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German Pages 152 [144] Year 1974
KUCZYNSKI
Wissenschaft Heute und Morgen
JÜRGEN K U C Z Y N S K I
WISSENSCHAFT HEUTE UND MORGEN Geschrieben unter dem Kreuzfeuer der Kritik von Robert Rompe und Kurt Werner
A K A D E M I E - V E R L A G
1973
•
BERLIN
Erschienen im Akademie-Verlag GmbH, 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 Copyright 1973 by Akademie-Verlag GmbH Lizenznummer: 202 • 100/256/73 Umschlag: Nina Striewski Herstellung: VEB Druckhaus Kothen Bestellnummer: 6152 • ES 1 D • 5 C EDV-Nr.: 752 1233 Preis: 8 , - M
Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung Erster Teil: Wissenschaft
7 Heute
Kapitel I. Die historische Situation
9 11
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Die Rolle der Rüstung 12 Der Militär-Industriekomplex und die Wissenschaftler 15 Rüstung und Krieg — Mutter und Vater der Wissenschaft? 19 Vom angeblichen Nutzen der Militärtechnik für die Ziviltechnik 25 Der Stand der wissenschaftlich-technischen Revolution Heute 29 Wissenschaftlich-technische Revolution und Abrüstung 36 Ein Brief an J. D. Bernal über den Einfluß der Produktionsverhältnisse auf Rüstung und Wirtschaft 42 8. Monopol und Wissenschaft 43 Kapitel II. Intensivierung statt Expansion! Durch die Krise der Quantität zur Erhöhung der Qualität
45
Kapitel III. Intensivierung des Wissenschaftsbetriebs und die Wissenschaftsorganisation
72
1. 2. 3. 4.
75 81 90 94
Zweiter
Der schöpferische Gedanke Der einzelne und die anderen Die Wissenschaftsfabrik Großforschung und Kleinforschung Teil: Ausweglose
Theorien
103
Kapitel IV. Das „Goldene Zeitalter"
107
Kapitel V. „Dämon Wissenschaft"
117
6
Inhaltsverzeichnis
Dritter
Teil:
Wissenschaft
Morgen
127
Kapitel VI. Naturwissenschaften und Technologie
130
1. Blick in die nähere Zukunft — Fünfzig Jahre
130
2. Blick in die weitere Zukunft — bis weit in den vollendeten Kommunismus hinein 134 Kapitel VII. Die Gesellschaftswissenschaften
138
Kapitel VIII. Die Rolle der Wissenschaft in der Zukunft
143
Namenverzeichnis — Von Margarete Kreipe
147
Vorbemerkung
Uber die Bedeutung der Thematik des ersten und Hauptteiles dieses Buches kann heute kein Zweifel bestehen. Nur allzu dringend sind die Mahnungen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, geboren aus den Erfordernissen der Wissenschaftsentwicklung bei uns und anderswo, sidi um die Intensivierung des Wissenschaftsbetriebs zu bemühen. Der zweite Teil ist eine ideologische Auseinandersetzung mit dem Feind und dem noch keinen Ausweg sehenden Freund. Der dritte Teil wird hoffentlich allen, deren Blick gelegentlich in die fernere Zukunft schwebt, Anregung sein. Als das Manuskript dieses Buches im ersten Entwurf geschrieben war, bat ich Robert Rompe, es kritisch durchzusehen. Nachdem ich seine und seines Mitarbeiters Kurt Werner Bemerkungen gelesen hatte, ergaben sich eine Reihe für die endgültige Gestaltung des Buches wichtige Diskussionen zwischen uns. Doch schien es mir auch nützlich, einige ihrer Bemerkungen direkt in den Text zu übernehmen. Sie gaben, schon im Interesse der Entwicklung des Meinungsstreits, ihre Einwilligung. Für mich als Gesellschaftswissenschaftler war die Hilfe der Naturwissenschaftler, die bisweilen auch nur in einem zustimmenden Kopfnicken bestand, von größter Bedeutung, und jeder kann sich leicht vorstellen, wie dankbar ich Robert Rompe und Kurt Werner bin. Selbstverständlich aber sind sie in keiner Weise irgendwie mit dem Buche identifiziert. Alle Fehlurteile sind meine eigenen. 112 Berlin-Weißensee Parkstraße 94
Jürgen
Kuczynski
KAPITEL
I
Die historische Situation „In der Geschichte war stets der Charakter der Gesellschaftsordnung das Ausschlaggebende." Bericht des Politbüros an die 14. Tagung des ZK der SED, 1970. Der Charakter unserer Zeit wird durch die Auseinandersetzung zwischen den Kräften des Fortschritts und der Reaktion, durch den weltweiten Klassenkampf zwischen Sozialismus und Kapitalismus bestimmt. Der Übergang von den Produktionsverhältnissen des Kapitalismus zu den Produktionsverhältnissen des Sozialismus bestimmt den Inhalt unserer Epoche. Es sind die Produktionsverhältnisse, der Charakter der Gesellschaftsordnung, es ist der Kampf der Klassen, die aus den Produktionsverhältnissen herausgewachsen sind, die unserer Zeit und so auch der Wissenschaft und ihrer Entwicklung Charakter und Inhalt geben. Alle die, die Charakter und Inhalt unserer Zeit durch die Produktivkräfte und ihren Stand bestimmen wollen — von Galbraith bis zu Garaudy —, landen bei der unrealistischen und — was immer ihre persönliche Haltung — der Reaktion dienenden Theorie der Konvergenz von Kapitalismus und Sozialismus. Alle die, die Charakter und Inhalt unserer Zeit durch die Produktivkräfte und ihren Stand bestimmen wollen — von Marcuse bis zu Sweezy —, landen bei der unrealistischen und — was immer ihre persönliche Haltung — der Reaktion dienenden Theorie, daß die Arbeiterklasse als die einzige konsequent revolutionäre Klasse ihre historische Rolle ausgespielt hat. Wer die wissenschaftlich-technische Revolution, deren Kernprozeß die komplexe und Vollautomatisierung ist, zum bestimmenden Faktor der Gegenwart macht, ernennt (unter heutigen Verhältnissen!) die Wissenschaftler und Techniker zum revolutionären Träger der Bewegung in die Zukunft. Wer die Realität erkennt, wer als Marxist-Leninist unsere Zeit analysiert
Die historische Situation
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und die Welt verändernde Schlußfolgerungen zieht, der weiß, daß die Arbeiterklasse, die die Produktionsverhältnisse verändert, der revolutionäre Träger der für die Zukunft entscheidenden Bewegung zur Vergesellschaftung der Produktionsmittel, zur Abschaffung der Ausbeutung, zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft überall in der Welt ist. Was aber die Produktivkräfte, was den wissenschaftlich-technischen Fortschritt betrifft, so vertreten die Wissenschaftler in der Sowjetunion mit Recht folgende Auffassung: „Von den sowjetischen Ökonomen wird übereinstimmend die zunehmende Beschleunigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, die wachsende Bedeutung dynamischer Strukturveränderungen betont. Die wissenschaftlich-technische Revolution, die qualitativen Veränderungen in den Produktivkräften sind für den ökonomischen Fortschritt — vor allem aus perspektivischer Sicht — sehr bedeutsam. Es wird stets nachdrücklich darauf hingewiesen, daß die Vervollkommnung vorhandener Prinzipien, die effektivere Nutzung des vorhandenen Anlagevermögens usw. die Hauptquelle des ökonomischen Fortschritts in der Gegenwart ist, daß gerade sie den notwendigen Akkumulationsvorlauf für die Vorbereitung und Verwirklichung der qualitativen Veränderungen in den Produktivkräften schaffen." 1 Die „vorhandenen Anlagevermögen, die Hauptquelle des ökonomischen Fortschritts in der Gegenwart" werden aber heute von Millionen Neuerern und nicht von ausgewählten Automatentechnologen ständig verbessert und rationalisiert. In dem Maße jedoch, wie im Laufe der Zeit die komplexe und Vollautomatisierung ein größeres Gewicht erhält, verwandelt sich auch die Arbeiterklasse in Beherrscher dieser Prozesse. Wie gestalten sich nun Wissenschaft und Technologie, Forschung und Entwicklung in einer solchen historischen Situation? Welchen Eigentümlichkeiten der Bewegung unterliegt in einer solchen weltweiten Klassenkampfsituation der wissenschaftlich-technische Fortschritt, die wissenschaftlich-technische Revolution und auch die Formierung der Gesellschaftswissenschaften? 1. Die Rolle der Rüstung Selbstverständlich haben Wissenschaft, Technologie, Forschung und Entwicklung ihre eigenen Bewegungsgesetze. Selbstverständlich wird ihre Bewegung in letzter Instanz von den ökonomischen Gesetzen bestimmt. Doch untersuchen wir hier nicht die Entwicklung von Forschung und Entwicklung allgemein, Charakter und Bewegung der wissenschaftlich-technischen Revolution prinzipiell, sondern in einem bestimmten historischen Moment, „Heute", wie es in der Überschrift des ersten Teiles heißt. 1
Vgl. „Einheit", Heft 5, 26. Jg. Berlin 1971, S. 533.
Die Rolle der
Rüstung
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Heute, in einer Zeit, in der sich, wie auf der Internationalen B e r a t u n g der k o m m u n i s t i s c h e n u n d Arbeiterparteien in M o s k a u i m J a h r e 1 9 6 9 festgestellt w u r d e , die geschichtliche A u s e i n a n d e r s e t z u n g zwischen S o z i a l i s m u s u n d K a p i t a l i s m u s zuspitzt. Zuspitzt und auch zu einer jährlich effektiver, d a ß heißt destruktiver werd e n d e n militärischen R ü s t u n g führt. R ü s t u n g der R e a k t i o n unter F ü h r u n g der U S A - M o n o p o l e zur militärischen Aggression gegen den S o z i a l i s m u s — R ü s t u n g der sozialistischen L ä n d e r zur A b w e h r der geplanten Aggression, z u m Schutz d e s Sozialismus. Welch ungeheuerliche Zuspitzung der G e g e n s ä t z e zwischen S o z i a l i s m u s u n d K a p i t a l i s m u s auch im Charakter, i m Sinn, in der A u f g a b e n stellung der R ü s t u n g ! bei, wie es die Dialektik m i t sich bringt, „ E i n h e i t der G e g e n s ä t z e " in der T a t s a c h e der R ü s t u n g , in der Gleichheit der Technik der R ü s t u n g . 2 G e n a u wie F a b r i k e n sind (theoretisch!) auch die W a f f e n s y s t e m e austauschbar.3 2 „Gleichheit der Technik der Rüstung" bedeutet jedoch nicht Identität der Anwendung der Technik. Natürlich wäre die Sowjetunion im zweiten Weltkrieg auch in der Lage gewesen, deutsche Städte mit Bomben zu zerstören. Aber sie hielt eine solche Kriegführung für überflüssig grausam, da sie nicht effektiv wäre. Nachkriegsuntersuchungen von amerikanischer Seite haben diese Einschätzung der Sowjetmilitärs voll bestätigt. Man muß also nicht nur die gesellschaftlichen Ziele der Kriegführung unterscheiden, sondern muß auch stets die auf Grund gesellschaftlicher Erkenntnisse überlegene Strategie und Taktik der Kriegsführung der sozialistischen Staaten im Auge behalten. 3 Robert Rompe bemerkt dazu: „Waffensysteme sind zweifellos z. T. austauschbar. Das ist aber nur eine Seite der Problematik. Bedeutungsvoll ist, welche Waffensysteme im sozialistischen Lager nicht entwickelt bzw. welche Vorbereitungen für Waffensysteme unterlassen werden, die die imperialistischen Staaten offensichtlich aus Profitinteressen weiterführen.* Wenn zum Schluß Maschinenpistolen oder sogar Wasserstoffbomben austauschbare Dinge sind, so ist der Weg bis zu diesen ein sehr unterschiedlicher und, im ganzen gesehen, in einer sozialistisch geplanten Wirtschaft gradliniger und erheblich ökonomischer. Das ist auch ein Grund, warum trotz wachsender militärischer Überlegenheit der SU gleichzeitig eine Erhöhung des Lebensstandards der Bevölkerung vorgenommen werden kann. Da sich die Erhöhung des Lebensstandards positiv auf die Arbeitsproduktivität auswirken wird, ist nunmehr der Zeitpunkt erreicht, wo sich die militärtechnische Überlegenheit des sozialistischen Lagers immer weiter vergrößert."
Ich stimme den obigen Bemerkungen von Robert Rompe zu. Auf das Problem „Rüstung und Lebensstandard" war ich schon im 2. Oktoberheft 1971 von „horizont" eingegangen; vgl. dazu auch Abschnitt 7 dieses Kapitels. Fußnote zur Fußnote 3 siehe Seite 14
Die historische Situation
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Spätestens jetzt wird sich so mancher Leser darüber wundern oder empören, daß die „Historische Situation" der „Wissenschaft Heute" zuerst mit der Rüstung in Verbindung gebracht wird. Das ist nun zu begründen, sofort und schlagend. 1. Die Rüstung verschlingt heute im Weltmaßstab etwa 7 Prozent des Brutoso zialprodukts — aber die Arbeitskraft von rund 50 Prozent aller naturwissenschaftlich und technologisch Tätigen. 2. Auf jedes Produkt im Wert von 100 Dollar entfallen, wenn es sich um ein militärisches Produkt handelt, über 50 Dollar Ausgaben für Forschung und Entwicklung; wenn es sich aber um ein Produkt für den zivilen Gebrauch handelt, so werden noch nicht 5 Dollar für Forschung und Entwicklung ausgegeben. 3. Daraus ergibt sich: Die Rüstungsproduktion ist heute mindestens zehnmal so (natur)wissenschafts- und technologieintensiv wie die zivile Produktion. Man kann auch folgende Tabelle aufstellen: Militärisch beschäftigte Kräfte in Prozent der erwachsenen Bevölkerung Rüstungsausgaben in Prozent des Bruttosozialprodukts Prozent aller Naturwissenschaftler und Technologen für Rüstungszwecke tätig Prozent aller Ausgaben für Forschung und Entwicklung für Rüstungszwecke verwandt
6% 7%
über 50%
über 60%
Kein Wunder, daß unter diesen Umständen die militärische Destruktivkraft sich in den letzten Jahrzehnten weit, weit mehr entwickelt hat als die zivile Produktivkraft. Kein Wunder, daß wir von einer wissenschaftlich-technischen Revolution bisher vor allem erst in der Rüstung sprechen können. Und eine ähnliche Beobachtung wie für die Naturwissenschaften und die Technologie, die bei der Forschung und Entwicklung für die Rüstungsindustrie die entscheidende Rolle spielen, kann man auch für die Gesellschaftswissenschaften machen — nur sind die Vorzeichen umgekehrt: während die RüstungsHinweis siehe Seite 13
* „Dazu kommt, daß beim heutigen Stand der Militärtechnik Offensiv- und Defensivwaffen durchaus unterscheidbar sind und sich auch in dieser Frage die Gesellschaftsordnung widerspiegelt."
Der
Militär-Industriekomplex
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Produktion der imperialistischen Länder einen aggressiven und die Rüstungsproduktion der sozialistischen Länder einen Verteidigungs-Charakter hat, haben die gesellschaftswissenschaftlichen Produkte der imperialistischen Länder zum größten Teil einen apologetischen, die gegen den Feind gerichteten Leistungen der marxistischen Gesellschaftswissenschaftler aber einen offensiven Charakter. Es besteht auch kein Zweifel darüber, daß auf Grund des entscheidenden Merkmals unserer Epoche, des Kampfes zwischen Sozialismus und Kapitalismus, heute noch ein Großteil unserer gesellschaftswissenschaftlichen Produktion sich mit den pseudowissenschaftlichen Produkten imperialistisch manipulierter Gesellschaftswissenschaftler auseinandersetzen muß, statt sich direkt (!) mit den Aufbauproblemen einer sozialistischen Gesellschaft zu beschäftigen.
2. Der Militär-Industriekomplex und die Wissenschaftler Der Ausdruck Militär-Industriekomplex (military-industrial complex) wurde von Eisenhower in seiner Abschiedsrede als Präsident der USA an die amerikanische Nation am 17. Januar 1961 geprägt. Er sagte: „Die Verbindung eines gewaltigen Militärapparats und einer großen Rüstungsindustrie ist eine neue amerikanische Erfahrung. Ihr Gesamteinfluß — ökonomischen, politischen, ja geistigen Charakters — ist fühlbar in jeder Stadt, in jeder Länderverwaltung, in jedem Büro der Zentralregierung. Wir sind uns über die dringende Notwendigkeit dieser Entwicklung klar. Wir müssen aber auch ihre ernsten Folgen verstehen. Unsere Arbeit, unsere Kräfte, unser Leben sind alle betroffen — wie die ganze Struktur unserer Gesellschaft. In unserer Regierung müssen wir uns schützen gegen die Aneignung unberechtigten Einflusses, ob gesucht oder nicht, von Seiten des Militär-Industriekomplexes. Die Gefahr katastrophalen Wachstums von Macht an der falschen Stelle existiert und wird andauern. Niemals dürfen wir das Gewicht dieser Kombination unsere Freiheiten oder demokratischen Prozesse gefährden lassen. . . . Heute ist der einsame Erfinder, der in seiner Werkstatt bastelt, in den Schatten gestellt durch Zweckforschungsgruppen von Wissenschaftlern in Laboratorien und Versuchsfeldern. In der gleichen Weise hat die freie Universität, einst die Quelle freier Ideen und wissenschaftlicher Entdeckung, eine Revolution der Methoden der Forschung erfahren. Teils wegen der riesigen Kosten wird aus einem Regierungsvertrag faktisch ein Ersatz für intellektuelle Neugierde. An die Stelle jeder alten Tafel sind heute Hunderte neuer elektronischer Computer getreten.
16
Die historische
Situation
Die Gefahr der Beherrschung der Gelehrten der Nation durch Staatsbeschäftigung, Projektmittel, die Macht des Geldes ist stets vorhanden und sehr ernst zu nehmen. Und doch, bei aller Hochachtung, die wissenschaftlicher Forschung und Entdeckung zukommen, müssen wir der ebenso großen und entgegengesetzten Gefahr entgegentreten, daß etwa die Politik der Gefangene einer wissenschaftlichtechnologischen Elite werden könnte." 4 So Eisenhower, der scheidende Präsident, an die amerikanische Nation. Genau 15 Jahre zuvor hatte Eisenhower, der im Westen siegreiche Generalstabschef der amerikanischen Armee, einen Aufruf zur Begründung des MilitärIndustriekomplexes unter Einschluß der Wissenschaftler erlassen. 5 In einem vom 27. April 1946 datierten „Memorandum for Directors and Chiefs of War Department General and Special Staff Divisions and Bureaus and the Commanding Generals of the Major Commands" erklärte er unter der Uberschrift: „Wissenschaftliche und technologische Ressourcen als militärische Aktiva": „Der jüngste Konflikt hat überzeugender als je zuvor die Kraft aufgezeigt, die unsere Nation aus der Integration aller unserer nationalen Ressourcen in der Zeit des Krieges schöpfen kann. Es ist von allergrößter Bedeutung, daß die Lehren dieser Erfahrung nicht bei der Planung und Ausbildung unserer Armee im Frieden vergessen werden. Die künftige Sicherheit der Nation verlangt, daß all die zivilen Hilfskräfte, die durch Konversion oder Umdirigierung unsere Hauptstütze in einer Notzeit bilden, engstens auch in Friedenszeit mit den Aktivitäten der Armee verbunden sind. Die Lehren des letzten Krieges sind klar. Die militärische Anstrengung für den Sieg brachte der Armee eine Fülle von nie zuvor bekannten Verantwortlichkeiten, von denen viele nur effektiv erfüllt werden konnten durch die unschätzbare Hilfe, die unsere kumulativen Ressourcen in den Natur- und Sozialwissenschaften, die Talente und Erfahrungen von Management und Arbeit uns gaben. Die bewaffneten Kräfte allein hätten den Krieg nicht gewinnen können. Wissenschaftler und Geschäftsleute gaben uns Technologien und Waffen, die es uns ermöglichten, den Feind geistig und materiell zu schlagen. Ihr Verständnis für das, was die Armee brauchte, ermöglichte die engste Zusammenarbeit. Dieses Muster der Integration muß auf die Friedenszeit übertragen 4 Abgedruckt in: U. S. Department of State, „Bulletin" Vol. 44, February 6, Washington D. C. 1961. 5 Dieses Memorandum wurde von Gabriel Kolko unter den Papieren des Kriegsministers H. L. Stimson in der Sterling Library der Universität Yale entdeckt, der es Professor Seymour Melman für sein Buch Pentagon Capitalism (New York 1970) zur Verfügung stellte; Melman druckte es dort S. 231—234 ab.
Der
Militär-Industriekomplex
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werden, so daß die Armee nicht nur mit dem Fortschritt in Wissenschaft und Industrie vertraut wird, sondern auch alle zivilen Ressourcen, die zur Verteidigung des Landes beitragen können, in unsere Planung für die nationale Sicherheit einbeziehen kann." 6 Nicht die Abschiedsrede des Präsidenten, sondern das Memorandum des Generalstabschefs sind auch heute noch Richtlinie der USA-Regierung. Und genauso ist es in der Bundesrepublik. Rainer Rilling hat eine Reihe Äußerungen dazu unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der Wissenschaften und Technologien im Militär-Industriekomplex zusammengestellt: „Die zielgerichtete Einpassung der Forschungspolitik in außenpolitische Ambitionen war zu Beginn der 60er Jahre am deutlichsten von den Vertretern des sich herausbildenden militärisch-industriellen Komplexes der BRD formuliert worden. In einer Rede von Strauß im April 1966 vor dem Wehrpolitischen Arbeitskreis der CSU in München wird der ideologische Hintergrund und die politisch-pragmatische Ausformulierung dieses Vorgangs besonders deutlich: ,. . . weil ich zutiefst davon überzeugt bin, daß das wissenschaftlich-technische Potential einer Nation heute . . . in den Fragen der Einstufung dieser Nation, ihrer Gewichtigkeit, ihrer Durchsetzungsfähigkeit, nämlich der Durchsetzungsfähigkeit ihrer Ziele, eine wesentlich größere Rolle spielt als jemals in irgendeiner Generation vor uns' 7 . Dabei müssen sich die politische Bewußtlosigkeit der wissenschaftlich Arbeitenden und die politische Manipulation der politischen Führung' gegenseitig ergänzen: ,Wohl muß der Wissenschaftler um der Forschung willen forschen. Aber die politische Führung muß diesen Bereich der Grundlagenforschung, der angewandten Forschung und der technischen Entwicklung und der dahinter steckenden Produktionsmöglichkeiten in ein politisches Konzept einbauen . . . Politische Führung muß wissen, was sie will, 6 Robert Rompe bemerkt dazu: „Haben die U S A nach 1945 nicht das Erbe des aggressiven deutschen Imperialismus ü b e r n o m m e n ? Die enge B i n d u n g v o n Industrie u n d Militär, am kürzesten ausgedrückt durch den N a m e n Krupp, war doch schon i m 19. Jahrhundert eine Besonderheit Preußen-Deutschlands, die seine starke Aggressivität bestimmt hat. Vor d e m ersten Weltkrieg konnte m a n ähnliche Auslassungen, w i e die hier zitierten, in den R e d e n u n d Schriften der Großen der Industrie — bis zu W. Rathenau, in d e n 20/30er Jahren des 20. Jahrhunderts und in der u m f a n g reichen Literatur zur Popularisierung des ,totalen Krieges' — finden.
Die Betrachtung der Geschichte zeigt auch an diesem Beispiel eine E n t w i c k l u n g zu i m m e r menschenfeindlicheren F o r m e n der Verbindung v o n Industrie u n d Militär. Andererseits kann i m kapitalistischen Staat der hohe, für Maximalprofit n o t w e n dige Kooperationsgrad nur durch der militärischen Organisationsform (Befehlsbasis) ähnliche Formen ereicht werden." 7
Zit. n. W e h r u n d Wirtschaft, 4/1966, S. 210.
2 Kuczynski
Die historische
18
Situation
und sie muß versuchen, den Willen einer Nation so zu beeinflussen, daß ihre politischen Ziele Schritt für Schritt in Reichweite kommen.' 8 Bei dieser politischen Zielsetzung wird davon ausgegangen, daß der ,technologische Wettlauf . . . selbst zu einer wichtigen Form des modernen Krieges' 9 geworden ist und deshalb ,heute das Gleichgewicht der wissenschaftlichen oder militärischen Machtmöglichkeiten und damit der politische Führungsanspruch der einzelnen hochindustrialisierten Länder physisch durch das nationale Potential der Natur- und Ingenieurwissenschaften bedingt wird und deshalb . . . der politische Führungsanspruch daran gemessen werden' 10 muß. Ein Altnazi aus der technokratischen Militärfraktion formulierte die Konsequenz: ,Jede Maßnahme, die geeignet ist, die Bildung, Handfertigkeit und das Wissen zu erweitern, dient dazu, die Kraft eines Volkes zur Verteidigung seines Lebensraumes und zur Erhaltung seiner Lebensform zu stärken.' 11 Eleganter und noch präziser der ,CDU-Reformer' Wörner im Bundestag: ,Die politische Unabhängigkeit ist eine Funktion auch einer gewissen technologischen Unabhängigkeit.' 12 Bezogen auf die Kriegsforschung und -entwicklung heißt das für die Militärfraktion: ,Man kann heute feststellen, daß das Gewicht eines Volkes als Bündnispartner in der Politik nicht nur nach dem Kampfwert seiner Streitkräfte gemessen wird, sondern erheblich gesteigert werden kann durch seine Fähigkeit, Hervorragendes auf dem Gebiet der Wehrtechnik zu leisten.'13"1"4
Der Einfluß dieser Haltung von Monopolen, Regierung und Staat auf die Entwicklung von Wissenschaft und Wissenschaftlern war in den imperialistischen Ländern ein starker. Sie wurden ein Element des Militär-Industriekomplexes.
8 9
Wehr und Wirtschaft, 4/1966, S. 212. H. Speidel, Wissenschaft, Technik u n d Politik, in: VDI-Zeitschrift, 1/1967 S. 5.
10 M. Schreiterer, Die Natur- und Ingenieurwissenschaften in der heutigen Außenpolitik, in: VDI-Zeitschrift, 1/1967, S. 8. 11 K. Fischer (ehem. Abt. T), Verteidigung und Wirtschaft, in: Wehr und Wirtschaft, 4/1965, S. 179. 12
5. Dt. Bundestag, 133. Sitzung v. 1 0 . 1 1 . 1 9 6 7 , Sten. Ber. S. 6745. Brigadegeneral Dipl-Ing. Willikens (Leiter der Unterabteilung I III „Wehrtechnik Land" im BMVtdg.), in: Wehrtechnische Monatshefte, 6/1964, S. 211. 13
14
R. Rilling, Die Forschungspolitik der BRD. In: A. M. Weinberg, Großforschung. Frankfurt am Main 1970, S. 305 ff.
Probleme der
Rüstung
und Krieg — Mutter
und Vater der Wissenschaft ?
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Viele Wissenschaftler auch in den imperialistischen Ländern erkennen das, selbst wenn sie nicht begreifen, wie grundanders die moralisch-politische Haltung in der Sowjetunion ist, wie Krauch, der schreibt: „Tausende von Wissenschaftlern haben sich ohne Zögern den verlockenden Staatsbudgets angehängt und bringen neues Wissen und immer neue Technik hervor, die dem Machtkampf der Großmächte und dem Wettbewerb der Wirtschaft dienen und davon geprägt sind. Gesellschaftliche Probleme werden dagegen vernachlässigt. Die Grundlagen unseres sozialen Lebens sind weit weniger erforscht als der Staub des Mondes. Die Exkremente der Raumfahrer werden genauer analysiert als der Angstschweiß kleiner Schulkinder." 15 An anderer Stelle schreibt derselbe: „Da in den USA seit gut 20 Jahren die Weltkonflikte immer stärker die staatliche Finanzierung und Lenkung von Forschung und Entwicklung stimuliert haben, ist es zu einer einseitigen Entwicklung des gesamten Wissensgebäudes und seines Wachstums gekommen. Nicht nur innerhalb der Naturwissenschaften hat es Verlagerungen auf Gebiete gegeben, die größten militärischen Machtzuwachs versprechen, wie Atomphysik und Raumforschung. Auch gegenüber Medizin und den Sozialwissenschaften wurden die Naturwissenschaften unverhältnismäßig stark gefördert. In den letzten Jahren ist der staatlich finanzierte Forschungsanteil der Flugzeugindustrie stark gewachsen, während zugleich andere Industriezweige, wie die Erdölindustrie und die chemische Industrie, nur in geringerem Maße von Staatsaufträgen abhängig waren. Dabei ist in Amerika und Kanada der naturwissenschaftlich-technische Anteil in der Forschung dort auf 90% angestiegen, wo das Verteidigungsministerium oder die Raumfahrtbehörde die Kontrakte ausgeben, während der naturwissenschaftlich-technische Anteil unter 60% fällt, sobald keine militärischen oder militärisch orientierten Motive für die Forschungsförderung ausschlaggebend sind. Entsprechend wächst dann der medizinische und sozialwissenschaftliche Anteil an." 16 Man erkennt sehr genau den Einbau der Wissenschaften in den MilitärIndustriekomplex und die Konsequenzen für die Strukturierung der Wissenschaften. 3. Rüstung und Krieg — Mutter und Vater der Wissenschaft? Spätestens zur Zeit der alten Griechen begann die Auffassung, daß der Krieg die Wissenschaft fördere, verbreitet zu werden. Seitdem auch im Frieden die Rüstung allgemein riesige Kosten verursachte, seit dem 20. Jahrhundert, 15 16
2*
H. Krauch, Prioritäten für die Forschungspolitik. München 1970, S. 6. H. Krauch,, Die organisierte Forschung. Neuwied 1970, S. 160 f.
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Die historische
Situation
seit dem modernen Imperialismus, wurde diese A u f f a s s u n g auch auf die Rüstung im Frieden ausgedehnt. N u n ist allgemein bekannt, daß keine Wissenschaft auf die Dauer ohne Grundlagenforschung blühen kann. Gerade die Grundlagenforschung aber welkt im Kriege, und im Verlauf des zweiten Weltkrieges wurde sie sogar offiziell im faschistischen Deutschland unterbunden. 1 7 Der Niedergang der Grundlagenforschung im Kriege hat seine Kehrseite in der starken Förderung von Zweckforschung und Technologie durch R ü s t u n g und Krieg. K a n n m a n (im übertragenen Sinne) von der Grundlagenforschung als die Strategie der Wissenschaftsentwicklung bestimmend sprechen, so von der Zweckforschung und Technologie als die Taktik regelnd. W a r u m konzentrieren sich die militärischen Stellen auf eine Förderung der Zweckforschung und Technologie und haben darin auch beachtliche E r f o l g e ? 1. Fühlen sie sich genau wie auch die Betriebsleiter (mit Recht!) in erster Linie verantwortlich für laufend verbesserte Produktionsleistungen auf „ihrem Spezialgebiet". 17
Robert Rompe bemerkt dazu: „Die Auffassung, daß die Grundlagenforschung im Kriege welkt, kann man nicht vorbehaltlos annehmen. Wenn man Grundlagenforschung im Sinne von Marx definiert mit dem Merkmal universeller Gültigkeit der Erkenntnisse und ihrer multivalenten Nutzbarkeit, dann wurden im zweiten Weltkrieg bestimmte Gebiete der Physik, Chemie und Elektronik stark gefördert. Diese Förderung hält bis heute an bzw. verlagert sich auf andere Gebiete (z. B. Biologie), da der Imperialismus stets bestrebt ist, den Krieg in anderen Spielarten auf Friedenszeiten auszudehnen. Den Niedergang der Grundlagenforschung konnte man noch im Krieg 1870/71 beobachten. Dasselbe gilt, wenn auch mit geringer Einschränkung, im ersten und zweiten Weltkrieg für Deutschland. Es ist vor allem eine spezifische Erscheinung des preußisch-deutschen Imperialismus, die Bedeutung der Wissenschaft allgemein und insbesondere die Grundlagenforschung unterschätzt zu haben. Die USA dagegen haben über einen längeren Zeitraum, besonders nach 1945, verschiedene Zweige der Grundlagenforschung aus militärischen Gründen und anderen strategischen Erwägungen gefördert. Im Ergebnis dieser spontanen, auch von Prestigegedanken getragenen Förderung wurde das Spektrum der Wissenschaften spezifisch deformiert." Natürlich zeigt die Erfahrung, daß die Rüstungsproduktion die Grundlagenforschung (deformiert) gefördert hat. Gilt das aber auch für den Krieg? Robert Rompe sieht den Niedergang der Grundlagenforschung im Kriege als spezifische deutsche Erscheinung. Wie interessant, wenn dem so wäre! man sollte vielleicht aber noch gründlichere Forschung für die Jahre 1915/18 und 1940/44 betreffend die führenden imperialistischen Länder betreiben.
Rüstung und Krieg — Mutter und Vater der
Wissenschaft?
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2. Stehen sie unter stärkstem moralischem und staatlichem Druck, den möglichen Gegner in der Entwicklung der Destruktivtechnik zu schlagen. 3. Haben sie relativ geringe Schwierigkeiten, die für die Steigerung der Destruktivkräfte notwendigen Mittel zu erhalten. Punkt 1 ist jedem verständlich und bedarf keiner längeren Ausführungen. Punkt 2 verlangt jedoch noch eine nähere Erklärung. Denn auch der Produzent von normalen Konsumwaren, allgemein von Produkten für den zivilen Bedarf, unterliegt j a im Kapitalismus dem Druck der Konkurrenz (im Sozialismus dem gesellschaftlichen Druck zur Verbesserung der Produktion). Bei zivilen Produkten aber braucht der Druck der Konkurrenz nicht notwendigerweise zu technischen Verbesserungen zu führen. Wenn zwei Konkurrenten technisch gleichwertige Eisschränke in zwei Ländern auf den Markt bringen, so wird es zunächst eine ganze Weile dauern, bis die internationale Konkurrenz überhaupt wirksam wird, und dann kann man den anderen auch ohne technischen Fortschritt, zum Beispiel durch eine elegantere Form des Eisschranks oder auch eine Preissenkung, die bei verstärktem Absatz zu einem höheren Profit führen wird, schlagen. Eine Bombe aber wird dem Gegner gegenüber weder durch eine elegantere Form noch durch eine Preissenkung wirksamer — und allein auf diese Wirksamkeit, auf die durch verbesserte Technik größere Destruktivkraft kommt es bei der militärischen Produktion an. Und sodann verlangt die militärische im Gegensatz zur zivilen Produktion stets eine Entwicklung in doppelter Richtung: eine bessere Rakete des Gegners verlangt sowohl eine noch stärkere Verbesserung der eigenen Rakete wie auch eine Verbesserung der Anti-Rakete bzw. der Raketenabwehr. Das alles geschieht im Rahmen einer Verbesserung der „Technik an sich", während in der Zivilproduktion das Produkt nicht nur technisch genügen, sondern auch noch zahlreiche andere Bedürfnisse wie Bequemlichkeit, Schönheit usw. befriedigen soll; vor allem aber darf es im allgemeinen nicht einen bestimmten Preis überschreiten. In der Rüstungsindustrie gilt praktisch das Prinzip der höchsten destruktiven Effektivität, in der Zivilindustrie sind die Kosten ein wichtiger Faktor. Wie weit in der Rüstungsindustrie die „Technik an sich" gilt, kann man auch daraus ersehen: die Waffen der größten Länder haben heute eine Destruktivkraft, die weit größer ist als notwendig, um die Menschen und Sachgüter der möglichen Gegner zu zerstören. Und doch läuft die technische Entwicklung von Waffen und Waffensystemen ständig weiter. Das heißt, da die Rüstungsproduktion viel einseitiger in ihrem Zweck — nur Destruktion — und daher nur auf technische Fortschritte bedacht ist, hat sie natürlich auf den Gebieten der Technologie und Technik größeren Fortschritt gebracht als die Zivilproduktion. Dazu kommt aber noch Punkt 3 !
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Die historische
Situation
Hören wir dazu über den ersten Weltkrieg General Charles G. Dawes in einer Aussage vor einem amerikanischen Parlamentskomitee, das Beschaffungsskandale untersuchte: „Selbstverständlich zahlten wir. Wir machten keine Geschichten. Mein Gott, Mann, wir mußten den Krieg gewinnen! Wir hätten Pferdepreise für Schafe gezahlt, wenn Schafe Artillerie an die Front hätten ziehen können. Oh, jetzt kann man sagen, wir kauften zuviel Essig und zuviele Stemmeisen, aber wir retteten die Zivilisation der Welt. Verdammt noch mal, die Aufgabe einer Armee ist, den Krieg zu gewinnen, sich nicht lange mit billigen Einkäufen abzugeben. Zum Teufel und bei der Heiligen Maria, wir versuchten nicht, Bücher zu führen, wir versuchten, den Krieg zu gewinnen." 18 Mehr als 40 Jahre später, im Jahre 1964, während der Budgetberatungen des amerikanischen Kongresses, bemerkte Senator Gaylord Nelson: „Die Tradition schreibt vor, daß ein Gesetz zur Bewilligung von vielen Milliarden Dollar für die Kriegsmaschine innerhalb weniger Stunden im Abgeordnetenhaus und im Senat durchgepeitscht werden muß, während man einen Vertrag zur Erhaltung des Friedens oder ein Programm zur Unterstützung unterentwickelter Völker, eine Garantie gleicher Rechte für alle unsere Bürger oder soziale Fortschritte für die Armen wochenlang, manchmal monatelang debattiert, verändert und leeres Stroh darum drischt." 19 Und der Bundestagsabgeordnete Karl Wienand führte zu der gleichen Thematik aus: „üblich ist, daß der Verteidigungsminister, wenn er einmal einen Auftrag vergibt, sich um die Preiskalkulationen nicht mehr kümmert. Dazu ist er auch nicht verpflichtet. Nachzurechnen, ob die Bundesrepublik übervorteilt worden ist, gehört nicht mehr zu seinen Aufgaben. Dazu sind die Preisprüfer des Bundeswirtschaftsministeriums oder die der Länder da. Nun gelten teure Wunderwaffen in der Regel als streng geheim, und damit sie möglichst lange streng geheim bleiben, gibt es auch keine öffentliche Ausschreibung. Statt dessen tritt das Verteidigungsministerium an leistungsfähige Firmen heran und teilt ihnen vertraulich seine Wünsche mit. Ebenso vertraulich macht das Werk sein Angebot und sagt, wieviel Geld es für die Wunderwafle haben möchte. Freundlicherweise erklärt die Firma auch, wie sie zu dem geforderten Preis kommt, warum die Kosten für Entwicklung so und so hoch sind. Nur — Hassels Beamte, die den Vertrag schließen, dürfen und können nicht abwägen, ob die Kalkulation des Werkes auch wirklich objektiven Berechnungen entspricht. Dazu fehlt den ,Verteidigungsjuristen' die volkswirtschaftliche Ausbildung. Deshalb bleibt die Preisprüfung Herrn Schmückers Wirtschaftsministe18 19
Zitiert in C. R. Möllenhoff, The Pentagon. New York 1967, S. 53 f. Zitiert nach P. Menke-Glückert, Friedensstrategien. Hamburg 1969, S. 159.
Rüstung
und Krieg — Mutter und Vater der
Wissenschaft?
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rium oder den Wirtschaftsministerien der Länder überlassen. Und die Prüfer dieser Behörden wiederum verstehen nichts von Waffen." 20 Unter solchen Umständen leiden natürlich auch die Wissenschaftler und Technologen, die für die Rüstung arbeiten, keinen Mangel an Mitarbeitern und Geräten! Unter solchen Umständen werden zahlreiche bürokratische Hemmnisse, denen der Wissenschaftler und Technologe überall in der Welt bei seiner Arbeit begegnet, relativ schnell weggeräumt. Daraus ergibt sich aber eine Forderung von allergrößter Bedeutung: Es gilt, allgemein eine Moral zu entwickeln, die der Verwandlung von Wissenschaft in Technologie und von Technologie in Technik und Produktion — selbstverständlich bei genauer Kostenberechnung — die gleiche Dringlichkeit für die zivile Produktion wie für die Rüstungsproduktion beimißt. Das ist das einzige, was wir von der Rüstungsproduktion heute lernen können! Wohl wird heute allgemein davon gesprochen, daß die Umsetzung von der Erfindung in die laufende Produktion viel schneller als in früheren Zeiten geschieht. Und zu Propagandazwecken wird überall in der Welt folgende Tabelle verbreitet:
Gegenstand
Prinzip
Fotografie Telefon Radar Transistor Laser
1727
1820 1926 1948 1956
Technik
1829 1876 1940 1953 1961
Dauer der Umsetzung
102 56 14 5 5
Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre
Faktisch aber liegen keine Beweise für eine schnellere Verbreitung vor. Denn die beiden Beispiele aus der Gegenwart sind einfach Fälschungen. Was den Transistor betrifft, so wird hier statt der Findung des wissenschaftlichen Prinzips, die 1906 oder spätestens 1935 stattfand, die Anmeldung des Patents gegeben. Und was den Laser betrifft, bemerkt Max Steenbeck: „So hätte man nach dem Laser zum Beispiel schon rund 30 Jahre früher suchen können, sobald nämlich die erzwungene Emission erkannt war." 21 Auch enthält die TaK. Wienand, Die ganz große Verschwendung. „Stern" Nr. 4, Hamburg 1965. M. Steenbeck, Automatisierung und Gesellschaft. „Die Weltbühne", Jg. X X V I , Nr. 16, Berlin 1971, S. 496. 20
21
24
Die historische
Situation
belle nicht die zahlreichen wissenschaftlichen Entdeckungen, die noch nicht in die Produktion eingeführt worden sind. Gerade weil die Uberführung von wissenschaftlichen Entdeckungen in die Praxis so langsam vor sich geht, erklärte auch Genosse L. I. Breshnew auf dem XXIV. Parteitag der K P d S U : „Analysiert man alle Glieder der komplizierten Kette, die die Wissenschaft mit der Produktion verbindet, so läßt sich leicht feststellen, daß die schwächsten von ihnen jene sind, die mit der praktischen Nutzanwendung der Errungenschaften der Wissenschaft, mit ihrer Überführung in die Massenproduktion zusammenhängen." Wer von einem Gesetz der Beschleunigung der Umsetzung von Wissenschaft in Technologie und von Technologie in Technik spricht 22 , sollte sich doch in der Vergangenheit umsehen. E r sollte etwa Archimedes auf dem Wege von der Badewanne, in der er das Gesetz des hydrostatischen Auftriebs entdeckte, zum König begleiten, in dessen Palast er sogleich seine Entdeckung praktizierte und bewies, daß ein Betrüger Silber unter das Gold der Krone gemischt hatte. Bei Archimedes dauerte die Umsetzung der wissenschaftlichen Entdeckung in die Praxis vielleicht Stunden! in keinem Fall Jahre. Oder er denke an Röntgens Entdeckung der nach ihm benannten Strahlen. Am 8. November 1895 machte er die Entdeckung. Nach Uberprüfung aller notwendigen Fakten, um sicherzugehen, schrieb er wenig mehr als einen Monat später eine Mitteilung an eine lokale Wissenschaftler-Gesellschaft in Würzburg. Am 4. J a n u a r 1896 sprach er darüber vor der Physikalischen Gesellschaft in Berlin. Tage — nicht Wochen — danach wurden Röntgenstrahlen in zahlreichen Laboratorien verwandt. Ärzte brachten Patienten, um Knochenverletzungen feststellen zu lassen, in die Laboratorien. Im April veröffentlichte McClure's Magazine in den USA eines der frühesten bedeutenden Wissenschaftler-Interviews — von einem der Wissenschaftsreportage-Pioniere, H. W . J. D a m mit Röntgen. Auch sollte m a n sich überlegen, daß ursprünglich die technische Praxis im allgemeinen der Entdeckung des wissenschaftlichen Prinzips voranging! Für die großen technischen Leistungen der alten Ägypter fanden zumeist erst die Griechen der Antike die wissenschaftlichen Prinzipien. Gerade weil es kein solches Gesetz der Beschleunigung der Umsetzung von Wissenschaft in Technik gibt, das es nur zu fördern gilt, sind auch in der sozialistischen Gesellschaft so große Anstrengungen f ü r die möglichst schnelle Umsetzung von Wissenschaft in Technologie und von Technologie in Technik notwendig. 22
Vgl. z. B. W. Schliesser, 1. Mai 1971, S. 3.
Nicht prahlen, Zeit gewinnen! „Neues Deutschland",
Vom angeblichen
Nutzen der
Militärtechnik
25
4. Vom angeblichen Nutzen der Militärtechnik für die Ziviltechnik Lange haben die Militärs die Meinung verbreitet, daß die wissenschaftlichen und technologischen Leistungen für die Rüstungsindustrie auch größten Nutzen für die Zivilindustrie haben. Hat aber zum Beispiel die zivile Luftfahrt mit ihren einigen tausend modernen Flugzeugen wirklich viel Nutzen von der Technologie für die über hunderttausend im Dienst befindlichen Militärflugzeuge gehabt? N. v. Goetz stellte 1970 in seiner Doktorarbeit „Forschungsökonomie in der Luftfahrtindustrie", in der er die amerikanische Luftfahrtindustrie untersuchte, fest, daß von 11 674 Patenten, die 1961 im Besitz der amerikanischen Regierung waren und von denen 8 5 % geheimgehalten wurden, 1487 für zivilen Gebrauch freigegeben und 297, also nur 3 Prozent, tatsächlich in der zivilen Luftfahrt benutzt wurden. Noch deutlicher fast ist das Beispiel des englisch-französischen Überschallflugzeuges Concord. Niemand wird bestreiten, daß das Militär über langjährige und erfolgreiche Erfahrungen mit dem Bau und Betrieb von Überschallflugzeugen verfügt. Wie sieht nun die Geschichte des Concord-Flugzeuges, das ja angeblich auf militärischen Erfahrungen aufbauen sollte, aus: 1956 wurde zuerst von der Concord als einer Möglichkeit ernsthafter gesprochen. 1959 empfahl ein Sachverständigenkomitee, das sich vor allem aus Experten der Flugzeugindustrie zusammensetzte, seinen Bau. Die Kosten für Forschung und Entwicklung wurden auf rund 900 Millionen Mark geschätzt. 1962 gab endlich die englische Regierung ihre Zustimmung zum Bau als einem gemeinsamen englisch-französischen Unternehmen. Allerdings sollten jetzt die Kosten für Forschung und Entwicklung 1,5 bis 1,7 Milliarden Mark sein. Von 1962 bis 1972 stiegen diese Kosten laufend. Heute rechnet man, daß sie für Forschung und Entwicklung rund 10 Milliarden betragen werden. Der „Observer" vom 23. 4. 1972 aber nannte die Concord the fastest flop on earth, den schnellsten Reinfall auf dieser Erde, oder auch „das falsche Flugzeug, von falscher Größe, das im falschen historischen Moment kommt". Niemand wird behaupten wollen, daß die jahrelange militärische Praxis mit Uberschallflugzeugen in der Produktion des Zivilflugzeuges einen nützlichen Niederschlag gefunden hat. Zu einem ebenso kümmerlichen Resultat kam eine im Auftrage des Pentagons unternommene Untersuchung „Project Hindsight" über die Beziehungen zwischen der Entwicklung von Kriegstechnik und Ziviltechnik in den J a h r e n 1945 bis 1965. Entgegen den allgemein kursierenden Auffassungen kam diese Untersuchung zu dem Resultat, daß nur etwa 5 Prozent des technischen Fort-
26
Die historische
Situation
schritts in der militärischen Produktion auch in der Zivilproduktion Eingang gefunden hatte. Das ist eine ungeheuer wichtige und bedeutungsvolle Feststellung, insbesondere wenn sie von dieser Seite kommt. Natürlich wurde das Resultat heftig angefochten. Aber auch F. A. Long, einer der hervorragendsten amerikanischen Wissenschaftler, der sich mit dieser Frage beschäftigt hat, und der nicht mit der Methodik der Pentagon-Untersuchung einverstanden ist, meint, daß man „doch wohl" 10 Prozent Übertragung von Militärtechnik auf das zivile Leben annehmen kann. E. F. Denison, der die umfassendsten Studien über Elemente — Technik, Erziehung usw. —, die zum Wachstum der Produktion beigetragen haben, gemacht hat, meint: „Die von der Regierung finanzierte Forschung, die zu verbesserten Waffen oder zur Erkundung des Weltraums führt, trägt (wenigstens bis zum heutigen Tage) nichts zur gemessenen Wachstumsrate bei, sieht man einmal von zufälligen Auswirkungen ab, die zur Senkung der Produktionskosten nichtmilitärischer Produkte führen." 2 3 Das heißt, es kann gar nicht die Rede davon sein, daß die Zivilproduktion in irgendwie größerem Umfange von der Zweckforschung und Technologie für die Rüstungsindustrie profitiert. Die Frage ist, warum das so ist und ob das immer der Fall war. Krauch kommt in seinem Buch über „Die organisierte Forschung" zweimal auf dieses Problem zu sprechen, jedesmal im Zusammenhang mit der Ubertragung von Technologie auf dem Gebiet des Flugzeugwesens: „Durch weitere Studien bei RAND wurde festgestellt, daß nachträgliche Modifikationen an einem schon fertig entwickelten System unverhältnismäßig teuer sind. Es bewährt sich in solchen Fällen, ganz von neuem mit der Entwicklung zu beginnen. 24 Dieser Befund verdient insofern Beachtung, als die Umwandlung militärischer Entwicklungen in friedliche, z. B. bei Flugzeugen, immer wieder diskutiert wird. Da ein solcher Modifikations- oder Adaptionsprozeß äußerst teuer, in vielen Fällen teurer als eine Neuentwicklung ist, kann man allgemein folgern: Der wirtschaftliche Nutzen militärischer Entwicklungen und Systeme ist sicher viel kleiner als man bisher vermutet hat. Dagegen hebt die militärische Forschung und Entwicklung die Basis der friedlichen Technik dauernd an. Die Zahl der erreichbaren technologischen Zustände wächst. Sie vermehrt auf den militärisch relevanten Gebieten die Zahl der möglichen technischen Alternativen und verbessert deren Qualität." 25 23 J. Naumann, Forschungsökonomie und Forschungspolitik. Ausgewählte amerikanische Beiträge. Stuttgart 1970, S. 197. 24 Persönliche Mitteilung von B. H. Klein (Zahlenmaterial von der Air Force noch nicht freigegeben). 25 H. Krauch, a. a. O., S. 132.
Vom angeblichen Nutzen der
Militärtechnik
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Auch sollte man wohl zwischen Forschung und Entwicklung unterscheiden. Die wissenschaftliche Forschung im Interesse der Rüstung bringt sicherlich weit mehr Resultate, die potentiell auch, so wie sie sind, ohne „Modifikationen", von der Technologie für zivile Zwecke übernommen werden können, als die Militärtechnologie. Darum haben wir auch ganz bewußt in der Überschrift dieses Abschnitts nur von der Technik gesprochen. Doch hören wir noch einmal Krauch zum Problem der Übertragung von Militärtechnik in die zivile Produktion: „Einige der großen Rüstungsfirmen haben nach dem zweiten Weltkrieg versucht, den Anschluß an den Markt wiederzugewinnen. Alle diese Versuche blieben erfolglos. Lediglich die Umstellung von Bombenflugzeugen auf viermotorige Transportflugzeuge war möglich, aber sie kann nicht als ein großer Markterfolg angesprochen werden. Wie in Gesprächen mit Burton Klein, Richard Nelson und anderen Mitarbeitern der RAND Corporation zu erfahren war, haben Untersuchungen dieser Organisation zudem gezeigt, daß die nachträgliche Modifikation von Flugzeugen für andere Zwecke, also etwa die Umwandlung eines Jagdflugzeuges in ein Kampfflugzeug oder eines Bombenflugzeuges in einen Transporter, allgemein wesentlich teurer zu stehen kommt, als der Neuentwurf und die Neukonstruktion eines Flugzeuges. Offenbar stößt die Umstellung und Orientierung nach dem Markt bei den Rüstungsfirmen auf sehr tiefgehende Schwierigkeiten. Aus diesem Grunde ist mit der Zeit eine regelrechte Platzangst entstanden. Die Rüstungsindustrie kommt sich dabei vor wie ein armes, hilfsbedürftiges Tierchen, das eingesperrt ist — man spricht von einem Käfigeffekt (,locked-in nature of defense resources', Weidenbaum 26 ) —, in Wirklichkeit verhält sich der Rüstungskomplex aber eher wie der Elefant im Porzellanladen." 27 Während es sich hier offenbar um objektive Schwierigkeiten der Übertragung handelt, gibt es auch subjektive Schwierigkeiten in den kapitalistischen Ländern, die Krauch in seinen „Prioritäten für die Forschungspolitik" so schildert: „Nun sind aber die meisten dieser Wissenschaftler in ihrem Verhalten eher auf Sicherung von Eigentum und slatus quo fixiert und weniger aufgeschlossen für soziale Veränderungen. Auch bestehen von der Ausbildung her kaum Voraussetzungen zur Arbeit an Projekten, die einen hohen Anteil an sozialwissenschaftlicher Methodik erfordern. Die Wissenschaftler und Techniker in 28 M. L. Weidenbaum, „The Transferability of Defense Industry Resources to Civilian Uses", Stanford Research Institute, Menlo Park, California, 1963, S. 8 f.; vorgetragen im November 1963 im Center for the Study of Democratic Institutions, Santa Barbara, California. 27 H. Krauch, a. a. 0., S. 156 f.
Die historische
28
Situation
der Großforschung betreiben intensiv die Artikulation und Legitimation von Forschungsprogrammen, die ihren Einfluß und damit ihre Sicherheit verstärken, da sie sich in Ubereinstimmung mit staatlichen und wirtschaftlichen Machtinteressen befinden. J e mehr sich diese Gruppen von Akademikern in den großen Bereichen der Verteidigungsforschung, der Atomforschung, der Weltraumforschung bestätigt sehen, desto besser passen sie sich deren ideologischen Voraussetzungen und Konsequenzen an. Gelegentliche Ansätze, diese Forschungsaktivitäten umzulenken in Richtung auf soziale Technologien, sind bald wieder verkümmert und dienten allenfalls dazu, die Anstrengungen u n d die Resultate der entfremdeten Technologien zu legitimieren. Es herrscht wenig Neigung dazu, aus der Sicherheit der Gegenwart durch die eigene Forschungstätigkeit hinausmanövriert zu werden." 2 8 Sicherlich spielen auch noch andere Faktoren eine Rolle. Zum Beispiel dieser: W e n n eine militärische Technologie f ü r den zivilen Gebrauch „freigegeben" wird, dann zumeist, weil sie überholt, durch eine bessere ersetzt worden ist. Lohnt es sich aber, eine „überholte" Technik in der Zivilindustrie anzuwenden? Weiter: ist nicht heute ein Großteil der Militärtechnik f ü r den zivilen Gebrauch noch nicht anwendbar? Man kann sich sehr wohl vorstellen, daß m a n die Raketentechnik einmal zu Transportzwecken zivil verwenden wird — aber in absehbarer Zeit? Auch in diesem Zusammenhang, vor allem aber auch als Antwort auf die Frage, ob die Militärtechnologie der zivilen stets so entfremdet war wie heute, sind die folgenden Bemerkungen Krauchs von Interesse: „Während noch bei Beginn des ersten Weltkrieges vier Fünftel oder mehr der Ausrüstung der Armeen sich aus normalen, friedensmäßigen Gütern zusammensetzten, betrug dieser Anteil 1941 während des Krieges nur noch etwa die Hälfte des gesamten Materials. Die andere Hälfte bestand aus spezialisierter militärischer Ausrüstung. Aber auch dieser Anteil setzte sich in der Hauptsache aus Gütern zusammen, die in normaler friedensmäßiger Produktion hergestellt werden konnten. Heute sind 90% des Materials hochspezialisierte militärische Systeme, die nur noch in eigens dafür zugeschnittenen Produktionseinheiten hergestellt werden können. Firmen, die sich mit der Herstellung dieser militärischen Ausrüstung befassen, sind im höchsten Grade spezialisiert und haben sich in ihrer Entwicklung weit vom Markt entfernt." 2 9 Damit hängt wohl auch zusammen, daß die „Auswechselbarkeit" der Produktion an Bedeutung ganz stark nachgelassen hat. Konnten früher Traktoren28 29
H. Krauch, a. a. 0., S. 36 f. H. Krauch, Die organisierte Forschung, a. a. 0., S. 156.
Stand der wissenschaftlich-technischen
Revolution
29
Produktion und die Herstellung von künstlichem Dünger relativ schnell auf Tank- bzw. Pulverproduktion umgestellt werden, und wurde damit ein wichtiger Teil der militärischen Produktion erfaßt, ebensowohl bei der zivilen Flugzeugproduktion — so ist das heute ganz anders geworden. Teils, weil sich wie im Falle der Flugzeugproduktion die militärischen Bedürfnisse sehr weit von den zivilen entfernt haben, teils, weil es für die militärischen Bedürfnisse, die heute die Hauptkosten der Rüstung verursachen, wie etwa das Raketensystem, keine direkte oder auch nur entfernt indirekt entsprechende zivile Verwendung von irgendwelcher Bedeutung gibt. Und dazu kommt, was die Gesamtsituation noch verschlimmert, als Faustregel: Je entfremdeter eine Militärtechnologie der Ziviltechnologie ist, desto wissenschafts- und technologieintensiver ist sie, desto mehr Wissenschaftler und Technologen raubt sie dem Zivilleben. Militärtechnologie — Ziviltechnologie! Noch einmal sei betont, es geht hier um Technologie und Technik — nicht um schöpferische Wissenschaft, von der wir schon sagten, daß sie, wenn auch im einzelnen vielfach zunächst ganz auf Rüstung und Krieg ausgerichtet, selbst in dieser einseitigen Ausrichtung von multivalentem Nutzen, auch von bedeutendem Wert für zivile Zwecke sein kann, das heißt als Grundlage einer Ziviltechnologie dienen kann.
5. Der Stand der wissenschaftlich-technischen Revolution Heute Wir sprechen mit Recht von einer wissenschaftlichen Revolution während der Renaissance, als frühkapitalistische Elemente die feudalen Wirtschaften vor allem Norditaliens, Deutschlands und dann Englands immer stärker durchsetzen. Galilei, Kepler, Bacon, Newton, Giganten der wissenschaftlichen Revolution, seien hier nur als Symbole für ganze Armeen von Revolutionären genannt — Armeen, denn wie sollten wir versäumen, die Instrumentenmacher zu ihnen zu rechnen! Mit vollem Recht spricht de Solla Price darum auch von einer „Massenbewegung der Wissenschaft" 30 . Der wissenschaftlichen Revolution der Renaissance und des Frühkapitalismus folgte die technologische Revolution, der wir den Namen industrielle Revolution gegeben haben und die den Industriekapitalismus einleitete. Wir nennen sie eine technologische oder, wenn man so will, denn sie war immens praktisch, eine technische Revolution, da es Handwerker und Bastler waren, die, ohne neue wissenschaftliche Prinzipien zu entdecken, die Werkzeugmaschine, das als Motor der industriellen Revolution wirkende Kernelement, ent30
D. J. de Solla Price, Science since Babylon. New Häven 1961, S. 56.
Die historische
30
Situation
wickelten. Bernal bemerkt mit Recht in seiner Wissenschaftsgeschichte: „Die industrielle Revolution selbst hing in ihren Anfangsstadien nicht von irgendwelchen Beiträgen der Wissenschaft a b ; ihre Baumeister waren erfindungsreiche Handwerker . . . Die entscheidenden Entwicklungen in der Textilindustrie (in der die Werkzeugmaschinen zuerst verwandt wurden — J . K.) erfolgten ohne Verwendung irgendeines grundsätzlich neuen wissenschaftlichen Prinzips." 3 1 Heute befinden wir uns in einer, wie wir sie nennen, wissenschaftlich-technischen Revolution. Wissenschaft und Technologie, ihre Umsetzung in Technik und Produktion, spielen alle eine so eng miteinander verflochtene Rolle, daß wir sie in einem Ausdruck „wissenschaftlich-technisch" zusammenfassen. Definition und Kennzeichnung des Standes der wissenschaftlich-technischen Revolution wurden auf dem VII. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei im Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees so gegeben: „Seinerzeit, während der Entwicklung des Kapitalismus, war die industrielle Revolution durch das Entstehen und die massenhafte Anwendung der Arbeitsmaschinen als der f ü r die damalige kapitalistische Produktionsweise typischen Form der Nutzung der Produktivkräfte charakterisiert. Heute wird die wissenschaftlich-technische Revolution in ihrem Wesen gekennzeichnet durch die Herausbildung der wissenschaftlich-technischen, organisatorischen u n d ökonomischen Voraussetzungen für den Ubergang zur komplexen Anwendung automatisch gesteuerter und geregelter Produktionssysteme." Auch heute gilt noch die Definition des Kernprozesses der wissenschaftlichtechnischen Revolution: So wie in der industriellen Revolution vor 200 J a h r e n die Maschine die Hand bei der Führung der Werkzeuge zu ersetzen begann, so beginnt im Gefolge der wissenschaftlich-technischen Revolution die Anwendung der Automatik die H a n d bei der Steuerung und Regelung der Maschinen zu ersetzen. Nicht mehr gilt natürlich heute die damals völlig richtige, real-nüchterne Einschätzung, daß wir erst die Voraussetzungen f ü r den Übergang zur wissenschaftlich-technischen Revolution herausbilden. Wir können heute bereits von den allerersten Anfängen der wissenschaftlich-technischen Revolution sprechen. Manche — Marxisten wie andere — sind unzufrieden mit dieser Formulierung. Sie fühlen sich „mitten im Strom der wissenschaftlich-technischen Revolution", die sie überall entdecken. Sie verwechseln eine Reihe von Prozessen des Fortschritts. Uber zwei von ihnen hat W. Pawljutschenko sehr klar so geschrieben : 31
J. D. Bernal, Die Wissenschaft in der Geschichte. Berlin 1967, S. 334 f.
Stand der wissenschaftlich-technischen
Revolution
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„Der wissenschaftlich-technische Fortschritt vollzieht sich einerseits auf der Grundlage von quantitativen Veränderungen, die zu einer Vervollkommnung der traditionellen Technik und ihrer Ausnutzung führen, und zum anderen auf der Basis von qualitativen Sprüngen, die zur Entwicklung von Maschinen, Geräten, Materialien und Technologien führen, denen prinzipiell neue Gedanken zugrunde liegen. Die evolutionäre Entwicklungsrichtung in der Technik besteht darin, daß im Rahmen eines unveränderten technischen Prinzips immer vollkommenere und wirtschaftlichere Maschinen entwickelt werden. Die Majorität der Maschinen (oder technologischen Prozesse, oder Geräte usw.), welche ein bestimmtes technisches Prinzip realisieren, bildet eine Gattung von technischen Mitteln. In jeder dieser Gattungen gehen die Maschinen ein, die im Verlaufe einer Periode entstehen, in welcher die Gesellschaft die Technik nach einem bestimmten Prinzip, einer bestimmten Idee realisiert (diese Periode erstreckt sich in der Regel über Jahrzehnte). Das Grundprinzip von spanabhebenden Werkzeugmaschinen ist z. B. ein Einwirken des Arbeitsmittels auf den Arbeitsgegensland, indem ein hartes Material (das Schneidewerkzeug) die Form eines weicheren Materials (des Werkstücks) durch das Abheben von Spänen verändert. Die modernen spanabhebenden Werkzeugmaschinen sind durch hohe Leistung und Präzision gekennzeichnet: sie sind aus Materialien von hoher Qualität hergestellt und unterscheiden sich stark von der Konstruktion der Werkzeugmaschinen, die vor Jahrzehnten hergestellt wurden, und erst recht von noch früheren Modellen. Des allen ungeachtet hat sich das Grundprinzip der Arbeit der spanabhebenden Werkzeugmaschinen unverändert erhalten: die modernen Werkzeugmaschinen realisieren ein und dieselbe technische Idee wie die Werkbänke aus dem vergangenen Jahrhundert. Hier vollzieht sich die Entwicklung auf dem Wege quantitativer Veränderungen und der Perfektionierung der traditionellen Technik im Rahmen einer tradierten technischen Idee." Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß der wissenschaftlich-technische Fortschritt (nicht zu verwechseln mit der wissenschaftlich-technischen Revolution!) heute, wie stets, in der Hauptsache so vor sich geht. „Im Unterschied zur evolutionären Entwicklung treten qualitative Sprünge bei der Herausbildung einer Technik auf, die neue Prinzipien und Ideen anwendet. Als Ergebnis qualitativer Sprünge entstehen neue Gattungen von technischen Mitteln . . . Unter dem Aspekt der Erhöhung der Effektivität der gesellschaftlichen Produktion kommt den qualitativen Sprüngen im wissenschaftlich-technischen Fortschritt eine entscheidende Bedeutung zu, da gerade sie die progressivsten und aussichtsreichsten Arten der Technik und Technologie hervorrufen. Während der letzten Jahrzehnte entstanden z. B. elektronische Rechenanlagen,
32
Die historische
Situation
wurde die Atomenergie entdeckt und es wurden elektrische Methoden der Metallbearbeitung sowie viele neue chemische Materialien entwickelt. Qualitative Sprünge brachten der Menschheit Elektroenergie, Verbrennungsmotoren, Telefon, Radio usw." So wichtig aber solch qualitative Sprünge in der wissenschaftlich-technischen Entwicklung sind, bemerkt doch Pawljutschenko mit Recht: „Dessenungeachtet bleibt die evolutionäre Entwicklung von Wissenschaft und Technik weiterhin äußerst wichtig. In jedem konkreten Zeitabschnitt realisiert der übergroße Teil der in der menschlichen Gesellschaft angewandten Technik probate wissenschaftliche und technische Ideen. Selbst unwesentliche Verbesserungen von technisch-ökonomischen Parametern der traditionellen Technik können ein hohes ökonomisches Potential erschließen, weil sie eine gewaltige Masse von technischen Mitteln und Prozessen betreffen. Darüber hinaus sind auch die in der alten Technik und Technologie enthaltenen Reserven noch groß. So konnten in der Sowjetunion von 1950 bis 1968 in den Wärmekraftwerken die mit einer Einheit Einheitsbrennstoff erzeugte Elektroenergie auf das Eineinhalbfache, der durchschnittliche tägliche Stahlausstoß pro m 2 Ofenboden bei Siemens-Martin-Öfen auf das l,7fache und die stündliche Produktivität von Zement-Drehöfen auf das 2,6fache erhöht werden. Auf ein Vielfaches sind die Arbeitsgeschwindigkeiten von spangebenden Werkzeugmaschinen, die Intensität von chemotechnologischen Prozessen sowie die technisch-ökonomischen Parameter der von der Industrie produzierten Maschinen, Materialien und Geräte gestiegen." Und auch folgender wichtiger Beobachtung Pawljutschenkos über die qualitativ neue Technik ist größte Beachtung zu schenken: „Die neue Technik ist nur selten von Anbeginn so effektiv, um die tradierte Technik ruckartig zu verdrängen oder auch nur erfolgreich mit ihr konkurrieren zu können. In der Regel steht während eines gewissen Zeitabschnitts die Technik, welche ein neues Prinzip bzw. eine neue Idee realisiert, in ihren Kennziffern der alten Technik nach . . . Deshalb sind die Aktivitäten der Wissenschaftler auf das Stadium zu konzentrieren, in dem die nach neuen Prinzipien fungierende Technik noch nicht effektiv ist, deshalb sind in dieser Periode günstige Bedingungen für die schnelle Vervollkommnung der modernen Technik mit Hilfe großzügiger Finanzierungen erforderlich. In diesem Zeitraum verwendet die Gesellschaft ihre Ressourcen für die Zukunft. Die Forderung nach der ausschließlichen Entwicklung von effektiven technischen Prototypen kann dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt und dem Wachstum der gesellschaftlichen Produktion nicht zu verantwortenden Schaden zufügen . . .
Stand der wissenschaftlich-technischen
Revolution
33
Wollte man den B a u der ersten Atomkraftwerke vom Standpunkt ihrer relativen Effektivität zu der der bestehenden Wärmekraftwerke aus beurteilen, so müßte man sie als unzweckmäßig verwerfen: die Investitionen und laufenden Aufwendungen waren hier weitaus höher als bei Wärmekraftwerken. Alles in allem müssen wir ihren B a u jedoch effektiv nennen, wenn wir sie unter dem Gesichtspunkt
der potentiellen
Effektivität einer neuen
energetischen
Richtung beurteilen. Ohne die Errichtung des ersten Atomkraftwerks mit einer Leistung von 5 0 0 0 K W hätte man keine Kernkraftwerke mit 1 0 0 — 2 0 0 0 0 0 und mehr K W bauen können, die gegenwärtig die wirtschaftlichen
Kennzif-
fern der besten Wärmekraftwerke erreichen und diese in der Zukunft übertreffen werden . . . Würden wir zulassen, daß die Menschheit die Entwicklung von Wissenschaft und Technik unter ausschließlicher Berücksichtigung des gegenwärtigen
oder
in nächster Zukunft zu erwartenden ökonomischen Vorteils zu planen begänne, so müßte die Realisierung solcher wichtiger Gebiete des wissenschaftlich-technischen Fortschritts eingestellt werden, wie etwa der Weltraumforschung, des Baus von Kernkraftwerken u. v. a. . . . Die Ziele, die sich eine Gesellschaft stellt, die die traditionelle und die moderne Technik entwickelt, sind verschieden. Hinsichtlich der Perfektionierung bestehender Gattungen von technischen Mitteln postulieren sie die Erzielung eines bestimmten ökonomischen Effekts in nächster Zukunft, der mit einem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad zu bemessen ist. B e i der Entwicklung prinzipiell neuer Gattungen ist das wichtigste Ziel die Gewinnung von wissenschaftlichen und technischen Erkenntnissen, wobei die Realisierung des Effekts mehr oder weniger in den Hintergrund r ü c k t . . . Die Unmöglichkeit der Berechnung der ökonomischen Effektivität oder des ökonomischen Potentials der Grundlagenforschung wird gegenwärtig von den meisten Ökonomen anerkannt. Dieser Standpunkt ist gewiß richtig, er darf sich jedoch nicht allein auf die Grundlagenforschung beziehen. Entgegen einer weitverbreiteten Meinung kann man auch keineswegs immer die ökonomische Effektivität angewandter Forschungen und Entwicklungen bestimmen, die für die unmittelbare Einführung in die Produktion vorgesehen sind. Hier m u ß betont werden, daß das M a ß der Unbestimmtheit des Effekts nicht allein vom Stadium der Forschung und vom Grade ihrer Perfektion, sondern auch vom Charakter der entwickelten Maschinen, technologischen Prozesse und Materialien abhängt. J e mehr die neue Technik fortgeschritten ist, desto tiefer reichen auch die neuen theoretischen Grundlagen, auf denen sie beruht, und desto unbestimmter ist auch ihr wirtschaftliches Potential. Die prinzipielle
Unge-
wißheit des ökonomischen Effekts ist deshalb auch den neuesten technischen 3
Kuczynski
Die historische
34
Situation
Mitteln und Prozessen eigen, die infolge qualitativer Sprünge in der Entwicklung von Wissenschaft und Technik entstanden sind." 32 Das Bild jeder Wirtschaft wird quantitativ beherrscht von dem Fortschritt in der traditionellen Technik, und nichts wäre für die Hebung der Produktivität heute, im laufenden Jahr, gefährlicher, als das nicht zu sehen. Auf die Zukunft aber weist die qualitativ neue Technik, die heute vielfach noch gar nicht der traditionellen in Effektivität und Kostenersparnis überlegen zu sein braucht, aber weit größere Potenzen enthält. So, in solcher Weise entwickelte sich der wissenschaftlich-technische Fortschritt stets in der Geschichte der Menschheit. Die Zeit der wissenschaftlich-technischen Revolution, in der wir leben, macht davon keine Ausnahme. Auch wäre es falsch, die wissenschaftlich-technische Revolution einfach mit der Technik, die qualitativ Neues bringt, zu identifizieren. Ihr Kernprozeß ist die komplexe und die Vollautomatisierung, von der dann die gewaltigsten Auswirkungen gesellschaftlichen Charakters ausgehen — so wie die Werkzeugmaschine die beiden Hauptklassen der kapitalistischen Gesellschaft, das Industrieprolelariat und die Industriebourgeoisie, schuf. Darum sagte auch Kurt Hager: „Wir sind uns darüber im klaren, daß dieser ganze, in seinen Erscheinungsformen und sozialen Auswirkungen äußerst komplexe Prozeß, den wir als wissenschaftlich-technische Revolution bezeichnen, im historischen Maßstab der Entwicklung der Produktivkräfte jener entscheidende Prozeß ist, der zur Herausbildung der materiell-technischen Basis des Kommunismus führt. Wir können daher auch sagen: Jeder Fortschritt auf dem Wege der wissenschaftlich-technischen Revolution ist ein Fortschritt auf dem Wege zum Kommunismus. Zugleich aber müssen wir sagen: Jede Überschätzung des Standes der wissenschaftlich-technischen Revolution ist eine falsche Einschätzung des Standes unserer gesellschaftlichen Entwicklung." 33 *
Die wissenschaftlich-technische Revolution ist heute zum allergrößten Teil noch auf die Rüstungsproduktion beschränkt. In der Zivilproduktion spielt sie noch keine irgendwie ins Gewicht fallende Rolle. 32
W. Pawljutschenko, Quantitative und qualitative Veränderungen im wissenschaftlich-technischen Fortschritt. Voprossy Ekonomiki, Nr. 7, S. 23—32, Moskau 1970. Hier zitiert nach der von mir unwesentlich modifizierten Übersetzung v o n R. Sämisch. 33 K. Hager, Sozialismus und wissenschaftlich-technische Revolution. Berlin 1972, S. 27.
Stand
der wissenschaftlich-technischen
Revolution
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Untersuchen wir das am Beispiel der amerikanischen Zivilindustrie, über deren technischen Zustand Seymour Melman, Professor für Management und Industrie-Ingenieurwesen an der Columbia-Universität in New York, feststellt: „Die Nation kann nicht mehr als die Hälfte ihres wissenschaftlichen und technologischen Talents mit militärischer Forschung beschäftigen und gleichzeitig erwarten, eine technisch befriedigende Zivilindustrie zu haben." 3 4 Und ganz konkret: 1968 beendete die McGraw-Hill Gesellschaft ihre regelmäßig alle 5 Jahre durchgeführte Untersuchung der Metallindustrie und stellte fest, daß 64 Prozent aller Werkzeugmaschinen in den USA 10 Jahre oder älter waren. Die Schiffe der amerikanischen Handelsflotte haben ein Durchschnittsalter von mehr als 20 Jahren und sind nicht schneller als vor 30 Jahren. All das in einer Zeit explosiven wissenschaftlich-technischen Fortschritts in der Rüstungsindustrie! Doch untersuchen wir den Zustand der amerikanischen Zivilindustrie im „Zeitalter der wissenschaftlich-technischen Revolution" noch allgemeiner und in zeitlich geordneter Reihenfolge: Zuwachsrate der Arbeitsleistung pro Arbeiter und Stunde in der amerikanischen Industrie pro Jahrzehnt 1900/09-1910/19 1910/19-1920/29 1920/29-1930/39 1930/39-1940/49 1940/49-1950/59 1950/59-1960/69
21% 43% 33% 23% 27% 32%
Die Zuwachsrate der Arbeitsleistung pro Arbeiter und Stunde hat in der amerikanischen Zivilindustrie nicht nur nicht schnell zugenommen, sondern lag nach diesen Statistiken 30 in den fünfziger und sechziger Jahren noch unter dem Niveau der zwanziger und dreißiger J a h r e ! Von einer Wirkung der wissenschaftlich-technischen Revolution, die wir zweifellos auf dem Militärsektor beobachten, auf die zivile Industrieproduktion kann auch in den USA nicht die Rede sein. Kann auch gar nicht die Rede sein, wenn über 50 Prozent aller Forschungsund Entwicklungskapazitäten auf etwas über 5 Prozent der (militärischen) In34 S. Melman, A f t e r the m i l i t a r y - i n d u s t r i a l c o m p l e x ? „Science and public affairs. Bulletin of the atomic scientists" March 1 9 7 1 , S. 9. 3 5 Quellen f ü r die J a h r e s z a h l e n : Long Term Economic G r o w t h 1 8 6 0 — 1 9 6 5 . US Department of Commerce, B u r e a u of the Census, W a s h i n g t o n D. C. 1 9 6 6 , S. 1 9 0 f. sowie Statistical Abstract of the United States, 1 9 6 5 — 1 9 7 1 .
3*
Die historische Situation
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dustrieproduktion konzentriert sind und weniger als 50 Prozent auf annähernd 95 Prozent der (zivilen) Industrieproduktion! Kann auch gar nicht die Rede sein, wenn man bedenkt, wieviel noch geforscht und entwickelt werden muß, um die Technik der komplexen Automatik breit und effektiv auf die Zivilproduktion anwenden zu können. In seinem schon erwähnten Artikel hat Professor Steenbeck die Kosten der Grundfondsausrüstung je Arbeitsplatz in einer vollautomatisierten Fertigung auf 200000 bis 400000 Mark angegeben. Das heißt, auf 10000 Beschäftigte betragen die Kosten 2 bis 4 Milliarden Mark! Das sind Beträge, die keine Wirtschaft leicht aufbringen kann — bei gleichzeitig hohen Rüstungsausgaben. Und darum befindet sich noch kein Land der Welt weiter als bei den allerersten Anfängen der wissenschaftlich-technischen Revolution (außer auf dem Gebiet der Rüstung). Darum spricht Professor Steenbeck auch mit Recht erst von einer „Anzahl von Automatisierungsinseln" bei uns.
6. Wissenschaftlich-technische Revolution und Abrüstung In der Bundesrepublik Deutschland werden rund 40 Prozent der staatlichen Ausgaben f ü r Forschung und Entwicklung direkt für militärische Zwecke verwandt, rund 30 Prozent für Atom- und etwa 15 Prozent für Weltraumuntersuchungen. Krauch, der eine Graphik dieser Bundesausgaben gibt, bemerkt dazu: „Das Schwergewicht liegt deutlich auf Verteidigungs- 38 , Atom- und Weltraumforschung; diese fassen wir im folgenden unter dem Begriff der ,entfremdeten Technologien' zusammen, weil die Ergebnisse dieser Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten nicht direkt der Erfüllung gesellschaftlicher Bedürfnisse dienen und sie dadurch Mittel hervorbringen, die den Zwecken entfremdet sind. Mit großem Abstand folgt die Medizin. Hier ist darauf hinzuweisen, daß die von Bund und Ländern unter medizinischer Forschung aufgeführten Ausgaben zum großen Teil diagnostische und therapeutische Leistungen am Patienten bestreiten. Den 5. Platz nimmt die Verkehrsforschung ein — dabei entfällt der größte Teil der Ausgaben für Verkehrsentwicklung auf den Flugzeugbau. Dann folgt die elektronische Datenverarbeitung. Forschungs- und Entwicklungsprogramme, die sich unmittelbar an den Bedürfnissen der Gesellschaft orientieren, sind im unteren Drittel der Abbildung zu sehen; wir subsumieren sie unter den Begriff ,soziale Technologien'. Sie kommen extrem viel 36
Muß heißen Aggressionsforschung — J. K.
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Revolution
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weniger zum Tragen. Besonders auf die äußerst geringen Mittel für die Zukunftsforschung und die Bildungsforschung muß verwiesen werden. 3 7 " Nicht sehr wesentlich anders ist die Situation in anderen imperialistischen Staaten zweiter Ordnung, während in den USA die direkten Militärausgaben eine noch weit größere Rolle spielen. Wir haben hier jedoch das Beispiel der Bundesrepublik aus zwei Gründen gegeben. Einmal weil sie die aggressivste imperialistische Macht des europäischen Kontinents ist. Sodann aber auch, weil wir für die Bundesrepublik eine zweite Untersuchung haben, über die Krauch so berichtet: „Der Meinungsforscher Klaus Schreiber hat im Auftrag und in Zusammenarbeit mit der Studiengruppe für Systemforschung Repräsentativbefragungen im Bundesgebiet und Westberlin durchgeführt, um herauszufinden, welche Forschungsaufgaben der Staat nach Meinung der Öffentlichkeit fördern sollte. Den Teilnehmern wurde eine Liste von zwölf der wichtigsten vom Staat geförderten Forschungsgebiete vorgelegt. Sie wurden gebeten anzugeben, welche davon ihrer Ansicht nach die drei wichtigsten seien." 3 8 ü b e r 20 Prozent der Befragten stellten Forschungen auf dem Gebiete der Medizin an die erste Stelle, fast 15 Prozent Forschungen über Ernährung, mehr als 10 Prozent j e : über Umwelthygiene, Lehren/Lernen, Energie, und fast 10 Prozent: über menschliche Beziehungen. Ganz unbedeutend erschienen der öffentlichen Meinung Forschung für das Militär, über Atome, Datenverarbeitung, Weltraum und Luftfahrt. Wie gesund im Grunde sind doch, wenn sie einzeln befragt werden, trotz aller Manipulation die Meinungen der Bürger der Bundesrepublik! Krauch bemerkt: „Aus der Diskrepanz zwischen der öffentlichen Präferenzliste und der politisch und sachlich gut vorinformierten Präferenz mit den faktischen Prioritäten, wie sie von B u n d und Ländern gesetzt werden, ist zu schließen, daß ein starkes Interesse sehr wohl in der Bevölkerung lebendig sein kann, ohne daß ein darauf bezogenes Forschungsprogramm die geringste Aussicht hätte, bei der Vergabe von Geldern ernsthaft diskutiert zu werden. E s wäre töricht, dort individuelle Mängel zu vermuten, wo es gerade institutionelle Bedingungen sind, die die Beteiligung einer offensichtlich sehr großen Anzahl von Staatsbürgern an der Auswahl von Forschungsprogrammen versperren." 3 9 Vgl. H. Hamm-Brücher, Schule zwischen Apo und Establishment. Hannover 1969 (Anteil der Bildungsausgaben überhaupt am Bruttosozialprodukt der BRD der niedrigste aller EWG-Staaten nach einem Bericht von R. Poignant 1964). 38 H. Krauch, Prioritäten für die Forschungspolitik, a. a. 0 . , S. 14 ff. 3 9 Ebendort, S. 37. 37
Die historische Situation
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Statt „institutionelle Bedingungen" würden wir Herrschaft des Monopolkapitals sagen.
Zitieren wir in diesem Zusammenhang aus dem Teil des Rechenschaftsberichts des Zentralkomitees der KPdSU an den XXIV. Parteitag der KPdSU, der das Thema behandelt „Der Kampf der Sowjetunion für den Frieden und die Sicherheit der Völker. Der Widerstand gegen die imperialistische Aggressionspolitik" : L. I. Breshnew sagte dort (unsere Unterstreichungen): „Es wurden Verträge abgeschlossen, die die Stationierung von Kernwaffen im Kosmos sowie auf dem Boden der Meere und Ozeane verbieten. Das Erreichte stellt jedoch lediglich erste Schritte dar. Unser Ziel ist es, eine solche Situation herbeizuführen, bei der die Kernenergie ausschließlich friedlichen Zwecken dient. Wir führen Verhandlungen mit den USA über die Einschränkung der strategischen Rüstung. Ihr günstiger Ausgang würde es ermöglichen, eine neue Runde im Raketenwettrüsten zu vermeiden und beträchtliche Mittel für friedliche Zwecke frei zu machen. Wir streben an, daß die Verhandlungen positive Ergebnisse zeitigen . . . Der Kampf für die Beendigung des Wettrüstens sowohl in bezug auf Kernais auch auf herkömmliche Waffen, der Kampf für Abrüstung — bis zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung — wird auch künftig eine der wichtigen Richtungen der außenpolitischen Tätigkeit der KPdSU und des Sowjetstaates sein." 40 Wie offenbar ist es doch, daß die KPdSU für alle werktätigen Menschen spricht!, auch für die Bürger der Bundesrepublik, deren „Präferenzen für Forschung" wir soeben zitiert haben.
Die Sowjetunion, die ganze sozialistische Welt, die den Kampf für Abrüstung führt, hat natürlich mit diesem Kampf ein Hauptziel, das für die Menschheit gegenwärtig von alles entscheidender Bedeutung ist, die Erhaltung und Festigung des Friedens. Zugleich aber muß man in diesem Zusammenhang zwei andere Ziele, die mit der Abrüstung erreicht werden, sehen. 40
A. a. 0., Moskau 1971, S. 37.
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Revolution
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Abrüstung
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Uber das erste, das speziell den Wissenschaftler betrifft, ist schon viel gesprochen und geschrieben worden. Es geht darum, daß der Wissenschaftler sich ganz der Forschung und Entwicklung hingeben kann, ohne befürchten zu müssen, daß die Resultate seiner Arbeit gegen die Menschheit mißbraucht werden; und in engstem Zusammenhang damit wird auch der Wissenschaftler von den Fesseln der Geheimhaltung befreit, die Wissenschaft kann sich durch Diskussion und Kritik auf viel breiterer Ebene in viel schnellerem Tempo entwickeln, als es bisher der Fall war. 4 1 Das zweite Ziel aber, über das noch ganz ungenügend gesprochen und geschrieben worden ist, lautet: Durchbruch der wissenschaftlich-technischen Revolution auf dem Sektor der zivilen Industrieproduktion, ja ganz allgemein: auf allen zivilen Sektoren der Gesellschaft mit den stärksten und großartigsten Wirkungen auf das gesamte gesellschaftliche Leben. Bis heute war der monopolistische Militär-Industriekomplex, der Kern des Imperialismus in den USA wie in der BRD und anderswo, noch stark genug, um nicht nur eine Abrüstung, sondern auch einen umfassenden Rüstungsstop zu verhindern. Aber niemand kann bestreiten, daß seine Position gegenüber dem Sozialismus wesentlich schwächer ist als vor zehn Jahren. In dem Maße, in dem es gelingt, die Monopole zu bändigen und sich dem Ziel der Abrüstung zu nähern, in dem Maße nähern wir uns auch der Einführung der wissenschaftlich-technischen Revolution auf breitester Ebene, auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens, insbesondere natürlich in den sozialistischen Ländern, in denen alle Voraussetzungen für die breiteste Verwirklichung der wissenschaftlich-technischen Revolution gegeben sind. Darum können wir auch die Verwirklichung der Abrüstung verbinden: sowohl mit der Prognose einer außerordentlichen Steigerung der wissenschaftlichen Effektivität speziell, wie auch mit der Prognose von in der Menschheitsgeschichte völlig unbekannten Steigerungsraten der Arbeitsleistung in der Produktion, ja ganz allgemein auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens.
In diesem Zusammenhang ist die Frage zu beantworten: ist es überhaupt möglich f ü r imperialistische Länder, die wissenschaftlich-technische Revolution 41
Robert Rompe bemerkt aber sehr richtig dazu, daß, solange der Kapitalismus noch eine Rolle im Weltmaßstab spielt, man die Geheimhaltung von neuen Erfindungen und Verfahren aus wirtschaftlichen Gründen nicht prinzipiell aufheben könne.
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Die historische
Situation
auf breiter E b e n e d u r c h z u f ü h r e n , sie über die allerersten Anfänge hinauszuführen? Uber die Auffassung sowjetischer Ökonomen dazu berichtet H . Nick so: „Die sowjetischen Ö k o n o m e n verbinden die wissenschaftlich-technische Revolution mit dem Prozeß, die materiell-technische Basis des K o m m u n i s m u s zu errichten. Besonders interessant ist in diesem Z u s a m m e n h a n g das Buch ,Die gegenwärtige wissenschaftlich-technische Revolution' eines Autorenkollektivs des Instituts f ü r Geschichte der Naturwissenschaft u n d Technik der Akademie der Wissenschaften der UdSSR/* 2 Die Autoren gehen davon aus, d a ß beim Ubergang von einer Gesellschaftso r d n u n g zur anderen sich jedesmal drei revolutionäre Prozesse vollzogen: eine technische Revolution, eine Produktionsrevolution u n d eine politisch-soziale Revolution. Die technische Revolution f ü h r t zu wesentlichen, qualitativen Verä n d e r u n g e n der technischen Mittel, vor allem zu bedeutend produktiveren Arbeitsmitteln (z. B. dem mechanischen Webstuhl, der Spinnmaschine u n d der D a m p f m a s c h i n e als wichtigste M o m e n t e der technischen Revolution zu Beginn der kapitalistischen Produktionsweise). Diese technische Revolution wächst in die Produktionsrevolution hinüber. Darunter sind qualitative Veränderungen im gesamten materiellen R e p r o d u k tionsprozeß zu verstehen, die auf den Ergebnissen der technischen Revolution beruhen. Beim Ubergang v o m Feudalismus z u m Kapitalismus prägte die Herausbildung der maschinellen Großindustrie den Inhalt dieser Produktionsrevolution. Die technische Revolution k ö n n e in der vorausgehenden Gesellschaftsordnung beginnen. Sie könne jedoch n u r d a n n zur Produktionsrevolution f ü h r e n , wenn vorher die politisch-soziale Revolution gesiegt h a b e . Hieraus wird der Schluß gezogen: Die wissenschaftlich-technische Revolution k a n n zwar in den imperialistischen L ä n d e r n beginnen, aber die durch die technische Revolution mögliche u n d notwendige neue Qualität des volkswirtschaftlichen Reproduktionsprozesses — vor allem b e r u h e n d auf der k o m p l e x e n Automatisierung — k a n n sich n u r im Prozeß der Schaffung der materiellen Basis des K o m m u n i s m u s herausbilden. Die Meisterung der wissenschaftlich-technischen Revolution ist folglich sehr eng mit der Festigung und Entwicklung der kommunistischen Produktionsweise v e r b u n d e n . Gerade hier aber m u ß — wie der Präsident der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Mstislaw Keldysch, auf d e m X X I V . Parteitag der K P d S U a u s f ü h r t e — noch eine be42 „Die gegenwärtige wissenschaftlich-technische Revolution", Autorenkollektiv des Instituts für Geschichte der Naturwissenschaften und Technik der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Redaktion: S. W. Schuchardin, 2. ergänzte Auflage, Verlag Nauka, Moskau 1970, S. 17/18.
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deutende Arbeit geleistet werden: ,Die Wirtschaftswissenschaftler und Soziologen haben die Aufgabe, tiefer die Vorzüge zu erforschen, die uns die sozialistische Gesellschaftsordnung für die Steigerung des Entwicklungstempos und für die rascheste Nutzbarmachung der Ergebnisse der Wissenschaft bietet."' 3 " 44 H. Nick selbst teilt diese Auffassung nicht. In einer Polemik gegen J. Kuczynski, der stets die Ansicht der zitierten sowjetischen Ökonomen vertreten hat, schrieb er: „Und es ist auch illusionär anzunehmen, daß die kapitalistische Welt wohl kaum über die ersten Anfänge der wissenschaftlich-technischen Revolution hinauskommen werde." 45 Vielleicht hat Nick dabei an die Feststellung von Lenin gedacht: „Im großen und ganzen wächst der Kapitalismus bedeutend schneller als früher, aber dieses Wachstum wird nicht nur im allgemeinen immer ungleichmäßiger, sondern die Ungleichmäßigkeit äußert sich auch im besonderen in der Fäulnis der kapitalkräftigsten Länder (England)." 46 (Heute hätte Lenin in Klammern gesetzt: Vereinigte Staaten von Amerika). Doch müssen wir diese Äußerungen Lenins auf den wissenschaftlich-technischen Fortschritt — sei es mit traditionellen, sei es mit qualitativ neuen Mitteln —, wie er damals üblich war, beziehen. Eine wissenschaftlich-technische Revolution mit komplexer oder Vollautomatisierung, wie sie sich heute (vorläufig noch in erster Linie auf dem Rüstungsgebiet) vollzieht, ließ sich damals selbstverständlich noch nicht voraussehen. Eine wissenschaftlich-technische Revolution — im Gegensatz zu den üblichen qualitativen Sprüngen der Technik, wie sie etwa der Elektromotor darstellt — kann aber gar nicht anders als in engstem Zusammenhang mit den Produktionsverhältnissen betrachtet werden. Es erhebt sich jedoch folgende Frage: Wie sieht eine Welt aus, in der die Monopole gebändigt sind, in der die fortschrittlichen Kräfte, mit den sozialistischen Ländern an der Spitze, eine immer stärkere Abrüstung durchsetzen? Es scheint mir durchaus möglich, daß in einer solchen Welt auch in den noch nicht sozialistischen Ländern die wissenschaftlich-technische Revolution über die allerersten Anfänge hinauskommen kann, wenn auch natürlich nicht so schnell wie in den sozialistischen Ländern. Ganz eng sind die Ausbreitung der wissenschaftlich-technischen Revolution und die Abrüstung, ganz eng sind die Bändigung der Monopole und die Durch43
Mstislaw Keldysch, „Wissenschaft entscheidet technischen Fortschritt", „Neues Deutschland", 3. April 1971. 44 H. Nick, Wissenschaftlich-technischer Fortschritt in der sowjetischen Wirtschaftsliteratur. „Einheit", Heft 5, 26. Jg., Berlin 1971, S. 534 und 538. 45 „Neues Deutschland", 25. April, Berlin 1971. 46 W. I. Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Werke, Bd. 22, Berlin 1960, S. 306.
Die historische Situation
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setzung der wissenschaftlich-technischen Revolution in der Zivilproduktion, ganz eng sind die Probleme der wissenschaftlich-technischen Revolution und die Produktionsverhältnisse miteinander verbunden!
7. Ein Brief an J. D. Bemal über den Einfluß der Produktionsverhältnisse auf Rüstung und Wirtschaft47 John Desmond Bernal ist gestorben, der große Wissenschaftler und Friedenskämpfer. ö f t e r sahen wir uns auch nach dem Kriege. Das letzte Mal in Moskau, wo Bernal mir folgende interessante Geschichte erzählte: Unter seinen amerikanischen Bekannten aus der Kriegszeit, in der er seine wissenschaftlichen Kenntnisse im Kampf gegen den Hitlerfaschismus eingesetzt hatte, gab es mehrere, die später in hohe Stellungen beim Pentagon gekommen waren. Gelegentlich sprach er noch diesen und jenen, wobei sie natürlich auch die Rüstungseskalation in der Welt diskutierten. Einmal fragte Bernal, warum, wo sie doch genug Waffen hätten, um die Menschheit umzubringen, die USA immer weiter rüsteten und so auch die Sowjetunion zu stärkerer Verteidigungsrüstung zwängen. „Ja, zwingen! Sie haben recht, genau das wollen wir", hätten ihm die Pentagonbekannten geantwortet und das so begründet: „Sehen Sie, es wird immer gefährlicher, einen Krieg zu führen. Aber wenn wir, die wir die größere Industrie, die größeren Investitionen, die größere Produktion haben, die Sowjetunion zwingen, in der Rüstung mit uns Schritt zu halten — es ist doch eine ganz einfache Rechnung, wer von uns zuerst wirtschaftlich zusammenbricht." Und dann sprachen wir, Bernal und ich, über die gesellschaftliche Blindheit jener Technokraten. Schon damals ging es ihm gesundheitlich nicht gut, und so hob ich am Ende dieser letzten Unterhaltung, die wir hatten, das Glas auf sein Wohl und sagte: „Gute Gesundheit, lieber Freund! Auf daß wir beide noch die Rüstungskrise der USA erleben!" ö f t e r hatte ich in den letzten Monaten an jenes Zusammensein gedacht und hätte ihm, wenn er nicht schon so schwer erkrankt gewesen wäre, geschrieben: „Lieber Freund: Es ist alles noch viel erstaunlicher und in mancher Beziehung großartiger gekommen, als wir bei unserem letzten Zusammensein uns gedacht. Daß die sozialistische Wirtschaft der UdSSR unendlich viel stärker an innerer Tragkraft der Militärausgaben ist als die Wirtschaft der USA, da sie, wenn auch 47
Vgl. dazu „horizont", 4. Jg. Nr. 41, 2. Oktoberheft, Berlin 1971, S. 24.
Monopol und
Wissenschaft
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nicht materiell reicher als die der USA, so doch ohne deren f u n d a m e n t a l e Widersprüche ist, das hatten wir damals in Moskau vorausgesehen, da wir beide Marxisten sind. W a s wir damals aber nicht vorausgesehen h a b e n u n d wohl auch nicht voraussehen konnten, ist, d a ß in d e m M o m e n t , wo sich zeigt, daß die USA nicht m e h r in der Lage sind, gleichzeitig zu rüsten u n d ihre Zivilindustrie in Gang zu halten, d a ß in d e m M o m e n t , wo auf G r u n d der Rüstungs- u n d Kriegswirtschaft die gesamte Ökonomie der USA in eine schwere Krise geraten ist, daß genau in diesem M o m e n t die Wirtschaft der Sowjetunion sich nicht n u r wie eh u n d je kräftig entwickelt, sondern so stark geworden ist, d a ß Partei u n d Regierung dort trotz der materiellen A u f w e n d u n g e n zur Verteidigung des Friedens eine Forcierung der H e b u n g des Lebensstandards beschlossen h a b e n . Wie schön, d a ß wir das beide noch erleben!"
8. Monopol u n d Wissenschaft W i r hatten uns im vorangehenden auf die Auswirkungen von Krieg u n d R ü s t u n g auf Wissenschaft u n d Technik konzentriert, weil diese seit d e m zweiten Weltkrieg von so entscheidender Bedeutung sind. M a n darf dabei aber nicht andere ebenfalls schädliche F a k t o r e n übersehen. Dazu gehören unter a n d e r e m : 1. Im Kapitalismus, insbesondere aber mit der enorm gewachsenen Rolle der Wissenschaft f ü r den Produktionsprozeß im Monopolkapitalismus, ist die Abhängigkeit der Entwicklung der Naturwissenschaften von den Möglichkeiten einer schnellen Profitheckung, die sie bieten, e n o r m gewachsen. Dadurch aber wird in den imperialistischen L ä n d e r n die Struktur der Wissenschaft, zusätzlich zu ihrer Disproportionierung f ü r Militärzwecke, merklich verzerrt. 2. E n g mit der Verzerrung des Wissenschaftssystems aus Profitgründen hängt eine Deformation der wissenschaftlichen Institutionen z u s a m m e n , in denen K o n k u r r e n z in der Finanzmittelsuche u n d Prestigerücksichten eine zun e h m e n d e Rolle spielen. Forscher werden wegen ihrer „guten V e r b i n d u n g e n " zu monopolistischen Geldgebern angestellt; andere, da sie Präsidenten, Vizepräsidenten, Sekretäre von wissenschaftlichen Vereinigungen oder in der Redaktion von Zeitschriften sind. Gelder werden gesucht u n d beschafft zur Herstellung von „Duplikaten", die völlig überflüssig sind, aber als Konkurrenzp r o d u k t auf d e m M a r k t dienen können, usw. 3. Die Ausbildung der Wissenschaftler findet nicht n u r in d e m Sinne unter d e m Klassenstandpunkt statt, daß Arbeiter u n d Bauern im allgemeinen n u r
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Die historische
Situation
völlig ungenügende Studienmöglichkeiten erhalten, sondern es werden auch künstliche Schranken zwischen Wissenschaftlern errichtet, etwa, um ein Beispiel aus der Zeit der Weimarer Republik zu wählen, zwischen dem Hochschul-Dipl.-Ing., der im allgemeinen nicht politisch organisiert war, daher nicht streikte, und dem Fachschulingenieur, der der Arbeiterklasse im allgemeinen näher stand. Erst nach dem zweiten Weltkrieg, mit dem rapid steigenden Bedarf nach gut ausgebildeten Wissenschaftlern, finden sich Risse in diesem System der Kaderauswahl und Berufsstruktur. Das heißt, die Verzerrung und Deformation der Wissenschaft und des Wissenschaftsbetriebs durch das Militär traf in den imperialistischen Ländern ein, schon auf Grund der kapitalistischen, speziell der monopolkapitalistischen Verhältnisse, in vielerlei Hinsicht ungesund entwickeltes Wissenschaftssystem.
K A P I T E L
II
Intensivierung statt Expansion! Durch die Krise der Quantität zur Erhöhung der Qualität
Es scheint so, als ob die Zahl der Wissenschaftler sich in den letzten 250 Jahren in ziemlich regelmäßigem Abstand von 12 bis 15 Jahren verdoppelt hat. Ein solcher Prozeß muß, da die Bevölkerung sich wesentlich langsamer vermehrt, dazu führen, daß in absehbarer Zeit, wie Bernal einmal formulierte, die Zahl der Wissenschaftler größer sein wird als die Zahl der Menschen — oder, was viel wahrscheinlicher ist, daß die Zahl der Wissenschaftler zum ersten Male seit der Zeit des Frühkapitalismus langsamer steigen wird. Das heißt, die wissenschaftlich-technische Revolution wird in den heute wissenschaftlich fortgeschrittenen Ländern mit einer gegenüber den letzten 250 Jahren beachtlich weniger schnell zunehmenden Anzahl von Wissenschaftlern und Technologen durchgeführt werden müssen. Mit vollem Recht stellt darum auch der sowjetische Wissenschaftler G. M. Dobrow fest: „Es ist klar, daß das gegenwärtige hohe Wachstumstempo der Zahl der Wissenschaftler nicht unverändert über lange Zeit aufrechterhalten werden kann. Eine erfolgreiche Entwicklung der Wissenschaft in der Zukunft kann nur dann gesichert werden, wenn die Arbeitsproduktivität der Wissenschaftler schneller zunimmt als die Zahl der Wissenschaftler . . . In der letzten Zeit wurden von sowjetischen und ausländischen Wissenschaftswissenschaftlern eine ganze Reihe Strukturanalysen der Wissenschaftskader durchgeführt. Die Wissenschaftswissenschaftler studierten das Wachstumstempo der Zahl der Wissenschaftler in der UdSSR, den USA und den Ländern Westeuropas. 48 Diese Forschungen haben ergeben, daß die Kennziffern für das Tempo (die mittleren Tendenzen) des quantitativen Wachstums der Wissenschaftskader in der UdSSR am höchsten ist. Die Kennziffer ist in 48 Vgl. D. J. de Solla Price, Little Science, Big Science, New York 1963; P. Auger, Die modernen Strömungen in der wissenschaftlichen Forschung, (West-) Berlin (1962), russ. Ausgabe: Sovremennye tendencii v naucnych issledovanijach. Herausgegeben von der UNESCO in der UdSSR, Moskau 1963.
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Intensivierung
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Expansion!
der UdSSR (Verdoppelung der Zahl der Wissenschaftskader alle sechs bis sieben Jahre) doppelt so hoch wie in den Ländern Westeuropas (Verdoppelung in 15 Jahren), und sie übertrifft die Kennziffer für die USA (Verdoppelung in 10 Jahren) erheblich. Nach wissenschaftswissenschaftlichen Untersuchungen kamen 1966 in der UdSSR auf je 10000 Einwohner 30,4 Wissenschaftler; in der Ukrainischen SSR beträgt die entsprechende Zahl 21. In den meisten der am weitesten entwickelten kapitalistischen Länder sind die entsprechenden Werte weitaus niedriger: in den USA — 23, in England — 9,7, in Frankreich — ß. 49 " 50 Doch wird die wissenschaftlich-technische Revolution, wird der künftige wissenschaftlich-technische Fortschritt allgemein nicht nur mit einer langsamer als bisher wachsenden Anzahl von Wissenschaftlern durchgeführt werden — auch die Zahl der Hilfskräfte für den wissenschaftlichen Betrieb und die Ausgaben für die Wissenschaft werden nicht mehr im gleichen Tempo steigen können wie in der Vergangenheit. Dobrow formulierte einige f ü r diese Problematik wichtige Tatsachen so: „Jede Verdopplung der Anzahl neuer wissenschaftlicher Ergebnisse in der Welt war in den zurückliegenden Jahren des 20. Jahrhunderts verbunden mit — einer Zunahme der Menge an wissenschaftlich-technischen Informationen um das 8- bis lOfache; — einer zahlenmäßigen Zunahme der im Bereich der Wissenschaft beschäftigten Menschen um das 15- bis 20fache; — einer Steigerung der Aufwendungen f ü r die Wissenschaft um das 30- bis 40fache." 5 1 Und noch stärker das „Dilemma der Quantität" in der gegenwärtigen Wissenschaftssituation herausarbeitend schrieb er: „Die Erfahrung der vergangenen Jahre hat auch gezeigt, daß jeder Schritt der Wissenschaft nach vorn mit immer mehr Arbeit und mit einem immer höheren Preis errungen wird. In den letzten 40 bis 50 J a h r e n wurde die Verdoppelung der Anzahl neuer wissenschaftlicher Resultate in der Welt von einem 8- bis lOfachen Zuwachs der Menge wissenschaftlicher Information, von einer 15- bis 20fachen Erhöhung der Anzahl der Menschen in der Wissenschaft und von einem mehr als 30fachen Zuwachs der Zuwendungen f ü r die Wissenschaft und für die Verwertung ihrer Ergebnisse begleitet. 49
Vgl. Hommes et Techniques, 1965, Bd. 21, Heft 251, S. 1 0 5 1 - 1 0 6 1 . G. M. Dobrow, Wissenschaftsorganisation und Effektivität. Berlin 1971, S. 137, 139 f. 51 G. M. Dobrow, Wissenschaftswissenschaft. Berlin 1969, S. 301. 50
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Expansion!
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Derartige Disproportionen im Wachstum der quantitativen Charakteristika des Organisationssystems der Wissenschaft können nicht lange fortgesetzt werden." 52 Sie können schon aus dem ganz einfachen Grunde nicht fortgesetzt werden, weil, genau wie bei der Fortsetzung des Tempos der Vermehrung der Wissenschaftler, in absehbarer Zeit mehr Wissenschaftler als Menschen existieren würden, so bei der Fortsetzung des jetzigen Tempos der Steigerung der Ausgaben für die Wissenschaften in absehbarer Zeit mehr als das gesamte Volkseinkommen für die Wissenschaften ausgegeben werden müßte. Dabei beteht jedoch ein sehr wichtiger Unterschied zwischen der Vermehrung der Anzahl der Wissenschaftler und der der Ausgaben für die Wissenschaften. Die Zahl der Wissenschaftler hat seit rund 250 Jahren in etwa gleichem Tempo zugenommen. Das heißt, wenn wir heute sagen, daß 80 oder 90 Prozent aller Wissenschaftler in der Geschichte der Menschheit gegenwärtig leben, dann konnte man natürlich die gleiche Behauptung auch vor einem Vierteljahrhundert aufstellen, und auch 1870 hätte man sagen können: etwa drei Viertel aller Wissenschaftler in der Geschichte leben heute. Wenn wir also in Zukunft in den entwickelten Ländern mit einer Einschränkung im Tempo des Wachstums der Zahl der Wissenschaftler rechnen müssen, dann bedeutet das eine grundlegende Wandlung in der Wissenschaftssiluation der letzten 250 Jahre. Die rapide Steigerung der Kosten der Wissenschaften ist jedoch erst neueren Datums. Bernal gliedert die Geschichte der modernen Physik zum Beispiel in drei Phasen: „Die erste Phase, die sich von 1895 bis 1916 erstreckt, könnte als die heroische oder, von einem anderen Gesichtspunkt aus, als die Amateurphase der modernen Physik bezeichnet werden. In dieser Phase werden neue Welten erforscht, neue Vorstellungen geboren — doch im wesentlichen noch immer mit den technischen und geistigen Mitteln der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts. Es war noch immer eine Epoche hauptsächlich individueller Leistungen, die Epoche der Curies und Rutherfords, der Plancks und Einsteins, der Braggs und Bohrs. Die exakten Wissenschaften, insbesondere die Physik selbst, gehörten noch immer zu den Laboratorien der Universitäten; sie hatten nur geringe Beziehungen zur Industrie. Die Apparaturen waren billig und einfach; die Physik befand sich noch im ,Siegellack- und Bindfaden'-Stadium (sogenannte Klebwachsphysik). Jedoch hatte die industrielle Durchdringung bereits begonnen. . . . 62
G. M. Dobrow,
Prognostik in Wissenschaft und Technik. Berlin 1971, S. 78.
48
Intensivierung
statt
Expansion!
Die zweite Phase, von 1919 bis 1939, wird durch das verstärkte Eindringen der Techniken und der Organisationsformen der Industrie in die Physik charakterisiert. Zwar wurde die Grundlagenforschung noch immer hauptsächlich in den Universitätslaboratorien betrieben, jedoch leiteten bedeutende Wissenschaftler jetzt ganze Arbeitsgruppen, sie begannen teure Ausrüstungen zu verwenden und hatten bereits enge Beziehungen zu den großen Forschungslaboratorien der Industrie. Die Physiker arbeiteten jetzt in viel größerer Zahl und konnten über beispiellose Geldmittel verfügen; die Physik selbst begann ihr Gebiet zu erweitern und ein neues Gesicht anzunehmen." Doch darf man die Zunahme der Kosten der Wissenschaft in dieser zweiten Phase der Physik nicht überschätzen. Joliot-Curie sagte über sie 1958 in seiner Rede auf der Internationalen Konferenz der Nobelpreisträger: „Vor etwa zwanzig Jahren konnte die ¡Artillerie', die zur Erforschung der Atomkerne benutzt wurde, in einem nur wenige Kubikzentimeter großen Fläschchen enthalten sein. Dieser oder jener Versuch, der zu sehr bedeutenden Ergebnissen führte, erforderte nur einen kleinen Raum, einige Quadratmeter, und ein nicht besonders umfangreiches Material." 53 Von der dritten Phase bemerkt Bernal: „Die benötigten Apparaturen sind so teuer geworden und die zu ihrer Bedienung erforderliche Zahl von Wissenschaftlern so groß, daß selbst die Industrie sie sich nicht mehr leisten kann und nur noch die mächtigsten Staaten wesentliche Beiträge zur Physik liefern können." 54 Das heißt, die Umstellung von der Quantität auf die Qualität wird voraussichtlich viel größere gesellschaftliche Anstrengungen auf dem Gebiet der Kader als auf dem der Ausrüstungen erfordern. Was die Kader betrifft, gilt es, an die Stelle eines seit Newton und Leibniz üblichen Expansionstempos eine intensive Qualifizierung zu setzen. Was die Ausrüstungen betrifft, gilt es, einer vielleicht gerade erst ein halbes Jahrhundert alten Tendenz energisch mit technologischer Phantasie entgegenzutreten. Was für eine große Aufgabe die Intensivierung der Wissenschaft durch höhere Qualifizierung der Kader darstellt, können wir schon daran ermessen, •daß wir für die Entwicklung des letzten Vierteljahrhunderts bereits feststellen müssen: Die Wissenschaft wird immer teurer an materiellen und geistigen (Zahl der Wissenschaftler) Kräften, ohne daß die schöpferischen Resultate (im Gegensatz zur einfachen Tatsachenanhäufung) entsprechend zunehmen. Die Qualität des vorhandenen Wissenschaftlerpotentials verdünnt sich sogar. Der 53 F. Joliot-Curie, Wissenschaft und Verantwortung. Ausgewählte Schriften. Berlin 1962, S. 199. 54 J.D. Bernal, Die Wissenschaft in der Geschichte. Berlin 1967, S. 466 f.
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Expansion!
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Prozentsatz schöpferischer Wissenschaftler und schöpferischer Leistungen unter allen Wissenschaftlern und wissenschaftlichen Leistungen vermindert sich. Der sowjetische Forscher Rodnyj bemerkt zum Beispiel : „Es wird immer wieder angeführt, daß 90 Prozent aller bisher in der Wissenschaft tätigen Personen gegenwärtig leben. Solange diese Feststellung lediglich als Beweis für die zahlenmäßige Zunahme der Wissenschaftler dient, gibt es nichts dagegen einzuwenden. Man darf dabei jedoch nicht die vor sich gegangenen Veränderungen in der Struktur der wissenschaftlichen Kader übersehen. Gewiß, 1860 gab es tatsächlich in der ganzen Welt nur etwa 200 Chemiker, und im Verlaufe eines einzigen Jahrhunderts hat sich ihre Zahl vertausendfacht. Aber unter den Chemikern, die um 1860 lebten, waren Zinin, Butlerov, Mendeleev, Kekulé, Wurtz, Canizzaro und viele andere bedeutende Forscher. Immerhin ist fast die Hälfte der damals lebenden Chemiker in die Geschichte der Wissenschaft insgesamt (d. h. ihre Ergebnisse beeinflußten nicht nur die Entwicklung einer bestimmten Disziplin, sondern veränderten auch andere grundlegende Zweige der Wissenschaft bedeutend) oder zumindest in die Geschichte ihrer Wissenschaftsdisziplin eingegangen. Selbst die weniger bekannten von ihnen haben irgendeine Spur in der Entwicklung eines Teilbereichs der Chemie hinterlassen. Von den Chemikern der sechziger Jahre unseres Jahrhunderts werden hingegen kaum 5 Prozent in die Geschichte eingehen, selbst wenn man alle Ebenen, angefangen bei der allgemeinen Geschichte der Chemie bis hin zur Geschichte der einzelnen Teilgebiete der Chemie, einbezieht. Auch veränderte sich die Art, wie wissenschaftliche Resultate heute gewonnen werden : Ein großer Teil von ihnen ist nicht mehr das Ergebnis individuellen Schöpfertums." 55 Und wer kennt nicht die wundervolle Entwicklung der Physik von 1900 mit der Veröffentlichung von Max Plancks berühmter Arbeit zur Begründung der Quantentheorie bis zu den letzten Jahren vor dem zweiten Weltkrieg — vier Jahrzehnte, in denen ein Forscher nach dem anderen unsere physikalischen Erkenntnisse auf immer größere Höhen hob . . . und dann folgte ein Dritteljahrhundert, von dem Ambarcumjan feststellte: „Heute entwickelt sich die Physik, die der Schrittmacher der modernen Naturwissenschaft war und bleibt, erheblich ,ruhiger' als zu Beginn des XX. Jahrhunderts: Die Revolution ist in ihr vorerst zum Stillstand gekommen. Die hervorragenden Errungenschaften 55
N. I. Rodnyj, Probleme des wissenschaftlichen Schöpfertums und der Organisation der Wissenschaft in den Arbeiten von Naturwissenschaftlern. In: Wissenschaft. Studien zu ihrer Geschichte, Theorie und Organisation (künftig zitiert als „Wissenschaft"). Berlin 1972, S. 122. 4 Kuczynski
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der letzten drei Jahrzehnte basieren auf der Anwendung von bereits bekannten physikalischen Begriffen, Gesetzen und Theorien." 56 Die größte Blüte der marxistischen Gesellschaftswissenschaften im 20. Jahrhundert fällt, unter der Führung Lenins, in seine ersten 3 Jahrzehnte. Natürlich gibt es für jede Wissenschaft Zeiten besonders starker schöpferischer Entwicklung, denen, wie Ambarcumjan andeutet, Zeiten der Aufarbeitung und Anwendung folgen müssen. Aber doch müssen wir negativ feststellen: die Zeit rapider Vermehrung der Ausgaben pro Wissenschaftler hat keineswegs zu einer größeren schöpferischen Leistung der Wissenschaft geführt. Ja, der sowjetische Wissenschaftler Mikulinskij warnt — meiner Ansicht nach noch zu zurückhaltend formulierend: „In der Vergangenheit garantierten die gewaltigen Schwierigkeiten, die ein Mensch überwinden mußte, um Wissenschaftler zu werden, von vornherein, daß in der Regel nur wirklich begabte, sich durch einen starken Willen und eine grenzenlose Hingabe an die Sache auszeichnende Menschen zur Wissenschaft kamen. Demgegenüber ergibt sich heute eine völlig andere Situation. Durch die außergewöhnliche Erweiterung des Umfangs wissenschaftlicher Forschungen und die massenhafte Zunahme der Hochschulen erhöht sich zwangsläufig die Zahl der Wissenschaftler und Hochschullehrer. Die Arbeit in der Wissenschaft wird immer mehr zu einem Massenberuf. Für die sozialistische Gesellschaft ist unter diesen Bedingungen entscheidend, die Gefahr des Absinkens des allgemeinen Durchschnittsniveaus der in der Wissenschaft Tätigen zu erkennen und ihr wirksam zu begegnen." 57 Selbstverständlich schließt Mikulinskij daraus nicht, daß wir zu den alten Schwierigkeiten für die Wissenschaftler zurückkehren sollen, sondern er fährt vielmehr fort: „Das aber macht es notwendig, das Problem der Auswahl der für die Arbeit in der Wissenschaft vorgesehenen Menschen speziell zu untersuchen. Bei denjenigen, die bereits in der Wissenschaft arbeiten, ist das an Hand ihrer Produktivität relativ einfach zu lösen, während es für diejenigen, die gerade erst kürzlich die wissenschaftliche Tätigkeit begannen, gegenwärtig vorwiegend intuitiv gelöst wird. Es ist klar, daß auf diese Weise eine verläßliche Auswahl nicht gewährleistet werden kann. Es muß ein bestimmtes System für die Auswahl und Erziehung der für die Wissenschaft vorgesehenen Kader erarbeitet werden." Doch ist die Situation noch viel ernster: Von den gemessen an dem Wachstum der Kader und den Ausgaben wohl immer geringer werdenden schöpferi56 V. A. Ambarcumjan, Sovremennoe estestvoznanie i filisofija. In: „Uspechi fiziceskich nauk", September 1968, S. 4. 57 S. R. Mikulinskij, Einige Probleme der Organisation der wissenschaftlichen Tätigkeit und ihre Erforschung. „Wissenschaft", a. a. 0 . S. 18 f.
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sehen Leistungen ist ein immer größerer Teil entweder Militärzwecken gewidmet oder überflüssig. Von dem Ausmaß der wissenschaftlichen Leistungen für die Rüstung war schon die Rede. Hier soll kurz von der Überflüssigkeit so vieler schöpferischer Leistungen gesprochen werden. Uberflüssig, da schon andere die gleiche schöpferische Leistung vollbracht haben. Es handelt sich um die sogenannte Doppelarbeit (die scharf zu unterscheiden ist von der durchaus nicht verfehlten gleichzeitigen Bearbeitung eines Problems an mehreren Stellen). Der schon zitierte Sowjetwissenschaftswissenschaftler Dobrow bemerkt dazu in seinem Buch Wissenschaftswissenschaft: „Hier einige Daten zu dieser Situation. In den USA und in England ist errechnet worden, daß 10—20% aller wissenschaftlichen Forschungs-, Projektierungs- und Konstruktionsarbeiten nicht hätten durchgeführt zu werden brauchen, wenn man Informationen über bereits abgeschlossene analoge Arbeiten besessen hätte. Kostenmäßig ausgedrückt betrugen die durch solche Doppelarbeiten entstandenen Verluste im Jahre 1960 1,25 Milliarden Dollar in den USA und 12 Millionen Pfund Sterling in England. 58 In der UdSSR wurden in den letzten Jahren von jeweils 1000 angemeldeten Erfindungen 240—280 als wirklich neu (in der internationalen Praxis noch unbekannt) anerkannt. 5 9 Unseren Berechnungen zufolge ist der Anteil der ,Zweiterfindungen' auf dem Gebiet des Kohlenkombinebaus (Klasse 5v) von 40% im Jahre 1946 auf 85% im Jahre 1961 gestiegen. Diese Tatsachen zeugen sowohl von den Ausmaßen unrationell angewendeter schöpferischer Anstrengungen und materieller Mittel als auch von der Vielzahl praktisch interessanter Mitteilungen, die in den wissenschaftlich-technischen Informationsquellen der Vergangenheit verstreut sind. Fakten dieser Art erscheinen immer häufiger. Dabei wiederholen sich sowohl Entdeckungen jüngeren Datums (so wurde zum Beispiel in den USA im Jahre 1961 der bereits früher von sowjetischen Gelehrten entdeckte und beschriebene dritte Strahlungsgürtel ein zweites Mal ,entdeckt') als auch Entdeckungen, die bereits längere Zeit zurückliegen (so wurden zum Beispiel in sowjetischen Ar58
Die wissenschaftlich-technische Information (Sammelband). Teil 1, Kiew 1964 (russ.), S. 17. 59 O. A. Michajlov, Informationsquellen und Patentliteratur. In: Techniceskie biblioteki SSSR, 1963, Heft 9 (russ.), S. 34. M. P. Kuznecova, E. G. Kirienko, Die allgemeine Arbeit in der wissenschaftlichtechnischen Information. In: Wissenschaftlich-technische Information (Sammelband). Teil II, Kiew 1964 (russ.), S.16. 4"
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chiven in den letzten Jahren mehr als 40000 Dokumente zutage gefördert, die Auskunft über vergessene Entdeckungen von Lagerstätten wertvoller Bodenschätze geben). 60 Diese allgemein bekannten Fakten gestatten es, die oben begonnene Analyse umfassender fortzusetzen und zu behaupten, daß wir im Entwicklungsprozeß des wissenschaftlich-technischen Fortschritts immer tiefer in die Geheimnisse der Natur eindringen, immer neue Möglichkeiten für die Entwicklung von Wissenschaft und Technik erkennen und daß wir gleichzeitig einen ständig abnehmenden Teil von dem wissen, was bereits kein Geheimnis mehr ist, d. h. was bereits entdeckt und untersucht worden ist."61 Robert Rompe bemerkt zu diesen Ausführungen von Dobrow: „Das ist noch nicht alles: Die große Zahl der Forscher und die Leistungsfähigkeit der Methoden liefert eine sich ständig vermehrende Fülle von neuen Faktoren, die häufig schwer an den gesicherten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis angeschlossen werden kann. Wir können nicht immer entscheiden, ob hinter ihnen bekannte Gesetzmäßigkeiten stehen oder etwas fundamental Neues." Und noch schärfer — nicht stärker diese Krise charakterisierend, aber ihre Lösung dringlicher verlangend — formuliert Dobrow in einem anderen Werk: „Die unvollständige Ausnutzung der in der Welt vorhandenen Informationen führt zu Parallelarbeiten auf dem Gebiet der Forschung und Entwicklung. Der Anteil der Doppel- und Mehrfach-Lösungen erreicht auf verschiedenen Gebieten der Wissenschaft und Technik 60 und sogar 80 Prozent. Auch in der UdSSR sind die Verluste, die durch das nicht optimale Funktionieren des Organisationssystems der Wissenschaft entstehen, leider überaus bedeutend. Die vorhandenen ungenutzten Möglichkeiten übertreffen erheblich den erzielten Effekt und liegen sicher um ein Mehrfaches über dem Gesamtbudget der sowjetischen Wissenschaft. Das disproportionale Wachstum der quantitativen Seite der Wissenschaftsorganisation ist auf die Dauer unerträglich. Es erfordert unbedingt den Eingriff der Wissenschaftler in die Forschungsorganisation." 62 Dabei können wir natürlich nur einen Bruchteil der Doppelforschung übersehen. Der größte Teil der Doppelforschung findet heute auf militärischem und paramilitärischem Gebiet statt. In einem Aufsatz von N. I. Rodnyj „Zum Problem der wissenschaftlichen Entdeckungen" findet sich folgende Fußnote: „Akademiemitglied L. A. Arcimovic berichtete kürzlich folgende interessante 60 A. Gorbovskij, Alte Rätsel der Geschichte und neue Hypothesen. In: Nauka i Zizn, 1963, Heft 6 (russ.), S. 102. 61 G. M. Dobrow, a. a. O., S. 34 f. 62 G. M. Dobrow, Wissenschaftsorganisation und Effektivität, a. a. O., S. 8 f.
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Tatsache: Als nach vielen Jahren ein Teil der vorher geheimgehaltenen Arbeiten zur Kernphysik freigegeben wurde, erwies es sich, daß man nicht nur in den Laboratorien der verschiedenen Länder in gleicher oder jedenfalls sehr ähnlicher Weise vorgegangen war, sondern daß sogar die Terminologie weitgehend übereinstimmte." 6 3 — Uberall in der Welt müssen wir heute von einer Krise der expansiven Wissenschaftspolitik sprechen. So wie bisher geht es nicht weiter mit der Zunahme der Wissenschaftler und ihrer Hilfskräfte, mit dem Wachstum der Ausgaben f ü r die Wissenschaften, mit der sie begleitenden Tendenz zur Senkung der Qualität und Zunahme der Doppelforschung. Und es ist nicht verwunderlich, daß gerade die fortschrittlichsten Wissenschaftler, die Wissenschaftler der Sowjetunion, erkennen, daß wir an das Ende eines Weges gelangt sind, daß es so wie bisher nicht weitergeht. Wir haben schon einige von ihnen zitiert. Abschließend sei nur noch einem das Wort gegeben über den bisherigen Weg und sein Ende. J . S. Melestschenko schreibt: „Bisher hat sich die Wissenschaft vorwiegend mit Hilfe extensiver Mittel entwickelt. Ein Beweis ist das schnelle Ansteigen des wissenschaftlichen Personals und anderer Kategorien von Mitarbeitern. Das ermöglichte bis zu einem gewissen Zeitpunkt, wenn nicht völlig, so doch partiell, neue Probleme und Aufgaben zu lösen, die vor der Wissenschaft standen. Jetzt ist ein solcher Weg unannehmbar. Und das liegt nicht nur daran, daß es absurd ist, daß eines Tages alle in der Wissenschaft arbeiten, sondern weil ein solcher Weg überhaupt nicht zur Lösung des Problems führt." Anschließend weist er auf die Beziehungen von Quantität und Qualität in der Wissenschaft hin, in der der Umschlag von Quantität in Qualität keineswegs einfach ist: „Die Zahl der Wissenschaftler und ihrer Mitarbeiter zu erhöhen, das ergibt keinen proportionalen Zuwachs an wissenschaftlichen Erkenntnissen, das läßt sich beweisen. Natürlich gewährleistet eine Arbeitsteilung und eine Arbeitskooperation wie in jeder anderen Produktion ein Ansteigen der Produktivität, doch man darf hier die Spezifik der wissenschaftlichen Produktion, den schöpferischen Charakter wissenschaftlicher Tätigkeit nicht außer acht lassen. Wenn in der materiellen Produktion durch Aufteilung, Vereinfachung und Spezialisierung der Arbeitsoperationen und ihre Kooperation — zum Beispiel unter den Bedingungen der Manufaktur — ein wesentliches Ansteigen der Arbeitsproduktivität erreicht wurde, so ist das in der wissenschaftlichen Produktion bei weitem nicht immer möglich. Man kann nicht einen begabten Forscher, der neue Ideen produziert, durch ein Dutzend weniger be63
Abgedruckt in: Wissenschaftliches Schöpfertum. Berlin 1972, S. 190.
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gabte Mitarbeiter ersetzen, selbst wenn an ihrer Spitze ein fähiger Organisator stünde." 64 Jedoch muß man zu all diesen Ausführungen betreffend die „Verdünnung" des wissenschaftlichen Potentials eine einschränkende Bemerkung machen. Die Situation ist wahrlich nicht gut, aber sie ist nicht ganz so schlimm, wie sie etwa der Vergleich von Rodnyj für die Chemiker vor 100 Jahren andeutet. Denn einmal spielt die Problematik der Überführung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis heute eine weit größere Rolle als vor 100 Jahren, und zweitens ist die Uberführung in die Praxis heute zumeist weit komplizierter als damals. Die Uberführung in die Praxis aber ist in der Hauptsache eine Aufgabe der Technologen im weitesten Sinne des Wortes, das heißt nicht in dem Sinne, wie das Wort Technologie seit 200 Jahren in Deutschland und auch bei uns in der Fachsprache gebraucht wurde — „Anwendung naturwissenschaftlicher, insbes. physikalischer unt chemischer Erkenntnisse zur Entwicklung von Verfahren der Gewinnung von Rohstoffen und deren Weiterverarbeitung zu Produktionsmitteln und Verbrauchsgütern", heißt es in Meyers Neues Lexikon —, sondern in dem Sinne, wie es Marx angewandt hat, die Konstrukteure mit einschließend. Die Technologen, deren gesellschaftliche Bedeutung noch ungenügend anerkannt ist, müssen gut ausgebildete Wissenschaftler sein: darum rechnet sie Dobrow oder Rodnyj selbstverständlich zu den wissenschaftlich Ausgebildeten. Ihre Aufgabe aber ist nicht, neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu bringen, als Wissenschaftler schöpferisch tätig zu sein. Ihre Aufgabe ist vielmehr, wissenschaftliche Erkenntnisse in die Praxis zu überführen. Darum sollte man, wenn man die schöpferischen Leistungen einer Wissenschaft heute und vor 100 Jahren vergleicht, diejenigen wissenschaftlich Ausgebildeten, deren schöpferische Aufgabe in der Technologie liegt, ausschalten. Das Bild ist auch dann noch ungünstig genug. *
„Wir brauchen heute neues Wissen genau so dringend wie ein Loch im Kopf." Robert Oppenheimer
Doch müssen wir hier noch ein anderes Problem der Expansion behandeln, das ganz anderen Charakter trägt, dessen Lösung jedoch nicht minder dringlich ist. 64
J. S. Melestschenko, Mehr Wissenschaftler gleich mehr Forschungsergebnisse? „Spektrum", 2. Jg., Heft 6, Berlin 1971, S. 28.
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E i n Teil der Schwierigkeiten der Entwicklung der Wissenschaften heute resultiert aus einer Informationskrise. „Es besteht kein Zweifel, d a ß sich die Wissenschaft in einer ,Informationskrise' befindet, mit deren U b e r w i n d u n g nach prognostischen Untersuchungen erst in den siebziger bis achtziger J a h r e n zu rechnen ist", b e m e r k t R o d n y j . 6 5 Natürlich meinen wir damit nicht die Groteske des Lebens einer „Elite" von Physikern, die Gentner so schildert: „Von einem K o n g r e ß in Kalifornien fliegen die Physiker mit Düsenmaschinen z u m nächsten in M o s k a u oder Tokio u n d zurück nach E u r o p a u n d Australien. W a r u m diese H a s t u n d hektische Unruhe, die doch als der Feind jeder wissenschaftlichen Arbeit angeprangert w i r d ? N u n , jeder Physiker möchte aus d e m M u n d e des Kollegen hören, wie er diese oder jene neue Fragestellung ansieht. Die Entwicklung des Experimentiergerätes geht so schnell vor sich, d a ß m a n k a u m dazu k o m m t , es ordentlich zu beschreiben, u n d noch weniger, es d a n n auch noch zu lesen. So f ä h r t m a n eher hin, u m es mit eigenen Augen zu sehen. Preprints sind die N a h r u n g f ü r die Forschenden geworden, d e n n bis die Arbeit gedruckt ist, interessiert sie schon fast nicht m e h r . " 6 6 Obgleich auch das ein Element der Informationskrise ist. D e n n sie f ü h r t dazu, d a ß die Wissenschaft eine T e n d e n z entwickelt — u n d m a n erkennt n u n sofort, wie berechtigt die Charakterisierung des Lebens dieser „Physikerelite" als Groteske ist —, zu einer „privaten Angelegenheit" zu werden, da n u r noch ein kleiner Teil der Wissenschaftler in der Lage ist, sich schnell u n d k o m p e t e n t zu informieren. Weinberg b e m e r k t d a z u : „Die primäre Verteilung technischer Literatur erfolgte in den letzten h u n d e r t J a h r e n weitgehend mit Hilfe der technischen Zeitschriften. Verschiedene Entwicklungen scheinen den Status der Zeitschrift seit einiger Zeit jedoch zu verändern. Einerseits ist die Zeitschrift so umfangreich geworden u n d ihre Zahl ist derartig angewachsen, d a ß viele gar nicht m e h r gelesen werden. Andrerseits h a b e n private u n d halbprivate M e t h o d e n der Verteilung sich entwickelt, wie z u m Beispiel das System der inoffiziellen technischen Regierungsberichte u n d das System der Vorveröffentlichungen innerhalb der Grundlagenwissenschaften. Die Bedenken der Regierung hinsichtlich der Informationskrise entstanden weitgehend durch das z u n e h m e n d e Bewußtsein, daß ein großer Teil der I n f o r m a tionen, die in der Flut v o n Regierungsberichten enthalten waren, verlorenging. W a s die Vorveröflentlichungen anbelangt, so besteht die ernste Gefahr, d a ß die Wissenschaft in den privaten Charakter, den sie i m 17. J a h r h u n d e r t hatte, zu65
1V. I. Rodnyj, a. a. 0., S. 150., Vgl. W. Gentner, „Individuelle und kollektive Erkenntnissuche in der modernen Naturwissenschaft", Freiburger Dies Universitatis, Bd. 9, 1961/62, Individuum und Kollektiv, Freiburg 1961, S. 63. 66
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rückverfällt. Einige der mir bekannten Biologen sind der Meinung, daß dies für die Molekularbiologie bereits zutrifft, wo solche Vorveröffentlichungen oft nur noch unter Freunden ausgetauscht werden." 6 7 Fast wörtlich mit Weinberg übereinstimmend, sagte mir einer unserer Physiker: „Weißt Du, ich lese in der Hauptsache nur noch Sonderdrucke, die man mir aus aller Welt schickt." Man versteht jetzt besser, warum wir die Behandlung der Informationskrise so begonnen haben. Bisweilen führen uns groteske Auswüchse und merkwürdigste Widersprüche, wie die Tendenz zur „Privatisierung" der Wissenschaftsinformation in einer Periode der krisenhaften Quantifizierung der veröffentlichten Information, schockartig und so aufmerksamer in eine Krisenproblematik ein. Den ganzen Ernst der Informationskrise, in der wir uns befinden, hat Dobrow in seiner „Wissenschaftswissenschaft" mit diesen Worten angedeutet: „ Der allgemeine ,Ausnutzungs-Koeffizient' des Reichtums an Informationen, den die Menschheit im Laufe der Geschichte angesammelt hat, weist jedoch eine stark fallende Tendenz auf. Diese Tatsache ist zweifellos besorgniserregend."63 Das enorme Wachstum an Fakten und neuen Erkenntnissen hat zu einer ungeheuerlichen Vermehrung der wissenschaftlichen Publikationen geführt. Derek J. de Solla Price hat wohl als erster in seinen Lektionen an der Sterling Memorial Library der Yale Universität im Herbst 1959 dieses Wachstum systematischer untersucht. 69 Genau wie bei der Zahl der Wissenschaftler beobachtet er nach einem etwas langsameren Anstieg eine fast regelmäßige Verdoppelung ihrer Zahl in bestimmtem Zeitabstand seit etwa 1750. Bei Weiterführung der Kurve rechnet de Solla Price für das Jahr 2000 mit rund 1 Million naturwissenschaftlicher Zeitschriften. Als die Zahl der „Fachblätter" um 1830 etwa 300 betrug, entstand eine Informationskrise, die durch die Einführung von „Abstracta"-Zeitschriften überwunden wurde. Gegenwärtig hat jedoch auch die Zahl der „Abstracta"Zeitschriften die kritische Zahl von 300 erreicht bzw. schon überschritten, und die Naturwissenschaftler befinden sich in einer neuen Informationskrise. Es ist zwar richtig, daß, genau wie die durchschnittliche Qualität der Wissenschaftler (natürlich nicht die absolute Zahl hervorragender Wissenschaftler!) mit dem riesigen Wachstum ihrer Zahl zurückgeht, so auch die Qualität der Veröffentlichungen im Durchschnitt mit ihrer enormen Vermehrung geringer wird. 67 68 69
A. M. Weinberg, Probleme der Großforschung, Frankfurt a. M. 1970, S. 135 f. G. M. Dobrow, a. a. O., S. 32. Veröffentlicht unter dem Titel Science since Babylon. New Häven 1961.
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Dobrow spricht von einer „Verdünnung des Inhalts der wissenschaftlichen Informationen" und begründet sie anhand eines Diagramms über die relativen Wachstumsgeschwindigkeiten dreier für die Entwicklung der Wissenschaft wichtiger Faktoren so: Das Diagramm „enthält die Durchschnittswerte für das in den letzten fünfzig Jahren zu beobachtende Wachstumstempo der Gesamtmenge an grundlegenden Ergebnissen der Wissenschaft K (Tendenz zur Verdoppelung im Zeitraum von 45 Jahren), des Umfangs der wissenschaftlichen Informationen über die ausgeführten Forschungsarbeiten S (Tendenz zur Verdoppelung im Zeitraum von I2V2 Jahren) und der Gesamtzahl der wissenschaftlichen Kader N (Tendenz zur Verdoppelung im Zeitraum von 10 Jahren) 70 . Dieses Diagramm ermöglicht einige interessante Feststellungen: — die jährliche Zunahme (ausgedrückt in Prozentzahlen) der untersuchten Größen ist sehr verschieden: AK = 1,55%; AS = 5,7%; AN = 7,2%; — die Tatsache, daß das Wachstumstempo der Informationsmenge über die wissenschaftlichen Arbeiten S das Wachstumstempo der Summe grundlegender Ergebnisse der Wissenschaft K um mehr als das 3,6fache übersteigt, deutet auf eine Tendenz zur ,Verdünnung' des Inhalts der wissenschaftlichen Informationen hin und spiegelt die objektive Tatsache wider, daß sich die Situation auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Information verschlechtert und kompliziert ; — in gewissem Maße ist diese Tatsache auch mit dem Umstand verbunden, daß AN > AS ist; — besondere Aufmerksamkeit verdient der spezifische Parameter ^ ^ . Er charakterisiert die relative Zunahme neuer wissenschaftlicher Ergebnisse im Vergleich zur relativen Zunahme der Anzahl der Wissenschaftler und besitzt, wie uns scheint, eine absteigende Tendenz. 71"72 De Solla Price kommt zu ähnlichen Ergebnissen: „In Errungenschaften ausgedrückt scheint sich die Statur der Wissenschaften in etwa einer Generation 70
Bei den angeführten Werten für die Verdoppelungstempi handelt es sich um Näherungswerte der Daten, die in den Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Wissenschaftswissenschaft am weitesten verbreitet sind. Durch diese Tatsache, aber auch durch die bedeutenden Schwankungen, die im Tempo der Veränderung der dargestellten Größen auftreten, ist das Diagramm nur bedingt gültig, spiegelt es nur das Verhältnis der Wachstumstendenzen der drei Kennziffern wider. 71 Speziell zu analysieren wäre der Einfluß, den die nicht der Öffentlichkeit zugänglichen wissenschaftlichen Ergebnisse auf diese Einschätzung ausüben. 72 G. M. Dobrow, Wissenschaftswissenschaft, a. a. 0., S. 96 f.
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(rund 30 Jahre) zu verdoppeln, im Vergleich zu den 10 Jahren, in denen sich die Zahl der Artikel und Wissenschaftler verdoppelt." Und in einer Fußnote zu dieser Feststellung sagt er: „Es könnte scheinen, daß die Kosten der Wissenschaft im Quadrat zur Zahl der arbeitenden Wissenschaftler steigen, und daß die Zahl der Wissenschaftler im Quadrat oder als Kubikzahl ihrer Effektivität in der Erhöhung der Statur der Wissenschaft zunimmt." 73 Doch darf die „Verdünnung" der wissenschaftlichen Informationen, das Nachlassen ihrer Qualität, nicht dazu führen, daß man sich deswegen weniger um sie kümmert. Einmal wegen der Gefahr der Doppelforschung, auf deren ungeheures Ausmaß wir schon hingewiesen haben. Sodann aber auch, weil sich in älteren Veröffentlichungen noch zahlreiche ungehobene Schätze an Tatsachen und vor allem auch Ideen und Gedanken finden. Vielleicht ist es kein so großes Unglück, wenn Dedijer feststellen mußte, daß in den auf dem Gebiet der Physik neuestens veröffentlichten Arbeiten die zitierten Quellen alt sind: 10 Jahre oder weniger 75 Prozent, 10 bis 15 Jahre 20 Prozent, mehr als 15 Jahre 5 Prozent. 74 Zumal der Veraltungsprozeß des Wissens zum Teil ein recht schneller zu sein scheint. „Unsere Aufmerksamkeit muß stets auf die Tatsache gerichtet sein, daß heutzutage das Wissen der Spezialisten, wenn es nicht ständig weiterentwickelt und ergänzt wird, mit sehr großer Schnelligkeit — 10% jährlich — entwertet wird. Berechnungen ergaben ferner 75 , daß ein Spezialist, der bestrebt ist, die Anforderungen zu erfüllen, die der wissenschaftlich-technische Fortschritt ständig an ihn stellt, systematisch nicht weniger als 25% seiner Zeit darauf verwenden muß, sich mit der wissenschaftlich-technischen Information vertraut zu machen." 76 Für die Gesellschaftswissenschaften aber steht die Problematik ganz anders. Ein Gesellschaftswissenschaftler, der die Vergangenheit seiner Wissenschaft nicht im Original kennt, ist nicht nur ungebildet, er ist auch ziemlich verloren, wird nicht nur vieles „schöpfen", was längst geschöpft ist, also Doppelarbeit machen, sondern auch an unglaublich vielen Problemen einfach vorbeigehen. Man braucht nur einen Naturwissenschaftler, der weder Newton, noch Darwin, noch Einstein im Original gelesen hat, mit einem Gesellschaftswissenschaftler, der weder Marx, noch Engels, noch Lenin studiert hat, zu vergleichen, um den ganzen Unterschied in der Position des Naturwissenschaftlers und des Gesell73
D. J. de Solla Price, a. a. O., S. 119. S. Dedijer, International comparisons of science. In: „New Scientist", Nr. 379, London 1964, S. 461 f. 75 Oil Engineering, 1963, Heft 4. 76 G. M. Dobrow, Wissenschaftswissenschaft, a. a. O., S. 168 f. 74
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schaftswissenschaftlers hinsichtlich der Lektüre der Vergangenheit zu verstehen. Das gilt in vieler Beziehung auch für die Tatsachen der Vergangenheit! Wie wenige chemische Verbindungen, die in der Vergangenheit gelangen, findet der Chemiker nicht wieder in den meisten modernen Handbüchern — doch wie viele Lohndaten für Italien oder Spanien aus dem 19. Jahrhundert muß der Wirtschaftshistoriker oder der Erforscher der Arbeiterbewegung aus den Originalquellen entnehmen, da sie nicht wieder veröffentlicht worden sind. Die Ertragsfähigkeit von „Nature" im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts ist weit, weit geringer für den Naturwissenschaftler heute als die des Journal of the Royal Statistical Society für den Gesellschaftswissenschaftler der Gegenwart. 77 Wir hatten zu Beginn unserer Ausführungen den sowjetischen Wissenschaftswissenschaftler Rodnyj dahingehend zitiert, daß die Informationskrise vielleicht erst in den achtziger Jahren gelöst werden kann. In welcher Richtung aber müssen wir uns bewegen, um der enormen Schwierigkeiten, die sich heute für den Wissenschaftler in der Bewältigung der Informationsflut auftürmen, Herr zu werden? Der sowjetische Wissenschaftler Lejman macht einige Andeutungen: „Immer mehr Zeit, spezieller Aufwand und Mittel sind erforderlich, um sich in einem solchen Strom von Informationen zu orientieren, um sich die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung zu eigen zu machen und Wiederholungsforschungen zu vermeiden. Die Wissenschaftsleitung in unserem Lande stellt sich auf diese Probleme ein. Es sind Koordinierungszentren bezüglich einzelner wissenschaftlicher Probleme geschaffen worden, das VINITI und ein Netz von Referate-Zeitschriften sind organisiert worden, und es wird ein das ganze Land umspannender wissenschaftlicher Informationsdienst aufgebaut. Derartige Maßnahmen können den Wissenschaftler selbst jedoch noch nicht entlasten und ihm mehr Zeit verschaffen. Eine Analyse des Zeitbudgets wissenschaftlicher Mitarbeiter zeigt, daß mindestens ein Drittel der Arbeitszeit für die Suche und Bearbeitung gedruckter In77
Wenn Robert Rompe dazu bemerkt: „Die Bedeutung der Originalwerke in der Physik ist nicht minder groß als in den Gesellschaftswissenschaften. Das Buch von Weyl ,Raum, Zeit, Materie', von Dirac ,Quantum Mechanica', von J. v. Neumann M a thematische Grundlagen der Quantenmechanik' werden immer ihre Bedeutung behalten, weil sie eine abschließende Darstellung einer Entwicklungsetappe geben und die Fülle der Gedanken durchaus nicht ausgeschöpft ist", so ist dazu zu sagen, daß diese Werke sicher ihre Bedeutung behalten werden — aber in absehbarer Zeit doch nur für den Historiker der Physik, wie Newtons „Principia Mathematica". Bedeutung in diesem Sinne scheint mir etwas anderes als unerläßliche Lektüre so mancher Werke von Aristoteles oder Hegel für den Philosophen, der als MarxistLeninist wirken will — gar nicht zu reden von den Werken von Marx, Engels, Lenin.
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formation aufgewendet wird. Eine von uns durchgeführte Untersuchung des Zeitbudgets der Wissenschaftler in einer Reihe von Leningrader Einrichtungen der Akademie der Wissenschaften der UdSSR (Pavlov-Institut für Physiologie, Institut für hochmolekulare Verbindungen, Physikalisch-technisches Institut ,A. F. Ioffe', Astronomisches Hauptobservatorium Pulkovo u. a.) in den Jahren 1964—1967 hat ergeben, daß für die Informationssuche, das Lesen wissenschaftlicher Literatur und die Übersetzung ausländischer Originalarbeiten die höheren wissenschaftlichen Mitarbeiter 26% der Arbeitszeit aufwenden. Viele Laboratorien in unserem Lande haben umfangreiche Erfahrungen bei der Organisation kollektiver Arbeit in diesem Bereich gesammelt. Leider werden diese Erfahrungen wenig genutzt, und selbst wenn sie verbreitet werden, so geschieht dies spontan und unorganisiert. In den letzten Jahren gab es kaum Publikationen zu diesem Thema, es gab keine Konferenzen zu diesen Fragen, es gab nicht einmal elementarste Instruktionen über den Aufbau spezialisierter thematischer Karteien in den Laboratorien." 78 Hier wird eine rein technische Lösung geboten, die nicht ausreichen kann, insbesondere wenn wir, wie im folgenden Abschnitt, an einige Auswirkungen der Informationskrise denken.
„Die Wissenschaften zerstören sich auf doppelte Weise selbst: durch die Breite, in die sie gehen, und durch die Tiefe, in die sie sich versenken." Goethe (Paralipomina I, Lesarten. Sophienausgabe, II. Abtlg., Bd. XI, S. 370)
Die überwältigende Menge an Information, die auf den Wissenschaftler hereinstürzt, hat zu einer ganz scharfen und engen Spezialisierung geführt — und das zu einer Zeit, in der der wissenschaftliche Fortschritt die Integration stärker denn je verlangt. Hier haben wir einen Widerspruch, der sowohl antagonistisch wie auch ganz undialektisch ist. Denn die forcierte Spezialisierung wird durch die Unfähigkeit, die Information zu bewältigen, verursacht — eine Unfähigkeit, die überwunden werden muß und kann. Die zunehmende Integration der Wissenschaften durch Kooperation, aber auch in der Gestalt des einzelnen Wissenschaftlers ist dagegen ein konstitutives Problem der organischen Wissenschaftsentwicklung. Die übermäßige (!) Spezialisierung, wie 78
I. I. Lejman, Kollektiv und wissenschaftliches Schöpfertum. In: „Wissenschaftliches Schöpfertum", a. a. O., S. 247.
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sie heute stattfindet, nämlich in der Form der Entfremdung des Wissenschaftlers seinem breiteren Wissenschaftsgebiet gegenüber, ist ungesund. Das Bedürfnis nach stärkerer Integration ist sehr geund. Schon 1 9 4 5 schrieb Vannevar B u s h : „Immer mehr wächst der Umfang der Forschung. Aber die Beweise häufen sich dafür, daß wir immer weniger vorwärtskommen, j e mehr die Spezialisierung zunimmt. Der Forscher ist verblüfft und beunruhigt angesichts der Funde und Schlüsse tausender anderer — viele von ihnen kann er, wenn sie veröffentlicht werden, sich aus Zeitgründen nicht aneignen und erst recht nicht im Gedächtnis behalten. Doch wird Spezialisierung immer notwendiger für den Fortschritt, und die Bemühungen, die einzelnen Disziplinen zu verbinden, sind entsprechend oberflächlich." 7 9 Hier wird das Hauptgewicht auf die Spezialisierung (natürlich mit Recht) als notwendig für den Fortschritt gelegt — noch ist die übermäßige Spezialisierung keine so allgemeine Erscheinung wie heute, mehr als ein Vierteljahrhundert später. Andererseits fehlt, ebenfalls aus der Zeit erklärlich, noch die Dringlichkeit des Hinweises auf die Integration, die nur mit Bedauern als oberflächlich charakterisiert wird. „In keiner Sphäre der menschlichen Tätigkeit wächst die Zahl der Spezialisten so schnell wie in der Wissenschaft", sagt Dobrow. 8 0 Und, möchte man hinzufügen, in keiner Sphäre ist ein Fortschritt in der Integration heute so notwendig wie in der Wissenschaft. Das vor allem durch den überwältigen Informationsfluß hervorgerufene Mißverhältnis zwischen Spezialisierung und Integration beunruhigt zahlreiche Wissenschaftler und führt zu so manchen falschen Lösungen. Dobrow macht uns mit einigen Anschauungen so b e k a n n t : „Im Hinblick auf die Untersuchung dieses außerordentlich wichtigen Problems der Wechselwirkung zwischen den Wissenschaften kann m a n drei verschiedene Tendenzen feststellen. Einige Forscher neigen dazu, die Bedeutung des Diflerenzierungsprozesses der Wissenschaften zu überschätzen. M . M . K a r p o v 8 1 betrachtet diesen Prozeß (natürlich nicht ohne Grund) als einen sehr wichtigen Faktor für die Beschleunigung des Entwicklungstempos der Wissenschaft. D. Price 8 2 zählt die Differenzierung der Wissenschaften und die Spezialisierung der Gelehrten (ebenfalls nicht ohne Grund) zu den wichtigsten Ursachen einer künftigen ,Selbsterstickung' der Wissenschaften. T . K u h n , der auf prinzipiell 79 V. Bush, As we may think; wiederabgedruckt in: Endless Horizons, Washington D. C. 1946, S. 17. 80 G. M. Dobrow, Wissenschaftsorganisation und Effektivität, a. a. 0., S. 2. 81 M. M. Karpov, Die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung der Naturwissenschaft, Rostow a. D. 1963 (russ.), S. 193. 82 D. J. de Solla Price, Science since Babylon, a. a. O., S. 118.
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anderen methodologischen Positionen als die eben genannten Autoren steht, zieht einen ganz falschen Analogieschluß, indem er die Darwinsche Entwicklung der Arten mit dem Entwicklungsprozeß wissenschaftlicher Ideen vergleicht. Seiner Meinung nach .unterscheiden sich die aufeinanderfolgenden Stufen dieses Prozesses durch eine immer größere Spezialisierung voneinander. Und wie die biologische Evolution vollzieht sich der gesamte Prozeß ohne ein bestimmtes Ziel. Er strebt nicht nach wissenschaftlicher W a h r h e i t . . ,' 83 Die zweite Tendenz (zum Beispiel von I. Malecki und E. Ols/.weski84 vertreten) neigt zur Verabsolutierung des Integrationsprozesses der Wissenschaften. Die Spezifik und der Mechanismus des Differenzierungsprozesses werden dabei fast völlig außer acht gelassen. Die dritte und größte Gruppe von Autoren (zu ihr gehört auch L. Tondl 85 ) schenkt der Differenzierung und Integration zwar die gebührende Aufmerksamkeit, betrachtet diese Prozesse jedoch als mehr oder weniger selbständige Erscheinungen in der Wissenschaftsgeschichte." 86 Dobrow spricht hier von der Differenzierung der Wissenschaften und der Spezialisierung der Gelehrten, zwei Prozesse, die eng zusammenhängen, und die wir hier nicht auseinanderzureißen brauchen. Dobrows eigene Ansicht, die er anschließend mitteilt, lautet: „Unserer Meinung nach rechtfertigt eine unvoreingenommene realistische Analyse der Wissenschaftsentwicklung, sich entschieden gegen eine Verabsolutierung der Differenzierungserscheinungen zu wenden und sich dafür einzusetzen, daß Differenzierung und Integration als Bestandteile eines einheitlichen dialektischen Entwicklungsprozesses der Wissenschaft betrachtet werden, in dem die Integration eine führende Rolle spielt." Dobrow hat meiner Ansicht nach völlig recht — nur muß man unterscheiden zwischen dem dialektischen Widerspruch und zugleich der dialektischen Einheit von Differenzierung und Spezialisierung auf der einen, Integration auf der anderen Seite — und der übermäßigen Spezialisierung, hervorgerufen durch die Nichtbewältigung des Informationsflusses, die zur Entfremdung und zur Nichtbewältigung auch der Integration führt, wie wir heute feststellen müssen. Dabei haben wir noch nicht beachtet, daß der Informationsfluß an sich noch relativ gering ist, im Vergleich zu den Informationen, die an sich gesammelt werden. 83
Th. Kuhn, The strueture of scientific revolutions. Bd. II, Chicago 1962, S. 94. I. Malecki, E. Olszweski, Some regularities of the development of science in the twentieth Century. In: Organon, Warschau 1965, Heft 2. 80 L. Tondl, Uber die Entwicklung und die charakteristischen Züge der modernen Wissenschaft. In: Gesellschaft und technische Revolution. Prag 1965, Heft 11, S. 80 bis 96 (tschech.). 86 G. M. Dobrow, Wissenschaftswissenschaft, a. a. 0 . , S. 68. 84
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Versuchen wir, uns zunächst noch einmal den Umfang der Informationen, die auf den Forscher einstürzen, zu vergegenwärtigen. Dobrow schildert so (und wenn seine Daten weiter zurückliegen, so ist es heute nur noch schlimmer) : „Nach Angaben der Zeitschrift American Documentation (1963) erscheinen in der Welt annähernd 100 Millionen Titel verschiedener Publikationen, darunter 30 Millionen Bücher und 13 Millionen Patentschriften und Urheberscheine 87 . In 100 000 Periodika verschiedener Art werden etwa 4 Millionen Aufsätze veröffentlicht. Davon entfallen allein auf die 30 000 wichtigsten wissenschaftlich-technischen Zeitschriften 2—2,5 Millionen Aufsätze. Täglich werden im Durchschnitt ungefähr 100 Druckbogen Text für einen auf einem engen wissenschaftlichen oder technischen Spezialgebiet arbeitenden Fachmann herausgegeben. Eine ,Flut von Informationen', ein ,Himalaja an Büchern', totgeborene Schätze' — das sind nur einige der Epitheta der derzeitigen Einschätzung des allgemeinen Überflusses an Informationen und des gleichzeitigen Mangels an solchen Informationen, die für die Schöpfer des wissenschaftlichtechnischen Fortschritts von praktischer Bedeutung sind. Bereits im J a h r e 1958 ist errechnet worden 88 , daß der Forscher ein Drittel seiner Arbeitszeit darauf verwenden muß, sich mit den vorhandenen Informationen vertraut zu machen, die er für eine neue Arbeit benötigt. Seitdem hat sich die Situation noch verschlechtert. Die Forscher ziehen es deshalb immer häufiger vor, die wissenschaftlichen Fakten, Methoden usw. auf kostspieligem Wege neu zu ,entdecken', statt sich mit der langwierigen Suche nach entsprechenden Veröffentlichungen in der Weltliteratur abzugeben." 8 9 Und das in einer Zeit, in der ein Großteil der Forschungsresultate nicht bekanntgemacht werden — im Kapitalismus aus folgendem Grund: „An Hand konkreten Zahlenmaterials konnte John D. Bernal beweisen, daß in den USA und England ungefähr 2/3 aller Mitteilungen über neue Forschungsergebnisse und Entdeckungen unveröffentlicht bleiben, daß sie in den Archiven der Firmen verschwinden und sorgfältig vor den Konkurrenten geheimgehalten werden, die häufig die gleichen Entdeckungen machen und sie ebenfalls geheimhalten. 9 0 " 9 1 87
Urheberscheine
sind
eine
spezifische E r s c h e i n u n g s f o r m
im
Patentwesen
der
Sowjetunion (Anmerkung des Herausgebers). 88
M. JV. Haibert,
R. U. Ackoff,
P r e p r i n t s of p a p e r s f o r i n t e r n a t i o n a l conference of
scientific i n f o r m a t i o n . W a s h i n g t o n D. C., N o v e m b e r 16—21, 1958. 89
G. M. Dobrow,
J . D. Bernal, (russ.), S. 61. 90
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G. M. Dobrow,
W i s s e n s c h a f t s w i s s e n s c h a f t , a. a. O., S. 3 0 f. D i e E r f o l g e der W i s s e n s c h a f t . I n : V o p r o s y filosofii, 1959, H e f t 8 W i s s e n s c h a f t s w i s s e n s c h a f t , a. a. O., S . 41.
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im Sozialismus und Kapitalismus infolge Geheimhaltung aus militärischen Gründen. Berkner schätzt, daß in den USA rund vier Fünftel aller Forschungsergebnisse nicht veröffentlicht werden. 92 Das heißt, der Informationsfluß würde im Weltmaßstab vielleicht dreimal so groß sein, wie er faktisch ist, wenn alle wissenschaftlichen Forschungsresultate bekanntgemacht werden würden. Dazu kommen noch die ungeheuren Tatsachensammlungen in Ministerien, usw., die, zumeist nicht aufbereitet, den Gesellschaftswissenschaftlern entgehen — entgehen, obgleich sie ihnen zweifellos nützlich sein würden. — Natürlich ist die Spezialisierung nicht allein auf den gewaltigen Informationsstrom zurückzuführen. Und wenn E. G. Lejkin feststellt, daß es heute „etwa 2000 Wissenschaftsdisziplinen" gibt, „die größtenteils (wenn nicht gar in ihrer überwältigenden Mehrheit) vor zwei bis drei Generationen nicht existierten" 9 3 , dann ist er das Opfer einer Mode, jedes kleine Arbeitsgebiet in den Rang einer Wissenschaftsdisziplin zu erheben, geworden. Zahlreiche sogenannte Grenzwissenschaften, deren Namen sich aus dem von zwei oder mehr Wissenschaften zusammensetzt, verdanken ihren Namen der Eitelkeit der Wissenschaftler in einer Zeit, in der Breite der wissenschaftlichen Bildung immer seltener wird und Beherrschung von Teilen zweier Wissenschaften den Titel einer Sonderwissenschaft verlangt. Selbstverständlich ist Spezialisierung notwendig, um ein bestimmtes Thema, eine bestimmte Erscheinung, einen bestimmten Prozeß zu erforschen. Aber jeder erfahrene und gebildete Wissenschaftler sollte in der Lage sein, auf Grund allgemeiner Kenntnisse, Spezialarbeiten der verschiedensten Art innerhalb eines großen Wissenschaftszweiges durchzuführen und gerade auch auf Grund mehrerer nicht verwandter Spezialarbeiten tiefer in das Wesen des großen Wissenschaftszweiges einzudringen. Lejkin zitiert in seinem schon genannten Aufsatz Renan, der die Wissenschaft als ein Ensemble bezeichnet hat, dessen einzelne Teile einander kontrollieren. Wieviel mehr gilt das für einen Wissenschaftszweig! Duzenkov hat recht, wenn er schreibt: „Die Wissenschaftsentwicklung ist gegenwärtig durch zwei Tendenzen gekennzeichnet: 1. Die Erweiterung des Wissensumfanges und die steigende Anzahl der Forschungsgegenstände bringen eine zunehmende Teilung der Wis9 2 L . V. Berkner, Secrecy a n d scientific progress, i n : „Science", Vol. 123, J g . 1956, S. 783 ff. 93 E. G. Lejkin, Zur K r i t i k d e r k u m u l a t i v e n K o n z e p t i o n e n der Wissenschaftsentwicklung. I n : „Wissenschaft", a. a. 0 . , S. 179.
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senschaften mit sich; aus Richtungen einzelner Wissensgebiete entstehen neue Disziplinen — das Wissen differenziert sich; 2. Das tiefere Eindringen in das Wesen der Erscheinungen fordert Wissen unterschiedlicher Disziplinen, ihre Vereinigung führt zu neuen Wissenschaften — das Wissen verschiedener Disziplinen wird in ein Gesamtsystem integriert. Dieser dialektische Prozeß der Differenzierung und Integration des Wissens ist ein Gesetz der Wissenschaftsentwicklung, das großen Einfluß auf das Profil des Wissenschaftlers ausübt." Er hat aber unrecht, wenn er fortfährt: „Konnte bis zum 19. Jahrhundert ein Wissenschaftler gleichzeitig ein erfolgreicher Fachmann auf mehreren Wissensgebieten sein, so bringt die Differenzierung der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts eine zunehmende Spezialisierung der Wissenschaftler mit sich. Der einzelne Wissenschaftler kann nicht mehr gleichzeitig Fachmann in mehreren Bereichen der Wissenschaft sein, sondern er sieht sich gezwungen, seine Forschungstätigkeit auf ein einziges begrenztes Arbeitsgebiet zu konzentrieren." Und er schreibt Unsinn, wenn er seine Ausführungen schließt: „Wie bereits Karl Marx feststellte, lassen sich ohne Einschränkung des Tätigkeitsbereichs keine bedeutenden Leistungen mehr vollbringen." Marx als Zeuge für enges Spezialistentum! Marx, der auf so vielen Gebieten der Gellschaftswissenschaften ein „Fachmann" war! Richtig stellt Duzenkov daran anschließend fest: „Die Spezialisierung und die zunehmende Bedeutung der komplexen Forschung, das heißt die Beteiligung von Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachrichtungen an der Lösung eines einzigen Problems muß zwangsläufig zu einer Arbeitsteilung unter den beteiligten Wissenschaftlern führen." 9 4 Wie aber müssen die Wissenschaftler eines solchen Kollektivs aussehen (es sei denn, sie seien aus „technischen" Gründen Mitglieder des Kollektivs, wie etwa Mathematiker, die für Statistiken eine mathematische Formel geben sollen)? Wir werden im folgenden noch darauf zu sprechen kommen. Aber eine Grundvoraussetzung für ein Kollektiv von Spezialisten, die, aus verschiedenen Wissenschaftszweigen kommend, ein Problem gemeinsam bearbeiten sollen, sei sogleich hier genannt: sie müssen alle das zu behandelnde Problem vielseitig, vom Standpunkt aller im Kollektiv vereinten Spezialisten sehen können. Solange das Kollektiv nicht auf Grund seiner wissenschaftlichen Einsicht in die Gesamtproblematik, die es zu erforschen gilt, als Ensemble denken kann, ist es eine Addition von Spezialisten, aber nicht wirklich ein wissenschaftliches, schöpferisches Kollektiv. *
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V. I. Duzenkov, Uber die Klassifizierung der Typen der wissenschaftlichen Forschung und die Beziehungen zwischen ihnen. In: „Wissenschaft", S. 27. 5
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Wir sprachen von einer Krise in der expansiven Entwicklung der Wissenschaft. Diese Krise hat die Wissenschaften überall in der Welt, ganz gleich wie die Produktionsverhältnisse in den einzelnen Ländern, getroffen. Im Gegensatz zu dieser Krisensituation steht eine andere — allen Marxisten wohlbekannt und ständig von ihnen beobachtet —, die allein die kapitalistische Welt, und dort vor allem die Gesellschaftswissenschaftler betrifft. Es handelt sich ganz einfach darum, daß die große Mehrheit der Gesellschaftswissenschaftler in der kapitalistischen Welt aus klassenbegründeter Unwissenheit, Parteilichkeit für das Kapital, und durch klassenveranlaßte Manipulation daran gehindert wird, den historischen Materialismus als die einzig adäquate Methodologie zur Untersuchung gesellschaftlicher Probleme zu erkennen und anzuwenden. Bedenkt man die große Anzahl begabter Gesellschaftswissenschaftler in der kapitalistischen Welt, deren Talente sich so nicht entwickeln können, dann wird man in der Tat von einer ungeheuerlichen Verschwendung wissenschaftlicher Quantitäten und Qualitäten dort sprechen können. Seit die Methodologie des Wissenschaftlers die des Theologen in der Erklärung gesellschaftlicher Vorgänge abgelöst hat, hat es nicht einen solchen Fortschritt in der Erkenntnis der gesellschaftlichen Vorgänge auf dieser Welt gegeben, wie ihn der historische Materialismus gebracht hat. Es ist offenbar, welche Qualitätskrise seine noch relativ geringe Verbreitung unter den Gesellschaftswissenschaftlern der kapitalistischen Welt darstellt. Jedoch ist auch offenbar, daß die Erfolge auf dem Wege, diese Krise zu überwinden, im letzten Vierteljahrhundert beachtliche gewesen sind. Eine umfassende Uberwindung dieser Krise hängt jedoch vor allem von der Schnelligkeit ab, mit der sich der Sieg des Sozialismus über den Kapitalismus vollendet. Für diese Krise — und hier handelt es sich um eine wirkliche Krise der Wissenschaft, nicht um die Krise eines bestimmten Entwicklungsweges — gibt es nur eine Lösung: die Expansion der Ideologie des Marxismus-Leninismus. Was die Krise des Informationsflusses betrifft, so wird sie teils auf technischorganisatorischem Wege zu lösen sein, teils — was die Geheimhaltung von Informationen betrifft — auf politisch-expansivem Wege im Klassenkampf durch den Sieg des Sozialismus in der Welt. Was die Krise des Verhältnisses von Spezialistentum, Integration und Allgemeinbildung des Wissenschaftlers in einem oder in mehreren großen Wissenschaftszweigen betrifft, so ist das eine Frage der Erziehung, vor allem in den Universitäten und anschließend an den Forschungsstätten. Man kann sich sehr gut vorstellen, daß man an den Universitäten überhaupt auf die Ausbildung von Studenten als Spezialisten verzichten wird. Das heißt natürlich nicht, daß es an Universitäten kein Spezialstudium gibt — aber nicht für Studenten
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allgemein, sondern für künftige Forscher und für in der Praxis arbeitende Forscher, die zur Universität zeitweise zurückkehren. Die Aufgabe der Universitäten ist einmal, eine große Anzahl von wissenschaftlich gebildeten Menschen zu erziehen (Studium generale), Menschen, die eine breite wissenschaftliche Ausbildung und die auch einen Blick für wissenschaftliche Probleme und Tendenzen haben. Die Aufgabe der Universitäten ist sodann, Forscher für Spezialgebiete zu erziehen — nachdem sie das Studium generale beendet haben und wenn sie sich als fähig für Forschung zeigen. Denn später einmal soll jeder in der sozialistischen Gesellschaft wissenschaftlich gebildet sein, während natürlich nur ein kleiner Teil der wissenschaftlich Gebildeten als hauptberuflicher Forscher begabt ist und so tätig sein kann. Von größter Bedeutung heute ist natürlich die Problematik der Krise der Entwicklung auf dem Wege der Expansion — Expansion der wissenschaftlichen Kader und der wissenschaftliqhen Ausrüstung. Was die wissenschaftliche Ausrüstung betrifft, so müssen wir uns klar darüber sein, daß ein beachtlicher Teil der wissenschaftlichen Forschung heute noch in der gleichen Weise betrieben wird wir vor 50 oder 100 Jahren. Max Born bemerkt in einem seiner Kommentare zu seinem Briefwechsel mit Einstein: „Ich habe immer mit Einstein gehalten, daß der Theoretiker nichts braucht als ein paar Bücher, Bleistift und Papier. Mir war anfänglich die Leitung des ganzen Göttinger Instituts angeboten worden; ich hatte dann tatsächlich nur ein kleines Zimmerchen. Später in Edinburgh war es nicht viel anders, und das war recht so." 95 Das gilt natürlich in noch viel höherem Maße für die Gesellschaf tswissenschaf ten. Auf dem entgegengesetzten Pol steht das Experiment und die Sammlung von Fakten, die große Summen kosten können. Man braucht nur an die statistischen Ämter als Faktensammler für die professionellen Gesellschaftswissenschaftler und Politiker, die ja auch Wissenschaftler sind, zu denken, oder an die kostspieligen Apparaturen für Physiker und Chemiker. Aber ist es ein Gesetz, daß die Apparatur immer teurer werden muß? Ein solches Gesetz gibt es nicht. Es gibt auch kein Gesetz, daß unser Faktenwissen auf allen Gebieten so schnell wie möglich voranschreiten muß. Henri Poincaré pflegte zu sagen : „Die Wissenschaft besteht aus Fakten, genauso wie das Haus aus Ziegeln besteht; aber die Anhäufung von Fakten ist ebensowenig Wissenschaft wie ein Haufen Ziegel ein Haus ausmacht." Nehmen wir folgende Tatsache. In allen fortgeschrittenen Ländern stehen heute nach 8 bis 10 Tagen alle wichtigen volkswirtschaftlichen Bewegungen 95 Albert Einstein, Hedwig und Max Born. Briefwechsel 1916—1955. 1972, S. 64.
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Reinbek
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statistisch erfaßt der Regierung (und bald danach in vielen Ländern auch der Öffentlichkeit) zur Verfügung. Kein wissenschaftlich gebildeter Staatsmann und Politiker kann behaupten, daß er sie schneller braucht. I m Gegenteil: es würde völlig ausreichen, wenn er sie „erst" nach 14 Tagen hätte. W a s jeder von ihnen aber braucht, ist eine gründlichere Analyse der Daten, als wir sie in so kurzer Zeit leisten können. Die Leitung einer Wirtschaft wäre besser, wäre effektiver, billiger in der Faktensammlung, wenn man weniger Geld für eine nicht sehr sinnvolle dauernde Beschleunigung der Tatsachensammlung und ein Zehntel der so eingesparten Summe für eine gründlichere Analyse der Tatsachen unmittelbar nach ihrer Sammlung ausgeben würde. Der Staat braucht für die wichtigsten Daten der volkswirtschaftlichen Entwicklung nicht mit ihrer Sammlung abgehetzte Statistiker, die immer teurere Maschinen für schnellere Datenverarbeitung benutzen, sondern Statistiker, die mehr Zeit zum Nachdenken für Analyse und Schlußfolgerungen haben. J e d e Eile in der Sammlung von Fakten, die das Denken schmälert, ist kostspielig, ineffektiv, dem Fortschritt der Wissenschaft hinderlich. Jedoch beobachten wir nicht nur einen abstrakten Eilekult — sei es in der Sammlung von Fakten oder etwa im Transportwesen —, sondern auch einen Faktenkult. Selbstverständlich braucht man zur Lösung eines Problems alle nur irgend möglich relevanten Fakten. Aber Faktensammlung an sich, ohne ein Problem, das sie lösen helfen sollen, ist in einer Zeit der Informationskrise völlig überflüssig, j a stört den wissenschaftlichen Betrieb heute, unter den gegenwärtigen Umständen. W a s nun die Kosten der Ausrüstung für die Wissenschaft betrifft, so können sie vor allem auf drei Wegen relativ vermindert werden: E i n m a l durch eine bessere Technologie. Sobald eine Ware produziert wird, spielt der Technologe sowohl für die Produktionsinstrumente wie auch für die W a r e selbst gerade vom Gesichtspunkt der Ökonomie eine große Rolle. F ü r die große und teure wissenschaftliche Ausrüstung jedoch, für die zumeist nur wenige Exemplare oder nur eines gar gebraucht werden, verwendet man Gedanken vor allem auf die wissenschaftliche Effektivität, die natürlich entscheidend ist, keine jedoch auf die ökonomische Effektivität — und das ist zu wenig. Sodann durch stärkere Konzentration der Forscher um die Apparaturen im nationalen oder sozialistischen internationalen Maßstab (Integration der Apparaturenbenutzung). Der Nutzungsgrad zahlreicher teurer Apparaturen liegt ganz tief. So wie heute schon die verschiedensten Kollektive sich allmählich daran gewöhnen, die gleichen Rechenmaschinen zu benutzen, so gibt es zahlreiche Apparaturen in unseren naturwissenschaftlichen Forschungsstätten, die
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gemeinsamer Nutzung zugänglich wären. Zahlreiche Wissenschaftsstrategen vernachlässigen in ihren Überlegungen jedoch den Apparaturenbestand. Die größte Ersparnis in Form der schnellsten Amortisation der Apparaturkosten aber stellt die Beschleunigung der Überführung der Forschungsresultate in die Praxis des gesellschaftlichen Lebens — sei es die Produktion, die Zirkulation, das Dienstgewerbe oder das Gesundheitswesen — dar. — Wichtiger aber als alle hier angeführten Probleme und bei einigen doch auch schon mitberührt ist die Problematik der kadermäßigen Intensivierung des Wissenschaftsbetriebs. Wenn der schon zitierte Artikel von Melestschenko so beginnt: „Nach Berechnungen des sowjetischen Soziologen Professor A. A. Swarykin wird die Zahl der Wissenschaftler in der UdSSR bereits 1980 3,2 Millionen erreichen und die Gesamtzahl der in der Wissenschaft beschäftigten Personen ungefähr 6,3 Millionen. Das sind über 6 Prozent der Werktätigen des Landes.", dann ist es keine Unsinnigkeit, sich zu sagen: das heißt, spätestens im Jahre 1980 wird in der Sowjetunion der Prozentsatz der Wissenschaftler und der im Wissenschaftsbetrieb Beschäftigten den höchsten erstrebenswerten Grad erreicht haben. Denn während es erstrebenswert ist und im vollendeten Kommunismus erreicht werden wird, daß praktisch die ganze Bevölkerung wissenschaftlich gebildet sein wird, liegt überhaupt kein Grund vor, daß mehr als 6 Prozent der Bevölkerung im Wissenschaftsbetrieb tätig sind. Und selbst wenn irgend jemand für 12 Prozent plädieren sollte, dann steht die gleiche Problematik der Intensivierung und Qualifizierung der wissenschaftlichen Tätigkeit im Jahre 2000.96 Wie kann man die Arbeit der Wissenschaftler intensivieren? Ich glaube, man kann sagen, daß der Großteil der Wissenschaftler heute voll oder gar überbeschäftigt ist. Gleichzeitig wird man sagen können, daß ein Großteil der Wissenschaftler heute falsch eingesetzt ist in dem Sinne, daß ein bedeutender Teil ihrer Arbeit nicht ihren Fähigkeiten entspricht bzw. daß sie mit Arbeiten belastet sind, die die ihren Fähigkeiten entsprechende Arbeit auf das stärkste behindert: Die Mehrzahl aller wirklich tüchtigen Wissenschaftler im besten Forschungsalter ist zu einem Drittel ihrer Arbeitszeit oder mehr mit Verwaltungsarbeiten (nicht zu verwechseln mit Leitungsarbeiten!) beschäftigt, die sie nicht nur bei ihrer Arbeit stören, sondern die sie auch schlecht und ohne Freude machen. Dobrow bemerkt: „Die Wissenschaftswissenschaft verfügt über eine Reihe gründlicher Untersuchungen des Zeitbudgets sowjetischer Wissenschaftler. Ihre Analyse machte 96
Robert Rompe hält Schätzungen der oberen Grenze des Prozentsatzes von Wissenschaftlern für sehr gewagt.
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es möglich, auf eine Reihe von konkreten U m s t ä n d e n u n d Reserven bei der Organisation der Arbeit v o n Wissenschaftlerkollektiven hinzuweisen. Aus diesen Arbeiten ergibt sich leider, d a ß mit der Z u n a h m e der wissenschaftlichen Qualifikation den Wissenschaftlern in der Regel i m m e r geringere Möglichkeiten bleiben, in der Arbeitszeit sich mit direkter schöpferischer Arbeit zu befassen. Den f ü h r e n d e n Wissenschaftlern gelingt es meistens n u r u m den Preis wachsender A u f w e n d u n g e n von Freizeit, ihre Qualifikation zu erh ö h e n u n d den anderen Mitgliedern des Kollektivs vorauszubleiben." 9 7 Dabei handelt es sich u m eine internationale Tendenz. An anderer Stelle berichtet er so: „Die von indischen Wissenschaftswissenschaftlern vorgenomm e n e n Untersuchungen der Zeitfonds einer G r u p p e v o n Wissenschaftlern bestätigen die stabile Tendenz, d a ß sich die Struktur der Arbeitszeit in Richtung auf einen a b n e h m e n d e n Zeitaufwand f ü r die wissenschaftliche Arbeit u n d einen steigenden Zeitaufwand f ü r die Verwaltungsarbeit verändert. Diese Tendenz verwirklicht sich in Abhängigkeit v o n der H ö h e des Gehalts der Wissenschaftler, das d e m Qualifikationsniveau proportional ist." 9 8 ' 9 9 Als M a x Born Dekan wurde, schrieb er an Einstein: „Volle 10 J a h r e h a b e ich mich durch teils echte, teils vorgetäuschte Trottelhaftigkeit in Amtsgeschäften vor diesem Amte gedrückt, aber jetzt gehts nicht länger. Nun, ich hoffe, auch dieses J a h r zu überstehen." 1 0 0 Ein beachtlicher Teil der Arbeitszeit wird auf Sitzungen oder mit d e m Anhören von Vorträgen auf u n f r u c h t b a r e n Monsterkonferenzen ohne echten Meinungsstreit verschwendet — so manche S t u n d e n in jeder Woche, die beim P l a u d e r n mit anderen Wissenschaftlern über wissenschaftliche T h e m e n weit besser gefüllt worden wären. Das Verhältnis von Lehre u n d Forschung ist wahrlich grotesk. Nicht nur werden schlechte Lehrer u n d gute Forscher f ü r die Lehre eingesetzt u n d schlechte Forscher, aber gute Lehrer f ü r die Forschung. Unendlich viel schädlicher ist, d a ß überall in der Welt Lehrer so mit S t u n d e n überlastet werden, d a ß sie nicht zur Forschung k o m m e n u n d so allmählich auch i m m e r schlechtere Lehrer werden, u n d d a ß überall in der Welt viele Forscher nicht lehren u n d so im Z u s a m m e n h a n g mit der Spezialisierung m e h r z u m Fachidiotentum tendieren u n d daher auch als Forscher nicht ihren Fähigkeiten entsprechend arbeiten können. 97
G. M. Dobrow, Zur Vervollkommnung der Wissenschaftsorganisation. In: „Wissenschaft", a. a. O., S. 50. 98 H. C. Lehman, Men's creative produetion rate at different ages and in different countries. In: Scientific Monthly, 1954, Bd. 78, Heft 5, S. 321 ff. 99 G. M. Dobrow, Potential der Wissenschaft. Berlin 1971, S. 120. 100 A. a. O., S. 116.
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Nirgendwo in der Welt hat m a n die Verteilung der wissenschaftlichen K a d e r im Griff. Auch nicht bei der Verteilung auf die verschiedenen Wissenschaftszweige auf G r u n d von Perspektivplänen f ü r die wissenschaftliche Entwicklung, die nicht alle p a a r J a h r e beachtlich verändert werden müssen, oder bei der Verteilung i n n e r h a l b eines Wissenschaftszweiges auf Grundlagenforschung, angewandte Forschung, Technologie, wissenschaftlich-technische Arbeit. W ä h r e n d aber die v o r a n g e n a n n t e n Mängel seit langem b e k a n n t sind u n d hier es wahrlich höchste Zeit ist, Veränderungen zu schaffen, h a n d e l t es sich bei den Fragen der Verteilung der K a d e r auf Wissenschaftszweige u n d i n n e r h a l b eines Wissenschaftszweiges u m zwei Problemkomplexe, die noch sehr gründlich untersucht werden müssen, bevor wir an ihre Lösung gehen k ö n n e n . Auf das Problem der Kaderverteilung in einem einzelnen Wirtschaftszweig oder in einem Institut werden wir im Z u s a m m e n h a n g mit Fragen der Organisation noch im nächsten Kapitel eingehen. Wie weit wir aber noch auf d e m Gebiet der Wissenschaftsprognose u n d der Wissenschaftsstrategie zurück sind, dazu eine Äußerung aus der Sowjetunion, in der m a n sich a m intensivsten u n d unter den besten gesellschaftlichen Bedingungen u m die Lösung dieses Problemkomplexes b e m ü h t . Mikulinsky bemerkt dazu in seiner schon zitierten Studie: „Die potentielle Bedeutung dieser oder jener Forschungsrichtung f ü r das Eindringen in das verborgene Wesen von Erscheinungen u n d Prozessen u n d die Beherrschung bisher u n b e k a n n t e r Naturgesetze, deren E n t d e c k u n g i m m e r zu einer einschneidenden Beschleunigung des wissenschaftlichen u n d wissenschaftlich-technischen Fortschritts f ü h r t , ist bei der B e s t i m m u n g der Effektivität wissenschaftlicher Forschungen ebenfalls zu berücksichtigen. Die richtige Auswahl solcher Wissenschaftsrichtungen u n d -zweige u n d ihre bevorzugte Versorgung mit K a d e r n u n d materiellen Mitteln, ohne dabei die Proportionalität der Wissenschaftsentwicklung i m ganzen zu gefährden, k ö n n t e zugleich die Grundlage f ü r eine perspektivische P l a n u n g der Wissenschaftsentwicklung werden . . . Wie läßt sich ermitteln, welche der möglichen Forschungsrichtungen geeignet sind, in der nächsten Z u k u n f t den größten Einfluß auf die P r o d u k t i o n , auf das Gesamtniveau der Wissenschaft oder das ihrer wichtigsten Gebiete a u s z u ü b e n ? Objektive, streng wissenschaftliche Kriterien f ü r die Auswahl solcher Richtungen fehlen bis jetzt. Bei der Auswahl der Forschungsrichtungen u n d der Festlegung ihrer bevorzugten Finanzierung spielen subjektive M o m e n t e noch eine relativ große Rolle . . . U m die Möglichkeit eines einseitigen Herangehens bei der B e s t i m m u n g der Perspektiven der Wissenschaftsentwicklung zu verringern, bedarf es einer ernsthaften, speziellen Erforschung der Gesetzmäßigkeiten der Wissenschaftsent-
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wicklung insgesamt, einer Erforschung der Logik ihrer Entwicklung. Hier entstehen neue Schwierigkeiten, Gesetzmäßigkeiten der Wissenschaftsentwicklung zu erkennen, ist ohne eine detaillierte Analyse darüber, wie sich die Wissenschaft tatsächlich entwickelt hat, das heißt ohne eine Analyse der Wissenschaftsgeschichte, unmöglich. Einer der zuverlässigsten Wege zu einer begründeten Perspektivplanung wird deshalb die Erforschung der Entwicklung der wichtigsten Wissenschaftszweige und der gesamten Naturwissenschaft innerhalb eines hinreichend langen Zeitraums, etwa der letzten 20—100 Jahre, sein." 101 Mit einem Worte: wir sind noch völlige Laien auf diesem Gebiet! Und das in einer Zeit, die nach einer Intensivierung der wissenschaftlichen Entwicklung mit allergrößter Dringlichkeit verlangt, weil wir nicht mehr auf dem bisherigen, jahrhundertealten Weg der vornehmlich expansiven Entwicklung weitergehen können! Wenn wir nicht endlich den Fragen der Intensivierung der wissenschaftlichen Entwicklung mehr Aufmerksamkeit widmen, dann wird aus der Krise der extensiven, expansiven Entwicklung eine Krise der Entwicklung der Wissenschaft überhaupt werden. Darum gilt es für die Wissenschaftsstrategen und Wissenschaftspolitiker, für die Leiter von wissenschaftlichen Instituten, für jeden Wissenschaftler, über diese Probleme gründlich nachzudenken, sie zu diskutieren, über sie zu schreiben und so bei ihrer Lösung mitzuhelfen.
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A. a. 0., S. 13 f.
KAPITEL
III
Intensivierung des Wissenschaftsbetriebs und die Wissenschaftsorganisation
Wenn wir mit der so dringend nötigen Intensivierung des wissenschaftlichen Wirkens vorwärts kommen wollen, ist notwendig: 1. Eine weit sorgfältigere und bessere Kaderpflege zu betreiben, als es heute geschieht. Dabei geht es sowohl um die Durchführung von Maßnahmen, die an sich seit Jahren als wirksam bekannt sind, wie etwa die so dringende Entlastung der Universitätslehrer, so daß sie zur Forschung kommen, wie auch um Maßnahmen, deren Durchführung längere Zeit in Anspruch nehmen wird und sicherlich kompliziert ist, wie etwa die Verbreiterung des Bildungsniveaus der Wissenschaftler, um aus der Uberspezialisierung herauszukommen. 2. Fortschritte auf dem Wege zur strategischen Wissenschaftsplanung, die wir auch in den sozialistischen Ländern, in denen die besten Voraussetzungen für sie bestehen, noch nicht meistern. Auf diesem so wichtigen Gebiet der Wissenschaftswissenschaft ist die Situation in gewisser Weise umgekehrt, wie auf dem Gebiet der Hebung des Niveaus der Kaderpflege etwa durch Sicherung der Forschung an den Universitäten oder Verminderung der Verwaltungsarbeiten für den Forscher. Denn was die Hebung des Niveaus der Kaderpflege betrifft, so kennen wir zahlreiche Maßnahmen, die wirksam sind, führen sie aber gar nicht oder völlig ungenügend durch. Was die strategische Wissenschaftsplanung betrifft, führen wir zahlreiche, oft sehr teure, Kader und Materialien kostende, Maßnahmen durch, ohne sie wirklich zu kennen, das heißt ohne echten Beweis für ihre Wirksamkeit. Auf dem Gebiet der Strategie der Wissenschaften muß man langsam und vorsichtig vorgehen: bei dem heutigen Zustand des Laientums auf diesem Gebiet — niemand kann heute voraussehen, wie die relative Bedeutung von Physik, Chemie und Biologie in den achtziger Jahren sein wird und welches auf jedem dieser drei großen Gebiete die drei wichtigsten Arbeitsrichtungen sein werden. Aber nichts spricht dagegen, heute zu versuchen, mehrere so gut wie möglich begründete Varianten aufzustellen, ohne schon nach ihnen zu handeln, in den nächsten fünf Jahren diese Varianten sorgfältig mit der wirklichen Entwicklung zu vergleichen, sie entsprechend laufend zu korrigieren und dabei auch die Mängel der vorangehenden Prognose auf ihre Ur-
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des
Wissenschaftsbetriebs
Sachen zu überprüfen, bis man ein Gefühl (mehr noch nicht!) größerer Sicherheit für diese oder jene Variante hat, und dann vorsichtig erste Maßnahmen zu ergreifen. Ganz anders steht die Frage auf dem Gebiet der strategischen Technologieplanung, auf dem wir viel weiter sind, weil wir die Technologie weit besser in der Hand haben, wie die ganze Entwicklung der Kosmoserforschung zeigt. Diese Problematik berührte auch Kurt Hager in seiner Rede über „Sozialismus und wissenschaftlich-technische Revolution", als er bemerkte: „Die Ergebnisse der Grundlagenforschung können nicht mit demselben Grad der Eindeutigkeit vorausgesagt werden wie die der angewandten Forschung oder die der technischen Entwicklung. Diese Tatsache bewirkt, daß die Planung in den einzelnen Phasen der Kette Wissenschaft — Technik — Produktion einen immer konkreteren Charakter annimmt, je näher der Prozeß an die Produktion herankommt. Es ist also ein differenziertes Herangehen an die Probleme der Planung der Forschung in den einzelnen Phasen notwendig." 102 3. Die entschiedene
Hebung
des Niveaus
der Wissenschaftsorganisation,
von
der wir im folgenden sprechen wollen. Wie steht es heute mit der Wissenschaftsorganisation? J. D. Bernal vertrat die Ansicht, daß der Informationsfluß unter Wissenschaftlern zur Zeit der Renaissance besser war als heute. Bedenkt man, daß über 50 Prozent aller Wissenschaftler heute infolge von Rüstungsforschung und sicher weitere 20 Prozent durch Monopolzivilforschung an der Weitergabe sowohl ihrer Forschungsresultate wie auch vielfach schon an der Diskussion ihrer Forschungsprobleme verhindert sind, dann kann kein Zweifel bestehen, daß Bernal recht hat. Entsprechend möchte ich sagen, daß die Organisation der Wissenschaft in der Zeit der Renaissance den damaligen Bedürfnissen der Wissenschaft weit besser entsprach, als sie es heute den gegenwärtigen Bedürfnissen gegenüber tut. Afanasjew stellt fest: „Das Zurückbleiben der Formen der Organisation der wissenschaftlichen Arbeit hinter den neuen Bedürfnissen, hinter der Breite und dem qualitativ neuen Niveau der wissenschaftlichen Forschungsarbeit ist ein ernstes Hemmnis für die Entwicklung der Wissenschaft und die Nutzung ihrer Erkenntnisse in der Produktion, in der Praxis." 103 Und Dobrow bemerkt: „Die Diskrepanz zwischen dem gegenwärtig erreichten hohen Niveau des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und den ,empi102
„Neues Deutschland", 22. Juni 1972, S. 5. W. G. Afanasjew, Wissenschaft, Technik und Leitung in der sozialistischen Gesellschaft. Berlin 1971, S. 129. 103
Der schöpferische Gedanke
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risch-intuitiven' Organisationsformen, mit deren Hilfe die vielen Menschen und materiellen Ressourcen in die Entwicklung von Wissenschaft und Technik einbezogen werden, nimmt rasch zu." 1 0 4 „Empirisch-intuitive" Organisationsformen!, wie recht hat Dobrow mit dieser Kennzeichnung dessen, was heute noch so vielfach überall in der Welt üblich ist! Natürlich sei nichts gegen „empirisch-intuitives" Vorgehen an sich damit gesagt! Es hat in den letzten 5000 Jahren hinsichtlich der Organisationsformen der Wissenschaft im allgemeinen nicht versagt, es hat im großen u n d ganzen ausgereicht. Nur jetzt ist das nicht mehr der Fall. Die Wissenschaft hat sich quantitativ und vielfach auch in ihrer „Arbeitsweise" so verändert, daß ganz bewußt und in ernster Überlegung, wissenschaftlich vorgehend, neue Organisationsformen geschaffen werden müssen, bzw. die „empirischintuitiv" neu entstandenen Organisationsformen rational überprüft, wissenschaftlich durchdacht werden müssen. In diesem Zusammenhang ist folgende Bemerkung von Robert Rompe kennzeichnend: „Erfolgreich haben bis heute kleine Kollektive von Wissenschaftlern verschiedenen Profils gearbeitet, die häufig in geographisch recht entfernten Einrichtungen tätig waren. Das verbindende Glied war das gemeinsame wissenschaftliche Interesse an der Lösung eines bedeutenden fundamentalen Problems. Ein solches Kollektiv aus jüngerer Zeit, das durch einige Nobelpreise bekannt geworden ist, hat sich vor etwa 20 Jahren um Delbrück und Luria gebildet, die u. a. Watson und Crick zu ihren bekannten Untersuchungen der Struktur der DNS ermutigt und unterstützt haben. Diese ,ganz locker organisierten' Kollektive mit hoher wissenschaftlicher Selbstdisziplin arbeiten nicht anders, als in der sogenannten ,Goldenen Zeit' der Mathematik und Physik in Göttingen und Berlin in den ersten 30 Jahren unseres Jahrhunderts gearbeitet wurde oder wie man in der Renaissance Spitzenleistungen der Wissenschaft erarbeitet hat. Aber mit solchen spezifischen' Organisationsformen k a n n m a n schwer eine Betriebstechnologie entwickeln und Ergebnisse der Wissenschaft mit ökonomischem Effekt in die Produktion überleiten — es sei denn, Kosten spielen eine sekundäre Rolle, was aber nur für wenige Prestigegebiete der Wissenschaft oder f ü r Militärtechnik zutrifft."
1. Der schöpferische Gedanke Wenn man an die Problematik der Schaffung neuer Organisationsformen geht, ergibt sich sofort eine große Komplikation dadurch, daß sich trotz aller 104
G. M. Dobrow, "Wissenschaftswissenschaft, a. a. O., S. 301.
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Veränderungen im Wissenschaftsbetrieb im Prozeß des schöpferischen Denkens an sich nie in der Geschichte etwas geändert hat, und daß wir, bisher zumindest, diesem Prozeß genau so hilflos gegenüberstehen wie eh und je. 105 (Robert Rompe hat nur einen Trost für uns: „Immerhin wissen wir, daß die Rauernregel ,Ohne Fleiß kein Preis' hierfür streng gültig ist.106") Am 11. März 1828 hatte Goethe eine Unterhaltung mit Eckermann über schöpferisches Denken. Eckermann berichtet darüber: „ ,Gibt es denn im allgemeinen', sagte ich, ,kein Mittel, um eine produktive Stimmung hervorzubringen oder, wenn sie nicht mächtig genug wäre, sie zu steigern?' ,Um diesen Punkt', erwiderte Goethe, ,steht es gar wunderlich, und wäre darüber allerlei zu denken und zu sagen. Jede Produktivität höchster Art, jedes bedeutende Aperçu, jede Erfindung, jeder große Gedanke, der Früchte bringt und Folge hat, steht in niemandes Gewalt und ist über aller irdischen Macht erhaben. Dergleich hat der Mensch als unverhoffte Geschenke von oben, als reine Kinder Gottes zu betrachten, die er mit freudigem Dank zu empfangen und zu verehren hat. Es ist dem Dämonischen verwandt, das übermächtig mit ihm tut, wie es beliebt, und dem er sich bewußtlos hingibt, während er glaubt, er handle aus eigenem Antriebe. In solchen Fällen ist der Mensch oftmals als ein Werkzeug einer höheren Weltregierung zu betrachten, als ein würdig befundenes Gefäß zur Aufnahme eines göttlichen Einflusses. Ich sage dies, indem ich erwäge, wie oft ein einziger Gedanke ganzen Jahrhunderten eine andere Gestalt gab, und wie einzelne Menschen durch das, was von ihnen ausging, ihrem Zeitalter ein Gepräge aufdrückten, das noch in nachfolgenden Geschlechtern kenntlich blieb und wohltätig fortwirkte. . . . So kam Shakespearen der erste Gedanke zu seinem »Hamlet«, wo sich ihm der Geist des Ganzen als unerwarteter Eindruck vor die Seele stellte, und er die einzelnen Situationen, Charaktere und Ausgang des Ganzen in erhöhter Stimmung übersah, als ein reines Geschenk von oben, worauf er keinen unmittelbaren Einfluß gehabt hatte, obgleich die Möglichkeit, ein solches Aperçu zu haben, immer einen Geist wie den seinigen voraussetzte.' " 107 Weil solche Überlegungen auch heute noch in gewisser Weise volle Gültigkeit haben — „bedeutende schöpferische Gedanken lassen sich nicht einpla105 y g j dazu auch mein Buch „Studien zur Wissenschaft von den Gesellschaftswissenschaften". Berlin 1972, S. 133 f. 106 „Eine klassische Schilderung des Zustandekommens einer wissenschaftlichen Entdeckung — die Fuchsschen Funktionen — gibt H. Poincaré in seinem Buch ,Wissenschaft und Methode', Leipzig 1912." 107 Goethes Gespräche mit Eckermann. Berlin 1955, S. 390 f.
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nen", sagt jeder erfahrene marxistische Wissenschaftswissenschaftler —, ist auch die Prognose der Wissenschaftsentwicklung so schwierig. „Der Fall der Voraussicht wissenschaftlicher Entdeckungen ist eine äußerst seltene Erscheinung. Viel häufiger sehen die Wissenschaftler eine akute ,Durchbruchstelle' auf diesem oder jenem Abschnitt der wissenschaftlichen Forschung voraus. Erfahrung und Intuition erlauben es ihnen, über eine aussichtsreiche Wechselwirkung verschiedener wissenschaftlicher Richtungen und über ihre wechselseitige Befruchtung mit Ideen, Methoden und neuen Möglichkeiten zu urteilen. Diese Voraussagen liegen eigentlich nicht im Kompetenz- und Verantwortungsbereich der Wissenschaftswissenschaft, sondern vor allem im Bereich dieser oder jener Einzelwissenschaften, auf deren Erfahrung sich der wissenschaftswissenschaftliche Prognostiker stützt.", erklärt Dobrow. 1 0 8 Und Wolkow bemerkt: „Prognosen über den wissenschaftlich-technischen Fortschritt können mehr oder weniger präzise sein, wo es sich um die quantitative Zunahme des Bestehenden oder u m die Entwicklung einer Tendenz handelt, die bereits sichtbar geworden ist. Wir können auch mit einem hohen Grad an Zuverlässigkeit die technische Entwicklung der bereits gefundenen Grundprinzipien voraussagen. Hinsichtlich theoretischer Entdeckungen aber stehen unsere Prognosen noch der Phantastik näher als der Wissenschaft. Das ist ganz natürlich, denn anders wäre eine Entdeckung eben keine Entdeckung. Und je bedeutender sie ist, desto höher steht das Strukturglied, dem sie angehört, desto schwerer läßt sie sich prognostizieren. Die Prognosen, die um die Jahrhundertwende aufgestellt wurden, enthielten neben Kuriosem auch viel Richtiges. Aber niemand war imstande, die Entdeckung der Relativitätstheorie vorauszusagen, ohne die die Wissenschaft des zwanzigsten Jahrhunderts undenkbar ist. Das Auftauchen der Roboter überraschte die Menschheit nicht, die Entstehung der Kybernetik und der kybernetischen Methoden der Analyse der Wirklichkeit dagegen war eine Offenbarung, an die sich das menschliche Denken lange nicht gewöhnen konnte. Die Technik und die angewandten Gebiete der Wissenschaft sind der Programmierung leichter zugänglich, da ihre Entwicklung durch die Bedürfnisse der Gesellschaft bestimmt werden, während die höheren Glieder der Wissenschaft mehr Selbständigkeit in ihrer Entwicklung besitzen. In vieler Hinsicht wird ihre Bewegung durch die innere Logik, durch den Widerspruch zwischen dem angehäuften Wissen und den neuen experimentellen Daten bestimmt. U n d wie eben diese Ergebnisse aussehen, k a n n niemand voraussagen. Die einzige Orientierung, die es hier gibt, das sind die bereits vor der Menschheit stehenden, 108
G. M. Dobrow, Prognostik in Wissenschaft und Technik, a. a. 0., S. 37.
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aber durch die Wissenschaft noch nicht gelösten Probleme. Man kann feststellen, daß sich die Wissenschaft auf diesem oder jenem Wegabschnitt zur Lösung eines Problems befindet, wie es aber gelöst werden wird und welche neuen Probleme durch diese Lösung aufgeworfen werden, das wissen wir nicht." 109 Und Solly Zuckerman, über Jahrzehnte wissenschaftlicher Berater der englischen Regierung, erklärt: „Wissenschaftler haben keine Visionen, sie können, wie ich so oft betont habe und wie ich in diesem Buch wiederum auseinandersetze, nicht die Art und Bedeutung künftiger Entdeckungen im voraus definieren, ebenso wenig wie deren Auswirkungen auf unsere Gesellschaft." 110 Hier, in der Wissenschaftsstrategie, sind wir nicht weiter als Hume, der 1741 in seinem neunten Essay über moralische und politische Probleme erklärte, „daß kein kluger Mensch, wie überzeugt er auch von seinen Prinzipien sei, Prophezeiungen betreffend künftige Ereignisse und die letzten Konsequenzen der Dinge wagen würde". Wie hätte der große englische Biologe A. W. Galston, der seine Untersuchungen der Pflanzenhormone „eine recht harmlose Art, die Zeit zu verbringen" nannte, Hume zugestimmt, wenn er gewußt hätte, daß sie die Grundlage für den amerikanischen Krieg gegen Wälder und Felder zur Aushungerung der Bevölkerung in Vietnam schufen. 111 Wie aber soll man organisieren, wenn man weder den Ursprung einer Tätigkeit kennt noch ihre Entwicklung voraussehen kann? Wohl gibt es eine Reihe Studien, oft fußend auf Selbsterklärungen schöpferischer Wissenschaftler 112 , die versuchen, das Problem zu lösen, doch kluge marxistische Wissenschaftsorganisationswissenschaftler versuchen es „auszuklammern", und das erscheint mir unter den heutigen Verhältnissen, beim gegenwärtigen Stande unserer Erkenntnisse, der einzige richtige Weg. Wolkow geht zum Beispiel so vor: Er stellt fest: „Eine starre und zu sehr ins Detail gehende Planung der Wissenschaft ist lediglich dazu angetan, den wissenschaftlich-technischen Fortschritt zu hemmen und dem Neuen den Weg zu versperren. Kein einziger Plan kann voraussehen, auf welchem Gebiet wann welche Entdeckung gemacht wird, wann und auf welche Weise dieses oder jenes wissenschaftliche Problem gelöst und welche Bedeutung es für die Praxis haben wird. Es geschieht auch nicht selten, daß ein 109
G. N. Wolkow, Soziologie der Wissenschaft. Berlin 1970, S. 380 f. S. Zuckerman, Beyond the Ivory Tower. The frontiers of public and private science. London 1970, S. 5. 111 Vgl. dazu H. and St. Rose, Science and Society, Harmondsworth 1971, S. 217. 112 ygj z u m Beispiel R. Taton, Causalités et accidents de la découverte scientifique. Paris 1955. 110
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durch die experimentelle Forschung gewonnenes Resultat im direkten Gegensatz zu der Arbeitshypothese steht, mit der die Wissenschaftler die Untersuchungen begannen. Eine zu straffe Planung der Forschung, die es früher bei uns gab, führte nicht selten zur Rückversicherung. Man nahm in den Plan wenig aussichtsreiche, dafür aber ,reale' Themen auf, über die man leicht Rechenschaft ablegen konnte. Diese Praxis der Planung erschwerte es, kühn großen Problemen nachzustreben, deren Lösung langjährige Forschungen erfordert, die nicht immer zu vollem Erfolg führen. Das wertvollste in der Wissenschaft ist eine neue schöpferische Idee. Aber es scheint, als könne man neue Ideen nicht im voraus planen." Dann wendet er sich scharf gegen einen falschen Schluß: „Verschiedentlich wurde vorgeschlagen, in der Wissenschaft überhaupt auf Planung zu verzichten. Aber das ist natürlich kein Ausweg. Akademiemitglied P. L. Kapiza bemerkte treffend, daß bei der Planung der Wissenschaft unbedingt folgendes Prinzip zugrunde zu legen sei: ,In der Wissenschaft ist das schöpferische Element das wertvollste. Plan und Abrechnung sollten deshalb so angelegt sein, daß sie die Freiheit des wissenschaftlichen Schaffens fördern.'" Doch zitiert er auch Einstein: „Die Relativitätstheorie ist ein gutes Reispiel dafür, wie sich eine Theorie entwickelt. Die Ausgangshypothesen werden immer abstrakter. Sie entfernen sich immer weiter von der Lebenserfahrung. Dafür nähern wir uns aber dem wissenschaftlichen Ziel: Auf dem Wege der logischen Deduktion eine maximale Menge Erfahrungstatsachen zu erfassen, ausgehend von einer minimalen Zahl von Hypothesen und Axiomen . . . Man muß dem Theoretiker gestatten zu phantasieren, weil es für ihn überhaupt keinen anderen Weg zum Ziel gibt. Natürlich geht es hierbei nicht um ein zielloses Spiel der Phantasie, sondern um die Suche nach den einfachsten und logischsten Möglichkeiten und ihren Folgen." 1 1 3 Als organisatorische Hilfe für den schöpferischen Wissenschaftler macht er dann einen außerordentlich interessanten Vorschlag: „Die inneren Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung der Wissenschaft machen es erforderlich, nicht nur die Planung der Wissenschaft, sondern auch die Organisation wissenschaftlicher Forschungseinrichtungen auf dem Profeiemprinzipaufzubauen. Die bisher bestehende Struktur der akademischen Einrichtungen geht in der Hauptsache von der Trennung in die traditionellen Wissensgebiete aus und verstärkt damit in organisatorischer Form die Barrieren, die zwischen diesen Gebieten bestehen. Während die Forschungsobjekte ein immer kom113
Zitiert in K. Selig, Albert Einstein. Moskau 1964, S. 60 f. (russ.).
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plexeres Herangehen erfordern, entsprechen die Organisationsprinzipien der wissenschaftlichen Arbeit vorwiegend noch der Arbeitsteilung zwischen Physikern und Psychologen, Chemikern und Linguisten, Biologen und Soziologen. Dem Charakter der modernen Wissenschaft entsprechend, befinden sich ihre Problematik und ihre Forschungsmethoden in ständiger Dynamik und sind mitunter starken und heftigen Veränderungen unterworfen. Ein Problem verliert seine Aktualität, ein anderes wird ebenso plötzlich aktuell, und die Lösung eines dritten wird auf völlig unerwarteten Wegen und Grenzgebieten der Wissenschaften möglich. In organisatorischer Beziehung entspricht dieser Dynamik des Forschungsobjektes in keiner Weise die statische Struktur, die sich über Jahrzehnte hinweg in den Forschungseinrichtungen erhalten hat." 1 1 4 Den Gedanken der Probleminstitute hat auch Mikulinskij aufgegriffen, und zwar unter dem Gesichtspunkt der Erhaltung der Einheit einer Wissenschaftsdisziplin angesichts der immer weiter fortschreitenden Spezialisierung. Er schreibt: „Ein Weg zur Lösung dieses Problems (der ,Erhaltung u n d Weiterentwicklung der Wissenschaftsdisziplinen als Ganzes' — J. K.) könnte darin bestehen, wissenschaftliche Zentren zu schaffen, die für die Entwicklung einer Disziplin verantwortlich sind. An der Spitze des Zentrums müßte ein wissenschaftlicher Rat stehen, der sich aus einer kleinen Zahl der kompetentesten Wissenschaftler der verschiedenen Fachgebiete innerhalb der jeweiligen Wissenschaftsdisziplin zusammensetzt. . . . Diese Zentren sollten darüber hinaus über eine Gruppe selbständiger Problem-Institute verfügen, die die Arbeit an dem jeweiligen Problem im ganzen Land koordinieren und f ü r seine Lösung verantwortlich sind." 1 1 5 Aber dieser Vorschlag von Problem-Instituten, so nützlich er an sich ist — wir sind ihm zum Beispiel an der Akademie der Wissenschaften der DDR mit den „Problemklassen" nahe gekommmen —, erleichtert zwar die Behandlung neuer Ideen, löst aber nicht das Problem der Einordnung der schöpferischen Arbeit in die geplante Forschung, zumal m a n sehr wohl Problem-Studiengruppen, die nach einiger Zeit wieder aufgelöst werden, schwerlich aber kurzlebige Problem-Institute schaffen kann. W e n n Rompe dazu bemerkt: „Die gute Idee, die Planung der Wissenschaft nach dem Problemprinzip aufzubauen, ist nicht neu. Bereits in der Denkschrift A. v. Harnacks zur Kaiser WilhelmGesellschaft wurden Institute f ü r Probleme geschaffen, auch wenn sie disziplinare Bezeichnung hatten. Es ist durchaus möglich, Institute so anzulegen, daß sie imstande sind, problemorientiert zu arbeiten, da die Forschungstechnologien in breitem Gebiet der modernsten Wissenschaft gar nicht so verschieden u n d 114 115
G. N. Wolkow, a. a. 0., S. 278 bis 282. S. R. Mikulinskij, a. a. O. In: „Wissenschaft" a. a. 0., S. 16.
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nur die großen Gerätesysteme spezifisch problemgebunden sind" — so scheint es mir doch so: Natürlich soll überhaupt jedes Institut problemorientieri arbeiten, da sich stets ein Großteil der Forscher mit Problemen und nicht nur mit der Anhäufung neuer Fakten beschäftigen wird. Aber eine solche „Problemorientiertheit" der Forscher ist doch zu unterscheiden von der Orientiertheit eines Instituts auf ein spezifisches Problem oder einen bestimmten Problemkomplex, wie es Wolkow im Gegensatz zum disziplinorientierten Institut befürwortet. Und wenn Rompe mit Recht sagt, daß die großen Gerätesysteme problemgebunden sind — steht es nicht ähnlich mit den Wissenschaftlern heute? obgleich ihm zuzubilligen ist, daß wir die „spezialistische" Problemgebundenheit der Wissenschaftler wahrlich ändern müssen. In jedem Fall aber gilt es eines festzuhalten: Jede Organisation der Wissenschaft muß davon ausgehen: Schöpferische Leistungen eines Wissenschaftlers sind das Resultat seines eigenen Nachdenkens, seiner eigenen „Kopfleistung", ganz gleich, wie ihm die Gedanken kommen, ob durch langsames logisches Denken oder — zumeist vorbereitet durch bewußte und unterbewußte Einarbeit in die Problematik — „plötzlich", scheinbar durch „Eingebung".116
2. Der einzelne und die anderen Zugleich aber muß man ebenso klar sehen: Kein Wissenschaftler arbeitet isoliert. Der Begriff des einsamen Denkens entspricht in keiner Weise der Realität des wissenschaftlichen Lebens. Er ist eine unsinnige Abstraktion. Auch der auf eine einsame Insel verschlagene Wissenschaftler arbeitet umgeben von den weisen Schatten vergangener Wissenschaftler und der Erinnerung an seine jenseits des Wassers arbeitenden Kollegen. Schön und vieles so tief erfassend schreibt Goethe in seiner Studie „Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt" 117 : „Sobald Menschen von scharfen frischen Sinnen auf Gegenstände aufmerksam gemacht werden, findet man sie zu Beobachtungen so geneigt als geschickt. Ich habe dieses oft bemerken können, seitdem ich die Lehre des Lichts und der Farben mit Eifer behandele und, wie es zu geschehen pflegt, mich auch mit Personen, denen solche Betrachtungen sonst fremd sind, von dem, was mich soeben sehr interessiert, unterhalte. Sobald ihre Aufmerksamkeit nur rege war, bemerkten sie Phänomene, die ich teils nicht gekannt, teils 116
Vgl. dazu auch J. Kuczynski, a. a. 0., S. 117 ff. Goethes sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe von Cotta, Bd. 39, Stuttgart und Berlin, S. 15-26. 117
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übersehen hatte, u n d berichtigten dadurch gar oft eine zu voreilig gefaßte Idee, ja gaben mir Anlaß, schnellere Schritte zu tun u n d aus der Einschränkung herauszutreten, in welcher uns eine m ü h s a m e Untersuchung oft gefangen hält. Es gilt also auch hier, was bei so vielen anderen menschlichen Unternehm u n g e n gilt, d a ß n u r das Interesse mehrerer, auf einen P u n k t gerichtet, etwas Vorzügliches hervorzubringen imstande sei. Hier wird es offenbar, d a ß der Neid, welcher andere so gern von der E h r e einer Entdeckung ausschließen möchte, daß die unmäßige Begierde, etwas Entdecktes n u r nach seiner Art zu b e h a n d e l n u n d auszuarbeiten, d e m Forscher selbst das größte Hindernis sei. Ich h a b e mich bisher bei der Methode, mit mehreren zu arbeiten, zu wohl b e f u n d e n , als d a ß ich nicht solche fortsetzen sollte. Ich weiß genau, w e m ich dieses u n d jenes auf m e i n e m Wege schuldig geworden, u n d es soll mir eine F r e u d e sein, es k ü n f t i g öffentlich b e k a n n t zu machen. Sind uns n u n bloß natürliche a u f m e r k s a m e Menschen so viel zu nützen imstande, wie allgemeiner m u ß der Nutzen sein, w e n n unterrichtete Menschen einander in die H ä n d e arbeiten. Schon ist eine Wissenschaft an u n d f ü r sich selbst eine so große Masse, d a ß sie viele Menschen trägt, w e n n sie gleich kein Mensch tragen k a n n . Es läßt sich bemerken, daß die Kenntnisse, gleichsam wie ein eingeschlossenes aber lebendiges Wasser, sich nach u n d nach zu einem gewissen Niveau erheben, daß die schönsten Entdeckungen nicht sowohl durch Menschen als durch die Zeit gemacht w o r d e n ; wie d e n n eben sehr wichtige Dinge zu gleicher Zeit von zweien oder wohl gar m e h r e r e n geübten Denkern gemacht worden. W e n n also wir in j e n e m ersten Fall der Gesellschaft u n d den F r e u n d e n so vieles schuldig sind, so werden wir in diesem der W e l t u n d d e m J a h r h u n d e r t noch m e h r schuldig, u n d wir k ö n n e n in beiden Fällen nicht genug anerkennen, wie nötig Mitteilung, Beihilfe, E r i n n e r u n g u n d Widerspruch sei, u m uns auf d e m rechten Wege zu erhalten u n d vorwärts zu bringen." J e d e r wird verstehen, w a r u m ich so ausführlich zitiert habe. W a s ist hier nicht alles an tiefen Überlegungen enthalten! Der Vorteil des Gedankenaustausches, der Vorteil gemeinsamer Arbeit, das P r o b l e m der Gedanken, die in der L u f t der Zeit schweben: wieviel sind wir „der Gesellschaft u n d den Freunden schuldig"! U n d wie schön schreibt d a r ü b e r auch W o l k o w : „Die geistige Produktion ist ihrer eigentlichen N a t u r nach gesellschaftliche Produktion. In einem unvergleichlich höheren Maße als die P r o d u k t e der materiellen Produktion ist ihr P r o d u k t nicht das Ergebnis einer Einzelarbeit, nicht die Folge einzelner Anstrengungen u n d B e m ü h u n g e n , sondern das Ergebnis der gesamten voraufgegangenen Tätigkeit der Gesellschaft, ist schöpferische Akkumulation, Überarbeitung, schöpferisches Neudurchdenken dessen, was der Genius der Menschheit hervorgebracht hat. M a r x wies darauf hin, d a ß die Geschichte der Tech-
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nik uns zeigen könnte, wie wenig diese oder jene Erfindung einer einzelnen Person gehört. Mit noch größerem Recht können wir diese Gedanken auf die wissenschaftlichen Entdeckungen anwenden. Jede große wissenschaftliche Idee hat gewöhnlich so gut wie sämtliche früheren Wissenschaftler des betreffenden Gebietes und viele der Zeitgenossen als ,Mitautoren'." 115 Wenn Heisenberg sagt: „Naturwissenschaft beruht auf Experimenten, sie gelangt zu Ergebnissen durch die Gespräche der in ihr Tätigen, die miteinander über die Deutung der Experimente beraten" 119 , dann wird die Rolle des wissenschaftlichen Gedankenumgangs, die auch Goethe so bedeutend erscheint, kurz, klar und treffend formuliert. Darum erscheint es mir eine der Hauptaufgaben der Organisationswissenschaft, den persönlichen wissenschaftlichen Gedankenaustausch für den einzelnen Wissenschaftler — denn er hat schöpferisch zu denken, das nimmt ihm kein anderer, weder ein Team oder Kollektiv noch ein Computer, ab! — zu organisieren. In diesem Zusammenhang ist es von Interesse, bei Krauch zu lesen: „über die Möglichkeiten und Grenzen der Kooperation in der Forschung hat Eugen Paul Wigner einige Gedanken entwickelt.120 Danach haben die Naturwissenschaften im Umfang ihres Gegenstandes wie auch in der Tiefe ein erhebliches Wachstum erfahren und der menschliche Verstand ist nicht mehr in der Lage, sie so zu umfassen, daß die Lebensspanne eines einzelnen Menschen ausreicht, um bis zu den Grenzen des Unerkannten vorzudringen. Als Folge davon haben sich in zunehmendem Maße Teams gebildet, die jedoch auch ihre Grenzen haben. Wie Poincaré ausführt, liegt das an der Natur der Denkvorgänge, die sich nur zu einem kleinen Teil in der oberen Bewußtseinssphäre abspielen, während die wesentlichen Denkvorgänge, z. B. in der Mathematik, im Unterbewußten ablaufen. Wigner glaubt, daß diese Art des unterbewußten schöpferischen Denkens in allen Wissenschaften, besonders bei der Lösung praktischer technischer Probleme, auftritt. 121 Deshalb sieht er das Problem der Gruppenarbeit darin, die Erfindungsgabe im Unterbewußtsein des einzelnen frei zu entfalten und ihr optimale Möglichkeiten zu schaffen. Gleichzeitig solle aber dem einzelnen Wissenschaftler der Wissensschatz der Gruppe zugänglich ge118
G. N. Wolkow, a. a. 0 . , S. 253. W. Heisenberg, Der Teil und das Ganze. München 1969, S. 9. 120 y g j ß p Wigner, Die Grenzen der Wissenschaft, Ruperto Carola, XVI. Jg., 36,1964, 7 - 1 3 . 121 Denkprozesse, die im Unterbewußtsein ablaufen, sind jedoch auch einer formallogischen Analyse zugänglich und können unter Umständen durch Computermodelle simuliert werden. 119
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macht werden. Der weiteren Ausbreitung der Wissenschaft sei nun dadurch eine Grenze gesetzt, daß das menschliche Gedächtnis nicht unbeschränkt belastet werden kann. Weniger Begrenzung sieht Wigner für die Tiefe des Denkens. Auf der anderen Seite gebe es Möglichkeiten, die beschränkte Speicherkapazität des menschlichen Hirns durch Organisation und durch künstliche Speicher zu überwinden. Dadurch, daß dem einzelnen in einem T e a m auch die unfertigen Ideen der Kollegen zugänglich gemacht werden und daß auf diese Weise zusätzlich eine Förderung des unterbewußten Denkens eingeleitet wird, gelten diese Beschränkungen, so führt Wigner aus, nur für eine streng individualistische Wissenschaft." 1 2 2 Immens praktisch von den Erfahrungen in Komitee-Sitzungen, an denen eine Anzahl hochschöpferischer Wissenschaftler wie auch Politiker, Militärs, politische Organisatoren u. a. teilnahmen, ausgehend, bemerkt W e i n b e r g : „Ich war Mitglied verschiedener Komitees: des Scientific Advisory B o a r d to the Air Force, des President's Science Advisory Committee und des Committee on Science and Public Policy of the National Academy of Science. Nun sind Komitees meiner Meinung nach ebensowenig in der Lage, Erkenntnisse zu produzieren, wie Kamele zu zeichnen. Innerhalb dieser Komitees herrscht ein permanenter Konkurrenzkampf, ihre Tätigkeit erschöpft sich im Verbalen, es geht viel zu formell zu, als daß daraus Erkenntnisse resultieren könnten. Denn Erkenntnis ist etwas sehr Persönliches; sie gedeiht am besten, wenn ein einzelner in aller R u h e und Konzentration über etwas nachdenkt — ruhiger und konzentrierter, als das möglich ist, wenn m a n an den harten, oft tendenziösen und subjektiven Diskussionen innerhalb solcher Komitees teilnimmt. Deshalb habe ich schon oft darüber nachgedacht, ob es nicht zweckmäßiger wäre, die schwierigsten Fragen, mit denen sich das President's Science Advisory Committee auseinanderzusetzen hat, von einzelnen durchdenken zu lassen: die Verteilung der zur Verfügung stehenden Geldmittel auf die konkurrierenden Wissenschaftsgebiete, die Aufteilung der öffentlichen Mittel zwischen der Wissenschaft als ganzer und anderen öffentlichen Einrichtungen oder, vielleicht als schwierigstes Problem, die Entscheidung darüber, ob der moderne Stil der Großforschung die Wissenschaft als Instrument zur Gewinnung neuer E r kenntnisse uneffektiv macht. Die Ergebnisse ihrer Reflexion sollten dann in F o r m von Essays vorgelegt werden. Aus einer Reihe solcher, von verschiedenen Individuen stammenden Essays ergäbe sich dann vielleicht, wenn schon nicht Klarheit und definitive Richtung, so doch zumindest eine gemeinsame Sprache und ein R a h m e n für die weitere Diskussion. Das Komitee könnte dann die Funktion übernehmen, Kritik zu üben oder die Interessen einzelner zu ver122
H. Krauch, Die organisierte Forschung, a. a. 0 . , S. 87 f.
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teidigen, und wäre nicht länger verpflichtet, mehr Erkenntnisse zu produzieren als jene individuellen Essays." 123 Und auch so schreibt Weinberg, der schließlich die Formulierung Big Science, Großforschung, in die Terminologie der Wissenschaftswissenschaft eingeführt hat und durch Jahrzehnte Forschungsdirektor des Großforschungszentrums Oak Ridge mit einem Etat in letzter Zeit von etwa einer halben Milliarde Mark war: „Indem sie die Teamarbeit zu einer unumgänglichen Notwendigkeit machen, beeinträchtigen Wachstum und Zersplitterung den Wirkungsgrad der Naturwissenschaft; denn ein einziger, alles Wissen in sich vereinender Kopf ist in vieler Hinsicht ein effektiveres Instrument als eine ganze Gruppe von Köpfen, die ein ebenso vollständiges und relevantes Wissen in sich vereint. Der schöpferische Akt in der Naturwissenschaft ist, ebenso wie jede intellektuelle schöpferische Leistung, im wesentlichen ein individueller Akt. Es ist effektiver, wenn alle wesentlichen Fakten unmittelbar zur Verfügung stehen und auf der Stelle von einem potentiell schöpferischen Menschen zu einem Ganzen zusammengefügt werden können. Natürlich verfügt ein Team im allgemeinen über quantitativ mehr Wissen als jedes einzelne Mitglied dieses Teams. Deshalb wird ein Team für eine gewisse Art von Wissenschaft, und zwar für diejenige, die nicht die originellsten Erkenntnisse erfordert, effektiver sein als ein einzelner. Dennoch kann ich mir einfach nicht vorstellen, daß die Relativitätstheorie oder die Diracsche Gleichung aus einem Team heraus hätte entstehen können, einem Team, wie es heutzutage so charakteristisch ist f ü r das Wesen der Großforschung. Selbst in einem wissenschaftlichen Team ist sein führendes Mitglied dasjenige, das den breitesten Uberblick über die verschiedenen Spezialgebiete, die von den anderen Mitgliedern des Teams repräsentiert werden, besitzt. So wird die Naturwissenschaft in dem Maß, wie sie sich aufsplittert und zur Teamarbeit zwingt, möglicherweise weniger effektiv, in dem Sinne, daß mehr Menschen und mehr Geld notwendig sind pro Einheit wissenschaftlicher Leistung. Es gilt auch heute noch, daß ein kompetenter Naturwissenschaftler, der alle wesentlichen Fakten zu seiner Verfügung hat, ein Ergebnis im allgemeinen schneller und billiger erzielen wird als drei weniger gute Wissenschaftler, die ihr Wissen koordinieren müssen." 1 2 4 Darum zitiert auch der Sowjetwissenschaftler Lejkin mahnend die 1958 von Louis de Broglie ausgesprochene Warnung: „Man darf nicht zulassen, daß kollektive Ratio und gelenkte Forschung die Originalität der Anstrengungen und die Unabhängigkeit des Denkens hintertreiben; man darf nicht zulassen, daß sie zur Entstehung einer Gemeinde von Gläubigen führen, in der vor123 124
A. M. Weinberg, a. a. 0., S. 67 f. Ebendort, S. 118 f.
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gefaßte Vorstellungen und unversöhnliche Orthodoxie den Ton angeben. Es ist gut, daß Kollektive existieren, und es ist gut, daß sie genau organisiert sind, aber ebenso gut ist es, daß unabhängige Forscher leben, daß sie in relativer Einsamkeit frei über Probleme nachdenken und neue Forschungswege erschließen können, die kein Leiter einer wissenschaftlichen Einrichtung in seinen Arbeitsplänen vorhersehen kann." 125 Und fügt hinzu: „Frédéric JoliotCurie hat im gleichen Jahre sogar von Maßnahmen gesprochen, die erforderlich sind, um in unserem Jahrhundert ,der Industrialisierung der Wissenschaft' nicht die Persönlichkeit des Wissenschaftlers zu opfern." 126 Jedoch darf man das „Nachdenken des einzelnen Wissenschaftlers bei sich" nicht losgelöst vom und entgegengesetzt dem Kollektiv sehen. Diesem „Nachdenken bei sich" muß stets vorangehen und folgen das „Denken bei sich im Kollektiv", das I. I. Lejman so gut schildert: „Eine Form der Umgestaltung eines ungeordneten Konglomerats von Wissenschaftlern zu einem Kollektiv, d. h. zu einer organischen Einheit, die sich einer gemeinsamen Aufgabe unterordnet, ist die gemeinsame Diskussion von Methoden, Ergebnissen, Angaben aus der Literatur u. dgl. Man denke an die berühmten .Mittwoch-Treffen' bei Pavlov oder die ,Dienstage' bei P. L. Kapica. Von ähnlichen kollektiven Diskussionen bei Niels Bohr berichtet R. Jungk in seinem Buch ,Heller als tausend Sonnen'. Solche Traditionen gibt es leider nicht überall, oder sie werden zu formal wahrgenommen. Dabei sind sie geeignet, das kollektive Denken zu ,materialisieren' und zur besten Schule einer schöpferischen Arbeitsweise der wissenschaftlichen Mitarbeiter zu werden. Nichtformelle Diskussionen über beliebige Probleme, von den Arbeitsplänen bis zur Analyse der studierten Literatur, werden im obengenannten Laboratorium als Arbeitsprinzip angesehen. A. S. Iontov ist der Meinung, daß eine Aussprache, die zu keinem Meinungsstreit geführt hat, die nicht alle Beteiligten zum Denken angeregt hat und die nur formalen Charakter trug, ,die Schleusen des Verstehens schließt' und in Wahrheit unnötig gewesen ist. Das Studium der verschiedensten Ursachen von Konflikten sowie der Formen und Methoden zur Überwindung von Konflikten muß zur normalen, täglichen Arbeit der Leitungsorgane und der gesellschaftlichen Organisationen in wissenschaftlichen Einrichtungen werden." 127 125
L. de Broglie, Sur les sentiers de la science, Paris 1960; zit. nach: Po tropam nauki, Moskva 1962, S. 340. 126 F. Joliot-Curie, Rede auf der Konferenz der Nobelpreisträger, in: Mir nauki, 1959, Nr. 1. 127 I. I. Lejman, Kollektiv und wissenschaftliches Schöpfertum. In „Wissenschaftliches Schöpfertum", a. a. O., S. 255.
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Darum ist es auch gar nicht verwunderlich, daß eine erste größere empirische Studie über Forschung in Organisationen gerade der Problematik der Erhaltung und Förderung der schöpferischen Tätigkeit des einzelnen Wissenschaftlers im Rahmen einer Organisation oder in einer einzelnen Gruppe in einer Organisation größte Aufmerksamkeit widmet. 128 Warum sind wir so ausführlich auf den einzelnen Wissenschaftler hier eingegangen? Weil er stets der Ausgangspunkt aller wissenschaftsorganisatorischen Überlegungen sein muß. Es ist der einzelne schöpferische Wissenschaftler, der denkt, der schöpft. Niemand kann ihm diese Funktion abnehmen, und welche Formen die Organisation der Wissenschaft immer annimmt: wenn sie an der Problematik der Förderung der schöpferischen Tätigkeit des einzelnen Wissenschaftlers vorbeigeht, muß sie letztlich versagen. Niemand hat gerade die Bedeutung des einzelnen schöpferischen Wissenschaftlers so herausgearbeitet, wie die besten sowjetischen Wissenschaftswissenschaftler. Dabei können sie sich auf Marx stützen, der in einer Bemerkung über die „Ökonomie durch Erfindung" feststellte: „Nebenbei bemerkt, ist zu unterscheiden zwischen allgemeiner Arbeit und gemeinschaftlicher Arbeit. Beide spielen im Produktionsprozeß ihre Rolle, beide gehn ineinander über, aber beide unterscheiden sich auch. Allgemeine Arbeit ist alle wissenschaftliche Arbeit, alle Entdeckung, alle Erfindung. Sie ist bedingt teils durch Kooperation mit Lebenden, teils durch Benutzung der Arbeiten Früherer. Gemeinschaftliche Arbeit unterstellt die unmittelbare Kooperation der Individuen." 129 Und Wolkow führt dazu aus: „Die allgemeine Arbeit ist vom Standpunkt des lebendigen Arbeitsprozesses aus gesehen immer individuell, sie ist immer an die Persönlichkeit des betreffenden Menschen mit all dessen schöpferischen Besonderheiten gebunden. Die allgemeine Arbeit ist tatsächlich allgemein, wenn sie hinsichtlich der geistigen Voraussetzungen und des Resultats betrachtet wird, denn das geistige Ergebnis (das wissenschaftliche oder künstlerische) ist nach einem treffenden Ausdruck von B. Schenkman ,das lebendige Sein der menschlichen Allgemeinheit, kristallisierte Allgemeinheit' 130 . . . Die wissenschaftliche Tätigkeit ist ungeachtet ihres gesellschaftlichen Charakters und der Tatsache, daß sie die Form des kollektiven Schöpfertums annimmt, ihrem Wesen nach immer individuell." 131 Ungeachtet ihres gesellschaftlichen Charakters! auch zu diesem „Doppelcharakter" der wissenschaftlichen Arbeit hat sich Marx geäußert: „Allein auch 128 129 130 131
D. C. Pelz, Fr. M. Andrews, Scientists in Organizations. New York 1966. K. Marx, Das Kapital. Dritter Band. In: Marx/Engels, Werke. Bd. 25, S. 113 f. Siehe Woprossi ßlosofii, 1966, Nr. 12. G. N. Wolkow, a. a. 0 . , S. 253 ff.
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wenn ich wissenschaftlich etc. tätig bin, eine Tätigkeit, die ich seilen in unmittelbarer Gemeinschaft mit anderen ausführen kann, so bin ich gesellschaftlich, weil als Mensch tätig." 132 Untersuchen wir nun aber die Forschungen zur Wissenschaftsorganisation, dann sehen wir, wie wenig noch die organisatorischen Konsequenzen aus diesem individuellen Charakter der wissenschaftlichen Arbeit als gesellschaftlicher Tätigkeit gezogen worden sind. Schon eine so einfache Frage, wie die der Gestaltung der Arbeitsweise im Zusammenhang mit der Länge des Arbeitstages ist völlig ungeklärt. So bemerkt I. I. Lejman: „Eine spezielle Erörterung verlangen die Fragen der Arbeitsordnung in den Laboratorien. So erlaubt es z. B. Akademiemitglied P. L. Kapica niemandem, nach Beendigung des Arbeitstages am Arbeitsplatz zu verbleiben. Ist das gut? Ein solches System hat sicherlich seine guten Seiten, es diszipliniert den Menschen, zwingt ihn, die Arbeitszeit maximal zu nutzen, und gibt ihm die Möglichkeit, ein normales Leben zu führen. Mitchell Wilson beschreibt in einem seiner Romane die Aufnahme eines neuen Mitarbeiters in das Laboratorium: Man überreicht ihm die Schlüssel des Instituts und des Laboratoriums, u n d weiter unterliegt er keiner Kontrolle. Er kann kommen, wann er will, und soviel und zu einer Zeit arbeiten, wie ihm das nötig erscheint. Er m u ß nur die geplante Aufgabe rechtzeitig und in der geforderten Qualität lösen. Welche der beiden Methoden ist besser? Diese Frage ist heute noch schwer zu beantworten. Aber es scheint, daß größere Beweglichkeit u n d die Berücksichtigung verschiedenartigster Bedingungen — der Spezifik der wissenschaftlichen Aufgabe, ihrer Dringlichkeit und selbst der individuellen Besonderheiten und Gewohnheiten des Menschen — eine bessere Grundlage f ü r die Lösung der Probleme schaffen." 133 Mit seinem Schlußsatz hat Lejman ganz zweifellos recht. Und weiter: Es ist richtig: man merkt, wie der Wissenschaftler heute durch alle möglichen Aufgaben von seiner schöpferischen Arbeit fortgerissen wird, und m a n denkt daran, wie m a n ihn davor schützen kann. Bisweilen versteht m a n auch, daß „Ablenkungen" von der schöpferischen Arbeit von größter Bedeutung f ü r den Wissenschaftler sein können — sei es in Verbindung mit der praktischen Arbeit eines Industriebetriebes, sei es Lehre, sei es auch eine gewisse Verwaltungsarbeit. Aber ernste Studien größeren Umfanges, die uns erlauben, zu Erfahrungen, Schlüssen, praktischen Maßnahmen zu kommen, liegen noch nicht vor. Welch ein Rückstand der Wissenschaft von der Organi132 133
Marx/Engels, Werke, Ergänzungsband, Erster Teil. Berlin 1968, S. 538. l. I. Lejman, a. a. 0 . , S. 254.
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sation des wissenschaftlichen Betriebes! Hier liegt wahrlich noch ein ungeheures Forschungsfeld vor uns, das aber dringendst heute, wo die Intensivierung der wissenschaftlichen Arbeit zu einer Hauptaufgabe geworden ist, der Bearbeitung durch unsere Wissenschaftsorganisatoren bedarf. Es ist richtig: Wir wissen seit Jahrtausenden, spätestens seit den Akademien Athens, welche Bedeutung ein Kollektiv von Wissenschaftlern hat, das nur eine Aufgabe hat, dessen Effektivität allein darin bestehen soll, den Gedankenaustausch zu fördern, jeden einzelnen Wissenschaftler als Individuum anzuregen. Wir haben auch immer solche Kollektive in der Geschichte der Wissenschaft gehabt. Doch heute, bei dem ungeheuren Wachstum der Zahl der Wissenschaftler, gibt es relativ immer weniger solche Kollektive. Die wissenschaftlichen Kongresse sind zu Monsterversammlungen geworden, die die alte Aufgabe der Kongresse nicht mehr erfüllen. Und wenn Wissenschaftler im täglichen Leben zu Besprechungen zusammenkommen, stellen politische oder verwaltende Autoritäten die bisweilen ganz falsche Frage: was ist herausgekommen? Die Antwort: „nichts und alles, denn es war ungeheuer anregend" — gilt als unbefriedigend, weil man die „Effektivität der Anregungen" nicht messen kann oder sie nicht als „praktisches Ergebnis" ansehen will. Die Vereinsamung des schöpferischen Wissenschaftlers in dieser Beziehung ist trotz aller Teams und Kollektive und Arbeiten über Organisationswissenschaft heute recht groß geworden. Und in gleichem Maße, als ein Teil dieses Vereinsamungsprozesses, geht eine „Vermassung" der Wissenschaftler vor sich. Hören wir nur folgende Tatsachen aus dem Bericht eines Wissenschaftlers über einen kürzlich stattgefundenen internationalen wissenschaftlichen Kongreß: „Wahrscheinlich gab es über 3000 Teilnehmer. Bereits in der offiziellen Planung war ein Mammutprogramm vorgesehen gewesen. Neben drei Plenarsitzungen, 6 Panels, 57 offenen Sitzungen der Forschungskomitees und 30 Veranstaltungen der Arbeitsgruppen' gab es eine unbekannte Zahl von Veranstaltungen sogenannter ,ad hoc'-Gruppen. Diese ,ad hoc'-Gruppen dürfen nicht mißverstanden werden als ein Element der Spontanität; ,ad hoc' an ihnen war in erster Linie die Tatsache, daß sie aus manchen auch außerwissenschaftlichen Gründen dem Programm des Kongresses oft in letzter Minute hinzugefügt wurden. Ein Kongreß solchen Umfangs ist selbstverständlich von niemandem mehr wirklich zu übersehen. Der letzte Rest an Uberschaubarkeit ging durch die ungeheure Zahl von mindestens 850 verlesenen Papieren verloren; die genaue Zahl der Papiere kann niemand wissen. Das sind pro Kongreß tag durchschnittlich 170 vorbereitete Beiträge — oder im Schnitt mehr als 21 Papiere gleichzeitig pro Arbeitsstunde."
Intensivierung
90
des
Wissenschaftsbetriebs
Nicht nur ging der einzelne schöpferische Wissenschaftler auf diesem Kongreß mit seinem Beitrag unter — es ist auch sehr zu bezweifeln, ob es auch nur f ü r einen größeren Teil der Teilnehmer zu anregenden, zu fruchtbaren wissenschaftlichen Unterhaltungen kam. Wo aber gibt es auch nur eine einzige gedruckte gründlichere Studie zum Problem der Organisation wissenschaftlicher Kongresse unter heutigen Verhältnissen?
3. Die Wissenschaftsfabrik Die ständige Steigerung der Zahl der Wissenschaftler und die zunehmende Mechanisierung zahlreicher Aktivitäten auf wissenschaftlichem Gebiet haben zur Herausbildung von Wissenschaftsfabriken geführt. Wolkow schreibt darüber: „Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß in der Zeit, da die Welt sich an der Schwelle einer neuen industriellen Revolution befindet, die Wissenschaft sich gewissermaßen ihrer ,ersten industriellen Revolution' nähert: Erst heute vollzieht sie den Übergang von den handwerklichen' Arbeitsmethoden zu den industriellen, maschinellen Arbeitsmethoden. Ebenso wie in der Industrie, besitzt auch in der Wissenschaft die Mechanisierung ihre positiven u n d negativen Seiten. Sie droht, die Arbeit des Wissenschaftlers dem Funktionieren der Geräte zu unterwerfen, sie zu einem Anhängsel der Ausrüstung zu machen. Eine solche Gefahr besteht in der kapitalistischen Welt, denn der Unternehmer ist hinsichtlich der Wissenschaft einzig daran interessiert, daß die für ihn so teure Ausrüstung hundertprozentig genutzt wird, während ihn die Entwicklungsbedingungen der Persönlichkeit des Wissenschaftlers wenig interessieren. Viele bedeutende Männer der Wissenschaft in den kapitalistischen Staaten sprechen voller Sorge von dieser drohenden Tendenz. ,Ich bin besonders glücklich', bekannte N. Wiener in seiner Autobiographie, ,daß ich nicht lange J a h r e eines der Schräubchen der modernen Wissenschaftsfabrik sein mußte, nicht das tun mußte, was befohlen wurde, nicht Aufgaben zu lösen hatte, die von Vorgesetzten gestellt wurden, und mein Gehirn nicht nur zum Nutzen der Kirche anzustrengen brauchte, wie die Ritter des Mittelalters ihr Lehen benutzten. Ich glaube, würde ich in der heutigen Epoche des geistigen Feudalismus geboren werden, ich würde nicht viel erreichen. Von ganzem Herzen bedaure ich die heutigen jungen Wissenschaftler, von denen viele, ob sie wollen oder nicht, >aus dem Geist der Zeit heraus< dazu verurteilt sind, als intellektuelle Lakaien oder als Kontrolleure der Arbeitszeit zu dienen.' 1 3 4 134
Wiener, I am Mathematician. London 1956; Moskau 1964, S. 343 (russ.).
Die
Wissenschaftsfabrik
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In den kapitalistischen ,Wissensehaftsfabriken' herrscht eine derartige Atmosphäre, daß der Wissenschaftler nicht im nötigen Umfang seine Aktivität entfalten kann, daß er keinen wesentlichen Einfluß auf die Richtung der Forschung ausüben kann. Eine Untersuchung der Forschungsarbeit in den sechs größten Industriemonopolen zeigte, daß 6 1 Prozent der an der Forschung beteiligten Wissenschaftler äußerst selten oder überhaupt nie zu den Erörterungen der Forschungsthematik herangezogen werden. Die Daten über 1 2 1 der größten und am besten ausgerüsteten Laboratorien weisen aus, daß nur 12 Prozent der Wissenschaftler an Themen arbeiten, die von ihnen selbst ausgesucht worden waren." 1 3 5 Hat Wolkow recht, den bedeutenden schöpferischen Wissenschaftler und die Wissenschaftsfabrik in dieser Weise gegenüberzustellen? Ist es überhaupt richtig, sich gegen Wissenschaftsfabriken zu stellen? Müssen Wissenschaftler immer als Mitbestimmende zu Beratungen über die Festlegung ihrer Forschungsthematik herangezogen werden? Gibt es etwa nur in den kapitalistischen Ländern Wissenschaftsfabriken? Ist nur der kapitalistische Unternehmer daran interessiert, daß etwa ein Rechenzentrum voll ausgenutzt wird? W e n n die Mehrheit der vorhandenen Untersuchungen über die Entwicklungsbedingungen der Persönlichkeit des Wissenschaftlers bisher in den U S A gemacht worden sind, ist es wahrscheinlich, daß der Unternehmer dort so beschränkt ist, kein Interesse für diese Problematik zu zeigen? Robert R o m p e fragt mit R e c h t : „Ist es denn wirklich wünschenswert, daß jeder Wissenschaftler an einem T h e m a arbeitet, das von ihm selbst herausgesucht worden ist? Führt das nicht gerade zu den chaotischen Verhältnissen, wie wir sie heute vielfach in der Wissenschaft vorfinden? Ist nicht eine Konzentration von ausdiskutierten fundamentalen Schwerpunkten für die Entwicklung der Wissenschaft und ihre gesellschaftswissenschaftliche Wirksamkeit viel besser?" Man bedenke doch: Zu den größten mechanisierten Wissenschaftsfabriken unserer Zeit gehören die zentralen statistischen Ämter. Sie beschäftigen sich vor allem mit für die Gesellschaftswissenschaftler wichtigen Tatsachensammlungen und Problemen. Die Vorstellung, daß die Forscher in einer solchen Wissenschaftsfabrik sich ihre Themen selbst aussuchen sollten, ist grotesk — was natürlich nicht heißt, daß sie auf ihrem Themengebiet nicht schöpferische Ideen haben sollen oder dürfen. W i r haben noch zu wenige und oft noch zu kleine solcher Fabriken auf dem Gebiete der Gesellschaftswissenschaften. Sowohl unsere Soziologie wie unsere Wissenschaftswissenschaft, insbesondere auch unsere Organisationslehre der Wissenschaft wären viel weiter, wenn wir mehr solcher Wissenschaftsfabriken hätten oder größere. 135
G. N. Wolkow,
a. a. 0 . , S. 249 f.
92
Intensivierung
des
Wissenschaftsbetriebs
Faktisch sind die Wissenschaftsfabriken auf dem Gebiet der Gesellschaftswissenschaften „empirisch-intuitiv" herangewachsen, und wir haben uns mit ihrem Charakter noch recht ungenügend beschäftigt. Sind sie zum Beispiel effektiv, wenn ihre Belegschaft eine so starke Stabilität zeigt, wie es heute oft der Fall ist? Sollten Wissenschaftler ihr ganzes Arbeitsleben oder auch nur 10 Jahre in einer solchen Wissenschaftsfabrik verbringen und nicht nach einiger Zeit ausgewechselt werden? Ist es nicht sehr gesund für die Entwicklung vieler Gesellschaftswissenschaftler, einige Zeit in einer Wissenschaftsfabrik gearbeitet zu haben? Gibt es Wissenschaftler, die gerade für Arbeit in einer Wissenschaftsfabrik geeignet, und andere, die speziell ungeeignet sind? Natürlich gibt es auch auf naturwissenschaftlichem Gebiete solche Wissenschaftsfabriken. Auch hier sind sie nützlich, ja notwendig. Sie sind später als auf gesellschaftswissenschaftlichem Gebiet entstanden, haben aber in der Literatur mehr Beachtung gefunden — fälschlicherweise zumeist negative. Ich glaube, wir haben zuvor recht deutlich den schöpferischen Charakter der wissenschaftlichen Arbeit betont. Aber wenn Wolkow meint, das Schöpfertum müsse sich auch auf das Aussuchen der zu bearbeitenden Themen beziehen, so hat er unrecht. Er verwechselt Freiheit der Gedanken wie Experimente auf einem Arbeitsgebiet und Freiheit des Arbeitsgebietes in einer Wissenschaftsfabrik. Von den Wissenschaftsfabriken sind jedoch scharf zu unterscheiden Monsterinstitutionen. Das sind ungesunde Konzentrationen von Wissenschaftlern, die auf Grund ihrer Arbeit in kleinere Einheiten gehören und nicht in Rieseninstitutionen zusammengewürfelt arbeiten dürften, da ihre Arbeit in solchen Monsterinstitutionen nicht organisiert, nicht geleitet werden kann. 136 Eine Organisation, die infolge ihrer Größe nicht geleitet werden kann, ist aber keine Organisation mehr, sie ist nur ein Haufen. Wer wird nicht mit Mikulinskij übereinstimmen, wenn er bemerkt: „Da der Prozeß der Entwicklung neuer Richtungen in der Wissenschaft unvermeidlich ist, erweitern sich die alten Institutionen allmählich, blähen sich auf und verwandeln sich in eine Ansammlung zahlreicher Laboratorien, Sektoren, Abteilungen und Gruppen, zwischen denen oft nur noch eine administrativ-organisatorische Verbindung besteht. Bei diesem Wachstum können solche Einrichtungen nicht mehr effektiv geleitet werden und verlieren die Eigenschaft eines einheitlich arbeitenden, schöpferischen Kollektivs. Das führt zu Gestaltlosigkeit in der Aufgabenstellung und zu Polythematik. Schon infolge der Art ihres Aufbaus beschäftigen 136 Vgl4 d a z u auch mein Buch „Studien zur Wissenschaft von den Gesellschaftswissenschaften". Berlin 1972.
Die
Wissenschaftsfabrik
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sich derartige Einrichtungen gleichzeitig mit einer Vielzahl v o n Fragen. G r u n d legende Probleme, die eine Konzentration der Anstrengungen erfordern, können jedoch jahrelang nicht gelöst werden, weil n i e m a n d speziell f ü r ihre Lösung verantwortlich ist." 1 3 7 U n d wer wird nicht Beispiele f ü r solche Monsterkonglomerate von Instituten, auch auf d e m Gebiete der Gesellschaftswissenschaften, ohne echte wissenschaftliche Integration der Wissenschaftler u n d o h n e größere Leistungen bei der Lösung v o n G r u n d p r o b l e m e n , ja bisweilen gar o h n e Beschäftigung mit ihnen, überall in der Welt finden! Speziell zur Frage der Leitung in solchen Monsterinstitutionen sagt Afanasj e w : „Gegenwärtig gewinnt jedoch die F ü h r u n g der Menschen i m m e r größere Bedeutung. Gerade hierin erblicken die Vertreter des kapitalistischen Business die wichtigste Quelle der Intensivierung, der Ökonomie, die entschieden wirkungsvoller ist als die m o d e r n s t e n Errungenschaften von Wissenschaft, Technik u n d Technologie. ,Wenn wir' — sagt der Autokönig Amerikas, H e n r y F o r d II. — ,heute das Problem der menschlichen Beziehungen in der P r o d u k t i o n lösen, senken wir die Selbstkosten der Produktion f ü r die nächsten zehn J a h r e stärker, als wir sie mit der Methode der Massenproduktion v o n Autos i m letzten Vierteljahrhundert gesenkt haben.' Wie daraus zu ersehen ist, schätzt H . F o r d II. den Effekt der M e n s c h e n f ü h r u n g u m das 2,5fache höher ein als den Effekt der N u t z u n g wissenschaftlich-technischer Errungenschaften. W e n n es auch weder F o r d noch anderen Beherrschern der ,freien W e l t ' infolge der Unfähigkeit des Kapitalismus, w a h r h a f t menschliche Beziehungen herzustellen, gelingen wird, diesen Effekt zu erreichen, so ist doch allein die Tatsache, d a ß die F ü h r u n g der Menschen so außerordentlich hoch eingeschätzt wird, bemerkenswert. Das Problem der M e n s c h e n f ü h r u n g tritt heute i m Kapitalismus (und im Sozialismus, wovon später die Rede sein wird) als Leitungsproblem N u m m e r Eins in Erscheinung." 1 3 8 Es gibt nicht wenige wissenschaftliche Institute heute in der Welt, die durch Z u s a m m e n w ü r f e l n von Wissenschaftsgebieten oder einfache H ä u f u n g v o n Wissenschaftlern so groß geworden sind, d a ß sie auch v o n den a n sich dazu Befähigsten nicht m e h r geleitet werden können, da sie nicht organisierbar sind. Hering u n d Schlagsahne sind ganz prächtig als N a h r u n g — aber auch der beste Koch bringt sie nicht auf einem Teller unter. Wieviel ließe sich hier durch eine bessere Organisation der Wissenschaftler in kleineren, k o m p a k t arbeitenden Instituten f ü r die Intensivierung der wissenschaftlichen Arbeit t u n ! 137 138
S. R. Mikulinskij, a. a. O. In „Wissenschaft", S. 15 f. W. G. Afanasjew, a. a. O., S. 16 f.
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Intensivierung
des
Wissenschaftsbetriebs
4. Großforschung und Kleinforschung So vieles drängt heute zur Großforschung, und Kleinforschung „Klein-Klein".
gilt
als
Zugleich aber beginnen sich ernste Wissenschaftswissenschaftler Gedanken über die Großforschung zu machen. Nicht, daß man etwa an ihrer Berechtigung zweifelt oder zweifeln kann. Wohl aber beginnt man zahlreiche ihrer Probleme besser zu erkennen. Und auch der Trend, alles zur Großforschung machen zu wollen, beginnt, mit Recht, Bedenken zu erregen. Hören wir, gewissermaßen zur Einführung, einige Bedenken des bedeutenden amerikanischen Großforschers Weinberg. „Das Entstehen der Großforschung hat viele schwierige Probleme geschaffen: für die Naturwissenschaft selbst, für die Institutionen, an denen man Naturwissenschaft betreibt, sowie für die Beziehungen zwischen diesen Institutionen und der Gesellschaft, die sie unterhält. . . . An dieser Stelle möchte ich mich auf die Frage beschränken, wie die E n t stehung der Großforschung und das explosive Wachstum der Naturwissenschaft die Wissenschaft selbst affiziert. K a n n man beispielsweise ein GroßforschungsSyndrom tatsächlich identifizieren? Der Forschungsprofessor früherer Zeiten beschäftigte sich mit dem Gegenstand seiner Naturwissenschaft sowohl in der Forschung als auch in der Lehre. Heute muß er sich, und nicht durch seine Schuld, mit sehr viel mehr Dingen befassen. Um seine Forschung zu betreiben, muß er, selbst bei der Einzelforschung, ziemlich große Summen von R e gierungsgeldern handhaben. E r muß Begründungen für seine Anträge schreiben. E r muß bei Kommissionen mitwirken, die Empfehlungen geben, wer Unterstützung erhalten sollte und wer nicht. E r muß nach Washington fahren, entweder um irgendeinen Teil der Regierung zu beraten oder um die Beziehungen zu einem Beamten zu pflegen, der Forschungsverträge vergibt. Der forschende Professor muß sowohl Wissenschaftler als auch Manager sein. Um einen ziemlich offensichtlichen Punkt aufzugreifen: bis zu welchem Grad hat die Aufwendigkeit und das Ausmaß der Großforschung die Flexibilität der Naturwissenschaften verringert? Ein großer Forschungsreaktor oder ein Beschleuniger ist sehr aufwendig. Sein Betrieb beschäftigt eine ganze Reihe von Menschen und liefert gute Möglichkeiten für wissenschaftliche Veröffentlichungen. Bis zu welchem Grad hat die Naturwissenschaft darunter gelitten, daß Naturwissenschaftler verständlicherweise selbst dann zögern, ein sehr teures Gerät zu verschrotten, wenn der logische Zwang der wissenschaftlichen Entwicklung sie in Richtungen drängt, in denen für dieses spezielle Gerät keinerlei 139 Ygj dazu auch mein Buch „Studien zur Wissenschaft von den Gesellschaftswissenschaften". Berlin 1972, S. 65 ff.
Großforschung und
Kleinforschung
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Verwendung mehr besteht? Oder eine Variante dieser Frage: bis zu welchem Ausmaß wird die Arbeitsrichtung der Naturwissenschaft stärker als durch das Interesse und die Aussichten eines Arbeitsbereiches durch die Verfügbarkeit von Geld beeinflußt? Der Nachweis, daß die amerikanische Naturwissenschaft als ganzes darunter gelitten hat, daß ihre erfolgreichen Vertreter oft von diesem Strudel erfaßt wurden, oder daß sie zögerten, kostbare, aber unproduktiv gewordene Ausrüstungen abzustoßen, dürfte schwierig beizubringen sein. W e n n man nach d e r Zahl der Nobelpreise urteilt, die Amerika seit dem Krieg erhalten hat, u n d nach der allgemeinen Anerkennung, die der amerikanischen Grundlagenwissenschaft in der ganzen Welt entgegengebracht wird, m u ß m a n zu dem Ergebnis kommen, daß das Bild insgesamt ein durchaus gesundes ist. Und doch gibt es im Ausland Kritiker, beispielsweise Fred Hoyle, die behaupten, daß die straffe intellektuelle Zucht — notwendige Voraussetzung jeder Naturwissenschaft — sich gelockert habe." 1 4 0 Bei der Betrachtung dieser Frage vermischen sich bisweilen, so auch bei Weinberg, die Probleme der Großforschung mit der Problematik der Großinstitution. Das aber ist nicht gut, denn ein Großprojekt kann sehr wohl auch von mehreren kleineren Instituten in Großforschung durchgeführt werden, wobei dann natürlich das Großprojekt unter einheitlicher Leitung der Kleininstitute stehen muß. Darum sind auch die folgenden Ausführungen von Weinberg interessant: „Der große Mann — der einzelne Mensch, der nicht nur das, was getan werden kann, sondern auch das, was getan werden muß, erkennt — ist fast ebenso wichtig wie der großartige Gedanke; denn die wissenschaftliche Bürokratie ist außerordentlich schwerfällig. Die Neuorientierung eines großen wissenschaftlichen Bereichs um eine neue Aufgabe herum zu erzwingen, erfordert ein ungewöhnliches Maß an Energie, Geschick und Engagement. Ein energischer u n d zielstrebiger Mann — ein Rickover oder ein Szilard — macht oft eine solche Neuorientierung möglich, die ohne ihn fast aussichtslos wäre. Innerhalb eines jeden großen Laboratoriums gibt es interne Widerstände gegen das Aufgreifen neuer Probleme, sowie sie sich von dem, womit das Laboratorium bislang zu tun hatte, wesentlich unterscheiden. Die meisten Wissenschaftler ziehen es vor, bei dem zu bleiben, was sie schon immer getan haben. Verhältnismäßig wenige haben die intellektuelle Kraft u n d das nötige Selbstvertrauen, von sich aus das zu tun, was mir Fermi einmal von sich erzählte: alle fünf Jahre das Arbeitsgebiet wechseln." 141 140 141
A. M. Weinberg, a. a. 0., S. 114 ff. Ebendort, S. 225.
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Intensivierung
des
Wissenschaftsbetriebs
Der sowjetische Wissenschaftswissenschaftler Mikulinskij äußert sich so zu dieser Problematik: „Einer speziellen Erforschung bedarf auch die Frage der Vervollkommnung der inneren Struktur der Institute selbst. Gegenwärtig haben wir noch viele Institute mit starr fixierten Sektoren und Abteilungen. Die ,Verknöcherung' der Struktur vieler Institute und die organisatorischen Schwierigkeiten bei ihrer Umstellung führen oft dazu, daß bei der Notwendigkeit, neue Fragen zu lösen, anstelle einer Uberprüfung der traditionellen Thematik und der Umsetzung der Mitarbeiter von wenig aussichtsreichen Forschungen auf die Ausarbeitung aktueller Fragen neue Institute und Abteilungen geschaffen werden. Nicht zufällig sagt man, daß es leichter sei, ein Dutzend neue Laboratorien und Abteilungen zu schaffen, als eine existierende Abteilung zu schließen, deren Problematik sich erschöpft hat. Das führt zu unproduktiven Aufwendungen und vermindert die Effektivität der wissenschaftlichen Forschungen." 1 ' 12 Die relative Trägheit der Großinstitute gegenüber den kleineren hängt natürlich auch mit ihren Investitionen zusammen. Dabei handelt es sich um ein außerordentlich kompliziertes Problem. Große Investitionen an Apparaten sind vor allem auf naturwissenschaftlichem Gebiet für bestimmte Forschungszwecke notwendig. Sie binden große Mittel. Auf der anderen Seite ist der moralische Verschleiß sowohl der Apparaturen wie auch der Problematik groß. Soll man die Problematik aufgeben, weil die Apparatur überholt ist?, soll man nach der Lösung der Problematik zu einer verwandten, aber relativ unwichtigen übergehen, weil die Apparatur vorhanden ist? Wäre es möglich, gewisse Apparaturen zwischen verschiedenen Institutionen auszutauschen bzw. von einer an die andere abzugeben und so im Sozialismus die Vorteile des Eigentumssystems auszunutzen?
Wie viele ungelöste und vielfach noch gar nicht in längerer Ausführung aufgeworfene Fragen, wieviel Problemdurcheinander gibt es noch in der Wissenschaft von der Organisation der Wissenschaft! Hören wir zum Beispiel Dobrow über „Grundtendenzen der Entwicklung moderner wissenschaftlicher Kollektive und das Problem ihrer Organisation" : „Die oben dargelegten Entwicklungstendenzen der modernen Wissenschaft als einer unmittelbaren Produktivkraft der Gesellschaft und die von der Wissenschaftswissenschaft formulierten Funktionsgesetze der Wissenschaft, wie das Gesetz der beschleunigten Entwicklung der Wissenschaft, der System142
S. R. Mikulinskij,
a. a. 0., S. 18.
Großforschung
und
Kleinforschung
97
charakter der Wissenschaft und der Mechanismus der Wechselwirkungen der Wissenschaften, führen zu völlig neuen Entwicklungstendenzen moderner wissenschaftlicher Kollektive. Diese Tendenzen wollen wir kurz charakterisieren. 1. Die unverhältnismäßig schnelle Vergrößerung wissenschaftlicher Kollektive im Vergleich zur Zahl dieser Kollektive. 2. Die unverhältnismäßig schnelle Erhöhung der Gesamtmitgliederzahl der Kollektive im Vergleich zu deren qualitativer Entwicklung, d. h. der Erhöhung der Qualifikation der Mitglieder. 3. Die schnell wachsende Bedeutung einer wissenschaftlichen Organisation der Kollektive. 4. Die Entstehung eines neuen Typs von Wissenschaftlern — der Wissenschaftsorganisatoren — und ihre besondere Rolle in modernen wissenschaftlichen Kollektiven." über die beiden ersten Tendenzen sagt er: „Die beiden ersten Tendenzen gehen unmittelbar auf das Wirken des Gesetzes der beschleunigten Wissenschaftsentwicklung zurück. Zur Illustration führen wir einige Beispiele an. Von 1940 bis 1966 erhöhte sich die Zahl der wissenschaftlichen Einrichtungen in der U d S S R um das Zweieinhalbfache, die Anzahl der in ihnen tätigen Mitarbeiter vergrößerte sich um das Neunfache. Folglich wächst die personelle Stärke der wissenschaftlichen Kollektive in der U d S S R drei- bis viermal schneller als die Zahl dieser Kollektive. Dabei werden die Kommunikations- und Leitungsprobleme in den Kollektiven schneller komplizierter, als sich ihr Personalbestand vergrößert. Eben dadurch ist vor allem die schnell komplizierter werdende organisatorische Leitung solcher umfangreichen Kollektive bedingt. Die Folgen sind ein ständig wachsender Anteil unproduktiv aufgewendeter Arbeitszeit und Komplikationen bei der Lösung von Qualifizierungs- und Kaderfragen usw." 1 4 3 Hier werden unter Kollektiven offenbar alle wissenschaftlichen Institutionen verstanden, was wirklich nichts mit der Realität zu tun hat. Ein Institut für Geschichte mit 300 oder gar 600 Mitarbeitern heute ein Kollektiv nennen zu wollen, widerspricht allen unseren Erfahrungen. Es ist nichts anderes als ein Haufen von Historikern, von denen sicherlich einige zu wirklichen Kollektiven zusammengeschlossen sind. Einen anderen Begriff des Kollektivs verwandte der gleiche Wissenschaftler fast zur gleichen Zeit in einer anderen Schrift: „ E s existiert auch eine bestimmte Relation zwischen dem Zeitverlust eines hochqualifizierten Wissenschaftlers und der Gesamtzahl der Mitarbeiter, die ihm unterstellt sind, was einen großen Kraftaufwand für die Lösung admi143
G. M. Dobrow,
7 Kuczynski
Wissenschaftsorganisation u n d E f f e k t i v i t ä t , a. a. O., S . 13 f.
98
Intensivierung
des
Wissenschaftsbetriebs
nistrativer Fragen, Kontrolle, Erläuterung usw. bedingt. Die optimale Relation muß je nach der Spezifik der Institution und der von dem wissenschaftlichen Kollektiv bearbeiteten Problematik ermittelt werden. Im allgemeinen ist jedoch auf 10 bis 25 wissenschaftliche Mitarbeiter je ein direkter wissenschaftlicher Leiter ein ziemlich klar ausgeprägtes Optimum. Die obere Grenze bezieht sich auf die angewandten Wissenschaften. Zum Vergleich weisen wir darauf hin, daß nach internationalen Angaben die optimale ,kritische Größe' eines fruchtbar arbeitenden Kollektivs bei 15 bis 20 Mitarbeitern auf je einen Leiter eines wissenschaftlichen Themas liegt. Man ist der Auffassung, daß diese Kollektive, die weniger als die Hälfte aller Wissenschaftsressourcen (Kader, Geld usw.) verbrauchen, über 90 Prozent aller neuen wissenschaftlichen Ergebnisse in den Naturwissenschaften bringen. Man kann es fast als eine Regel ansehen, daß eine Gruppe aus 15 Personen bedeutend produktiver ist als 5 Gruppen zu je 3 Personen und in bezug auf die Ergebnisse höchstens um die Hälfte hinter den dreimal so zahlreichen Kollektiven (mit 40 bis 50 Personen) zurückbleibt." 144 So richtig hier, meiner Ansicht nach, der Begriff Kollektiv verwandt wird, so unsinnig erscheinen mir die Einzelangaben, ja das ganze Herangehen an die Problematik scheint mir falsch. Die Größe eines Kollektivs, für die es entgegen der Behauptung von Dobrow keine „internationalen Angaben" gibt und auch nicht geben sollte, hängt sowohl in den Naturwissenschaften wie in den Gesellschaftswissenschaften in allererster Linie von der bearbeiteten Thematik ab. Kollektive von drei Mitgliedern können, je nach der Thematik, weit effektiver sein als solche von 15 bis 20 Mitgliedern, oder auch noch nicht ein hundertstel so effektiv sein wie das größere Kollektiv. Selbstverständlich kann auch ein Kollektiv von 30 Personen zehnmal mehr leisten als ein Kollektiv von 15, wenn die Thematik so viele Mitarbeiter erfordert. Das einzige, was man heute allgemein sagen kann, ist, daß wir noch nicht in der Lage sind, sehr große Kollektive, also solche von 100 und mehr Personen (einschl. Hilfskräften), in der wissenschaftlichen Arbeit wissenschaftlich zu leiten, und daß es heute noch wesentlich leichter ist, ein Kollektiv von weniger als 30 Personen als ein größeres zu leiten. Wolkow ist in gewisser Weise noch weiter als Dobrow gegangen. Zunächst bemerkt er: „In unserer statistischen und ökonomischen Literatur ist leider keine Gliederung der Forschung nach Strukturgliedern zu finden. Einige Soziologen halten eine solche Gliederung sogar für schädlich, weil die Wissenschaft ein Ganzes ist. Es gebe keine ,kleine' und ,große', keine theoreti144
G. M. Dobrow, S. 49 f.
Aktuelle Probleme der Wissenschaftswissenschaft. Berlin 1970,
Großforschung
und
Kleinforschung
99
sehe und angewandte Wissenschaft. 145 Es ist tatsächlich unzweckmäßig, das eine dem anderen gegenüberzustellen, werden aber die quantitativen Parameter der Wechselbeziehungen zwischen den Strukturgliedern nicht berücksichtigt, so wird das unserer Wirtschaft und der Wissenschaft selbst nur Schaden bringen. Eine Strukturanalyse der Wissenschaft und eine konkrete Statistik, die die Glieder der Forschungstätigkeit berücksichtigt, würden die Effektivität der Wissenschaftsplanung erhöhen und die Herstellung harmonischer Proportionen in der Entwicklung der einzelnen Zweige sowie die Prognose begünstigen." Das sind sehr ernst zu nehmende Überlegungen. Und sicher wird man auch nach breitangelegten Untersuchungen zu gewissen Erfahrungswerten kommen, die, für einen wahrscheinlich relativ kurzen Zeitraum, allgemeinere Gültigkeit haben, wenn wir sie nach Wissenschafts- und Problemgebieten ordnen. Wolkow aber fährt in seinen Ausführungen gleich so fort 146 : „Ausgehend von den Erfahrungen hervorragender wissenschaftlicher Kollektive sowohl bei uns als auch im Ausland empfiehlt sich z. B. folgende Optimalstruktur für den Kaderbestand der untersten wissenschaftlichen Gruppe in verschiedenen Zweigen der wissenschaftlichen Forschungstätigkeit 147 :
Institute
leitende wissenschaftliche Mitarbeiter
^. Oberingenieure
Ingenieure
Ingenieure
Institute, die Grundlagenforschung betreiben
1
—
—
—
Institute, die angewandte Forschung betreiben
1
—
—
—
—
1
2—3
Institute, die experimentell-konstruktive Entwicklungen betreiben
6 — 10
Ganz abgesehen davon, daß Wolkow offenbar die Gesellschaftswissenschaften nicht als Wissenschaften anerkennt — oder möchte er in ihnen auch Ingenieure unterbringen? —, gibt es solche zu verallgemeinernden Erfahrungen nicht und 145 Siehe z. B. I. A. Maisei, Der Kommunismus und die Umwandlung der Wissenschaft in eine unmittelbare Produktivkraft. Moskau 1963, S. 55, russ. 146 G. N. Wolkow, a. a. 0 . , S. 272 f. 147 Siehe W. Sominski/M. Judelewitsch, Die Arbeit in der Sphäre der Wissenschaft und ihre Organisation. In: Die sozialistische Arbeit, 1966, Nr. 11, S. 88 (russ.).
7*
Intensivierung
100
Institute
übrige wissenschaftliche Mitarbeiter
Laboranten
des
Wissenschaftsbetriebs
Techniker, Zeichner, Arbeiter
Angestellte
Institute, die Grundlagenforschung betreiben
2-3
3-5
1
Institute, die angewandte Forschung betreiben
3-5
6-10
1
Institute, die experimentell-konstruktive Entwicklungen betreiben
18-30
2-3
kann sie auch nicht geben. Dazu ist auch die naturwissenschaftliche Forschung, von der allein er spricht, viel zu vielfältig. Das heißt natürlich nicht, daß konkrete Studien der Kaderstruktur von Instituten und Forschungsprojekten nicht die allergrößte Bedeutung haben — nur vor voreiligen und unmöglich weiten Verallgemeinerungen muß man sich hüten. Die große Bedeutung von Untersuchungen der jeweils besten Kaderstruktur betont zunächst in etwas weiterem Zusammenhang Mikulinskij: „Große und wichtige Probleme verbinden sich mit der Erforschung der sozialen und beruflichen Differenzierung der im Bereich der wissenschaftlich-technischen Tätigkeit beschäftigten Kader, der Wachstumsdynamik und der Relationen hinsichtlich der Anzahl der Wissenschaftler in den verschiedenen Zweigen der Wissenschaft als auch der notwendigen Proportionen zwischen den in wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen und unmittelbar in der Industrie tätigen Wissenschaftlern. Dazu gehört auch die Erforschung eines optimalen Verhältnisses zwischen den verschiedenen Kategorien wissenschaftlicher Mitarbeiter innerhalb der Forschungskollektive. Von der Lösung dieser Probleme hängt weitgehend unser Fortschritt nicht nur auf dem Gebiet der Wissenschaft, sondern auch die Gewährleistung des technischen Fortschritts und die Vervollkommnung der Produktion ab." Doch dann wird er ganz konkret: „Eine außerordentlich aktuelle und wenig erforschte Frage ist die Abhängigkeit der Effektivität der Forschungen von der Zahl der an ihnen beteiligten Personen. Klar ist lediglich, daß hier nicht immer eine direkte Abhängigkeit besteht. Wenn man außerdem berücksichtigt, daß die materiell-technische Ver-
Großforschung
und
Kleinforschung
101
sorgung und Ausstattung sowie die Aufwendungen für wissenschaftliche Forschungsarbeiten oft hinter der Zunahme der Zahl der Mitarbeiter zurückbleiben, dann wird deutlich, daß ein zu hohes Wachstumstempo der Mitarbeiterzahl nicht zur Verbesserung, sondern zur Verschlechterung des Ausrüstungsgrades und der Bedingungen der wissenschaftlichen Forschungsarbeit und damit zum Absinken der Effektivität führt. . . . Wie ist die optimale Relation zwischen Wissenschaftlern und Hilfspersonal in einem Wissenschaftlerkollektiv? Natürlich kann es hier, wie in allen Fragen der Arbeitsweise wissenschaftlicher Kollektive und der Tätigkeit in der Wissenschaft, keine Schablone geben. In Instituten unterschiedlichen Profils muß dieses Verhältnis verschieden sein. Bei einer Verletzung der richtigen Proportionen wenden jedoch hochqualifizierte Wissenschaftler einen bedeutenden Teil ihrer Zeit für technische Arbeiten auf. Wenn man berücksichtigt, daß die Ausbildung und die Zeit des Erwerbs von Erfahrungen einen erheblichen Teil des Lebens eines Wissenschaftlers einnehmen und die intensive schöpferische Tätigkeit in der Regel etwa 20 bis 25 Jahre dauert, so wird klar, wie unzulässig die Vergeudung dieses für die Gesellschaft wertvollsten Leistungsvermögens der Wissenschaft ist. Im Ergebnis dessen werden nicht nur umfangreiche Mittel unrationell ausgegeben, sondern es verlangsamt sich auch die Durchführung der wissenschaftlichen Forschungen selbst. Wenn ein hochqualifizierter Wissenschaftler nach minimalen Berechnungen im Durchschnitt täglich zwei Stunden für mechanische Arbeiten aufwendet, so ergibt das im Jahr 90 achtstündige Arbeitstage, d. h. drei Monate. Mit anderen Worten: Von den 20 bis 25 JaÜren, die einem Wissenschaftler für die intensive schöpferische Arbeit zur Verfügung stehen, geht ein Viertel dieser ohnehin geringen Zeit verloren. Und wieviel Zeit wird von ihm außerdem für alle Arten von Sitzungen und Beratungen, für den ,Kampf' um Material, Ausrüstung, Planstellen und für andere organisatorisch-administrative Belange aufgewendet?" 148 Wie überaus deutlich wird hier der enge Zusammenhang zwischen Kaderstruktur und Intensivierung des Wissenschaftsbetriebsl149 Wie überaus deutlich wird hier auch, wie weit wir noch mit einer gründlichen Untersuchung dieser Probleme — einem so wichtigen Teil der Organisationswissenschaft! — zurück sind. Und das gilt auch für die Frage: Großforschung und Kleinforschung, Großinstitut und Kleininstitut, Großprojekt und Kleinprojekt. 148
S. R. Mikulinskij, a. a. 0 . , S. 16 f. und 21 f. Wobei Robert Rompe zu bedenken gibt: „Ein Wissenschaftler kann gar nicht 8 Stunden lang hintereinander schöpferisch arbeiten, ohne seine Gesundheit zu ruinieren. Seine Tätigkeit muß er so organisieren, daß sie täglich in einigen Stunden schöpferischer Arbeit kulminiert." 149
102
Intensivierung
des
Wissenschaftsbetriebs
So offenbar es zum Beispiel ist, daß Kernforschung in Großinstituten als Großforschung betrieben werden muß, so wenig sicher können wir sein, daß ein Literaturinstitut ein Großinstitut sein muß, daß nicht mehrere Kleininstitute viel wirksamer arbeiten können. Die ganze Problematik der optimalen Betriebsgröße für wissenschaftliche Institute ist noch sehr wenig erforscht. Eines aber sollte man schon heute sagen: Kleininstitute prinzipiell als überholt und unbrauchbar zu betrachten, ist grundfalsch. Gegen eine solche Auffassung gibt es zu viele Gegenbeispiele — sowohl von versagenden Großinstituten wie von höchst effektiv arbeitenden Kleininstituten. Auch die Beziehungen von Großforschung und Institutsgröße sind noch völlig ungenügend untersucht, denn es gibt gar manche Großprojekte, die von einer Anzahl kleinerer Institute höchst effektiv gemeinsam durchgeführt werden können. Auch das Problem der Einpassung von Kleinforschung in Großinstitute ist kaum untersucht, während die Beziehungen von Grundlagen- und angewandter Forschung mit Recht weithin diskutiert werden und man in den sozialistischen Ländern auf dem Wege zu einer vernünftigen Lösung ist. — Es ist hier nicht unsere Aufgabe, eine Übersicht über den Stand der Wissenschaftsorganisation im einzelnen zu geben. Nur einige Probleme wurden aufgezeigt und dabei angedeutet, wie weit wir, nach der Ansicht bedeutender Wissenschaftswissenschaftler, noch von ihrer Lösung entfernt sind. Die Klassiker des Marxismus-Leninismus haben der Frage der Organisation der Arbeiter im Klassenkampf größte Aufmerksamkeit geschenkt — und als die Entwicklung eine neue Organisationsform der Partei erforderte, hat Lenin sich rücksichtslos im Interesse der größeren Effektivität und Intensivierung des Klassenkampfes für sie eingesetzt. Von entsprechender Bedeutung für die Wissenschaftsentwicklung ist heute die Organisationsfrage als Mittel der Steigerung der Effektivität und Intensivierung der Wissenschaft. Ohne eine solche Steigerung der Effektivität und Intensivierung der wissenschaftlichen Aktivität werden sich die Tendenzen zur „Verdünnung" der Qualität und Leistung der Wissenschaft unweigerlich auf breiter Ebene durchsetzen. Und da das der Gesetzmäßigkeit des Sozialismus antagonistisch widerspricht, ist die Beseitigung zahlreicher organisatorischer Mängel, die bekannt sind, und die Reorganisation des Wissenschaftsbetriebs auf Grund tiefgehender und bestimmt längere Zeit in Anspruch nehmender Untersuchungen, mit zahlreichen, sorgfältig zu beobachtenden Experimenten, eine unerläßliche Forderung der sozialistischen Gesellschaft an die Wissenschaftler und die Wissenschaftspolitiker in Partei und Staat.
KAPITEL
IV
Das „Goldene Zeitalter"
Ursprünglich sah man das Goldene Zeitalter in der Vergangenheit. Sowohl die Juden mit dem Paradies (und sie waren die Nachfolger anderer Völker mit ähnlichen Ideologien) als auch die Griechen und Römer waren der Ansicht, daß die beste Zeit der Menschheit hinter ihr liegt. Die Griechen waren wohl die ersten, die eine Theorie der Degeneration und des Verfalls der Menschheit als Geschichtsphilosophie entwickelten. Für sie ebenso wie für die Römer gab es ein Gesetz des allmählichen „moralischen Verschleißes" der Menschheit in der Geschichte. Damnosa quid non imminuit dies . . . Die Zeit entwertet die Welt sagt Horaz. Die christliche Ideologie hat sogar zwei Goldene Zeitalter. Eines am Anfang der Geschichte und ein zweites am Ende der Geschichte. Dazwischen liegt das entwicklungslose Tal des Jammers, aus dem die guten Menschen in den Himmel kommen. Eine Geschichtsphilosophie im eigentlichen Sinne konnte die christliche Ideologie, die die Feudalzeit beherrschte, nicht entwickeln.151 Die Idee des Fortschritts in der Geschichte der Menschheit als allgemeinere Ideologie ist neu. 152 Als erster bedeutender Philosoph des Fortschritts in der Frühzeit der bürgerlichen Entwicklung ist wohl Jean Bodin zu nennen — mit 151 Diese Feststellungen über die Antike und die Feudalzeit sind nur allgemein zu nehmen. Sie schließen nicht aus, daß einzelne Denker sowohl in der Antike — wie zeitweise Piaton — als auch in der Feudalzeit — zum Beispiel Augustinus — gewisse Fortschritte in der Geschichte sehen oder erhoffen. Vor allem bedeuten unsere Bemerkungen über das Christentum nicht, daß es unter dem Kapitalismus nicht auch zahlreiche theologische Denker gab, die an einen Fortschritt glaubten — wie etwa Jacques Maritain, der die Geschichte als „Fortschritt des Reiches der Gnade" sieht. 152 Yg[ z u r Idee J e s Fortschritts in der Geschichte zum Beispiel J. Delvaille, Essai sur l'histoire de l'idée de progrès jusqu'à la fin du XVIII e siècle. Paris 1910, und J. B. Bury, The idea of progress. London 1924.
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seinem Buch Methodus ad facilem historiarum cognitionem (Paris 1566). Er teilt die Geschichte in drei Perioden, von denen die letzte durch Kriege und Erfindungen charakterisiert ist. Dem Franzosen Bodin folgt als nächster großer Vorkämpfer der Fortschrittsidee Francis Bacon in England, für den Wissenschaft und Erfindungen — und jetzt schon sehr zweckbestimmt: zur Verbesserung des Lebens der Menschen — Kennzeichen und Motor des Fortschritts sind. Wie früh schon, am Ende der Renaissance, wird die Erfindung, basierend auf wissenschaftlicher Erkenntnis, zum Charakteristikum des Fortschritts! Prometheus raubte nur den Göttern das Feuer, jetzt machen die Menschen selbst ihre großen Erfindungen zur Förderung ihrer Wohlfahrt. Dabei handelt es sich um ein siegreiches Ringen mit der Natur — während Prometheus den Göttern erlag. Ja, dem nächsten großen Philosophen des Fortschritts, Descartes, wird von einem Schüler der Ehrentitel „Der große Sekretär der Natur" verliehen 153 , und der Fortschritt basiert bei ihm auf der Anwendung des Verstandes auf die von Gesetzen bestimmte Natur. Als letzter unter den frühen großen Vertretern der Fortschrittsidee ist Leibniz zu erwähnen, den Diderot so schön den „Vater des Optimismus" nennt. Ja, vielleicht ist das überhaupt das entscheidende Merkmal der neuen Geschichtsphilosophie des Fortschritts, daß sie von einem großartigen Optimismus für die Menschheit beseelt ist, voller Stolz auf das, was die Menschen leisten können. Erinnern wir uns, daß der erste dieser vier Denker, denen allen, wie wir heute sagen würden, Wissenschaft und Technik Triebkraft und Maßstab des Fortschritts sind, als Kennzeichen der neuen Zeit auch Kriege nannte, dann ist es füglich, gewissermaßen als Vignette zu dem gewaltigen Gedankenwerk dieser vier, die schöne Idee des Abbé de Saint-Pierre vom Paix Perpétuelle, vom ewigen Frieden als Ziel des menschlichen Fortschritts anzufügen. Mit der Schrift des Abbé über den ewigen Frieden (1713) sind wir in das 18. Jahrhundert getreten, das den Begriff des Fortschritts auch auf die sozialen Phänomene ausdehnen wird. Vor allem die großen Politökonomen Frankreichs, die Physiokraten Quesnay, Mercier de la Rivière und Turgot ragen hier hervor sowie der Freund und Biograph Turgots, der Philosoph Condorcet. Gleichzeitig mit den Physiokraten in Frankreich wirkt in England Adam Smith, dessen Wealth of Nations die Geschichte der Menschheit als Fortschritt auf dem Wege zum materiellen Wohlstand und zum allgemeinen Glück durch diesen Wohlstand sieht. Wie gemäß erscheint es auch, daß die Witwe Condorcets die dem „Wohlstand der Nationen" vorangehende Schrift von Smith, die „Theorie der moralischen Gefühle", ins Französische übersetzt hat. 153
J. Glanvill, The vanity of dogmatising. London 1661.
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Und dann folgt die wunderbare Blüte des Fortschrittsgedankens im 19. Jahrhundert : mit Owen u n d Fourier und Saint Simon, denen der Fortschritt in eine Art von Sozialismus f ü h r t — mit Fichte und Hegel, die in der Entwicklung der Freiheit des Menschen das Ziel des historischen Fortschritts sehen — mit Guizot, Mignet und Michelet, Thiers und Thierry, die den Klassenkampf als Triebkraft des Fortschritts entdecken — mit Comte, der nach spezifischen Gesetzen des Fortschritts sucht — mit Darwin, der solche Gesetze in der Natur findet, und Spencer, der die Darwinsche Theorie der Evolution auf die Gesellschaft anwenden möchte — und schließlich mit dem Werk von Marx u n d Engels, das die Gesetze des Fortschritts bis zu dem Moment, wo jedem nach seinen Bedürfnissen gegeben wird, entdeckt und analysiert. Fortschritt, das ist Macht über die Natur durch Wissen — Fortschritt, das ist auch, auf der Basis von Macht über die Natur durch Wissenschaft, steigende materielle (ökonomische) Wohlfahrt — Fortschritt erfordert auch die entsprechende gesellschaftliche Organisation, um alles dies zu sichern bzw. zu optimieren: die zunehmende Macht über die Natur durch Wissenschaft u n d die steigende materielle Wohlfahrt, wie umgekehrt auch gerade diese Entwicklungen zu entsprechenden und stets fortgeschritteneren gesellschaftlichen Organisationen führen.
Gerade der Fortschritt der Wissenschaft in der Meisterung der Natur u n d das Versagen in der „Meisterung der Gesellschaft" in den imperialistischen Ländern in Verbindung mit der allgemeinen Krise der expansiven Entwicklung der Wissenschaft, die wir im ersten Teil dieses Buches geschildert haben, haben n u n in den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts eine wachsende Zahl von bürgerlichen Wissenschaftlern zu der Frage veranlaßt: kann ein Fortschritt der Wissenschaft andauern? Und da sie Fortschritt der Wissenschaft u n d gesellschaftlichen Fortschritt allgemein identifizieren, so haben sie die Frage des weiteren Fortschritts überhaupt in Frage gestellt. Eine fortschrittlose Gesellschaft aber nennen sie heute bisweilen das Goldene Zeitalter . . . vielleicht in Anlehnung an das Goldene Zeitalter, das die J u d e n u n d Christen im Paradies und auch die Griechen in fernster Vergangenheit sahen — ein Zeitalter, in dem es keine Entwicklung gab, da sie nicht notwendig war. „Stirbt die Wissenschaft den Wärmetod?" hieß ein Artikel in „Die W e l t " vom 7. August 1971.
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In seiner Abschiedsadresse als Präsident der American Association for the Advancement of Science am 28. Dezember 1970154 führte Bentley Glass aus: „Wenn man davon ausgeht, daß das Universum endlich ist und daß seine Gesetze universal gelten und begrenzt an Zahl sind — oder selbst wenn das Universum unendlich ist, jedoch seine Natur und Gesetze universal —, dann ergibt sich mit jedem neu entdeckten und erforschten neuen Phänomen, mit jedem neuen bestätigten Gesetz eine Annäherung an die endlichen Grenzen der wissenschaftlichen Erkenntnis." Ähnlich argumentiert Kenneth Boulding: „Wenn wir uns das Wachstum der Wissenschaft als einen einheitlichen Prozeß vorstellen, was es in einem gewissen Sinn ja auch ist, dann ist offenbar, daß es der gleichen logistischen Kurve folgen muß, die allen Wachstumsprozessen in dieser Welt eigentümlich ist, einfach weil sie auf letztlich beschränktem Gebiet vor sich gehen." 155 Gunther S. Stent analysiert als Vorspann zu ähnlichen Gedankengängen den Weg seiner eigenen Wissenschaft, der Genetik, und zeigt, wie sie heute das Stadium des „abnehmenden Ertrages" erreicht hat, da die fundamentalen Probleme gelöst seien.156 Andere Gedankengänge, die zu ähnlichen Resultaten führen, gehen davon aus, daß Fortschritt identisch mit wachsender Macht sei und daß das Machtstreben auch die Ursache des Fortschritts sei.157 Francis Bacon formulierte „Wissen ist Macht" und bezog sich dabei vor allem auf die Macht über die Natur. Als Wilhelm Liebknecht diese Formulierung den deutschen Arbeitern zurief, dachte er vor allem auch an die Macht über die Gesellschaft. Andere vereinten beide Aspekte. Etwa so: „Die industrielle Demokratie hat die Wissenschaft zur Grundlage der nationalen Macht und der Entwicklung der Pro154
„Sciences: Endless Horizons or Golden Age?" abgedruckt in „Science", Vol. 171, Number 3966, 8 January 1971, Washington D. C., S. 23 ff. 155 K. Boulding, The diminishing returns of science. „New Scientist and Science Journal", London, March 25, 1971. 156 Ygj d i e ersten Kapitel seines Buches The Coming of the golden age. A view of the end of progress. New York 1969. Robert Rompe bemerkt zu dem Problem der Genetik: „Für Disziplinen kann dasselbe gelten wie für Probleme, sie werden nach einiger Zeit ,erledigt', ihr ursprünglicher Fragenvorrat erschöpft sich oder verliert an gesellschaftlicher Bedeutung, und sie müssen eine inhaltliche Veränderung durchmachen oder in den Hintergrund treten. In den naturwissenschaftlichen Disziplinen könnte man als Beispiel an die Geographie denken, in der Physik als Teilgebiet die Akustik." Das heißt, der Vorspann von Stent kann richtig sein, aber die Schlußfolgerung auf die Wissenschaft allgemein ist falsch. 157
Vgl. dazu vor allem auch C. Becker, Progress and power, Stanford, 1936.
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duktivität gemacht. Die Wissenschaft hat heute den Platz, den einst geographische Entdeckungen, Imperium und koloniale Ausbeutung hatten, eingenommen." 158 Und dann wird geschlossen: Der Mensch hat heute alle Macht errungen, die man nur erringen kann, einschließlich der Folge allgemeiner materieller Wohlfahrt, so daß eine weitere Entwicklung der Wissenschaft überflüssig wird. Schon 1929 (vor der Wirtschaftskrise!) schrieb in diesem Sinne José Ortega y Gasset: „Welchen Aspekt bietet das Leben den Menschenmengen, die das 19. Jahrhundert in immer steigender Fülle erzeugte? Zunächst den einer durchgängigen materiellen Unbeschwertheit. Niemals hat der Durchschnittsmensch sein ökonomisches Problem in solcher Muße lösen können. Während die großen Vermögen verhältnismäßig zurückgingen, öffnete sich der wirtschaftliche Horizont für den Durchschnittsmenschen aller sozialen Klassen immer freier. Immer neue Luxusgewohnheiten nahm er in seinen Lebensstandard auf; immer sicherer und von fremder Willkür unabhängiger wurde seine Stellung. Was man vorher als eine Gnade des Schicksals angesehen hätte, die in demütiger Dankbarkeit hingenommen wurde, betrachtete man jetzt als ein Recht, für das man nicht dankt, das man fordert. Dieser wirtschaftlichen gesellt sich die physische Sicherheit und Mühelosigkeit: der Komfort und die öffentliche Ordnung. Das Leben läuft auf glatten Schienen, Erschütterungen und Gefahren sind unwahrscheinlich. Bei einer so freien, unbeengten Lebenslage mußte notwendig in die tiefsten Schichten jener Durchschnittsseelen ein Lebensgefühl einsickern, das sich mit einer anmutigen und treffenden Wendung unseres alten Volkes ausdrücken ließe: ancha es Castilla, groß ist Kastilien. In all diesen elementaren und entscheidenden Ordnungen lag das Leben völlig hindernislos vor dem neuen Menschen. Die ganze Tragweite dieser Tatsache wird klar, wenn man bedenkt, daß eine solche Lebensfreiheit dem gemeinen Mann vergangener Epochen vollkommen abging. Ihm war im Gegenteil das Leben — wirtschaftlich wie physisch — ein drückendes Schicksal. Er erlebte es von Geburt an als eine Kette von Hemmungen, die hingenommen werden mußten ; es gab keine andere Möglichkeit, als sich ihnen zu beugen, sich in der Enge, die sie ließen, einzurichten. Aber noch klarer wird der Gegensatz, wenn wir uns nach der materiellen nun der bürgerlichen und moralischen Sphäre zuwenden. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gibt es für den Durchschnittsmenschen keine sozialen Schranken. Das heißt, auch in den Domänen des öffentlichen Lebens bewegt er sich ohne Fesseln und Beschränkungen, nichts zwingt ihn, sich zu bescheiden; auch 158
J. J. Schwab, The teaching of science as enquiry. Cambridge 1962, S. 18.
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hier ist ,Kastilien groß'. Es gibt weder ,Stände' noch ,Klassen', es gibt keine rechtlich Privilegierten. Der Durchschnittsmensch weiß, daß vor dem Gesetz alle Menschen gleich sind. Niemals in der ganzen Geschichte war der Mensch in eine Umwelt oder vitale Umgebung hineingestellt, welche der heutigen auch nur entfernt glich. Es ist in der Tat eine radikale Neuerung, die das 19. Jahrhundert im Schicksal der Menschheit heraufgeführt hat; in moralischer und sozialer Hinsicht hat es einen neuen Lebenshintergrund für das menschliche Dasein geschaffen. Drei Prinzipien machten die neue Welt möglich: die liberale Demokratie, die experimentelle Naturwissenschaft und der Industrialismus. Die beiden letzten lassen rsich zu einem zusammenfassen, der Technik. Keines dieser Prinzipien wurde vom 19. Jahrhundert erfunden, sie stammen aus den beiden vorhergehenden Jahrhunderten. Dem 19. kommt nicht der Ruhm ihrer Erfindung, wohl aber der ihrer Durchführung zu." 159 Wir haben Ortega y Gasset so ausführlich zitiert, weil wir die Zeit, die diesen Ausführungen folgte, so genau kennen. Waren seine Bemerkungen schon 1929 absurd, so wurden sie in den folgenden Jahren von der Wirklichkeit als verbrecherischer Unsinn charakterisiert. Das aber hindert Stent nicht, ihn 40 Jahre später als Beweis für die Uberflüssigkeit der Entwicklung der Wissenschaft zu wiederholen: „Da aber das Streben nach Macht über die feindliche Natur seinem Ziel nahekommt, da der technische Fortschritt, den die Anwendung der wissenschaftlichen Forschung ermöglichte, alle Bedrohung der menschlichen Existenz durch Hunger, Kälte und Krankheit zunichte macht, scheint weitere wissenschaftliche Forschung an einen Punkt gelangt zu sein, wo sie einen immer mehr abnehmenden Ertrag liefert. So erscheint es also möglich, daß ein Schwinden des gegenwärtig großen gesellschaftlichen Interesses an der Unterstützung der Wissenschaften eintreten könnte." 160 Der „faustische Mensch" in seinem Streben nach Wissen und Macht hat so viel Erfolg gehabt, daß er ökonomische und manch andere Sicherheit erreicht hat, also weiterer Fortschritt nicht mehr nötig i s t . . . 1 6 i 159
J. Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen. Stuttgart 1947, S. 35 f. G. S. Stent, a. a. 0 . , S. 110 f. 161 Vgl. ebendort, S. 87. Robert Rompe bemerkt dazu: „Es ist unverständlich, wie man von einer weitreichenden Beherrschung der Natur sprechen kann, wenn z. B. in der hochindustrialisierten DDR 3 Mißernten mit sehr unangenehmen Auswirkungen hintereinander passieren können. Wenn in der Welt jährlich über eine Million Menschen durch Tornados und Sturmfluten zugrunde gehen, wenn Erdbeben weite Landstriche verwüsten. Richtig ist zu sagen, daß die Menschen in den Gebieten, wo es derartige Katastrophen nicht gibt, aber auch in den letzten Jahrtausenden keine gegeben hat, 160
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Dazu kommt nach Ansicht dieser Gesellschaftsphilosophen ein weiterer Faktor, der weiteren Fortschritt schon fast unmöglich macht. Die Leistungen des 19. und 20. Jahrhunderts waren nur möglich durch immer stärkere Organisation des gesellschaftlichen Lebens, einschließlich der Wissenschaft. Vor das Kapitel seines Buches „Die größte Gefahr der Staat" hat, keineswegs zufällig, Ortega y Gasset ein Kapitel gesetzt, das den Titel „Die Barbarei des Spezialistentums" hat, in dem er auseinandersetzt, daß die Organisation des Wissenschaftsbetriebs in lauter Spezialwissenschaften mit Fachidioten als ihren Trägern zum Ende der Wissenschaften führt: „Nun wohl, es erweist sich, daß der heutige Wissenschaftler das Urbild des Massenmenschen ist. Und nicht zufällig, nicht durch persönliche Mängel jedes einzelnen Exemplars, sondern weil die Wissenschaft selbst, die Wurzel der Zivilisation, ihn unentrinnbar zum Massenmenschen, das heißt zum Primitiven, zu einem modernen Barbaren m a c h t . . . Es wäre interessant und nützlicher, als es auf den ersten Blick scheint, eine Geschichte der physikalischen und biologischen Wissenschaften unter dem Gesichtspunkt der wachsenden Spezialisierung in der Arbeit der Forscher zu schreiben. Sie würde zeigen, wie sich der Wissenschaftler von einer Generation zur anderen immer mehr beschränkt, auf ein stets engeres geistiges Betätigungsfeld festgelegt hat. Aber was eine solche Geschichte uns vor allem lehren könnte, wäre nicht dies, sondern das Inverse: wie von einer Generation zur anderen der wissenschaftliche Mensch, weil er seinen Arbeitskreis zusammenziehen mußte, fortschreitend die Fühlung mit den übrigen Teilen der Wissenschaft, mit einer deutenden Durchdringung des ganzen Universums, verlor, die doch allein den Namen europäischer Wissenschaft, Kultur, Zivilisation verdient . . . Es sind Leute, die von allem, was man wissen muß, um ein verständiger Mensch zu sein, nur eine bestimmte Wissenschaft und auch von dieser nur den kleinen Teil gut kennen, in dem sie selbst gearbeitet haben. Sie proklamieren sich abgewöhnt haben, den Kampf mit den Naturgewalten, mit ganz wenigen Ausnahmen wie etwa der Feuerbekämpfung, noch ernst zu nehmen. Wenn wir aber diesen engen Standpunkt der privilegierten Geographie aufgeben, dann müssen wir den Kampf mit der Natur als ein echtes Problem anerkennen, wozu auch neuerdings die künstlichen Katastrophen aus der Entwicklung der Technik hinzugerechnet werden müssen." Audi könnte man noch hinzufügen, wie langsam das Alter des Menschen verlängert wird und wie schwer noch der Kampf gegen das Abnehmen der geistigen und körperlichen Kräfte des alten Menschen ist. Auf der anderen Seite darf man nicht vergessen, daß der Fortschritt in der Technik einen großen Sieg auf dem Wege zur Meisterung der Natur darstellt. S Kuczynski
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ihre Unberührtheit von allem, was außerhalb dieses schmalen, von ihnen speziell bestellten Feldes liegt, als Tugend und nennen das Interesse f ü r die Gesamtheit des Wissens Dilettantismus . . . Eine ganze Anzahl von Untersuchungen sind sehr wohl durchführbar, wenn die Wissenschaft in kleine Parzellen eingeteilt wird und der Forscher sich in einer davon ansiedelt und u m alle anderen nicht kümmert. Die Festigkeit und Exaktheit der Methoden gestattet diese vorübergehende praktische Zerstückelung des Stoffes. Man arbeitet mit diesen Methoden wie mit einer Maschine und braucht, um zu einer Fülle von Ergebnissen zu gelangen, nicht einmal deutliche Vorstellungen von ihrem Sinn und ihren Grundlagen zu haben. So fördert der Durchschnittsgelehrte den Fortschritt der Wissenschaft, eingesperrt in seiner Laboratoriumszelle wie eine Biene in der W a b e ihres Stocks oder wie der Gaul im Laufkreis des Göpels . . . Und das schlimmste ist, daß mit diesen Triebpferden des wissenschaftlichen Göpels nicht einmal der innere Fortgang der Wissenschaft gesichert ist. Denn sie hat von Zeit zu Zeit als organische Regulierung ihres eigenen Wachstums eine Neufundierung nötig, und das verlangt, wie ich dargelegt habe, einen Willen zur Synthese, die immer schwieriger wird, da sie sich auf immer ausgedehntere Gebiete des Gesamtwissens erstreckt . . . Aber wenn der Fachgelehrte nichts vom inneren Kräftehaushalt der Wissenschaften weiß, die er betreibt, so ist er noch viel weniger über die historischen Bedingungen ihrer Fortdauer, das heißt darüber orientiert, welches die Verfassung der Gemeinschaft u n d des Menschenherzens sein muß, damit es weiterhin Forscher geben kann. Das Nachlassen der wissenschaftlichen Neigungen, das sich neuerdings zeigt — ich wies bereits darauf hin —, ist ein beunruhigendes Zeichen für jeden, der eine klare Vorstellung von der Zivilisation hat, eine Vorstellung, die dem typischen ,Gelehrten', dem Gipfel unserer Zivilisation, abzugehen pflegt." 162 Etwa zur gleichen Zeit wie Ortega y Gasset schrieb Aldous Huxley seine Brave New World (1931), der er 1958 die Brave New World Revisited folgen ließ. Bei Huxley spielt die Organisation eine allgemein den Fortschritt hindernde Rolle, da sie zur Uberorganisation geworden. Gleich zu Beginn seines zweiten Buches erinnert er daran, wie er 1931 f ü r eine viel spätere Zukunft vorausgesagt hatte: „Die vollständig organisierte Gesellschaft, das wissenschaftliche Kastensystem, die Abschaffung des freien Willens durch methodische Manipulierung" 1 6 3 usw. — all das erwartet uns entgegen seiner früheren Prognose nach dem zweiten Buch schon in der allernächsten Zukunft. Bereits 162 163
J. Ortega y Gasset, a. a. 0., S. 72 ff. A. Huxley, a. a. 0., New York 1958, S. 3.
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ist folgendes geschehen: „ W ä h r e n d des letzten J a h r h u n d e r t s sind die aufeinanderfolgenden Fortschritte in der Technologie von entsprechenden Fortschritten in der Organisation begleitet gewesen. Komplizierte Maschinerie m u ß t e in komplizierten sozialen Arrangements ihr Gegenstück finden, sozialen Arrangements, die so reibungslos u n d wirksam wie die n e u e n Produktionsinstrumente arbeiten sollten. U m in diese Organisationen zu passen, m u ß t e n die Individuen sich entindividualisieren, m u ß t e n sie ihre ursprüngliche Verschiedenartigkeit aufgeben u n d sich einem S t a n d a r d m u s t e r anpassen, m u ß t e n sie sich mit aller K r a f t b e m ü h e n , Automaten zu werden." 1 6 4 Wieder geht es mit d e m „faustischen Menschen" u n d seinem Streben nach Fortschritt zu E n d e , diesmal weil die Organisation ihn umbringt. In ähnlicher Richtung argumentiert Roderick Seidenberg. „Perfekte Organisation ist n u r auf der Basis totaler Organisation möglich" 1 6 5 , stellt er fest, u n d ebenso d a ß „die ansteigende Flut sozialer, politischer u n d wirtschaftlicher Organisation in der m o d e r n e n Welt in direkter Beziehung steht zur E x p a n s i o n u n d z u n e h m e n d wirksameren Aktivität unserer Maschinen-Technologie" 1 6 6 , woraus sich d a n n , wie bei H u x l e y , ergibt, d a ß „das I n d i v i d u u m den Status eines Atoms der sozialen Masse i m Prozeß fortschreitender Kollektivierung der Gesellschaft" 1 6 7 erhält. U n d noch e i n m a l : es ist mit d e m „faustischen Menschen" zu Ende. Die neue Gesellschaft, wie sie von Stent u n d a n d e r e n seiner M e i n u n g gefaßt wird, beschreibt Glass 1 6 8 als „das Zeitalter vollendeter E r k e n n t n i s , seitiger Angewandtheit dieser E r k e n n t n i s sowie sozialer Stagnation u n d turiertheit" — im G r u n d e die alte Vorstellung des „ G o l d e n e n Zeitalter", Paradieses auf unendlich hoher technischer Stufenleiter.
aufallSades
Dieser Auffassung stellt Glass die entgegengesetzte v o n V a n n e v a r Bush, d e m Cheforganisator des „ U n t e r n e h m e n s A t o m b o m b e " im zweiten Weltkrieg, gegenüber, der seine S t u d i e n s a m m l u n g zu P r o b l e m e n der Wissenschaftsentwicklung Endless Horizons 1 6 9 nannte, u m d a n n aber zu d e m Schluß zu k o m m e n , d a ß auch Bush im G r u n d e nicht m e h r sagen wollte, als d a ß auf wissenschaftlichem Gebiet noch viel zu t u n wäre. 104 Ebendort, S. 28 f. — Robert Rompe macht mit Recht darauf aufmerksam, daß beide Bücher von Huxley viele andere Probleme behandeln, die sehr ernst genommen werden müssen. 165 R. Seidenberg, Anatomy of the future. Chapel Hill 1961, S. 56. 166 Ebendort, S. 48. 167 Ebendort, S. 57. 168 B. Glass, a. a. 0., S. 23. 169 Washington D. C. 1946.
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Bedeutungsvoll in diesem Zusammenhang ist auch, daß für manche Denker das „Goldene Zeitalter" nicht nur ein Ende der wissenschaftlichen und materiell-ökonomischen und auch sozialen, sondern auch der kulturellen Entwicklung bringt. 170 Der liberale Bürger Ortega y Gasset überschreibt ein Kapitel seines Buches „Die Epoche der ,zufriedenen jungen Herren' ", wobei er unter „jungen Herren" jedoch nicht nur die Söhne der Bourgeoisie versteht: „Es sollte dies nur der naiven Annahme entgegengehalten werden, daß der Überfluß der Mittel eine Begünstigung des Lebens bedeutet. Eine allzugut ausgestattete Welt bringt zwangsläufig jene schweren Deformationen und fehlerhaften menschlichen Typen hervor, die sich unter der allgemeinen Kategorie des ,Erben' vereinigen lassen; der ,Aristokrat' ist nur ein Spezialfall davon, ein anderer ist das verwöhnte Kind, ein anderer, weit umfassenderer und grundsätzlicher in seiner Bedeutung, der Massenmensch unserer Zeit." 171 Alles ist im Goldenen Zeitalter erreicht — dank der Wissenschaft, der Technik und der ihnen entsprechenden Organisation. Der Fortschritt ist zu Ende, der Mensch hat alle Macht über die Natur und Gesellschaft, über die er nur verfügen kann. Der Mensch lebt in Wohlstand und Wohlbehagen, aber ohne Triebkraft. Vom Standpunkt des Menschen der Vergangenheit ist er gewissermaßen in seinen Trieben und Bestrebungen gestorben. Er vegetiert auf höchstem Niveau.
170 ygi d a z u sowohl Stent, ideas. Chicago 1967. 171
a. a. 0., wie auch L. B. Meyer,
J. Ortega y Gasset, a. a. 0., S. 65 f.
Music, the arts and
KAPITEL
V
„Dämon Wissenschaft"
Vielleicht könnte man dieses Kapitel bürgerlicher Irrwege auch überschreiben „Wissen ist Ohnmacht", Ohnmacht zur Entwicklung und Entfaltung des Menschen. Ohnmacht — der italienische Soziologe Luciano Gallino erklärte auf dem 13. Pugwash Symposium über Science and World Affairs im April 1971 in Frascati: „Die Unzufriedenheit in der technologischen Zivilisation zeigt sich zuerst und vor allem in einem fast allgemeinen Gefühl der Ohnmacht." 172 Der bedeutende französische Wirtschaftshistoriker und verzweifelte Philosoph Fourastie bemerkt in seinem Lettre ouverte ä quatre milliards d'hommes: „Wenn man unsere Epoche mit den anderen, von denen die Geschichte uns Kenntnis gibt, vergleicht, dann wird man unsere Epoche auf allen Gebieten mit Ausnahme von denen, die mit der experimentellen Wissenschaft verbunden sind, unterlegen oder in Stagnation finden. . . . Es handelt sich um einen materiellen Triumph und: nicht nur um einen geistigen Mißerfolg, vielmehr um eine Katastrophe des Geistes." 173 Fourastie's Einschätzung wird in verblüffender Weise ergänzt in den einführenden Bemerkungen von Eckhart Heimendahl zu seinem Vortrag über „Wissenschaft und Gesellschaft im technischen Zeitalter" auf den „Salzburger Humanismusgesprächen"174: „Vor einigen Jahren erschien in einer amerikanischen Zeitung, der Washington Post, eine Karikatur des Menschen unserer Zeit: Das Bild zeigte einen grobschlächtigen, mit einem großen, steinzeitlich anmutenden Knüppel bewaffneten Mann, dessen kühle Intelligenz ausstrahlender Kopf Antennen trug. Die Karikatur dieses ,Menschenbildes' demonstriert jene Bewußtseinsspaltung, die den in seiner rationalen Intelligenz hochgezüchteten Gehirnmenschen unserer wissenschaftlichen Zivilisation auszeichPaper on „Rationality and irrationality of technology in advanced industrial societies", a. a. 0., S. 1. 173 J. Fourastie, a. a. 0 . , Paris 1970, S. 14 f. 174 Unter dem Titel „Die erschreckende Zivilisation" hg. von Oskar Schatz, Wien, Frankfurt, Zürich 1970. 172
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„Dämon
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net, einen Menschentyp, der in seiner psychophysischen Existenz auf einem niedrigen, um nicht zu sagen, primitiven Niveau stehengeblieben oder in kulturlose Barbarei zurückgefallen ist. Dieses Bild offenbart in seiner grellen Überzeichnung eine erschreckende Situation, die gerade viele derjenigen zur Resignation führt, die sich des absurden Konfliktes bewußt sind, aber die Hoffnung darauf schwinden sehen, daß die Menschheit dem Geschick dieser Aphorie zu entrinnen vermag." 175 Wie traurig und beklommen äußert sich auch der große humane Wissenschaftler Max Born in ähnlicher Richtung: „Trotz meiner Liebe zur wissenschaftlichen Arbeit war das Resultat niederdrückend... Ich bin der Ansicht, daß der Versuch, den die Natur auf dieser Erde gemacht hat, ein ,denkendes Tier' zu erzeugen, fehlgeschlagen sein mag. Es ist nicht nur die beträchtliche und ständig anwachsende Wahrscheinlichkeit, daß ein nuklearer Krieg ausbrechen und alles Leben auf Erden zerstören kann. Auch wenn diese Katastrophe vermieden wird, kann ich nur eine dunkle Zukunft für die Menschheit s e h e n . . . Ich werde durch den Gedanken geplagt, daß der Bruch in der menschlichen Zivilisation, begründet durch die Entdeckung der wissenschaftlichen Methode, nicht wieder gutgemacht werden könnte. Obgleich ich die Wissenschaft liebe, habe ich das Gefühl, daß sie so sehr gegen die Geschichte und Tradition ist, daß sie nicht absorbiert werden kann durch unsere Zivilisation." 176 Keineswegs identisch, aber merkwürdig verwandt äußert sich auch C. F. von Weizsäcker, der human denkende Physiker und wirre Philosoph: „Wissen ist Macht und sollte Verantwortung bedeuten. Daß uns die wissenschaftliche Erkenntnis zugleich mit der sittlichen Größe ausstattet, die wir brauchen, um diese Verantwortung zu tragen, das ist eine Hoffnung, der die Tatsachen nicht entsprechen. . . Wenn der Scientizismus seine Hoffnungen darauf setzt, die Wissenschaft werde uns aus ihrem eigenen Wesen heraus die nötige Leitung in den Angelegenheiten der Menschen geben, so ist er eine falsche Religion. Geht sein Glaube so weit, so ist er Aberglaube; die Rolle des Priesters steht dem Wissenschaftler nicht a n . . . . Das Verhaltensschema der Wissenschaft braucht den Hintergrund einer Ethik, die uns die Wissenschaft selbst nicht zu geben vermocht hat." 177 175
Ebendort, S. 101. Zitiert von Heimendahl nach dem Manuskript eines im Frühjahr 1965 im Bulletin of Atomic Scientists veröffentlichten Artikels. Aus dem Englischen übersetzt. 177 C. F. v. Weizsäcker, Die Wissenschaft und die moderne Welt, Beitrag zur Festschrift 70. Geburtstag von Carl J. Burckhardt, Dauer im Wandel, München 1961, S. 464. 176
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E. J. Mishan bemerkt in seinem Buch The cost of economic growth: „In einer Beziehung zumindest kann die moderne Technologie kaum geschickter modelliert sein, als sie es ist: um die Menschen ihres Charakters als Menschen zu berauben. Seit dem Beginn der industriellen Revolution wurden die Menschen auf immer beschränktere Aufgaben spezialisiert, ob sie in einem Büro, in einer Fabrik oder im Laboratorium arbeiten. Was immer ihre spezielle Fähigkeit, alle anderen menschlichen Fähigkeiten, die in früheren Zeiten wahrlich bedeutsam waren — Mut, Treue, Ausdauer, Integrität, kluge Wendigkeit, Eigenschaften, die einst für des Menschen Entwicklung und Bewertung wahrlich zählten —, haben ihren Wert in dieser unheroischen Zeit der Automatik, des Auf-den-Kopf-Drückens verloren." 178 Weizsäcker stellt der Wissenschaft und Technik die Ethik gegenüber, Mishan der Technologie den Charakter des Menschen, mit zahlreichen Einzelelementen. Die Technik aber läßt den Menschen nicht nur verkümmern, sie unterdrückt ihn auch. Schon 1935 schrieb der Kulturphilosoph Huizinga: „Es ist undenkbar, daß man durch ein gewolltes Eingreifen den alles durchdringenden Mechanismus der Wissensverbreitung, d. h. des Volksunterrichts, der Presse, der Bücherproduktion beschränken wollte oder könnte, oder daß man neue Möglichkeiten des Verkehrs, der Technik und der Nutzbarmachung der Natur hindern wollte oder könnte. Und trotzdem: dieser Ausblick auf eine ihrer eigenen Dynamik überlassene Kulturwelt, auf eine immer noch steigende Beherrschung der Natur und stets vollständigere und unmittelbarere Publizität alles Geschehenden, ist viel eher ein Schreckbild, als daß es das Versprechen einer gereinigten, wiederhergestellten und erhöhten Kultur in sich enthielte. Es erweckt nur Vorstellungen von unerträglicher Überladung und von Sklaverei des Geistes. Seit geraumer Zeit bedrückt uns die Voraussicht mit der bangen Frage: ist der Kulturprozeß, den wir erleben, ein solcher der Barbarisierung?" 179 — Sklaverei des Geistes! Äußerst prägnant faßt Habermas die Auffassungen der westdeutschen Soziologen Helmut Schelsky180 und Hans Freyer 181 von der Knechtung des Menschen durch Forschung und Technik zusammen: „Freyer und Schelsky haben ein Gegenmodell entworfen, in dem die Verselbständigung der Technik anerkannt wird. Gegenüber dem primitiven Zustand der technischen Entwicklung scheint sich heute das Verhältnis der Mittelorganisation für gegebene oder 178
E. J. Mishan, a. a. O., Harmondsworth 1969, S. 186. J. Huizinga, Im Schatten von morgen. Leipzig 1935, S. 173. 180 Ygi z u m Beispiel: Einsamkeit und Freiheit, Hamburg 1963. 181 Vgl z u m Beispiel: Uber das Dominantwerden technischer Kategorien in der Lebenswelt der industriellen Gesellschaft. Mainz 1961. 179
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vorentworfene Zwecke umzukehren. Aus einem immanenten Gesetzen gehorchenden Prozeß von Forschung und Technik fallen sozusagen ungeplant die neuen Methoden heraus, für die wir dann erst Verwendungszwecke finden. Uns wächst durch einen automatisch gewordenen Fortschritt, so heißt Freyers These, in immer neuen Schüben abstraktes Können zu; dessen müssen sich Lebensinteressen und sinnstiftende Phantasie erst nachträglich bemächtigen, um es für konkrete Ziele auszuschöpfen. Schelsky verschärft und vereinfacht diese These dahin, daß der technische Fortschritt zusammen mit den unvorhergesehenen Methoden auch noch die ungeplanten Verwendungszwecke selber produziert: die technischen Möglichkeiten erzwingen zugleich ihre praktische Auswertung. Er vertritt diese These insbesondere mit dem Blick auf die hochkomplizierten Sachgesetzlichkeiten, die bei politischen Aufgaben angeblich alternativlose Lösungen vorschreiben: ,anstelle der politischen Normen und Gesetze (treten) Sachgesetzlichkeiten der wissenschaftlich-technischen Zivilisation, die nicht als politische Entscheidungen setzbar und als Gesinnungsoder Weltanschauungsnormen verstehbar sind. Damit verliert auch die Idee der Demokratie sozusagen ihre klassische Substanz: an die Stelle eines politischen Volkswillens tritt die Sachgesetzlichkeit, die der Mensch als Wissenschaft und Arbeit selbst produziert.' Gegenüber dem autonom gewordenen System von Forschung, Technik, Ökonomie und Verwaltung scheint die vom neuhumanistischen Bildungsanspruch inspirierte Frage nach der möglichen Souveränität der Gesellschaft über die technischen Lebensbedingungen, die Frage nach deren Integration in die Praxis der Lebenswelt, hoffnungslos veraltet. Derlei Ideen taugen im technischen Staat bestenfalls zu ,Motivmanipulationen für das, was unter sachlich notwendigen Gesichtspunkten sowieso geschieht'." 182 Noch viele könnten wir für diese Auffassung zitieren — vor allem den wohl bedeutendsten unter ihnen, Herbert Marcuse, der in seinem Werk „Der eindimensionale Mensch" eine sehr interessante Analyse der Unterdrückung von Einzelmensch und Gesellschaft durch Wissenschaft und Technik gegeben hat, wobei er zugleich zeigt, wie geschickt manipuliert diese Unterdrückung ist — zum Teil auto-manipuliert, manipuliert im Selbstlauf von Wissenschaft und Technik: „Eine komfortable, reibungslose, vernünftige, demokratische Unfreiheit herrscht in der fortgeschrittenen industriellen Zivilisation, ein Zeichen technischen Fortschritts. In der Tat, was könnte rationaler sein als die Unterdrückung der Individualität bei der Mechanisierung gesellschaftlich notwendiger, aber mühevoller Veranstaltungen; die Konzentration individueller Unternehmen zu wirksameren, produktiveren Verbänden; die Regulierung der J. Habermas, Technik und Wissenschaft als „Ideologie". Frankfurt am Main 1970, S. 115 f. 182
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freien Konkurrenz zwischen verschieden gut ausgestatteten ökonomischen Subjekten; die Beschneidung von Prärogativen und nationalen Hoheitsrechten, welche die internationale Organisation der Ressourcen behindern. Daß diese technische Ordnung eine politische und geistige Gleichschaltung mit sich bringt, mag eine bedauerliche und doch vielversprechende Entwicklung sein." 1 8 3 Wer denkt im Zusammenhang mit solchen Äußerungen nicht an jene erregenden Formulierungen von Marx im „Kapital" über die Wirkungen der Technik auf den Arbeiter: „innerhalb des kapitalistischen Systems vollziehn sich alle Methoden zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit auf Kosten des individuellen Arbeiters; alle Mittel zur Entwicklung der Produktion schlagen um in Beherrschungs- und Exploitationsmittel des Produzenten, verstümmeln den Arbeiter in einen Teilmenschen, entwürdigen ihn zum Anhängsel der Maschine, vernichten mit der Qual seiner Arbeit ihren Inhalt, entfremden ihm die geistigen Potenzen des Arbeitsprozesses, im selben Maße, worin letzterem die Wissenschaft als selbständige Potenz einverleibt wird; sie verunstalten die Bedingungen, innerhalb deren er arbeitet, unterwerfen ihn während des Arbeitsprozesses der kleinlichst gehässigen Despotie, verwandeln seine Lebenszeit in Arbeitszeit, schleudern sein Weib und Kind unter das Juggemaut-Rad des Kapitals." 1 8 4 Alles, was Marx hier über die versklavenden Auswirkungen der Maschine auf das Proletariat festgestellt hat, wird von Marcuse u n d anderen, die ihm verwandt sind, auf die Gesellschaft als ganze, ebenso wie auf Wissenschaft und Technik als ganze ausgedehnt. Keiner von diesen Philosophen der „Kulturbarbarei durch Wissenschaft u n d Technik" begreift, daß, soweit sie richtig sehen — u n d gewisse Seiten dieses Prozesses sehen sie sehr klar und deutlich —, sie nur die Folgen der „Anwendung" von Wissenschaft und Technik unter den Bedingungen des staatsmonopolistischen Kapitalismus erkennen. Ja, manche von ihnen sind so blind, daß sie ausdrücklich vermerken, daß die Auswirkungen die gleichen in sozialistischen Ländern seien. Dabei m u ß man aber wieder zwischen solchen unterscheiden, die aus ihren Erwägungen heraus dann eine Kampagne gegen die Sowjetunion, gegen den Kommunismus entwickeln, u n d solchen, die, wie Marcuse, das Hauptfeuer ihrer Kritik auf den Imperialismus richten. Doch auch Marcuse u n d andere h u m a n gesinnte bürgerliche Denker seiner Art sind so fasziniert u n d überwältigt von der knechtenden Wirkung von Wissenschaft und Technik, daß sie keinen Ausweg sehen: 183 m
9
H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Neuwied und Berlin 1970, S. 21. Marx/Engels, Werke. Bd. 23, S. 674.
Kuczynski
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„Je rationaler, produktiver, technischer und totaler die repressive Verwaltung der Gesellschaft wird, desto unvorstellbarer sind die Mittel und Wege, vermöge derer die verwalteten Individuen ihre Knechtschaft brechen und ihre Befreiung selbst in die Hand nehmen könnten. Freilich ist es ein paradoxer und Anstoß erregender Gedanke, einer ganzen Gesellschaft Vernunft auferlegen zu wollen — obgleich sich die Rechtschaffenheit einer Gesellschaft bestreiten ließe, die diesen Gedanken lächerlich macht, während sie ihre eigene Bevölkerung in Objekte totaler Verwaltung überführt. Alle Befreiung hängt vom Bewußtsein der Knechtschaft ab, und das Entstehen dieses Bewußtseins wird stets durch das Vorherrschen von Bedürfnissen und Befriedigungen behindert, die in hohem Maße die des Individuums geworden sind. Der Prozeß ersetzt immer ein System der Präformierung durch ein anderes; das optimale Ziel ist die Ersetzung der falschen Bedürfnisse durch wahre, der Verzicht auf repressive Befriedigung. Es ist der kennzeichnende Zug der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, daß sie diejenigen Bedürfnisse wirksam drunten hält, die nach Befreiung verlangen — eine Befreiung auch von dem, was erträglich, lohnend und bequem ist —, während sie die zerstörerische Macht und unterdrückende Funktion der Gesellschaft ,im Überfluß' unterstützt und freispricht." 185 Wir hatten die großartigen Passagen von Marx im „Kapital" zitiert, in denen er die Knechtung des Arbeiters durch die Maschine, seine Entfremdung gegenüber den geistigen Potenzen des Arbeitsprozesses schildert — aber alles dies ist bei Marx nur die Analyse einer real überaus wirksamen Tendenz, der eine Gegentendenz von letztlich noch viel wirksamerer Kraft im gesellschaftlichen Leben entgegenwirkt: die Aneignung des Bewußtseins der materiellen und geistigen (ideologischen) Knechtung durch das Kapital und die Entwicklung der Fähigkeiten zur Befreiung vom Kapital und zum Aufbau einer Gesellschaft, in der der Mensch Herr der Wissenschaft und Technik durch Abschaffung der Ausbeutungsverhältnisse des Kapitals und durch Kenntnis der Gesetze der gesellschaftlichen Bewegung ist. Ja, in der neuen Gesellschaft, die das Proletariat schafft, werden gerade durch die Entwicklung von Wissenschaft und Technik genau die Bedingungen geschaffen, unter denen der Mensch nicht nur negativ frei von knechtender Ausbeutung und ideologischer Manipulierung, von Entfremdung ist, sondern positiv seine Persönlichkeit voll zur Freiheit, das heißt auch (im Gegensatz zur Entfremdung) zur vollen Vertrautheit mit sich und seiner Gesellschaft entwickeln kann. 185
H. Marcuse, a. a. 0., S.26 f.
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Marx hat die Verhältnisse in der neuen Gesellschaft, die völlig neue Stellung des Menschen unter dem Sozialismus durch die Entwicklung von Wissenschaft und Technik, insbesondere der Automatisierung (wissenschaftlich-technische Revolution), in den „Grundrissen" so dargelegt: „Die Arbeit erscheint nicht mehr so sehr als in den Produktionsprozeß eingeschlossen, als sich der Mensch vielmehr als Wächter und Regulator zum Produktionsprozeß selbst verhält. (Was von der Maschinerie, gilt ebenso von der Kombination der menschlichen Tätigkeiten und der Entwicklung des menschlichen Verkehrs.) Es ist nicht mehr der Arbeiter, der modifizierten Naturgegenstand als Mittelglied zwischen das Objekt und sich einschiebt; sondern den Naturprozeß, den er in einen industriellen umwandelt, schiebt er als Mittel zwischen sich und die unorganische Natur, deren er sich bemeistert. E r tritt neben den Produktionsprozeß, statt sein Hauptagent zu sein. In dieser Umwandlung ist es weder die unmittelbare Arbeit, die der Mensch selbst verrichtet, noch die Zeit, die er arbeitet, sondern die Aneignung seiner eignen allgemeinen Produktivkraft, sein Verständnis der Natur und die Beherrschung derselben durch sein Dasein als Gesellschaftskörper — in einem Wort die Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums, die als der große Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums erscheint. Der Diebstahl an fremder Arbeitszeit, worauf der jetzige Reichtum beruht, erscheint miserable Grundlage gegen diese neuentwickelte, durch die große Industrie selbst geschaffne. Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört und muß aufhören die Arbeitszeit sein Maß zu sein und daher der Tauschwert [das Maß] des Gebrauchswerts. Die Surplusarbeit der Masse hat aufgehört Bedingung für die Entwicklung des allgemeinen Reichtums zu sein, ebenso wie die Nichtarbeit der Wenigen für die Entwicklung der allgemeinen Mächte des menschlichen Kopfes. Damit bricht die auf dem Tauschwert ruhende Produktion zusammen, und der unmittelbare materielle Produktionsprozeß erhält selbst die Form der Notdürftigkeit und Gegensätzlichkeit abgestreift. Die freie Entwicklung der Individualitäten, und daher nicht das Reduzieren der notwendigen Arbeitszeit um Surplusarbeit zu setzen, sondern überhaupt die Reduktion der notwendigen Arbeit der Gesellschaft zu einem Minimum, der dann die künstlerische, wissenschaftliche etc. Ausbildung der Individuen durch die für sie alle freigewordne Zeit und geschaffnen Mittel entspricht." 186 Welche Rolle spielt bei diesen Ausführungen gerade die schöpferische Entwicklung des Individuums! 186 K. Marx, S. 592 f.
9'
Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie. Berlin
1953,
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Abschließend sei noch Gorki aus dem J a h r e 1 9 3 5 zitiert, nur ein kurzer Absatz, der so klar zeigt, wie ein sozialistischer Kulturschaffender auf diesen Irrweg bürgerlicher Ideologie reagiert: „Und heute sehen wir, wie die Entwicklung der Technik in den kapitalistischen Ländern Millionen Arbeitsloser hervorbringt und die Kleinbürger Europas erschreckt, so daß sie schreien: ,Nieder mit der Technik, zurück zur Handarbeit!' Das ist ein Appell, die Entwicklung der Kultur aufzuhalten und zu den mittelalterlichen Formen
der
Sklaverei zurückzukehren. Das ist der Todesschrei des Kapitalismus." 1 8 7
E s wäre jedoch unrichtig, mit einer einfachen Darstellung und Analyse der Grundfehler und Grundmängel bürgerlicher Theorien, die auch ihren Niederschlag in manchen Gedanken der „Neuen L i n k e n " finden, sowie ihrer Entlarvung zu schließen. W i r dürfen nicht übersehen, daß solche und ähnliche Gedanken nicht zu einer Philosophie verdichtet, aber doch störend, auch bei uns wirken. Auf der 2. Vorstandstagung des Schriftstellerverbandes der U d S S R sprach P. N. Fedossejew, Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften der U d S S R , zu Fragen der Wechselwirkung zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis
und
Kunstschaffen so: „Das Problem der wissenschaftlich-technischen Revolution wird in der bürgerlichen W e l t von allen Seiten erörtert. Technokratische Theorien sind entstanden, denen zufolge die Zeit der humanistischen Weltanschauung und Bildung vorüber und die Technologie zur Ideologie der Gegenwart geworden sei. Diese Richtung marschiert unter der Losung der Entideologisierung. Einer der Hauptinspiratoren dieser Theorie, Daniel Bell, nannte auch sein Buch entsprechend: ,Das Ende der Ideologien'. Andererseits verbreitet sich in der letzten Zeit, besonders unter den sogenannten ,neuen Linken', immer stärker ein Antitechnizismus als Reaktion auf die Auswüchse, die aus der kapitalistischen Nutzung der Errungenschaften der wissenschaftlich-technischen Revolution in der bürgerlichen W e l t entstehen. W i r müssen einen entschiedenen K a m p f gegen diese Theorien führen; auch sollten wir uns nicht mit den Vorurteilen abfinden, die bei uns anzutreffen sind: mit der Unterschätzung von Literatur und Kunst sowie der Geisteswissenschaften, mit dem Antitechnizismus, mit der Unterschätzung der Errungenschaften 187 M. Gorki, Uber Kunst, in: Uber Literatur, Werke Bd. 23, Berlin und Weimar 1968, S. 433.
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von Wissenschaft und Technik, die die Schaffung der materiell-technischen Basis des Kommunismus beschleunigen sollen." 1 8 8 Und als bei uns in der Deutschen Demokratischen Republik gewisse Erscheinungen des Technokratismus korrigiert wurden, gab es als Reaktion die fast entgegengesetzte Erscheinung, nicht zum wenigsten in den Produktionsbetrieben, der Herabminderung der Bedeutung der Wissenschaft. Der Kampf gegen Wissenschaft und Technik ist alt. Zur Zeit der Renaissance wurde er von der feudalen, insbesondere klerikalen Reaktion geführt. Als zuerst die Fabriken in England aufkamen, nahmen ihn dort in vielem fortschrittliche Romantiker wie Blake und Keats auf, während Wordsworth zwar die Wissenschaft lobte, aber die industrielle Technologie verdammte. Diese Romantiker waren intellektuelle Maschinenstürmer, die sich gegen die Erfinder und Konstrukteure der Maschinen wandten. Unter den Verhältnissen des Sozialismus sollen und können Wissenschaft und Technik rein und ganz, ohne Opfer, wie sie der wissenschaftlich-technische Fortschritt in jeder Ausbeutergesellschaft gefordert hat, dem Wohle des Menschen dienen. Doch nur, wenn wir lernen, sie richtig zu werten, allein herrschend überall dort, wo allein sie Fortschritt bringen können, jedoch keineswegs unser Leben füllend, unser Leben, das auch von so vielen anderen Werten bestimmt wird, wie Schönheit, wie Güte und Liebe. Bestimmt wird auch von dem Wert Demokratie. C. P. Haskins bemerkte dazu, ausgehend von den Verhältnissen im Kapitalismus: „Die Menschen wenden sich letztlich dagegen, daß sie ausgeschlossen sind von Entscheidungen, j a sogar von Informationen über wissenschaftliche und technische Entwicklungen, die ihr Leben und ihre Welt in wichtiger Beziehung ändern können, ohne daß sie in der Lage sind, sie vorauszusehen oder zu beeinflussen." 1 8 9 Auch in dieser Beziehung ist die Entwicklung der sozialistischen Demokratie von größter Bedeutung. Denn sie ist ein Ausdruck auch dafür, daß der Mensch nicht mehr, wie es Marx im Kapitalismus fand, ein Anhängsel der Maschine ist, sondern Herr über Wissenschaft, Technologie und die Maschine.
Die Partei weist die Richtung / Diskussion zu Fragen der Literaturkritik, Fragen der Literatur, Heft 4, Moskau 1972. Hier zitiert nach der Übersetzung in „ K u n s t und Literatur" Heft 6, Berlin 1972, S. 577. 1 8 9 C. P. Haskins, Science and policy for a new decade. „Foreign Affairs", Vol. 49, No. 2, New York, J a n u a r y 1971. 188
KAPITEL
VI
Naturwissenschaften und Technologie
1. Blick in die nähere Zukunft — Fünfzig Jahre Bevor wir einen Blick in die nähere Zukunft der Entwicklung von Naturwissenschaft und Technologie tun, mag es nützlich sein, kurz die drei großen Revolutionen in der Entwicklung der Produktivkräfte zu betrachten : Die erste Revolution, die den Menschen vom Affen schied, und die Engels so kennzeichnete: „Die Hand war freigeworden"19° — frei zur Handhabung von Werkzeugen. Die zweite Revolution, die die Arbeiterklasse hervorbrachte, und die Marx durch die Nutzung der Werkzeugmaschine charakterisierte, das heißt dadurch, daß die Hand bei der Handhabung der Werkzeuge durch die Maschine ersetzt wurde. Die dritte Revolution, die den Arbeiter gewissermaßen aus dem Produktionsprozeß herausnimmt; wie Marx sagt: „Er tritt neben den Produktionsprozeß, statt sein Hauptagent zu sein." 191 Die Automatik ersetzt die Hand bei der Handhabung der Maschinen, so daß „sich der Mensch vielmehr als Wächter und Regulator zum Produktionsprozeß selbst verhält"132. Die erste Revolution begründete die erste Gesellschaft von Menschen. Die zweite Revolution, die wir auch die industrielle Revolution nennen, begründete, wie Engels und Marx im „Kommunistischen Manifest" ausführen, die erste Gesellschaft, die nicht existieren kann, „ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren"193. Die dritte Revolution, die wir auch die wissenschaftlich-technische Revolution nennen, wird die Basis des Kommunismus sein, in der sich entsprechen, daß der Mensch seinen Bedürfnissen nach erhält und er neben den Produktionsprozeß tritt, ein Doppelereignis, das in seiner dialektischen Einheit von einzigartiger Bedeutung in der Geschichte der Menschheit ist. 190 191 192 193
Marx/Engels, Werke. Bd. 20, S. 445. K. Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie. Berlin 1953, S. 593. Ebendort, S. 592. Marx/Engels, Werke. Bd. 4, S. 465.
Blick in die nähere
Zukunft
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Wir können daher auch sagen: jeder Fortschritt auf dem Wege der wissenschaftlich-technischen Revolution ist ein Fortschritt auf dem Wege zum Kommunismus. Zugleich aber müssen wir sagen: jede Überschätzung des Standes der wissenschaftlich-technischen Revolution ist eine falsche Einschätzung des Standes unserer gesellschaftlichen Entwicklung. Aus dem Charakter der dritten Revolution ergibt sich auch die Notwendigkeit eines völligen Umbaus des Erziehungssystems: der allgemeinen Schulbildung und der weitverbreiteten Fachschulausbildung, die wir noch im Kapitalismus finden, wird eine allgemeine Hochschulbildung folgen — zum Unterschied von einer allgemeinen Wissenschaftlerausbildung, die natürlich Unsinn wäre. Das Leben des Menschen, der in der voll entfalteten sozialistischen Gesellschaft lebt und in vielfach vollautomatisierten Betrieben arbeitet — wir denken an die Zeit in einem halben Jahrhundert! —, erfordert ein weit höheres allgemeines Bildungsniveau als wir es heute besitzen. Es fordert, daß er wissenschaftlich gebildet ist — ohne etwa deswegen für die wissenschaftliche Arbeit ausgebildet zu sein. Man könnte sich eine allgemeine Zehnklassenschule vorstellen, der zwei Jahre Studium generale an einer Hochschule folgen: allgemeine wissenschaftliche Ausbildung in Philosophie, Politischer Ökonomie, Geschichte (unter besonderer Herausarbeitung der Geschichte der Arbeiterbewegung), Literatur- und Kunstwissenschaft einerseits — und allgemeine Technologie, einschließlich der Fortsetzung der dazu notwendigen, schon auf der Schule gelehrten, naturwissenschaftlichen Fächer als Ergänzung (!) der Technologie andererseits. Daran schließt sich ein Jahr Fachstudium auf einem gesellschaftswissenschaftlichen oder naturwissenschaftlichen Gebiet. Erst dann folgt für eine ganz wesentlich geringere Zahl von Studenten eine „Fachausbildung" als schöpferische Wissenschaftler. Eine solche Ausbildung wird natürlich zu einem außerordentlichen Wachstum der wissenschaftlich Gebildeten und damit auch zu einer enormen Verbreiterung der wissenschaftlichen Diskussion führen. Der wissenschaftliche Meinungsstreit wie auch der Meinungsstreit über die Gestaltung und Entwicklung des wissenschaftlichen Betriebs werden nicht mehr eine Angelegenheit von „Profis", sondern eine Angelegenheit der Öffentlichkeit, des wissenschaftlich gebildeten Volkes sein.
Die Zahl der Naturwissenschaftler wird im nächsten Halbjahrhundert in den Entwicklungsländern relativ zur Bevölkerung noch ganz wesentlich steigen, in den entwickelten Ländern des Kapitalismus, soweit solche noch existieren,
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Naturwissenschaften
und
Technologie
ebenso in den sozialistischen Ländern relativ zur Bevölkerung jedoch weniger und weniger heraufgehen. Was die Ausgaben für die Naturwissenschaften relativ zum Sozialprodukt betrifft, so gilt das gleiche wie für die Zahl der Naturwissenschaftler. Das braucht jedoch nicht zu bedeuten, daß die Potenz der materiellen Investitionen sich in der gleichen Richtung bewegt. Es kann nämlich sehr wohl sein, daß zum Beispiel neue Materialien die Investitionen in den Naturwissenschaften so wesentlich effektiver und billiger gestalten, daß relativ zum Sozialprodukt steigende Potenz an materiellen Investitionen für die Naturwissenschaften einen geringeren Prozentsatz des Sozialprodukts erfordert. Es gibt kein Gesetz der steigenden organischen Zusammensetzung der Forschung für die Naturwissenschaften — im Gegensatz zur Produktion! Das trifft um so mehr für die künftige Entwicklung der Naturwissenschaften zu, als wir mit einer scharfen Wendung von der Quantität zur Qualität, von der Expansion zur Intensivierung der Forschung rechnen können und müssen. Mit der zunehmenden Verlangsamung der Wachstumsrate in der Zahl der Naturwissenschaftler und der Ausgaben für die Naturwissenschaften werden in den sozialistischen Ländern die Forderungen der Praxis und die ihnen entspringende Politik der Arbeiterpartei diese Wendung zur Konzentration auf Qualität und Intensivierung erzwingen. In den kapitalistischen Ländern wird jedoch eine solche Entwicklung gar nicht oder in völlig ungenügendem Maße stattfinden. Dort beobachten wir schon heute, wie etwa in den USA und in England, Tendenzen zur Einschränkung des wissenschaftlichen Betriebs — sowohl an den Universitäten wie an den Forschungsstätlen —, die zu einer Einschränkung der wissenschaftlichen Tätigkeit führen können.
Eine Voraussetzung für die günstige Entwicklung der Naturwissenschaften ist selbstverständlich die Lösung der organisatorischen Probleme, von denen wir zuvor gesprochen haben, in all ihrer Vielfalt, in all ihren Verzweigungen — durch Beseitigung sei es unserer Unwissenheit über die optimale Betriebsgröße von Forschungsbetrieben und Hochschulen oder über das Verhältnis von allgemeiner und gemeinschaftlicher wissenschaftlicher Arbeit, wie Marx die individuelle Arbeit des Wissenschaftlers mit all ihren schöpferischen Besonderheiten und die kollektive wissenschaftliche Arbeit unterscheidet, oder durch Beseitigung der Informationsschwierigkeiten, die zum Beispiel heute so viel kostspielige Doppelforschung verursachen.
Blick in die nähere Zukunft
133
Wie aber die Schwierigkeiten in der Organisation beseitigen? Diese Frage läßt sich heute nur durch die Nennung der entscheidenden Vorbedingung für eine Lösung beantworten: Konkrete Untersuchungen der heutigen Praxis und Experimente auf Grund sorgfältiger Beratung von erfahrenen Wissenschaftlern.194 Und dazu das Bewußtsein, um es einmal unsinnig überspitzt zu formulieren: wenn wir aus der wissenschaftlichen Forschungs- und Lehrarbeit für 5 Jahre rücksichtslos alle wissenschafts-organisatorisch begabten Kräfte für solche organisatorischen Untersuchungen und Experimente herausziehen würden, ganz gleich wie groß ihre Begabung für Forschung und Lehre, würde uns das viel weiter in der Entwicklung der Naturwissenschaften bringen, als die gegenwärtige relative Vernachlässigung der wissenschaftlichen Organisationsichre. Weitere Voraussetzungen sind: Eine Weiterentwicklung der Verbesserung der Kaderauswahl, wie wir sie mit der Einrichtung der Aspiranturen nach Beendigung des heutigen normalen Universitätsstudiums begonnen haben. Natürlich wird die Kaderauswahl stark durch die Einrichtung des Studium generale erleichtert werden, währenddessen die Studenten sorgfältig auch auf ihre spezifisch wissenschaftliche Begabung zu beobachten sind. Eine wesentliche Verbesserung der Planung des Einsatzes der als Wissenschaftler ausgebildeten Studenten. Die Ausarbeitung einer konsequenten wissenschaftlichen Publikationsstrategie. Robert Rompe meint, daß, wenn nur wissenschaftlich Neues auf naturwissenschaftlichem Gebiet veröffentlicht wird, die Zahl der Veröffentlichungen auf ein Fünftel bis ein Zehntel zurückgehen könnte — was natürlich auch zur Minderung der Informationskrise beitragen könnte . . . Minderung, nicht mehr!, denn wir können bei einer erfolgreichen Politik der Intensivierung des Wissenschaftsbetriebs natürlich mit einer beachtlichen Steigerung der schöpferischen Leistungen rechnen. Eine wesentliche Verbesserung der Planung der „relevanten", das heißt gesellschaftlich dringend verlangten Forschung. Die Intensivierung des Wissenschaftsbetriebs wird vor allem auch Ausdruck finden in größerer relevanter Effektivität. (Es ist offenbar, daß hier eine Reihe von Problemen angeschnitten wurden, die nicht nur für die Naturwissenschaften Bedeutung haben.) Sehr richtig bemerkt Robert Rompe: „Man sollte noch ergänzend sagen, w e r den Kontakt m i t der schöpferischen Praxis verliert, kann schöpferische Wissenschaftsorganisation nur eine verhältnismäßig kurze Zeit betreiben." 194
Naturwissenschaften
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und
Technologie
2. Blick in die weitere Zukunft — bis weit in den vollendeten Kommunismus hinein Die Gedanken von Bentley Glass und anderen, die meinen, daß die Gesetze der Natur universal gelten und nicht unendlich zahlreich sind, scheinen mir richtig. 195 Es ist daher durchaus wahrscheinlich, daß man eine Zeit voraussehen kann, in der der größere Teil und schließlich in fernster Zeit lange nach dem Beginn der Epoche des vollendeten Kommunismus praktisch alle Naturgesetze bekannt sind. Aber heißt das, daß damit das Ende der Naturwissenschaften gekommen ist? Sind etwa in der Geologie die Formationen aller Sterne untersucht worden? Sind etwa in der Chemie alle sinnvollen Kombinationen von Stoffen, die sich im Weltall finden, untersucht worden? Vielleicht, wenn die Annahme, daß das Weltall endlich in seinem Umfang ist, richtig ist, wird das auch einmal der Fall sein. Aber hierbei handelt es sich um eine Spekulation, die heute und in tausend Jahren und wohl auch in hunderttausend Jahren noch jeder praktischen Bedeutung entbehrt. Und auch dann, wenn die Zeit jemals erreicht sein sollte, in der auch in solcher Richtung nichts mehr zu erforschen sein wird, wird die Tatsachensammlung andauern. Bis wir aber ein „Inventar der für die Menschheit interessanten naturwissenschaftlichen Tatsachen" haben werden, wird eine praktisch unendliche Zeit vergehen. Das heißt, es ist kein Ende der Entwicklung der Naturwissenschaften vorauszusehen. Wohl aber wird sich die Bedeutung der Naturwissenschaften insofern mindern, als im sehr langen Laufe der Zeit: zunächst die Grundlagenforschung sich erschöpfen wird, einschließlich der Lösung der Frage, ob es, wie Einstein und Heisenberg meinten, eine „Weltformel" gibt, oder ob man, wie Robert Rompe formuliert, „allgemein verstehen wird, daß die Wissenschaft immer nur einzelne Seiten der Realität in einem unendlichen Prozeß der Erkenntnis erfassen kann" ; danach die Forschung von „notwendigen Zusammenhängen zweiten Grades", die wir durch diese Formulierung von den bedeutenden Gesetzen trennen wollen, (sagen wir vorsichtig) an Gewicht verlieren wird; die Sammlung von wichtigen oder zumindest interessanten Tatsachen aber wird wohl praktisch niemals aufhören. *
195 Robert Rompe dagegen gibt zu bedenken: „Ist der Prozeß des Erkenntnisfortschritts unendlich, so kann man schlecht erwarten, daß die Zahl der Gesetzmäßigkeiten nicht auch unendlich groß ist."
Blick in die weitere
Zukunft
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Von den Naturwissenschaften ist ganz scharf die Technologie, die Lehre von der Technik zu unterscheiden. Wie hat sich im Laufe der Geschichte das Verhältnis von Naturwissenschaften und Technik entwickelt? Zuerst entwickelte sich, nennen wir es, die Praxis der Technik, und erst aus ihr erwuchs die Technologie, die auch zunächst nichts anderes war, als eine von Generation auf Generation übertragene geordnete Sammlung von technischen Erfahrungen. Wohl zuerst unter den Griechen entwickelten sich die Naturwissenschaften. Farrington charakterisiert die Entwicklung von der Technologie zur Wissenschaft an einem Beispiel so: „Die Menschen hatten seit Jahrtausenden Gewichtsmessungen angestellt, ehe Archimedes die Gleichgewichtsgesetze fand, sie mußten also die zugrunde liegenden Prinzipien praktisch und intuitiv kennen. Archimedes zog nur die theoretischen Folgerungen aus diesem praktisch bereits betätigten Wissen, indem er es zu einem logisch zusammenhängenden System vereinigte. Das erste Buch seiner Schrift über das Einfache Gleichgewicht beginnt mit sieben Fundamentalsätzen. Zwei davon sind die folgenden: ,Greifen gleiche Gewichte in gleichen Entfernungen an, so halten sie sich das Gleichgewicht', und ,Greifen ungleiche Gewichte in gleichen Entfernungen an, so überwiegt das schwerere das leichtere'. Ein seit Jahrhunderten geübtes, stillschweigend vorausgesetztes Wissen fand hier in wenigen Sätzen — ihre Zahl beschränkte sich auf das f ü r die wissenschaftliche Grundlegung erforderliche Minimum — klare theoretische Formulierung. Von diesen Grundsätzen fortschreitend, gelangt Archimedes über eine Reihe weiterer Thesen zu seinem Hauptlehrsatz, den er zuerst f ü r kommensurable und dann — durch ,reductio ad absurdum' — auch für inkommensurable Größen nachweist: ,Zwei Größen, ob kommensurabel oder inkommensurabel, halten sich das Gleichgewicht, wenn die Entfernungen, in denen sie wirken, umgekehrt proportional den Größen selbst sind.' Dies ist ein typisches Beispiel dafür, was gemeint ist, wenn wir sagen, daß das rein erfahrungsmäßige Wissen der östlichen Völker von den Griechen zu theoretischer Wissenschaft ausgebildet wurde." 1 9 6 In Europa folgt der antiken Sklavenhaltergesellschaft eine Zeit des Feudalismus, in der die Naturwissenschaften wieder ganz stark an Bedeutung verlieren und die Entwicklung der Produktivkräfte wieder vornehmlich auf der Entwicklung der Technologie, ja oft und zunächst überwiegend auf der technischen Praxis beruht. 196 B. Farrington, Wien 1947, S. 18.
Die Wissenschaft der Griechen und ihre Bedeutung für uns.
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Naturwissenschaften
und
Technologie
Erst zur Zeit der Renaissance entwickeln sich die Naturwissenschaften von neuem, um dann mit dem Kapitalismus in zuvor ungeahntem Ausmaß zur Basis der Technologie zu werden. Heute, unter sozialistischen Produktionsverhältnissen ist es so: Auf zehntausend kleine technische Fortschritte, die jährlich etwa in der Deutschen Demokratischen Republik im allgemeinen auf Grund praktischer technischer Erfahrung gemacht werden, kommen etwa tausend mittlere technische Fortschritte, die zumeist auf der Entwicklung der Technologie beruhen, während etwa hundert größere Fortschritte auf der Entwicklung der Naturwissenschaften und der Übertragung ihrer Ergebnisse auf die Technologie und dann in die Technik und Praxis der Produktion basieren. Ein größerer technischer Fortschritt ohne Wissenschaft ist heute kaum mehr möglich. Und wie wird die Entwicklung des Verhältnisses von Naturwissenschaften, Technologie, Technik und Produktion in Zukunft sein? Zunächst, für längere Zeit, sicher noch bis weit in die Epoche des vollendeten Kommunismus hinein die gleiche wie heute: das heißt, stetig wachsende Bedeutung der neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse für die Technologie, der sich ständig entwickelnden Technologie für die Technik, und der ständig sich entwickelnden Technik für die Produktion. Aber wie werden sich diese Verhältnisse in der ferneren Zukunft entwickeln? Es ist offenbar, daß das Gesetz der Ökonomie der Zeit ewig gelten wird, denn die menschliche Gesellschaft ist eine dynamische und auch die Produktion (im weitesten Sinne des Wortes, einschließlich der ihr zugeordneten Dienste) ebenso wie jede andere von der Technik geförderte und zugleich dem Gesetz der Ökonomie unterliegende Tätigkeit (also nicht etwa die Liebe oder die Kunst) werden sich ständig dialektisch höher entwickeln, also auch höhere Produktivität verlangen. Das heißt, die Technik wird ständig umgestaltet und verbessert werden. Solch ständige Umgestaltung und Verbesserung werden stets einer Verbesserung der Technologie bedürfen. Eine Verbesserung der Technologie aber ist, wenn sie irgendwie stärkeren Fortschritt bringen soll, ohne Naturwissenschaft unmöglich. Ohne Naturwissenschaft unmöglich — wohl aber möglich ohne die Erkenntnis neuer Gesetze. Wenn wir an die ganz rohe zuvor gegebene Skizze einer möglichen Entwicklung der Naturwissenschaften denken : Allmähliche Erschöpfung der Grundlagenforschung — danach Gewichtsverlust der Erforschung notwendiger Zusammenhänge zweiten Grades —
Blick in die weitere
Zukunft
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dann wird als Möglichkeit der Entwicklung des Verhältnisses von Naturwissenschaften und Technologie vorauszusehen sein, daß, während die Naturwissenschaften mit ihren Kenntnissen der Gesetze und notwendigen Zusammenhänge zweiten Grades zwar stets die Basis der Weiterentwicklung der Technologie sein werden, die direkten Impulse zur Weiterentwicklung jedoch fast nur noch aus den Forderungen der Produktion und Technik an die Technologie, in geringem Ausmaß durch Weiterentwicklung der naturwissenschaftlichen Erkenntnis neuer Gesetze und notwendiger Zusammenhänge zweiten Grades kommen werden. Das heißt, man kann, sagen wir für die nächsten hunderttausend Jahre, sich folgendes Modell der Entwicklung vorstellen: Allmähliche Erschöpfung der Grundlagenforschung, aber stete Anwendung ihrer in der Vergangenheit erworbenen Erkenntnisse auf die Erforschung von notwendigen Zusammenhängen zweiten Grades bzw. die Technologie. Allmählicher Verlust — viel später — an Gewicht auch der Erforschung notwendiger Zusammenhänge zweiten Grades, aber stete Anwendung ihrer in der Vergangenheit erworbenen Erkenntnisse auf die Technologie. Ständige Neuschöpfungen der Technologie bei abnehmendem Gewicht der aus der Grundlagenforschung und der Erforschung von notwendigen Zusammenhängen zweiten Grades erfolgenden Impulse. Das heißt, es ist möglich, daß der sogenannte wissenschaftliche Vorlauf einmal praktisch nur noch in der Sammlung von für die Entwicklung der Technologie relevanten Tatsachen bestehen wird. In dieser — natürlich sehr, sehr fernen — Zeit wird die in der Vergangenheit akkumulierte naturwissenschaftliche Erkenntnis von Gesetzen und notwendigen Zusammenhängen zweiten Grades die gesicherte Basis einer vom Gesetz der Ökonomie getriebenen, ständig fortschreitenden Technologie sein. Denn die Produktivität der menschlichen Tätigkeit wird überall, wo das Gesetz der Ökonomie der Zeit gilt, ständig steigen.
Wir haben hier natürlich nur kommunistische Verhältnisse vorausgesetzt, was selbstverständlich die einzig reale Voraussetzung ist. Ist es doch nur eine Frage relativ kurzer Zeit, bis die Welt sozialistisch ist, und eine Frage nicht sehr viel längerer Zeit, bis die Welt in die Epoche des vollendeten Kommunismus getreten ist.
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KAPITEL
VII
Die Gesellschaftswissenschaften
Die Zukunft der Gesellschaftswissenschaften ist grundverschieden von der der Naturwissenschaften. Denn die Gesellschaftswissenschaften sind historische Wissenschaften. Und solange es Historie gibt, solange „die Menschen Geschichte machen", das heißt, solange es Menschen geben wird, also für immer, wird es notwendig sein, das immer sich wandelnde und fortschreitende gesellschaftliche Geschehen theoretisch zu erfassen. Das heißt natürlich nicht, daß alle einzelnen Gesellschaftswissenschaften fortbestehen werden, oder daß sie untereinander das gleiche Gewicht haben werden, das sie heute besitzen. So wird ganz offenbar im Laufe des Kommunismus einmal das Völkerrecht und damit die Entwicklung seiner Theorie verschwinden, weil die einzelnen Völker als Rechtssubjekte verschwinden werden. Lange vorher schon wird die Kriegswissenschaft aufhören sich zu entwickeln, da die Kriege und ihre Ursachen verschwunden sein werden. Beide Wissenschaften werden dann nur noch als „Hilfswissenschaften" des historischen Studiums weit zurückliegender Zeiten Bestand haben. Wie aber steht es mit der Politischen Ökonomie als Wissenschaft? Rosa Luxemburg vertrat die Auffassung: „Die Nationalökonomie als Wissenschaft hat ihre Rolle ausgespielt, sobald die anarchische Wirtschaft des Kapitalismus einer planmäßigen, von der gesamten arbeitenden Gesellschaft bewußt organisierten und geleiteten Wirtschaftsordnung Platz gemacht hat. Der Sieg der modernen Arbeiterklasse und die Verwirklichung des Sozialismus bedeuten somit das Ende der Nationalökonomie als Wissenschaft. Hier knüpft sich der besondere Zusammenhang zwischen Nationalökonomie und dem Klassenkampf des modernen Proletariats." 197 Wir wissen wahrhaftig aus der Erfahrung des letzten Halbjahrhunderts, daß das nicht richtig ist, und auch, daß wir erst am Anfang des Aufbaus einer Politischen Ökonomie des Sozialismus sind. 197
R. Luxemburg,
Ausgewählte Reden und Schriften. I. Bd. Berlin 1951, S. 491.
Die
Gesellschaftswissenschaften
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Auf der anderen Seite scheint es mir falsch zu glauben, daß die Politische Ökonomie des Sozialismus bzw. des Kommunismus einfach wie bisher sich stetig weiterentwickeln wird. Wenn Engels im „Anti-Dühring" für, sagen wir, den vollendeten Sozialismus in einer sozialistischen Welt bemerkt: „An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen" 1 9 8 — dann deutet sich hier bereits eine Wandlung im Charakter der Ökonomie im Laufe der Entwicklung des Kommunismus an, die die Politische Ökonomie dem Charakter der Naturwissenschaften nähert. Ist es nicht sehr wahrscheinlich, daß, wenn der Kommunismus ökonomisch insofern vollendet ist, als jeder nach seinen Bedürfnissen erhält, auch das, was wir die Grundlagenforschung zur Theorie der Ökonomie nennen, ihrem Ende entgegengeht? Man wird sich dann, mit der Weiterentwicklung der kommunistischen Gesellschaft, auf ökonomischem Gebiet vor allem mit „notwendigen Zusammenhängen zweiten Grades" beschäftigen, und auch diese Beschäftigung wird im Laufe der Zeit an Gewicht verlieren können — während die Sammlung und systematische Ordnung relevanter Tatsachen stets andauern wird. Wieder ganz anders steht es mit der Wissenschaft des historischen Materialismus, der Philosophie der gesellschaftlichen Entwicklung. Man kann doch wohl sagen, daß Marx und Engels ein so umfassendes System der allgemeinen, der fundamentalen, für alle Zeiten, seit eh und je wie auch für alle Zukunft gültigen Gesetze entwickelt haben, daß schon seit einem Jahrhundert auf dem, was wir das Fundament der Grundlagenforschung nennen wollen, kein Fortschritt mehr notwendig war. Was das Verhältnis von Sein und Bewußtsein, Ökonomie und Politik, Individuum und Gesellschaft, Freiheit und Notwendigkeit und andere Grundprobleme betrifft, so gehören die Lösungen von Marx und Engels, wie Lenin das nennt, zum ABC des Marxismus. Auf der anderen Seite kann man sich nicht vorstellen, daß es nicht im Laufe der historischen Entwicklung neue „notwendige Zusammenhänge zweiten Grades" geben wird, deren Entdeckung und Erforschung Aufgabe der Philosophie der gesellschaftswissenschaftlichen Entwicklung sein werden. Die Philosophie der Gesellschaft wird wohl niemals den Stand erreichen, auf dem es nur noch darauf ankommen wird, relevante Tatsachen zu sammeln und systematisch zu ordnen. Noch anders steht es zum Beispiel um die Kunstwissenschaft, da in ihr schon der Entwicklungsbegriff ein ganz anderer ist als in den hier betrachteten Wissenschaften. Man bedenke nur die öfter zitierte Überlegung von Marx in der „Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie" : „Aber die Schwierigkeit liegt nicht darin, zu verstehn, daß griechische Kunst »98 Marx/Engels, 10*
Werke. Bd. 20, S. 262.
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und Epos an gewisse gesellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft sind. Die Schwierigkeit ist, daß sie für uns noch Kunstgenuß gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten. Ein Mann kann nicht wieder zum Kinde werden oder er wird kindisch. Aber freut ihn die Naivität des Kindes nicht, und muß er nicht selbst wieder auf einer höhern Stufe streben, seine Wahrheit zu reproduzieren? Lebt in der Kindernatur nicht in jeder Epoche ihr eigner Charakter in seiner Naturwahrheit auf? Warum sollte die geschichtliche Kindheit der Menschheit, wo sie am schönsten entfaltet, als eine nie wiederkehrende Stufe nicht ewigen Reiz ausüben? Es gibt ungezogene Kinder und altkluge Kinder. Viele der alten Völker gehören in diese Kategorie. Normale Kinder waren die Griechen. Der Reiz ihrer Kunst für uns steht nicht im Widerspruch zu der unentwickelten Gesellschaftsstufe, worauf sie wuchs. Ist vielmehr ihr Resultat und hängt vielmehr unzertrennlich damit zusammen, daß die unreifen gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie entstand und allein entstehn konnte, nie wiederkehren können." 199 (Meine Unterstreichungen — J. K.) Welch absolut fundamenter Hinweis auf den grundlegend anderen Entwicklungsbegriff in der Kunst als etwa in der Technik! Und wie ungenügend wurde er bisher zur Grundlegung eines Entwicklungsbegriffs benutzt, der vielleicht (!) nicht nur für die Ästhetik gilt. Wir wählten das Gebiet der Kunstwissenschaft als Beispiel und stellten es direkt hinter das der Philosophie der gesellschaftlichen Entwicklung, nicht nur weil der Stand der Grundlagenforschung auf beiden Wissenschaftsgebieten so verschieden ist — vollendet in ihren Fundamenten schon von Marx und Engels in dieser, noch kaum entwickelt in jener —, sondern weil sich auch manches über die Entwicklung dieser, praktisch nichts jedoch über die jener voraussagen läßt. Praktisch nichts über die Entwicklung der Kunstwissenschaft, weil wir auch so gar nicht voraussehen können, wie sich das Schönheitsgefühl der Menschen entwickeln wird. Während es offenbar ist, daß die Technologie steten Fortschritt machen wird, ganz gleich, was für Produkte die Menschen ihren wechselnden Bedürfnissen entsprechend herstellen werden, daß die Ökonomie sich zu einer Wissenschaft der Verwaltung von Sachen und der Leitung von Produktionsprozessen entwickeln wird, können wir überhaupt nicht voraussehen, wie sich die Kunst gestalten (ganz bewußt vermeide ich hier das Wort entwickeln) wird und welche Konsequenzen sich daraus für die Entwicklung (hier ist das Wort „Entwicklung" natürlich voll berechtigt) der Kunstwissenschaft ergeben werden, ob zum Beispiel die Grundlagenforschung auf diesem Wissen199
Marx/Engels, Werke. Bd. 13, S. 641 f.
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schaftsgebiet wesentlich länger als auf dem der Naturwissenschaften andauern muß, ja ob sie je ein Ende finden wird.
Bei den Naturwissenschaften gingen wir davon aus, daß es eine begrenzte Zahl universal geltender Gesetze für die endliche oder unendliche Natur gibt. Gilt aber das gleiche nicht für die Gesellschaft? In gewisser Weise ja — insofern nämlich als das, was wir die fundamentalsten Gesetze nennen, auch für die Gesellschaft universal gilt: zum Beispiel, daß das gesellschaftliche Sein das Bewußtsein bestimmt oder das Gesetz der Ökonomie der Zeit. Auf der anderen Seite sind wir in der Grundlagenforschung auf vielen Gebieten der Gesellschaftswissenschaften noch so zurück, daß ich noch 1963 schreiben konnte: „Damit ergibt sich aber die Notwendigkeit, endlich eine Wissenschaft der Produktivkräfte wie übrigens auch vom Uberbau zu entwickeln. Ja, zu entwickeln! Denn wo gibt es heute eine Wissenschaft der Produktivkräfte, die die Gesetze der Entwicklung der Produktivkräfte zum Untersuchungsgegenstand hat? Es gibt sogar Wissenschaftler, die behaupten, es gäbe gar nicht solche Gesetze. Was würden sie zu den folgenden Gesetzen sagen? — dem Gesetz der wachsenden organisch-technischen Zusammensetzung der Produktivkräfte; dem Gesetz der steten Beschleunigung der Entwicklung der Produktivkräfte; dem Gesetz der wachsenden Arbeitserfahrung. Wo gibt es zum Beispiel eine Wissenschaft des Uberbaus, die die Gesetze der Entwicklung des Uberbaus zum Untersuchungsgegenstand hat? Es gibt sogar Wissenschaftler, die behaupten, es gäbe gar nicht solche Gesetze. Was würden sie zu den folgenden Gesetzen sagen? — dem Gesetz des wachsenden Gewichts von Einrichtungen im Uberbau; dem Gesetz der zunehmenden Bedeutung des gesellschaftlichen Bewußtseins." 200 Inzwischen sind wir für die Produktivkräfte, dank vor allem auch der Forschungen von Wolfgang Jonas, etwas vorangekommen, während die Grundlagenerforschung der Bewegungsgesetze des Uberbaus noch sehr im argen liegt. Jedoch ist das gewissermaßen nur ein Zeit-, ein time-lag-Argument. Viel grundlegender ist folgende Tatsache. Die Natur verändert sich, die Gesellschaft entwickelt sich.201 Wenn wir von den fundamentalsten Gesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung der Art, wie wir sie soeben genannt haben, absehen, 200 J. Kuczynski, Der Gegenstand der Wirtschaftsgeschichte, in: „Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte", Jg. 1963, Teil I, S. 144. 201 Wenn die Natur sich entwickelt, dann nur insofern als sich der Mensch ihrer bemächtigt, sie also „vergesellschaftet".
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dann wird die Gesellschaft, die sich j a ständig dynamisch entwickelt, als Ganze (nicht in allen ihren Funktionen) stets neue Aufgaben auch für die Grundlagenforschung stellen. Die Mannigfaltigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung läßt sich nicht voraussehen, und darum auch nicht die Grundlagenforschung in ihren Hauptzügen. W i r wissen, daß der Staat einmal absterben wird — und damit die Staatslehre. W i r wissen aber nicht, welche gesellschaftlichen Organisationsformen die menschliche Gesellschaft annehmen wird, obwohl wir mit Sicherheit voraussehen können, daß sie sich ständig, von Zeit zu Zeit, ändern werden, da man sich nicht eine permanent optimale Organisationsform unter den Bedingungen etwa der permanenten Gültigkeit der Gesetze der Ökonomie der Zeit, der ständigen Arbeitsteilung, des wachsenden Gewichts von Einrichtungen im Uberbau vorstellen kann. Das heißt, wenn wir nicht an einzelne Gesellschaftswissenschaften denken, die in der Tat, bei Aufbewahrung ihrer Erkenntnisse, als forschende absterben können, sondern an den Gesamtkomplex der Gesellschaftswissenschaften, dann können wir rechnen mit einer Permanenz: der Grundlagenforschung (auf der Basis der fundamentalsten von M a r x und Engels entdeckten Gesetze), der Erforschung notwendiger Zusammenhänge zweiten Grades, der Sammlung und systematischen Ordnung von relevanten Tatsachen — im Gegensatz zu den Naturwissenschaften.
KAPITEL
VIII
Die Rolle der Wissenschaft in der Zukunft
Mit der zunehmenden Meisterung von Natur und Gesellschaft hat auch die gesellschaftliche Rolle der Wissenschaft zugenommen. Wie wird sie sich in der Zukunft gestalten? G. N. Wolkow bemerkt in seiner schon oft zitierten Soziologie der Wissenschaft: „Auf welchem Gebiet, an welchem Problem der Mensch des dritten Jahrtausends auch arbeiten mag, seine Tätigkeit wird immer von der Wissenschaft durchdrungen sein. Aus diesem Grunde ist das Problem, was der zukünftige Mensch sein wird, ob sich das jahrhundertealte ,Drängen und Streben nach Vollkommenheit' erfüllen oder ob er ,Teil'mensch bleiben wird, ob er wie früher ein enger Spezialist oder aber ein Universalist sein wird, nur zu lösen, indem vor allem die Tendenzen im Bereich der Wissenschaft analysiert werden . . . Wenn wir davon ausgehen, daß die Welt der kommunistischen Zukunft in erster Linie eine Welt der Wissenschaft ist, dann ist die enorme Bedeutung der folgenden Fragen verständlich: Was ist die menschliche Seite der Wissenschaft? Was für einen Charakter trägt die Arbeit auf dem Gebiet der Wissenschaft und welcher Art ist die Arbeitsteilung? Welche Anforderungen stellt die wissenschaftliche Tätigkeit an die persönlichen Qualitäten der Menschen, die Wissenschaft betreiben? Anders ausgedrückt, welchen Menschen formt die Wissenschaft heute und was für einen Menschen wird sie morgen formen?" 202 Aber wird die Welt des Kommunismus wirklich „eine Welt der Wissenschaft" sein?, wird die Tätigkeit des Menschen des dritten Jahrtausends, „auf welchem Gebiet er auch arbeiten mag", „immer von der Wissenschaft durchdrungen sein"? Natürlich werden im vollendeten Kommunismus alle Menschen wissen202
G. N. Wolkow, a. a. O., S. 313 f.
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Die Rolle der Wissenschaft in der Zukunft
schaftlich gebildet sein. Natürlich wird die Wissenschaft, überall, wo sie anzuwenden ist, angewandt werden. Aber wird die W e l t dadurch „eine W e l t der Wissenschaft"? werden deswegen alle Arbeiten „immer von Wissenschaft durchdrungen sein" ? In gewissem Sinne j a — denn auch der Künstler wird wissenschaftlich gebildet sein, und die Liebenden werden nicht nur auf Grund von Erfahrungswerten, sondern auch biologisch gebildet wissen, daß sie nicht Fliegen
als
Kinder zur W e l t bringen können. Aber nicht in dem Sinne, daß die Bedeutung der Wissenschaft bis in alle Zukunft zunehmen wird. Erinnern wir uns noch einmal an den letzten Satz des zuvor gegebenen Zitats aus den „Grundrissen" von M a r x : „Die freie Entwicklung der Individualitäten, und daher nicht das Reduzieren der notwendigen Arbeitszeit um Surpiusarbeit zu setzen, sondern überhaupt die Reduktion der notwendigen Arbeit der Gesellschaft zu einem Minimum, der dann die künstlerische, wissenschaftliche etc. Ausbildung der Individuen durch die für sie alle freigewordne Zeit und geschaffnen Mittel entspricht." Ist es ein Zufall, daß M a r x zuerst von der künstlerischen und erst dann von der wissenschaftlichen Ausbildung spricht?, oder möchte M a r x hier nicht andeuten, daß die künstlerische Ausbildung unter Umständen ein ebenso großes, j a zeitweise größeres Gewicht haben kann als die wissenschaftliche? Und wenn Wolkow sagt, die W e l t des Kommunismus wird „eine W e l t der Wissenschaft" sein, wird man nicht mit gleichem Recht sagen können, sie wird „eine W e l t der Schönheit" oder „eine W e l t der M o r a l " sein? W e n n Alle materielle Lebensgüter nach ihren Bedürfnissen
erhalten
—
sollte es nicht möglich sein, daß die Menschen sich gelegentlich sagen: im nächsten J a h r z e h n t werden wir weniger W e r t auf die Weiterentwicklung der Wissenschaft und mehr Wert auf die Weiterentwicklung der Kunst legen? Wolkow kritisiert eine Diskussion in der Zeitschrift „Fragen der Philosophie" über die Arbeitsteilung in der Zukunft so : „ E s ist unschwer zu erkennen, daß in diesem Falle die Gegenwart über die Zukunft triumphiert und letztere einfach als eine Fortführung dessen gesehen wird, was bereits heute vorhanden ist. Danach wäre also, wie der Leningrader Schlosser K . Sergejew richtig bemerkte, das Ideal der Zukunft jeder beliebige Schlosser, der seine Tätigkeit wechselt, vom Feilen zum Bohren, vom Bohren zum Anreißen übergeht, und damit wäre das ganze Problem erledigt. W e n n wir nicht die Zukunft der nächsten J a h r e ins Auge fassen, sondern die entwickelte kommunistische Zukunft, so läßt sich diese schon nicht mehr mit den Maßstäben des Heute messen. Hierzu ist eine Dynamik des Denkens er-
Die Rolle der Wissenschaft in der Zukunft
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forderlich, die auch der Dynamik der sozialen Umgestaltung entsprechen müßte." 203 Ist Wolkow aber mit seiner Vision der Welt des Kommunismus als Welt der Wissenschaft nicht in den gleichen Fehler verfallen? Geht nicht auch er von einer Welt der Gegenwart aus, in der die Meisterung der Natur, in der die Technologie noch auf so niedrigem Niveau sind, daß der arbeitende Mensch im Sozialismus, in der ersten Phase des Kommunismus, erst entsprechend seinen Leistungen erhält? Die Welt des vollendeten Kommunismus wird nicht nur unendlich viel reicher an materiellen, geistigen und sinnlichen Werten sein als die gegenwärtige. Sie wird auch den verschiedenen menschlichen Aktivitäten und Bedürfnissen andere und von Zeit zu Zeit sich wandelnde Gewichtungen im Gesamtsystem der gesellschaftlichen Werte geben, als wir es heute tun. Ja, erklärt nicht schon gegenwärtig Kurt Hager: „Wir können weder auf die Entdeckungen der Wissenschaften noch auf die Entdeckungen der Künste verzichten." 204
203 204
Ebendort, S. 312. K. Hager, Zu Fragen der Kulturpolitik der SED. Berlin 1972, S. 31.
^Namenverzeichnis von Margarete
Kreipe
Condorcet, M. J . A. N. Crick, Fr. 75 Curie, Ehepaar 47
Abbé de Saint-Pierre 108 Ackoff, R. U. 63 Afanasjew, W. G. 74, 93 Ambarcumjan, N. A. 49 f. Andrews, Fr. M. 87 Archimedes 24, 135 Aristoteles 59 Auger, P. 45 Augustinus, A. 107 Bacon, F. 29, 108, 110 Barnes, H. E. 106 Becker, C. 110 Bell, D. 124 Berkner, L. V. 64 Berlin, I. 106 Bemal, J . D. 30, 42, 45, 47 f., 63, 74 Blake, W. 125 Bodin, J . 107 f. Bohr, N. 47, 86 Born, H. 67 Born, M. 67, 70, 118 Boulding, K. 110 Bragg, W. H. 47 Breshnew, L. I. 24, 38 Broglie, L. de 85 f. Burckhardt, C. J . 118 Burg, J . B. 107 Bush, V. 61, 115 Butlerov, A. M. 49 Cannizzaro, S. (Canizzaro) Comte, J . M. A. F. 109
49
108
Dam, H. W. J . 24 Danilewski, N. Y . 106 Darwin, Ch. 58, 62, 109 Dawes, Ch. G. 22 Dedijer, S. 58 Delbrück, M. 75 Delvaille, J . 107 Denison, E. F. 26 Descartes, R. 108 Diderot, D. 108 Dirac, P. A. M. 59, 85 Dobrow, G. M. 4 5 - 4 7 , 51 f., 54, 5 6 - 5 8 , 6 1 - 6 3 , 70, 74 f., 77, 9 6 - 9 8 Duzenkov, V. I. 64 f. Eckermann, J . P. 76 Einstein, A. 47, 58, 67, 70, 79 Eisenhower, D. D. 15 f. Engels, Fr. 58 f., 109, 130, 139 f. Farrington, B. 134 Fedossejew, P. N. 124 Fichte, J . G. 109 Fischer, K. 18 Ford, H. 93 Fourastie, J . 117 Fourier, Ch. 109 Freyer, H. 119
Namenverzeichnis
148 Galbraith, J . K. 11 Galilei, G. 29 Gallino, L. 117 Galston, A. W. 78 Garaudy, R. 11 Gentner, W. 55 Glanvill, J . 108 Glass, B. 110, 115, 134 Goethe, J . W. 60, 76, 81, 83 Goetz, N. v. 25 Gorbovskij, A. 52 Gorki, M. 124 Guizot, G. 109 Habermas, J . 119 f. Hager, K, 34, 74, 145 Haibert, M. N. 63 Hamm-Brücher, H. 37 Harnack, A. v. 80 Haskins, C. P. 125 Hassel, K. U. v. 22 Hegel, G. W. Fr. 59, 109 Heimendahl, E. 117 f. Heisenberg, W. 83 Horaz 107 Hoyle, F. 95 Huizinga, J . 119 Hume, D. 78 Huxley, A. 114 f. Iontov, A. S.
86
Joliot-Curie, F. 48, 86 Judelewitsch, M. 99 Jungk, R. 86 Kapiza, P. L. (Kapica) 79, 86, 88 Karpov, M. M. 61 Keats, J . 125 Kekulé von Stradonitz, A. 49 Keldysch, M. 40 f. Kepler, J . 29 Kirienko, E. G. 51 Klein, B. H. 26 f.
Kolko, G. 16 Krauch, H. 19, 2 6 - 2 8 , 36 f., 83 f. Krupp, Firma 17 Kuhn, Th. 61 f. Kuznecova, M. P. 51 Lehman, H. C. 70 Leibniz, G. W. 48, 108 Lejkin, E. G. 64, 85 Lejman, I. I. 59 f., 86, 88 Lenin, W. I. 41, 50, 58 f., 102, 139 Liebknecht, W. 110 Long, F. A. 26 Luria, S. 75 Luxemburg, R. 138 Maisei, I. A. 99 Malecki, I. 62 Marcuse, H. 11, 1 2 0 - 1 2 2 Maritain, J . 107 Marx, K. 20, 54, 58 f., 65, 82, 87 f., 109, 1 2 1 - 1 2 3 , 130, 139 f., 144 Melestschenko, J . S. 53 f. Melman, S. 16, 35 Mendeleev, D. I. 49 Menke-Glückert, P. 22 Meyer, L. B. 116 Michajlov, 0 . A. 51 Michelet, J . 109 Mignet, F. A. M. 109 Mikulinskij, S. R . 50, 71, 80, 92 f., 96, 100 f. Mishan, E. J . 119 Möllenhoff, C. R. 22 Naumann, J . 26 Nelson, G. 22 Nelson, R. 27 Neumann, J . v. 59 Newton, I. 29, 48, 58 f. Nick, H. 40 f. Olszweski, E. 62 Oppenheimer, R. 54
Namenverzeichnis Ortega y Gasset, J . Owen, R. 109
1 1 1 - 1 1 4 , 116
Pavlov, I. P. 86 Pawljutschenko, W. 30—34 Pelz, D. C. 87 Pirenne, H. 106 Planck, M. 47, 49 Platon 107 Poincaré, H. 67, 76, 83 Popper, K. R . 106 Price, D. J . de Solla Quesnay, F.
29, 45, 5 6 - 5 8 , 61
108
Selig, K. 79 Shakespeare, W. 76 Smith, A. 108 Saminski, W. 99 Speidel, H. 18 Spencer, H. 109 Spengler, O. 106 Steenbeck, M. 23, 36 Stent, G. S. 110, 112, 115 f. Stimson, H. L. 16 Strauß, F. J . 17 Swarykin, A. A. 69 Sweezy, P. 11 Szilard, L. 95
Rathenau, W. 17 Renan, J.-E. 64 Rickover, H. G. 95 Rilling, R . 17 f. Rivière, Mercier de la 108 Rodnyj, N. I. 49, 52, 54 f., 59 Röntgen, W. C. 24
Taton, R . 78 Thierry, A. 109 Thiers, A. 109 Tondl, L. 62 Toynbee, A. 106 Turgot, A. R. J . 108
Rompe, R. 7, 13, 17, 20, 39, 52, 59, 69, 75 f., 80 f., 91, 101, 110, 112, 115, 133 f. Rose, H. 78 Rose, St. 78 Rutherford, E. 47
Watson, J . D. 75 Weidenbaum, M. L. 27 Weinberg, A. M. 55 f., 84 f., 94 f. Weizsäcker, C. F. v. 118 f. Werner, K. 7 Weyl, H. 59 Wienand, K. 22 f. Wiener, N. 90 Wigner, E. P. 83 f. Willikens, M. 18 Wilson, M. 88 Wörner, M. 18 Wolkow, G. N. 7 7 - 8 3 , 87, 9 0 - 9 2 , 98 f., 1 4 3 - 1 4 5 Wordsworth, W. 125 Wurtz, Ch. A. 49
Sämisch, R. 34 Saint-Simon, C.-H. 109 Schatz, O. 117 Schelsky, H. 119 f. Schenkman, R. 87 Schliesser, W. 24 Schmücker, K. 22 Schreiber, K. 37 Schreiterer, M. 18 Schuchardin, S. W. 40 Schwab, J . J . 111 Seidenberg, R . 115
Zinin, F. 49 Zuckerman, S.
78