkt der Zeiten“ ereignete.5 Wie ein Prisma bündelt der Feiertag zum 500-jährigen Bestehen der Universität zentrale, teilweise existenzielle Probleme und Herausforderungen der Universitäts- und Wissenschaftsentwicklung.6 Einige davon reichen bis in die heutige Universitätslandschaft hinein, wenn man etwa an das Verhältnis von Forschung und Lehre, die Forschungsfinanzierung, die Strukturierung der Ausbildung, die „Überfüllungsfrage“, die Perspektiven des akademischen Nachwuchses (die „kleine soziale Frage“), die nationale und internationale Wettbewerbsfähigkeit denkt.

2. Selbstbild, Positionskämpfe, Deutungshoheit um 1900 Nach welchem Maßstab Wissenschaftler sich selbst und ihre Kollegen beurteilen, wird aus den verschiedensten Quellen ersichtlich, die allerdings in unterschiedlichem Maße der Inszenierung unterliegen. Öffentliche Festvorträge der Rektoren zu Beginn ihrer Amtszeit bilden im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert Beispiele für „meist fachlich determinierte Redeakte“,7 in denen zum Amtsantritt die jeweilige Fachdisziplin allgemein verständlich vorgestellt wird, aber bisweilen auch übergreifende Probleme der Universität, die „Einheit von Forschung und Lehre“, das Ideal der Einheit der Wissenschaften bzw. wissenschaftlicher Erkenntnis erörtert werden.8 In den Jahresberichten der abtretenden Rektoren wiederum wurde die Entwicklung der Universität im abgelaufenen Jahr unmittelbar referiert, was jeweils überregionale und internationale Positionsvergleiche ermöglicht. Neben dem Kriterium der Studentenfrequenz stellen die Professorenberufungen – Gewinne und Verluste –, die im nächsten Abschnitt eingehender untersucht werden, ein schlagendes Indiz für die Qualität der Universität dar und verweisen auf das tieferliegende Ideal von Ausübung der Wissenschaft in Leipzig. Hinsichtlich der Stellung der Universität Leipzig im Gefüge der deutschen Universitäten sind die Berichte der abtretenden Rektoren über das abgelaufene Jahr eine bisher nicht systematisch ausgewertete Quelle.9 Zum Universitätsjubiläum 2009 wurden die bisher zwar gedruckt, aber separat vorliegenden Reden zum Rektorwechsel, der alljährlich am Refor5 6

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Wundt, Festrede, S. 1. „In der Tat gibt es wohl keine deutsche Hochschule, die zu solch vergleichenden Betrachtungen zwischen dem Sonst und dem Jetzt mehr herausforderte als die unsere. Spiegelt sich doch in ihrer Geschichte in einem mehr als anderwärts durch starke Kontraste gehobenen Bilde die gesamte Entwicklung der deutschen Universitäten.“ Ebd., S. 2. Jens Blecher, Die Akademische Auskunftsstelle an der Universität Leipzig, https://gibet.org/getmedia. php/_media/gibet/201709/236v0­orig.pdf (aufgerufen am 5. November 2010), S. 1, Fn. 3. Siehe die Übersicht über programmatische Rektoratsreden am Ende dieses Abschnittes. Die Online-Bibliographie der Rektoratsreden im 19. und 20. Jahrhundert (Historische Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften) ist ein Hilfsmittel zur gezielten Suche nach Universitäten bzw. Rednern, vergleichende Untersuchungen zur Beurteilung der Selbstbilder der Universitäten werden erst durch die Veröffentlichung möglich (http://www.historische-kommission-muenchen-editionen. de/rektoratsreden, aufgerufen am 20. Oktober 2019, dort auch Literatur zu den Rektoratsreden). Die Schweizer Universitätsreden stehen bereits im Volltext zur Verfügung. Siehe u. a. Dieter Langewiesche, Die ‚Humboldtsche Universität‘ als nationaler Mythos. Zum Selbstbild der deutschen Universitäten

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mationstag zelebriert wurde, in zwei stattlichen Bänden veröffentlicht. Sie bieten sich einer gezielten Auswertung an.10 Die Reden sind Dokumente der Selbstbeurteilung und der öffentlichen Repräsentation. Die Rektoren stellen ihre Universität und ggf. ihre Fachdisziplin in einen größeren Kontext. Explizite Stellungnahmen zur Situation der Universität Leipzig, ihrer Konkurrenzfähigkeit in der deutschen Universitätslandschaft sind zwar in der üblichen Struktur der Rektorenreden und Jahresberichte nicht vorgesehen. Doch „die Verbindung von Wissenschaft und Gesellschaft ist ein Thema, das die Referenten wiederholt in den Vordergrund rücken“.11 Sie sind der besonderen Zeitsituation oder dem universitätspolitischen Weitblick des Sprechers geschuldet. Eher implizite Wertungen der Leistungsfähigkeit von Fächern und Fakultäten findet man in den Würdigungen verstorbener Kollegen und in den mehr oder weniger ausführlichen Kommentaren zu Neu- oder Wegberufungen. Zu ergänzen wären solche Auslassungen durch einige nach Amtsniederlegung veröffentlichte „Rektoratserinnerungen“ oder Lebensbeschreibungen,12 die Überlegungen über die Rolle der Leipziger Universität und ihre Stellung im nationalen und internationalen Kontext mehr Raum geben, oder akademische Nekrologe, die über Wissenschaftlerbiographien berichten.13 Man mag sich fragen, ob von den Rektoren aus den verschiedenen Fakultäten tatsächlich ein unvoreingenommenes Bild der Universität als Ganzes zu erwarten war und ist, ob sie mit der Amtsübernahme alle Fakultäts- und Fachinteressen abstreifen konnten. Die gravitätisch auftretenden Professoren der Wilhelminischen Ära dürften jedoch die Würde des Amtes in aller Form und Schwere gespürt haben. Der Nationalökonom Karl Bücher hat es, als er im Oktober 1903 Rektor wurde, als einer der wenigen direkt angesprochen: „Der Augenblick, da ein deutscher Professor das Amt des Rektors antritt, bedeutet auch für sein inneres Leben eine Wandelung. Fährt er auch fort, seiner Lehrtätigkeit in gewohnter Weise obzuliegen, so wird doch seine wissenschaftliche Forschungsarbeit in jäher Weise unterbrochen. Alle seine Gedanken und Interessen werden fast gewaltsam aus dem Kreise engster Fachstudien heraus auf die grosse Gemeinschaft hingelenkt, die für ein Jahr seiner Obhut anvertraut ist und damit auch auf die Fragen ihrer Entwickelung und Fortbildung.“14

Schwer fiel der Verzicht auf die eigene wissenschaftliche Arbeit, die in der Amtszeit des Rektors auf ein Minimum reduziert wurde. „Vertane Zeit“, „in wissenschaftlicher Beziehung

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in ihren Rektoratsreden im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Historische Zeitschrift 290 (2010), S. 53–91. Siehe die Übersichtsdarstellung von Jens Blecher, Hoch geehrt und viel getadelt. Die Leipziger Universitätsrektoren und ihr Amt bis 1933, in: Rektoratsreden, Bd. I, S. 7–34. Franz Häuser, Der Rektor als Redner, in: Rektoratsreden, Bd. I, S. 1–5, S. 5. Z. B. Anton Springer, Aus meinem Leben, Berlin 1892; Otto Ribbeck. Ein Bild seines Lebens aus seinen Briefen 1846–1898, Stuttgart 1901; Karl Lamprecht, Rektoratserinnerungen, Gotha 1917; Karl Bücher, Lebenserinnerungen 1847–1890, Tübingen 1919; Wilhelm Wundt, Erlebtes und Erkanntes, Stuttgart 1921; Wilhelm Ostwald, Lebenslinien. Eine Selbstbiographie. 3 Teile, Berlin 1926/1927; Paul Kittel, Die Universität Leipzig im Jahr der Revolution 1918/19. Rektoratserinnerungen, Stuttgart 1930. In der Sächsischen Akademie der Wissenschaften wurden regelmäßig Nekrologe der verstorbenen Mitglieder referiert, siehe z. B. Karl Bücher, Worte zum Gedächtnis an Karl Lamprecht. Gesprochen am 14. November 1915, Abdruck aus den Berichten der philologisch-historischen Klasse der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig, Bd. LXVII, Leipzig 1916. Rede des antretenden Rektors Karl Bücher, 31. Oktober 1903, in: Rektoratsreden, Bd. I, S. 827. Paradebeispiel für das Bewusstsein von der Gestaltungsrolle des Rektors war zweifellos Karl Lamprecht.

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[…] wertarm“ befand der Jurist Otto Stobbe15, der 1878/79 das Amt versah, und zeigte damit den Unwillen, in dieser Funktion die Universität zu gestalten; dass die Wissenschaft mit dem Rektorat für ein Jahr in die Nebenrolle rückte, stand ohnehin für jeden außer Zweifel. Die Struktur der Jahresberichte ließ begrenzten Raum für individuelle Akzente, ihre Aufgabe war in erster Linie eine Bestandsaufnahme des abgelaufenen akademischen Jahres. Am Anfang steht immer der Bericht über den seit König Johann (1854–1873) traditionellen alljährlichen Besuch des Königs, des „Rector Magnificentissimus“, der die Vorlesungen einiger Professoren und einige Anstalten der Universität besuchte, sowie über die Teilnahme der Universität an den Festtagen des Wettiner Herrscherhauses. Die Beziehung zum Kultusministerium nimmt einen eigenen Abschnitt ein, wenn sich dort personelle Veränderungen ergaben oder besondere Bewilligungen anstanden bzw. zu würdigen waren. Die Beteiligung des Rektors an Feiern auswärtiger Universitäten oder Besuche auswärtiger Vertreter in Leipzig fehlen nicht. Es folgen Ausführungen über Universitätsbauten, Stiftungen, Legate und Schenkungen, bevor über Veränderungen im Lehrkörper berichtet wird. Es wird der verstorbenen Kollegen bzw. herausragender Jubiläumsdaten von Professoren gedacht, Neuberufungen und erfolgreiche Stellenbesetzungen an anderen Universitäten durch eigene junge Wissenschaftler werden referiert. Die Statistik der Promotionen und Habilitationen stimmt auf den Teil ein, der die Existenzgrundlage der Universität darstellt: die Studentenschaft, „diese[s] teure[…] Zentrum aller unserer Bemühungen“.16 Die akademischen Preisaufgaben, der moralische Appell an die Studierenden und die Amtsübergabe an den folgenden Rektor beschließen den Jahresbericht. Je nach Anlass wurden einzelne Aspekte der Außenwirkung der Universität hervorgehoben und lassen implizite Qualitätsurteile erkennen. In diesem Abschnitt interessiert, welche Vorstellungen die Redner von der Körperschaft Universität hinsichtlich Ideal und Wirklichkeit formulierten, welchen Referenzrahmen sie wählten und wie sich die gesellschaftlichen Modernisierungszwänge im Kontext der politischen Geschichte des Kaiserreiches – „Fortbildung der Universität“ bzw. Universitätsreform – mit dem lange gepflegten überzeitlichen Universitätsideal und den Interessen der Professorenschaft vereinbaren ließen. Auch im Bewusstsein der Tatsache, dass die öffentlichen Reden der Rektoren, wenn sie denn ins Grundsätzliche gehen, nur die Vorstellung des jeweiligen Sprechers wiedergeben, lassen sich doch grundsätzliche Vorstellungen vom Idealbild der Universität und ihrer wichtigsten (und umstrittenen) Aufgaben und Repräsentationsformen rekonstruieren. Traditionalisten und aufgeschlossene Professoren waren sich durchaus nicht einig, ob und wie man den gesellschaftlichen Anforderungen an die Universität genügen solle. Bei aller kollegialen Nähe bestand am Ende des 19. Jahrhunderts sogar Dissens über die Rolle der bisher wichtigsten Struktur der Universität, der Vorlesung. Auch dies schlug sich in den Rektoratsreden, aber mehr noch in den Debatten innerhalb der Philosophischen Fakultät nieder. Der Chemiker Wilhelm Ostwald, erlitt die größte Schmach – eine „Missbilligung“ der Philosophischen Fakultät –, empfand sie aber nicht nur als solche, sondern vor allem als unerträgliche Abhängigkeit des Universitätswissenschaftlers, der gern freier Wissenschaftler eines Forschungsinstituts (geworden) wäre, von einer „bezopften“ Fakultät, deren meiste 15 16

Zit. nach Bettina Scholze, Otto Stobbe (1831–1887). Ein Leben für die Rechtsgermanistik, Berlin 2002, S. 89. Rede des abtretenden Rektors Karl Lamprecht, 31. Oktober 1911, in: Rektoratsreden, Bd. II, S. 1011.

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Mitglieder sich im akademischen Parnass wähnten und jedweden Verstoß gegen ihre wissenschaftliche Seelenruhe abstrafen mussten. Der Fall ist Beispiel für eine bereits in Kants „Streit der Fakultäten“ skizzierte Konfrontation, hier aber eher schon der inzwischen berühmt-berüchtigten „zwei Kulturen“ in der Philosophischen Fakultät.17 Bei Kant steht die selbstbewusste Philosophische Fakultät als wissenschaftliche Fakultät den Berufsausbildungsfakultäten der Theologie, Jurisprudenz und Medizin gegenüber. Hier geraten die Wissenschaftsideale der noch in derselben Fakultät eingeschlossenen exakten (Natur-)Wissenschaften mit den Philologen und Historikern aneinander. Zum Selbstverständnis der Leipziger Universität gehörte es, eine „Arbeitsuniversität“ zu sein. Die Implikationen dieser in Leipzig gern gebrauchten Auszeichnung verweisen andere Universitäten auf einen weniger am Wert des „ernsten Arbeitens“18 orientierten Rang. Die als Ausbildungsziel formulierte eigenständige wissenschaftliche Arbeit der Studierenden stellte hohe Ansprüche sowohl an neue institutionelle Formen des Unterrichts als auch an die „Qualität“19 der Leipziger Kommilitonen. Professoren und Studierende waren gleichermaßen zum „Dienst der Wissenschaft“20 verpflichtet. Dass ein ausgeprägtes Bewusstsein herrschte, „Arbeits“- und Massenuniversität zu vereinbaren, d. h. „grösserer Studienverflachung“21 entgegenzuwirken und die nötigen Veränderungen in der Organisation des Forschungs- und Lehrbetriebs in Angriff zu nehmen, erscheint bis heute durchaus als vorbildlich. Denn dass sich die beiden Pole der Universität, staatliche Ausbildungsanstalt und Stätte freier wissenschaftlicher Forschung zu sein, zunehmend voneinander entfernt hatten, war den Akteuren um 1900 bereits überdeutlich bewusst: „[D]ie Distanz zwischen dem Ideal der Universität als Staatslehranstalt und der Universität als Ideal freier Forschung“ begann in den Worten des Historikers Karl Lamprecht Ende des 19. Jahrhunderts „unerträglich zu werden“.22 Im zweiten Abschnitt steht die Berufungspolitik der Leipziger Universität im Mittelpunkt, gefolgt von der Untersuchung der bisher wenig beachteten Kontroverse in Leipzig und zwischen Leipzig und Dresden über den Vorschlag, in der Landeshauptstadt eine zweite sächsische Universität zu gründen (Abschnitt 3). Für alle Kapitel wurden außer den Rektoratsreden Quellen im Leipziger Universitätsarchiv und im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden ausgewertet. Die beeindruckend umfangreiche „Geschichte der Universität Leipzig“, die zum 600. Jubiläum 2009 erschien, lässt in diesen Fragen durchaus noch Raum für neue Erzählungen. 17

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Charles Percy Snow, Die zwei Kulturen [1959], in: Helmut Kreuzer (Hg.), Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. C. P. Snows These in der Diskussion, München 1987; Silke Jakobs, „Selbst wenn ich Schiller sein könnte, wäre ich lieber Einstein“. Naturwissenschaftler und ihre Wahrnehmung der „zwei Kulturen“, Frankfurt a. M. / New York 2006, u. a. Der Hinweis, den der Urheber der These Snow auf die Tatsache gab, dass die der literarisch-philosophischen Kultur zugehörenden Wissenschaftler nichts vom Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik verstünden, ist gegenüber der griffigen und wohl noch heute nicht unsinnigen Metapher in den Hintergrund getreten. Die These der zwei Kulturen wurde inzwischen umfangreich diskutiert und kommentiert. Rede des abgehenden Rektors Adolf Schmidt, 31. Oktober 1874, in: Rektoratsreden, Bd. I, S. 108. „Ich weiss es, dass wir vielfach von anderen Universitäten um die Qualität unserer Zuhörer beneidet werden – sorgen Sie dafür, meine Herren Commilitonen, darum bitte ich Sie, dass uns dieser Vorzug auch ferner bleibe!“ Rede des abtretenden Rektors Max Heinze, 31. Oktober 1884, ebd., S. 374. Rede des antretenden Rektors Bernhard Windscheid, 31. Oktober 1884, ebd., S. 385. Rede des antretenden Rektors Wilhelm His, 31. Oktober 1882, ebd., S. 346. Karl Lamprecht, Rektoratserinnerungen, Gotha 1917, S. 63 f.

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2.1 Diener der Wissenschaft Das Selbstverständnis derjenigen Professoren, die sich nach der feierlichen Amtsübertragung mit einer Rede über ihren Forschungsgegenstand präsentieren, tritt in den ersten Jahrzehnten nach der Reichsgründung zu Tage als das eines „Dieners der Wissenschaft“. Dies galt für alle Fächer, wenngleich die Philosophische Fakultät entsprechend ihrer von den anderen drei Fakultäten grundlegend unterschiedenen Rolle beanspruchte, „die Dienerin des höchsten menschlichen Erkenntnistriebes zu sein“.23 „Die Wissenschaft, der ich diene“; man behandle den Gegenstand, „welcher die wissenschaftliche Aufgabe seines Lebens bildet“ oder „dessen Erforschung ich mein Leben gewidmet habe“; „Wir dienen alle einer Herrin und nur der einen“24 – während die Geistlichen die Diener der Kirche bzw. Christi sind, nehmen sich die Vertreter der Philosophischen Fakultät als Diener der Wissenschaft schlechthin wahr, was neben der Selbstlosigkeit („mein Leben gewidmet“) auch die Hingabe an Entbehrung und mühselige Arbeit einschließt, da Dienen seit alters her im Zusammenhang mit Unterwerfung oder wenigstens Unterordnung steht. Auch den Studierenden wurde solches nahegelegt: Da sie die absolute Freiheit des Lernens genossen und „es für den Edlen keinen grösseren Zwang gibt, als die Freiheit, welche ihm gewährt wird“, war eine Voraussetzung (für die „Arbeitsuniversität“), „dass Sie [die Kommilitonen] mit uns zu gleichem Dienste verpflichtet sind, zum Dienst der Wissenschaft“.25 Die überkommene Auffassung des Dieners war unter den Zeitgenossen das gesamte 19. Jahrhundert hindurch anzutreffen. Theodor Mommsen etwa bekam von Adolf von Harnack ein solches Lob verehrt.26 Ähnliches sagte Ulrich Wilamowitz: „Wir wissen, daß wir Diener sind, tun unsere Pflicht und bringen willig die Opfer, die gerade ein freiwillig übernommener Dienst immer verlangt.“27 Umgekehrt wurde (spätestens seit Kant und Fichte) der Theologie der Wissenschaftscharakter abgesprochen und damit auch die Funktion eines „Dieners der Wissenschaft“.28 Nach 1900 werden solche pathetischen Formeln seltener, die Antrittsfloskeln nüchterner. Man ist nun schlicht „Vertreter“ einer Wissenschaft, einer Disziplin. Aber auch in der Diener-Metapher verbirgt sich der Zwiespalt der Universität um 1900: sowohl Diener der Wissenschaft als auch Diener des Staates bzw. dem weitblickenden Wilhelm Wundt zufolge: der Gesellschaft29 zu sein. 23 24 25 26

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Rede des antretenden Rektors Friedrich Zarncke, 31. Oktober 1881, in: Rektoratsreden, Bd. I, S. 323. Nacheinander die Reden der antretenden Rektoren Karl August Wunderlich (Medizin), 31. Oktober 1871, in: Rektoratsreden, Bd. I, S. 49; Adolf Schmidt (Jurist), 31. Oktober 1873, S. 93; Emil Friedberg (Jurist), 31. Oktober 1896, S. 653; Kurt Wachsmuth (Klassische Philologe), 31. Oktober 1897, S. 679. Rede des antretenden Rektors Bernhard Windscheid, 31. Oktober 1884, in: Rektoratsreden, Bd. I, S. 385. „Sie aber lehren uns, daß das tiefe Wort ‚Wer unter Euch groß sein will, sei Euer aller Diener‘ auch in der Geschichtswissenschaft gilt.“ Harnack an Mommsen, 23. Juni 1894, in: Theodor Mommsen und Adolf Harnack. Wissenschaft und Politik im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts, Hg. und komment. von Stefan Rebenich, Berlin / New York 1997, S. 653. Zit. nach Stefan Rebenich, „Mommsen ist er niemals näher getreten“. Theodor Mommsen und Hermann Diels, in: Hermann Diels (1848–1922) et la science de l’antiquité, Genf 1999, S. 85–132, hier S. 119. Siehe u. a. Ernst-Lüder Solte, Theologie an der Universität. Staats- und kirchenrechtliche Probleme der theologischen Fakultäten, München 1971, S. 10 ff., S. 21. „Aber schon hat gegenwärtig eine dritte Macht begonnen, dem Staat in einem weiten und immer mehr sich erweiternden Umfang von Forderungen [gegenüber der Universität] an die Seite zu treten. Diese dritte Macht ist die Gesellschaft.“ Wundt, Festrede, S. 49 f.

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2.2 Alte und neue Aufgaben: Universitätsideale Über Karl Bücher (1847–1930), der durch seine Herkunft abseits des Bildungsbürgertums und durch die Prägung seiner Redakteurstätigkeit an sozialdemokratischen Zeitungen auf eine ganz andere Weise als die allermeisten Leipziger Professoren in die akademische Karriere eintrat, wird im Kontext der Dresdner Universitätsfrage noch ausführlicher zu sprechen sein. Durch die besondere Sozialisation des Nationalökonomen, der 1878 bis 1880 wirtschaftspolitischer Redakteur der „Frankfurter Zeitung“ war und in der Härte der Bismarckzeit „zum Kämpfer“ wurde,30 seine exponierte Stellung in der Reihe der Kathedersozialisten sowie im linken Flügel des „Vereins für Socialpolitik“ und angesichts der Rolle der Nationalökonomie im Kaiserreich im Allgemeinen31 gehörte er zu den „öffentlichen“ Gelehrten, die sich wissenschaftlich gleichermaßen wie politisch-publizistisch profilierten; schon deswegen nahm er eine Ausnahmeposition unter den Leipziger Professoren ein. Andere Wissenschaftler traten zwar ebenso aus den Mauern der Alma Mater heraus an die breitere Öffentlichkeit, doch agierte niemand, mit Ausnahme von Wilhelm Wundt (1832–1920), Karl Lamprecht (1856–1915) und Wilhelm Ostwald (1853–1932), derart kämpferisch über die Fragestellungen seiner Wissenschaft hinaus. Bücher sprach „zuweilen Fraktur“, wo eine andere Art des Umgangs vielleicht angemessener gewesen wäre; aber er war auch überzeugt davon, „daß man einem tüchtigen Manne nicht auf die Dauer gram sein könne“.32 Er teilte eben die „alte akademische Erfahrung, daß Menschen, die in einem Fache hervorragendes leisten, wohl selten bequeme Kollegen sind.“33 Sein Wissenschaftsideal, bezogen auf die Nationalökonomie, zeigte sich in seinem erbitterten Widerstand gegen das Vordringen industrieller Interessen in die Wissenschaft; sein Universitätsideal schlug sich in mehreren hochschulpolitischen Denkschriften nieder wie auch in seinem Auftreten auf dem Deutschen Hochschullehrertag.34 Seine Antrittsrede als Rektor „Über alte und neue Aufgaben der deutschen Universitäten“ (1903) zeigt den Nationalökonomen, der die Universität als wirtschaftliches Gebilde ansieht, „das mit dem grossen Organismus der Volkswirtschaft in seiner Entwickelung parallel geht“. Die „Lehr- und Lernfreiheit“ und die „Einheit des wissenschaftlichen Gedankens“, auf der seit der programmatischen Berliner Gründung die von der Universität vermittelte Bildung beruht, trugen den Universitäten eine politische Bedeutung als einheitsstiftende Institutionen an. Bücher bezieht sich dabei auf Friedrich Schleiermachers Denkschrift von 1808 30

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Georg Brodnitz, Karl Bücher. Worte zu seinem Gedenken (Aus: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft Bd. 90, Heft 1), Tübingen 1931, S. 2. Siehe auch Jörg Requate, Journalismus als Beruf. Entstehung und Entwicklung des Journalistenberufs im 19. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich, Göttingen 1995, bes. S. 180 f. (übergangsweise Tätigkeit als Journalist als Einstieg in fachlich spezialisierte Wissenschaft und Professorenkarriere). Dieter Krüger, Nationalökonomen im Wilhelminischen Deutschland, Göttingen 1983. Brodnitz, Karl Bücher. Worte zu seinem Gedenken, S. 6. Karl Bücher an Otto Behaghel, 5. März 1913, zit. in: Max Weber Gesamtausgabe, Abt. II, Bd. 8, Tübingen 2003, S. 130. Siehe u. a. Karl Bücher, Hochschulfragen. Vorträge und Aufsätze, Leipzig 1912; ders., Die Neugründung von Universitäten im Deutschen Reiche. Referat, erstattet am 14. Oktober 1913 auf dem Hochschullehrertag zu Straßburg i. E., in: ders., Die Entstehung der Volkswirtschaft. Vorträge und Aufsätze. Zweite Sammlung, 7. Aufl. Tübingen 1922, S. 469–490.

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„Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn“.35 Dieser Platz wird ihr seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts in der Kulturgeschichte nur vom Buchhandel streitig gemacht, der sich in Ermangelung einer Hauptstadt und eines politischen Zentrums ebenfalls als Instrument der deutschen Einheit sah.36 Bücher vergleicht den von den Universitäten geschaffenen freien Geistesverkehr über die Grenzen hinweg mit dem freien Warenverkehr im Deutschen Zollverein und weiß die Rolle der Universitäten bei der Schaffung der nationalen Einheit zu würdigen.37 Aus der Entwicklung der Volkswirtschaft leitet er die neuen Anforderungen an die Universität ab, wenn sie „sich auf der Höhe ihrer Aufgabe halten will“. Aber wenn er 1903 über „alte und neue Aufgaben“ der deutschen Universitäten referiert, dabei die Leipziger Alma Mater seit 1892 selbst besonders gut kennt und den Vertretern der „alten“ Universitätswissenschaften angemessen höflich ihre Haltung gegenüber der neuen, naturwissenschaftlichen und technischen Intelligenz vorwirft, die sie als „Banausentum“ verabscheuten und ihr das akademische Bürgerrecht verweigerten,38 musste allen deutlich werden, dass es Bücher um eine gesellschaftliche Öffnung der Universität ging. An der Eindringlichkeit seiner Rede erkennt man zugleich, dass diese Vorstellung noch längst nicht erreicht ist, noch weniger ist sie breit akzeptiert. Durch einen Rektoratsappell, dem die Feierlichkeit des Anlasses die Schärfe nimmt, lässt sie sich auch keineswegs durchsetzen. 1909 reklamierte Wilhelm Wundt noch genau dasselbe.39 1913 zeigt die Argumentation der Mehrheit in der Philosophischen Fakultät gegen die Gründung einer tiermedizinischen Fakultät, dass noch viel in dieser Richtung zu tun war. Die reine Wissenschaft, „von der man annimmt, dass sie um ihrer selbst willen da sei“,40 hatte sich gesellschaftlich (und ökonomisch) überlebt. Sie lebte noch ideell, diente, genauer gesagt, der Besitzstandswahrung. Dabei sah sich Karl Bücher selbst durchaus „dem Geiste der Wahrheit, der selbstlosen Hingabe, des Berufes, der einem höheren Herrn dient als dem Mammon, kurz […] jenem Idealismus, der auf deutschen Universitäten so lange schon seine Heimstätte hat“,41 verpflichtet, falls diese Formel am Schluss seiner Rede nicht bloß das honorige Publikum wieder versöhnlich stimmen sollte. Doch seine Ablehnung „spröder Exklusivität“, die von einigen 35 36

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Friedrich Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über eine neu zu errichtende, Berlin 1808. So schon führende Verleger 1811: „Friedrich Perthes, Buchhändler von Hamburg im Namen des Industrie-Comtoirs von Weimar, des Buchhändlers Cotta in Stuttgard, des Buchhändlers Campe in Hamburg, und in seinem eigenen Namen“. Eingabe an Friedrich August, König von Sachsen, Leipzig Jubilatemesse 1811, zit. in: F. Herm. Meyer, Der deutsche Buchhandel gegen Ende des 18. und zu Anfang des 19. Jahrhunderts, in: Archiv für Geschichte des Deutschen Buchhandels VII (1882), S. 243–249, hier S. 244. Rede des antretenden Rektors Karl Bücher, 31. Oktober 1903, in: Rektoratsreden, Bd. I, S. 829–830. Ebd., S. 831. „Mit elementarer Gewalt drängen die Forderungen der Gesellschaft zu ihrer Erfüllung, und den Hochschulen selbst steht es am wenigsten zu, sich diesem Streben nach Erweiterung und mannigfaltigerer Gestaltung ihrer Bildungswege und Bildungsmittel zu widersetzen. Nur darum kann es sich handeln, das alte Bildungsideal, das den höchsten Wert der Wissenschaft in ihr selbst sieht und an die wissenschaftliche Arbeit die Forderung einer strengen, darum aber auch notwendig bis zu einem gewissen Grade einseitigen Vertiefung in die Probleme stellt, mit dem neuen Bildungsideal in Einklang zu bringen, das gleichzeitig auf Vielseitigkeit der Bildung und auf praktische Verwertung der von ihr gebotenen Mittel dringt.“ Wundt, Festrede, S. 50. Rede des antretenden Rektors Karl Bücher, 31. Oktober 1903, in: Rektoratsreden, Bd. I, S. 831. Ebd., S. 837.

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Rektoren schon demonstrativ hochgehalten worden war – etwa wenn der Philologe Hermann Lipsius (1834–1920) in Verteidigung der propädeutischen Mission des Studiums des klassischen Altertums, des in seinen Augen wahrhaft humanistischen Bildungsmittels, gegen den „Ansturm wider die humanistische Bildung“ aufrüsten wollte,42 oder der Philosoph Max Heinze (1835–1909) „das Athmen in der reinen Luft der Wissenschaft, ohne Bedenken darüber, ob dies für das praktische Leben auch etwas nütze“ zum Credo der Universität erhob43 –, markiert Büchers Position als die eines (nationalökonomischen) Vorreiters der modernen, dem sozialen Zweck angepassten Universität, die jedoch bei aller notwendigen Öffnung niemals den „Geist strenger Wissenschaftlichkeit“ gefährden wollte. Der Philosoph und zugleich Gründungsvater der experimentellen Psychologie Wilhelm Wundt, 1875 berufen, war schon knapp 77 Jahre alt, als er im Juli 1909 die Festrede auf der „Jubelfeier“ der Universität hielt. „Der große, greise Gelehrte begann seine Worte wie immer mit leise verschleierter Stimme zu sprechen.“44 Aus dem Rückblick in die Vergangenheit und der Kritik an früheren Zuständen wollte er die drängenden Aufgaben der Gegenwart und Zukunft und die heutigen Werte der Universität entwickeln. „Selten ist in so vornehmer Form so herbe Kritik geübt worden.“45 Das historische Gemälde der Universität seit ihrer „Selbstgründung“ umfassend, verweilte er voll des Lobes bei Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Schleiermacher und Wilhelm von Humboldt als denjenigen, die das neuhumanistische Bildungsideal mit der Universität verknüpft hätten; die Humboldtsche Denkschrift46 zitierte er, die „in unübertrefflichen Worten“ Gedanken äußerte, die „heute vielleicht mehr als zur Zeit, da sie niedergeschrieben wurden, eine aktuelle Bedeutung besitzen“,47 da sie die Verbindung von Forschung und Unterricht und die gemeinsame Arbeit des Lehrers und Schülers forderten – ihm zufolge eine Vorwegnahme der neuen Organisationsstrukturen Institut und Seminar. Wilhelm Wundt ist damit der einzige, der vor großem Auditorium die Humboldtsche Universität pries, denn in den Reden der übrigen Rektoren kam sie nicht vor. Wie Karl Bücher einige Jahre zuvor widmete sich Wundt dann der gesellschaftlich induzierten, zwangsläufigen Erweiterung der Aufgaben der Universität und der Ziele der Hochschulbildung, da seit der Regelung der Zugangsberechtigung zur Hochschule (in Sachsen Gleichstellung der Realgymnasien [1884] und Oberrealschulen [1908] mit den Gymnasien)48 42 43 44 45 46

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Rede des antretenden Rektors Justus Hermann Lipsius („Die Aufgaben der classischen Philologie in der Gegenwart“), 31. Oktober 1891, in: Rektoratsreden, Bd. I, S. 531–541, hier S. 540. Rede des antretenden Rektors Max Heinze („Über den sittlichen Werth der Wissenschaft“), 31. Oktober 1883, in: Rektoratsreden, S. 357–366, hier S. 358. Die Jubelfeier der Leipziger Universität. Wundt [über Wundts Festrede], in: Leipziger Tageblatt, Nr. 210. 31. Juli 1909. Ebd. Um die Humboldtsche Denkschrift von 1809/10, die erst 1896 in Auszügen und 1903 vollständig veröffentlicht wurde, hat sich der „Mythos Humboldt“ entwickelt, dessen Dekonstruktion die jüngere Forschung sich zur Aufgabe gemacht hat. Siehe u. a. Sylvia Paletschek, Die Erfindung der Humboldtschen Universität. Die Konstruktion der deutschen Universitätsidee in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Historische Anthropologie 10 (2002), S. 183–205; Georg Schubring (Hg.), „Einsamkeit“ und „Freiheit“ neu besichtigt. Universitätsreformen und Disziplinenbildung in Preußen als Modell für Wissenschaftspolitik im Europa des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1991; Mitchell G. Ash (Hg.), Mythos Humboldt. Vergangenheit und Zukunft der deutschen Universitäten, Weimar/Köln/Wien 1999. Wundt, Festrede 1909, S. 28 f. Jonas Flöter, Eliten-Bildung in Sachsen und Preußen. Die Fürsten- und Landesschulen Grimma, Mei-

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sowohl die Studentenzahlen explodierten, als auch die bürgerlichen Berufe sich vervielfachten, welche eine gesellschaftlich honorierte Hochschulbildung voraussetzten. Die von ihm konstatierten zwei Bildungsideale – der vermehrte Drang zum Universitätsstudium als Zeichen des gesellschaftlichen Wertes der Hochschulbildung (Bücher zufolge zum Zwecke sozialen Aufstiegs), und neuerdings die Bestrebungen einer ‚Volksbildung‘, d. h. der Partizipation breiter Bevölkerungsschichten an den Ergebnissen wissenschaftlicher Arbeit – sieht er als gleichermaßen berechtigt an; eine Verweigerung der Universität gegenüber diesen neuen Zumutungen hält er für illusionär. Der Blick in die Rektoratsreden und die exemplarisch zitierten Aussagen belegen also, dass sich die Leipziger Professoren durchaus der Herausforderungen bewusst waren, vor denen ihre Hochschule stand. Er zeigt aber auch, dass die Mehrheit diesen Herausforderungen eher durch ein ausdauerndes Beharrungsvermögen begegnen wollte. Die Beschwörung von Traditionen diente der Selbstvergewisserung über eine respektierte Position des Einzelnen in der Gesellschaft und der Universität im System der deutschen Hochschulen. Eine relativ kleine Reformfraktion, deren Angehörige allerdings in der Universität keineswegs marginale Positionen innehatten, plädierte für Änderungen in der Auffassung von der Universität, solange diese Position den eigenen Gestaltungsspielraum noch groß genug erhielt, und sah anderenfalls wachsende Probleme voraus. Es gelang dieser Gruppe, an verschiedenen Stellen ihre Überlegungen öffentlich und prominent zu machen, im eigenen Institut auszuprobieren und im eigenen Fach dafür auch über Leipzig hinaus zu werben.

2.3 „Atavismus“ oder „wichtigste Aufgabe“ – Die Rolle der Vorlesung „Alles was die menschliche Wissenschaft je erforscht hat, wird hier gelehrt […]“49 – darin liegt durchaus ein Problem. Auf welche Weise, in welchen Formen kann dieses „Alles“ gelehrt werden? Die ‚Institution‘ Vorlesung galt traditionell als derjenige Unterricht, den die akademischen Lehrer erteilen. Dass im ausgehenden 19. Jahrhundert dieses Unterrichtsmittel nicht mehr unangefochten als beste Lehrmethode galt, zeigte die Differenzierung der Organisationsformen der Ausbildung. Gerade von den modernisierungsbereiten Gelehrten ist oft ausgesprochen worden, dass angesichts des ungeheuren Zuwachses an Wissen die alte Vorlesung nicht mehr das alleinige und klassische Unterrichtsmittel bleiben konnte; die Schaffung der Institute, Seminare, Laboratorien usw. trug diesem Erfordernis Rechnung. Damit einher ging die Aufwertung der fortgeschrittenen Assistenten,50 die Lehrverpflichtungen übernahmen und am konkreten Thema mehr Einblicke verschaffen konnten „als […] die theoretische Vorlesung trotz der begleitenden Demonstrationen und Experimente zu gewähren vermochte“.51 Wilhelm Ostwald gewann der Funktion der Vorlesung für sich selbst einen anderen Aspekt ab: Es wird zum Hilfsmittel für die Ordnung des eigenen Wissens, „[d]a der deutsche Professor vermöge der grundsätzlichen Lehrfreiheit sich des unschätzbaren Vorzuges 49 50 51

ßen, Joachimsthal und Pforta (1868–1933), Köln/Weimar/Wien 2009, S. 66. Rede des antretenden Rektors Emil Friedberg, 31. Oktober 1896, in Rektoratsreden, Bd. I, S. 671. Klaus Dieter Bock, Strukturgeschichte der Assistentur: Personalgefüge, Wert- und Zielvorstellungen in der deutschen Universität des 19. und 20. Jahrhunderts, Düsseldorf 1972. Wilhelm Wundt, Erlebtes und Erkanntes, Stuttgart 1921, S. 311.

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erfreute, ein in der Gestaltung befindliches wissenschaftliches Gebiet sich erfolgreichst klar zu machen, indem er eine Vorlesung darüber hält […].“52 Er hatte bis zu seinem endgültigen Abschied von der Leipziger Universität 1906 einen phasenweise absurden Streit um die Rolle der Vorlesung auszufechten, die in der Philosophischen Fakultät mehrheitlich als das wesentliche Bildungsmittel und das ausschließliche Privileg – bzw. die exklusive Pflicht – des Ordinarius hochgehalten wurde und deren Unantastbarkeit für die ideale Gestalt der Universität vielen zwingend erschien. Das Missverhältnis zwischen der wissenschaftlichen Arbeit des Forschers und der überhandnehmenden Lehrarbeit des Professors, das sich in häufigen semesterweisen Freistellungen etlicher Professoren nachvollziehen lässt,53 beeinträchtigte Ostwalds Freude am Unterricht soweit, dass er die Hauptvorlesung an die außerordentlichen Professoren seines Physikalisch-Chemischen Instituts abtreten wollte. Er war ohnehin von der großartigen Errungenschaft der strukturellen Umbildung der Universität überzeugt: dass neue Organisationsformen (Seminar, Labor, Klinik …) an die Stelle der Vorlesung getreten sind und „das Verfahren der Forschung“ gelehrt werde.54 Mehrmals war ihm eine Freistellung für die Vollendung wissenschaftlicher Arbeiten gewährt worden, zuletzt 1903. Das Zähneknirschen einiger Fakultätsmitglieder war deutlich zu hören. Inzwischen herrschte daher gegenüber Ostwald eine „persönlich feindselige“55 Stimmung. Ein neuerlicher Antrag auf Befreiung von der Vorlesungspflicht für das Sommerhalbjahr 1905 mit der Begründung, er wolle sein Lehrbuch der physikalischen Chemie vollenden, lehnte die Fakultätsmehrheit als „mit den Interessen der Universität unvereinbar“ und „mit dem Wesen der Universität im Widerspruch“ stehend56 ab. Für eine „Genieprofessur“57 war in Leipzig kein Platz. „Die Fakultät ist der Überzeugung, daß die wichtigste Aufgabe des Universitätsprofessors im Lehren bestehe, daß es eine Schädigung der Universitätsinteressen bedeute, wenn vergleichsweise untergeordnete Lehrkräfte mit dem Abhalten von Hauptvorlesungen betraut werden, und daß eine Ausnahmestellung, wie die von Prof. Dr. Ostwald angestrebte Stellung es sein würde, mit den Einrichtungen der Universität unverträglich ist.“58 52 53 54

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Ostwald, Lebenslinien II, S. 300. Entsprechende Anträge mussten vom Kultusministerium genehmigt werden. Belege dafür finden sich sowohl in den Fakultätsakten (Universitätsarchiv) als auch in denen des Ministeriums (Sächsisches Hauptstaatsarchiv), Referate dazu in den Rektoratsberichten. „Hierdurch hat der moderne Universitätsunterricht einen ausgeprägten Zug ins Praktische gewonnen… An die Stelle der Vorlesung, welche einen auf die Persönlichkeit des einzelnen nicht Rücksicht nehmenden Massenunterricht darstellt, ist das Seminar, das Laboratorium, die Klinik und wie sonst die verschiedenartigen Anstalten zum praktischen Unterricht heißen mögen, getreten, und der Schwerpunkt der Arbeit des Studenten verlegt sich ganz und gar in diese Anstalten. Das Wesentlichste bei ihnen besteht darin, dass wieder der Lehrling persönlich die Unterweisung des Meisters erfährt, der ihn das Wichtigste und Bedeutungsvollste lehrt, was sich lehrend übertragen lässt, nämlich das Verfahren der Forschung.“ Wilhelm Ostwald, Moderner Universitätsunterricht, in: Jubiläumsgabe, Leipziger Tageblatt und Handelszeitung, Leipzig, 29. Juli 1909. Dass. in: Die Forderung des Tages, Leipzig 1910, 565-570, zit. nach: Forschen und Nutzen. Wilhelm Ostwald zur wissenschaftlichen Arbeit, 2. Aufl., Berlin 1982, S. 164. Ostwald, Lebenslinien II, S. 442. UAL, PA 787, Bl. 32, Fakultät (Dekan Johannes Volkelt) an Ministerium, 26. Januar 1905; Bl. 72v., 6. Mai 1905. UAL, PA 787, Bl. 72v, 6. Mai 1905. UAL, PA 787, Bl. 32v, Fakultät (Dekan Johannes Volkelt) an Ministerium, 26. Januar 1905. Ostwald notierte im Tagebuch die „ingrimmige Feindschaft der Philologen“. Siehe Tagebuch, 29. Januar 1905,

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Außer seinen Fachkollegen Ernst Beckmann (1853–1923), Otto Wiener (1862–1927), Theodor Des Coudres (1862–1928) und Arthur Hantzsch (1857–1935) standen auf Ostwalds Seite Carl Chun (1852–1914, Zoologie), Karl Lamprecht (Geschichte), Wilhelm Wundt (Philosophie), Wilhelm Pfeffer (1857–1920, Botanik), Heinrich Zimmern (1862–1931, orientalische Sprachen), Ernst Windisch (1844–1918, Sanskrit) und Adolf Birch-Hirschfeld (1849–1917, Romanistik). Gegen sie stand aber eine stabile Mehrheit von 18 Fakultätsmitgliedern.59 An der im Beschluss zum Ausdruck gebrachten Überzeugung sind vier Dinge bemerkenswert: die Weglassung der Pflicht des Forschens, die Geringschätzung der Lehrkräfte unterhalb der Ordinarienebene, die Verhüllung kollegialer Antipathie durch den Vorwurf der „Ausnahmestellung“ und die offene Frage, wer wie und kraft welchen Rechtes eine „Schädigung der Universitätsinteressen“ definierte. Die unbestreitbare Tatsache wurde ignoriert, dass die „vergleichsweise untergeordneten“ Lehrkräfte – immerhin Extraordinarien und Privatdozenten – bei der erstbesten Berufung auf einen Lehrstuhl zur Vollgültigkeit wuchsen, in den Abschiedsworten der Rektoren belobt und ihrer Fähigkeiten wegen beglückwünscht wurden (womit man aber letztlich sich selbst beglückwünschte, weil man solche vielversprechenden Wissenschaftler herangebildet habe). Die Verletzungsabsicht gegen die Mitarbeiter an Ostwalds Institut sollte wohl den Direktor treffen, der indessen selbst für den Fall seines Fernbleibens im Sommersemester reichlich für Ersatz gesorgt hatte; sechs verschiedene Vorlesungen fanden statt mit insgesamt neun Wochenstunden, „ein reichlicheres Angebot an physikalisch-chemischen Vorträgen, als es auf irgend einer anderen Universität zu finden ist“.60 Die unterschiedliche Bedeutung und Funktion der Vorlesung bei den Geistes- und den Naturwissenschaftlern61 war allen Beteiligten klar, wurde aber in diesem Kampf geflissentlich verschwiegen. Für Ostwald war sie, und das steht nicht im Widerspruch zum oben zitierten Einsatz der Vorlesung als Ordnungsinstrument eigenen Wissens, ein atavistischer Überrest, „Unterrichtsmittel dritter Ordnung“. Das ‚Forschen lehren‘ fand in den Laboratorien statt! Im Laufe seiner Arbeiten über „Große Männer und die Wissenschaft“ hatte er zudem festgestellt, dass die so genannte große Vorlesung des Professors sogar Verschwendung sein konnte: „Wer mit unserem Hochschulwesen näher vertraut ist, empfindet ein lebhaftes Bedauern darüber, welcher gedankenlose Raubbau nicht selten mit dem Kostbarsten getrieben wird, was ein Volk besitzt, mit der Zeit und Kraft seiner wertvollsten Köpfe. Mir war schon auf meiner ersten Deutschlandreise die zweckwidrige Beanspruchung aufgefallen, welche der größte Physiker des damaligen Deutschland dadurch erlitt, daß man ihm die Abhaltung der fünf- oder sechsstündigen Vorlesung für werdende Mediziner, Chemiker usw. im ersten Semester zumutete. Aus den persönlichen Berichten einer ganzen Anzahl seiner Hörer habe ich hernach entnehmen können, daß er auf diese gar keinen Eindruck machte. Man durfte hier nicht einmal sagen, daß für die künftigen

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zit. nach Mitteilungen der Wilhelm-Ostwald-Gesellschaft zu Großbothen 1 (2001), S. 62. UAL, PA 787, Bl. 70, die Genannten an das Ministerium, 5. Mai 1905. UAL, PA 787, Bl. 52, Wilhelm Ostwald an Ministerium, 27. Januar 1905. Möglicherweise kam der Vorlesung unter den Juristen noch eine andere Bedeutung zu, da sie im Curriculum Bestandteil der Berufsausbildung war. Bernhard Windscheid war indes noch „alte Schule“ und Anhänger der universitas litterarum, wenn er sie gegenüber den Studierenden idealisierte: „Glauben Sie, dass für den echten akademischen Lehrer jede Vorlesung eine That ist, dass er in jeder Vorlesung mit seiner Aufgabe ringt, in jeder Vorlesung sein Bestes giebt.“ Bernhard Windscheid, Rede des antretenden Rektors, 31. Oktober 1884, in: Rektoratsreden, Bd. I, S. 385.

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Vertreter der Wissenschaft das beste nur eben gut genug sei. Denn diese Vorlesungen, so gut sie innerlich waren, erfüllten doch nur ganz mangelhaft den Zweck, den jungen Studenten, denen exaktwissenschaftliches Denken auf dem Gymnasium nur in den seltensten Fällen beigebracht worden war, eine elementare Kenntnis der Physik zu vermitteln. Dazu waren sie zu hoch, trotz der Mühe, die sich H e l m h o l t z gab, herabzusteigen. Ihm waren die Denkschwierigkeiten mittlerer Köpfe ganz ungeläufig, da er selbst sie nie erlebt hatte, und so konnte er sie nicht berücksichtigen und überbrücken. Der Zweck wäre unverhältnismäßig viel besser erfüllt worden, wenn an dieser Stelle ein unterrichtlich gut begabter Lehrer gestanden hätte, wie sie zu hunderten zu finden sind, auch wenn diesem die schöpferische Begabung des Genius ganz und gar gefehlt hätte.“62

Die „große“ Vorlesung des Professors in den geisteswissenschaftlichen Fächern musste auch schon um 1900 von Seminaren, Übungen und verschiedensten Kursen untermauert werden: Aus der „großen“ Vorlesung ist am Ende die Orientierungsvorlesung zur Einführung in das jeweilige Studium geworden. Mit einem veralteten Vorlesungsbegriff konnte im engeren Zirkel der Fakultät noch Prestige und Macht demonstriert werden. Die Selbstvergewisserung appellierte an alte Gebräuche. Doch ein Rückfall in diese Tradition diente allenfalls einer flüchtigen Befriedigung. Am 31. Januar 1905 genehmigte Kultusminister von Seydewitz Ostwalds Freistellung.63

2.4 Wilhelm Ostwald und die „zwei Kulturen“ Die Situation Wilhelm Ostwalds bietet sich exemplarisch an, um auch das problematische Verhältnis von Geistes- und Naturwissenschaften innerhalb der Philosophischen Fakultät zu untersuchen. Bekanntermaßen ist Ostwald einer der berühmtesten Wissenschaftler in der Geschichte der Universität Leipzig. Wenn man sich heute mit ihm als Nobelpreisträger für Chemie schmückt, handelt es sich um eine nicht ganz makellose Aneignung durch eine Universität, von der Ostwald im Unfrieden schied. Ostwald trennte sich am 31. August 1906 endgültig von der Leipziger Universität und seinem Physikalisch-Chemischen Institut und schied aus dem Kollegenkreis der Philosophischen Fakultät aus. Die umstandslose Vereinnahmung begann schon mit Rektor Theodor Litt (1880–1962), der in seinem Jahresbericht 1931/32 über den am 4. April 1932 Verstorbenen bemerkte: „Wir gedenken in Verehrung des für seine Wissenschaft bahnbrechenden Forschers, des ideenreichen Organisators, den wir mit Stolz zu den unseren glauben zählen zu dürfen, wenn er auch infolge einer heute gleichgültig gewordenen Verstimmung das äußere Band, das ihn mit der Universität verknüpfte, gelöst hat.“64

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Ostwald, Lebenslinien III, S. 125 f. Ostwald kostete die kleine Boshaftigkeit aus, dieses dem Dekan Volkelt am 4. Februar 1905 selbst mitzuteilen. UAL, PA 787, Bl. 58. Jahresbericht des abtretenden Rektors Dr. Theodor Litt, 31. Oktober 1932, in: Leipziger Rektoratsreden, Bd. II (1906–1933), S. 1685 (Hervorhebung K. M.). Diese knappe Würdigung ist zusammen mit dem Nachruf Litts auf Wilhelm Ostwald (ebd., S. 1691 f.) eine der wenigen Nennungen Ostwalds in den Jahresberichten der Rektoren überhaupt.

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Welcher Entwicklungsbogen führte von der „glanzvollen“ Aussicht 188765 zum Schnitt nach 19 Jahren? Und warum war die Mehrheit der Philosophischen Fakultät damit sogar höchst zufrieden? Die Entwicklung Ostwalds auf seiner Professur, die ihn zunehmend das unbeschwerte Forschen wünschen ließ und zur erwähnten Kontroverse um die Rolle der Hauptvorlesung führte, war die Erweiterung seiner wissenschaftlichen Interessen etwa in Richtung der Naturphilosophie, was „[d]en Vertretern der ‚Geisteswissenschaften‘ unter meinen Leipziger Kollegen […] als unlauterer Wettbewerb. Leider nicht strafbar wegen der Lehrfreiheit, aber in hohem Maße ‚unkollegial‘ und verwerflich“ erschien66. Doch das waren nicht die einzigen Gründe, abgesehen von ganz persönlicher Ranküne im Alltag der Wissenschaftlergemeinschaft. Die Spaltung der Philosophischen Fakultät durch die Emanzipation der Naturwissenschaften war in Leipzig zur Zeit der Berufung Wilhelm Wundts 1875 noch nicht spürbar; eine derartige Tendenz kannte Wundt nur aus Heidelberg, wo sich „die Historiker über die ‚Apotheker‘ beschwerten, die sich ohne Sachkenntnis in die Angelegenheiten der Geisteswissenschaften einmischten“.67 1890 kam es in Heidelberg tatsächlich zur institutionellen Trennung der Naturwissenschaften von den Geisteswissenschaften, wie es zuerst in der Philosophischen Fakultät in Tübingen (1863), dann in Straßburg (1873) und später auch in Freiburg (1910) geschehen war – allerdings waren diese Fälle vorläufig noch Ausnahmen.68 Die „bunte Mannigfaltigkeit, für die ein einheitlicher Mittelpunkt sich zunächst nicht zu bieten scheint“, „die Universitätsrumpelkammer […], in die eben Alles hineingepackt werde, was man anderweitig nicht recht unterzubringen wisse“69 – die Philosophische Fakultät also, der sich allmählich neue, akademisch geadelte Disziplinen wie etwa die bisher noch der Praxis zugewiesene Landwirtschaftswissenschaft beigesellten, erweckte bei den Leipzigern nicht das Bedürfnis nach einer Flurbereinigung. Eine Teilung der Fakultät und die Gründung einer „technisch-realistischen Fakultät“ war im Zuge der Universitätsreform 1836 erwogen worden, als man die Einrichtung einer Professur für technische Chemie erörterte, „aber eine Einigung wurde nicht erzielt“.70 Ostwald nahm den Gegensatz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften und die Gefühle einer Bedrohung bei den Geisteswissenschaftlern bereits deutlicher wahr.71 Eine Tren65

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„Mit dem Jahre 1887 erhob sich aber an meinem Horizont eine Aussicht von so blendendem Glanze, daß ich meine Augen nur verstohlen auf sie zu richten wagte und ihre Verwirklichung zwar von ganzem Herzen wünschen, vernünftigerweise aber nicht erhoffen konnte. […] So war ich Leipziger Professor geworden, bevor ich mein 34. Lebensjahr erreicht hatte, und sah einen Wirkungskreis vor mir, der über die ganze Kulturwelt reichen konnte, wenn ich ihn auszufüllen fähig war.“ Ostwald, Lebenslinien I, S. 252, 268. Lebenslinien I, S. 302. „[…] da war denn doch für Männer wie Bunsen und Kirchhoff der Ehrenname der Apotheker gewiß kein besonderes Friedenszeichen.“ Wilhelm Wundt, Erlebtes und Erkanntes, Stuttgart 1921, S. 293. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. I: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1994, S. 572. Rede des antretenden Rektors Friedrich Zarncke, 31. Oktober 1881, in: Rektoratsreden, Bd. I, S. 311. Ebd., S. 322. „[…] obwohl die Trennungsfrage gelegentlich schon aufgetaucht war, und es bestand auf der philologischen Seite die Sorge, wie die bisherige Vorherrschaft aufrecht erhalten werden konnte.“ Ostwald, Lebenslinien II, S. 81.

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nung war nun nicht mehr völlig undenkbar. Die Einsicht in die Fakultätsakten zeigt, worin der Keim der Spaltung zwischen Geistes- und Naturwissenschaftlern – „höchst gegensätzliche Gruppen der philosophischen Fakultät“72 – lag, wie er reflektiert wurde, wann sich die Interessenlagen erkennbar gegeneinander verschoben. Woher kam allerdings Ostwalds distanzierte Haltung zu den Geisteswissenschaften, speziell den Geisteswissenschaftlern der Fakultät? Dazu gehört insbesondere eine sich zur Aversion steigernde Haltung gegenüber den Philologen. Das lässt sich nicht einfach erklären, da sich seine engeren Fachkollegen zwar am Ende auf seine Seite stellten, selbst aber problemlos in der Fakultät integriert blieben. Wissenschaftsverständnis, die zeitgenössischen Debatten zur Modernisierung des Bildungswesens, bisherige akademische Erfahrungen und auch charakterliche Eigenheiten flossen hier zusammen. Ostwald befand sich mit seiner bisweilen äußerst scharfen Kritik am neuhumanistischen Dogma auch durchaus in ‚guter Gesellschaft‘. In der Tat stand er der Philologie, namentlich der klassischen, außerordentlich kritisch gegenüber; er nannte sie in einem Atemzug mit der „Scholastik“. Seine Auffassung von Wissenschaft kapitulierte vor der philologischen Arbeit („Zwecklosigkeit“), die er wohl mit Textkritik, Variantenvergleich und ausschweifenden Kommentaren gleichsetzte und außerdem auf eine bloße Methode, auf ein reines Werkzeug reduzierte. Ihm fehlte an der Altphilologie jegliche „tätig fördernde […] Mitwirkung an den Aufgaben des Lebens“.73 Die lebenspraktische Bedeutungslosigkeit der klassischen Philologie, ihre Anwendungsferne hatte ihn in seinen Privatdozentenjahren an der Universität Dorpat schon verblüfft74 und war mit seiner Überzeugung, dass es Wissenschaft um ihrer selbst willen nicht gibt, gänzlich unvereinbar. Wissenschaft ohne praktische Anwendung (als ihr letztes Ziel) ist keine Wissenschaft. Später erweiterte er den Kreis der Wissenschaften, die in Wahrheit keine sind, auch auf die Sprach- und die Geschichtswissenschaft. Beide Disziplinbereiche repräsentierten für ihn höchstens Hilfsmittel und Methoden. Mit ihnen kann man nichts aufgrund vergangener Erfahrungen (Experimente) für die Zukunft leisten („prophezeien“).75 Damit illustriert Ostwald seine völlige Verständnislosigkeit gegenüber den Geisteswissenschaften. Sie gleicht der eines Ingenieurs. Bis heute hält sie sich in der rhetorischen Metapher von den „zwei Kulturen“.76 Das „Dogma vom klassischen Altertum“77 wurde trotz aller begründeten Kritik von „uralte[n] philologisch[n] Kreise[n]“ noch bis 1914 gepflegt78, so dass Ostwalds Gegner-

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Ebd. – Ab 1. April 1920 bestanden die Philologisch-Historische Abteilung (Philosophische Fakultät I) und die Mathematisch-Naturwissenschaftliche Abteilung (Philosophische Fakultät II) nebeneinander, außer den beiden Abteilungsdekanen noch mit einem Gesamtdekan. Lebenslinien II, S. 106. Ebd. (Anekdote über den „philologischem Scharfsinn“). Zott unter Verweis auf Ostwalds Vortrag zur Mittelschulreform 1907: Regine Zott, Bewirtschaftung des Geistes – Wilhelm Ostwald über Lernen, Studieren und Reformieren (http://ostwald.bbaw.de/dateien/ seneca.bbaw.pdf, aufgerufen am 20. Oktober 2019), S. 9. Siehe auch Silke Jakobs, „Selbst wenn ich Schiller sein könnte, wäre ich lieber Einstein“, S. 136–146 (über Ostwalds Kunstverständnis, das nicht in unseren Zusammenhang gehört). Karl Lamprecht, Rektoratserinnerungen, S. 60 u. ö. (Paul Nerrlich, Das Dogma des klassischen Altertums in seiner geschichtlichen Entwicklung, Leipzig 1894). Karl Lamprecht, Rektoratserinnerungen, S. 62.

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schaft an sich keinesfalls ungewöhnlich ist. In zahlreichen Werken79 polemisierte er gegen die klassische Philologie und deren Machtausübung bis in die Schulen hinein. Die Leugnung der Nützlichkeit der philologischen Arbeit an den Universitäten und die bornierte Haltung der Gymnasiallehrer in bildungspolitischen Fragen brachten ihn in wachsendem Maße in Gegensatz zu den alten Vertretern der Zunft, die am humanistischen Gymnasium und dem Primat des altsprachlichen Unterrichts festhielten. Zudem konnte er die „Beschränktheit des üblichen historischen Standpunktes“ nicht nachvollziehen, für den das „geistige“ Leben entscheidend, alles andere dagegen Nebensache sei. „Kurz, die Enge und Einseitigkeit, zu der sich die Vertreter der ‚Geisteswissenschaften‘ selbst verurteilen, wenn sie die Denkmittel der Naturwissenschaften außer Acht lassen“,80 ließ ihn am Wissenschaftscharakter der Geisteswissenschaften grundsätzlich zweifeln. Ostwald erwies sich so als Vertreter einer offensiven Auffassung vom höheren Wert und Nutzen der Naturwissenschaften, die sich damals gerade herausbildete und noch keineswegs so unangefochten vertreten werden konnte, wie dies im späteren Verlauf des 20. Jahrhunderts der Fall war. Allein der gegenüber Disziplinschranken offene Historiker Karl Lamprecht, dessen Theorie der Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte Ostwald überzeugte (zumal nach Ostwalds Gelehrtentypologie beide „Romantiker“81 und darüber hinaus „an dem vordersten Rande unserer Wissenschaften tätig waren“82), erreichte nach längeren Kontroversen83, dass Ostwald trotz methodologischer Differenzen die Wissenschaftlichkeit der Lamprechtschen Geschichtswissenschaft anerkannte.84 Nachdem er selbst historisch zu arbeiten begonnen hatte – seine „Großen Männer“, die „Klassiker der exakten Wissenschaften“ weisen ihn durchaus als Wissenschaftshistoriker aus –, zog er das „theoretische Fazit jahrzehntelanger geschichtlicher Studien“: „Die Geschichtswissenschaft in höherem Sinne und ganz besonders ihre oberste Schicht, die Wissenschaftsgeschichte, ist durchaus eine werdende Wissenschaft.“85 Da nach Ostwalds Wahrnehmung die klassischen Philologen (vor allem der Gräzist Hermann Lipsius, der Latinist Otto Ribbeck, später der Germanist Eduard Sievers) in Leipzig „den maßgebenden Einfluss“ in der Fakultät beanspruchten und er seine Zweifel „durch offene Aussprache mit ihnen zu lösen suchte, wurde [er] bald als unsicher und verdächtig angesehen, nicht die nötige Begeisterung für die ‚höchsten Güter‘ zu besitzen.“86 Ostwalds 79 80 81 82 83 84 85 86

Wider das Schulelend, Leipzig 1909, Die Forderung des Tages, Leipzig 1910, Der energetische Imperativ, Leipzig 1912, Große Männer, Leipzig 1919. Lebenslinien III, S. 119 f. Im Unterschied zu den „Klassikern“, siehe Ostwald, Lebenslinien I, S. 264, II, S. 433f. u. ö. Über Lamprecht: Lebenslinien II, S. 103–106. Ebd., S. 105. „Wie oft wir uns auch sahen, wir waren niemals gleicher Ansicht und gerieten sofort in Streit. Doch führte dieser niemals zu persönlicher Verstimmung, sondern machte uns beiden ein großes Vergnügen.“ Ostwald, Lebenslinien II, S. 104. Siehe dazu ebd., S. 103 f.; Regine Zott, Einführung, in: Wilhelm Ostwald, Zur Geschichte der Wissenschaft. Vier Manuskripte aus dem Nachlaß (Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften, Bd. 267), 2. Aufl., Thun / Frankfurt a. M. 1999, S. 19. Zott, Einführung, S. 20 (aus Ostwalds Aufsatz über Geschichtswissenschaft und Wissenschaftsgeschichte 1927). Ostwald, Lebenslinien II, S. 107. Zuvor war er noch offener eingestellt: „Als ich nach Leipzig kam, war ich gern bereit, die sogenannten Geisteswissenschaften als solche anzuerkennen und ihnen den Vorantritt einzuräumen, den sie als die älteren beanspruchten. Nicht bereit war ich, meine Wissenschaft

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forsches Auftreten ging vermutlich mit einer ausgeprägten Antipathie gegen Otto Ribbeck (1827–1898) einher – die Wilhelm Wundt übrigens gar nicht teilte87 –, besonders auch deshalb, weil Ribbeck als amtierender Rektor (1887/88) die „Heidelberger Erklärung“ für die Rettung des klassisch-humanistischen Gymnasiums und für die Beibehaltung der strengen altsprachlichen Ausbildung zur Unterschrift herumreichte – und auf eine Ablehnung überhaupt nicht gefasst war. Die „Heidelberger Erklärung“ führte zu einer jahrelangen öffentlichen Auseinandersetzung um die Frage, woran die Zugangsberechtigung für die Universität zu knüpfen sei. Es ging dabei um die mögliche Aufwertung der Realgymnasien und Oberrealschulen im Bildungssystem, die das alte Lateingymnasium, nun eine höhere Schulform unter anderen, in eine Verteidigungsposition drängten.88 Im Juli 1888 hatten einige Professoren der Universität Heidelberg, einer Hochburg der klassischen Philologen und Ribbecks vorausgegangene Wirkungsstätte, zur Verteidigung des neuhumanistischen Gymnasiums gegen die vordrängenden Ansprüche der Realgymnasien auf gleichberechtigten Zugang zur Universität die „Heidelberger Erklärung“ verfasst, die reichsweit 4241 Unterschriften fand und von etwa 500 Professoren mitgetragen wurde.89 Unter den Naturwissenschaftlern befanden sich aber mehrheitlich Gegner der alten Gymnasialbildung. Diese „Realisten“ sahen die vermeintlich „heilsame Zucht der lateinischen Grammatik“90 für eine naturwissenschaftlich-technische Karriere als entbehrlich an. Auch Ostwald hielt das klassische Gymnasium für ein „längst überlebtes, atavistisches Überbleibsel unserer Kulturentwicklung“;91 „zum Heranpflegen großer Männer“ sei das Lateingymnasium ohnehin gänzlich ungeeignet.92 Da er so auch gegen Wilhelm von Humboldt als Schöpfer des preußischen Gymnasiums eingenommen war, schien ihm Humboldt deshalb sogar ein „noch heute gefährlicher Schädling“ zu sein.93 So nimmt es nicht Wunder, dass er sich in Leipzig zum Anführer derer machen ließ, die nicht nur die Heidelberger Erklärung nicht unterschrieben, sondern eine Gegenerklärung aufsetzten. Diese entstand auf Anregung des Physiologen Carl Ludwig (1816–1895) und wurde zusammen mit dem Astronom Heinrich Bruns (1848–1919) und dem Mediziner Albin Hoffmann (1843–1924) erarbeitet. Damit zog Ostwald den „Zorn der philologischen Priesterschaft“ auf sich und geriet, wie er selbst

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mit den anderen Naturwissenschaften als etwas Minderwertiges einschätzen zu lassen […].“ Ebd., S. 106. Wundt setzte die in Heidelberg angeknüpfte Freundschaft mit Ribbeck und seiner Familie in Leipzig fort, siehe: Erlebtes und Erkanntes, S. 238. Die Debatte ging sofort in die Zeitgeschichtsschreibung ein: Karl Lamprecht, Deutsche Geschichte (Zur jüngsten deutschen Vergangenheit), 2. Ergänzungsband, 2. Hälfte, 4. Aufl., Leipzig 1921, S. 407–432, bes. S. 419 f. Allgemein Karl-Ernst Jeismann, Das preußische Gymnasium in sozialgeschichtlicher Perspektive, in: Karl Heinrich Kaufhold / Bernd Sösemann (Hg.), Wirtschaft, Wissenschaft und Bildung in Preußen. Zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Preußens vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Stuttgart 1998, S. 139–160, hier S. 139 ff. Hans-Georg Herrlitz u. a., Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. Eine Einführung, 5. Aufl., Weinheim/München 2009, S. 72. Friedrich Paulsen, Das deutsche Bildungswesen in seiner geschichtlichen Entwicklung, 3. Aufl., Leipzig 1912, S. 134. Ostwald, Lebenslinien III, S. 131. Ebd., S. 132. Regine Zott, Bewirtschaftung des Geistes – Wilhelm Ostwald über Lernen, Studieren und Reformieren, http://ostwald.bbaw.de/dateien/seneca.bbaw.pdf (aufgerufen am 5. November 2010), S. 2.

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sagt, „in offenen Widerspruch mit den vorherrschenden Einstellungen der Mehrheit meiner Kollegen“.94 Die anfangs durchaus „gutgläubige Verehrung der ‚humanistischen‘ Bildung“ hatte sich durch seine subjektiven Erfahrungen in ihr Gegenteil verkehrt, vor allem deshalb, weil „gerade die menschlichen Eigenschaften der Vertreter des Humanismus […] [in Dorpat und in Leipzig] durchaus keine Belege für die Hebung ihrer seelischen Werte durch die Beschäftigung mit der Antike erkennen ließen, was doch zur Begründung des Lateinunterrichts im Gymnasium stets behauptet wird. Ich fand im Gegenteil diese Männer vielfach beschränkt, unfähig die wichtigsten Vorgänge ihrer Zeit zu verstehen und am stärksten mit den üblen Eigenschaften behaftet, die als Kehrseite des Professorenberufes auftreten.“95

Allerdings dient der Lateinunterricht eher dem Sprachverständnis als der moralischen Bildung, und klassische Bildung kann durchaus helfen, rhetorische Winkelzüge zu durchschauen, wie sie Ostwald hier selbst vollzieht. Ostwalds Amtszeit als Dekan der Philosophischen Fakultät 1897/9896 lieferte ihm nach seinem Gefühl aber einen weiteren „Experimentalbeweis“ für die „Beschränktheit“ dieser Männer und „gegen den Wert der klassischen Philologie“: Die Nachfolge des im Juli 1898 verstorbenen Otto Ribbeck war neu zu besetzen. Während Ostwald davon ausging („Wir Naturforscher waren gewöhnt …“), dass der beste verfügbare Mann ausgewählt werde, „in dem Vertrauen, dass je wirksamer er sich als Lehrer und Forscher erwies, die Universität um so höher dastehen und um so mehr Schüler heranziehen würde“,97 stand für die Philologen seinem Urteil nach das für ihn unbegreifliche Auswahlkriterium im Vordergrund, wer den vorhandenen Kollegen durch sein Arbeitsgebiet die wenigste Konkurrenz machen würde.98 Hinter der banalen Aussage, dass auch qualifizierte Kenner der Antike Menschen fragwürdiger moralischer und beruflicher Grundsätze sein können, steckt die Grundforderung Ostwalds, dass für eine moderne Gestalt der Universität ein rationaler Maßstab (d. h. jener der Naturwissenschaftler) zur Auswahl von Professoren anzulegen sei: Damit „die Universität um so höher dastehen“ könne, gelte es von Fächerkongruenzen und -konkurrenzen abzusehen und den ‚Besten‘ zu nehmen, der verfügbar wäre. Auch dieses Vorgehen bei strategischen Entscheidungen wie es Besetzungsfragen sind, gibt ein Beispiel für die „zwei Kulturen“. Das gegenseitige Unverständnis von Geistes- und Naturwissenschaftlern hatte schon 1872 der Mathematiker Felix Klein (1849–1925) getadelt und – anders als Ostwald – im Sinne der idealen Universität dessen Aufhebung gefordert. Der 1880 nach Leipzig berufene Klein vertrat die Einheit der Wissenschaft und das Ideal der „Gesamtbildung“ aus der Sicht seines Faches, das an den Polytechnischen Hochschulen bislang vielfach besser studiert wer94 95 96 97 98

Ostwald, Lebenslinien II, S. 110. Lebenslinien II, S. 131. Das Jahr seines Dekanats gab ihm generell einen unverhüllten Einblick in den „unterirdische[n] Betrieb, der mit der Kehrseite des Professorenwesens verknüpft ist“. Ostwald, Lebenslinien II, S. 96. Lebenslinien II, S. 131. Lebenslinien II, S. 132. Dies sei während der Besprechungen als selbstverständliche Forderung geltend gemacht worden, die der Wahrung der „Kollegialität“ dienen solle. Derjenige, der diesem Maßstab am besten entsprach, war Friedrich Marx (1859–41), der 1898 ordentlicher Professor der klassischen Philologie in Leipzig wurde (und 1905 auf eine Professur in Bonn wechselte). Das geht aus den Rektoratsreden S. 719, 889 hervor. Im Leipziger Professorenkatalog wird er nicht aufgeführt.

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den konnte als an den Universitäten, und beklagte diese Unvollständigkeit und Einseitigkeit der Universitäten als dasjenige Moment, das die gewollte universitas litterarum ad absurdum führte: Diese „Zweiteilung der Bildung“,99 welche die den Geisteswissenschaftlern nach ihrem Selbstverständnis obliegende Bildung des „Gemüts“ der bloßen Bildung des Verstandes etwa durch die Mathematiker entgegensetzte, die Klage über das „banausische Nützlichkeitsdenken“ der Naturwissenschaftler,100 war ein langfristig fortwirkendes Element der neuhumanistischen Wissenschaftsauffassung und bestimmte die Hierarchie der Bildungseinrichtungen – Realschule vs. klassisches Gymnasium, Technische Hochschule vs. Universität. Auch nach der Reform des Berechtigungswesens zum Hochschulzugang verschwand diese Sichtweise nicht, auch wenn Weitsichtige wie Wilhelm Wundt die inhaltliche und gesellschaftliche Öffnung der Universität als dringendste Frage der Zeit ansahen. Um 1900 fand eine intensive, zu großen Teilen öffentliche, von Debatten bemerkenswerter Deutlichkeit und Schärfe begleitete Selbstbetrachtung der Universität über Aufgaben und Ziele, Mittel und Wege statt. Das Beispiel der Auseinandersetzungen um Ostwalds Position zur „Großen Vorlesung“ und zum Verhältnis zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zeigt wiederum die Leipziger Philosophische Fakultät als einen Ort, an dem sich die Polarität der „zwei Kulturen“ herausbildete – mit Ostwald als prominentem Verfechter ihrer Zuspitzung.

2.5 „Arbeitsuniversität“ als Auszeichnungskriterium „Arbeitsuniversität“ – was bedeutet dieser meistenteils positiv besetzte Begriff? Seit wann fand er Anwendung in Leipzig? Wer waren die eigentlichen „Arbeiter“? Worin bestand das Besondere der Universität Leipzig, das sie von anderen, ebenfalls als Arbeitsuniversitäten bezeichneten Einrichtungen unterschied? Zunächst mag „Arbeitsuniversität“ wie ein Pleonasmus klingen. Selbstverständlich wird an einer Universität gearbeitet. Die Zeitgenossen selbst sprachen aber, wie weiter unten noch genauer dargestellt wird, in differenzierender und das Besondere lobend hervorhebender Weise von der Leipziger Universität als Arbeitsuniversität. Schon Theodor Mommsen in Berlin wollte die alte „Vorlesungsuniversität“ in eine moderne „Arbeitsuniversität“ umwandeln.101 Doch wird in der universitätsgeschichtlichen Literatur dieser Übergang, der im Zusammenhang mit der Institutionalisierung der wissenschaftlichen Disziplinen und der Errichtung neuer Unterrichtsformen wie Seminare und Institute steht, nur stichwortartig genannt.102 Das Selbstverständnis der Akteure, ihre Erinnerung, kommt dabei kaum zur Sprache. 99 Felix Klein in seiner Erlanger Antrittsrede 1872, zit. nach Karl-Heinz Manegold, Universität, Technische Hochschule und Industrie. Ein Beitrag zur Emanzipation der Technik im 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der Bestrebungen Felix Kleins, Berlin 1970, S. 92. 100 Zit. nach Regine Zott, Bewirtschaftung des Geistes – Wilhelm Ostwald über Lernen, Studieren und Reformieren, http://ostwald.bbaw.de/dateien/seneca.bbaw.pdf (aufgerufen am 5. November 2010), S. 10. 101 Stefan Rebenich, Wissenschaftspolitik in Berlin, in: ders. (Hg.), Theodor Mommsen und Adolf Harnack. Wissenschaft und Politik im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Edition und Kommentierung des Briefwechsels, Berlin / New York 1997, S. 44. 102 So Bernhard vom Brocke wiederholt am Beispiel Preußens (System Althoff). S. u. a. vom Brocke, Verschenkte Optionen. Die Herausforderung der Preußischen Akademie durch neue Organisationsformen der Forschung um 1900, in: Jürgen Kocka / Rainer Hohlfeld / Peter Th. Walther (Hg.), Die Königlich

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Für Leipzig liefert der Historiker Walter Goetz (1867–1958) einige Anhaltspunkte. Als Student kam er 1890 aus dem „fröhlichen und doch zugleich anregenden Schlendrian“ in München „an eine Arbeitsuniversität, wo alles auf das Examen hinstrebte und der wissenschaftliche Wettbewerb zur Mitarbeit zwang“.103 Über das von Carl von Noorden (1833– 1883) gegründete Historische Seminar, welches „damals neben dem Göttinger an erster Stelle“ stand, schrieb er: „Alles, was in München fehlte, herrschte im Leipziger Seminar: die herrlichste Arbeitsgelegenheit im sogenannten Doktorandenzimmer, mitten in einer relativ großen Bibliothek, strengste Disziplin für jedes Mitglied des Seminars und ein Übungsbetrieb, der ein ungezwungenes Ganze bildete.“104

Das Leipzig seiner Privatdozentenzeit (1895–1901) behielt er in Erinnerung als „Stätte der [nüchternen] Arbeit und der wissenschaftlichen Erziehung“; in dem Ensemble der Professoren Karl Lamprecht, Erich Marcks und Gerhard Seeliger fand er einen „idealen Zustand“, denn sie ergänzten sich in einer Weise, „daß der Forschung und dem Unterricht in jeder wünschenswerten Richtung gedient war“:105 „Niemals zuvor war den Studenten der Geschichte an irgendeiner deutschen Universität eine so reiche und systematisch geordnete, das Fach erschöpfende Auswahl von Vorlesungen und Übungen geboten worden. Das Historische Seminar […] übertraf bei weitem alle anderen Seminare Deutschlands.“106

Die bei Karl Lamprecht beobachtete Art der Semestervorbereitung, die nach Möglichkeit für alle wissenschaftlichen Bedürfnisse der Studierenden sorgte, nämlich die Festsetzung eines Lehrplans in Besprechungen aller Dozenten, beeindruckten den jungen Historiker dermaßen, dass er auch später, 1901–1905 bzw. 1905–1913, in die Münchner und Tübinger akademischen Sitten „Leipziger Normen“ einführte – eine strukturierte Lehre in Gestalt von Vorkursen, Hauptkursen, die Hinzuziehung sämtlicher Lehrkräfte, regelmäßige Orientierungsvorlesungen zur „Einführung in das Studium der Geschichte“, obligatorischer Besuch der Übungen; das mutwillige Versäumen der Lehrveranstaltungen hörte auf, jeder Teilnehmer hatte ein Referat zu halten.107 Der Jurist Adolf Schmidt (1815–1903) hatte schon 1874 den „bewährte[n] Leumund der guten Sitte, der Ehrenhaftigkeit und des ernsten Arbeitens“ betont, „in welchem unsere Universität seit langem und mit bestem Rechte steht.“108 Walter Goetz beschrieb entsprechend die hervorragende Ausbildungsqualität als Charakteristikum der Arbeitsuniversität und umschließt dabei sowohl das auf besondere Weise präsentierte Angebot als auch die erwartet hohe Nachfrage, die etwa Karl Lamprecht für seine Vorlesungen in den größten Hörsaal, die Aula, zwang. Nach Leipzig ging man zum Studieren, nicht wegen landschaftlicher oder

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Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin im Kaiserreich, Berlin 1999, S. 119–147, S. 125. Die meisten anderweitigen Erwähnungen sind Übernahmen von vom Brocke. Walter Goetz, Historiker in meiner Zeit. Gesammelte Aufsätze, Köln/Graz 1957, S. 10. Ebd. (Arndt, Maurenbrecher, Wachsmuth). Ebd., S. 34. Ebd., S. 35 f. Ebd., S. 39, 42. Rede des abgehenden Rektors Adolf Schmidt, 31. Oktober 1874, in: Rektoratsreden, Bd. I, S. 105–115, hier S. 108.

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künstlerischer Reize, mit denen etwa Dresden punkten konnte, vor allem aber die süddeutschen Universitäten. „Leipzig ist eine gesuchte Universität, was sie nicht nur dem Reichtum und der Vollständigkeit der Lehrmittel, dem Ruhm und der Gewissenhaftigkeit ihrer Professoren, sondern zum großen Teil dem Fleiß und wissenschaftlichen Ernst der Studierenden verdankt. Leipzig gilt als eine Universität, ‚in der viel gearbeitet wird‘.“109

Als Bedingung, die die Studierenden für die „Arbeitsuniversität“ konditionierten, müssen Karl Bücher zu Folge die gesellschaftlichen und kulturellen Mechanismen der Großstadt gelten. „An und für sich ist eine große Stadt als Sitz einer Universität einer kleinen bei weitem vorzuziehen: einerseits weil nur sie die Studierenden, von denen viele ihr ganzes späteres Berufsleben an kleinen Orten zu verbringen haben, mit den höchsten Errungenschaften der modernen Kultur in unmittelbare Beziehung bringt, anderseits [sic] weil in einer Großstadt das zeitraubende Verbin­ dungswesen, unter dem die Studien an kleinen Universitäten leiden, von selbst seine Bedeutung verliert.“110

Mehrere Rektoren widmeten sich dem Fleiß der Studierenden. „Über verbreiteten Unfleiss, wie es die Rectoren mancher anderen Universität thun müssen, bei unseren Commilitonen zu klagen, haben wir in Leipzig keine Veranlassung. Auch in dieser Beziehung hat unsere Universität ihren Ruhm, eine Arbeitsuniversität zu sein, bewahrt.“111 „Der Fleiss unserer Studirenden ist nach wie vor ein musterhafter gewesen. Wir Leipziger Professoren haben keine Veranlassung in die oft gehörten Klagen einzustimmen, dass die deutschen Studenten, oder wenigstens die einzelner Facultäten nicht ihre Studienzeit gehörig ausnutzten. Nicht nur der Besuch der Vorlesungen ist dauernd ein guter gewesen, sondern auch die Seminare, durch die sich ja Leipzig besonders auszeichnet, haben die regste Theilnahme gefunden.“112

Es war dieser Fleiß, der die aufgeschlossenen und arbeitswilligen Studenten in Leipzig von Orten unterschied, in denen das Schlagwort „Arbeitsuniversität“ womöglich mehr als Drohung gewirkt hätte, etwa in München (aus Leipziger Sicht fast schon Italien!), wo der „Schlendrian“ herrschte, dem „Bummel“ in Marburg oder dem dezidiert pragmatischen (Des-)Interesse der Studenten in Bonn, über die der Geograph Johann Justus Rein (1835– 1918) schrieb: „Der Bonner Student hört nach dem einstimmigen Urteil meiner Collegen nur die Vorlesungen, in denen er erwarten darf, geprüft zu werden, selten etwas über diesen Examenszweck hinaus […].“113 109 Rede des abgehenden Rektors Rudolf Leuckart, 31. Oktober 1878, in: Rektoratsreden, Bd. I, S. 235– 245, hier S. 242. Rektor Max Heinze betonte, „dass wir vielfach von anderen Universitäten um die Qualität unserer Zuhörer beneidet werden.“ Rede des antretenden Rektors Max Heinze, 31. Oktober 1884, ebd., S. 374. 110 Karl Bücher, An die Redaktion der „Volksstimme“ [Entwurf], UB Leipzig, Nachlass 183:4/163–168, Bl. 167, undatiert (1911; entspricht weitgehend „Votum zur Frankfurter Universitätsfrage“ S. 223). Hervorhebung K. M. 111 Rede des abtretenden Rektors Johannes Wislicenus, 31. Oktober 1894, in: Rektoratsreden, Bd. I, S. 598. 112 Rede des abtretenden Rektors Emil Friedberg, 31. Oktober 1897, in: Rektoratsreden, Bd. I, S. 675. 113 Zit. (1884) nach Gerhard Engelmann, Die Hochschulgeographie in Preußen 1810–1914, Wiesbaden 1983, S. 95.

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Beispielhaft für den Titel „Arbeitsuniversität“ steht die Reichsuniversität Straßburg, die schon bald nach ihrer Eröffnung 1872 den Ehrennamen „Arbeitsuniversität“ für sich reklamierte; das Fundament war durch eine entsprechende Infrastruktur wie die Einrichtung von Seminaren und reich ausgestattete Seminarbibliotheken gelegt worden.114 „Der Seminarbetrieb unter der Führung besonders dafür begabter Dozenten blühte dort auf in musterhafter Weise. Von ihm aus verbreitete sich über die ganze Studentenschaft jener besondere Geist, welcher der jungen Hochschule in der deutschen gelehrten Welt alsbald den Ehrennamen einer Arbeitsuniversität eintrug. Dergleichen hat dann von selbst auch eine gewisse Rückwirkung auf die Professorenschaft selber – was ihr natürlich keineswegs zum Schaden gereicht.“115

Auch hier sind wieder zunächst die Studenten Träger des Auszeichnungskriteriums „Arbeitsuniversität“, angeregt durch besonders begabte Dozenten. Dass Professoren arbeiten, verstand sind zwar von selbst, zumal im Kontext des Selbstbilds als „Diener der Wissenschaft“; doch hier geht es um Unterordnung unter (gemeinsame) Projekte der Gesamtinstitution. Eine „gewisse Rückwirkung auf die Professorenschaft“ meint wohl eben diese permanente Mobilisierung des Ehr- und Pflichtgefühls für wissenschaftliche Kooperation und Fokussierung auf die gemeinsame Sache. Die üblichen Aufmunterungsappelle der Leipziger Rektoren an die Adresse der Neuimmatrikulierten zum Beginn des akademischen Jahres nahm Bernhard Windscheid 1884 zum Anlass, auch die Studenten daran zu erinnern, „dass, wenn wir Sie mit einem althergebrachten Namen Commilitonen nennen, dies heisst, dass Sie mit uns zu gleichem Dienste verpflichtet sind, zum Dienst der Wissenschaft.“116 Eine auf die Leistungen der Professoren zielende Akzentuierung des Titels „Arbeitsuniversität“ für Straßburg bezieht sich auf den 1901 berufenen Historiker Friedrich Meinecke, der sich, „um in seinen Lehrveranstaltungen das hohe Niveau der als ‚Arbeitsuniversität‘ bekannten Straßburger Hochschule zu halten […] ‚ganz einkapseln‘ und alle seine Kräfte konzentrieren“ musste.117 Die nach Aby Warburgs Beobachtung in Straßburg dominierenden „Brotstudenten“, die in kürzester Zeit die Universitätsstudien absolvieren wollten, um im Beruf zu arbeiten,118 gehen indessen an dem vonseiten der so bezeichneten Universitäten119 durchweg positiv konnotierten Begriff vorbei, jedenfalls in Bezug auf Leipzig, wo den Studenten nicht nur Fleiß, sondern auch Zweck und Dienst der Wissenschaft zugeschrieben und abverlangt wurde. Noch in den 1920er Jahren stellte 114 Bernd Schlüter, Reichswissenschaft. Staatsrechtslehre, Staatstheorie und Wissenschaftspolitik im Deutschen Kaiserreich am Beispiel der Reichsuniversität Straßburg, Frankfurt a. M. 2004; J. E. Craig, Scholarship and Nation-building. The Universities of Strasbourg and Alsatian Society (1870–1939), Chicago/London 1984, S. 70–77. 115 Otto Mayer, Die Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg. Ihre Entstehung und Entwicklung, Berlin/ Leipzig 1922, S. 48 (Hervorhebung im Originial). 116 Rede des antretenden Rektors Bernhard Windscheid, in: Rektoratsreden, Bd. I, 31. Oktober 1884, S. 385. 117 Stefan Meineke, Friedrich Meinecke. Persönlichkeit und politisches Denken bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Berlin / New York 1995, S. 142. 118 Bernd Roeck, Der junge Aby Warburg, München 1997, S. 71. 119 Sporadisch und ohne nähere Bewertung findet sich diese Bezeichnung für Erlangen, Freiburg, Gießen, Göttingen, Halle, Heidelberg.

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der Leipziger Philologe Erich Bethe die „echten Studenten“ den „Brotstudenten“ gegenüber.120 „Arbeitsuniversität“ war also ein wertprägender Topos, ein „Ehrentitel“, welcher der fortgesetzten stolzen Selbstvergewisserung der Alma Mater diente und im Verbund mit den entscheidenden Merkmalen der Selbstbewertung – strebsame Studenten, Qualität der Forscher / Lehrer, bester Stand der Forschungs- / Unterrichtsmöglichkeiten – auftrat. Schon bei der Berufung eines Professors galt es den Maßstab anzusetzen, ob dieser auch in der Lage wäre, Hörer aus anderen Bereichen anzuziehen. Dem Arbeitsethos der (überwiegenden Zahl der) Leipziger Studenten, ein wiederkehrender Paragraph in den Rektoratsreden, widerspricht partiell das Sozialverhalten in der universitätsinternen wie städtischen Öffentlichkeit: 1903 erwies sich die Karzerstrafe „leider noch nicht ganz als entbehrlich“;121 eine „galante Metamorphose“ des Karzers wie in Berlin, wo der zum ursprünglichen Zweck nicht mehr gebrauchte Raum „zu Unterhaltungsräumen für studierende Damen bestimmt“ wurde,122 kam in Leipzig nicht zustande. Die abnehmende Belegung des Karzers, jedes Jahr referiert, galt den Rektoren aber als gutes Zeichen. „Daß der Student neben seinem Fachstudium und neben seiner rein wissenschaftlichen Ausbildung auch andere Interessen kennt, daß er den großen Fragen, die unser modernes gesellschaftliches Leben bewegen, Verständnis entgegenzubringen sucht, haben wir nur freudig zu begrüßen. Wir wollen kein politisierendes, aber auch kein Studententum, dessen Gesichtskreis auf Buch und Laboratorium beschränkt bleibt. Und wenn manchmal der jugendliche Geist überschäumt, wenn Unreife und naive Überschätzung der eigenen Kraft zu Sonderbarkeiten führen, wir haben das nicht tiefer zu beklagen, solange nicht niedrige Gesinnung sondern nur unreifer Idealismus die treibende Kraft war.“123

Die Reihung der Rektorendiskurse über Leipzig als „Arbeitsuniversität“ legt offen, dass dieses Charakteristikum den Repräsentanten der Wissenschaft ausgesprochen wichtig war und sie ihrerseits durch die häufige Wiederholung dieses Topos zu dessen Verstetigung und Verankerung im öffentlichen Bewusstsein sorgten. Der Geologe Ferdinand Zirkel griff 1886 „den alten Ruhm Leipzigs“ auf, „den einer arbeitsamen Universität“.124 Der Philologe Lipsius lobte 1891: „Unsere Hochschule steht allenthalben in deutschen Landen in dem guten Rufe, eine Stätte ernster wissenschaftlicher Arbeit zu sein.“125 Eduard Sievers, ebenfalls Philologe, berichtete 1902: „Ihrem alten Ruf, eine Arbeitsuniversität zu sein, ist unsere Hochschule auch im abgelaufenen Jahre treu geblieben. Wir Docenten haben allen Anlass, des Fleisses unserer Hörer sowol im Besuch der Vorlesungen als in der Teilnahme an Uebungen, Seminarien u. dgl. rühmend zu gedenken.“126 120 121 122 123

Erich Bethe, Antrittsrede, 31. Oktober 1927, in: Rektoratsreden, Bd. II, S. 1528. Rede des abtretenden Rektors Adolf Wach, 31. Oktober 1903, in: Rektoratsreden, Bd. I, S. 824. Rede des abtretenden Rektors Heinrich Curschmann, 31. Oktober 1907, in: Rektoratsreden, Bd. II, S. 916. Gerhard Seeliger, 31. Oktober 1906, S. 891. Aber: „Strenge Arbeit muß allerdings im Mittelpunkt des studentischen Lebens stehen. Und das ist in Leipzig der Fall.“ Ebd. 124 Jahresbericht des abtretenden Rektors Ferdinand Zirkel, 31. Oktober 1886, in: Rektoratsreden, Bd. I, S. 408–416, hier S. 415. 125 Rede des antretenden Rektors Justus Hermann Lipsius, 31. Oktober 1891, in: Rektoratsreden, Bd. I, S. 531–541, hier S. 540. 126 Jahresbericht des abtretenden Rektors Eduard Sievers, 31. Oktober 1902, Rektoratsreden, Bd. I, S. 801.

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Karl Lamprecht verwies 1911 auf steigende Frequenzzahlen, die „charakteristisch für das Wesen einer echten Arbeitsuniversität“ seien.127 Bereits der folgende Rektor, der Neutestamentler Georg Heinrici, griff das Stichwort in seiner Antrittsrede 1911 auf, als er die Kommilitonen zur Hilfe aufforderte, „daß unsere Universität allezeit den Ruhm bewahre, eine freie deutsche Arbeitsuniversität zu sein.“128 In seinem Jahresbericht kam er darauf zurück: „Es ist ein erfreuliches Bild, das unsere Arbeitsuniversität bei dieser Überschau uns darbietet. Überall Blühen und Wachsen.“129 Während des Krieges wurde die Arbeitsamkeit der Studierenden auf ein neues Gebiet bezogen – die Arbeit der weiblichen Studierenden in den Munitionsfabriken.130 Der Chemiker Max Le Blanc (1865–1943) fasste seinen Jahresbericht 1926 zusammen: „Leipzig ist von jeher eine Arbeitsuniversität gewesen und soll es bleiben, sie bietet den Studierenden besonders reiche Hilfsmittel für das Studium. Die Alma Mater Lipsiensis ist nach wie vor von frischem drängendem Leben erfüllt.“131 Erich Bethe schließlich bat die alten und die neu berufenen Professoren, sich in Leipzig „auf die Dauer ihres Lebens einzurichten, berühmten Vorbildern folgend, den vielleicht einmal an sie herantretenden oder schon herangetretenen Lockungen an andere Universitäten zu widerstehen und unserer ehrwürdigen Alma Mater treu zu bleiben. Es gibt schönere Gegenden, aber schwerlich eine Universität, für die besser gesorgt und an der fleißiger gearbeitet wird.“132

Konkret messbar war „fleißige Arbeit“ an der Zahl der Studierenden und der Privatdozenten, die die Leipziger Universität zum Ausgangspunkt ihrer akademischen Laufbahn wählten. Darin lag ein Qualitätsmerkmal für den wissenschaftlichen Unterricht. Ein protestantisches Arbeitsethos mag gerade in Sachsen als dem Kernland der Reformation eine Rolle gespielt haben; der Rektoratswechsel fand nicht ohne Grund alljährlich am Reformationstag statt. Entscheidend ist die inhärente Selbstbestätigung und Erhöhung der Professoren, wenn ihre Privatdozenten ehrenvolle Rufe bekamen und ihre Studenten Arbeitsanforderungen erfüllten, die nicht überall selbstverständlich waren. Schon früh ist bemerkt worden, dass Leipzig ganz zu Recht stolz sein dürfe, „daß gerade hier das System der Zusammenarbeit zwischen Meistern und Schülern, das Teilnehmenlassen der Jugend an der Arbeit der Forschung früh und in größerem Umfang als anderwärts seinen Einzug feierte.“133 Nirgends seien Übungen und Seminare auf allen Gebieten als gleichberechtigter Teil des akademischen Unterrichts in so großem Umfang erkannt und geübt worden wie hier. Zeugnisse von ehemaligen 127 Jahresbericht des abtretenden Rektors Karl Lamprecht, 31. Oktober 1911, in: Rektoratsreden, Bd. II, S. 1012. 128 Rede des antretenden Rektors Georg Heinrici, 1911, Rektoratsreden, Bd. II, S. 1029. 129 Jahresbericht des abtretenden Rektors Georg Heinrici, 31. Oktober 1912, in: Rektoratsreden, Bd. II, S. 1039. 130 „Und war Leipzig immer eine Arbeitsuniversität, so darf man jetzt den Fleiß unserer Jugend doppelt rühmen. Auch von einem Teil der Studentinnen kann mit Befriedigung gemeldet werden, daß sie, um in der Leistung fürs Vaterland nicht hinter ihren Kommilitonen zurückzustehen, den heroischen Entschluß gefaßt haben, tätig an der Munitionsarbeit in Fabrikbetrieben teilzunehmen.“ Jahresbericht des abtretenden Rektors Rudolf Kittel, 31. Oktober 1918, S. 1194. 131 Jahresbericht des abtretenden Rektors Max Le Blanc, 31. Oktober 1926, S. 1492. 132 Jahresbericht des abtretenden Rektors Erich Bethe, 31. Oktober 1928, S. 1548. 133 Rudolf Kittel, Die Universität Leipzig und ihre Stellung im Kulturleben, Dresden 1924, S. 29.

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Schülern und Mitarbeitern verschiedener Professoren untermauern diese Feststellung.134 Sie steht nur scheinbar im Widerspruch zu den Ergebnissen der Institutionalisierungsforschung, in denen Leipzig bei den Seminar- und Institutsgründungen nie an erster Stelle steht,135 weil die Statistik nicht die Komplexität der Institutionalisierungsvorgänge erfassen kann. Als Ausdruck des Wandels wissenschaftlichen Denkens und wissenschaftlicher Arbeit, Verkörperung eines Forschungsimperativs, der sich in Leipzig eben nicht dergestalt verselbstständigte wie in Berlin, wo von „Auszug von Forschung“ gesprochen wurde136 und der anstatt (im Sinne des Rückzugs auf die reine Wissenschaft) Defizite in der Lehre zu schaffen, Forschung und Lehre effizient miteinander verband, waren die von Karl Lamprecht erdachten Forschungsinstitute durch die Verbindung zur Universität, statt der Abgrenzung zu ihr wie in Berlin, quasi die Aufgipfelung der „Arbeitsuniversität“, indem sie die fortgeschrittenen Studenten in die Forschungsarbeit der Institute einband. Nur nebenher sei der Hinweis erlaubt, dass Wilhelm von Humboldt oder das Humboldtsche Universitätsideal weder in den Rektoratsreden noch in den Schriften Lamprechts zur Universitätsreform eine Rolle spielte. Dem ehemaligen Leipziger Privatdozenten Adolf von Harnack gelang es in Berlin unter „bemerkenswert unbekümmerter Berufung“137 auf die erst 1903 bekannt gewordene einschlägige Denkschrift Humboldts, in Preußen die späteren Kaiser-Wilhelm-Institute Gestalt werden zu lassen (1909/1911).138 In der Universitätsgeschichtsschreibung muss sich die Einsicht wohl erst noch durchsetzen, dass nur Harnacks bessere politische Vernetzung in Berlin den reichsweiten Erfolg bedingte. In Leipzig hatte schon vor 1909 Karl Lamprecht den Prototyp des geisteswissenschaftlichen Forschungsinstituts vorgestellt und realisiert.139 Es hat allen Anschein, als wäre nirgendwo sonst in der deutschen Universitätslandschaft so häufig von „Arbeitsuniversität“ als Qualitätsmerkmal, Moment der Selbstvergewisserung und Verpflichtung gesprochen worden wie in Leipzig; eine vergleichende Auswertung deutscher Rektoratsreden steht jedoch aus. Auch gewinnt diese Kategorie, wie gezeigt wurde, in Leipzig deutliche Konturen, die sie als mehr als bloßen Gegenpol der alten Vorlesungsuniversität auszeichnen. Die Instituts- und Seminarstruktur, wesentlicher Träger der forschungsbezogenen Ausbildung von Studenten und Doktoranden, markierte als Ergebnis der Ausdifferenzierung der Fächer und Disziplinen eine Modernisierungsetappe der Universität. Die zunehmende Verbesserung der Ausstattung einschließlich der Instituts- und Seminarbibliotheken boten dem oft zitierten „studentischen Fleiß“ attraktive Qualifikationsmöglichkeiten (die „herrlichste Arbeitsgelegenheit“ laut Walter Goetz) und dem akademischen Stolz der Fachvertreter (explizit seit 1874) auf Leipzig, wo „viel gearbeitet

134 In der neuesten Geschichte der Universität Leipzig finden sich zahlreiche Beispiele. 135 Siehe die zahlreichen Studien von Bernhard vom Brocke, etwa: Wege aus der Krise: Universitätsseminar, Akademiekommission oder Forschungsinstitut. Formen der Institutionalisierung in den Geistesund Naturwissenschaften 1810–1900–1995, in: Christoph König / Eberhard Lämmert (Hg.), Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900, Frankfurt a. M. 1999, S. 191–218. 136 Rüdiger vom Bruch, Die Gründung der Berliner Universität, in: Humboldt international, S. 67. 137 Ebd. 138 U. a. Heinz-Elmar Tenorth, Wilhelm von Humboldts (1767–1835) Universitätskonzept und die Reform in Berlin – eine Tradition jenseits des Mythos, in: Zeitschrift für Germanistik, NF, 20 (2010), S. 15–28. 139 Siehe Matthias Middell, Weltgeschichtsschreibung; Bernhard vom Brocke, Verschenkte Optionen, S. 140 f.

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wird“,140 Gelegenheiten der öffentlichen Manifestation. In der fortgesetzten Erinnerung waren es aber die Studenten, die dem Begriff der Arbeitsuniversität Bedeutung verliehen. „Unser Leipzig ist eine gesuchte Universität. Dass sie es aber ist, das verdankt sie nicht bloss dem Reichthum und der Vollständigkeit ihrer Lehrmittel, auch nicht bloss dem Ruhme und der Gewissenhaftigkeit ihrer Professoren, sondern zum grossen Theile auch dem Fleisse und dem wissenschaftlichen Ernst ihrer Studirenden. […] das beweisen ebensowohl die gefüllten Hörsäle und Laboratorien, wie die vielen und zahlreich besuchten wissenschaftlichen Vereine, die, aus der Initiative der Studirenden selbst hervorgegangen, für wechselseitige Anregung und gemeinsame Arbeit eine stets offne Arena abgeben“.141

Das Bild von der Arbeitsuniversität fasste treffend die Beschreibung zusammen, in der die beteiligten Akteure die ihnen wichtige Atmosphäre der wissenschaftlichen Ernsthaftigkeit, den Konsens zwischen Lehrenden und Studierenden über die Standards des akademischen Arbeitens und die Akzeptanz einer Wettbewerbsrhetorik formulierten. Es warf auch ein Licht der gesellschaftlichen Anerkennung auf die Promotoren einer solchen Arbeitsethik. Die Atmosphäre der Arbeitsuniversität ließ sich für verschiedene Zwecke der (Selbst-)Mobilisierung instrumentalisieren. Aus der großen Zahl von Bekenntnissen zum Ideal der Arbeitsuniversität lässt sich ableiten, dass dieses Instrument gern eingesetzt wurde und der erhoffte Erfolg sich mehr als einmal einstellte, wenn es darum ging, Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen, selbst gesteckte Ziele des Studiums und der Forschung zu erreichen – und sich vielleicht auch über den Mangel einer lieblichen Landschaft hinwegzutrösten; im Umfeld der Stadt begann sich der Braunkohletagebau großflächig zu entwickeln. Tabelle 1: Programmatische Rektoratsreden Ludwig Lange

1879

Über das Verhältniss des Studiums der classischen Philologie auf der Universität zu dem Berufe der Gymnasiallehrer

Friedrich Zarncke 1881

Über Geschichte und Einheit der philosophischen Fakultät

Wilhem His

1882

Über Entwickelungsverhältnisse des academischen Unterrichts

Max Heinze

1883

Über den sittlichen Werth der Wissenschaft

Wilhelm Wundt

1889

Über den Zusammenhang der Philosophie mit der Zeitgeschichte. Eine Centennarbetrachtung

Karl Bücher

1903

Über alte und neue Aufgaben der deutschen Universitäten

Karl Lamprecht

1910

Die gegenwärtige Entwicklung der Wissenschaften, insbesondere der Geisteswissenschaften und der Gedanke der Universitäts-Reform

Albert Köster

1914

Der Krieg und die Universität

140 Jahresbericht des abtretenden Rektors Rudolf Leuckart, 31. Oktober 1878, in: Rektoratsreden, Bd. I, S. 242. 141 Ebd.

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3. Die Stellung der Universität Leipzig im Universitätssystem des Kaiserreiches im Spiegel der Berufungen (1871–1914) „Keiner unserer ordentlichen Professoren hat während dieses Jahres unsere Universität mit einer anderen vertauscht …“142 Die vier Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg bildeten eine Glanzzeit der Universität Leipzig und der deutschen Universitäten schlechthin. Der die Industrialisierung begleitende, umfassende gesellschaftliche Modernisierungsprozess, dessen wissenschaftsgeschichtliche Ebene als Ausdifferenzierung und Spezialisierung der akademischen Fächer und Disziplinen und deren Institutionalisierung an den Universitäten, wachsende gesellschaftliche Bedeutung der Universitätsausbildung, starke Zunahme studentischen Zustroms beschrieben wird, zeigte sich in ihren ruhmreichen wie in ihren problematischen Aspekten auch in den selbstreflexiven Teilen der Rektoratsreden und Positionsnahmen Leipziger Wissenschaftler und musste sich konsequenterweise in der Absicht niederschlagen, die traditionellen wie neu hinzukommende Unterrichtsfächer mit Spitzenkräften vertreten zu sehen. Da die Berufungs- und Personalpolitik unmittelbar auf die Wissenschafts- und Universitätsorganisation einwirkte und die Besonderheiten des wissenschaftlichen Profils der Leipziger Universität ausformte, soll sie in diesem Abschnitt separat erörtert werden, obwohl sie auch zu den drei wichtigsten Kriterien – gute Forscher / Lehrer, gute Arbeitsmöglichkeiten (Institute, Seminare, Kliniken, Laboratorien usw.), arbeitsame (und viele) Studenten – der Selbsteinschätzung und des Selbstbildes der Universität und dem daraus abgeleiteten Ehrentitel „Arbeitsuniversität“ (siehe den vorigen Abschnitt) gehört. Zudem zeigen Berufungen, die in Folge der Etablierung neuer Lehrstühle und neuer Wissensgebiete ergingen, besonders deutlich die Wechselwirkung zwischen Idealen und Strukturen: Der Begründungsaufwand für ein neues Lehrgebiet war mitunter erheblich, wie am Ende dieses Kapitels am Beispiel der Geometrie gezeigt wird. Der Entscheidungsfindungsprozess offenbarte die Existenz und Konkurrenz verschiedener Wissenschaftsideale der geistes- und der naturwissenschaftlichen Kollegen in der Fakultät;143 beides führte letzten Endes zu einer neuen (Forschungs- und Ausbildungs-) Struktur, die nachfolgend denselben Regeln der universitären Institutionalisierung folgte wie die früher etablierten akademischen Fächer: Institut, Seminar, Übungen, Lehrplan. Die Zeitschriften und wissenschaftlichen Vereine als Instrumente der Professionalisierung und Institutionalisierung gingen zumeist der Etablierung des Faches an der Universität voraus.144 Einen auf längere Zeit festgelegten Berufungsplan im Sinne einer ausgeklügelten Konzeption gab es nicht. Allerdings kann man durchaus aus zahlreichen, disparaten Meinungsäußerungen und Absichtserklärungen sowie aus den schließlich erfolgten Berufungen eine (immer umstrittene) wissenschaftspolitische Strategie rekonstruieren. Im Mittelpunkt stand 142 Rede des abtretenden Rektors Otto Ribbeck, 1. November 1888, in: Rektoratsreden, Bd. 1, S. 447–456, hier S. 450. 143 Das wurde im vorhergehenden Kapitel unter der These der „zwei Kulturen“ erörtert und kommt im Folgenden auch bei der Schaffung bzw. Besetzung von Lehrstühlen deutlich zum Ausdruck. 144 Siehe für das Beispiel der Geschichtswissenschaft: Matthias Middell (Hg.), Historische Zeitschriften im internationalen Vergleich, Leipzig 1999; Matthias Middell / Gabriele Lingelbach / Frank Hadler (Hg.), Historische Institute im internationalen Vergleich, Leipzig 2001.

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durchweg der Erhalt und Ausbau der Position Leipzigs im deutschen Universitätssystem. Die Handlungsmaxime, alles dafür und damit zum Besten der Landesuniversität und ihrer wissenschaftlichen Stärkung zu tun, verbanden Fakultäten und Ministerium. In der Tat wurde das Selbstbild der Universität maßgeblich vom Renommee ihrer ‚Berufenen‘ geprägt. Die Gewinnung namhafter Ordinarien von anderen Universitäten und deren Erhalt wurde durchweg angestrebt, der Erfolg alljährlich referiert. „Keiner unserer ordentlichen Professoren hat während dieses Jahres unsre Universität mit einer anderen vertauscht. Dagegen sind wiederum an mehrere jüngere Collegen ehrenvolle Rufe von aussen ergangen […].“145 So stolz das klang, so nüchtern wurde über Abgänge von Professoren berichtet, die nicht verhindert werden konnten: das waren „schwere Verluste“, „Einbußen“. Dafür galt der im eigenen Haus ausgebildete akademische Nachwuchs als Ausweis intellektueller Qualität der Universität, da die „Zahl [der Privatdozenten] und stets neuer Zuwachs ja ein besonders deutlich redendes Symptom der Blüte und Regsamkeit des wissenschaftlichen Lebens einer Hochschule bildet.“146 An anderer Stelle hieß es ähnlich: „Erfreulich gross ist wiederum der Zugang an neuen Privatdocenten gewesen: ein Beweis dafür, dass junge Gelehrte die Universität Leipzig noch immer gern zum Ausgangspunkt ihrer akademischen Laufbahn wählen.“147 Wurden diese Privatdozenten oder Extraordinarien dann an „Schwesteruniversitäten“ berufen, nahm man das als unverfälschtes Kompliment für die Leipziger Universität. Sie stiegen die akademische Karriereleiter empor, indem sie „einem ehrenvollen Ruf“ oder „ehrenden Berufungen“ folgten, man ließe sie zwar ungern ziehen, doch es würden ja auf diese Weise „junge und tüchtige Lehrer“ in „neue und höhere Bahnen“ geführt, „vorwärtsstrebende Kräfte“ bedürften zu ihrer Entwicklung „neuer Wirkungskreise“. Dahinter stand allerdings die nicht oft ausgesprochene, indes weithin übliche Praxis, „dass die Universität Leipzig […] an dem Grundsatze festhält, Leipziger Extraordinarien zu Ordinariaten nicht vorzuschlagen“148 – sie mussten zwangsläufig im eigenen Interesse auswärtige Berufungen annehmen, da ihnen ihre Alma Mater mehrheitlich die Hausberufung verwehrte und keine Aufstiegschancen bieten konnte bzw. auch wollte. Seit dem Untergang der alten Familienuniversität und dem Übergang zur forschungsorientierten Leistungsuniversität149 hatte sich in Deutschland schrittweise das Ideal einer auf Mobilität und Aufstiegsdenken beruhenden Universitätslandschaft herausgebildet.150 Es 145 Rede des abtretenden Rektors Otto Ribbeck, 1. November 1888, in: Rektoratsreden, Bd. 1, S. 447–456, hier S. 450. 146 Rede des abtretenden Rektors Gustav Adolf Ludwig Baur, 31. Oktober 1875, in: Rektoratsreden, Bd. 1, S. 132–139, hier S. 136. 147 Rede des abtretenden Rektors Eduard Sievers, 31. Oktober 1902, in: Rektoratsreden, Bd. 1, S. 794–803, hier S. 800. 148 Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden (SHStAD), 10210/18, Bd. 10, Akten, die Ersetzung der ordentlichen Professuren bei der philosophischen Fakultät Leipzig betr. 1899–1936, Bl. 3, Kultusminister Paul von Seydewitz an Ernst Windisch, Dresden, 4. April 1899. 149 Rüdiger vom Bruch, Gelehrtenpolitik, Sozialwissenschaften und akademische Diskurse in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006, S. 212; Marita Baumgarten, Vom Gelehrten zum Wissenschaftler. Studien zum Lehrkörper einer kleinen Universität am Beispiel der Ludoviciana Giessen (1815–1914), Giessen 1988; Sylvia Paletschek, Die permanente Erfindung einer Tradition. Die Universität Tübingen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Stuttgart 2001, S. 2. 150 Häufig wiederholt schon in den Rektoratsreden, etwa: „Das Bedauern, womit wir diese beträchtliche

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konnte sich auch deshalb durchsetzen, weil der Mechanismus der Bleibeverhandlungen für den einzelnen Professor, sein Fach und die Universität gleichermaßen Zugewinn versprach – neben die akademischen Wandervögel traten jene, die mit der Mobilität nur drohten und am Ende mit Gehaltserhöhung, Zuwendungen für das Institut und gestärktem Renommee am Ort blieben. Für die ebenfalls im Wettbewerb stehenden Ministerien mochte die Sache zwar teuer werden, aber es fiel ein Lichtstrahl des Prestigegewinns auch auf das Land und wurde als Ausdruck fortdauernder Fürsorge gegenüber den Hochschulen wahrgenommen. Die Berufungskorrespondenz verband die jeweiligen Minister (bzw. vortragenden Räte) mit den Dekanen bzw. Fakultätsmitgliedern. Den Fakultäten oblag das Vorschlagsrecht bei der Besetzung von Professorenstellen jeder Art. Sie hatten nach einschlägigen Kommissionsberatungen üblicherweise Dreierlisten einzureichen, doch waren sie auf einvernehmliche Zusammenarbeit mit dem Dresdner Ministerium des Cultus und öffentlichen Unterrichts angewiesen. In der Regel folgte das Ministerium den Vorschlägen. Es kam jedoch auch vor, dass der Minister Kandidaten gegen einen Widerstand aus der Fakultät berief.151 Auch die Höhe des Personaletats beeinflusste die Entscheidung. Insgesamt scheint es jedoch wenig autokratisches Hineinregieren in die Universität und eine grundsätzliche Bereitschaft zur stetigen Förderung der Wissenschaften gegeben zu haben, so dass die Universität Leipzig um ihre besondere Stellung zum Kultusministerium mancherorts gar beneidet wurde: „Wir betrachten es als eine günstige Fügung, daß wir seit den Zeiten, wo Minister von Falkenstein den Intentionen König Johanns Ausdruck gab, mit allen Leitern des Kultusministeriums in ein Verhältnis gegenseitigen Vertrauens und offenen Austausches der Meinungen getreten sind. Wenn wir uns unter den deutschen Universitäten einer beneideten Stellung zum Kultusministerium erfreuen, so wird dies nicht zum wenigsten dadurch bedingt, daß es seit jeher die Eigenart des Universitäts­Betriebes berücksichtigte: von einem scharfen Regiment Abstand nahm und feinfühlig dem persönlichen Moment mit seinen Imponderabilien Rechnung trug.“152

3.1 Die Kultusminister In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielte Staatsminister Johann Paul Freiherr von Falkenstein (1801–1882)153 eine herausragende Rolle, der an der Seite des „gelehrten“ Königs Johann (1801–1873),154 „eines der Wissenschaft selbst angehörigen Fürsten“,155 bestrebt

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Zahl jüngerer Kollegen scheiden sehen, wird durch die doppelte Erwägung gemindert, dass einerseits für ihre Personen insgesammt ehrenvolle Beförderungen in Frage stehen und dass andererseits ein der­ artiges Wandern von Universität zu Universität für die volle Entwickelung der Einzelnen wie für die Blüthe der deutschen Universitäten überhaupt als wesentlich erscheint.“ Rede des abgehenden Rektors Dr. Adolf Schmidt, 31. Oktober 1874, in: Rektoratsreden, S. 105–115, hier S. 106 (Hervorhebung K. M.). Zum Beispiel die Berufung Friedrich Zarnckes gegen Heinrich Wuttke. Siehe auch Geschichte der Universität Leipzig, Bd. 2, S. 437. Rede des abtretenden Rektors Charl Chun, 31. Oktober 1908, in: Rektoratsreden, Bd. 2, S. 931–940, hier S. 932 (Hervorhebung K. M). Kultusminister 1853–1871. Siehe König Johann von Sachsen. Zwischen zwei Welten, hg. von Uwe John, Halle 2001. Rede des abgehenden Rektors Adolf Schmidt, 31. Oktober 1874, in: Rektoratsreden, Bd. 1, S. 105–115, hier S. 105.

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war, der Universität in einer Zeit politischen Einflussverlustes Sachsens nach dem Österreichisch-Preußischen Krieg 1866 zu einem Aufschwung zu verhelfen. Die Berufung namhafter Professoren von auswärtigen Universitäten bzw. im Falle der Etablierung neuer Fächer die Ernennung derjenigen gelehrten Praktiker mit der besten akademischen Reputation bedeutete den Abschied von einer Landesuniversität im engeren Sinne der Selbstrekrutierung der Universität („Familienuniversität“). Mit dem Namen Falkensteins156 sind die Anfänge der Institutionalisierung neuer Disziplinen an der Universität, die Schaffung neuer Lehrstühle und deren teils prominente Erstbesetzung verbunden. In den Kreisen der Universitätsgelehrten wurde er in solchem Maße geschätzt, dass Urteile über ihn sich beinahe zu mythischer Verklärung erhoben. „Aufschwung“ und „Blüte der Universität“ erscheinen nachgerade als Synonym für Falkenstein, wie – um auch hier die Quellen sprechen zu lassen – die folgenden ausgewählten Wortmeldungen über dessen vielfältige Verdienste demonstrieren. „Der Freiherr Joh. Paul von Falkenstein übernahm die Leitung des Cultusministeriums zu einer Zeit, als unsere Universität bei dem Minimum ihrer Präsenzzahl angelangt war. Die Gründe für diesen Verfall lehrt die Geschichte jener Jahre. Sofort aber die ersten Schritte und Maassnahmen des in sein Amt Eintretenden verriethen, dass fortan ein neuer Geist die Anstalt leiten solle, verriethen sofort den humanen, wohlwollenden Sinn, der seine Verwaltung auch später stets ausgezeichnet hat, und jene innige Liebe und Verehrung für die Wissen­ schaft und ihre Ausbreitung, die ihn befähigte, so Grosses, für unsere Hochschule zu leisten. Von Jahr zu Jahr mehrten sich jetzt die Lehrkräfte und die Lehrmittel unserer Universität, und von Semester zu Semester entsprach diesem Wachsthum die steigende Frequenz der Studierenden, die aus allen Gauen Deutschlands und aus weiter Ferne herbeieilten, so dass, als der von uns Allen verehrte Mann vor wenigen Wochen aus seinem schweren und verantwortungsvollen Amte schied, er die Universität fast um das Dreifache vermehrt seinem Nachfolger übergab“.157 – „… Sr. Excellenz des Staatsministers Dr. Johann Paul Freiherrn von Falkenstein, ein Name, welcher nur genannt zu werden braucht, um die lebendigsten Sympathieen und die dankbarsten Gefühle aller Glieder der Universität wachzurufen, denn mit demselben verknüpft sich auf das innigste der Aufschwung und die Blüthe unserer Uni­ versität, für welche er zuerst in der Eigenschaft als Regierungsbevollmächtigter, sodann als Minister des Kultus und des öffentlichen durch eine lange Reihe von Jahren in der verständnissvollsten und erfolgreichsten Weise unermüdlich thätig war“.158 – „Die Universität, die sich jederzeit der fürsorgenden und verständnissvollen Thätigkeit des Herrn Ministers zu erfreuen gehabt hat und deren Aufblühen mit seiner Wirksamkeit als Minister des Cultus und öffentlichen Unterrichts unmittelbar zusammenfällt …“.159 – „Auch den 80jährigen Geburtstag unseres früheren Cultusministers Sr. Excellenz des königl. Hausministers Freiherrn Dr. von Falkenstein, dessen Name mit dem Aufschwung unserer Universität untrennbar verbunden ist und in ihren Annalen in dankbarem Gedächtniss bis in späteste Zeiten fortleben 156 Siehe Dr. Johann Paul Freiherr v. Falkenstein. Sein Leben und Wirken nach seinen eigenen Aufzeichnungen, Dresden 1882. 157 Rede des abgehenden Rektors Dr. Friedrich Zarncke, 31. Oktober 1871, in: Rektoratsreden, Bd. 1, S. 37–48, hier S. 43. Alle Hervorhebungen K. M. 158 Rede des abgehenden Rektors Adolf Schmidt, 31. Oktober 1874, in: Rektoratsreden I, S. 111–112. 159 Rede des abtretenden Rektors Otto Stobbe, 31. Oktober 1879, in: Rektoratsreden I, S. 266.

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wird …“.160 – „Unzweifelhaft ist er es, dem das Aufblühen unserer Universität an erster Stelle verdankt wird. Sein warmes, für die Wissenschaft glühend begeistertes Herz durchbrach zuerst die bureaukratischen Gewöhnungen in der Behandlung der Universitäts-Angelegenheiten, sein freier unbefangener Sinn verstand es, alle anderen Rücksichten schweigen zu heissen, wo es sich um Fragen der Wissenschaft handelte. So hat er Leipzig aus einer sächsischen zu einer deutschen Universität gemacht, und ein freudiges Echo hat ihm von allen Seiten unseres Vaterlandes geantwortet, dessen Jugend bald gerne zu uns eilte“.161 Als Kultusminister sorgte Falkenstein für die Konzentration der naturwissenschaftlichen und medizinischen Institute in der südlichen Vorstadt. Etliche Klinikneubauten entstanden unter seiner Ägide, daneben auch die 1862 eröffnete, moderne Sternwarte. Seine Wissenschaftspolitik setzte auf „Exzellenz der akademischen Lehrer“,162 um die Anziehungskraft der Universität zu heben. Mit seiner Amtszeit verbinden sich zahlreiche bedeutende Ordinarienberufungen und Lehrstuhlgründungen, die im Folgenden beispielhaft umrissen werden. Der Germanist Friedrich Zarncke (1825–1891) – Urheber des von ihm zunächst ironisch gemeinten Namens „Junggrammatiker“163 für seine Kollegen – wurde 1854 zum außerordentlichen, 1858 zum ordentlichen Professor der deutschen Sprache und Literatur ernannt und füllte damit eine akademische Lücke, die spätestens seit Anfang der 1850er Jahre öffentlich beklagt worden war.164 Im Jahr 1843 war in Leipzig der Lehrstuhl für Deutsche Sprache und Literatur neu eingerichtet und mit Moriz Haupt (1808–1874) besetzt worden, der allerdings im Gefolge der Restauration nach der 1848er Revolution wegen seiner politischen Aktivitäten 1851 (zusammen mit dem Althistoriker Theodor Mommsen) vom Senat der Universität suspendiert und hernach an die Berliner Universität berufen wurde.165 Trotz dieser frühen Lehrstuhleinrichtung gilt Zarnckes Beitrag zur Etablierung der deutschen Philologie, die lange im Schatten der klassischen Philologie stand, als wesentlich. Mit der frühen Gründung des „Königlich Deutschen Seminars“ (1873), das er 18 Jahre lang allein leitete, gelangte die Institutionalisierung der Germanistik an der Universität Leipzig „zu einem ersten Abschluss“.166 Die jüngste Darstellung der Leipziger Universitätsgeschichte hebt Zarnckes Qualitätsbewusstsein und Weitblick bei der Ausgestaltung der Germanistik hervor.167 Die dreimalige Wahl zum Rektor bezeugt die Anerkennung auch der wissenschaftsorganisatorischen Leistung Zarnckes durch seine Kollegen.168 In den Jahren seiner Rektorate 160 161 162 163 164 165 166 167 168

Rede des abtretenden Rektors Christoph Luthardt, 31. Oktober 1881, in: Rektoratreden I, S. 306. Rede des antretenden Rektors Friedrich Zarncke, 31. Oktober 1881, in: Rektoratsreden, Bd. I, S. 330. Geschichte der Universität Leipzig, Bd. 2, S. 151. Rudolf Růžička, Historie und Historizität der Junggrammatiker, in: Wege und Fortschritte der Wissenschaft. Beiträge von Mitgliedern der Akademie zum 150. Jahrestag ihrer Gründung, Hg. im Auftrag der Akademie von Günter Haase und Ernst Eichler, Berlin 1996, S. 593–609. Die Akademische Monatsschrift beklagt (1852) den völligen Mangel an Vorlesungen über deutsche oder irgendeine neuere Sprache und Literatur an der Leipziger Universität, vgl. Akademische Monatsschrift (Deutsche Universitäts-Zeitung), IV. Jahrgang 1852 (Mai), Leipzig 1852, S. 251. Edith Wenzel, Moriz Haupt (1808–1874), in: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts, hg. von Christoph König u. a., Berlin / New York 2000, S. 41–45. Geschichte der Universität Leipzig, Bd. 4/1, S. 536–541, hier S. 538; Marion Marquardt, Zur Geschichte des Germanistischen Institutes an der Leipziger Universität von seiner Gründung 1873 bis 1945, in: Zeitschrift für Germanistik 10/11 (1988), S. 681–687. Geschichte der Universität Leipzig, Bd. 4/1, S. 536–541, hier S. 540. Im Fall Rudolf Hildebrands, der wegen seiner Mitarbeit am Grimmschen „Deutschen Wörterbuch“

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äußerte er sich überaus eingenommen über den Staatsminister, auch verband sie ein ausgebreiteter Briefwechsel über Hochschulfragen.169 Der berühmte Neutestamentler und reisende Bibelforscher Constantin Tischendorf (1815–1874) wurde 1859 auf Betreiben des Ministeriums, also Falkensteins, ordentlicher Professor, nachdem er 1847 gegen den Willen der Fakultät eine außerordentliche Professur erhalten hatte.170 Der Astronom Karl Christian Bruhns (1830–1881) wurde aus Berlin berufen: zunächst 1860 auf ein Extraordinariat für Astronomie, 1868 erhielt er die ordentliche Professur. Bruhns gilt als „eine der großen Persönlichkeiten am Ende der klassischen Periode der Astronomie“.171 Den Philologen Georg Curtius (1820–1885) berief Falkenstein 1862 von seinem Lehrstuhl aus Kiel weg; zuvor hatte er bereits eine Professur in Prag besetzt. Curtius war der erste Vertreter der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft in Leipzig.172 Friedrich Wilhelm Ritschl (1806–1876), Professor der klassischen Philologie und Lehrer Friedrich Nietzsches, kam 1865 über Ordinariate in Breslau und Bonn, das er wegen des „Bonner Philologenstreits“ nach mehr als 25 Jahren verließ, nach Leipzig. Das sächsische Ministerium hatte sich „im vollen Einverständniß mit der Facultät beeilt, R[itschl] in ehrenvollster Form für die Universität Leipzig zu gewinnen“, wo er „noch ein Decennium lang einen weit zahlreicheren Schülerkreis, als er je in Bonn gehabt hatte“,173 um sich versammelte. Der in München habilitierte Carl Thiersch (1822–1895), Schwiegervater Adolf von Harnacks und Hans Delbrücks und Gatte der Tochter Justus Liebigs – Indizien für seine Vernetzung in der Gelehrtenwelt –, wurde 1867 von seiner Erlanger Professur für Chirurgie wegberufen. In Leipzig wurde er viermal Dekan der Medizinischen Fakultät, einmal Rektor der Universität. Thiersch gründete hier das neue Städtische Krankenhaus und das Klinikum St. Georg. Mit seinem Namen ist die „große Zeit der Leipziger Chirurgie“ verbunden.174 Der Kunsthistoriker Anton Springer (1825–1891), ein Begründer der Kunstgeschichte als Wissenschaft und als akademisches Lehrfach,175 nahm 1872 den Ruf an, nachdem er in

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1869 die Stelle als Extraordinarius für neuere deutsche Literatur und Sprache erhielt (1874 Ordinarius), konnte sich Zarncke mit seinem Vorschlag (Michael Bernays) nicht durchsetzen, da Hildebrand, seit 1852 Mitarbeiter, ab 1863 verantwortlicher Herausgeber des Wörterbuchs, durch den starken Rückhalt Bismarcks als Kanzler des Norddeutschen Bundes für diese „nationale“ Arbeit besoldet werden musste. Siehe Uwe Meves (Hg.), Deutsche Philologie an den preußischen Universitäten im 19. Jahrhundert: Dokumente zum Institutionalisierungsprozess, Berlin / New York 2002, S. 540, 738. Siehe auch Friedrich Zarncke, Rede am Sarge des Staatsministers a. D. J. P. Freiherrn von Falkenstein, in: Kleine Schriften, Bd. 2, Leipzig 1898, S. 140–142. Der Nachlass Friedrich Zarncke in der Universitätsbibliothek Leipzig enthält zahlreiche Briefe Zarnckes an Falckenstein, https://www.ub.uni­leipzig. de/bin/die_ubl/sosa/nachlass­inventar3_2010.pdf, S. 47. Geschichte der Universität Leipzig, Bd. 4/1, S. 64. Tischendorf galt als „exaltierter Außenseiter“, ebd. Geschichte der Universität Leipzig, Bd. 2, S. 453. Geschichte der Universität Leipzig, Bd. 4/1, S. 597. Otto Ribbeck, Artikel „Ritschl, Friedrich Wilhelm“, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 28, Leipzig 1889, S. 653–661, hier S. 655. Geschichte der Universität Leipzig, Bd. 4/2, S. 1000; Beatrice Hesse, Lebenssituationen und wissenschaftliches Werk von Carl Thiersch, med. Diss., Leipzig 1997. Er gründete die kunstwissenschaftlichen Institute in Bonn, Straßburg und Leipzig. Siehe Michel Espagne, L’histoire de l’art comme transfert culturel. L’itinéraire d’Anton Springer, Paris 2009.

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Bonn und Straßburg bereits Ordinariate besetzt hatte;176 sein mehrbändiges „Handbuch der Kunstgeschichte“ fand unzählige Auflagen. Georg Moritz Ebers (1837–1898) konnte 1870 vorerst eine außerordentliche Professur für die noch junge Ägyptologie bekommen, wie zuvor auch schon in Jena. 1875 wurde ihm eine ordentliche Professur an der Philosophischen Fakultät eingerichtet und die Leitung des Ägyptischen Museums übertragen. Der Name dieses ersten Vertreters der Ägyptologie an der Universität Leipzig lebt heute im „Papyrus Ebers“177 fort. Ebers auflagenstarke „Professorenromane“178 taten seinem Gelehrtennamen kaum Abbruch; sie machten ihn nachgerade zu einem „Modeschriftsteller“ und steigerten im ausgehenden 19. Jahrhundert die Popularität der Ägyptologie „in den weitesten Schichten des Volkes“.179 Die Einrichtung des ersten Lehrstuhls für Physikalische Chemie 1871 unter Gustav Wiedemann (1826–1899), der über Ordinariate für Physik in Basel, Braunschweig und Karlsruhe nach Leipzig gelangte, hängt auch mit Wilhelm Ostwalds Wirken in Leipzig zusammen, der Wiedemanns Wechsel auf die Professur für Physik 1887 seine eigene Berufung verdankte. Nach der Reichsgründung traten die Staatsminister Carl Friedrich Wilhelm (seit 1859 von) Gerber (1823–1891)180, Kurt Paul Damm von Seydewitz (1843–1910)181 und Heinrich Gustav (seit 1918 von) Beck (1854–1933)182 ins Rampenlicht, unterstützt von den Referenten bzw. Ministerialdirektoren wie dem „sächsischen Althoff“, Geheimrat Karl Heinrich Waentig (1843–1917) – der während der kurzen Amtszeit des Ministers Richard von Schlieben (1848–1908) die eigentlich entscheidende Person war183 –, die in Verbindung mit den Fakultäten und ihren Vertrauensmännern an der Universität über Universitäts- und Wissenschaftspolitik, Berufungsangelegenheiten, Neubauten, Ausstattung usw. bestimmten.184 Gerber, Seydewitz und Beck hatten allesamt u. a. in Leipzig Jura studiert, bevor sie die Beamtenlaufbahn im sächsischen Staatsdienst einschlugen. Während aber Gerber die akademische Laufbahn vorgezogen hatte (Privatdozent und Extraordinarius an der Universität Jena, 176 Anton Springer, Aus meinem Leben, Berlin 1892. 177 Reinhold Scholl, Der Papyrus Ebers. Die größte Buchrolle zur Heilkunde Altägyptens, Leipzig 2002. 178 „Durch seine culturgeschichtlichen Romane, die ein weitverbreitetes Bildungsbedürfnis seiner Generation in hervorragender Weise befriedigten, ist seinem Namen ja in der Geschichte der deutschen Nationallitteratur unseres Jahrhunderts ein fester Platz gesichert.“ Rede des abtretenden Rektors Curt Wachsmuth, 31. Oktober 1898, in: Rektoratsreden, S. 693. 179 Adolf Erman, Nekrolog auf Georg Ebers, vorgelesen von Herrn Sievers, in: Berichte über die Verhandlungen der Königl.-Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, Philologisch-Historische Klasse, 51 (1899), S. 221–223, hier S. 221 (http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/volltexte/2008/110051, aufgerufen am 27. August 2013). 180 Kultusminister 1871–1891. Siehe Jördis Bürger, Carl Friedrich Wilhelm von Gerber als sächsischer Kultusminister. Eine rechts- und verfassungsgeschichtliche Untersuchung zu seinem rechtlichen und politischen Wirken im Spannungsfeld von Staat und Kirche im ausgehenden 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. u. a. 2007. 181 Kultusminister 1892–1906. 182 Kultusminister 1908–1918. 183 1892 Vortragender Rat im Kultusministerium, 1895 Ministerialdirektor. Waentig sprach nicht nur respektvoll von Althoff, sondern verteidigte auch dessen Haltung gegenüber den außerpreußischen Universitäten, siehe Sachse, Althoff, S. 196. 184 Siehe beispielsweise Friedrich Althoff und seine Vertrauensleute an allen Universitäten, die ihn in Berufungsfragen über Personen und Umstände in den Fakultäten informierten: Sachse, Althoff, S. 179 f. Ostwald berichtet, dass Wislicenus Gerbers Vertrauensmann war (Lebenslinien, Bd. 1, S. 265).

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ordentlicher Professor in Erlangen, Tübingen, wieder in Jena und schließlich 1863–1871 in Leipzig) und als angesehener Vertreter des Privatrechts fast zehn Jahre der Juristenfakultät der Leipziger Universität angehörte, war Seydewitz, aus altem Adelsgeschlecht stammend, seit 1871 im Kultusministerium aufgestiegen; Beck dagegen kam als Oberbürgermeister von Chemnitz mit Erfahrungen aus der Kommunalverwaltung ins Amt. Als Gerber 1871 nach zehn Jahren Universitätstätigkeit auf den legendären Staatsminister Falkenstein folgte, legte er den früheren Kollegen die vielzitierten Grundsätze nahe, nach denen er künftig die Anstalt leiten wolle (und die sich von denen Falkensteins nicht wesentlich unterschieden): „Schaffet jederzeit den ausgezeichnetsten Mann, befreit seine Wirksamkeit von allen Hemmnissen, und regiert im Uebrigen so wenig als möglich.“185 Dieses Ideal stieß des Öfteren an Grenzen, besonders jene des Personaletats, der infolge der zahlreichen Berufungen gerade unter Gerber schon 1889 „bereits erheblich überschritten“ war,186 bisweilen auch an die der Professoreneitelkeit, doch allgemein galten diese „goldenen Worte“ als Handlungsanleitung in der Universität und im Ministerium. Sächsische Hochschulreferenten mit sicherem Blick für wissenschaftliche Exzellenz und mit konzeptioneller Gestaltungskraft,187 wie sie aus Preußen bekannt sind, konnten allerdings aus reichspolitischen und wissenschaftshistorischen Ursachen nicht gleichrangig mit denen in Berlin auftreten. Dazu waren die enorme Vormachtstellung Preußens im Reich, die Zahl der preußischen Universitäten, der Einfluss der Kultusbehörden und Referenten auch über die Grenzen Preußens hinaus viel zu groß. Das Wirken der sächsischen Hochschulpolitik wird im Allgemeinen dennoch als segensreich für die Universität Leipzig eingeschätzt. Eine systematische Untersuchung der sächsischen Hochschulpolitik, der internen Ministerialdebatten und der „berufungspolitischen Qualitätsmaßstäbe“188 steht indessen noch aus.189 „Keine geringe Aufgabe war dem Nachfolger des Freiherrn von Falkenstein gestellt, dessen weitblickender Initiative vor allem das Verdienst gebührt, Leipzig von einer sächsischen zu einer deutschen Universität erhoben zu haben. Aber vertraut durch eigene Erfahrung mit den Bedürfnissen der Hochschule hat Minister von Gerber es verstanden sie zu noch höherer Blüthe zu entwickeln, als sein Vorgänger auch nur zu hoffen vermochte. Eine beträchtliche Anzahl stattlicher Univer­ sitätsinstitute ist unter seiner Amtsführung errichtet, eine lange Reihe hervorragender Lehrer ist von ihm berufen, und die Zahl der Studirenden, die in dem letzten Semester seines akademischen Wirkens bis 1800 gestiegen war, hat sich unter seiner Verwaltung nahezu verdoppelt.“190

In diesem Nachruf auf Gerber finden sich die oben genannten Kriterien der Bewertung der Universität wieder: Arbeitsmöglichkeiten (Ausstattung), Qualität der Professoren als Forscher und Lehrer, Arbeitsamkeit und Frequenz der Studenten. 185 Rede des abgehenden Rektors Dr. Friedrich Zarncke, 31. Oktober 1871, in: Rektoratsreden, Bd. 1, S. 37– 48, hier S. 43. 186 SHStAD, Ministerium des Kultus und Öffentlichen Unterrichts, Universität Leipzig, Personalakten, 10281/147: Acta, den Professor Dr. phil. Hans Georg Conon von der Gabelentz zu Leipzig betr., 1878– 1889, Bl. 17, Ministerialdirektor Ernst Petzoldt 22. Mai 1889. 187 Rüdiger vom Bruch, Die Gründung der Berliner Universität, in: Humboldt international, S. 63. 188 Ebd., S. 65. 189 Für die Zeit der Weimarer Republik siehe Beatrix Dietel, Die Universität Leipzig in der Weimarer Republik. Eine Untersuchung zur sächsischen Hochschulpolitik, Leipzig 2015. 190 Rede des abtretenden Rektors Justus Hermann Lipsius, 31. Oktober 1892, in: Rektoratsreden, Bd. 1, S. 542–551, hier S. 543.

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Gerbers Bestreben, „an den einzelnen Stellen tunlichst die hervorragendsten geistigen Kräfte von Deutschland zusammenzubringen“,191 unterscheidet ihn wenig von den Absichten seines Vorgängers wie seines Nachfolgers. In seiner Amtszeit liegt indes eine große Bauperiode für neue Universitätsgebäude. Die grandiose Universitätsbibliothek wurde im Oktober 1891 noch von ihm eingeweiht. Hinzu kamen weitere Monumentalbauten für die Universität wie die Frauenklinik oder das neue Auditorienhaus.192 Die von Rektor Lipsius hervorgehobene Verdoppelung der Frequenz der Studenten unter Gerbers Amtszeit war gleichwohl von leichter mathematischer Unschärfe.193 Sie stieg im Jahr 1871, Gerbers Amtsantritt, von 1803 auf 3431 (1891/92),194 die Tendenz stimmte und der Trend setzte sich fort; von 1872 bis 1878/79 war die Leipziger Universität von allen deutschen Universitäten am stärksten frequentiert. Über den folgenden Minister Seydewitz meinte Karl Lamprecht, man habe zwar unter den Kultusministern schon „größere Organisatoren, härtere Verwaltungsmänner, geistreichere Leute gehabt“, aber „an Liebe zu unserer Universität und allen ihren Institutionen, an innigem Sichversenken in jedes Bedürfnis unserer weitverzweigten Lehrtätigkeit“ sei dieser von keinem anderen Kultusminister übertroffen worden, war er doch „recht eigentlich zum Kultusminister und zum getreuen Verwalter auch höchster wissenschaftlicher Interessen geboren“.195 Er war eine „feine und fromme Seele“.196 In gutmütiger Überlegenheit hatte auch Wilhelm Wundt zuvor positiv geurteilt, als Seydewitz nach einem Schlaganfall arbeitsunfähig geworden war: „kein hervorragender Geist, aber doch eine wohlmeinende Persönlichkeit“ – „Besseres wird dann schwerlich nachfolgen“.197 An Verständnis für die besondere Stellung der Universität im gesellschaftlichen und staatlichen Leben fehlte es dem altgedienten Staatsbeamten ebenso wenig wie an Einsatz für höchste wissenschaftliche Interessen. Doch wird man auch in Rechnung stellen müssen, welche beruflichen Vorteile und Unterstützung die jeweils Urteilenden seitens des Kultusministeriums erhielten. Die nachstehende Übersicht zeigt, dass gerade während der Amtszeit des Ministers Seydewitz in den 1890er Jahren der stärkste Anstieg der Berufungen, mehrheitlich bereits erfahrener Ordinarien, erfolgte – es war die Zeit der besonders raschen Vervielfachung der 191 Hans Beschorner, Karl von Gerber, in: Sächsische Lebensbilder, Bd. 1, Dresden 1930, S. 87–108, hier S. 102. Siehe auch Jördis Bürger, Carl Friedrich Wilhelm von Gerber als sächsischer Kultusminister. Eine rechts- und verfassungsgeschichtliche Untersuchung zu seinem rechtlichen und politischen Wirken im Spannungsfeld von Staat und Kirche im ausgehenden 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2007. 192 Michaela Marek, Rentabilität – Funktionalität – Repräsentation. Innerstädtische Bauaktivitäten der Universität Leipzig im 19. Jahrhundert, in: Geschichte der Universität Leipzig, Bd. 5, S. 170 ff. 193 Auch Rektor Zarncke übertrieb in seinem Jahresbericht im Oktober 1871 den Frequenzanstieg unter dem Ministerium Falkenstein, als er von einer annähernden Verdreifachung sprach: die Zahl der Studierenden wuchs von 794 (1853) auf 1803 (1871), vgl. Franz Eulenburg, Die Frequenz der deutschen Universitäten von ihrer Gründung bis zur Gegenwart [1904], S. 305. 194 Ebd., S. 304–307. 195 Rede des abtretenden Rektors Karl Lamprecht, 31. Oktober 1911, in: Rektoratsreden, Bd. 2, S. 1004– 1015, hier S. 1005. 196 Ebd. 197 Wilhelm Wundt an Wilhelm Ostwald [in Harvard], Leipzig 27. Dezember 1905, http://home.uni-leipzig. de/wundtbriefe/viewer.htm (aufgerufen am 27. August 2013).

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Fächer und Spezialisierung der Wissensgebiete und die der intensiven Bautätigkeit für die Bedürfnisse der neuen Seminare und Institute. Die Abgänge betrafen mehrheitlich junge Wissenschaftler, Privatdozenten und Extraordinarien. Tabelle 2 Jahrzehnt

Berufungen

Abgänge

Kultusminister

1870/71–1879/80

27

42

Gerber

1880/81–1889/90

25

54

Gerber

1890/91–1899/00

42

51

Seydewitz

1900/01–1909/10

25

62

Seydewitz, Schlieben, Beck

Dem neuen Minister Heinrich Beck wurde zur Amtseinführung ebenso ehrerbietig wie deutlich ans Herz gelegt, bei aller Rücksicht auf die allgemeine Finanzlage die Staatsanstalt Universität auch den Erfordernissen entsprechend zu finanzieren, da sie im Unterschied zur Schwesteruniversität Jena, der die Technik „an materiellem Gewinn das zurück [gibt], was sie der Wissenschaft verdankt“, „allein auf staatliche Fürsorge angewiesen [ist]!“198 Insgesamt zeigt sich, dass die Universität Leipzig gerade wegen des weitgehenden Fehlens einer direkt auf die Industrie bezogenen Forschung – im Gegensatz zur Industrie, die zunehmend über einen „größeren Vorrat von wissenschaftlich geschulter Intelligenz“ verfügte199 – überdurchschnittlich von den Zuwendungen des Ministeriums abhängig war und allen Bemühungen, zusätzliche Einkommensquellen zu erschließen, nur geringer Erfolg beschieden war.200 Dies sollte sich als lange wirksames Strukturmerkmal erweisen.

198 Rede des abtretenden Rektors Carl Chun, 31. Oktober 1908, in: Rektoratsreden, Bd. 2, S. 931–940, hier S. 932. Chun greift auch das Schlagwort der drohenden Überflügelung auf, um für Erweiterung der Räumlichkeiten und des Grundbesitzes zu werben. 199 So begründete Wilhelm Ostwald die Überlegenheit der deutschen chemischen Industrie Ende des 19. Jahrhunderts, siehe: Greiner, Anneliese (Hg.), Chemiker über Chemiker. Wahlvorschläge zur Aufnahme von Chemikern in die Berliner Akademie 1822–1925 von Eilhard Mitscherlich bis Max Bodenstein, Berlin 1986, S. 35. 200 Über die Versuche, mit eigenen Stiftungsmitteln und privat kofinanzierten Forschungsinstituten auf diese missliche Lage zu reagieren, gehen u. a. ein: Gerald Wiemers, Karl Lamprecht und die staatlichen Forschungsinstitute, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 64 (1993), S. 141–150; Matthias Middell, Weltgeschichtsschreibung im Zeitalter der Verfachlichung und Professionalisierung. Das Leipziger Institut für Kultur- und Universalgeschichte 1890–1990, Leipzig 2005, S. 335–408.

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3.2 Gewinne und Verluste: Berlin Eine Auswertung der Berufungen und der Wegberufungen nach bzw. aus Leipzig auf der Grundlage der jährlichen Rektoratsberichte gibt ein deutliches Bild der Platzierung Leipzigs im System der deutschen Universitäten. Die Konkurrenz zur Universität der Reichshauptstadt, um die jeder wusste, die aber in den öffentlichen Stellungnahmen kaum je direkt angesprochen wurde,201 kommt in den Referaten über Personalfragen intern ebenso klar wie ungeschönt zum Ausdruck. Als größter deutscher Bundesstaat mit 65 Prozent des Reichsgebietes und 62 Prozent der Bevölkerung, mit zehn202 der 21 Universitäten und fünf203 von elf Technischen Hochschulen hatte Preußen im Deutschen Reich eine bis in die Wissenschaften hineinreichende Führungsrolle.204 Die Berliner Universität verstand sich, schon dank ihrer besonderen Gründungsgeschichte, als Vorposten und Glanzpunkt der deutschen Wissenschaft. Besonders der im damaligen Hochschulwesen allseits bekannte und mittlerweile gründlich erforschte Friedrich Althoff (1839–1908), seit 1882 Referent, 1897 Ministerialdirektor für Hochschulfragen im preußischen Kultusministerium, beeinflusste mit seiner Wirkmacht in der preußischen Hochschulpolitik auch diejenige in Sachsen und folglich, auf direktem oder indirektem Wege, die Personalfragen in Leipzig. „Ruf nach Berlin ist Schicksalsruf, Nichtannahme ist da ein selbstgestelltes Armutszeugnis“, „Wenn Althoff ruft, so komm und rede“ – ein Ruf nach Berlin war kein gewöhnlicher, eine Ablehnung wollte wohl überlegt und begründet sein.205 Leipzig verlor auf diesem Wege mehrere bedeutende Gelehrte, wie im Folgenden zu sehen sein wird. Die Wissenschaftsentwicklung der Universität hätte ohne diesen Aderlass durchaus anders verlaufen können. Aus der Sicht Wilhelm Wundts lässt sich dem allerdings auch ein positiver Aspekt abgewinnen, der in der Beurteilung der Leipziger Universität bisher nicht aufgegriffen wurde: die Mittlerrolle zwischen den süd- und den norddeutschen Universitäten: „Fast schien es, als zögen die Süddeutschen, ehe sie die norddeutsche Universität aufsuchten, zunächst Leipzig als mitteldeutsche Zwischenstation vor, als wenn sie noch einiger Zeit bedürften, um für einen solchen dauernden Aufenthalt das alte Widerstreben gegen das Preußentum zu überwinden. Ein Berliner Professor meinte in dieser Zeit, Berlin sei gerade noch von der richtigen Größe, Leipzig aber beginne zum Wasserkopf einer Universität zu werden. Die Äußerung war 201 Matthias Middell, Konfrontation auf Augenhöhe? Die Universitäten Leipzig und Berlin im Wilhelminischen Deutschland, in: Rüdiger vom Bruch (Hg.), Die Berliner Universität im Kontext der deutschen Universitätslandschaft nach 1800, um 1860 und um 1910, München 2010, S. 189–212. 202 Berlin, Bonn, Breslau, Greifswald, Göttingen, Halle, Kiel, Königsberg, Marburg, Münster. Frankfurt am Main (1910) war eine städtische Universität. 203 Aachen, Charlottenburg (Berlin), Breslau, Danzig, Hannover. 204 Bernhard vom Brocke, Kultusministerien und Wissenschaftsverwaltungen in Deutschland und Österreich: Systembrüche und Kontinuitäten 1918/19–1933/38–1945/46, in: Rüdiger vom Bruch / Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 193–214, hier S. 195, 196. 205 Marita Baumgarten, Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert. Zur Sozialgeschichte deutscher Geistes- und Naturwissenschaftler, Göttingen 1997, S. 170. Die Zitate (ebd.) stammen von dem Straßburger Anglisten Alois Brandl (Ordinarius in Berlin 1895–1923), der sich lange gegen den Weggang nach Berlin sträubte.

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Die Universität Leipzig um 1900 etwas voreilig, denn bald überflügelte Berlin, ebenso wie durch den Strom der Norddeutschen nach München dieses, das hinter beiden allmählich zurückbleibende Leipzig. So ist dieser in Mitteldeutschland beginnende Austausch der süd­ und norddeutschen Universitäten ein wichtiges, in seiner Bedeutung für den Verkehr der verschiedenen deutschen Bevölkerungen vielleicht nicht hinreichend gewürdigtes Moment für die Ausgleichung der provinziellen Gegensätze gewesen.“206

Dennoch: Als etwa 1883 der von einem Lehrstuhl aus Bonn berufene, vielfach geehrte Forschungsreisende (er prägte in seinen Studien über China den Terminus „Seidenstraße“), Geograph und Geomorphologe Ferdinand Freiherr von Richthofen (1833–1905) nach nur drei Jahren seinen Leipziger Lehrstuhl räumte, um seine weitere, nahezu zwanzig Jahre dauernde Karriere an der Berliner Universität auf der neu gegründeten Professur für physikalische Geographie fortzusetzen (1886–1905),207 war das angesichts des Konkurrenzverhältnisses zur preußischen Hauptuniversität ein herber Verlust. Schon als er von der Philosophischen Fakultät 1882 für die Professur für Geographie vorgeschlagen wurde, galt er als „eine ganz hervorragende Kraft allerersten Ranges“, „dessen Name in der neuen wie in der alten Welt gefeiert ist“.208 Er wäre „der Einzige, welcher den Bedürfnissen und der Bedeutung der Universität Leipzig nach allen Seiten hin würdig und voll entsprechen würde“.209 Dekan Otto Ribbeck riet für den Fall, dass Preußen den Kandidaten in Bonn würde halten wollen, gleich ein festes Gehalt von 9000 Mark im Jahr anzubieten.210 Dass dies eine durchaus nicht gewöhnliche Besoldung für den Anfang war, zeigen einige Vergleichszahlen: der Mathematikprofessor Wilhelm Scheibner (1826–1908) bekam bis zuletzt 6150 Mark; für den bedeutenderen Mathematiker Carl Neumann (1832– 1925) wurde anlässlich des Universitätsjubiläums 1909 das Gehalt von 8400 auf 9000 Mark angehoben.211 Unter den Philologen erhielt der international anerkannte Orientalist Heinrich Leberecht Fleischer (1801–1888) 6600 Mark, Moritz Wilhelm Drobisch (1802–1896) 5700 Mark.212 Andererseits betrug das letzte Grundgehalt des Nationalpreisträgers Wilhelm Ostwald 11.200 Mark213, Karl Bücher erhielt 11.000 Mark214; die Nichtannahme eines Berliner Rufes wurde

206 Wilhelm Wundt, Erlebtes und Erkanntes, Stuttgart 1920, S. 107 (Hervorhebung K. M.). 207 Helga Schmitt, Geographie, in: Geschichte der Universität Leipzig, 4/2, S. 1312 f.; Gerhard Engelmann, Die Hochschulgeographie in Preußen 1810–1914, Stuttgart 1983; Iris Schröder, Das Wissen von der ganzen Welt. Globale Geographien und räumliche Ordnungen Afrikas und Europas 1790–1870, Paderborn 2011. 208 SHStAD, 10281/250, Bl. 2–5, 16. Dezember 1882, Philosophische Fakultät an Ministerium, Bl. 2 v. 209 SHStAD, 10281/250, Bl. 5. 210 SHStAD, 10281/250, 12. Dezember 82, Bl. 67, Dekan Otto Ribbeck an Gerber. 211 SHStAD, 10210/18, Bd. 10, Bl. 11, Bl. 14. 212 SHStAD, 10210/17, Bd. 9, Bl. 264, Bl. 332. 213 Dabei war Ostwald gar nicht zwingend darauf angewiesen: „Besonders dringend war die Erwerbsfrage allerdings nicht. Ich hatte seit der Übersiedlung nach Leipzig durch meine Bücher gute und schnell anwachsende Einnahmen gehabt, die ich nicht auszugeben brauchte, weil die Kolleg- und Laboratoriumsgebühren ausreichten, die Bedürfnisse des Tages zu befriedigen.“ Ostwald, Lebenslinien, Teil III, S. 119. 214 Beate Wagner-Hasel, Die Arbeit des Gelehrten: Der Nationalökonom Karl Bücher (1847–1930), Frankfurt a. M. 2011, S. 151.

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dem Juristen Adolf Wach215 mit einer Anhebung seines Grundgehalts (8040 Mark) auf stattliche 12.900 Mark versüßt. Ähnlich herausgehobene Gehaltsbezüge verbuchten u. a. Wilhelm Wundt (10.150), der Jurist Otto Mayer (10.000), der Philologe Eduard Sievers (11.000), der Geograph Joseph Partsch (12.000) oder der Jurist Ludwig Mitteis (12.000).216 Als Ferdinand von Richthofen 1885 einen Ruf nach Wien ablehnte, versicherte ihm Kultusminister Gerber die „freudigste Genugtuung“ darüber, dass es „den Lockungen Wiens nicht gelungen ist, unserer Universität Leipzig einen Gelehrten zu entziehen, den sie zu ihren hervorragendsten Zierden rechnet und den zu besitzen sie sich besonders glücklich schätzt“,217 und sorgte dafür, dass der Wissenschaftler den Comturkranz II. Klasse des Albrechtsordens verliehen bekam.218 Im April 1886 versagte jedoch die Macht des sächsischen Ministers gegenüber der Überzeugungskraft Friedrich Althoffs und vor allem „der Anziehung des nach mehreren Richtungen ansteigenden Wirkungskreises in der Reichshauptstadt“.219 Althoff war eigens nach Leipzig gekommen, um Richthofens Berufung festzulegen, und stellte hernach die Philosophische Fakultät der Berliner Universität vor vollendete Tatsachen.220 Dem Leipziger Rektor Ferdinand Zirkel blieb, mutmaßend über den Beweggrund Richthofens, nur zu hoffen: „Wir dürfen uns angesichts dieses schwerwiegenden Verlustes einigermaassen damit trösten, dass es vielleicht weniger die Schwesteranstalt ist, welche diesen ausgezeichneten Mann nach Berlin zog, als vielmehr die Zuversicht, in den weiten und einflussreichen Kreisen der Reichshauptstadt besser noch als von hier aus für die Förderung der Erdkunde wirken zu können.“221

Richthofen sorgte indes noch selbst dafür, dass sein Nachfolger aus dem Kreis der Wenigen komme, die mit den „der heutigen wissenschaftlichen Geographie zu Grunde liegenden“, wesentlich physikalisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen vertraut seien.222 Er verfasste den Kommissionsbericht der Fakultät, in dem überhaupt nur zwei Kandidaten genannt wurden, die sich einen „hervorragenden Ruf durch glänzende literarische Production, insbesondere durch Aufstellung neuer fruchtbarer Ideen und weittragender Gesichtspunkte erworben“ hätten. Friedrich Ratzel223 (1844–1904), dessen „außerordentliche Arbeitskraft“ und zugleich seine Fähigkeit, die fast unübersehbare Fülle von Stoff bei systematischer und wissenschaftlicher Anordnung dennoch in allgemein verständlicher Form zusammenzufas215 SHStAD, 10281/231, Bl. 264; SHStAD, 10281/299, Bl. 3–9; Dagmar Unger, Adolf Wach (1843–1926) und das liberale Zivilprozessrecht, Berlin 2005, S. 66. Alle Angaben sind Grundgehälter, es kamen verschiedene Zulagen hinzu (Wohnungs- und Ortszuschläge, erhebliche Kolleg- und Prüfungsgebühren, Fakultätsgelder, Holzdeputat etc.). 216 SHStAD, 10281/299, Ministerium des Kultus und Öffentlichen Unterrichts, Universität Leipzig, Personalakten, Bl. 186–187. 217 SHStA, 10281/250, Bl. 38v., 28. März 1885, Brief (Konzept) an Richthofen. 218 SHStA, 10281/250, Bl. 39, beglaubigte Abschrift für Gerber, Gesamtministerium (mit König) Sitzung 30. März 1885. 219 SHStA, 10281/250, Bl. 46, 5. April 1886, Richthofen an Gerber. 220 Gerhard Engelmann, Ferdinand von Richthofen (1833–1905). Albrecht Penck (1858–1945), Stuttgart 1988, S. 12 f. 221 Rektoratsreden, Bd. 1, S. 413 (Bericht Ferdinand Zirkel 1885/86). 222 UAL, PA 830, Friedrich Ratzel, Juni 1886, Gutachten der Kommission (Verfasser v. Richthofen), Bl. 2. 223 Helga Schmitt, Geographie, in: Geschichte der Universität Leipzig, 4/2, S. 1313–1315; Günther Buttmann, Friedrich Ratzel. Leben und Werk eines deutschen Geographen 1844–1904, Stuttgart 1977.

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sen,224 besonders hervorgehoben wurden, stand an erster Stelle. Am 8. Juli 1886 teilte das Ministerium erfreut Ratzels Zusage mit.225 Heute ist der Geograph Ratzel, zumindest in Leipzig, bekannter als Richthofen. Zu den Verlusten in Richtung Berlin zählt ebenso der berühmt gewordene Sinologe Hans Georg Conon von der Gabelentz (1840–1893). Der Assessor beim Bezirksgericht Dresden hatte 1878 selbst beim Ministerium die Errichtung einer Professur der chinesischen, japanischen und mandschurischen Sprache an der Universität Leipzig „in Anregung gebracht“ und sich zur Übernahme zur Verfügung gestellt.226 Auf Anfrage meinte die Fakultät, eine Professur für die genannten Sprachen sei entschieden zu bejahen,227 und von der Gabelentz wurde 1878 in Leipzig zum Extraordinarius für ostasiatische Sprachen ernannt: Es war die erste sinologische Professur in Deutschland. 1882 rückte er auf zum ordentlichen Honorarprofessor, weil er „durch seine von den Fachgenossen des In- und Auslandes in hohem Maße anerkannten wissenschaftlichen Leistungen eine Zierde unserer Universität ist“ und sich zudem „insbesondere auch seine Lehrwirksamkeit zu einer höchst erfreulichen und mit Rücksicht auf die beschränkten Bedingungen des Faches verhältnismäßig ausgedehnten gestaltet hat“.228 Im Mai 1889 erhielt von der Gabelentz während einer Zusammenkunft mit Friedrich Althoff ein lukratives Angebot: die Ernennung zum Mitglied der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften und zum Professor der ostasiatischen Sprachen an der Universität Berlin unter Zusicherung eines festen Gesamteinkommens von 10.000 Mark jährlich. Der Aktenlage nach wäre der Sinologe für Leipzig zu halten gewesen. Er stellte es der Entscheidung des Kultusministers anheim, ihm ein Äquivalent anzubieten, da seine Vermögensverhältnisse nicht der Art seien, eine so wesentliche Erhöhung seiner Einkünfte ohne weiteres von der Hand zu weisen. Im Unterschied zu Ferdinand von Richthofen argumentierte er nicht mit dem großen Wirkungskreis in der Reichshauptstadt, sondern pekuniär. Allerdings war, so das Ministerium, infolge der zahlreichen Berufungen der letzten Zeit der Personaletat der Universität Leipzig bereits überschritten, so dass von der Gabelentz 1889 Sachsen verließ.229 Seine „Chinesische Grammatik“ (1881) wurde bis weit ins 20. Jahrhundert neu aufgelegt. Die wissenschaftlichen Leistungen und internationale Ausstrahlung haben gewiss in Leipzig ihr akademisches Fundament, doch den Ruhm erntete von der Gabelentz in und für Berlin. Wegberufungen nach Berlin gab es freilich noch weit mehr. Insgesamt erreichten dreizehn Leipziger Wissenschaftler diesen ‚Gipfel der akademischen Karriere‘ auf direktem Wege. Allerdings waren nur zwei Wegberufungen aus dem Ordinarienrang zu verzeichnen: Der bereits genannte Richthofen und Ernst Beckmann (1853–1823), Ordinarius für Angewandte Chemie, waren die einzigen, die bereits in Leipzig eine ordentliche Professur inne224 UAL, PA 830, Bl. 3 v. 225 UAL, PA 830, Bl. 8, Dresden 8. Juli 1886 (1. Oktober 1886 Amtsantritt). 1880 war er von Roscher vorgeschlagen worden, hatte aber noch abgelehnt (siehe UAL, PA 852, Ferdinand von Richthofen, Bl. 20, Dresden, 17. Februar 1880). Der Zweitgenannte war Albrecht Penck. 226 UAL, PA 0487, Gerber an Philosophische Fakultät, 27. November 1876, Bl. 1. 227 UAL, PA 0487, Bl. 3, Gutachten der Fakultät. 14. Februar 1877. 228 SHStAD, 10281/147, Bl. 12–13, Antrag der Fakultät, 24. Juni 1882. 229 SHStAD, 10281/147, Bl. 15–17. S. a. Klaus Kaden, Die Berufung Georg von der Gabelentz’ an die Berliner Universität, in: Ralf Moritz u. a. (Hg.), Sinologische Traditionen im Spiegel neuer Forschung, Leipzig 1993, S. 57–90; Eberhard Richter / Manfred Reichard (Hg.), Hans Georg Conon von der Gabelentz, Erbe und Verpflichtung, Berlin 1979.

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hatten. Zweimal hatte Beckmann Rufe abgelehnt: so 1902 – auf Anfrage Althoffs – den zum Direktor des neu errichteten pharmazeutischen Instituts der Universität Berlin und 1905 nach München.230 Schließlich wechselte er 1912 auf den Direktorenposten des ersten KaiserWilhelm-Instituts (für Chemie) in Berlin. Alle anderen stiegen von einer außerordentlichen Professur oder Privatdozentur auf – ein Qualitätsausweis für Forschung und Ausbildung an der Leipziger Universität. Nicht alle sind jedoch durch ihre Stellung in Berlin in die Wissenschaftsgeschichte dauerhaft eingegangen. Max Webers kleine Spitze gegen die Hauptstadtuniversität dürfte auch mit dem über die Jahre wechselnden wissenschaftlichen Klima in Berlin zusammenhängen: „Was nun die Universität Berlin selbst anlangt, so gilt natürlich die Erlangung einer Professur dort auch heute regelmäßig als ein pekuniär gutes Geschäft. Die Zeit aber, wo sie als eine hohe wissen­ schaftliche Ehre galt, liegt hinter uns. Allein die Zahl der ‚bequemen‘ und wegen ihrer Bequem­ lichkeit gesuchten Mediokritäten wächst dort, scheint es, eher noch schneller als anderwärts.“231

Auf die im Folgenden Genannten trifft dieses Verdikt allerdings nicht zu. Der Kunsthistoriker Max Jordan (1837–1906) war seit 1870 Direktor des Leipziger Städtischen Museums (heute Museum der Bildenden Künste) und hielt zugleich Lehrveranstaltungen an der Universität Leipzig. 1874 wurde er zum Direktor der Königlichen Nationalgalerie Berlin berufen. Er hatte sich dadurch ausgezeichnet, dass er sich auch der neueren deutschen Kunst widmete (er schrieb u. a. die erste Biographie des 1905 verstorbenen Adolph Menzel). Der Universitätsmusikdirektor und Musikwissenschaftler Hermann Kretzschmar (1848–1924), der sich als Vermittler der europäischen Musiktradition verstand und neben seiner Praxis umfangreich publizierte,232 erhielt, nachdem er 1895 Extraordinarius in Leipzig geworden war, 1904 eine ordentliche Professur an der Universität Berlin. Aus der naturwissenschaftlichen Abteilung der Philosophischen Fakultät seien die Physiologen Karl Hugo Kronecker (1839–1914), Bruder des Mathematikers Leopold Kronecker, und Albert Bernhard Frank (1839–1900) genannt, die ihren Status in Berlin aufbesserten; letzterer wechselte 1881 auf eine Professur für Pflanzenphysiologie an die gerade in diesem Jahr neu gebildete Landwirtschaftliche Hochschule Berlin.233 Der Internist und berühmte Kinderarzt Otto Heubner (1843–1926), Gründer der Leipziger Kinderklinik,234 Leipziger Extraordinarius seit 1873, ging 1894 auf Althoffs Betreiben an die Berliner Charité, weil ihm an der Leipziger Universität kein Lehrstuhl für Kinderheilkunde eingerichtet wurde; die Etablierung der Kinderheilkunde als medizinisches Spezialfach war noch umstritten.235 In Berlin 230 Georg Lockemann, Ernst Beckmann (1853–1923). Sein Leben und Wirken, Berlin 1927, S. 41–42. 231 Max Weber-Gesamtausgabe, Abt. I, Bd. 13: Hochschulwesen und Wissenschaftspolitik. Schriften und Reden 1895–1920, hg. von M. Rainer Lepsius und Wolfgang Schluchter, Tübingen 2016, S. 78 ff. (Hervorhebung K. M.). Dieses Urteil steht im Zusammenhang mit dem „Fall Bernhard“ 1908 und ist wegen seiner polemischen Absicht (Harnack, Delbrück) durchaus mit Zurückhaltung zu nehmen. 232 Helmut Loos / Rainer Cadenbach (Hg.), Hermann Kretzschmar, Chemnitz 1998; Martin Pfeffer, Hermann Kretzschmar und die Musikpädagogik zwischen 1890 und 1915, Mainz u. a. 1992. 233 Die Königliche Landwirtschaftliche Hochschule zu Berlin. Festschrift zur Feier des 25jährigen Bestehens, hg. von Ludwig Wittmack, Berlin 1906. 234 Neubau 1891. Sie war damals die modernste Kinderklinik in Deutschland. Bis 1901 gab es überhaupt nur an acht Universitäten in Deutschland eine Kinderklinik. 235 Renate Wittern-Sterzel, Zur Geschichte der Kinderheilkunde, in: Wolfgang Rascher / Renate Wittern-

318

Die Universität Leipzig um 1900

bekam er ihn mittels eines obrigkeitlichen Aktes durch Friedrich Althoff – den ersten Lehrstuhl für Pädiatrie in Deutschland. Althoff hatte die Berufung Heubners, wie es öfter vorkam, gegen den energischen Widerstand der Berliner medizinischen Fakultät durchgesetzt und Heubner ein „persönliches Ordinariat“ verschafft.236 Der Historiker Wilhelm Sieglin, der 1898 (ohne Habilitation) eine außerordentliche Professur für Historische Geographie erhalten hatte, wechselte 1899 an das eigens gegründete Seminar für Historische Geographie an die Berliner Universität. In den 1880er und 1890er Jahren wurden also, wie zu sehen war, für mehrere hochqualifizierte Leipziger Wissenschaftler neue Stellen geschaffen, um sie zum Wechsel nach Berlin zu bewegen. Die Berliner Universität war auch in finanzieller Hinsicht zumeist eine Verbesserung: an der Philosophischen Fakultät reichten die Gehälter für Ordinarien (1909–1912) bis zu 15.000 Mark.237 Im Gegenzug konnte Leipzig sieben junge Wissenschaftler aus Berlin gewinnen, vier Geisteswissenschaftler, drei Naturwissenschaftler (Astronomie, Mineralogie, Chemie). Nennen muss man zumindest drei: Der Ägyptologe Georg Steindorff (1861–1951), um dessen Sammelstücke das 2010 neu eröffnete Ägyptische Museum lange bangen musste, erhielt 1893 als Nachfolger von Georg Ebers eine außerordentliche Professur, 1904 den Lehrstuhl für Ägyptologie, den er bis 1932 besetzte. 1935 wurde ihm als Juden die Lehrbefugnis entzogen, 1939 emigrierte er in die USA.238 Der Arabist August Fischer (1865–1949) wurde 1900 als Nachfolger Albert Socins (1844–1899) berufen und hatte bis 1930 den Lehrstuhl für Orientalische Philologie inne – ein seit Heinrich Leberecht Fleischer überaus traditionsreiches und schulebildendes Fach in Leipzig.239 Er setzte sich für die Institutionalisierung der Orientalistik an der Universität ein. Ihm gelang (mit dem ebenfalls 1900 aus Breslau berufenen Assyriologen Heinrich Zimmern) die Gründung des „Semitistischen Instituts“.240 Und Eduard Spranger (1882–1963). Spranger kam als Berliner Privatdozent 1911 auf eine etatmäßige außerordentliche Professur nach Leipzig und wurde zugleich Direktor des philosophisch-pädagogischen Seminars. Im Jahr 1912 wurde er Ordinarius für Philosophie und Pädagogik, lehnte nacheinander Rufe nach Hamburg und Wien ab und verließ Leipzig 1919 dann schließlich trotzdem – nach Berlin, wo er seine glanzvollste Zeit erlebte.241

236 237

238 239 240 241

Sterzel (Hg.), Geschichte der Universitäts-Kinderklinik Erlangen, Göttingen 2005, S. 15–42, hier S. 33; Ortrun Riha, Medizin (Kinderheilkunde), in: Geschichte der Universität Leipzig, Bd. 4/2, S. 1032 f. Wolfgang U. Eckart, Friedrich Althoff und die Medizin, in: Bernhard vom Brocke (Hg.), Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik im Industriezeitalter. Das „System Althoff“ in historischer Perspektive, Hildesheim 1991, S. 375–404. Die Theologen in Berlin erhielten bis zu 9800 Mark, die Juristen bis zu 9600 Mark, die Mediziner bis zu 9400 Mark. Es folgten Göttingen mit 4200 bis 9000 Mark, Breslau mit 4200 bis 7800 Mark, Königsberg mit 4200 bis 7200 Mark, Marburg mit 4200 bis 6600/7800 Mark, Kiel 4200 bis 7200 und Greifswald 2600 bis 6600 Mark. Baumgarten, Berufungswandel und Universitätssystem im 19. Jahrhundert, S. 109. – In besonderen Fällen wurde diese Summe in Leipzig überboten. Siehe neuerdings Susanne Voss / Dietrich Raue (Hg.), Georg Steindorff und die deutsche Ägyptologie im 20. Jahrhundert. Wissenshintergründe und Forschungstransfers, Berlin/Boston 2016. Sabine Mangold, Eine „weltbürgerliche“ Wissenschaft: Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2004, v. a. S. 91–95. Holger Preißler, Arabistik, in: Geschichte der Universität Leipzig, 4/1, S. 428–431. Jonas Flöter, Erziehungswissenschaft, in: Geschichte der Universität Leipzig, 4/2, S. 704 f. – Da die

Die Universität Leipzig um 1900

319

3.3 Gewinne und Verluste: München Nach Berlin war die Universität München die zweitgrößte Universität im Kaiserreich, auch sie eine so genannte Endstationsuniversität, an der renommierte Gelehrte die letzte Phase ihrer Karriere verbrachten und weitere Rufe in der Regel ablehnten. Nach München wurden neun Leipziger Akademiker berufen, davon allein vier an die Königlich Bayerische Technische Hochschule München, wie sie seit 1877 offiziell hieß. Aus München kamen an die Philosophische Fakultät drei bekannte Wissenschaftler: der Historiker Gerhard Seeliger (1860–1921), der Geograph Friedrich Ratzel und der Mathematiker Felix Klein (1849– 1925). Mit Ausnahme des letzteren blieben sie bis zum Ende ihrer akademischen Laufbahn in Leipzig. Ein schwerer Verlust war gewiss auch der Weggang des Nationalökonomen Lujo Brentano (1844–1931). Als Nachfolger Wilhelm Roschers242 und auf dessen Wunsch war er 1889 aus Wien gekommen und bedeutete „einen hocherfreulichen Zuwachs“243 für die Universität. Brentano hatte zuvor jeweils die ordentliche Professur für Nationalökonomie, Finanzwissenschaft und Wirtschaftsgeschichte in Breslau (1874–1882), Straßburg (1882–1888) und Wien (1888–1889) besetzt. In Leipzig blieb er nur drei Jahre, wobei er allerdings den Ruf nach München 1891 „nur aus Gründen rein familiärer Natur“ angenommen habe.244 Der 1882 mit Unterstützung Wilhelm Wundts (gegen Paul Flechsig) in Leipzig habilitierte Emil Kraepelin (1856–1926) wurde erst nach seiner Leipziger Zeit eine Koryphäe der Psychiatrie in München.245 Der Historiker Walter Goetz tauschte seine Leipziger Privatdozentur 1901 in eine solche an der Universität München, bevor er sein erstes Ordinariat 1905 in Tübingen erhielt.246 Über eine weitere Station an der 1872 eröffneten Reichsuniversität Straßburg kehrte er indessen 1915 als Nachfolger Karl Lamprechts an die Leipziger Universität zurück.

242

243 244 245

246

hier vorliegende Auswertung vor dem Ersten Weltkrieg endet, taucht er bei den Abgängen nach Berlin nicht auf. Wilhelm Georg Friedrich Roscher (1817–1894) wurde 1848 von seiner Göttinger Professur (Geschichte und Staatswissenschaften) wegberufen und hatte bis 1889 die Nationalökonomie in Deutschland nachhaltig geprägt. Er war einer der „berühmtesten Lehrer und ersten Zierden“ der Universität Leipzig“ und hatte „allen glänzenden auswärtigen Lockungen beharrlich“ widerstanden. Rede des abtretenden Rektors Johannes Wislicenus, 31. Oktober 1894, in: Rektoratsreden, Bd. 1, S. 589–599, hier S. 595. Rede des abtretenden Rektors Franz Hofmann, 31. Oktober 1889, in: Rektoratsreden, Bd. 1, S. 469–477, hier S. 473. SHStAD, 10281/109, Bl. 38–40, 16. Februar 1891, Brentano an Minister. So dann auch der Wortlaut im Jahresbericht des Rektors Karl Binding, 31. Oktober 1891, in: Rektoratsreden, Bd. 1, S. 521–529, hier S. 527. Eric J. Engstrom, Kulturelle Dimensionen von Psychiatrie und Sozialpsychologie: Emil Kraepelin und Willy Hellpach, in: Kultur und Kulturwissenschaften um 1900 (II): Idealismus und Positivismus, hg. von Gangolf Hübinger, Rüdiger vom Bruch, Friedrich Wilhelm Graf, Stuttgart 1997, S. 164–189; Werner Fischel, Wilhelm Wundt und Emil Kraepelin. Gedanken über einen Briefwechsel, in: KarlMarx-Universität 1409–1959. Beiträge zur Universitätsgeschichte, Bd. 1, Leipzig 1959, S. 382–391. Der Briefwechsel zwischen Wilhelm Wundt und Emil Kräpelin. Zeugnis einer jahrzehntelangen Freundschaft, Bern u. a. 2002. Siehe Wilhelm Wundt über Kraepelin in: Wundt, Erlebtes und Erkanntes, S. 311. Siehe Walter Goetz, Aus dem Leben eines deutschen Historikers, in: Historiker in meiner Zeit. Gesammelte Aufsätze, Köln/Graz 1957, S. 1–77.

320

Die Universität Leipzig um 1900

3.4 Andere Universitäten Die tabellarische Übersicht, den jeweiligen Jahresberichten der abtretenden Rektoren entnommen, erlaubt einen groben Überblick über ausgeprägte und weniger präponderante Beziehungen der Leipziger Universität zu anderen akademischen Einrichtungen des Kaiserreiches. Dabei zeigt das Prisma der sächsischen Landesuniversität auch Entwicklungen der allgemeinen Universitätsgeschichte im deutschsprachigen Raum. Tabelle 3: Wegberufungen von Leipziger Wissenschaftlern an andere Universitäten sowie „Neuerwerbungen“ von anderen Universitäten (1870–1914)247 248 Universität

Anzahl der Wegberufungen nach ~

Anzahl der Rufe von ~ nach Leipzig

Universitätstyp

Rang der Universität2481

Gießen

15

4

Einstieg

17.

Basel

14

2

Einstieg

Berlin

13

7

Ende

Zürich

11

2

Einstieg

Tübingen

11

7

Aufstieg

9.

Erlangen

10

9

Einstieg

18.

Jena

10

6

Aufstieg

15.

Wien

4

9

Heidelberg

9

3

Ende

5.

Halle

9

9

Aufstieg

7.

Kiel

9

3

Einstieg

16.

München

9

4

Ende

2.

Dresden

8

3

[TH]

Freiburg

7

4

Aufstieg

12.

Marburg

7

6

Aufstieg

13.

Dorpat

6

Breslau

5

9

Aufstieg

11.

Greifswald

5

Einstieg

19.

1.

247 Der Aufstieg innerhalb der eigenen Universität konnte aus Zeitgründen nicht berücksichtigt werden. Dasselbe Verfahren wurde in der Darstellung Jens Blechers – im 2011 erschienenen zweiten Band der Universitätsgeschichte (Redaktionsschluss September 2010) – angewendet (ohne Vergleich und Einordnung). Blecher spricht allein für die Philosophische Fakultät von einem Drittel Eigenberufungen von Extraordinarien zu Ordinarien, Jens Blecher, Landesuniversität mit Weltgeltung, in: Geschichte der Universität Leipzig, Bd. 2, Leipzig 2010, S. 668). – Da Bonn und Heidelberg „den Endstationsuniversitäten sehr nahe standen“ (Marita Baumgarten, Berufungswandel und Universitätssystem im 19. Jahrhundert, S. 87–115, hier S. 109), wurden sie hier als solche gekennzeichnet. 248 Die Rangfolge der Universitäten im Universitätssystem wurde von Baumgarten, Berufungswandel und Universitätssystem, übernommen.

321

Die Universität Leipzig um 1900 Königsberg

5

4

Aufstieg

14.

Rostock

5

1

Einstieg

20.

Straßburg

5

8

Aufstieg

8.

Bonn

4

6

Ende

4.

Darmstadt

4

[TH]

Bern

4

Einstieg

Göttingen

3

6

Aufstieg

6.

Würzburg

3

6

Aufstieg

10.

Nach Gießen, einer typischen Einstiegsuniversität, gingen 15 Leipziger Privatdozenten und Extraordinarien.249 Neben zwei Theologen und zwei Juristen hielten sich die Naturwissenschaftler (sechs) und die Philologen (fünf) etwa die Waage. Dafür kamen aus Gießen nach Leipzig drei Philologen, wobei der Romanist Adolf Birch-Hirschfeld (1849–1917), der in Leipzig studiert und promoviert hatte, erst 1884 auf eine Professur in Gießen gewechselt war und 1891 nach Leipzig zurückkehrte. Mit Erich Bethe (1863–1949) gewann Leipzig 1906 einen ausgewiesenen klassischen Philologen, der zuvor die Stationen Rostock und Basel durchlaufen hatte. Die prestigereiche Ruperto Carola in Heidelberg zog typischerweise überwiegend junge Geisteswissenschaftler an (sieben von insgesamt neun), gab aber zwei gestandene Philologen ab,250 die bereits seit Jahrzehnten ordentliche deutsche Professoren waren:251 Otto Ribbeck (1827–1898) und Kurt Wachsmuth (1837–1905). Ribbeck vertrat die Klassische Philologie auf einem Lehrstuhl bereits 1859 und wechselte von Bern über Basel, Kiel und Heidelberg 1877 nach Leipzig, wo er über zwanzig Jahre tätig blieb. Wachsmuth hatte seit 1864 Lehrstühle in Marburg, Göttingen und Heidelberg besetzt, bis er 1885 den Lehrstuhl für Klassische Philologie und Alte Geschichte in Leipzig übernahm. Die Wahl in akademische Ämter (beide waren jeweils einmal Dekan der Philosophischen Fakultät und Rektor) bezeugt überdies ihr Ansehen innerhalb der Universität. Carl Friedrich Rudolf Heinze (1825–1896) war der einzige Jurist, der seinen Leipziger Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozess und Rechtsphilosophie verließ und 1873 ein Ordinariat in Heidelberg annahm;252 auf der dortigen Berufungsliste stand auch Karl Binding 249 Als der Gynäkologe Friedrich Ahlfeld 1881 als Ordinarius nach Gießen berufen wurde, lautete der Kommentar, dass er nun „die Zahl der schon früher von hier nach Giessen zahlreich berufenen Kollegen vermehrte“. Rede des abtretenden Rektors Christoph Ernst Luthardt, 31. Oktober 1881, in: Rektoratsreden, Bd. 1, S. 302–309, hier S. 304 (Hervorhebung K. M.). 250 Über das hohe Prestige der geisteswissenschaftlichen Fächer in Heidelberg siehe Baumgarten, Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert, S. 16 (die drei Großuniversitäten beriefen von dort, Berlin allein sieben). 251 Der dritte aus Heidelberg Berufene, der Neurologe Wilhelm Erb (1840–1921) weilte nur kurz in Leipzig, einem damaligen Zentrum der Neurowissenschaften (Adolf von Strümpell, Paul Flechsig, Wilhelm His sen.). Er kam 1880 als Extraordinarius auf eine ordentliche Professur, ging aber nach nur drei Jahren wieder nach Heidelberg zurück, weil er in Leipzig den Aufbau einer stationären Neurologie nicht durchsetzen konnte; in Heidelberg wurde er Direktor einer neu erbauten Medizinischen Klinik. 252 Den Ruhm der Universität Heidelberg machte im 19. Jahrhundert vor allem die Juristische Fakultät aus, Heidelberg galt nachgerade als „Juristenuniversität“, siehe Klaus Peter Schroeder, „Eine Universität für Juristen und von Juristen“. Die Heidelberger Juristische Fakultät im 19. und 20. Jahrhundert, Tübin-

322

Die Universität Leipzig um 1900

(1841–1920), Ordinarius in Straßburg, der dafür im gleichen Jahr nach Leipzig berufen wurde. Der Indogermanist Ernst Windisch (1844–1918) erhielt nach nur kurzer Zeit als außerordentlicher Professor in Leipzig 1872 einen Ruf auf die Professur für vergleichende Sprachwissenschaft in Heidelberg, ist also zu den ebenso beglückwünschten wie bedauerten „Abgängen“ zu zählen. Nach einer weiteren Professur in Straßburg kehrte er jedoch schon 1877 auf eine Professur für Sanskrit in Leipzig zurück (Nachfolger seines Lehrers Hermann Brockhaus), wurde zugleich Direktor des neuen Indogermanischen Seminars und repräsentierte auf glückliche Weise die ohnehin renommierte Leipziger Philologie und vergleichende Sprachwissenschaft. Wie von Heidelberg, konnten auch von der Bonner Universität, die dem Status einer Endstationsuniversität nahe kam, überwiegend nur andere Großuniversitäten abberufen, wobei dies unter den preußischen Universitäten nur Berlin gelang.253 Für Leipzig sieht die Bilanz aber positiv aus: vier Akademiker verließen die Universität in Richtung Bonn, sechs Ordinarien nahmen Rufe nach Leipzig an. Der einzige Ordinarius, der Leipzig (1906) verließ – der 1899 aus Wien berufene Philologe Friedrich Marx (1859–1941)254 –, hatte seine akademische Laufbahn bereits in Bonn bei Hermann Usener begonnen. Für ihn, den letzten Vertreter der „Bonner Schule“ der klassischen Philologie, schloss sich der Kreis: in der Geschichte der Philologie steht er ohnehin konzeptionell und methodisch der „Leipziger Schule“ entgegen.255 Seit Mitte der 1870er Jahre wurden aus Bonn ausnahmslos Professoren berufen: der Jurist Adolf Wach (über Rostock, Tübingen, Bonn), über den noch zu sprechen sein wird, der Historiker Karl von Noorden (1833–1883), der das historische Seminar gründete und über Greifswald, Marburg, Tübingen und eben Bonn nach Leipzig kam; ein weiterer Historiker, Wilhelm Maurenbrecher (1838–1892), hatte zuvor Lehrstühle in Dorpat, Königsberg (und Bonn) besetzt. Für den Chirurgen Friedrich Trendelenburg (1844–1924), der die Leipziger Chirurgische Klinik als deren Leiter erweiterte und modernisierte, war die Leipziger Professur inzwischen schon die dritte.256 Der mehrfach erwähnte Ferdinand von Richthofen war ebenfalls von der Bonner Universität berufen worden. In Bezug auf Bonn erwies sich die Strategie der Universität und des Kultusministeriums, „Kapazitäten ersten Ranges“ zu gewinnen, als durchgehend erfolgreich. Den Göttinger Professoren wurde die Annahme eines Rufes von dort her sozusagen schwer gemacht,257 was in Leipzig durchaus zu spüren war. Sechs erfolgreiche Rufe ergin-

253 254 255 256 257

gen 2010, S. 255–258; Eike Wolgast, 600 Jahre Universität Heidelberg, in: 600 Jahre Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg 1386–1986, Geschichte, Forschung und Lehre, Hg. vom Rektor der Universität Heidelberg, München 1986, S. 25. Die Angaben über Heinze in ADB (Bd. 50, 1905, S. 153–155) und im Leipziger Professorenkatalog über einen Lehrstuhl in Tübingen (1872) vor demjenigen in Heidelberg stimmen mit dem Rektoratsbericht 1873 über Heinzes Wegberufung nicht überein: Den Ruf nach Tübingen lehnte er ebenso ab wie einen weiteren (1875) nach Wien (Schroeder, S. 257). Baumgarten, Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert, S. 177. Fehlt im Professorenkatalog (http://research.uni-leipzig.de/catalogus-professorum-lipsiensium/). Hans Herter, Die Klassische Philologie seit Usener und Bücheler, in: Bonner Gelehrte. Philosophie und Altertumswissenschaft, Bonn 1968, S. 165–211, bes. S. 197–201. Ortrun Riha, Medizin (Chirurgie), in: Geschichte der Universität Leipzig, Bd. 4/2, S. 1001 f. Baumgarten, Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert, S. 176.

Die Universität Leipzig um 1900

323

gen nach Göttingen. Es kamen keine ‚typischen‘ Geisteswissenschaftler, dafür zwei Juristen, ein Theologe, ein Physiker, ein Landwirtschaftswissenschaftler und ein Mathematiker. Leipzig musste dagegen gestandene Wissenschaftler, wiederum meist Naturwissenschaftler, nach Göttingen ziehen lassen. Der Historiker Max Lehmann war 1893 aus Marburg berufen worden, trat aber seine Stelle gar nicht erst an, sondern folgte dem Ruf nach Göttingen. Felix Klein wurde schon erwähnt. Auch der Chemiker (und Nobelpreisträger) Walther Nernst (1864–1941, später Berlin) und der Geologe Hans Stille (1876–1966, später Berlin) sind bekannte Persönlichkeiten, die nach Göttingen gingen. Als Aufstiegsuniversitäten wie Tübingen werden solche verstanden, an denen die meisten Berufenen nicht ihr erstes Ordinariat besetzten. Elf Leipziger, allesamt Naturwissenschaftler, starteten von einer Privatdozentur (7) bzw. einem Extraordinariat (4) in Leipzig, sechs von ihnen erhielten in Tübingen zuerst eine außerordentliche Professur. Der einzige junge Geisteswissenschaftler, der aus Leipzig wegberufen wurde, der klassische Philologe Otto Crusius (1857–1918)258, erhielt 1886 eine Professur in der Stadt am Neckar und durchlief anschließend eine klassische Laufbahn: 1898 Professur in Heidelberg, 1903 in München. Gemeinsam mit dem Historiker Dietrich Schäfer setzte sich Crusius für die Gründung eines Geographischen Instituts in Tübingen ein: Für den Leipziger Extraordinarius und Ratzel-Schüler Arthur Hettner (1858–1941) wurde nach längeren Auseinandersetzungen und Kontroversen 1897 eine neue außerordentliche Professur für Geographie eingerichtet – die Geburtsstunde des Tübinger Geographischen Instituts und zugleich eine der letzten Institutionalisierungen der Geographie als Hochschuldisziplin.259 Über ein weiteres Extraordinariat in Heidelberg (1899–1906) stieg Hettner dort 1906 in seine erste ordentliche Professur auf. Mit Kurt Hassert (1868–1947) und Carl Sapper (1866–1945), beide ebenfalls Ratzel-Schüler, waren insgesamt drei Leipziger Geographen in Tübingen vertreten, und die institutionelle Grundlage der Tübinger Geographie geht auf einen der ihren zurück. Den elf Abgängen nach Tübingen stehen sieben beachtliche „Erwerbungen“ gegenüber, bis auf einen Extraordinarius allesamt Ordinarien und bereits anerkannte Fachvertreter. Drei gestandene Ordinarien der Tübinger Juristenfakultät kamen nach Leipzig: Carl Victor Fricker (1830–1907), Oscar Bülow (1837–1907) und Heinrich Degenkolb (1832–1909). Fricker, Professor der Staatswissenschaften, war der erste Tübinger Ordinarius, der nach Leipzig berufen wurde (1875), nachdem er in Tübingen zehn Jahre lang tätig gewesen war. Er machte sich nun als Autor um das Staatsrecht und die Verfassungsgesetze des Königreichs Sachsen verdient. Der Jurist Oscar Bülow kam 1885 über Ordinariate in Gießen und Tübingen nach Leipzig, Heinrich Degenkolb 1893 über Ordinariate in Freiburg, wo er elf Jahre lang, und Tübingen, wo er 21 Jahre lang tätig war. Der viel geehrte Botaniker Wilhelm Pfeffer (1845–1920), Begründer der Pflanzenpathologie, Wegbereiter der modernen Molekularbiologie, wurde nach fast zehn Tübinger Jahren 1887 nach Leipzig berufen. Der Pfeffer-Schüler Carl Correns (1864–1933), Tübinger Privatdozent der Botanik, besetzte 1902 ein Extraordinariat in Leipzig. Er widmete sich 258 Er war nach seiner Habilitation 1885 Lehrer an der Thomasschule, parallel gab er 1883 bis 1886 Lehrveranstaltungen. 259 Sylvia Paletschek, Die permanente Erfindung einer Tradition. Die Universität Tübingen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Stuttgart 2001, S. 369; Karl-Heinz Schröder, Geographie an der Universität Tübingen 1512–1977, Tübingen 1977.

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besonders der Vererbungslehre und gilt als einer der Wiederentdecker der Mendelschen Gesetze.260 Für die Leipziger Philologie war 1890 die Berufung Albert Socins (1844–1899), ordentlicher Professor in Tübingen seit 1876 und Schüler des Gründers der „Leipziger Schule“, Heinrich Leberecht Fleischer, von erheblicher Bedeutung, stellte sie doch den Schritt zur Institutionalisierung der Orientalistik, die lange eine Heimstatt in der Theologie gefunden hatte, an der Universität dar.261 Für die Altphilologie war Erwin Rohde (1845–1898) dagegen nur Episode. 1885 aus Tübingen berufen, hatte er 1886 infolge von Reibereien mit den Fachkollegen Ribbeck und Lipsius bereits einen Ruf nach Heidelberg angenommen; so entging der Leipziger Gräzistik eine „epochemachende Gestalt“.262 Unter den ausländischen Universitäten waren Wien, Basel, Zürich und Dorpat vertreten. An der Spitze der Wegberufungen stand, fast gleichauf mit Gießen, die Universität Basel, die zusammen mit Zürich, Bern und Freiburg in der Schweiz für Kandidaten aus dem Deutschen Reich fast ausschließlich als Einstiegsuniversität in die erste ordentliche Professur diente („Schwungbretter“ in die deutschen Professuren).263 Nach Basel gingen fünf Juristen, von denen vier gleich auf ein Ordinariat gelangten,264 auch die sieben Geisteswissenschaftler erhielten in der Schweiz ihr erstes Ordinariat.

3.5 Weitere bemerkenswerte Verluste Nicht wenige prominente bzw. berühmt gewordene Wissenschaftler sind von Leipzig weggegangen, die meisten in jungen Jahren. An erster Stelle ist der freilich damals schon nicht mehr ganz junge Theodor Mommsen (1817–1903) zu nennen, „dessen Name jeder Stelle wo er steht Glanz verleiht“, wie es der Jurist Adolf Schmidt formulierte. Mommsen war schon im Herbst 1848 außerordentlicher Professor für Rechtswissenschaft an der Universität Leipzig gewesen, wegen seiner politischen Aktivitäten aber 1851 entlassen worden.265 Danach wirkte er – vornehmlich Forscher und Wissenschaftsorganisator – als Ordinarius für Alte Geschichte an der Berliner Universität. Nach der Reichsgründung 1871 war er am 31. Januar 1874 von der sächsischen Staatsregierung zum Ordinarius in der Juristenfakultät in Leipzig ernannt worden, wurde aber auf eigenes Ersuchen bereits am 21. Februar des Dienstes wieder enthoben, „so dass wir uns rühmen können, diesen berühmten Mann durch drei volle Wochen 260 Allerdings verließ er die hiesige Alma Mater (1909–1913 Ordinarius in Münster) und stieg 1914 zum (ersten) Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Biologie in Berlin-Dahlem auf. 261 Sabine Mangold, Eine „weltbürgerliche“ Wissenschaft, S. 94. 262 Geschichte der Universität Leipzig, Bd. 4/1, S. 581. 263 Baumgarten, Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert, S. 182; dies., Berufungswandel und Universitätssystem, S. 102. Wilhelm Wundt sprach von „Zürich, dieser Anfangsprofessur so vieler deutscher Gelehrter“ (Wundt, Erlebtes und Erkanntes, S. 84). 264 Die Leipzig Juristenfakultät versorgte die deutschen Universitäten nach 1900 stärker noch als im 19. Jahrhundert mit bedeutenden Nachwuchswissenschaftlern. Geschichte der Universität Leipzig, Bd. 4/1, S. 131 f. 265 Stefan Rebenich, Mommsen, die deutschen Professoren und die Revolution von 1848, in: Theodor Mommsen, Wissenschaft und Politik im 19. Jahrhundert, hg. von Alexander Demandt, Andreas Goltz, Heinrich Schlange-Schoningen, Berlin 2005, S. 13–35.

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zum Kollegen gehabt zu haben“.266 Diese Phrase war von Rektor Schmidt womöglich sogar ernst gemeint gewesen. Mommsen selbst benutzte dieses Intermezzo nur zur Verbesserung seiner Position in Berlin.267 Dass der Theologe und Kirchenhistoriker Adolf Harnack (1851–1930) als Erfinder des Schlagwortes vom „Großbetrieb der Wissenschaft“ und des „Harnack-Prinzips“ nicht nur für die Wissenschaftsorganisation in Berlin eine entscheidende Rolle spielen, sondern „zugleich Forscher, Lehrer, Organisator, Repräsentant der Wissenschaftskultur seiner Zeit und – nicht nur – seines Landes“268 werden würde, war zu seiner Leipziger Zeit noch nicht abzusehen. Harnack war 1874 Privatdozent, 1876 Extraordinarius für Kirchengeschichte in Leipzig geworden – auf einstimmigen Vorschlag der sieben Ordinarien der Theologischen Fakultät.269 Einen Ruf nach Gießen wollten noch 1878 sowohl die Fakultät als auch 133 Studenten der Theologie verhindern, am Ende erfolglos.270 Schon in dieser Zeit hegte Friedrich Althoff Pläne, Harnack an eine preußische Universität zu ziehen, auch Harnack selbst hoffte, nach Preußen an eine größere Universität zu kommen.271 Die Rückberufung aus Gießen nach Leipzig 1885 wurde nach dem Erscheinen des ersten Bandes von Harnacks „Lehrbuchs der Dogmengeschichte“, das die Lage grundsätzlich veränderte, wesentlich aufgrund des Einspruchs zweier Professoren (gegen fünf) verhindert: Harnacks „Dogmengeschichte“ spalte die Einheit der Fakultät und der Landeskirche und Leipzig würde sich selber „ungleich“ werden – „bisher eine Stütze der Kirche der deutschen Reformation, alsdann eine Filiale Göttingens, eine Pflanzschule jenes zum bloßen Moralismus verwaschenen Christentums, welches keine Kirche zu bauen, sondern die bestehende nur zu ruiniren geeignet ist“.272 Es waren in erster Linie die Leipziger Ordinarien Franz Delitzsch (1813–1890) und der „Erzlutheraner“273 Christoph Ernst Luthardt (1823–1902), der „in der theologischen Fakultät und weit über diese hinaus […] damals mit schwerer Faust [regierte]“274, die Harnacks Berufung verhinderten, indem sie durch ihr Minderheitenvotum ein Gutachten des Evangelisch-lutherischen Landeskonsistoriums in Dresden provozierten,

266 Rede des abtretenden Rektors Adolf Schmidt, 31. Oktober 1874, in: Rektoratsreden, Bd. 1, S. 105–115, hier S. 106. 267 Rebenich, Theodor Mommsen und Adolf Harnack; ders., Theodor Mommsen. Eine Biographie, München 2002. 268 Rudolf Vierhaus, Bemerkungen zum sogenannten Harnack-Prinzip. Mythos und Realität, in: ders., Vergangenheit als Geschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2003, S. 446–459, hier S. 448; ders., Im Großbetrieb der Wissenschaft. Adolf von Harnack als Wissenschaftsorganisator und Wissenschaftspolitiker, in: Kurt Nowak / Otto Gerhard Oexle (Hg.), Adolf von Harnack. Theologe, Historiker, Wissenschaftspolitiker, Göttingen 2001, S. 419–441; Kurt Nowak / Otto Gerhard Oexle / Trutz Rendtorff / Kurt-Victor Selge (Hg.), Adolf von Harnack. Christentum, Wissenschaft und Gesellschaft, Göttingen 2003. Siehe auch Kurt Nowak, Historische Einführung, in: Adolf von Harnack als Zeitgenosse. Reden und Schriften aus den Jahren der Weimarer Republik, Teil 1, hg. von Kurt Nowak, Berlin / New York 1996, S. 1–99. 269 SHStAD, 10281/161, Bl. 6–7, Leipzig, 9. Mai 1876, Theologische Fakultät an Ministerium. 270 SHStAD, 10281/161, Bl. 21, Delitzsch (Dekan), 10. Dezember 1878; Bl. 24–27, Petition von 133 Studenten an Gerber, Harnack zu halten, 11. Dezember 1878. 271 Agnes von Zahn-Harnack, Adolf von Harnack, Berlin 1951, S. 106 f. 272 SHStAD, 10281/161, o. P., Franz Delitzsch, Leipzig 26. Dezember 1885, an Kultusminister. 273 Klaus Fitschen, Theologie, in: Geschichte der Universität Leipzig, Bd. 4/1, S. 59. 274 Wilhelm Ostwald, Lebenslinien, II, S. 436.

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das in der Folge gar nicht anders konnte als die Berufung abzulehnen.275 Wie anders hätte (vielleicht) die (Leipziger) Universitätsgeschichte verlaufen können! So ging Harnack 1886– 1888 nach Marburg und schließlich als ordentlicher Professor für Kirchengeschichte an die Berliner Universität. Friedrich Althoff bewies mehr Durchsetzungsvermögen, Harnack gegen den wiederholten energischen Widerstand des Evangelischen Oberkirchenrates zu berufen.276 Die Literatur über Mommsen wie auch Harnack ist wegen des anhaltenden Interesses für die Wissenschaftspolitik im Kaiserreich, für die Erforschung der Geschichte der damaligen Kaiser-Wilhelm- und heutigen Max-Planck-Gesellschaft überaus umfangreich und wächst stetig. Beide Wissenschaftlerbiographien stehen zudem außerhalb des hier in Rede stehenden Themas. Es gehört also nur in den Bereich der allerdings reizvollen Spekulation, was solche Persönlichkeiten an der sächsischen Landesuniversität hätten erreichen können. Das betrifft auch den Mathematiker Felix Klein.277

3.6 Felix Klein und die Geometrie. Was ist eine „vollberechtigte Wissenschaft“? Die Mathematik wurde in Leipzig 1880 von vier Professoren vertreten: die zwei ordentlichen Professoren Wilhelm Scheibner (1826–1908) und Carl Neumann (1832–1925), der 1868 aus Tübingen berufen worden war, sowie die außerordentlichen Professoren Adolf Mayer (1839– 1908) für Mathematik und Carl von der Mühll (1841–1912), der für Physik berufen war. Die Geometrie, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts an Popularität und Reife derart zugenommen hatte, dass man an den Universitäten eigene Lehrstühle für dieses Teilgebiet der Mathematik errichtete,278 hatte es allerdings in Leipzig schwer. Ein dafür qualifizierter Privatdozent hatte Leipzig in Richtung TH Darmstadt verlassen müssen, weil ihm vom Ministerium verdeutlicht worden war, dass man „gegen die Überwucherung der Privatdocenten an der Universität sei“ und keine Aussicht auf Beförderung zum Extraordinarius bestehe.279 Der seit Anfang 1879 von den Mathematikern in der Philosophischen Fakultät vorbereitete Antrag, eine neue Professur für (theoretische) Geometrie zu schaffen, musste aus verschiedenen Gründen etliche Hürden überwinden. Es bedurfte eines erheblichen Begründungsaufwands, was bei der Beantragung neuer Professorenstellen, besonders für eine noch nicht (bzw. nicht mehr) an der Universität vertretene Disziplin an sich nicht verwunderlich ist. Erstaunlich dagegen mutet es an, dass das allgemeine Unbehagen der meisten Geisteswissenschaftler vor der höheren Mathematik, das zum Teil gewiss der Unsicherheit im Verstehen derselben geschuldet sein mag,280 vor allem aber der der Mathematik seitens der neuhuma275 Siehe die Korrespondenzen in SHStAD, 10281/161, Bl. 29–46 von November 1885 bis Februar 1886. 276 Agnes von Zahn-Harnack, S. 116–127; Walter Wendland, Die Berufung Adolf Harnacks nach Berlin im Jahr 1888 (auf Grund der Akten des Evangelischen Ober-Kirchenrats), in: Jahrbuch für Kirchengeschichte 29 (1934), S. 103–121. 277 Quellendokumentation und Literatur über Felix Klein sind sehr zahlreich. Zuletzt und speziell: Rüdiger Thiele, Felix Klein in Leipzig. Mit F. Kleins Antrittsrede (Leipzig 1880), Leipzig 2012. 278 Fritz König, Leipziger Professur für Geometrie, Funktionentheorie, in: Renate Tobies, Felix Klein, Leipzig 1981, S. 47. 279 UAL, PA 635, Bl. 1, Wilhelm Scheibner an Gustav Wiedemann, Leipzig, 17. Mai 1879. 280 Siehe bei Beate Wagner-Hasel. Die Arbeit des Gelehrten, S. 256 (Minister v. Gerber und König Albert über den Vortrag eines Mathematikers, von dem sie „kein Wort“ verstanden hätten).

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nistischen Bildungsauffassung zugewiesene Wert als bloßer Bildnerin des Verstandes dazu führte, dass der Jahrtausende alten Geometrie kein humanistischer Bildungsbeitrag zugebilligt wurde, dagegen aber der zeitgleich beantragten Professur für Anglistik, obwohl auch diese lebende Sprache als „nur praktisch“ an der Universität zuerst keinen guten Kredit bei der Aufnahme unter die etablierten Wissenschaftsdisziplinen hatte. Aus der Sicht der Mathematiker, speziell Wilhelm Scheibners und Carl Neumanns, die den Antrag ausarbeiteten, musste eine Entscheidung schnell getroffen werden, weil eine Universität wie die Leipziger es sich nicht leisten könne, „die Cultur wissenschaftlicher Disciplinen, welche in ihren Consequenzen mit den Bedürfnissen der Technik in Verbindung stehen“, zu vernachlässigen. Seit dem Tod des „unvergesslichen“281 August Ferdinand Möbius (1790–1868) war das Gebiet in Leipzig so gut wie nicht vertreten. In einer Zeit, da den Gymnasien aus den Realschulen und den Universitäten durch die Technischen Hochschulen Konkurrenz erwachse, sei, so Scheibner, doppelter Eifer nötig, die ideale Seite der Wissenschaft, die eben nur mit der Universität verbunden sei, zu betonen. Zur viel beschworenen universitas litterarum gehöre aber die Mathematik. Sollten der praktische Nutzen vor dem idealen Charakter, die Höhe des Arbeitslohnes vor der Güte der Leistung den Vorrang erhalten, wäre die deutsche Wissenschaft in Gefahr.282 Dieser Einsatz für die Mathematik als integraler Bestandteil des wissenschaftlichen Kanons und akademischen Curriculums erinnert an Justus von Liebig, der das neuhumanistische Ideal der Einheit der Wissenschaften 1840 zugunsten der bisher abgelehnten Chemie zu instrumentalisieren verstanden hatte („Chemie als Mittel zur Geistesbildung“).283 Die Betonung des Idealen – bei dem Mathematiker Scheibner Argument für die Integration der Geometrie, bei dem Philologen Ludwig Lange, Vertreter eines altehrwürdigen Faches, als Argument zu ihrer Ausgrenzung – verweist auf unterschiedliche Interpretationen der an eine Universität gehörenden Wissenschaft und ist gleichsam eine „querelle des anciens et des modernes“ um die Vollberechtigung einer Wissenschaft. Während die „Alten“ die ideale (reine) Wissenschaft quasi um ihrer selbst willen284 im Elfenbeinturm pflegten, drangen die „Modernen“ auf die zeitgemäße Anpassung von Forschung und Lehre an den Universitäten und sahen für die Geometrie keinen Widerspruch zum Universitätsideal. Ein solch energisches Vorgehen war ernsthaft nötig, da es auch den Geisteswissenschaftlern in der Leipziger Philosophischen Fakultät – denen Scheibner ironischerweise ein komplexes Universitätsideal entgegenhielt – am Verständnis für die Stellung der mathematischen 281 UAL, PA 635, Bl. 6, Wilhelm Scheibner an Dekan Max Heinze, 15. Februar 1879. 282 UAL, PA 635, Bl. 2, Wilhelm Scheibner an Gustav Wiedemann, Leipzig, 17. Mai 1879. 283 Justus Liebig, Über das Studium der Naturwissenschaften und über den Zustand der Chemie in Preußen, Braunschweig 1840, S. 12; Regine Zott / Emil Heuser, Die Chemie als Mittel zur Geistesbildung. Vor 150 Jahren erschien J. Liebigs Denkschrift „Über das Studium der Naturwissenschaften und über den Zustand der Chemie in Preußen (1840)“, in: Giessener Universitätsblätter, Heft 2 (1990), S. 65–76. 284 Über „die mit dem Ziel der praktischen Anwendung entstandenen Disziplinen“, die „als Techniken der reinen Wissenschaft gegenübergestellt [werden], von der man annimmt, dass sie um ihrer selbst willen da sei“ schrieb Karl Bücher: „So kam es, dass man an den Universitäten auf ihre Entwickelung lange Zeit mit geringem Verständnis herabsah; ja ich erinnere mich, dass, als eine dieser Disziplinen an einer kleinen Universität Aufnahme finden sollte, ein Vertreter einer der alten Universitäts­Wissenschaften in heller Verzweiflung ausrief: „Jetzt zieht auch bei uns das Banausentum ein!“, vgl. Rede des antretenden Rektors Karl Bücher, Über alte und neue Aufgaben der deutschen Universitäten, 31. Oktober 1903, in: Rektoratsreden, Bd. 2, S. 831 (Hervorhebung K. M.).

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Wissenschaft im System der akademischen Wissenschaften im Allgemeinen und der Geometrie im Besonderen und damit an der nötigen Einsicht für eine weitere Professur mangelte. Das Überlegenheitsgefühl des literarisch-ästhetischen Bildungsideals gegenüber der Rolle der Mathematik resp. Geometrie – die sich ihrerseits fortwährend spezialisierte und eher wenige wissenschaftspolitische Verfechter ihrer Zugehörigkeit zum klassischen Besatz der Universität hervorbrachte – zeigte sich in der Leipziger Fakultät in einem Machtgefälle. Mit 13 Ordinarien, einem ordentlichen Honorarprofessor und acht Extraordinarien standen 22 Vertreter der Philologien vier Mathematikern gegenüber, von denen nur zwei ordentliche Professoren waren.285 Dieses Kräfteverhältnis erklärt den problematischen Stand bei dem Versuch der Durchsetzung der Geometrie-Professur. Wilhelm Scheibner musste in der Fakultät gegen die verbreitete Auffassung ankämpfen, dass die Mathematik an den Universitäten „nur eine geduldete, keine vollberechtigte Wissenschaft sei“ und ihren eigentlichen Platz an den Polytechnischen und Technischen Hochschulen habe.286 Der Ruch des Praktisch-Technischen, dem Universitätsrechte verweigert wurden, bedrohte, so die Befürchtung, die „reine Luft der Wissenschaft“, die ideale Universität, auch noch lange nach der Aufnahme der Geometrie in den Reigen der Fakultät. Dennoch war die nachstehend zitierte Meinung des Philosophiehistorikers Max Heinze nicht ohne Widerspruch geblieben:287 „Die Universitäten unterlägen so bald der Gefahr, ausser der Wissenschaft stehenden Zwecken zu dienen, mehr und mehr technische Anstalten zu werden. Die wahre Weihe, welche für das Leben des Einzelnen dauern soll, erhält das akademische Studium nicht durch die Sorge um das spätere tägliche Brod, nicht durch das wirthschaftliche Abwägen von Einsatz und Gewinn, sondern durch das Athmen in der reinen Luft der Wissenschaft, ohne Bedenken darüber, ob dies für das praktische Leben auch etwas nütze.“288

Der klassische Philologe Ludwig Lange (1825–1885) hatte 1879 in seiner Antrittsrede als Rektor – sie trägt den aufschlussreichen Titel „Ueber das Verhältniss des Studiums der classischen Philologie auf der Universität zu dem Berufe der Gymnasiallehrer“ – wenig originell behauptet, die Mathematik könne zwar den Verstand bilden, nicht aber Herz und Gemüt und könne also mit den philologisch-historischen Fächern bei der allseitigen und harmonischen Ausbildung nicht „gleichberechtigt“ konkurrieren.289 Er befand sich da285 UAL, PA 635, 24. Juni 1879, Bl. 10, Antragsentwurf für die Fakultät. 286 Siehe dazu auch Manegold, Universität, Technische Hochschule und Industrie, S. 92–94 und passim. Felix Klein setzte sich vor größerem Publikum und am Ende auch mit erheblich größerem Erfolg gegen diese „Zweiteilung der Bildung“ ein. 287 Friedrich Zarncke etwa sah keine Probleme in der Perspektive, „auch den praktischen und technischen Fächern, deren wissenschaftliche Ausbildung unsere Bewunderung erregt, in grösserem Umfange einen Platz an den Universitäten zu gewähren“. Vgl. Rede des antretenden Rektors Friedrich Zarncke, 31. Oktober 1881, in: Rektoratsreden, S. 322. Später zählte namentlich Karl Bücher zu den Befürwortern einer fachlichen Öffnung der Universität (siehe das Kapitel zur Dresdner Universitätsfrage). 288 Rede des antretenden Rektors Max Heinze („Über den sittlichen Werth der Wissenschaft“), 31. Oktober 1883, in: Rektoratsreden, Bd. 1, S. 357 f. (Hervorhebung K. M.). 289 „Denn die Mathematik zunächst ist zwar ein vorzügliches Bildungsmittel für den Verstand und die Vorstellungskraft auf dem Gebiete der Zahlen und der räumlichen Grössen – ich erinnere an die imaginären Zahlen und an die vielbesprochene vierte Dimension –; aber je mehr die Mathematik den Verstand bildet, um so weniger ist sie geeignet Herz und Gemüth auszubilden; sie kann also, wo es auf eine allseitige und harmonische Ausbildung der im menschlichen Geiste schlummernden Kräfte ankommt, mit

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mit ganz auf der Linie des vom Neuhumanismus betonten rein formalen Bildungswertes der Mathematik.290 Das war die Zielscheibe der Retorte Scheibners: Müsse man daraus etwa schlussfolgern, die Mathematik sei überflüssig bei der Ausbildung des „ganzen Menschen“ und seiner Geisteskräfte, sie habe keine idealen Gedanken wie jede echte Wissenschaft?291 Die Feststellung, dass Ende der 1870er Jahre und in den 1880er Jahren bei den Rektorwahlen vor dem versammelten Auditorium der Universitätselite eine Diskussion um die Bedeutung der Wissenschaft für das Leben, über die Stellung und die Funktion der Universität in der Reihe der Hochschulen, über das Bildungswesen schlechthin ausgetragen wurde, die zahlreiche Debatten hinter dieser Kulisse und in kleineren Kreisen vermuten lässt, muss vor einem dreifachen Hintergrund gesehen werden: Erstens der so genannten, weiter oben im Zusammenhang mit Wilhelm Ostwald bereits erwähnten „Heidelberger Erklärung“ (1888), der Initiative der Universität Heidelberg zur Rettung des klassisch-humanistischen Gymnasiums, des Gymnasialmonopols (in der Zulassungsfrage), zweitens der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts anwachsenden Kritik am neuhumanistischen Bildungskonzept und drittens indirekt der zunehmend beargwöhnten Führungsposition der klassischen Philologen in der Leipziger Philosophischen Fakultät. In Leipzig war der Altphilologe Otto Ribbeck, Ordinarius seit 1859, seit 1877 Professor für Klassische Philologie, 1882/83 Dekan und 1887/88 Rektor, der wichtigste Protagonist der Heidelberger Erklärung;292 vor seiner ersten Universitätsprofessur war Ribbeck selbst mehr als zehn Jahre lang Gymnasiallehrer gewesen. In Wilhelm Ostwalds zugespitzter Beschreibung wird Ribbecks prägende Rolle deutlich: „Er übte bei Lebzeiten einen erheblichen Einfluß auf seine Fachgenossen aus und war eifrig bemüht, die Gefahren abzuwenden, welche seitens der Naturwissenschaften dem Fortbestehen der philologischen Vorherrschaft drohten.“293 In diesem geistigen Klima, in einer allgemeinen Legitimationskrise der Geisteswissenschaften,294 der bröckelnden Rolle der Philosophischen als der wissenschaftlichen, „theoretischen“ Fakultät, sekundiert durch die Debatte um die Technik und die Position der Technischen Hochschulen, hatten die Naturwissenschaften in der Philosophischen Fakultät nicht nur rein quantitativ einen schweren Stand.

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den auf historischen Grundlagen ruhenden Bildungsmitteln nicht gleichberechtigt concurriren.“ Rede des antretenden Rektors Ludwig Lange, Über das Verhältniss des Studiums der classischen Philologie auf der Universität zu dem Berufe der Gymnasiallehrer, 31. Oktober 1879, in: Rektoratsreden, S. 272 (Hervorhebung K. M.). Manegold, Universität, Technische Hochschule und Industrie, S. 93. UAL, PA 635, Bl. 5–7, Scheibner an Dekan Max Heinze, 15. Februar 1879 (Begründung des von Neumann und Scheibner für nächste Fakultätssitzung gestellten Antrags auf Errichtung einer Prof. für höhere Geometrie). Ribbecks fundamentalistische Auffassung der Bedeutung der griechisch-römischen Geisteskultur kommt in seiner Rektoratsrede „Aufgaben und Ziele einer antiken Litteraturgeschichte“ (31. Oktober 1887), in: Rektoratsreden, Bd. 1, bes. S. 435, deutlich zum Ausdruck. Siehe auch Paul Nerrlich, Das Dogma des klassischen Altertums in seiner geschichtlichen Entwicklung, Leipzig 1894. Wilhelm Ostwald, Lebenslinien II, S. 107. Bernhard vom Brocke, Verschenkte Optionen. Die Herausforderung der Preußischen Akademie durch neue Organisationsformen der Forschung um 1900, in: Jürgen Kocka / Rainer Hohlfeld / Peter Th. Walther (Hg.), Die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin im Kaiserreich, Berlin 1999, S. 119–147, S. 138 u. ö.

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Außer der abschätzigen Meinung Ludwig Langes vom funktionalen, aber nicht universalen Bildungswert der Mathematik entgegenzutreten, hinter der die im Zusammenhang mit der zeitgenössischen Debatte um die Gleichstellung der Realschulen zu sehende Auffassung von der Überlegenheit der klassisch-humanistischen Bildung für die allseitige Menschenbildung stand, hatten die Leipziger Mathematiker gegen einen kühnen Hinweis aus dem Landtag anzugehen: Die jüngeren Extraordinarien sollten doch die Geometrie mitvertreten. Darauf wusste Wilhelm Scheibner nur zu erwidern, ein solches Ansinnen wäre so, als verlange man von einem klassischen Philologen die Vertretung des Sanskrit oder von einem Lehrer des römischen Rechts die Vertretung des Privatrechts.295 Die Zahl der Mathematikstudenten war in den vergangenen Jahren stark angestiegen; deren geringe Zahl gegenüber der Menge derer, die Philologie studierten, hatte bisher die Vermehrung der Lehrkräfte verhindert. Zum Zeitpunkt der Antragstellung von Wilhelm Scheibner waren es bereits über 200. Zudem gab es, im Vergleich zu den vier Leipziger Professoren der Mathematik, an der kleinen Universität Göttingen fünf, in Berlin sogar sieben Professoren.296 In den 1880er Jahren war Berlin – im Urteil der jüngsten Geschichtsschreibung – „nicht nur das bedeutendste Zentrum der Mathematik in Deutschland, sondern löste Paris als Welthauptstadt der Mathematik ab“.297 1880 gelang nun endlich die Errichtung eines neuen Lehrstuhls für Geometrie, Leipzig rückte näher an die Spitze der damaligen Mathematik heran. Von der Dreierliste298 – Felix Klein (1849–1925), Axel Harnack (1851–1888), Ferdinand Lindemann (1852–1939), allesamt herausragende Mathematiker – gewann man im Mai 1880 den „Ältesten“, den gerade 30-jährigen Felix Klein, der vor seinem Wechsel nach Leipzig bereits zwei Ordinariate inne hatte (Erlangen, TH München). Mit Felix Klein ist die Errichtung einer institutionellen Basis für die Mathematik in Leipzig verbunden, die ihrem Entwicklungsstand entsprach: das „Königlich Mathematische Seminar“ (1881), „das seinerzeit vorbildlich in der Welt war“.299 Es begann eine „mathematische Glanzzeit“ der Leipziger Universität. Dank seines gleichermaßen wissenschaftlichen, pädagogischen wie organisatorischen Talents konnte Klein hier eine „mathematische Schule von Weltrang“ aufbauen.300 Heinrich Bruns, selbst nicht nur Astronom, sondern auch Mathematiker und seit 1872 an der Leipziger Universität, konstatierte 1913, einen größeren Zeitabschnitt umfassend: „Seit einem halben Jahrhundert ist hier in Leipzig von den mathematischen Privatdozenten und Extraordinarien noch keiner sitzen geblieben“.301 295 UAL, PA 635, Bl. 3–4, Scheibner an Gustav Wiedemann, 17. Mai 1879. 296 SHStAD, 10210/18, Bd. 10, Akten, die Ersetzung der ordentlichen Professuren bei der philosophischen Fakultät Leipzig betr. 1899–1936, Bl. 240–250v (Antrag höhere Geometrie), 5. Februar 1880 (entspricht fast wörtlich Scheibners Brief in UAL). 297 Helmut Koch / Jürg Kramer, Die Mathematik bis 1890, in: Geschichte der Universität unter den Linden 1810–2010. Genese der Disziplinen. Die Konstitution der Universität, Bd. 4, hg. von Heinz-Elmar Tenorth, Berlin 2010, S. 465–486, hier S. 466. 298 UAL, PA 0635, Bl. 10, Felix Klein, 24. Juni 1880. 299 Fritz König, Leipziger Professur für Geometrie, Funktionentheorie, in: Renate Tobies, Felix Klein, Leipzig 1981, S. 49. S. a. Hans-Joachim Girlich / Karl-Heinz Schlote, Mathematik, in: Geschichte der Universität Leipzig, 4/2, S. 1062; Fritz König in: Herbert Beckert/Horst Schumann (Hg.), 100 Jahre Mathematisches Seminar, Berlin 1981, S. 41–74. 300 König, in: Tobies, Felix Klein, S. 50. 301 Rede des abtretenden Rektors Heinrich Bruns, 20. November 1913, in: Rektoratsreden, Bd. 2, S. 1061.

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Zweimal konnte ein Weggang Kleins verhindert werden, ein drittes Mal nicht mehr. 1883 hatte er, der kurz zuvor schon einen Ruf nach Oxford abgelehnt hatte, einen Ruf an die Johns Hopkins Universität in Baltimore erhalten.302 Zwar lehnte Felix Klein im Januar 1884 den Gang nach Amerika ab, doch Leipzig ging er trotzdem verloren – noch ein „Opfer“ der Althoffschen Berufungspolitik: 1886 wurde er Professor für Mathematik an der Universität Göttingen. Auch die Anhebung seines Gehalts auf 9000 Mark, von Kultusminister Gerber eilig telegrafiert, konnte Klein nicht halten, da es, wie er selbst sagte, „ganz wesentlich um den Charakter und die Tragweite [s]einer wissenschaftlichen Thätigkeit“303 ginge und keineswegs eine „künstliche Berufung“ sei, wie man vielleicht glauben könnte, wenn man die Namen Göttingen und Leipzig vergleiche.304 So wurde Klein hernach „einer der edelsten Männer, die Althoff ständig als Berater gedient haben“.305 Sein Weggang zog sich indes noch über Monate hin, weil es sich Felix Klein – wie auch der Geograph Ferdinand von Richthofen – nicht nehmen lassen wollte, die Weiterführung der hier geschaffenen Institute „in der von mir gewählten Richtung“ zu sichern und seinen Nachfolger mit den Leipziger Verhältnissen vertraut zu machen.306 „Ich betrachte die hiesigen mathematischen Institute wie meine Kinder, die ich wohl fremden Händen anvertrauen darf, die ich aber nicht einfach verlassen und dem sicheren Untergang überweisen kann.“307 Kleins Programmschriften dokumentieren seine wissenschaftsorganisatorische Tätig308 keit, und so trug Althoffs Berufungspolitik, die dem Grundsatz folgte, dass nicht alle preußischen Universitäten gleichmäßig, sondern schwerpunktmäßig ausgestattet werden müssten, dazu bei, dass Göttingen zu einem führenden Zentrum der mathematischen Wissenschaft und ihrer Anwendungsgebiete wurde, ebenso wie sich Halle auf die evangelische Theologie, Berlin auf Altertumswissenschaft und Geschichte spezialisierte oder in Marburg die Archivschule entstand.309 302 SHStAD, 10281/184, Bl. 22v–26, (Abschrift) Klein an Ministerium, 9. Dezember1883; Bl. 29, Professoren der Naturwissenschaften (zusätzlich zu den Mathematikern Mayer, Neumann, Scheibner, von der Mühll unterzeichneten der Astronom Heinrich Bruns und der Physiker Wilhelm Hankel) an Ministerium, 12. Dezember 1883. 303 SHStAD, 10281/184, Bl. 40, 11. August 1885, Telegramm Minister Gerber aus Bad Kissingen an Geheimrat Petzoldt, Kultusministerium Dresden („Mit neun tausend Mark einverstanden“); Bl. 42–43, Klein an Petzold, 15. August 1885. 304 SHStAD, 10281/184, Bl. 35–36, Klein an Gerber, 8. August 1885. 305 Sachse, Althoff, S. 277. 306 SHStAD, 10281/184, Bl. 44, Klein an Petzoldt, 25. September 1885; Bl. 46–47, Klein an Gerber, 13. November 1885. 307 SHStAD, 10281/184, Bl. 46 v., Klein an Gerber, 13. November 1885. 308 Siehe die Auswahl seiner Schriften in: Renate Tobies, Felix Klein, Leipzig 1981, S. 98. Siehe auch Reinhard Siegmund-Schultze, Das an der Berliner Universität um 1892 „herrschende mathematische System“ aus der Sicht des Göttingers Felix Klein. Eine Studie über den „Raum der Wissenschaft“, Berlin 1996; Fritz König, Die Entstehung des Mathematischen Seminars an der Universität Leipzig im Rahmen des Institutionalisierungsprozesses der Mathematik an den deutschen Universitäten des 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der Produktivkräfte und zur Felix-KleinForschung, phil. Diss. Leipzig 1982; allgemein: Manegold, Universität, Technische Hochschule und Industrie. 309 Sachse, Althoff, S. 173 ff., S. 182.Über die mathematischen und physikalischen Einrichtungen an der Universität Göttingen siehe ebd., S: 277–281.

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Kleins Nachfolger in Leipzig wurde auf seinen eigenen Vorschlag hin ein guter Freund und geschätzter Kollege: der Norweger Sophus Lie (1842–1899), der „im Laufe der Leipziger Jahre zu einer zentralen Figur in europäischen Mathematikerkreisen“ wurde.310 Weniger das hohe Gehalt hatte ihn aus Christiania (Oslo) fortgelockt, sondern „die großen Verhältnisse, der ungleich größere Wirkungskreis“ in Leipzig (die hiesige Universität hatte zu Lies Ankunft mehr als dreimal so viele Studenten wie die Universität in Christiania), außerdem „unsere elendig schlechten wissenschaftlichen Verhältnisse (besonders mit solchen Stümpern wie dem größten Teil meiner Fakultätskollegen)“.311 Sophus Lie schätzte das wissenschaftliche Milieu, welches – inzwischen – mathematische Forschung zu würdigen wusste. „Der eben erwähnte Norweger S o p h u s L i e war eine merkwürdige Persönlichkeit. Er war erst verhältnismäßig spät zur Mathematik gekommen, hatte dann aber eine solche Genialität und Selbständigkeit entwickelt, daß er schnell zu einem der ersten Mathematiker seiner Zeit aufstieg. Als ich ihn in Leipzig kennen lernte, war er als Meister seines Faches allgemein anerkannt und war unausgesetzt tätig, die von ihm erschlossenen neuen Gebiete zu bebauen und zu erweitern. Äußerlich sah er nicht wie ein Gelehrter aus. Von breiter massiver Gestalt, schwerem Gliederbau und entsprechender Gesichtsbildung hatte er etwas Urweltliches, wie man sich ein Mammuth vorstellt. Auch in seinem Charakter schien etwas Ungebändigt-Nordisches im Hintergrunde zu liegen. Den Angelegenheiten des täglichen Lebens stand er fremd gegenüber, denn seine Wissenschaft, für die er eine leidenschaftliche Verehrung und Hingabe empfand, erfüllte ihn so vollständig, das für anderes wenig Raum blieb.“312

Diese pittoreske Beschreibung stammt aus der Feder eines anderen herausragenden Wissenschaftlers, des hier mit Grund immer wieder zu erwähnenden Wilhelm Ostwald, der sich von der Leipziger Alma Mater trennte – nicht, weil er einen Ruf an eine andere Universität angenommen hätte, sondern weil ihn die Philosophische Fakultät inzwischen als unkollegialen Außenseiter mit unangemessenen, dem „Ideal des Universitätsprofessors“ zuwiderlaufenden Ansprüchen ansah und nicht gewillt war, ihm zugunsten seiner umfangreichen Forschungsarbeiten die Lehrverpflichtungen einzuschränken, wie es bei anderen Kollegen allerdings schon mehrfach geschehen war. Dabei war Wilhelm Ostwald 1909 als neunter Nobelpreisträger für Chemie ausgezeichnet worden. Zum Zeitpunkt dieser Ehrung hatte er die Universität aber bereits verlassen, so dass kein nobler Glanz auf die Institution fiel. Die Konflikte zwischen Ostwald und der Philosophischen Fakultät sind weiter oben bereits aufgezeigt worden.

3.7 Verhinderte Wegberufungen Abgesehen von den geschilderten Berufungsverlusten, bei denen die Verhandlungen letztlich zu Ungunsten Leipzigs ausfielen, konnten selbstverständlich auch drohende Wegberufungen namhafter Wissenschaftler abgewehrt werden, nämlich durch Einwirkungen der Kollegen, durch institutionelle wie finanzielle Gratifikationen seitens der Landesregierung und der Stände, welche die Zuwendungen schließlich billigen mussten. So lehnten Bernhard Wind310 Arild Stubhaug, Es war die Kühnheit meiner Gedanken. Der Mathematiker Sophus Lie, Heidelberg 2003, S. 335. 311 Ebd., S. 327. 312 Wilhelm Ostwald, Lebenslinien, II, S. 101.

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scheid und Adolf Wach 1881 bzw. 1887 einen Ruf nach Berlin ab,313 nicht ohne „von allerhöchster Stelle aus die Anerkennung dafür“314 zu bekommen. 1883 war die „unter sehr lockenden Bedingungen angebahnte Wegberufung“ Wilhelm Wundts nach Breslau durch ein entsprechendes Handeln im Ministerium315 verhindert worden: durch eine Gehaltserhöhung auf 7500 Mark, ein Etatquantum für sein Seminar von 1200 Mark, ein zusätzliches Auditorium für die seminaristischen Übungen und deren Übernahme in den Universitätskatalog, was faktisch die offizielle Anerkennung des bis dahin einmaligen Seminars für experimentelle Psychologie und dieser Wissenschaft bedeutete.316 Die Verleihung des Ritterkreuzes I. Klasse war dann gleichsam das i-Tüpfelchen. Der klassische Philologe Justus Hermann Lipsius (1834–1920) lehnte 1886 einen Ruf nach Heidelberg ab, wo er die Nachfolge des soeben nach Leipzig berufenen Curt Wachsmuth (1837–1905) antreten sollte. Lipsius, Rektor des Nikolaigymnasiums, war 1869 „ehrenhalber“ zum außerordentlichen Professor ernannt worden, um nicht hinter dem Rektor der Thomasschule zurückzustehen; ansonsten bestand seinerzeit für die Universität kein Bedürfnis nach einer weiteren philologischen Professur.317 Als Lipsius 1877 um Beförderung zum ordentlichen Professor bat, wuchs die Zahl der Ordinarien der klassischen Philologie auf immerhin vier (neben Friedrich Zarncke, Georg Curtius und Ludolph Krehl). Das aber überstieg noch nicht die Zahl, die „in Berlin [und selbst in kleinen Universitäten wie Jena] für die Vertretung der classischen Philologie und der vergleichenden Sprachwissenschaft für nöthig gehalten wird“,318 wie das Gutachten der Fakultät zu berichten wusste. So erhielt Lipsius 1877 die ordentliche Professur für klassische Philologie mit dem relativ geringen Grundgehalt von 4500 Mark, das er im Zuge der Berufungsverhandlungen 1886 – in Heidelberg hatte man ihm 9500 Mark geboten – auf 7000 Mark mit der Perspektive 9000 Mark aufbessern konnte.319 Im Jahr 1896 sollten der Agrarwissenschaftler Wilhelm Kirchner nach Bonn, der Astronom und Mathematiker Heinrich Bruns – er war als Berliner Extraordinarius 1882 auf eine Leipziger Professur gelangt – wieder nach Berlin, der Historiker Erich Marcks320 nach Tübingen berufen werden, „aber es gelang der Königlichen Staatsregierung uns die hochgeschätzten Collegen zu erhalten“.321 1902 konstatierte der abtretende Rektor Eduard Sievers, leider ohne Namen zu nennen, aber wieder mit Stolz gegen die Berliner Universität: „Der 313 SHStAD, 10281/299, Bl. 61, Leipzig, 21. Mai 1886, Wach an Ministerium; ebd., Bl. 67, Dresden, 7. Mai 1887, Notiz Gerber; ebd., Bl. 66, 4. Mai 1887, Dresden, Telegramm Gerbers an Wach: „Gewünschter Gehalt für den Fall des Bleibens bewilligt.“ 314 Jahresbericht des abtretenden Rektors Christoph Ernst Luthardt, 31. Oktober 1881, in: Rektoratsreden, Bd. 1, S. 305. 315 „Als Frucht aus den Verhandlungen kann die Universität die officielle Errichtung eines Laboratoriums für experimentelle Psychologie verzeichnen.“ Jahresbericht des abtretenden Rektors Wilhelm His, 31. Oktober 1883, in: Rektoratsreden, Bd. 1, S. 352. 316 SHStAD, 10281/322, Bl. 26, 28–29, Gerber, 6. Juni 1883 (Wundt hatte mündlich den Ruf nach Breslau mitgeteilt, also wurde über die „lockenden Bedingungen“ nichts bekannt.). 317 UAL, PA 700, Zarncke an Ministerium, Leipzig 2. Mai 1869, Bl. 3. 318 UAL, PA 700, Bl. 6–7, Philosophische Fakultät, 17. Februar 1877, Bl. 6 v. Die Anmerkung in eckigen Klammern wurde im Fakultätsbericht am Ende gestrichen. 319 SHStAD, 10281/215, Bl. 20, 20. Mai 1886, Lipsius an Ministerium; Bl. 22, 31. Mai 1886, Gerber. 320 Neue Deutsche Biographie, Bd. 16, Berlin 1990, S: 122–125. 321 Rede des abtretenden Rektors Ernst Windisch, 31. Oktober 1896, in: Rektoratsreden, Bd. 1, S. 647.

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durch lockende Berufung an die Universität der Reichshauptstadt drohende Verlust von drei hochgeschätzten Collegen ist zu unserer grossen Freude dank dem Entgegenkommen der Königlichen Staatsregierung von uns abgewendet worden.“322 Um zu erfahren, warum die genannten Gelehrten für die Universität unbedingt erhaltenswert waren und sich die Regierung bemühte, den Verzicht auf einen „ehrenvollen Ruf“ an eine andere deutsche Schwester-Universität, oft eben Berlin, mit Rangerhöhungen, höheren finanziellen Zuwendungen, besseren Arbeitsmöglichkeiten vor Ort zu entschädigen, sollen einige in gebotener Kürze vorgestellt werden: Bernhard Windscheid, Adolf Wach, Wilhelm Kirchner, Heinrich Bruns. Bernhard Windscheid (1817–1892) gehörte zu den bedeutendsten Juristen seiner Zeit und selbstredend zu den herausragenden Mitgliedern der Universität Leipzig.323 Um 1900 zählte die Leipziger Juristenfakultät „damals in Deutschland wohl die besten Köpfe“324: Windscheid, Friedberg, Stobbe, Binding, Wach. Windscheids Berufung aus Heidelberg 1874 galt als „eine ganz vorzügliche […] Erwerbung“.325 Nach dem Einstieg in Bonn hatte dieser seinen ersten Lehrstuhl für Römisches Recht in Basel erhalten (1847–1852), von wo er nacheinander Rufe nach Greifswald, München und Heidelberg annahm. Das Amt in Leipzig bekleidete er bis zu seinem Tod, der als Verlust nicht nur für die Universität, sondern für die gesamte deutsche Wissenschaft empfunden wurde. „Und ein akademischer Lehrer ist er gewesen von Gottes Gnaden. Leben war für ihn gleichbedeutend mit Lehren, und darum hat er nur mit dem Leben vom Lehren gelassen.“326 Die Verleihung des Ehrenbürgerrechts durch den Rat der Stadt Leipzig zeigt seine Anerkennung auch in den städtischen Kreisen. Adolf Wach (1843–1926) reihte sich ein unter die einflussreichsten und bedeutendsten Zivilprozessrechtler seiner Zeit. Als Privatdozent war er von der Universität Königsberg zunächst für drei Jahre nach Rostock gegangen, wo er seine erste Professur für Zivilprozessund Strafrecht antrat, und hatte nachfolgend Rufe nach Tübingen (1871–1872) und Bonn (1872–1875) angenommen. Schon seine Berufung 1875 hatte sich das Kultusministerium etwas kosten lassen: 8040 Mark Jahresgehalt statt der ursprünglich angebotenen 6000 Mark, dazu 2000 Mark Umzugsentschädigung,327 zusätzlich ein Dispositionsquantum von 600 Mark für sein Seminar für Straf- und Prozessrecht.328 Die 1887 drohende Wegberufung nach Berlin329 ließ sich nur verhindern, indem das Kultusministerium, wie von Wach gewünscht, das Äquivalent der in Berlin gebotenen Summe bewilligte: der teure Kollege, „seines beson322 Rede des abtretenden Rektors Eduard Sievers, 31. Oktober 1902, in: Rektoratsreden, Bd. 1, S. 798. 323 Baumgarten, Berufungswandel und Universitätssystem, S. 104; Gerd Kleinbeyer / Jan Schröder (Hg.), Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten. Eine biographische Einführung in die Rechtswissenschaft, Karlsruhe / Heidelberg 1976, S. 301–304. 324 Gustav Radbruch, Der innere Weg. Aufriß meines Lebens, Göttingen 1961, S. 45, zit. nach Bernd-Rüdiger Kern, Rechtswissenschaft, in: Geschichte der Universität Leipzig, Bd. 4/1, S. 130. 325 Rede des abtretenden Rektors Adolf Schmidt, 31, Oktober 1874, in: Rektoratsreden, Bd. 1, S. 106. 326 Rede des abtretenden Rektors Justus Hermann Lipsius, 31. Oktober 1882, in: Rektoratsreden, Bd. 1, S. 548. 327 Es galt immerhin auch ein Äquivalent für die Bonner 13-Zimmerwohnung zu finden … (Unger, Adolf Wach [1843–1926] und das liberale Zivilprozessrecht, S. 64). 328 SHStAD, 10281/299, Bl. 2v–4, Dresden, 2. März 1875, Kultusministerium an das Universitätsrentamt. 329 SHStAD, 10281/299, Bl. 61, Leipzig, 21. Mai 1886, Wach an Ministerium.

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deren Wertes wohl bewusst“,330 erhielt 12.900 Mark Jahresgehalt.331 Um jeden Preis sollte seine Kapazität für die Landesuniversität erhalten bleiben, wie Kultusminister Gerber im dringenden Wunsch des Ministeriums intern festhielt, wenngleich er die Bewilligung des erbetenen Gehalts durchaus als „Opfer“ betrachtete: „Bei der Erwägung dieses Antrags mußte ich mir die Bedeutung Wach’s für die Juristenfacultät und die Universität überhaupt vergegenwärtigen. Sein Weggang würde einen völlig unersetzlichen Verlust bedeuten. Er ist, was seinen Vortrag betrifft, ohne Zweifel das hervorragendste Mitglied der Facultät. Als Schriftsteller auf dem Gebiete des Civilprocesses ist er ohne Zweifel der erste unter seinen jetzt lebenden Fachgenossen.“332

Von 1875 bis 1920 blieb Wach als Professor für Strafrecht, Strafprozess- und Zivilprozessrecht an der Leipziger Universität. Rufe nach Bonn (1879) und Berlin (1882) lehnte er ab. In den Bleibeverhandlungen erwirkte er eine Reduzierung seiner Vorlesungspflichten und die Ernennung zum Geheimen Hofrat.333 Sein Engagement außerhalb der Fakultät erstreckte sich auf die Interessengemeinschaft von Wissenschaft und Buchhandel;334 als Rektor war er Mitbegründer, Vorsitzender und neben Karl Bücher, der eine Denkschrift beisteuerte, aktives Mitglied des „Akademischen Schutzvereins“, der im Interesse der Wissenschaftler gegen die Abschaffung des Buchhandelsrabatts und damit die Verteuerung wissenschaftlicher Publikationen vorging. Ihr Einsatz für die bessere Honorierung wissenschaftlicher Publikationen und die kostengünstigere Überlassung von Autorenexemplaren provozierte ernste Störungen und juristische Streitigkeiten zwischen Wissenschaftlern und Buchhändlern.335 Wachs weit reichende Ambitionen zeigten sich 1891 in dem Wunsch, Gerbers Nachfolger als Kultusminister zu werden.336 Der allseits geschätzte Wissenschaftler war siebenmal Dekan der Juristenfakultät, einmal Rektor der Universität Leipzig und vertrat sie als Abgeordneter in Dresden auf zehn Landtagen zwischen 1899 bis 1918. Als ihn die Mehrzahl der Professoren bei einer ungewöhnlich regen Wahlbeteiligung im Juli 1908 für das bevorstehende Jubiläumsjahr der Universität neuerlich zum Rektor wählen wollte, bat er, von seiner Person absehen zu wollen, so dass Karl Binding – Wachs Freund aus Heidelberg, seit 330 So einer seiner Schüler: Hans Fritzsche in: Gustav Brennwald, In memoriam [Gedächtnisschrift für Adolf Wach], Zürich 1926, zit. nach Unger, Adolf Wach (1843–1926) und das liberale Zivilprozessrecht, S. 74. 331 SHStAD, 10281/299, Bl. 67, Dresden, 7. Mai 1887, Notiz Gerber (der König hatte am 4. Mai bereits zugestimmt). Siehe daher auch ebd., Bl. 66, 4. Mai 1887, Dresden, Telegramm Gerbers an Wach: „Gewünschter Gehalt für den Fall des Bleibens bewilligt.“ 332 SHStAD, 10281/299, Bl. 67, Dresden, 7. Mai 1887, Notiz Gerber. Gerber befürchtete außerdem, dass im Falle von Wachs Weggang auch andere Professoren, wie z. B. Stobbe, nachgezogen werden würden (Bl. 67v.). 333 SHStAD, 10281/299, Bl. 54, Dresden, 27. Juni 1882 (III. Klasse, Dekret des Königs Albert), Bl. 81, Dresden 18. Februar 1895 (II. Klasse, Dekret des Königs Albert). Dort auch alle weiteren (auch ausländischen) Ehrungen, Auszeichnungen und Orden. Siehe auch Unger, Adolf Wach (1843–1926) und das liberale Zivilprozessrecht, S. 97. 334 Rede des abtretenden Rektors Adolf Wach, 31. Oktober 1903, in: Rektoratsreden, Bd. 1, S. 821. 335 Ausführlich untersucht und dokumentiert in: Alexandra Haase, Karl Bücher und der Akademische Schutzverein, in: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte, Bd. 11 (2001/2002), S. 141–235. Siehe auch Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 1, Das Kaiserreich 1870–1918, Frankfurt a. M. 2001, S. 464–467. 336 Unger, Adolf Wach (1843–1926) und das liberale Zivilprozessrecht, S. 67.

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35 Jahren ebenfalls Jurist an der sächsischen Landesuniversität und eine ihrer „Koryphäen“ – gewählt wurde. Das Beispiel Adolf Wachs zeigt, wie weit das Kultusministerium zu gehen bereit war, wenn hervorragende, als unersetzlich geltende Vertreter der Wissenschaft für Leipzig erhalten bleiben sollten. Es zeigt aber auch das Verhandlungsgeschick und die Standfestigkeit äußerst selbstbewusster Gelehrter, die ihren Status am Ort immer noch weiter aufbessern konnten.337 Wilhelm Kirchner (1848–1921) war 1890 von einem Ordinariat in Göttingen nach Leipzig berufen worden, die Professur für Landwirtschaft an der Philosophischen Fakultät besetzte er bis zu seinem Tode. Das landwirtschaftliche Institut an der Universität Leipzig war schon 1869 entstanden und zählt zu den frühen Gründungen nach dem Vorbild von Halle (Halle 1863; Gießen 1871, Göttingen 1872, Königsberg 1876, Breslau 1881). Als Direktor des landwirtschaftlichen Instituts hatte Kirchner einen Neubau in der Johannisallee durchgesetzt, bis 1903 eine umfassende Neuorganisation des Instituts durchgeführt.338 Er bekam „trotz der weniger günstigen Finanzlage der letzten Jahre“ erhebliche Staatsgelder.339 Darin ist wohl der Grund seines Bleibens in Leipzig zu sehen. Der in Berlin geborene Heinrich Bruns (1848–1919) war nach vier Jahren Privatdozentendaseins in Dorpat zunächst als Extraordinarius für Mathematik an die Berliner Universität zurückgegangen, bis er 1882 zum Ordinarius für Astronomie in Leipzig und Direktor der Sternwarte berufen wurde. Auch er verstarb im Amt. Mit welchen Mitteln 1886 sein erneuter Weggang nach Berlin verhindert wurde, bleibt offen, dürfte aber einem immer wiederkehrenden Schema ähneln. Der Nationalökonom Karl Bücher, dessen Ruf nach Heidelberg im Dezember 1896 – er war 1892 aus Karlsruhe nach Leipzig gekommen – überhaupt nur mündlich verhandelt worden war,340 bekam alles zugestanden, was er gewünscht hatte: die Gleichstellung mit seinem Fachkollegen August Miaskowski, eine Gehaltserhöhung um 2000 Mark, 600 Mark für eine Assistentenstelle; das Ministerium hätte Bücher „gewiß den G. Hofrathtitel nachgeschmissen, wenn er davon geschnauft hätte“.341 Ministerialdirektor Waentig reiste eigens (an einem Sonntag!) nach Leipzig, um in der Privatwohnung des Gelehrten die Position des Ministers Seydewitz zu vertreten, der großen Wert auf Büchers Bleiben legte und dies vorab, wie häu337 SHStAD, 10281/299, Bl. 156–159, Brief Wachs an Ministerialdirektor Boehme, 12. November 1919: Das für die bevorstehende Pensionierung (April 1920) in Aussicht gestellte Ruhegehalt von 15.000 Mark – ein Betrag in dieser Höhe war bis 1919 nur in einem Falle bewilligt worden (Boehme, 21. November 1919, Bl. 160v.) – war ihm zu wenig, er wollte 20.000 Mark. Bewilligt wurden ihm 16.000 Mark. 338 Konrad Krause, Geschichte, S. 183. Allgemein: Susanne Reichrath, Entstehung, Entwicklung und Stand der Agrarwissenschaften in Deutschland und Frankreich, Frankfurt a. M. u. a. 1991; Volker Klemm, Agrarwissenschaften in Deutschland. Geschichte – Tradition. Von den Anfängen bis 1945, Deutschland. Katharinen 1992. 339 Wilhelm Kirchner, Das Landwirtschaftliche Institut der Universität Leipzig in seiner neuen Gestalt, seine Einrichtungen und seine Tätigkeit. Vortrag, gehalten […] am 8. Januar 1904, S. 2 (http://vlp. mpiwg-berlin.mpg.de/library/data/lit24819/index_html?pn=1&ws=1.5, aufgerufen am 20. September 2013.) 340 Wagner-Hasel, Die Arbeit des Gelehrten, S. 150 ff. Dennoch kursierte das Gerücht im gesamten Kollegenkreis, ein Beispiel für akademischen „Klatsch und Tratsch“. 341 Ebd., S. 152.

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figer festzustellen war, telegrafiert hatte. Aus der persönlichen Perspektive galt es auch die Zahl der eingeschriebenen Hörer zu kalkulieren: im kleinen Heidelberg hätte Karl Bücher nie 196 zahlende Hörer um sich scharen können, in Leipzig brachte ihm diese Zahl immerhin noch an die 3000 Mark Kolleggelder ein. Der Historiker Erich Marcks (1861–1938), für dessen Verbleib noch 1896 gesorgt worden war, erwies sich bald als relativ flüchtiger Gewinn, denn acht Jahre später verließ er die Leipziger Universität trotzdem. Der Weggang „dieses ausgezeichneten Lehrers und Collegen“ wurde auf das Lebhafteste bedauert. 1901 konnte er nicht zum Bleiben bewegt werden: Marcks folgte „einem ehrenvollen Ruf nach Heidelberg“,342 das er indes 1907 zugunsten des Kolonialinstituts Hamburg auch wieder verließ. Danach besetzte er von 1913 bis 1922 das Ordinariat an der Universität München. Als Schlusspunkt seiner Karriere nahm er einen Ruf nach Berlin an: von 1922 bis zu seinem Ruhestand 1928 wirkte er dort als Professor.343 Insgesamt sechs Universitäten steckten seine Laufbahn ab, ein Musterbeispiel akademischer Mobilität. Diese Rastlosigkeit kennzeichnete auch den klassischen Philologen Friedrich Marx (1859– 1941), der nacheinander die Lehrstühle in Rostock, Greifswald, Breslau, Wien, Leipzig – als Nachfolger des 1898 verstorbenen Otto Ribbeck – und schließlich Bonn besetzte. Für manche Professoren galt eben: „Die akademischen Lehrer Deutschlands sind Wandervögel.“344 Aus dem Kreis der Wissenschaftler, die sich an der Leipziger Universität habilitierten und Privatdozent wurden, gingen einige Koryphäen ihrer Fachgebiete hervor. Der Geologe Hermann Credner (1841–1913), 1870 zum außerordentlichen Professor der Geologie und Paläontologie ernannt, gründete im Oktober 1895 das Paläontologische Institut. Schon mit seinem Lehrbuch „Elemente der Geologie“ (1872) half er dem jungen Fach bei der Etablierung an der Universität. Der Anglist Richard Wülker (1845–1910) verbrachte ebenfalls seine akademische Laufbahn vollständig an der Universität Leipzig.345 1875 zum Extraordinarius, 1880 zum ordentlichen Professor für Englische Sprache und Literatur für den neu geschaffenen Lehrstuhl ernannt, steht er am Beginn der Institutionalisierung dieser Neuphilologie an der Leipziger Universität. Als die Philosophische Fakultät im Februar 1880 auf wissenschaftliche Lücken aufmerksam machte „aus Pflicht gegenüber der Universität, deren Blüthe ja dem Ministerium am Herzen liegt“, beantragte sie die Einrichtung zweier neuer Lehrstühle: für englische Sprache und Literatur sowie für Geometrie, wie bereits oben angeführt. Wunschkandidat für ersteren war der Leipziger Extraordinarius Wülker, der Dritte auf der Liste, auf der die Ordinarien Bernhard ten Brink (1841–1892), Straßburg, und Julius Zupitza (1844–1895), Berlin, standen.346 Ten Brink hatte bei der Teilung des Straßburger Seminars für neuere Sprachen 1874 den anglistischen Lehrstuhl erhalten. Zupitza war 1876 342 Zitate aus der Rede des abtretenden Rektors Paul Zweifel, 31. Oktober 1901, in: Rektoratsreden, Bd. 1, S. 773. 343 Angaben aus dem Professorenkatalog der Universität Leipzig (http://research.uni-leipzig.de/catalogusprofessorum-lipsiensium/). 344 Rede des abtretenden Rektors Adolf Wach 1903, S. 823. 345 Eduard Brüning, Die Akademiemitglieder Richard Wülker, Max Förster und Levin L. Schücking und ihr Beitrag zur Entwicklung der deutschen Anglistik, in: Wege und Fortschritte der Wissenschaft. Beiträge von Mitgliedern der Akademie zum 150. Jahrestag ihrer Gründung, hg. im Auftrag der Akademie von Günter Haase und Ernst Eichler, Berlin 1996, S. 574–579. 346 SHStAD, 10210/18, Bd. 10, Akten, die Ersetzung der ordentlichen Professuren bei der philosophischen Fakultät Leipzig betr. 1899–1936, Bl. 232–239, 5. Februar 1880.

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der erste ordentliche Professor für Englische Philologie in Berlin geworden und gilt als Begründer der englischen Philologie in Deutschland, allerdings mit einem auf die Philologie bis zum 16. Jahrhundert begrenzten Fachverständnis. Richard Wülker dagegen, der 1878 die noch heute existierende Fachzeitschrift „Anglia“ gegründet hatte, vertrat ein auf die neuere Literatur und Sprache erweitertes Fachkonzept, das auch die Kulturgeschichte einschloss; sein Hauptwerk, die „Geschichte der englischen Literatur“ (1896), erstreckte sich bis in das 19. Jahrhundert.347 Das englische Seminar der Leipziger Universität (1891) unter Richard Wülker348 galt nach der Jahrhundertwende als modern; einen vergleichbaren Stand erreichte Berlin erst unter Zupitzas Nachfolger.349 Obwohl die Gründung des englischen Seminars in Leipzig relativ spät erfolgte und die Universität damit auf Platz 19 stand, täuscht dieser „Indikator der endgültigen Integration eines Faches in den Universitätsbetrieb“350 darüber hinweg, dass die Professur Wülkers 1875/1880 zu den ersten anglistischen Professuren im Deutschen Reich überhaupt gehörte. Wie an den vielen Fällen zu sehen ist, orientierte sich die Universität Leipzig oft an Innovationen anderer akademischer Standorte, wenn es um die Einrichtung neuer Fächer und Strukturen ging; eine hier beschriebene Ausnahme bildete die Geometrie, während die relativ früh eingerichtete Professur für Landwirtschaftswissenschaft zur Entkräftung des Vorwurfs beitragen mochte, „die Universität trage den Forderungen der Gegenwart nicht genügend Rechnung“.351 Die Gelegenheit, eine angemessene Wegberufung an eine andere Hochschule zu initiieren oder den Verlust in Richtung einer konkurrierenden Universität zu verhindern, waren wichtige Motive für die Ausrichtung des Fächerspektrums. Nachfrage trat als Grund hinzu, etwa generiert durch das in Leipzig ansässige Reichsgericht (für die Juristen) oder den Ausbau der städtischen Infrastruktur an Museen und Sammlungen sowie des für Leipzig so wichtigen Verlagswesens352 oder anderer Kultureinrichtungen (für die Fächer der Philosophischen Fakultät). Die Verbindung zur Industrie blieb dagegen schwach. Gerhard Seeliger sprach die bescheidene Unterstützung der Wissenschaft von privater Seite an: „Noch haben bei uns die großen Vermögen, die mitunter der Wissenschaft recht viel verdanken, den Rückweg zur Wissenschaft nicht gefunden, noch sind die Inhaber der großen Vermögen mit ihrem materiellen Dank für das, was ihnen mittelbar und unmittelbar die Wissenschaft gebracht hat, allzu zurückhaltend.“353 347 Marie-Luise Bott, Mittelalterforschung oder moderne Philologie? Romanistik, Anglistik, Slavistik 1867–1918, in: Geschichte der Universität unter den Linden 1810–2010. Genese der Disziplinen. Die Konstitution der Universität, Bd. 4, hg. von Heinz-Elmar Tenorth, Berlin 2010, S. 339–392, hier S. 362. 348 Geschichte der Universität Leipzig, Bd. 4/1, S. 513–516. 349 „Mit alledem war das Berliner Seminar so vorbildlich aufgestellt wie nur noch die Leipziger Anglistik erst nach der Jahrhundertwende unter Richard Wülker bzw. ab 1925 unter Levin Ludwig Schücking.“ Marie-Luise Bott, Mittelalterforschung oder moderne Philologie?, S. 367. 350 Bernhard vom Brocke, Wege aus der Krise: Universitätsseminar, Akademiekommission oder Forschungsinstitut. Formen der Institutionalisierung in den Geistes- und Naturwissenschaften 1810–1900– 1995, in: Christoph König / Eberhard Lämmert (Hg.), Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900, Frankfurt a. M. 1999, S. 191–218, hier S. 194. 351 Rede des antretenden Rektors Dr. Wilhelm Kirchner, 31. Oktober 1899, S. 731. 352 Die Ehrenpromotion dreier Buchhändler anlässlich des Jubiläums von 1909 demonstrierte „die sehr notwendige hohe Schätzung dieses wichtigsten Leipziger Gewerbes“. Die Jubelfeier der Leipziger Universität, in: Leipziger Tageblatt, Nr. 210. 31. Juli 1909. 353 Rede des abtretenden Rektors Gerhard Seeliger, 31. Oktober 1906, in: Rektoratsreden, Bd. 2, S. 887.

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In Zeiten guter Finanzlage gab es gleichwohl eine Garantie für den Ausbau und Bedeutungszuwachs der einzigen sächsischen Landesuniversität; wenn auch die Ministerialen nicht mit „großen Vermögen“ dienen konnten, durfte die Universität mit ihrer Behandlung insgesamt zufrieden sein. Die von den Rektoren und Ordinarien öffentlich und auf dem Korrespondenzweg sowie die in den Debatten der Philosophischen Fakultät verhandelten Kriterien der Selbstwahrnehmung und -beurteilung umschließen Forschung, Unterricht und studentische Frequenz als qualitative Einheit, die den Kern der Universität bildet. Die Qualität der Berufungen, die begleitenden Beurteilungen und Kontroversen sind im Einklang zu sehen mit dem im ersten Abschnitt untersuchten Auszeichnungskriterium „Arbeitsuniversität“, das Leipzig als Ruhmestitel für sich reklamierte. Vor diesem Hintergrund ergibt sich nun die Frage, welche Haltung gegenüber dem Projekt einer Universität in Dresden eingenommen wurde.

4. Die Debatte um die Errichtung einer Universität in Dresden und die Implikationen für Leipzig „Hoffen wir, daß Dresden in wenigen Jahren seine Friedrich­August­Universität haben wird.“354

4.1 „Landesuniversität“ und „Weltuniversität“ „Leipzig hat sich zu einer der großen Arbeits­Universitäten des Reichs entwickelt. Wir haben ihrer nicht allzu viele! So gilt es, sie zu pflegen und in ihrer Eigenart zu erhalten, sie aber nicht zu gefährden!“355

Das Selbstbewusstsein der traditionsreichen Leipziger Universität, gerade zur Zeit ihres fünfhundertsten Jubiläums, beruhte wesentlich auf zwei Dingen: Sie war die einzige sächsische Landesuniversität und zugleich eine der größten des Deutschen Reiches. Dieses festgefügte Bild und die damit verbundene Position in der Universitätslandschaft wurde eine Zeit lang in Frage gestellt durch eine gänzlich unerwartete, der Universität Leipzig von außen aufgezwungene Diskussion, die zur Notwendigkeit einer – sonst kaum eingeforderten – expliziten Begründung ihres zuvor als selbstverständlich hingenommenen Status und ihrer Funktion für Staat und Gesellschaft in Sachsen und im Reich führte. Ausgelöst wurde die Debatte durch die Idee, in der sächsischen Landeshauptstadt eine neue Universität zu errichten. Die Jahre 1912 und 1913 waren in Leipzig geprägt von dem Streit um dieses Projekt. Mehrere mögliche Universitätsgründungen in Großstädten (Frankfurt am Main, Dresden, Hamburg) waren seit 1911 sogar zentrales Thema der allgemeinen deutschen Reformdiskussion über Hochschulwesen und Wissenschaftsorganisation, das – parallel zur Diskussion um Forschungsinstitute – Befürchtungen über den wachsenden „Groß354 National-Hygiene-Museum und Universität in Dresden?, Dresden 1912, S. 30, zit. nach Rainer Pommerin, Geschichte der TU Dresden 1828–2003, Köln / Wien 2003, S. 99. 355 Karl Binding über die Dresdener Universitätsfrage, Sonderdruck aus den Nrn. 101 und 102 vom 13. u. 14. April 1913 der Leipziger Neuesten Nachrichten (unpag. SHStA Dresden, Ministerium des Kultus und Öffentlichen Unterrichts, Universität Leipzig, Personalakten, 10281/94: Acta, den Professor Dr. jur. Ludwig Karl Binding in Leipzig betr., Bl. 81).

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betrieb der Wissenschaft“356 und die Auswirkungen auf das tradierte Gefüge der deutschen Universität überhand nehmen ließ.357 Schon bevor man sich in Leipzig damit auseinandersetzen musste, hatten die Diskussionen um die (1911 eingeleitete, 1914 realisierte) Frankfurter Gründung die bürgerliche und akademische Öffentlichkeit erregt. Doch Frankfurt am Main war, von Leipzig aus gesehen, relativ weit entfernt und die anvisierte Gründung einer Stadtuniversität, die mit Stiftungsgeldern der wohlhabenden Bürgerschaft finanziert werden sollte, konnte Leipzig, der Messeund Handelsstadt mit einem starken Bürgertum, nicht grundsätzlich fremd sein. Warum bewegte dann die Vorstellung, in Dresden könnte eine zweite sächsische Universität entstehen, so außerordentlich die Gemüter der Leipziger Professoren? Welche Interessen kamen in der Auseinandersetzung zum Tragen? Wofür ist die Debatte ein Indiz? Diese Universitätsdebatte ist Ausweis und Ergebnis eines strukturellen Umbruchs im Hochschulwesen. Es werden Konflikte um die Anerkennung der Gleichwertigkeit anderer Hochschultypen – in Dresden neben der Tierärztlichen die Technische Hochschule – thematisiert. Hierin spiegeln sich die allgemeinen Probleme der „Emanzipation der Technik“ im Kaiserreich wider.358 Sie ist aber auch Reflex eines Wandels des Charakters der Wissenschaft um 1900 und daher von allgemeinem wissenschaftsgeschichtlichem Belang. Die Debatte legt mehrere Dinge offen: a) das Prestige einer Universität für eine Stadt schlechthin, gleichsam ein Signum der Urbanität, weshalb sich in Dresden auch universitätsferne Instanzen (Bürgerschaft, Stadtverordnete, Tourismusexperten u. ä.) Vorteile errechneten; als würde die Existenz einer auch nur mittleren oder kleinen Universität allein ausreichen, eine Stadt aufzuwerten; b) dieses Prestige steht im Widerspruch zur gesunkenen Bedeutung, der abgeschwächten sozialen Macht der Gelehrten gegenüber dem Handels- und Wirtschaftsbürgertum, gegenüber Presse und parlamentarischer Politik; dem gesunkenen sozialen Ansehen eines Universitätsprofessors gegenüber dem eines Wirtschaftskapitäns oder eines Zeitungsredakteurs359; c) die hochgradige Schwierigkeit einer ausgewogenen Kalkulation des finanziellen Aufwands für die Schaffung einer neuen akademischen Einrichtung in Zeiten des enormen Anstiegs der Staatskosten für Universitätsangelegenheiten; d) die teils sehr unterschiedlichen Vorstellungen von dem notwendigen bzw. entbehrlichen Bestand einer Universität. Die Debatte zeigt überdies die Sensibilität der Leipziger Professoren, die über die notwendige wie wünschenswerte ideelle und materielle Ausstattung einer Volluniversität bestens informiert waren und mit Sachverstand – teils gepaart mit fachlichem Egoismus – ihre 356 Adolf Harnack, Vom Großbetrieb der Wissenschaft [8. Januar 1905], in: Preußische Jahrbücher, 119. Bd. (Januar bis März 1905), Berlin 1905, S. 193–201. 357 Rüdiger vom Bruch, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland (1890–1914), Husum 1980, S. 110. 358 Allgemein ebd.; ausführlich Karl-Heinz Manegold, Universität, Technische Hochschule und Industrie, bes. S. 253 ff. 359 Der Psychologe und Wundt-Schüler Ernst Meumann (1862–1915) hat diesen Status- und Wahrnehmungswandel zum 80. Geburtstag Wilhelm Wundts 1912 zugespitzt formuliert und die Ausnahmestellung Wundts damit begründet, dass er einer der wenigen, wenn nicht der einzige deutsche Gelehrte sei, von dessen Geburtstag die Öffentlichkeit überhaupt noch Notiz nehme. Ernst Meumann, Wilhelm Wundt. Zu seinem achtzigsten Geburtstag, in: Deutsche Rundschau 1911/1912, Nr. 22, 15. August 1912, S. 264–295.

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Verunsicherung angesichts der drohenden Konkurrenzgefahr überspielten. Gleichzeitig zeigt sie die abgeklärte Überlegenheit derselben Professoren als akademischer Praktiker, die die Emanzipationskämpfe neuer Fächer und Disziplinen, auch der „Orchideendisziplinen“ – Karl Lamprecht erinnert an die „Exzesse in der Errichtung separatistischer Professuren für winzige Einzeldisziplinen“360 –, seit Jahren hinter sich gelassen hatten. Die Analyse der Streitschriften bündelt und widerspiegelt unmittelbar die zeitgenössischen kontroversen Auffassungen über das Bedürfnis nach neuen Universitäten überhaupt, über die Zentralisierungstendenz im Hochschulwesen, die „Überfüllungsfrage“, die Dimensionen der Ausstattung einer Universität und die gesellschaftlichen Anforderungen an die Universität in Leipzig, Dresden und Sachsen. In der sächsischen Debatte kristallisiert sich die allgemeine Diskussion im Wilhelminischen Reich, und sie demonstriert, dass Konkurrenzdenken und Reformfreudigkeit keine friedliche Koexistenz bildeten.

4.2 Der Ausgangspunkt: Die Krise der Tierärztlichen Hochschule in Dresden Ausgangspunkt der Dresdner Gründungsidee war die Situation der dortigen Tierärztlichen Hochschule. Die 1780 gegründete Tierarzneischule in Dresden, eine einfache Fachschule zur eher handwerklichen Ausbildung von Tierärzten mit Anwärtern überwiegend geringerer Bildungstiefe, wurde 1889 – zwei Jahre nach den preußischen Tierarzneischulen Berlin und Hannover – in den Rang einer Königlichen Tierärztlichen Hochschule erhoben361 und damit die Tiermedizin faktisch als Wissenschaft anerkannt. Der Gymnasialabschluss wurde 1902 reichsweit zur Bedingung dieses Studiums gemacht. In der Dresdner Hochschule wurde die Rektoratsverfassung 1903 eingeführt (wie auch eine Habilitationsordnung), nach Berlin (1887), aber vor München (1911) und Hannover (1912).362 Der Tiermediziner Wilhelm Ellenberger, über den noch zu sprechen sein wird, wurde 1903 zum ersten Rektor der Hochschule ernannt. Die Einführung des Promotionsrechtes für Tierärzte 1907 ist wesentlich sein Verdienst, es bestand in einem gemeinsamen Promotionsverfahren mit der Universität Leipzig; zuvor konnte ein angehender Tiermediziner nur in Gießen, Zürich und Bern promovieren.363 Die Veterinärmedizin gehörte aber schon längst zu denjenigen Disziplinen, die „einer hochschulmässigen Gestaltung der Berufsausbildung“364 zudrängten. In Gießen, Zürich und Bern waren die Tierärztlichen Hochschulen bereits eigenständige Fakultäten der Universität; in Leipzig wurde gerade dies, der institutionelle und damit verbunden der wissenschaftliche Standort der Veterinärmedizin, als Problem gesehen und über viele Jahre und viele Missverständnisse hinweg diskutiert. 360 Karl Lamprecht, Rektoratserinnerungen, S. 73. 361 Universität Leipzig, Bd. 4/2, S. 1422. Eine entsprechende Überlegung kursierte aber schon seit 1880 beim Ministerium. Im Jahr 1900 hatte die Dresdner Tierärztliche Hochschule 15 Dozenten (darunter elf Tierärzte) und 175 Studenten, ebd. 1914 bestand der Lehrkörper bereits aus zehn ordentlichen Professoren, fünf außerordentlichen Professoren, sieben Dozenten und elf Privatdozenten. Ebd., S. 1425. 362 Universität Leipzig, Bd. 4/2, S. 1423. Als 1909 das Wahlrektorat eingeführt wurde, hatte „die Dresdner Ausbildungsstätte in vollem Umfang den Charakter einer Hochschule erlangt“ (ebd.). 363 Universität Leipzig, Bd. 4/2, S. 1423 f., 1426 ff. („Der lange Weg nach Leipzig 1895–1923“). 364 Rede des antretenden Rektors Karl Bücher, 31. Oktober 1903, in: Rektoratsreden, Bd. I, S. 835.

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Karl Bücher vertrat 1903 in seiner programmatischen Antrittsrede als Rektor „Über alte und neue Aufgaben der deutschen Universitäten“ dezidiert die Meinung, dass einer allgemeinen Übertragung der Tiermedizin an die Universitäten „um so weniger etwas im Wege [steht], als überall da, wo die Landwirtschaftswissenschaften der Universität angehören, sie als deren Hilfsdisziplin gepflegt werden muss“.365 Interessanterweise kam aber in der gesamten weiteren Auseinandersetzung die Landwirtschaftswissenschaft gar nicht zur Sprache. In Dresden konnte die Tierärztliche Hochschule nicht ihrem wachsenden Raum- und Ausstattungsbedarf entsprechend expandieren. Die Entwicklung der Veterinärmedizin als Wissenschaft und die soziale Stellung der Tierärzte waren das dahinterstehende größere Problem. Diese wünschten einen Anschluss an eine Universität, was von Seiten der Leipziger aus verschiedenen Gründen mehrheitlich begrüßt wurde, obwohl die Universität selbst ein eigenes Veterinärinstitut samt Klinik besaß. Kontrovers war allerdings der zukünftige institutionelle Ort der Dresdner Hochschule – Bestandteil der medizinischen Fakultät, selbstständige Fakultät oder eigenständige Position neben der Universität, vergleichbar der Handelshochschule? Im Hintergrund der städtischen Überlegungen stand aber auch die erwähnte erfolgreiche Etablierung der Stiftungsuniversität Frankfurt am Main, die aus einer Zusammenfassung verschiedener, in der Stadt ansässiger Institute zu einer gemeinsamen Körperschaft hervorgegangen und von den Stadtvätern energisch vorangetrieben worden war. (Auch der Senat der Leipziger Universität befasste sich selbstverständlich mit der Frankfurter Universitätsgründung, kam aber nicht zu einer einheitlichen Stellungnahme.366 Ganz anders sah die Sache aus, als es um die konkrete Auseinandersetzung mit dem Dresdner Problem ging.) Warum sollte ein Gleiches in Dresden nicht auch möglich sein – die Technische und die Tierärztliche Hochschule zum Nukleus einer neuen Forschungs- und Ausbildungsanstalt zu machen und die anderen Einrichtungen, wie etwa Kliniken, einzubinden? Während der Umzug nach Leipzig die Unterstützung der Tierärzteschaft Sachsens fand, wollten die Stadt Dresden und ein großer Teil der Bürgerschaft das akademische Institut in Dresden behalten. Aus diesem Streben entstand die Idee, den drohenden Verlust mit dem „Hilfsmittel“ einer gänzlich neuen Universität abzuwenden. In Leipzig reichten angesichts der intensiven Erörterungen in den akademischen Gremien schon einige Anspielungen des Theologen Georg Heinrici in seinem Rektoratsbericht im Oktober 1912, um den Kollegen den Kontext in Erinnerung zu rufen: Der Status Leipzigs als „Landesuniversität“ stand auf dem Spiel, obwohl sich Leipzig seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert „als Landesuniversität bewährt und als Weltuniversität behauptet“ habe. Inzwischen war in Dresden die Schrift „Zur Frage der Errichtung einer Universität in Dresden“ erschienen – der Verfasser verbarg sich hinter dem Pseudonym „Philacademicus“ –, die Dresdner Tagespresse hatte im Juni 1912 den Gedanken einer „Hauptstadtuniversität“ erstmals geäußert. 365 Ebd. 366 Brief des Rektors Karl Lamprecht an Karl Bücher, Leipzig, 22. Dezember 1910, Universitätsbibliothek Leipzig, Nachlass Karl Bücher, NL 181/La 57–60. Karl Binding, Karl Bücher und Paul Flechsig vertraten unterschiedliche Meinungen. Die Mehrheit der Kommission hatte sich dem Bericht Bindings angeschlossen. Flechsig vertrat den Standpunkt, den Frankfurtern sei von der Gründung einer Universität abzuraten und vielmehr ein Ausbau der bestehenden Institute zu Forschungsinstituten zu empfehlen (Bl. 57, 58).

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„Bedarf Sachsen einer zweiten Universität Leipzig, die doch auch den Anspruch erheben müßte auf den ersten Rang? […] wir vertrauen darauf, daß die wohlgewürdigte Bedeutung Leipzigs als der Landesuniversität bei allen Verhandlungen über neue Universitätsgründungen, wie sie heute in der Luft liegen, den Ausschlag geben wird.“367

Der nächste Rektor, der Astronom Heinrich Bruns, widmete in seinem Jahresbericht derselben Angelegenheit eine lange Passage und kritisierte die Einmischung „unverantwortliche[r] Ratgeber“ „hinter den Kulissen“; wen und was er damit meinte, wird in diesem Abschnitt untersucht. „Es ist nun lehrreich zu sehen, wie man, um eine Fachschule von der Stärke einer mittleren Fakultät festzuhalten, zu dem Projekt greift, um die Fachschule eine Volluniversität herumzubauen, an die man unter anderen Verhältnissen überhaupt nicht gedacht hätte. […] Es ist recht schwer, eine Weltuniversität zu schaffen, noch schwerer sie auf der Höhe zu halten, kinderleicht dagegen, sie in einem Jahrzehnt gründlich zu ruinieren.“368

Die Geringschätzung, mit der ein Professor, der nach eigener Einschätzung einer „Weltuniversität“ (!) angehört, auf Fachschulen herabschaut, kennzeichnet Bruns vier Jahre nach der bemerkenswerten Festrede Wilhelm Wundts zum Jubiläum 1909 als einen universitätspolitisch wenig versierten Anhänger der alten Universität. Deren Anpassung an die aus dem gesteigerten Hochschulzudrang hervorgehenden neuen Aufgaben und Strukturen war unausweichlich. Dazu gehörten insbesondere die Entwicklung der Technischen Hochschulen zu Volluniversitäten und die – bereits vielfach geschehene – Angliederung der landwirtschaftlichen Hochschulen, der Tierarzneischulen, der zahnärztlichen Lehranstalten und Institute an die Universitäten. Das verlangte von der Universität Konzeptionen („eine planvoll vorgehende Organisation“369), nicht aber unbegründete Ablehnung, wie der betagte Wundt in einer ebenso komplexen wie klugen Argumentation aufgezeigt hatte: Es handele sich nicht darum, „wie die neu sich regenden Bedürfnisse den alten Zwecken der Hochschule unterzuordnen seien, sondern umgekehrt, wie die alte Hochschule den ihr gestellten neuen Zwecken gerecht werden könne. Und das ist in Wahrheit die Situation, der wir heute gegenüberstehen […] der Gang der Geschichte ist unaufhaltsam. Mit elementarer Gewalt drängen die Forderungen der Gesellschaft zu ihrer Erfüllung, und den Hochschulen selbst steht es am wenigsten zu, sich diesem Streben nach Erweiterung und mannigfaltigerer Gestaltung ihrer Bildungswege und Bildungsmittel zu widersetzen.“370

Diese Auffassung teilten Karl Lamprecht und Karl Bücher, beide höchst exponiert, beide universitätspolitisch und -reformerisch stark engagiert. Eine eingehende Studie über die Kontro367 Georg Heinrici, Bericht über das Studienjahr 1911/12, in: Leipziger Rektoratsreden, Bd. II, S. 1039 f. 368 Rede des abtretenden Rektors Heinrich Bruns, 20. November 1913, in: Leipziger Rektoratsreden, Bd. II, S. 1064 (Hervorhebung K. M.). 369 Wilhelm Wundt, Festrede zur fünfhundertjährigen Jubelfeier der Universität Leipzig. Mit einem Anhang: Die Leipziger Immatrikulationen und die Organisation der alten Hochschule, Leipzig 1909, S. 52. 370 Ebd., S. 47. „Daß sich eine Generation, die in den Traditionen der alten Hochschule aufgewachsen ist, in die neue Situation, der wir hier gegenüberstehen, nicht immer zu finden weiß, ist ja begreiflich.“ „Wer in der Stille des gelehrten Berufslebens früherer Tage aufgewachsen ist, dem kann es darum zuweilen wohl in dem bunten Nebeneinander, dem Drängen und Stoßen, in dem sich diese gesellschaftlichen Kräfte in ihren Anforderungen an die Hochschule begegnen, unheimlich zu Mute werden.“ Ebd., S. 50.

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versen zur Universitätsreform in den breiteren Kreisen der Leipziger Alma Mater steht aus. Doch allein die Konfrontation des Senats mit den Ambitionen der Dresdner Tierärzte und der drohenden Neugründung einer sächsischen Hochschule löste blinde Reflexe aus und schuf ein Diskussionsklima, in dem für eigene Reformpläne kein Platz zu sein schien. Es bestätigt sich, was schon anhand der Rektoratsreden festzustellen war: Die Universität Leipzig verfügte über profilierte Reformanhänger, die sich auch national Gehör zu verschaffen wussten. Die Mehrheit in Senat und Fakultäten allerdings pflegte eher parochial zu denken und verharrte in Prestigedenken. In Ausnahmefällen konnten sich die Reformer mit dem Hinweis auf nötige Anpassungen an die Dynamik der Zeitverhältnisse durchsetzen, aber wie der Gang der Diskussion um die Erweiterung der sächsischen Hochschullandschaft belegt, sollte man ihr Renommee nicht mit der Mehrheitsmeinung verwechseln, die auf Abwehr des Neuen setzte. Die Argumente der Debatte berührten mehrere Ebenen, die stichpunktartig genannt seien. 1. Auf Leipziger Seite wurde im Zusammenhang der Idee, in Dresden eine Universität zu errichten, stets mit erörtert, was „Landesuniversität“ bedeutet, wo doch die Universität Leipzig zugleich „Weltuniversität“ sein wollte. 2. Die ökonomische Seite, die Distribution der Staatsmittel für den Fall der Existenz zweier Landesuniversitäten, fiel durchaus schwer ins Gewicht und war mit dem Anspruch der bisher einzigen Landesuniversität (eben als „Weltuniversität“) nicht zu vereinen. 3. Gleiches galt für den Statusverlust, den eine der drei größten Universitäten Deutschlands hinzunehmen hätte, wenn sie, wie zu befürchten war, nunmehr eine „mittlere“ Universität werden würde. 4. Das Leipziger Veterinärinstitut könnte dagegen im Fall der Angliederung der Dresdner Tierärztlichen Hochschule durch die Integration eines vollständig organisierten Ausbildungszweiges einen qualitativen Sprung erwarten. 5. Die Stadt Leipzig handelte in ihrem eigenen Interesse, wenn sie den Umzug der Tierärztlichen Hochschule förderte. 6. Dresden wurden zwar dieselben städtischen Interessen zugebilligt, allerdings sofort delegitimiert, weil man sich dort mehrheitlich auf außerwissenschaftliche Argumente und „nicht verantwortliche Ratgeber“371 stütze. 7. Die Professoren und Tierärzte Dresdens würden (mehrheitlich) einen Umzug an die renommierte Leipziger Universität präferieren. 8. Ein aus damaliger wie heutiger Sicht durchaus innovativer Vorschlag des Dresdner Pseudo-Anonymus „Philacademicus“ über die moderne Struktur der Institution „Universität“ gab den Anlass zu einer weiterreichenden Auseinandersetzung um die Zukunft der Institution, an der sich nicht nur die Universität Leipzig als Körperschaft, sondern etliche Gelehrte individuell beteiligten. 9. Das Kultusministerium hatte ein ökonomisches Interesse an der Verlegung der Dresdner Tierärztlichen Hochschule nach Leipzig, da die erforderlichen Neubauten in Dresden eine Million Mark teurer zu veranschlagen seien. 371 Rede des abtretenden Rektors Heinrich Bruns, 20. November 1913, in: Leipziger Rektoratsreden, Bd. II, S. 1064.

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10. Nicht zuletzt spielte das schier ewig währende städtische Konkurrenzdenken eine Rolle, in dem es letztlich auf ein Nullsummenspiel hinausliefe: Was Leipzig verlor (an Status, Finanzen …), könne sich die Residenzstadt gutschreiben, und was Dresden abzugeben habe, sei ein Gewinn für Leipzig.

4.3 Die Protagonisten Der Gedanke, die Tierarzneischule an eine neu zu bildende Universität in Dresden anzubinden und so die Übersiedlung nach Leipzig abzuwenden, hatte zwei Urheber und einflussreiche Fürsprecher: Karl Heinrich Moritz Waentig (1843–1917), Ministerialdirektor im sächsischen Kultusministerium und zuständig für die Universität Leipzig und die Technische Hochschule Dresden – er war besagter „Philacademicus“ –,372 und mehr noch Gustav Otto Beutler (1853–1926)373, von 1895 bis 1916 Oberbürgermeister von Dresden. Der Ausbau Dresdens zur Großstadt, besonders durch die Eingemeindung zahlreicher Vorstädte, war namentlich dem Juristen Beutler zu verdanken. 1910 zählte Dresden knapp 550.000 Einwohner.374 Otto Beutler war energischer Verfechter einer städtischen Modernisierung und des kommunalen Erfahrungsaustauschs; die 1905 erfolgte Institutionalisierung des „Deutschen Städtetages“ – anlässlich der ebenfalls auf seine Initiative hin im September 1903 in Dresden gezeigten großen „Deutschen Städteausstellung“375 rief er ihn erstmals ins Leben – geht auf Beutler zurück. Da ihm die Förderung des wissenschaftlichen und künstlerischen Lebens in Dresden am Herzen lag, war auch die Idee einer Universität in der Landeshauptstadt aus seiner Sicht vollkommen schlüssig, zumal er damit seine amtliche Tätigkeit hätte krönen können.376 Durch seine Arbeit im Sächsischen Finanzministerium (1888–1893 war Beutler Geheimer und Vortragender Rat) verfügte der Kommunalbeamte zudem über Fachwissen und nützliche Kontakte. Er reiste nach München, Gießen, Frankfurt am Main, 372 Siehe seine einschlägigen Schriften: Zur Frage der Errichtung einer Universität in Dresden von Philacademicus, Dresden 1912; Zur Reform der deutschen Universitäten [v. a. Nichtordinarienfrage], Berlin 1911 (Auszug in: Die Grenzboten, Nr. 19 [10. Mai 1911], S. 246–259. 373 Barbara Hillen, Beutler, Gustav Otto, in: Sächsische Biografie, Hg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e. V., bearb. von Martina Schattkowsky, Online-Ausgabe: http://www.isgv.de/ saebi/ (aufgerufen am 10. September 2013). 374 Geschichte der Stadt Dresden. Bd. 3: Von der Reichsgründung bis zur Gegenwart, hg. von Holger Starke, Stuttgart 2006, S. 33; s. a. Gabriela B. Christmann, Dresdens Glanz, Stolz der Dresdner. Lokale Kommunikation, Stadtkultur und städtische Identität, Wiesbaden 2004, S. 84 f. 375 Die Grossstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung [Karl Bücher: Die Grossstädte in Gegenwart und Vergangenheit; Friedrich Ratzel: Die geographische Lage der grossen Städte; G. von Mayr: Die Bevölkerung der Grosstädte; Heinrich Waentig: Die wirtschaftliche Bedeutung der Grossstädte; Georg Simmel: Die Grossstädte und das Geistesleben; Theodor Petermann: Die geistige Bedeutung der Grossstädte; Dietrich Schäfer: Die politische und militärische Bedeutung der Grossstädte; Robert Wuttke, Die deutschen Städte. Geschildert nach den Ergebnissen der ersten deutschen Städteausstellung zu Dresden 1903, 2 Bde., Leipzig 1904. Anlässlich der Ausstellung erschienen etliche weitere Darstellungen etwa zur Geschichte Dresdens als werdender Großstadt. Siehe zuletzt Johannes Moser, Dresden 1903. Georg Simmels Städte-Vortrag, die Gehe-Stiftung, die Deutsche Städteausstellung und der Erste Deutsche Städtetag, in: Volkskunde in Sachsen 16 (2004), S. 189–229. 376 Siehe Gustav Otto Beutler, „Vortrag über die Erhaltung der Tierärztlichen Hochschule in Dresden und die Errichtung einer Universität daselbst“, o. O. u. J. (Dresden 1913).

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Münster und Berlin, um Informationen über Kosten und Organisationsstruktur von Universitäten einzuholen.377 Der Wirkliche Geheime Rat Karl Heinrich Waentig kannte sich nicht nur in den Angelegenheiten der Universität Leipzig aus, sondern war auch über die anderen deutschen Universitäten wohlinformiert, nicht zuletzt wegen seiner Funktion als Vorsitzender der „Konferenz deutscher Unterrichtsverwaltungen in Hochschulangelegenheiten“ (1898–1900).378 Der Zittauer Fabrikantensohn, der in Heidelberg und Leipzig studiert hatte, engagierte sich aus Gründen, die nicht mehr alle nachvollziehbar sind, für die hier interessierende akademische Aufwertung der sächsischen Landeshauptstadt; sein jüngerer Bruder Paul musste die Unternehmerlaufbahn einschlagen. Der familiäre Hintergrund mag dazu beigetragen haben, dass Waentig in der Frage der Aufwertung der Technischen Hochschulen, der Einführung eines eigenen technischen Doktorgrades u. ä. sensibel war für die gewachsenen, gleichwohl speziellen Bildungsbedürfnisse in Industrie und Handel. Die Leipziger Universität wusste ihn zu schätzen, womöglich auch deshalb, weil er weniger energisch als Beutler und mehr in einer idealistischen Perspektive die Dresdner Universitätsfrage betrieb. Anlässlich seines Todes würdigte jedenfalls der Rektor Waentigs Leistungen für die Universität Leipzig: „Heinrich Waentig war Ehrendoktor der philosophischen Fakultät unsrer Hochschule. In den langen Jahren seiner amtlichen Tätigkeit war er aufs Nachdrücklichste bedacht, das Ansehen und den Ruhm unserer alten ehrwürdigen Akademie zu fördern. Erhebliche Neu- und Umbauten an unserer Universität fallen in seine Zeit. Das Landwirtschaftliche Institut, das Veterinärinstitut, das Physikalische, das Zahnärztliche, das Pathologische, das Hygienische Institut und manche andere wertvolle Errungenschaften verdankt man ihm. Viele segensreiche Neuerungen und Verbesserungen sind mit seinem Namen verknüpft. Die Universität wird das Andenken an den verdienten und unermüdlichen Förderer ihrer Bestrebungen immer hoch halten.“379

Beutler und Waentig waren beide Mitglied in der Ersten Kammer des sächsischen Landtags, Beutler als Oberbürgermeister von Amts wegen, ebenso wie der Leipziger Oberbürgermeister, in diesem Falle Rudolf Dittrich (1855–1929), der 1908 bis 1917 wirkte und während des Universitätsjubiläums die Stadt repräsentierte. Neben den gedruckt oder als Manuskript vorliegenden Stellungnahmen kann als sicher gelten, dass sich zwischen diesen Personen, denen neben den Ministerialen noch der jeweils zum Mitglied der Ersten Kammer gewählte Professor der Universität hinzuzurechnen ist (über Jahre hinweg der Jurist Adolf Wach), etliche mündliche Unterhandlungen abspielten, die die Entwicklung des Universitätsplans für Dresden beeinflussten. Wach berichtete jedenfalls im Senat der Leipziger Universität von seinen Unterredungen mit dem Geheimen Rat und Juristenkollegen Georg Schmaltz vom Kultusministerium. Die „Dresdner Nachrichten“ vom 9. Juni 1912 erhoben – der Autor ist unbekannt geblieben – unter dem Titel „Eine Universität Dresden“ zuerst die Forderung nach dem Verbleib der Tiermedizin in Dresden und verbanden dies mit dem Vorschlag einer Universitätsgründung. Auch der „Dresdner Anzeiger“ widmete sich am 12. Juni 1912 dem Thema und fragte direkt: „Warum könnte man nicht den umgekehrten Weg gehen, die Technische 377 Pommerin, Geschichte der TU Dresden, S. 98. 378 Hochschulpolitik im Föderalismus. Die Protokolle der Hochschulkonferenzen der deutschen Bundesstaaten und Österreichs 1898 bis 1918, hg. von Bernhard vom Brocke und Peter Krüger, Berlin 1994. 379 Rede des abtretenden Rektors Wilhelm Stieda, 31. Oktober 1917, Rektoratsreden, Bd. II, S. 1154.

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Hochschule und die Tierärztliche Hochschule zu vereinigen, sie zur Universität zu erheben, und das, was ihr dazu fehlt, hinzufügen?“ Denn eine Technische Fakultät sei ja vorhanden und die für eine Philosophische sowie Medizinisch-Naturwissenschaftliche Fakultät geeigneten Lehrstühle befänden sich ebenfalls schon am Ort.380 Die Dresdner Stadtverordneten griffen den Gedanken auf mit dem Antrag an den Stadtrat, die Errichtung einer Universität in Dresden zu prüfen. Der Dresdner Oberbürgermeister hatte schon am 10. Juni 1912 einen Brief an das Kultusministerium geschrieben381 und regte an, die Tierärztliche Hochschule mit der Technischen Hochschule zu verschmelzen und mit der Forstakademie in Tharandt und der Bergakademie Freiberg zusammenzulegen. Nach diesem Muster der Zusammenlegung vorhandener Institutionen und ihrer Ergänzung um „fehlende“ Einrichtungen zwecks Schaffung einer Universität wurde 1911/1914 in Frankfurt am Main vorgegangen, so war es auch für Hamburg geplant; die öffentliche Auseinandersetzung in Leipzig und Dresden stand unter diesem Eindruck.382 Die Protagonisten einer neuen Universität, Waentig („Philacademicus“) und Beutler, veröffentlichten Denkschriften,383 die Gegner ebenfalls.384 Die Gleichzeitigkeit der Ereignisse – Vorgeschichte der Universitätsdebatte, die Dresdner Denkschriften und Verhandlungen, Karl Büchers „Votum zur Universitätsfrage“, die Stellungnahme des akademischen Senats der Universität Leipzig, die öffentliche Wortmeldung Karl Bindings – lässt sich nur schwer abbilden, weshalb im Folgenden ein chronologischer Ansatz versucht wird; Wiederholungen und Rückverweise können nicht völlig umgangen werden.

4.4 Die Vorgeschichte der Leipziger Denkschrift Das Vorgeplänkel der ausführlichen Stellungnahme des akademischen Senats der Universität Leipzig hatte seit Beginn des Jahres 1912 die Frage der Eingliederung der Dresdner Tierärztlichen Hochschule in die Universität zum Gegenstand. In den zahlreichen Sitzungen des Senats, die das Thema behandelten, kamen die unterschiedlichen Auffassungen der Philologen und der Mediziner über die Wissenschaftlichkeit der Veterinärmedizin und die Opportunität ihrer Vertretung an einer Universität zum Vorschein – ein Vorgang, der sich ganz ähnlich bei Disziplinen wie der Geometrie oder der Landwirtschaftswissenschaft abgespielt hatte. Daher ist die Untersuchung dieser Debatte relevant für die Frage nach der Entwicklung des Wissenschaftsideals der Leipziger Gelehrten und seiner Artikulation. Die Erörterung der Frage, in welcher Gestalt und auf welche Weise die Dresdner Tierärztliche Hochschule nach 380 Pommerin, Geschichte der TU Dresden, S. 96. 381 Denkschrift des Akademischen Senats der Universität Leipzig zur Dresdener Universitätsfrage, Leipzig (1. Dezember) 1913, S. 2. 382 Karl Bücher, Ein Votum zur Frankfurter Universitätsfrage, in: Karl Bücher, Hochschulfragen. Vorträge und Aufsätze, Leipzig 1912, S. 209–227 (zuerst Frankfurter Zeitung, 22. März und 3. April 1911). Siehe Paul Kluke, Die Stiftungsuniversität Frankfurt am Main 1914–1932, Frankfurt a. M. 1972. 383 Zur Frage der Errichtung einer Universität in Dresden von Philacademicus, Dresden 1912; Beutler, Vortrag über die Erhaltung der Tierärztlichen Hochschule in Dresden. 384 Karl Bücher, Ein Votum zur Dresdener Universitätsfrage, Leipzig 1912, Vorwort (18. November 1912); Denkschrift des Akademischen Senats der Universität Leipzig zur Dresdener Universitätsfrage, Leipzig (1. Dezember) 1913.

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Leipzig zu überführen sei, geriet zudem unter zeitlichen Druck: „Gefahr (Universität Dresden!)“385. Der Germanist Albert Köster (1862–1924) vertrat als Dekan der Philosophischen Fakultät in der Senatssitzung die Position seiner Fakultät, die einen eigenen Antrag eingereicht hatte und auf einer selbstständigen Stellung der Tierärztlichen Hochschule neben der Universität beharrte. Köster hatte die Frage aufgeworfen, wer denn eigentlich von der Eingliederung profitiere. Unstrittig galt das für die Stadt Leipzig und die Dresdner Tierärztliche Hochschule, aber ob die Universität Leipzig einen Nutzen davon habe, darüber hatte Köster, der nicht dieser Meinung war, Fachleute befragt.386 Das Argument, der Universität würden bei der Eingliederung „neue namhafte Lehrkräfte“ zuwachsen, zählte nicht, da nur zwei Professoren (Ellenberger und Baum)387 „etwas besonderes bedeuteten, während die übrigen sechs nur Mittelgut seien“.388 Auch der Zuwachs von 150 bis 200 Studenten böte keinen Vorteil, weil die erste Hälfte des Unterrichts in der Tierarzneikunde die gleiche naturwissenschaftliche Schulung erfordere wie für die Humanmedizin, was eine Überfüllung der naturwissenschaftlichen Institute der Universität Leipzig zur Folge hätte. Professorale Eitelkeit zeigte sich, als Köster meinte, „einige namhafte Kollegen“, die Wert auf äußere Ehren und damit verbundene Einnahmen legten, empfänden die Teilnahme der neuen Kollegen an akademischen Ämtern als Störung. Und nicht zuletzt in Anbetracht der Tatsache, dass die Dresdner Hochschule „zwar herzlich wenig materielle Güter“ mit nach Leipzig bringe, aber an den „reichen Schätzen der Universität Leipzig“ (Stipendien, Remunerationen, Witwen- und Waisenkasse) gleichberechtigt teilnehmen wolle, was für die Universität bestimmt erhebliche Opfer bedeute, könne keine Zustimmung erfolgen: „Unter diesen Umständen muß man sagen, daß die Universität durch die Eingliederung erheblichen Schaden erleiden würde.“389 Zwei Mediziner sahen jedoch deutliche Vorteile bei einer Aufnahme der Tierärztlichen Hochschule, wie sich am Ende der langwierigen Diskussion vom 28. Februar 1912 zeigte. In unserem Kontext ist die für die Veterinärmedizin vorausgesehene Zukunft von Bedeutung: Der Pharmakologe Rudolf Boehm (1844–1926) – immerhin viermal Dekan der Medizinischen Fakultät – argumentierte, die Tierheilkunde sei eine aufstrebende Wissenschaft, der man die Tore der Universität öffnen müsse. Der Pathologe Albin Hoffmann (1843–1924), gerade Dekan der Medizinischen Fakultät, meinte ebenfalls, „die Entwicklung zur wissenschaftlichen Bedeutung sei nur eine Frage der Zeit“.390 385 UAL, Rep. I/XVI, Sect. II Nr. 20, Akten der Universität Leipzig betreffend: Protokolle des akademischen Senates vom 14. Februar 1912 an bis 16. Dezember 1914, Bl. 198, Sitzung vom 5. März 1913. 386 UAL, Rep. I/XVI, Sect. II Nr. 20, Bl. 23–27v., Sitzung vom 28. Februar 1912. 387 Wilhelm Ellenberger (1848–1929), seit 1879 Professor für Physiologie und Histologie an der Tierärztlichen Hochschule Dresden. Er gilt als Begründer der Veterinäranatomie und -physiologie. Die Umsiedlung der Hochschule Dresden nach Leipzig war in entscheidendem Maße sein Werk. Sein Schüler Hermann Baum (1864–1932) war seit 1898 Ordinarius für Anatomie und Physiologie an der Dresdner Tierärztlichen Hochschule. Nach der Umsiedlung der Hochschule 1923 wurde er der erste Dekan der neuen Leipziger Veterinärmedizinischen Fakultät. 1931 wurde er Rektor der Universität Leipzig. 388 UAL, Rep. I/XVI, Sect. II Nr. 20, Bl. 23–27v., Sitzung vom 28. Februar 1912. 389 UAL, Rep. I/XVI, Sect. II Nr. 20, Bl. 24v, Sitzung vom 28. Februar 1912. 390 UAL, Rep. I/XVI, Sect. II Nr. 20, Bl. 25v, Sitzung vom 28. Februar 1912.

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Dem Protokoll nach spielten diese wissenschaftlichen Argumente in der Sitzung des Akademischen Senats keine Rolle. Größere Besorgnis kam indes darüber zum Ausdruck, dass die Tiermediziner das Dekanat beanspruchten, gar ein eigenes Siegel wollten, sich das (bis dahin gemeinsame) Promotionsrecht aneignen würden, was einen Verfall akademischer Standards („die altehrwürdige akademische Doktorwürde“ war in Gefahr) befürchten ließ; die Vergabe des Promotionsrechts an „alle möglichen einzelnen Fachschulen“ stand quasi vor der Tür. Die Lösung von 1907 war mit einer gewissen Erleichterung zur Kenntnis genommen worden: „Von grundsätzlicher Bedeutung waren nicht allein für die zunächst beteiligte medizinische Fakultät, sondern für unsere ganze Universität lange vielfach hinundherschwankende Verhandlungen bezüglich des Promotionsrechtes der tierärztlichen Hochschule zu Dresden, bei denen beide beteiligte Ministerien in nicht genug zu rühmender Weise neben der praktischen, der idealen Seite der Frage ihr förderndes Interesse liehen. Durch das anderwärts leider unterstützte Streben, alle möglichen einzelnen Fachschulen mit dem Promotionsrecht auszustatten, steht die altehrwürdige akademische Doktorwürde in Gefahr, von ihrer früheren Bedeutung herabzusinken. Zu unserer großen Genugtuung hat auch die tierärztliche Hochschule sich zu dieser Auffassung bekannt und unter freudiger Zustimmung der Regierung mit uns vereinbart, daß die Würde des Doktor medizin. veter. an der Leipziger Universität von der durch die ordentlichen Professoren der tierärztlichen Hochschule verstärkten medizinischen Fakultät in Zukunft verliehen werde.“391

4.5 Karl Bücher Karl Wilhelm Bücher (1847–1930), Nationalökonom der jüngeren historischen Schule,392 einstiger Gymnasiallehrer und Journalist, Historiker, Geschichtsphilosoph, Soziologe,393 als Emeritus schließlich Zeitungskundler,394 gehört zu den bedeutendsten Wissenschaftlern seiner Zeit und namentlich der Universität Leipzig, an die der 55-jährige 1892 als Professor der Nationalökonomie berufen wurde. Seine Vielseitigkeit geht aus den erwähnten Tätigkeiten bereits hervor; auch die eher den Gelehrtenbiographien des 18. Jahrhunderts angehörende Tätigkeit als Hauslehrer zählt zu seinem Erfahrungsschatz.395 Bücher gehörte in einer Zeit vorwiegend bildungsbürgerlicher Selbstrekrutierung der Professorenschaft zu den wenigen, die den Sprung von der bäuerlichen Unterschicht zum Professor erfolgreich bewältigen konnten.396 391 Rede des abtretenden Rektors Heinrich Curschmann, 31. Oktober 1907, S. 909–910 (Hervorhebung K. M.). 392 Bertram Schefold, Karl Bücher und der Historismus in der deutschen Nationalökonomie, in: Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, hg. von Notker Hammerstein, Stuttgart 1988, S. 239–267. 393 Letztere drei Nominationen von Walter Goetz: Karl Bücher, in: Historiker in meiner Zeit, S. 277–285, hier S. 281. 394 Rüdiger vom Bruch, Zeitungswissenschaft zwischen Historie und Nationalökonomie. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Publizistik als Wissenschaft im späten deutschen Kaiserreich, in: Publizistik, Jg. 25 (1980) H. 4, S. 579–607; Sylvia Straetz, Das Institut für Zeitungskunde in Leipzig bis 1945, in: Rüdiger vom Bruch / Otto B. Roegele (Hg.), Von der Zeitungskunde zur Publizistik. Biographisch-institutionelle Stationen der deutschen Zeitungswissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1986, S. 75–103, hier S. 79–81. 395 Das mag ihn, zusätzlich zum Studium in Bonn, mit Karl Lamprecht verbunden haben. 396 Goetz, Karl Bücher, S. 280 („In kühnem Sprung war Bücher vom Bauernsohn zum Universitätsprofessor aufgestiegen. Was sich sonst erst in mehreren Generationen vollzieht […].“ Die bäuerliche Wirtschaft des Vaters genügte nur knapp dem Lebensunterhalt der Familie.

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Die Universität Leipzig um 1900 „In Leipzig […] war mir eine Stellung geboten, bei der ich im Mittelpunkte der wissenschaftlichen Bewegung verblieb. Ja, es stand mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten, daß die Anregung von Seiten hervorragend besetzter Nachbarfächer mir Anlaß geben würde, meine eignen Forschungen auf eine breite Grundlage zu stellen. Hatten doch neben Wilhelm Roscher Männer wie Karl Lamprecht, Friedrich Ratzel, Wilhelm Wundt sich um mein Kommen bemüht.“397

Sein Motiv, aus Karlsruhe nach Leipzig zu gehen, war, wie oben zu sehen, die Möglichkeit fortgesetzter wissenschaftlicher Betätigung an einer Zentralstelle akademischer Wissenschaft und Bildung und die hohe Bereitschaft zu interdisziplinärer Arbeit, erwähnte er doch im selben Satz die „hervorragend besetzten Nachbarfächer“ – Geschichte, Geographie, Psychologie, und deren herausragende Vertreter: Lamprecht, Ratzel, Wundt, die, wie Bücher selbst und nicht der allgemeinen Regel des Leipziger Professorentums entsprechend, auf der nationalen Ebene des Kaiserreiches agierten und nicht bloß Interessen im Rahmen des Königreiches Sachsen vertraten. Das Ministerium des Kultus und öffentlichen Unterrichts hatte Bücher ein eigenes Seminar (Volkswirtschaftliches Statistisches Seminar) mit einer großzügigen finanziellen Ausstattung in Aussicht gestellt, so dass Bücher der Wechsel aus dem Badischen wohl nicht schwerfiel, da er, wie auch zuvor in Basel, überwiegend mit statistischen Arbeiten befasst war. Als Dekan der Philosophischen Fakultät (1902–1903) und Rektor der Leipziger Universität (1903–1904), als Mitglied der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften (wie die Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig bis 1919 hieß) wirkte er zudem als Wissenschaftsorganisator. Die jüngste Würdigung, seine „dogmenhistorische Bedeutung für die Sozialwissenschaften als Nationalökonom und Stufentheoretiker, als Wirtschaftshistoriker und als empirischer Forscher, der das Gesetz der Massenproduktion formulierte, [sei] so groß, daß ihm ein Ehrenplatz in der Geschichte der Leipziger Wirtschaftswissenschaften gebührt“,398 verlangt eine weitere Untersuchung dessen, was er für die Wissenschaftsentwicklung an der Alma Mater leistete, insbesondere unter dem Aspekt der Interdisziplinarität und seiner Überlegungen zum Ideal der Universität. Letzteres wird in diesem Kapitel eingehender im Zusammenhang mit zwei seiner wesentlichen Hochschulschriften betrachtet: denen zur Errichtung einer Universität in Frankfurt (1911) und vor allem in Dresden (1912).399 Diese und andere offizielle Dokumente dokumentieren, dass Bücher universitätspolitisch engagiert war und als Professor auch öffentlich wirken wollte. Da Karl Büchers 1919 erschienene „Lebenserinnerungen“ mit dem Jahr 1890 enden, d. h. zwei Jahre vor seiner Berufung nach Leipzig, verschließt er sich als Professor einer heutigen Untersuchung; Leipzig und seine Universität sind als „Erinnerungsorte“ aus der Perspektive dieser Gelehrtenautobiographie also nicht rekonstruierbar. Die Briefe seiner Ehefrau Emilie400 an ihre Schwester 397 Karl Bücher, Lebenserinnerungen 1847–1890, Tübingen 1919 [Bd. 2 nicht erschienen], S. 448. 398 Friedrun Quaas, Wirtschaftswissenschaften, in: Senatskommission zur Erforschung der Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte (Hg.), Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009, Band 4/1, Leipzig 2009, S. 872–875, hier S. 874. 399 Zusammenfassend siehe die Bibliographie: Michael Meyen / Erik Koenen, Karl Bücher. Leipziger Hochschulschriften 1892–1926, Leipzig 2002. 400 Siehe Beate Wagner-Hasel, Im Hause Karl Büchers. Leipziger Professorenleben um 1900, in: Detlef Döring (Hg.), Stadt und Universität Leipzig. Beiträge zu einer 600-jährigen wechselvollen Geschichte, Leipzig 2010, S. 297–321.

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und andere Familienmitglieder sind zwar hochinteressant für das Alltagsleben in einem Gelehrtenhaushalt, spiegeln aber eher die häusliche Seite eines bildungsbürgerlichen Lebens. Neben der weiblichen Arbeitswelt der Professorengattin mit all den inbegriffenen gesellschaftlichen Normen und Pflichten des Hauses – kulturelle Repräsentation, intellektueller Glanz, weltläufige Geselligkeit, der soziale Zwang – präsentieren sie auch den im privaten Raum arbeitenden Gelehrten. Doch Büchers Sicht auf die städtischen und akademischen Verhältnisse in Leipzig kommt auch hier nur am Rande vor. Wir wissen, dass Büchers Geselligkeit weitere Kollegenkreise einschloss: den Nationalökonom Roscher, den Geographen Ratzel, den Historiker Lamprecht, den Sinologen Conrady, den Zoologen Chun, den Philosophen Johannes Volckelt, den Anglisten Richard Wülker, den Historiker Gerhard Seeliger, den Theologen Rudolf Kittel.401 Damit setzt er sich von dem eher begrenzten Umgang Wilhelm Ostwalds mit Professorenkollegen deutlich ab. Letzterer fürchtete offenbar – eine Anekdote nebenher – die von ihm so genannten „Abfütterungen“, die zu „Massenarbeit“ zwangen.402 Karl Büchers Einsatz für die Autonomie der Universität und die Unabhängigkeit der Forschung, die er mindestens zweimal erheblich gefährdet sah, zeigt seine kämpferische Natur. Die Anlässe waren jeweils mit der befürchteten Einmischung außeruniversitärer Interessengruppen bzw. industrieller Kreise in die ureigensten Angelegenheiten der Universität, die Professorenberufung, verbunden, nämlich „[a]ls sich der Rostocker Nationalökonom Ehrenberg als Vertreter einer Unternehmergruppe für einen Lehrstuhl der Universität Leipzig aufzudrängen suchte“,403 und als Büchers Schüler Johann Plenge (1915) seine Unterrichtsanstalt für die Ausbildung praktischer Volkswirte vom Verein deutscher Eisen- und Stahlindustrieller finanzieren lassen wollte, was Bücher als „Kapitalisierung der wissenschaftlichen Nationalökonomie“ energisch missbilligte.404 Richard Ehrenberg (1857–1921), 1899 an das Staatswissenschaftliche Seminar nach Rostock berufen, haftete spätestens seit 1905 unter vielen seiner Fachkollegen der Ruf an, „daß ich ‚Vertreter der Unternehmer‘ sei, daß ich mich bei meiner wissenschaftlichen Arbeit 401 Beate Wagner-Hasel, Die Arbeit des Gelehrten. Der Nationalökonom Karl Bücher (1847–1930), Frankfurt a. M. / New York 2011, S. 134–150. 402 „Der gesellige Verkehr fand ganz vorwiegend in Gestalt von ‚Abfütterungen‘ statt, wie sie von den Beteiligten allgemein genannt wurden. Ein- oder zweimal im Semester wurden die Opfer in so großer Anzahl eingeladen, als sich in die vorhandenen Räume hineinpressen ließen. Nach einigem Herumstehen, das meist durch Teetassen behindert wurde, die man in die Hand bekam, suchte man die Dame auf, deren Namen man beim Eintritt erfahren hatte und führte sie zu Tisch. Die Speisen, Weine und Lohndiener waren meist dieselben, ebenso wie die Tischdamen. Da man nicht recht wußte, was man hernach anfangen sollte, blieb man möglichst lange sitzen […] und man begann aufzupassen, wann der angesehenste Geheimrat das Zeichen zum Aufbruch geben würde. Alles atmete auf, wenn das geschah, was glücklicherweise meist ziemlich bald erfolgte, weil auch er zu Bett verlangte. Manchmal war er aber in einen Vortrag über eine Lieblingsangelegenheit geraten, und da hierfür zufolge der langjährigen Kolleggewöhnung drei Viertelstunden nötig waren, verzögerte sich der Abschied entsprechend. – Ich will meinen damaligen Kollegen nicht das Unrecht antun, zu behaupten, daß alle geselligen Abende derart verliefen. Es gab auch solche mit einer kleinen, gut zusammenpassenden Gesellschaft […]. Sie waren aber selten, da der große Umfang der gesellschaftlichen Verpflichtungen kaum anders als durch Massenarbeit zu bewältigen war.“ Ostwald, Lebenslinien II, S. 81 f. 403 Goetz, Karl Bücher, S. 281. 404 Max Weber Gesamtausgabe [MWG], Abt. II, Bd. 9, Tübingen 2008, S. 242, Anm. 12; Dieter Krüger, Nationalökonomen im wilhelminischen Deutschland, Göttingen 1983, S. 105 f.

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durch äußere Rücksichten beeinflussen lasse“.405 Der Fall der „Leipziger Tendenzprofessur“, der in der überregionalen deutschen Presse Wellen schlug, ist unlängst untersucht worden. Industrielle und industriefreundliche Kreise versuchten 1908, Ehrenberg eine Professur für exakte Wirtschaftsforschung an der Universität Leipzig zu verschaffen, was zuvor in Jena und Berlin gescheitert war. Bücher zählte zu den maßgeblichen Akteuren dieser Auseinandersetzung.406 Ehrenberg hatte im Juni 1908 bei Bücher um Unterstützung gebeten und war damit an die gänzlich falsche Adresse geraten. Büchers Artikel „Eine Schicksalsstunde der akademischen Nationalökonomie“407 rekapitulierte rund zehn Jahre später die Grundpositionen. Das Problem bestand in der Tatsache, dass der Verband sächsischer Industrieller hinter diesem Ansinnen stand. Ein Schreiben an das sächsische Kultusministerium vom 30. März 1908 wird recht deutlich: „Wenn es daher möglich wäre, für Herrn Prof. Ehrenberg eine Professur in Leipzig zu schaffen, so würde dies mit größter Freude begrüßt werden. Die genannten Kreise sind auch bereit, ihre Verehrung für Herrn Prof. Ehrenberg praktisch dadurch zum Ausdruck zu bringen, daß sie für die Ausstattung und Unterhaltung eines neuen volkswirtschaftlichen Seminars eine Jahresbeihilfe von etwa 30.000 Mark leisten wollen.“408

Die „30.000 Mark-Professur“ wurde von der Philosophischen Fakultät und vom Senat energisch abgewiesen und endete mit der „entschiedenste[n] Bewahrung gegen das grundsätzlich unzulässige Eingreifen einer wirtschaftlichen Vereinigung in Berufungs-Angelegenheiten der Leipziger Universität“.409 In diesem Fall stimmten die „Alten“ und die „Modernen“ ausnahmsweise überein. Johann Plenge (1874–1963), der von 1901 bis 1912 an Büchers Vereinigtem Staatswissenschaftlichem Seminar nationalökonomische Lehrveranstaltungen abhielt und erst 1910 Extraordinarius geworden war, hatte sich im Januar 1913 mit seinem Lehrer zerstritten, weil dieser angeblich seine Berufung nach Gießen verhindert hatte. Am 14. März 1913 hatte Plenge an Max Weber geschrieben, dass die Bemühungen Webers und Hans Delbrücks, ihn auf die Vorschlagsliste für Gießen zu bringen, wegen „Bücher’s Niedertracht“ gescheitert seien.410 Dieser habe, so Plenge, ihn als „unbequemen Collegen“ bezeichnet, in ihm „im405 Richard Ehrenberg, Terrorismus in der Wirtschafts-Wissenschaft, Berlin 1910, zit. nach: Martin Heilmann, Richard Ehrenberg und die „Kathedersozialisten“, in: Martin Buchsteiner / Gunther Viereck (Hg.), „Ich stehe in der Wissenschaft allein“. Richard Ehrenberg (1857–1921), Rostock 2008, S. 53–86, hier S. 66. 406 Gunther Viereck, Der Fall der „Leipziger Tendenzprofessur“, ebd., S. 125–142; Krüger, Nationalökonomen, S. 256, Anm. 14. 407 In: Zeitschrift für die Gesamte Staatswissenschaft“, Jg. 73, H. 3, Tübingen 1918, S. 255–293. 408 Brief von Gustav Stresemann [Reichstagsabgeordneter, Syndikus des Vereins, späterer Reichskanzler und Außenminister] an das sächsische Kultusministerium, 30. Mai 1908, zit. nach Mecklenburgische Volkszeitung, 31. Oktober 1909, Viereck, Der Fall der „Leipziger Tendenzprofessur“, S. 131. 409 Die Zitate stammen aus einer nicht namentlich gekennzeichneten Zuschrift an die Frankfurter Zeitung (Abendblatt, 21. Oktober 1909) aus der Feder Karl Büchers. S. a. Wagner-Hasel, Die Arbeit des Gelehrten, S. 307. 410 Kommentar zum Brief Weber an Plenge, 18. März 1913, in: MWG, Abt. II, Bd. 8, Tübingen 2003, S. 130. Die Wiedergabe des Briefes von Bücher an den Vorsitzenden der Gießener Berufungskommission Otto Behaghel lässt diesen Schluss nicht zu, ganz im Gegenteil!

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mer den kommenden Nebenbuhler gesehen“, den er „nicht zu groß lassen werden durfte“411, woraufhin Max Weber antwortete, Leute von Temperament seien eben unbequem, er, Max Weber, sicher auch. Allerdings: „Ich muß fürchten, daß Ihre sehr große Schärfe Ihnen bei den Herren in Gießen eher schadet.“412 Plenges Urteil über Büchers Verhalten gehe jedoch viel zu weit. Zwar sei Bücher im Unrecht, aber Weber wisse „positiv“, dass es Bücher nicht wirklich klar sei, wie sehr er Plenge gekränkt hatte.413 Die Berufung in Gießen zerschlug sich tatsächlich, aber 1913 wurde Plenge schließlich Ordinarius in Münster.414 In Plenges Plan einer Unterrichtsanstalt für die Ausbildung praktischer Volkswirte sah Bücher „den Beginn einer Ära, in der Nationalökonomie nicht mehr im Sinne des Allgemeinwohls betrieben, sondern an ‚Interesseninstitute‘ delegiert werde.“415 Auch als es 1916 um die Nachfolge auf seinem Lehrstuhl ging, versuchte Bücher, seinen Favoriten Joseph Schumpeter durchzusetzen und argumentierte gegen den von seinem Kollegen Wilhelm Stieda vorgeschlagenen Ludwig Pohle, seinen (und der Kathedersozialisten) sozialpolitischen Gegner, den er für mittelmäßig hielt, „man solle nicht mit Rücksicht auf die Haltung in der Wirtschaftspolitik“ auswählen.416 Während in Jena die Finanzierung der Wissenschaft durch die Industrie zeitgleich mit der von der Carl-Zeiss-Stiftung finanzierten „Ernst-Abbe-Stiftungsprofessur für Sozialpolitik“ die 1906 mit Bernhard Harms besetzt wurde,417 gelang, sie auch nicht ungewöhnlich war, zeigte sich die Universität Leipzig resistent.

4.6 Büchers Denkschrift Dem akademischen Senat wurde am 26. Oktober 1912 die Schrift „Zur Frage der Errichtung einer Universität in Dresden“ von „Philacademicus“ vorgelegt, die „ganz evident […] als offiziöse Abhandlung zur Rechtfertigung des Dresdener Planes aufgefaßt werden“418 musste. Karl Lamprecht merkte an, dass Karl Bücher „wohl aus Anlaß dieser Broschüre“ eine „den 411 MWG, Abt. II, Bd. 8, S. 137, Anm. 4. – Nachdem Plenge 1913 Professor in Münster geworden war, etablierte er in seinem Staatswissenschaftlichen Institut 1921 auch ein zeitungskundliches Seminar; er kam damit recht spät (in der Philosophischen Fakultät der Universität Münster gab es bereits 1919 ein „Institut für Historische Zeitungskunde“), aber man darf die Leipziger Prägung unterstellen. 412 MWG, Abt. II, Bd. 8, S. 131, 18. März 1913, Weber an Plenge. 413 MWG, Abt. II, Bd. 8, S. 130, 18. März 1913, Weber an Plenge. 414 Weber hatte sich zuletzt 1913 „rückhaltlos“ für die Berufung Plenges nach Münster eingesetzt, siehe MWG, Abt. II, Bd. 8, S. 74, Weber an Plenge, 1. Februar 1913. Siehe auch Axel Schildt, Ein konservativer Prophet moderner nationaler Integration. Biographische Skizze des streitbaren Soziologen Johann Plenge (1874–1963), in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 35. Jg. (1987) H. 4, S. 523–570. 415 Krüger, Nationalökonomen, S. 107. 416 Ebd., S. 256, Anm. 15. 417 Stefan Gerber, Problemkonkurrenz, Deutungskompetenzen und universitäre Positionierung: Geistesund Sozialwissenschaften in der Philosophischen Fakultät, in: Traditionen, Brüche, Wandlungen. Die Universität Jena 1850–1995, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 133. 418 Karl Binding über die Dresdener Universitätsfrage, Sonderdruck aus den Nrn. 101 und 102 vom 13. und 14. April 1913 der Leipziger Neuesten Nachrichten, unpag. SHStA Dresden, Ministerium des Kultus und Öffentlichen Unterrichts, Universität Leipzig, Personalakten, 10281/94: Acta, den Professor Dr. jur. Ludwig Karl Binding in Leipzig betr., Bl. 80.

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Dresdner Versuchen entgegentretende Schrift herausgeben werde“.419 Dass sich hinter dem Pseudonym der Geheime Hofrat Exzellenz Waentig verbarg, war ein offenes Geheimnis.420 Büchers „Votum“ erschien bereits im November 1912, er hatte es innerhalb weniger Tage niedergeschrieben.421 Der Nationalökonom Bücher betrachtete, wie schon angedeutet, Universitäten als wirtschaftliche Gebilde, die sich parallel mit der Volkswirtschaft entwickeln.422 Schon in seiner Stellungnahme zur Universitätsgründung in Frankfurt am Main im Frühjahr 1911 hatte er ausführlich die Lage der 21 deutschen Universitäten erörtert, die stets wachsenden materiellen Anforderungen an eine moderne Universität aufgerechnet und war zu keinem günstigen Schlussergebnis gekommen. So wie sie geplant sei, würde die Universität Frankfurt „weder eine Universität großen Stils noch eine solche neuen Stils sein. Sie würde nur den seitherigen Typus um ein weiteres Exemplar vermehren und damit der wünschenswerten Konzentration des akademischen Lebens an wenigen großen Anstalten entgegenarbeiten. Damit verliert meines Erachtens der Plan jede Berechtigung. Seine Verwirklichung liegt nicht im nationalen Interesse, zumal sie nicht erfolgen könnte ohne ältere Hochschulen zu schädigen, denen die nationale Kultur Großes verdankt.“423 Dass „Philacademicus“ die Notwendigkeit einer neuen Universität mit dem starken Wachstum der deutschen Bevölkerung (und der Studentenzahl) und der gleich gebliebenen Zahl der Universitäten begründete und damit gegen Büchers Kernziel, die Konzentration des Universitätsbetriebs an „wenigen großen“ Einrichtungen, verstieß, darf nicht verwundern. Heinrich Waentigs Ideal bestand in der Ausgestaltung der Technischen Hochschule zu einer Gesamtuniversität, einer universitas literarum et artium, die fünf Fakultäten – Rechtsund Staatswissenschaftliche Fakultät, medizinische Fakultät inkl. Tierärztliche Hochschule, philosophische, naturwissenschaftliche und schließlich eine technische Fakultät – umfassen sollte (eine theologische Fakultät sah er nicht vor). Wenngleich seine Schrift, verglichen mit der späteren des Bürgermeisters Otto Beutler, als „idealistisch“ angesehen wurde und Karl Binding sich im April 1913 daher mit ihr überhaupt nicht näher befasste, und abgesehen von der aus volkswirtschaftlicher Perspektive schlüssigen Argumentation Karl Büchers, muss ein Beweggrund Waentigs erwähnt werden, der auf eine Universitätsreform hinauslief. Er hob hervor, „daß eine Vereinigung von Universitätswissenschaft und technischer Wissenschaft, wie sie hier beabsichtigt wird, zurzeit in Deutschland etwas unerhörtes ist. […] Allein solche Zurückhaltung 419 UAL, Rep. I/XVI, Sect. II Nr. 20, Bl. 100 v, Sitzung vom 26. Oktober 1912. 420 „… als deren Verfasser Herr Wirklicher Geheimer Rat Dr. Waentig allgemein gilt“. Denkschrift des Akademischen Senats der Universität Leipzig zur Dresdener Universitätsfrage, Leipzig (1. Dezember) 1913, S. 3. „Über ihren Verfasser konnte niemand an der ganzen Leipziger Universität im Zweifel sein.“ Karl Binding über die Dresdener Universitätsfrage, Sonderdruck aus den Nrn. 101 und 102 vom 13. und 14. April 1913 der Leipziger Neuesten Nachrichten, unpag. SHStA Dresden, Ministerium des Kultus und Öffentlichen Unterrichts, Universität Leipzig, Personalakten, 10281/94: Acta, den Professor Dr. jur. Ludwig Karl Binding in Leipzig betr., Bl. 80. 421 Karl Bücher, Ein Votum zur Dresdener Universitätsfrage, Leipzig 1912, Vorwort (18. November 1912). 422 Karl Bücher, Rede des antretenden Rektors, 31. Oktober 1903, in: Rektoratsreden, Bd. 1, S. 827–837. 423 Karl Bücher, Ein Votum zur Frankfurter Universitätsfrage (zuerst Frankfurter Zeitung, 22. und 3. April 1911), in: Hochschulfragen. Vorträge und Aufsätze, Leipzig 1912, S. 209–227, hier S. 225 (Hervorhebung K. M.).

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der Universität gegenüber der Technik besteht eben in der Hauptsache nur in Deutschland, in anderen Ländern und namentlich jenseits des Weltmeeres weiß man davon nichts.“424

Die gedanklich forcierte Zusammenlegung der Universitäts- und der technischen Wissenschaft fand in Karl Bücher durchaus einen energischen Fürsprecher.425 Die meisten anderen Ideen Waentigs fielen hingegen seiner nationalökonomischen Analyse zum Opfer. Mit der Polemik gegen „entbehrliche Konkurrenzgründungen“426 im Hochschulwesen anlässlich der Frankfurter Universitätsdebatte hatte Karl Bücher seine Position zu der noch nicht absehbaren Dresdner Gründungsidee vorweggenommen. Die „wünschenswerte Konzentration“ akademischer Ausbildungsstätten machte Bücher zum Verfechter der großen Universität, wie Leipzig eine war. Die komplexe Argumentation verknüpft die Frankfurter und die Dresdner Debatte; Büchers Begründung gilt für Universitäten im Deutschen Reich allgemein und auch für die Situation in Dresden, wo eine große Universität nach Lage der Dinge unmöglich war und sich der als notwendig angesehene „Großbetrieb“ der Wissenschaft von vornherein erübrigte. Der Leipziger Nationalökonom war aus volkswirtschaftlichen Gründen ein energischer Verfechter großer Universitäten geworden. Aus dem von ihm 1910 beschriebenen Gesetz der Massenproduktion427 hatte sich sein Universitätsideal entwickelt, die große Universität, der Großbetrieb, ein zeitgenössisch ebenso verbreitetes wie umstrittenes Ziel, das in der berühmten Formulierung von Harnack bekannt geblieben ist. Bücher verstand diesen Großbetrieb als gleichermaßen ökonomisch effizient und wissenschaftlich leistungsfähig und lieferte damit für dasselbe Ziel eine andere Begründung als Mommsen, Althoff oder Harnack. Angesichts der immens steigenden Ausstattungskosten (für Seminare, Institute, Laboratorien, Gebäude, Instrumente, Apparate, Maschinen, Bibliotheken …) sei es, so Bücher, für jeden Staat ein „Gebot guter Ökonomie“, solche großen Kapitalien nur dort festzulegen, wo sie vollständig ausgenutzt werden können, „und das ist in der Regel nur an großen Universitäten der Fall. Nur an diesen können auch die Institutsbauten den Fortschritten der wissenschaftlichen Forschungstechnik und Arbeitsteilung nachkommen, während die kleineren entweder ganz darauf verzichten oder sich mit Unzulänglichem begnügen müssen. […] Das große Gesetz der Massenproduktion gilt also auch für unser heutiges Universitätswesen […].“428

Die großen Universitäten könnten eine zeitgemäße, moderne Ausbildung garantieren durch bessere materielle Ausstattung, den wissenschaftlichen Fortschritt durch die Vielfalt der vertretenen Wissenschaften, den kollegialen Austausch, die wissenschaftliche Arbeitsteilung. 424 Zur Frage der Errichtung einer Universität in Dresden von Philacademicus, Dresden 1912, S. 15. 425 „… in neuerer Zeit [haben] sowohl aus den Kreisen der Technischen Hochschule als aus denjenigen der Universität Stimmen erhoben, welche es als einen schwer wieder gut zu machenden Fehler bezeichnen, dass man nicht schon längst auf die Vereinigung beider Arten von Hochschulen Bedacht genommen habe.“ Damit gibt er seinen eigenen Standpunkt wieder. Rede des antretenden Rektors Karl Bücher, Über alte und neue Aufgaben der deutschen Universitäten, 31. Oktober 1903, in: Rektoratsreden, S. 834. Ebenso setzte er sich für die Gründung von Handelshochschulen ein, die er über kurz oder lang in die Universität eingehen sah – dies war eine Fehleinschätzung. 426 Karl Bücher, Ein Votum zur Frankfurter Universitätsfrage, S. 227. 427 Karl Bücher, Das Gesetz der Massenproduktion, Tübingen 1910. 428 Karl Bücher, Ein Votum zur Frankfurter Universitätsfrage, S. 211, 212 (Hervorhebung K. M.).

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Aus diesem Grund hatte sich Bücher auch über die differenzierten Universitätspläne Friedrich Althoffs positiv geäußert, jeder preußischen Universität ein Spezialgebiet zuzuweisen, in dem die Lehr- und Forschungseinrichtungen den höchsten Grad der Vollkommenheit zu erreichen hätten, und die Studierenden des betreffenden Fachs für das ganze Land eben hier an dieser einen Stelle auszubilden. In Göttingen gelang dies mit Hilfe des vormaligen Leipziger Professors Felix Klein (Spezialisierung Mathematik/Physik). Der Grund lag für Bücher auf der Hand: „Schon längst hat man eingesehen, daß der Begriff der universitas literarum im Sinne einer ‚alle Wissenschaften‘ umfassenden Organisation sich nicht mehr für alle auf­ rechterhalten lässt, daß einzelne Disziplinen nicht an allen vertreten sein können.“429 War damit zunächst Waentigs Ideal der universitas litterarum im Sinne der Konzentration und Spezialisierung akademischer Standorte angezweifelt, ging Bücher zugleich gegen die – wieder von Waentig vorgebrachte – „angebliche“ Überfüllung der Universitäten vor („Worin soll sie auch bestehen?“), die sich darin äußere, „daß die Zahl der an einer Übung teilnehmenden Studierenden zu groß geworden ist, als daß der Leiter der Übung noch alle Teilnehmer näher kennen lernen und zu jedem in ein persönliches Verhältnis treten könnte“.430 Das „persönliche Verhältnis“, für das sich die kleinen Universitäten rühmten, nahm Bücher offensichtlich mehrmals aufs Korn; im Zusammenhang der relativen Überfüllung431 der Universitäten meinte er allerdings, der Professor, der einen solchen Zustand andauern ließe, „müßte seinem Amte schlecht gewachsen sein“, denn durch die Bildung geeigneter Ausbildungsstrukturen – mehrere Abteilungen, Gliederung des Unterrichts, Heranziehung von Extraordinarien und Privatdozenten – lasse sich überall Abhilfe schaffen, ja gerade in einem stark besuchten Seminar oder Institut einer großen Universität könne man durch solche Mittel die Ausbildung der Studierenden „viel gründlicher und vielseitiger gestalten, als es da der Fall zu sein pflegt, wo sich in alter Weise eine kleine ‚Schule‘ gläubiger Jünger um den allmächtigen, aber doch in der Regel recht einseitigen Ordinarius und Institutsdirektor scharen und von ihm ihre einzige Erleuchtung erwartet.“432 Als sich Karl Lamprecht im Jubiläumsjahr 1909 über Gegenwart und Zukunft der Universität Leipzig äußerte, konnte er die Frage der rechten Größe für eine Universität nicht ausblenden. Lamprecht fasste eine Zahl von 5000 Studierenden noch als Obergrenze auf, jenseits davon werde die Universität „monströs“.433 Selbst wenn die Sprache allzu sachlich ist, wenn man die auszubildenden Studierenden wie Karl Bücher als „zu erzeugende Produkte“ betrachtet, mit deren steigender Masse die „Herstellungskosten“ von einem bestimmten Punkt an abnehmen, der Zusammenhang zwischen der Frequenz einer Universität und deren Leistungsfähigkeit bzw. ihrem Einfluss auf Bildung und Berufsleben musste mehr überzeugen als die schiere Größe der Universitäten. In seinem „Votum“ zu Frankfurt begründete Bücher daher überzeugend, dass die Vielzahl der 429 Ebd., S. 214. 430 Ebd., S. 211. 431 Die „Überfüllungsfrage“ mit all ihren Konsequenzen (akademisches Proletariat, kleine soziale Frage) wurde allerdings hoch kontrovers geführt. Siehe Hartmut Titze, Der Akademikerzyklus, Göttingen 1985. 432 Karl Bücher, Ein Votum zur Frankfurter Universitätsfrage, S. 212. 433 Karl Lamprecht, Studium Lipsiense: Gegenwart und Zukunft, in: Leipziger Neueste Nachrichten (Jubiläumszeitung), 28. Juli 1909.

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deutschen Universitäten, aus historischen Gründen entstanden („Ausgeburt der Kleinstaaterei“), bei einer Neuordnung des Universitätswesens halbiert werden könne. Kurz nach Erscheinen des Bücherschen „Votums“ zur Dresdner Universitätsfrage im November 1912 erhielt er mehrere Briefe, Antworten auf die von ihm zahlreich verschickten Exemplare, die deutliche Zustimmung und Dank für die offenen Worte ausdrücken, aber auch höflich kritisieren. Aus Tübingen schrieb der Staatswissenschaftler Wilbrandt: „Darum begrüße ich auch mit besonderem Dank Ihren Kampf für den Großbetrieb in der Universi­ tätenfrage; nur der Großbetrieb kann die unumgängliche Spezialisierung ermöglichen.“434 Der gerade von Leipzig nach Gießen – als neben Rostock, Münster und Erlangen „kleine“ Universität – berufene Indogermanist Hermann Hirt erklärte Bücher, er sehe für diese Orte durchaus auch die Vorzüge der kleinen Universität, „der enge Verkehr mit den Kollegen und das ganz andere Verhältnis zu der beschränkten Anzahl der Studenten sind doch Sachen von ganz wesentlichem Wert“.435 Damit stand er gegen Büchers entschiedene Meinung, dass sich an kleinen Universitäten der Widerspruch zwischen Kraftaufwand und Wirksamkeit lähmend auf die wissenschaftliche Betätigung auswirke und opponierte gegen dessen rhetorische Frage, ob man denn wirklich meine, dass die „persönlichen Beziehungen“ dafür entschädigen würden. Eher würden, so meinte Bücher, an den kleinen Einrichtungen Menschen wissenschaftlich „aufgepäppelt“, die sich an einer großen Universität neben den dort zahlreicher auftretenden Talenten ihrer eigenen unzulänglichen Anlagen bewusst würden.436 Die oft beschworenen „persönlichen Beziehungen“ wurden für Bücher nachgerade zu einem roten Tuch. Der Altphilologe Otto Immisch, ebenfalls in Gießen und gerade von einem Besuch bei Karl Bücher zurückgekehrt, fragte sich, „wie sich der famose [Dresdner] plan von dieser kritik erholen wird“.437 Besonders schlimm sei, wie die Universitätsidee von den Interessen der „Fremdenindustrie“ und dem Gewinnstreben („Lucrifizierung“) der Kommunen instrumentalisiert werden könne. In Frankfurt zeige sich bereits, dass das bereitgestellte finanzielle Minimum eben als Minimum fühlbar wird, „und zu begründern einer tradition wünscht man begreiflicherweise nicht gerade die minorum gentium zu haben“. Allerdings hätten die kleinen Universitäten, so lange die kleinen Staaten existierten, auf ihrem Territorium Kulturaufgaben wie eben den Hochschulunterricht zu leisten.438 Ein weiterer Gießener Professor und Verwandter Büchers, der Strafrechtler Wolfgang Mittermaier,439 schrieb dem „lieben Vetter“, wie bedauerlich es sei, dass solche hochwichti434 Robert Wilbrandt (1875–1954), Universität Tübingen, Staatswissenschaftliche Fakultät, 4. Januar 1913, in: NL 181/Wic 181–184, Bl. 183. 435 Hermann Hirt (1865–1936), Gießen, 23. November 1912, in: NL 183/4/117–118, Bl. 117. 436 Karl Bücher, Ein Votum zur Frankfurter Universitätsfrage [zuerst Frankfurter Zeitung, 22. März und 3. April 1911], in: Hochschulfragen. Vorträge und Aufsätze, Leipzig 1912, S. 209–227, hier S. 215. 437 Johannes Heinrich Otto Immisch (1862–1936), Gießen, 25. November 1912, in: NL 183/4/I-J 19-22, Bl. 19–22. 438 Ebd., Bl. 21. Auch der Statistiker Georg von Mayr hatte den Vorwurf der Dominanz des Fremdenverkehrs geäußert und sich über die Kuriositäten und Novitäten der „großstädtischen Gelehrsamkeits-Streberei“ mokiert (speziell die Kolonialwissenschaftliche Fakultät in Hamburg), Georg von Mayr, Tutzing, 24. Dezember 1912, NL 181/Ma 259–262, Bl. 260. 439 Über Wolfgang Mittermaier (seit 1902 Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht in Gießen) siehe Klaus-Peter Schroeder, „Eine Universität für Juristen und von Juristen“. Die Heidelberger Juristische Fakultät im 19. und 20. Jahrhundert, Tübingen 2010, S. 351–353.

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gen Angelegenheiten oft so völlig dilettantisch und rein lokalpatriotisch behandelt werden, was in Dresden noch mehr der Fall zu sein scheine als in Frankfurt. Er frage sich, woher dieses Streben nach Neugründungen eigentlich komme, und finde durchaus Ansatzpunkte für ein Verständnis des Verlangens nach neuen Institutionen beispielsweise in der Giessener Juristischen Fakultät, die es nicht verstehe, den vielfachen Bedürfnissen nach Erneuerung der Rechtsausbildung nachzukommen. „Die Praktiker wenden sich sehr stark von uns ab.“ Daher wollten viele Nichtakademiker etwas anderes, neues haben – das erreichten sie allerdings nicht durch neue Universitäten. Die Wertschätzung der großen Universitäten erkenne er völlig an, ebenso die Mängel der kleinen Universität, aber er sehe auch deren Vorteile – etwa, wenn er des Öfteren schon „von strebsamen, verständigen Studierenden“ gehört habe, dass ihnen an den großen Universitäten der Kontakt mit dem Lehrer fehle. Neben den großen Universitäten hätten lebenskräftige Einrichtungen von geringerem Umfang, etwa von 2000 Studenten, „vollste Berechtigung“.440 Rudolf Smend, Alttestamentler an der Universität Göttingen, erfreute sich des Humors Büchers über diese „Philister“. Der gebührende Eindruck der Schrift sei in Sachsen wohl zu erwarten, „weil da kein absoluter Wille in diesen Dingen regiert“, was als Anspielung auf Preußen gesehen werden muss.441 Der sächsische Staatsminister Beck versprach, dem König ein Exemplar zu überreichen.442 Aus dem Berliner Kultusministerium klagte der Nationalökonom und Professor Ludwig Elster, Nachfolger Friedrich Althoffs, er könne selbst ein Lied davon singen, wenn Leute – und er zitiert aus Büchers Schrift – „uns von außen eine ‚Universitätsreform‘ aufdrängen wollen, ‚ohne von unseren Verhältnissen mehr als die äußerlichste Sachkenntnis zu besitzen‘.“443 Der Leipziger Geograph Joseph Partsch meinte am 16. November – er hatte die Druckbogen vom Rektor bekommen mit der Option, Änderungsvorschläge vorzulegen –, dass er sich „mit wahrem Genuß an dem frischen Zuge und dem eindringenden Licht der schneidigen Darstellung“ erfreut habe und an dieser „Schöpfung aus einem Guß“ nichts zu ändern sei; er merkte an diesem „kraftvollen Wort im rechten Augenblick“ lediglich einen Druckfehler an.444 Ministerialdirektor Roscher aus dem Sächsischen Ministerium des Innern dankte für das „Votum“, das er „sowohl vom Standpunkte des deutschen Universitätswesens als auch von dem der Gehe-Stiftung445 mit lebhaftem Interesse und in allen wichtigen Punk440 Wolfgang Mittermaier (1867–1956), Gießen, 22. November 1912, NL 183:4/Mi-Mu 7–10, Bl. 7–10. 441 Rudolf Smend (1851–1913), Göttingen, 25. November 1912, in: NL 183:4/See-So 97–98, Bl. 98. 442 Königlich Sächsisches Kultusministerium, Dresden, 28. November 1912, NL 183:4/Di-Du 71–74, Bl. 71. 443 Ludwig Elster (1856–1935), Berlin, 25. November 1912, NL 183:4/E-Fi 105–108, Bl. 106. 444 Joseph Partsch, Leipzig, 16. November 1912, NL 183:4/P-Q 29–32, Bl. 29–30. 445 Die Gehe-Stiftung – nach dem Stifter Franz Ludwig Gehe (1810–1882) benannt – verfügte über ein Stiftungsvermögen von zwei Millionen Mark, das der staatsbürgerlichen Erziehung durch Verbreitung von wissenschaftlicher Bildung diente. Siehe: vom Bruch, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung, S. 258, bes. Anm. 187. „Ein Zentrum staatsbürgerlicher Aufklärung im Kaiserreich stellte die Gehe-Stiftung in Dresden dar.“ (Gerhard Oestreich, Otto Hintzes Stellung zu Politikwissenschaft und Soziologie, in: Otto Hintze, Soziologie und Geschichte. Gesammelte Abhandlungen zur Soziologie, Politik und Theorie der Geschichte, hg. von Gerhard Oestreich, 3. Aufl., Göttingen 1982, S. 13). Die

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ten mit freudiger Zustimmung gelesen habe“446; die Dresdner Gehe-Stiftung als staatsbürgerliche Bildungsanstalt, die mit Wissenschaftlern eng zusammenarbeitete und für die sich auch Karl Bücher engagierte, hätte eher zu den Verlierern einer Universitätsgründung gehört. Ernst von Meyer (1847–1916), seit 1893 Professor der Chemie an der Technischen Hochschule Dresden und deren Rektor 1898–1900 und 1912–1913, gerade zur Zeit der Debatte, berichtete Bücher von der Stimmung seiner Kollegen über die Universitätspläne: „Übrigens steht unsere Hochschule, wie ihre bisherige Zurückhaltung zeigt, ruhig auf der Warte, darauf bedacht, daß ihr kein Schaden aus den […] der Verwirklichung gewiß noch sehr fernen Plänen erwachse.“447 Er wusste, dass die meisten Professoren der Technischen Hochschule Dresden keine Volluniversität anstrebten, sondern die Eigenständigkeit des technisch-naturwissenschaftlichen Charakters der Institution wahren wollen. Sie waren mit der 1890 erfolgten Statuserhöhung der Polytechnischen Schule zur Königlich Sächsischen Technischen Hochschule durchaus zufrieden, erst recht, als die Hochschule – gegen den energischen Widerstand der Landesuniversität – 1900 auch das Promotionsrecht zum Doktor-Ingenieur erlangte und damit die formale Gleichstellung mit den Universitäten erreicht war.448 Außerdem waren mit der „Allgemeinen Abteilung“ (seit 1926 „Kulturwissenschaftliche Abteilung“), welche Lehrstühle für Nationalökonomie und Statistik, Rechtswissenschaften, Philosophie und Pädagogik, Geschichte, germanische Philologie und Kunstgeschichte zusammenfasste, die „nichttechnischen“ Fächer vertreten, die eine universitär-akademische Bildung ermöglichten, auch wenn „die rigorose Zweigleisigkeit von technischer und universitärer Bildung“ nicht aufgehoben werden konnte.449 Dem wissenschaftlichen Führungsanspruch der Geisteswissenschaften, namentlich der Philologen, in Leipzig (und der latenten Abneigung gegen praxisorientierte, angewandte Forschung) entsprach spiegelbildlich die Position der technikwissenschaftlichen Fachabteilungen in Dresden. Wie in Leipzig hielt auch in Dresden der Senat der Technischen Hochschule die Gründung einer zweiten Universität weder für zeitgemäß noch für wünschenswert; besser wäre der Ausbau der Hochschule selbst.450 Die in seinem in der Universitätsbibliothek Leipzig aufbewahrten Nachlass überlieferten Briefe an Bücher beweisen die einmütige Ablehnung des Dresdner Universitätsplans. Man muss annehmen, dass sich die Stimmen gegen Büchers „Votum“ anderswo äußerten. Jedenfalls führte die Auseinandersetzung – vom mündlichen Gedankenaustausch abgesehen – auch in andere Korrespondenzen hinein, von denen Karl Bücher keine Nachricht bekam. Der bereits erwähnte Johann Plenge beschwerte sich gegenüber Max Weber über die

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bedeutendsten Wissenschaftler (Nationalökonomen, Staatsrechtler, Historiker, Soziologen, Mediziner) hielten dort Vorträge. Durch eigene Publikationsorgane (Schriftenreihe „Neue Zeit- und Streitfragen“, „Jahrbuch“) wurde über die Hörer hinaus ein breites Publikum erreicht. Franz Karl Georg Roscher, Geh. Regierungsrat, Ministerialdirektor Dresden, 25. November 1912, NL 183:4/R 169–172, Bl. 169. Dresden, 29. November 1912, NL 183:4/Ma-Me 191–194, Bl. 193. Geschichte der Stadt Dresden. Bd. 3: Von der Reichsgründung bis zur Gegenwart, S. 176. Ebd., S. 175. Pommerin, Geschichte der TU Dresden, S. 98.

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„anonymen Perfidien gegen Exzellenz Wäntig in der Dresdener Universitätsfrage“,451 während Weber wiederum ökonomisch argumentierte. „In der Sache Wäntig c/a Bücher muß ich auf B[ücher]s Seite sein. Dieser Dresdener Plan ist ein merkantilistischer Unfug.“452

4.6 Karl Binding und die Dresdner Universitätsfrage Der Strafrechtler Karl Binding (1841–1920) war der zweite prominente Leipziger Professor, der sich öffentlich zur Dresdner Universitätsfrage äußerte.453 Sein Beitrag in den „Leipziger Neuesten Nachrichten“, seinerzeit eine der auflagenstärksten und einflussreichsten Tageszeitungen, umfasst 1,5 großformatige Seiten, seine Sprache ist präzise, die Formulierungen sind knapp und eingängig. Der Wirkliche Geheime Rat, dessen Wertschätzung innerhalb der Universität in seiner sechsmaligen Wahl zum Dekan und zweimaligen Wahl zum Rektor (u. a. Jubiläumsrektor) zum Ausdruck kommt, nahm eine andere Position ein als die rein volkswirtschaftliche Sicht Karl Büchers, der neue Universitäten in Deutschland für ökonomischen Unfug und überflüssigen Luxus hielt. Binding erkannte in der Vermehrung der Universitäten keineswegs einen irgendwie gearteten Schaden, ohne dabei die Frequenzüberfüllung oder die Überlastung der großen Universitäten zu erörtern. Im Gegenteil, er begrüßte rückhaltlos die Wiederentstehung der „längst untergegangene[n] Stadtuniversität“, die zuerst in Frankfurt am Main Gestalt angenommen hatte. Und nachgerade euphorisch würdigt er die in Dresden aus der geschilderten Situation der Tierärztlichen Hochschule heraus gewachsene Idee, den Veterinären die gewünschte Universität in Dresden selbst zu schaffen: „[…] eine ganz prachtvolle Aufgabe! Und meine Anerkennung der Größe dieses Gedankens steht wiederum ganz unabhängig von meinem Urteile über die Vorschläge zu seiner Durchführung.“ Wenn eine Großstadt sich ihre eigene Universität schaffen wolle, sei das ihr gutes Recht, auch wenn es bereits genügend Hochschulen geben sollte. So wäre er auch einverstanden, wenn Dresden sagte: „Ich errichte mir eine Universität! Ich freue mich daran. Ich will sie haben!“ Die Voraussetzung aber müsse sein, dass sie „ganz aus den Mitteln der Stadt und ihrer Bürger“ geschaffen werde wie in Frankfurt, wo er die Gründung einer „Stadtuniversität“ ebenfalls befürwortet hatte. Binding rekurrierte auf die mittelalterlichen Stadtuniversitäten (Bologna, Padua…) und spielte auf den Wunsch der Städte an, eine eigene Universität innerhalb der Stadtmauern zu haben, d. h. er hält den Gründer (Stadt vs. Landesherr oder Papst) und Unterhalter für den Charakter der Universität für ausschlaggebend. Die erste deutsche Stadtuniversität, Köln, entstand 1388 nach dem Wunsch des Stadtrates. In diesem Sinne war Leipzig als autonome Gründung ohnehin nie eine echte „Stadtuniversität“, räumlich aber durchaus: die zentrale 451 So Plenge an Max Weber am 17. März 1913 über die ohne Verfasserangabe erschienenen Artikel Büchers in der Frankfurter Zeitung vom 20. November 1912, vom 10. und 13. Januar 1913. Siehe MWG, Abt. II, Bd. 8, S. 131, Anm. 6. 452 Ebd., 18. März 1913, Max Weber an Johann Plenge. 453 Karl Binding über die Dresdener Universitätsfrage, Sonderdruck aus den Nrn. 101 und 102 vom 13. u. 14. April 1913 der Leipziger Neuesten Nachrichten, unpag. (SHStA Dresden, Ministerium des Kultus und Öffentlichen Unterrichts, Universität Leipzig, Personalakten, 10281/94: Acta, den Professor Dr. jur. Ludwig Karl Binding in Leipzig betr., Bl. 80, 81). Die nachfolgenden Zitate entstammen diesem Zeitungstext.

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Stadtlage gibt ihr dauerhaft einen besonderen Reiz. Die räumliche Ausdehnung und Erweiterung der Stadt und das Wachstum der Universität verliefen parallel und hatten Folgen für den Charakter der Hohen Schule. 1909 war Leipzig auch insofern schon keine reine Stadtuniversität mehr, als sie längst über den mittelalterlichen Stadtkern hinausgewachsen war und durch zahlreiche Neubauten in – relativer – Randlage (Physik/Chemie, Veterinärinstitut, Kliniken) die starke Dezentralisierungstendenz nicht verleugnen konnte. Karl Lamprecht hatte sich durch seine Idee der Campusuniversität quasi auf dem freien Feld von der Idee der Stadtuniversität konsequent verabschiedet, allerdings zeigt das Scheitern seines für „absurd“ gehaltenen Planes die beharrliche Anhänglichkeit „Tausende[r] von privaten Interessen, namentlich auch der Frauen“454 an der zentralen Lage der Universität und einer Konzentration ihrer Einrichtungen, die zudem die Teilnahme an den bürgerlich-kulturellen und sozialen Pflichten erheblich bequemer machte. Die Stadt beteiligte sich zwar an „ihrer“ Universität, indem sie beispielsweise Grundstückskauf und -tausch erleichterte oder städtische Grundstücke für Universitätsneubauten überließ, was davon zeugte, „dass der Rath und die Bürgerschaft Leipzigs die Bedeutung einer Anstalt wohl zu würdigen wissen, welche nicht bloss zu dem materiellen Wohlstand unserer Stadt einen leicht zu berechnenden Beitrag liefert, sondern auch auf de­ ren geistiges Leben einen eben so unleugbaren als unberechenbaren förderlichen Einfluss ausübt.“455 Die finanzielle Hauptlast lag aber in staatlicher Hand. Sollte eine Stadtuniversität in Dresden entstehen, würde Leipzig darunter leiden (Frequenz), doch bestünde keine existenzbedrohende Gefahr, weil Dresden genug zu tun haben würde, „eine mittlere Universität auf der Höhe zu halten“. Sachsen hätte dann freilich zwei „anständige Mittel-Universitäten“ und würde aus der Reihe deutscher Staaten ausscheiden, die eine Universität ersten Ranges besitzen. „Für zwei Universitäten ersten Ranges ist Sachsen entschieden zu klein und nicht finanzkräftig genug.“456 Binding setzte sich vor allem mit Otto Beutlers „Vortrag über die Erhaltung der Tierärztlichen Hochschule in Dresden und die Errichtung einer Universität daselbst“ (Dresden 1913) auseinander, weil darin, anders in der Schrift Waentigs („Philacademicus“), sehr präzise Vorstellungen von der Dresdner Universität dargelegt wurden. Denn ganz anders als eine Stadtuniversität wie in Frankfurt sollte „die Errichtung einer staatlichen Universität in Verbindung mit der Technischen Hochschule und unter Angliederung der Tierärztlichen Hochschule in Dresden angestrebt“ werden.457 Die vorgeschlagene Struktur aus sieben Fakultäten – ohne eine theologische Fakultät, für den Fall der Angliederung der Forstakademie Tharandt458 454 Karl Lamprecht, Rektoratserinnerungen, S. 54. 455 Rede des abtretenden Rektors Gustav Adolf Ludwig Baur, 31. Oktober 1875, in: Rektoratsreden, Bd. I, S. 133 f. Konkret ging es um die Verlegung des botanischen Gartens, neue Gebäude für das zoologische und landwirtschaftliche Institut und die die Veterinärklinik. 456 Karl Binding über die Dresdener Universitätsfrage, Sonderdruck aus den Nrn. 101 und 102 vom 13. und 14. April 1913 der Leipziger Neuesten Nachrichten, unpag. (SHStA Dresden, Ministerium des Kultus und Öffentlichen Unterrichts, Universität Leipzig, Personalakten, 10281/94: Acta, den Professor Dr. jur. Ludwig Karl Binding in Leipzig betr., Bl. 80, 81). 457 Beutler, Vortrag über die Erhaltung der Tierärztlichen Hochschule in Dresden, S. 51. 458 Sie wurde 1929 der Technischen Hochschule angegliedert. Die Bergakademie Freiberg blieb selbstständig.

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und der Bergakademie Freiberg dafür mit diesen als zwei weiteren Fakultäten – ergäbe Binding zu Folge eine Riesenuniversität mit bisher kaum gekannten Ausmaßen. Und dann „ist für Leipzig die Existenzfrage gestellt“, weil der Rückhalt des Staates entfiele, welcher der Landesuniversität im Wettbewerb der deutschen Universitäten stets den Rücken gestärkt hatte. Beutlers Beteuerungen, dass die Leipziger Universität mitnichten Schaden leiden würde, erweisen sich in Bindings Analyse als haltlos. Der Jurist zeigt klar, dass der Staat unweigerlich in die Pflicht genommen würde, weil die Bedürfnisse der Universität in der Residenzstadt Dresden „mit eiserner Notwendigkeit“ steigen müssten, die privaten Gelder aber erst über Jahrzehnte hinweg einträglich wirken könnten. Die Denkschrift des Leipziger Senats setzt ebenfalls hier an, weil in ihr die Kostenexplosion aus den wirklichen Bedürfnissen der Fakultäten errechnet worden war, die bei Beutler viel zu gering angesetzt seien. So würde eine Gleichheit zwischen Dresden und Leipzig erreicht werden, und dann kämen die „kolossalen Vorzüge“ (Binding) der Residenzstadt ins Spiel – die landschaftlich reizvolle Lage, die hervorragenden Kunstsammlungen, das Theater –,denen Leipzig nichts Gleichwertiges entgegensetzen könne (nicht ohne Grund lag die Frequenz in Leipzig während der Sommersemester, in denen die Studenten ‚reizvoll gelegene‘ Universitäten bevorzugten, regelmäßig unter derjenigen in den Wintersemestern). Im Übrigen dürfe man die politischen Einflüsse der Residenzstadt auf die Regierung keineswegs geringschätzen. Mit der Gleichheit aber „ist der Untergang der Leipziger Universität entschieden“. „Es wäre mir eine wahre Freude gewesen, diesem neuen Plane einer Universitätserrichtung gegenüber eine andere Stellung einnehmen zu können. Ich finde für Dresden die Universität einen schönen Luxus, den ich der Stadt wohl gönnen kann und den ich ihr gern gönne: aber nur eine Stadtuniversität, nicht die ‚staatliche Hochschule Dresden‘!“459

4.7 Die Denkschrift des Leipziger Akademischen Senats Verfechter einer volkswirtschaftlichen Perspektive auf die Debatte war, wie geschildert, Karl Bücher, dessen im November 1912 publiziertes Ergebnis die Denkschrift des Senats sogleich in Beschlag nahm: „Der berühmte Lehrer der Nationalökonomie kam zu einer runden Ablehnung des Projekts.“460 Anfang 1913 begann der akademische Senat, sich ernsthaft mit dem Dresdner Universitätsplan zu beschäftigen: Solange nur „unverantwortliche“ Stellen wie die Tagespresse anonyme Beiträge veröffentlichten, hatte dazu kein Anlass bestanden. Im April 1913 war Karl Bindings Stellungnahme zur Dresdner Universitätsfrage erschienen, im Oktober 1913 widmete sich auch der in Straßburg tagende Fünfte Deutsche Hochschullehrertag der Neugründung von Universitäten. Im Referat Büchers wurde hervorgehoben, dass die 459 Karl Binding über die Dresdener Universitätsfrage, Sonderdruck aus den Nrn. 101 und 102 vom 13. u. 14. April 1913 der Leipziger Neuesten Nachrichten, unpag. (SHStA Dresden, Ministerium des Kultus und Öffentlichen Unterrichts, Universität Leipzig, Personalakten, 10281/94: Acta, den Professor Dr. jur. Ludwig Karl Binding in Leipzig betr., Bl. 80, 81 – hier Blatt 81). 460 Denkschrift des Akademischen Senats der Universität Leipzig, S. 1.

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Agitation für Neugründungen bisher nie von den Universitäten selbst oder den Universitätsprofessoren ausgegangen sei.461 Die im Dezember 1913 gedruckte Denkschrift des Senats stammt aus der Feder des überaus angesehenen Theologen und Kirchenhistorikers Albert Hauck (1845–1918), der 1889 aus Erlangen berufen worden war.462 Während seiner Wirkungszeit an der Universität Leipzig wurde Hauck viermal Dekan der Theologischen Fakultät – das letzte Mal, über siebzigjährig, noch kurz vor seinem Tod (1916/17) – und einmal Rektor (1889/99), zweifellos erneuter Ausdruck höchster kollegialer Anerkennung. Auch in der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften trat er hervor, besonders bekannt aber ist er durch sein bedeutendstes Werk, die fünfbändige „Kirchengeschichte Deutschlands“ (1887–1920) geblieben, ein Standardwerk der Kirchengeschichtsschreibung. Aus der einfühlsamen Würdigung des Rektors Rudolf Kittel, auch er Theologe, wird die Persönlichkeit Haucks erkennbar: „Seit langem als Meister historischer Forschung allgemein anerkannt, wird er innerhalb der Wissenschaft vor allem durch sein vielbändiges Monumentalwerk, die Kirchengeschichte Deutschlands, weiterleben. Souveränes Beherrschen des Materials, Vielseitigkeit und Gründlichkeit der Untersuchung, ein abgeklärtes, den Weltweisen verratendes Urteil und eine ungekünstelte Schönheit, ja zuweilen ein unerreichter Glanz der Darstellung sind die Züge des Gelehrten. Dem stillen Manne – still nicht aus Zaghaftigkeit, sondern aus Überlegenheit – dankt die Universität die charaktervolle Führung des Rektorats, wie mannigfache wertvolle Mitarbeit und Beratung im Senat und in Arbeitskommissionen. […] Die Tagespresse, die sonst manchmal mit dem Prädikat des berühmten Gelehrten so freigebig ist, nahm von seinem Hingang kaum Kenntnis – und doch war mit Hauck nach vieler Urteil ,der‘ Historiker geschieden, der größte Geschichtsschreiber für die Zeit nach Christus, den die Welt seit Ranke gesehen hatte.“463

Im Senat hatte Hauck am 30. Juli 1913 über die Denkschrift berichtet.464 Er beschränkte sich nicht auf die „Zurückweisung der Beutlerschen Ausführungen“, sondern zog auch die vorangegangene Waentigsche Schrift („Philacademicus“) heran, dessen offenherzige Aussage, dass die Universität Dresden das Mittel sein solle, die Verlegung der tierärztlichen Hochschule von Dresden nach Leipzig zu verhindern, angesichts der Kluft zwischen Zweck und Mittel die Widerlegung der Pläne zusätzlich erleichterte. Da eine Dresdner Universität von den Leipzigern im eigenen Interesse ohnehin abgelehnt werden musste, da „ihre Blüte wenigstens zum Teil darauf [beruht], daß sie die einzige sächsische Landesuniversität ist“,465 erstaunt es nicht, dass die gesamte Denkschrift anscheinend nur diesem Zweck diente, obgleich sie mehrfach explizit Unvoreingenommenheit bekundet und für sich reklamiert, nicht pro domo reden zu wollen. Um diesen Zweck zu erfüllen, setzte Hauck eine Messlatte an, die von den Dresdner Planern so sicher nicht in Betracht gezogen worden war: Er ging davon aus, dass, wenn überhaupt, nur eine Volluni461 Pommerin, Geschichte der TU Dresden, S. 103. 462 Günther Wartenberg (Hg.), Albert Hauck (1845–1918). Vorträge der festlichen Veranstaltung aus Anlaß seines 150. Geburtstages in der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig, Leipzig 1999; Martin Teubner, Historismus und Kirchengeschichtsschreibung. Leben und Werk Albert Haucks (1845–1918) bis zu seinem Wechsel nach Leipzig 1889, Göttingen 2008. 463 Rede des abtretenden Rektors Rudolf Kittel, 31. Oktober 1918, in: Rektoratsreden, Bd. II, S. 1189. 464 UAL, Rep. I/XVI, Sect. II Nr. 20, 241v ff., Sitzung des akademischen Senats vom 30. Juli 1913 (Hauck saß der entsprechenden Kommission vor). 465 Denkschrift des Akademischen Senats der Universität Leipzig, S. 1.

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versität von Leipziger Ausmaßen errichtet werden dürfe, die im Hintergrund als Idealgestalt einer wünschenswerten Universität erscheint – alles andere wäre unvollkommen, unzulänglich, dürftig, der Wissenschaft nicht angemessen u. ä. Der Ausschluss der theologischen Fakultät aus dem Kreis der Fachwissenschaften etwa zeige unbestreitbar, dass die vorgesehene Universität darauf verzichte, „das Gesamtgebiet des geistigen Lebens der Vergangenheit und Gegenwart mit ihrer Forschung zu umspannen“.466 Die konsultierten Kollegen hatten Hauck versichert, dass die Pläne für ihre jeweiligen Fachgebiete „geradezu bescheiden“ und „ganz unzulänglich“ seien. Auch der Jurist Karl Binding wetterte über die vorgesehenen fünf ordentlichen und zwei außerordentlichen Professoren der juristischen Fakultät: „Das ist doch keine juristische Fakultät mehr, sondern ein jämmerlicher Torso!“467 Insgesamt, so Hauck, fordere der Plan Otto Beutlers gegenüber den wirklichen Bedürfnissen viel zu wenig und veranschlage die Kosten viel zu gering,468 mithin sei er nicht durchführbar. Die Denkschrift des akademischen Senats wartet mit zahlreichen Informationen auf, die für die Universitätsgeschichte von Belang sind. Sie geht sehr zielgerichtet vor, argumentiert sachbezogen und pragmatisch, lässt aber indirekt das Idealbild einer großen (Voll-) Universität, nämlich das der Leipziger, aufleuchten. „Einsicht in den Wert der akademischen Bildung und die Überzeugung von der Notwendigkeit der wissenschaftlichen Forschung“469 setzte die Leipziger Denkschrift als Grundsatz sämtlicher Überlegungen ebenso voraus wie „eine verständige, gewissenhafte und heilsame Universitätspolitik“.470 Das tatsächlich vorhandene strukturelle Problem, dem sich aus Leipzig namentlich Karl Bücher widmete:471 „sind große oder mittlere Universitäten vorzuziehen?“472, wird durchaus ausgewogen beantwortet, führt aber doch zu der Schlussfolgerung, dass die großen Universitäten nicht nur ökonomisch, sondern auch hinsichtlich der Wissenschaft im Vorteil sind. Sie sind reichlicher mit Forschungsmitteln ausgestattet, entscheidend aber sei die wissenschaftliche Kooperation der Gelehrten, die Möglichkeit des disziplinübergreifenden Austauschs, kurz, der Umstand, „daß die gegenseitige wissenschaftliche Anregung und Befruchtung, die durch die größere Zahl von Dozenten und durch die größere Mannigfaltigkeit von Instituten dargeboten wird, alles dasjenige übertrifft, was eine kleinere Universität leisten kann. Der Bestand einer Anzahl von wirklich großen Universitäten kommt deshalb direkt der Forschung, der Wissenschaft als solcher, zugute, und damit indirekt auch dem Unterricht.“473 466 UAL, Rep. I/XVI, Sect. II Nr. 20, 241v ff., Sitzung des akademischen Senats vom 30. Juli 1913, Bl. 242. 467 Karl Binding über die Dresdener Universitätsfrage, Sonderdruck aus den Nrn. 101 und 102 vom 13. u. 14. April 1913 der Leipziger Neuesten Nachrichten (unpag. SHStA Dresden, Ministerium des Kultus und Öffentlichen Unterrichts, Universität Leipzig, Personalakten, 10281/94: Acta, den Professor Dr. jur. Ludwig Karl Binding in Leipzig betr., Bl. 81). 468 Rep. I/XVI, Sect. II Nr. 20, 241v ff., Sitzung des akademischen Senats vom 30. Juli 1913, Bl. 242 v. 469 Denkschrift des Akademischen Senats der Universität Leipzig, S. 4. 470 Ebd., S. 8. 471 Zur Diskussion in Preußen um die Vor- und Nachteile „großer“ und „kleiner“ Universitäten siehe vom Bruch, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung, S. 112. 472 Denkschrift des Akademischen Senats der Universität Leipzig, S. 10. 473 Ebd., S. 10 f. (Hervorhebung K. M.).

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Als „Versündigung an der Wissenschaft“ wird eine Universitätspolitik beurteilt, deren Absicht es sei, die Entstehung großer Universitäten zu verhindern und eine große durch zwei mittlere oder kleine zu ersetzen.474 Zuerst wird die Frage geprüft, ob die Vermehrung der deutschen Universitäten überhaupt notwendig ist.475 Der zweite Teil untersucht die Frage, ob Sachsen eine zweite Universität braucht (Bedürfnisfrage).476 Die Schädigung der Universität Leipzig, die in der Dresdner Denkschrift verneint wird, wird im letzten Teil begründet.477 Der dramatische Schlusspunkt lässt über die Ablehnung des Dresdner Plans hinaus gar keinen Zweifel mehr zu am Selbstbild der Leipziger Universität: „Wir können demnach den Dresdner Universitätsplan nur ablehnen. Er wird sicher die Leipziger Universität auf das schwerste schädigen und er erstrebt eine Gründung, deren Notwendigkeit weder für Sachsen noch für Deutschland nachgewiesen ist; seine Ausführung würde zur Folge haben, daß Sachsen an Stelle einer der großen deutschen Universitäten zwei mittlere erhielte, de­ ren Erhaltung einen unverhältnismäßig großen Aufwand erforderte, und von denen keine das, was Leipzig bisher war, sein könnte: eine Führerin im deutschen Universitätswesen.“478

Am 6. Dezember 1913 musste Otto Beutler den Dresdner Stadtverordneten mitteilen, dass die Errichtung einer Universität von der Regierung und den beiden Ständekammern grundsätzlich verworfen wurde.479 Am 18. Dezember 1913 beschlossen sodann die Stadtverordneten, die Beratungen über die Errichtung einer Universität in Dresden bis auf weiteres einzustellen. Die Beratungen der Kammern im Frühjahr 1914 erbrachten endgültig die Zustimmung zur Regierungsvorlage, die die Eingliederung der Tierärztlichen Hochschule in die Landesuniversität Leipzig forderte. Die Universitätspläne für Dresden waren vom Tisch. In Leipzig herrschte Erleichterung, doch hatte man eigentlich nichts anderes erwartet. Nachdem sich der große Plan „durch gänzliches Scheitern erledigt“, der Kultusminister sich nicht auf „Halbheiten“ eingelassen hatte, konnte sich der Rektor Otto Mayer kürzer fassen und das „wahre Glück […] [dieser Lösung] für das ganze Sachsenland und seine Stellung in der Kulturwelt“ preisen.480 Die dennoch so gesehene „höchst nachteilige Bedrohung“ der Leipziger Universität verband sich mit der Tatsache, dass sich die Verlegung der Tierärztlichen Hochschule nach Leipzig bis 1923 hinzog. Das Thema Universität Dresden war damit praktisch beendet,481 für Otto Beutler aber noch nicht. Im Juni 1914 schrieb er: „Dieses Ziel aber, eine moderne Universität, an der alle wissenschaftlichen Gebiete, die technischen wie die Geisteswissenschaften gelehrt werden und eine gegenseitige Befruchtung dieser jetzt noch getrennt arbeitenden Wissenschaften ermöglicht wird, muß das Ziel unserer Bemühungen bleiben.“482 474 475 476 477 478 479 480 481 482

Ebd., S. 11. Ebd., S. 3–13. Ebd., S. 13–28. Ebd., S. 28–30. Denkschrift des Akademischen Senats der Universität Leipzig, S. 30 (Hervorhebung im Original in Sperrschrift). Pommerin, Geschichte der TU Dresden, S. 106. Rede des abtretenden Rektors Otto Mayer, 31. Oktober 1914, in: Leipziger Rektoratsreden, Bd. II, S. 1077. Universität Leipzig, Bd. 4/2, S. 1428. Über den Fortgang bis zur Gründung der fünften (veterinärmedizinischen) Fakultät in Leipzig 1923 ebd., S. 1428–1431. Zit. nach Pommerin, Geschichte der TU Dresden, S. 106 (Hervorhebung K. M.).

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Diese Idee der Vereinigung von Universitäts- und technischer Wissenschaft, für die sich in Leipzig neben Karl Bücher auch Felix Klein eingesetzt hatte, der in seiner Antrittsrede den Bedeutungsverlust der Universität Leipzig vorhersah, „wenn sie dieses Moment [die Technik] einfach ignoriert“483 und der in Göttingen damit erfolgreich wurde, blieb hier uneingelöst. Seitdem Friedrich Zarncke 1881 die Möglichkeit einer fünften, technischen Fakultät in Betracht gezogen hatte,484 irrlichterte die Rede von der Technik in den Rektoratsreden, ohne über prinzipielle Ablehnung, utilitaristische Verdammung oder verschwommene Angstgefühle hinauszukommen;485 konkret wurde sie in diesem öffentlichen Raum nicht wieder besprochen. Eine moderne Universität hatten die Dresdner Protagonisten Waentig und Beutler im Sinn, eine Universitätsreform, die durch die Vereinigung von Universitätswissenschaft und technischer Wissenschaft die ausschließlich in Deutschland herrschende „Zurückhaltung der Universität gegenüber der Technik“ („Philacademicus“) überwinde.486 Die Idee scheiterte, praktisch in Dresden, ‚neuhumanistisch‘-theoretisch in Leipzig. *** Die Aufgabe in diesem Beitrag bestand in der historischen Rekonstruktion der Debatten über das Universitätsideal, das Handeln und Hoffen an der Universität Leipzig in der Phase ihres raschen Wachstums ab den 1870er Jahren und ihrer jubiläumsgeleiteten Selbstvergewisserung im Jahre 1909. Dieses Ideal lässt sich wie in einem Spiegel indirekt beobachten, indem man den Rechenschaftsberichten der an- und abtretenden Rektoren folgt, indem man das Argument von der zentralen Bedeutung von Berufungen aufgreift und sich an den tatsächlich erfolgten Neuberufungen, den abgewehrten Wegberufungen und den Begründungen für unterlassene Nominierungen orientiert. Das Projekt einer Dresdner Universitätsgründung offenbart, wie sich das Gesicht der messestädtischen Alma Mater über das Mienenspiel ihrer Protagonisten veränderte, als auch nur die Idee einer nahe gelegenen Konkurrenz auftauchte, und stellt einen Bezug her zur nationalen Debatte um eine angemessene Hochschulstruktur. 483 Zit. nach Manegold, Universität, Technische Hochschule und Industrie, S. 102. 484 „Aber wenn einmal beschlossen werden sollte, woran doch schon gedacht worden ist, auch den prak­ tischen und technischen Fächern, deren wissenschaftliche Ausbildung unsere Bewunderung erregt, in grösserem Umfange einen Platz an den Universitäten zu gewähren, dann werden sie, wie es sich ge­ bührt, gemeinsam eine eigene Gruppe bilden, eine fünfte Fakultät, und, wenn auch ungerne, wird dann die philosophische Fakultät liebgewordene Freunde wieder aus ihrer Mitte entlassen müssen. Dann erst wird das umfassendste encyclopädische System, das des Isidor, vollständig hergestellt sein, welches zuerst die septem artes, dann die Theologie, Jurisprudenz und Medicin, und darauf die ganze Masse der praktischen und technischen Gebiete behandelte.“ Rede des antretenden Rektors Friedrich Zarncke, Über Geschichte und Einheit der philosophischen Fakultät, 31. Oktober 1881, in: Rektoratsreden, S. 322. 485 Beispielsweise die bereits zitierte Rede des Rektors Max Heinze („Über den sittlichen Werth der Wissenschaft“), 31. Oktober 1883, in: Rektoratsreden S. 357 f. oder Gerhard Seeliger: „Aber wie die universitas literarum nie zu einem Nebeneinander einzelner Fachschulen werden darf, wie es ihr nicht in erster Linie auf das Technisch-Praktische, sondern auf das Allgemeinwissenschaftliche der Ausbildung ankommen muß […] ein großes Gemeinsames [bleibt aber] bestehen: ein einheitliches Streben nach reinem wissenschaftlichen Erkennen, das unabhängig ist von allen äußeren Einflüssen, unabhängig auch von rein technisch-praktischen Zielen […]“, Rede des antretenden Rektors Gerhard Seeliger, 31. Oktober 1905, in: Rektoratsreden, S. 884. 486 Zur Frage der Errichtung einer Universität in Dresden von Philacademicus, Dresden 1912, S. 15.

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Diese drei Gelegenheiten, das propagierte und das gelebte Ideal der Universität zu betrachten, bringen die Gedanken und Motive der Professoren, der Ministerialen und der Vertreter der Stadt aus einer mehr als 100 Jahre zurückliegenden Epoche näher. Manches davon hat sich inzwischen erledigt – so ist auch der vormaligen Landesuniversität Leipzig längst eine inzwischen im Bundesexzellenzwettbewerb weit erfolgreichere Dresdner Konkurrenz erwachsen. Die Debatte um kleine und große Universitäten hat in mehreren Ausbauschüben des deutschen (wie des weltweiten) Hochschulwesens immer wieder neue Nahrung bekommen und ist nicht bei den einst als Monstrosität geltenden 5000 Studierenden stehen geblieben. Bemerkenswerterweise waren 5000 Studierende die maximale Zielzahl der Reform- und Arbeitsuniversität Konstanz in den 1960er Jahren gewesen. Über die Vorlesung, die Wilhelm Ostwald so verabscheute, ist hochschuldidaktisch immer wieder der Stab gebrochen worden, und doch gehört sie noch immer zum Repertoire der Hochschulen, neuerdings mit Massenpublikum im Internet. Was kann der Blick in den historischen Spiegel lehren? Argumente wiederholen sich, sie werden dadurch weder falsch noch endgültig richtig. Daraus abgeleitete Handlungsweisen wiederholen sich, aber sie wiederholen sich in neuen Kontexten. Das Bewusstsein um den Ausgang entsprechender früherer Bemühungen mag die Wiederholung nicht verhindern, aber sie vielleicht reflektierter gestalten.

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