Wechselseitige Erwartungslosigkeit?: Die Kirchen und der Staat des Grundgesetzes – gestern, heute, morgen 9783110623406, 9783110620078

The relationship of the secular state to the churches was already a matter of conflict in the early post-war period – wi

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German Pages 410 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
I. Theologisches Fremdeln oder Überschwang vermeintlicher Gemeinsamkeiten? Evangelische und katholische Kirche vor dem Grundgesetz – in der Zeit der frühen Bundesrepublik
„…daß es nicht gelungen ist, dem Grundgesetz eine tiefere religiöse Begründung zu geben“
Hinkende Annäherung
Der deutsche Protestantismus auf dem Weg zur Demokratie
Demokratische Kultur und katholische Kirche in der frühen Bonner Republik
Der demokratische Kompromiss und seine Grenzen
II. Zwischen Distanz, Akzeptanz und Über-Legitimation. Selbstverständigungsbemühungen der christlichen Kirchen in der Bonner und der Berliner Republik
Zwischen Selbstinszenierung und Wirklichkeit
Vorbehalte, Sympathien und bleibende Ungleichzeitigkeiten
III. Einweisung in die Indifferenz? Religionsverfassungsrecht und Religionspolitik in nachchristentümlicher Zeit
Aktuelle Grenzarbeiten
Religions- und Weltanschauungsfreiheit in Deutschland und ihre juristische und gesellschaftliche Gefährdung
Das Religionsverfassungsrecht der Berliner Republik als Einweisung in die wechselseitige Indifferenz von Staat und Kirchen?
Vom Interesse des Staates an den Kirchen
IV. Die Kirchen und der säkulare Staat. Ausblicke zu einem spannungsreichen Verhältnis
Berührungsängste/Berührungspunkte
Öffentlicher Protestantismus
Das Verhältnis der römisch-katholischen Kirche zum liberal-demokratischen Verfassungsstaat
Religion im Grundgesetz – Integrationsfaktor oder Konfliktherd?
Personenregister
Liste der Beitragenden
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Wechselseitige Erwartungslosigkeit?: Die Kirchen und der Staat des Grundgesetzes – gestern, heute, morgen
 9783110623406, 9783110620078

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Wechselseitige Erwartungslosigkeit?

Wechselseitige Erwartungslosigkeit? Die Kirchen und der Staat des Grundgesetzes – gestern, heute, morgen Herausgegeben von Hermann-Josef Große Kracht und Gerhard Schreiber

ISBN 978-3-11-062007-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-062340-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-062019-1 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Günter Meyer-Mintel, Moers Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

www.degruyter.com

Inhalt Vorwort

IX

I Theologisches Fremdeln oder Überschwang vermeintlicher Gemeinsamkeiten? Evangelische und katholische Kirche vor dem Grundgesetz – in der Zeit der frühen Bundesrepublik Christof Dipper „…daß es nicht gelungen ist, dem Grundgesetz eine tiefere religiöse Begründung zu geben“ Die Konfessionen und die Entstehung des Grundgesetzes 3 Kristian Buchna Hinkende Annäherung Die evangelische Kirche und der Staat des Grundgesetzes Arnulf von Scheliha Der deutsche Protestantismus auf dem Weg zur Demokratie

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Christoph Kösters Demokratische Kultur und katholische Kirche in der frühen Bonner Republik Beobachtungen am Beispiel der Geschichte des Katholischen Büros 79 1948 – 1965 Klaus Große Kracht Der demokratische Kompromiss und seine Grenzen Standortbestimmungen katholischer Laien in der Gründungsphase der 113 Bundesrepublik

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Inhalt

II Zwischen Distanz, Akzeptanz und Über-Legitimation. Selbstverständigungsbemühungen der christlichen Kirchen in der Bonner und der Berliner Republik Gerhard Schreiber Zwischen Selbstinszenierung und Wirklichkeit Zu den aktuellen programmatischen Selbstverständigungsbemühungen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gegenüber dem Staat des Grundgesetzes 135 Hermann-Josef Große Kracht Vorbehalte, Sympathien und bleibende Ungleichzeitigkeiten Die katholischen Bischöfe und ihre Verhältnisbestimmungen zum Staat des Grundgesetzes 161

III Einweisung in die Indifferenz? Religionsverfassungsrecht und Religionspolitik in nachchristentümlicher Zeit Peter Unruh Aktuelle Grenzarbeiten Religionsverfassungsrechtliche Koordinaten in Deutschland und der 185 Europäischen Union Gerhard Czermak Religions- und Weltanschauungsfreiheit in Deutschland und ihre juristische und gesellschaftliche Gefährdung 209 Anmerkungen zu neuralgischen Bereichen Stefan Korioth Das Religionsverfassungsrecht der Berliner Republik als Einweisung in die wechselseitige Indifferenz von Staat und Kirchen? 237 Judith Hahn Vom Interesse des Staates an den Kirchen Warum Berlin religionsverfassungsrechtlich nicht Bonn ist

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VII

Inhalt

IV Die Kirchen und der säkulare Staat. Ausblicke zu einem spannungsreichen Verhältnis Michael Haus Berührungsängste/Berührungspunkte Motive zur Neudeutung des demokratischen Projekts aus dem christlichen Glauben heraus 277 Christian Albrecht und Reiner Anselm Öffentlicher Protestantismus Grundzüge eines Programms der gesellschaftlichen Präsenz und der 299 politischen Aufgaben des evangelischen Christentums Georg Essen Das Verhältnis der römisch-katholischen Kirche zum liberal-demokratischen Verfassungsstaat Eine ungeklärte Beziehung ohne Zukunftsperspektive 309 Horst Dreier Religion im Grundgesetz – Integrationsfaktor oder Konfliktherd? Personenregister

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Liste der Beitragenden

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Vorwort Der vorliegende Band geht zurück auf eine interdisziplinäre Arbeitstagung, die anlässlich des 40-jährigen Bestehens des Instituts für Theologie und Sozialethik (iths) am 26./27. Januar 2018 an der Technischen Universität Darmstadt stattfand. Die Tagung stand – im Blick auf das bevorstehende Jubiläum des Bonner Grundgesetzes – unter dem Titel „Wechselseitige Erwartungslosigkeit? Die Kirchen und der Staat des Grundgesetzes – gestern, heute und morgen“. Der Einladung zu dieser Tagung lag ein zugespitzter Programmtext zugrunde, der ihre inhaltliche Ausrichtung – im Modus der Zustimmung oder der Zurückweisung – schärfen und profilieren sollte: Nach dem Untergang des nationalsozialistischen Deutschlands stand die neu entstehende Bundesrepublik hegemonial im Zeichen einer christlichen Erneuerung. Die christlichen Kirchen, die der damals verbreiteten Wahrnehmung zufolge die ‚dunkle Zeit‘ politisch und moralisch weithin unbeschadet überstanden hatten, aber auch der junge und noch unsichere Staat des Grundgesetzes, der wegen seiner säkularen Verfassungsprinzipien auf erhebliche kirchliche Skepsis traf, erwarteten viel voneinander. Die Kirchen waren weithin davon überzeugt, dass eine gelingende Zukunft Deutschlands nur im Rahmen einer politisch-moralischen ‚Rechristianisierung‘ von Staat und Gesellschaft möglich sei – und wollten dafür ganz selbstverständlich auch den Staat der Bundesrepublik in Anspruch nehmen; und die junge Bonner Republik, auch wenn sie sich keineswegs als ‚christlicher Staat‘ verstehen wollte, war noch überwiegend davon überzeugt, dass sie ohne die kulturelle Unterstützung der großen Kirchen nicht dauerhaft bestandsfähig sein könne. Im kirchenfreundlichen Staatskirchenrecht der frühen Bundesrepublik fanden diese wechselseitigen Hilfe- und Unterstützungserwartungen zwischen Kirchen und Staat dann auch ihren verfassungsrechtlichen Ausdruck. Heute befindet sich dieses ‚kirchenprivilegierende‘ Staatskirchenrecht im rasanten Umbauprozess zu einem ‚neutralen‘ – manche meinen auch: indifferenten – Religionsverfassungsrecht, das sich durch die Ausgangsvermutung zu kennzeichnen scheint, dass sich Kirchen und Staat in den postchristentümlichen Verhältnissen der Berliner Republik wechselseitig nicht mehr ‚brauchen‘. Und in der Tat kann man den Eindruck gewinnen, dass beide heute ganz gut und routiniert ‚erwartungslos nebeneinander her‘ leben können und wollen. Jedenfalls scheint es heute zum wesentlichen Kern einer demokratischen Verfassung zu gehören, dass Staat und Gesellschaft nicht (mehr) auf christliche Werte – in welcher Art auch immer – angewiesen sein können und dürfen; und auch die Kirchen scheinen sich heute nicht mehr sicher zu sein, ob und ggf. wie sie ihrerseits noch politisch-moralische Beiträge zur Legitimation und Unterstützung des modernen Verfassungsstaates leisten können und dürfen. Von daher drängt sich in zeitgeschichtlicher und in systematischer Perspektive die Frage auf, ob für die Zukunft des Verhältnisses von christlichen Kirchen und säkularem Staat von einem Zeitalter der wechselseitigen Erwartungslosigkeit, der freundlich-indifferenten ‚Nachbarschaft‘ auszugehen ist, das vor allem dadurch geprägt sein könnte, dass man die bisherigen Umgangsformen möglichst lange geräuschfrei aufrechtzuerhalten versucht, sich ansonsten aber möglichst nicht in die Quere kommen will. Kurzum: Wer braucht in der Berliner Republik heute noch wen? https://doi.org/10.1515/9783110623406-001

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Vorwort

Die Beiträge dieses Bandes sind in vier thematische Sektionen unterteilt. Sektion I beleuchtet das Verhältnis von Kirchen und Staat in der Zeit der frühen Bundesrepublik. In Sektion II werden die programmatischen Bemühungen der beiden christlichen Kirchen behandelt, ihr Verhältnis zum säkularen Staat der Bonner und Berliner Republik zu bestimmen, bevor in Sektion III das Verhältnis von Religionsverfassungsrecht und Religionspolitik in ‚nachchristentümlicher Zeit‘ in den Blick genommen wird. In Sektion IV werden schließlich in interdisziplinärer Perspektive systematische Beiträge zu den möglichen Zukunftspotenzialen im Verhältnis von Kirchen und säkularem Staat präsentiert. Dabei wird deutlich, dass dieses Verhältnis wohl noch auf lange Zeit durch deutliche Spannungen und Ungleichzeitigkeiten, vielleicht aber auch durch neuartige und durchaus produktive Beziehungen geprägt sein dürfte, die bisher noch zu wenig in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt (worden) sind. Wir möchten den Referentinnen und Referenten unserer Jubiläumstagung herzlich danken, dass sie sich so offen und engagiert auf das Tagungsprogramm eingelassen haben. Besonders danken wir denjenigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die ihre Vorträge zu eigenständigen Beiträgen für diesen Band ausgearbeitet haben. Wir danken aber auch denjenigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die unabhängig von der Tagung unserer Bitte um einen Beitrag nachgekommen sind und so zur thematischen Abrundung dieses Bandes beigetragen haben. Unser herzlicher Dank gilt ferner Pfr. i.R. Dr. Günter Meyer-Mintel (Moers) für die Gestaltung der Umschlagseite. Danken möchten wir schließlich Vanessa Brandes und Manuel Noe für ihre zuverlässige Mitarbeit bei der Erstellung des Personenregisters und der Literaturverzeichnisse sowie dem Bistum Mainz und der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) für ihre großzügigen Druckkostenzuschüsse. Last, not least gilt unser Dank dem Verlag De Gruyter, namentlich Dr. Albrecht Döhnert und Katrin Mittmann, für die Aufnahme ins Verlagsprogramm und die kompetente verlegerische Betreuung. Darmstadt, April 2019 Hermann-Josef Große Kracht

Gerhard Schreiber

I Theologisches Fremdeln oder Überschwang vermeintlicher Gemeinsamkeiten? Evangelische und katholische Kirche vor dem Grundgesetz – in der Zeit der frühen Bundesrepublik

Christof Dipper

„…daß es nicht gelungen ist, dem Grundgesetz eine tiefere religiöse Begründung zu geben“* Die Konfessionen und die Entstehung des Grundgesetzes 1945 waren die Mägen leer, die Gotteshäuser voll und die Kirchen die einzigen Organisationen, die die Alliierten unangetastet ließen. Hatten auch Post und Bahn zunächst den Betrieb eingestellt, erhielten die Oberhirten privilegierten Zugang zu Lebensmittelkarten, Autos, Benzin, bekamen rasch Passierscheine und hatten hinreichend Bewegungsfreiheit, sodass sie schon wenige Monate nach Kriegsende an unzerstörten Orten Treffen abhalten konnten, zu denen Vertreter aus allen vier Besatzungszonen anreisten.¹ Macht besaßen die beiden Kirchen nicht, aber Einfluss – und ihr Prestige befand sich auf einem in neueren Zeiten einmaligen Höhepunkt. Besatzungsoffiziere fragten sie nach vertrauenswürdigen Personen für politische Funktionen, in seltenen Fällen übernahmen sie diese selbst, sie waren bevorzugte Ansprechpartner ausländischer Hilfsorganisationen und begannen mit dem (Wieder‐)Aufbau von Hilfswerken. Ihr religiöses Weltbild erlaubte ihnen problemlos, die Trauer über die gegenwärtige Katastrophe mit Hoffnung für die Zukunft zu verbinden, ja es war in ihren Augen Gottes Wille, die Deutschen für ihre Sünden so zu strafen, dass sie nach getaner Buße bereit sein würden, mit Hilfe der Geistlichen einer lichtvollen Zukunft entgegenzugehen. Verchristlichung des Lebens, im Idealfall unterstützt durch einen christlichen Staat, lautete die bis 1949 immer wieder zu hörende Losung. * Die deutschen Bischöfe, „Erklärung nach Annahme des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland“, 23.05.1949, in Hirtenbriefe und Ansprachen zu Gesellschaft und Politik 1945 – 1949, hg. von Günter Baadte und Anton Rauscher, bearb. von Wolfgang Löhr, Würzburg: Echter 1985, Nr. 73, 311– 316, 313.  Die ersten Sitzungsorte protestantischer Amtsträger 1945 waren Stuttgart, Frankfurt/Main und Treysa, diejenigen katholischer Kevelaer und Fulda. Ebenso exzeptionell wie die Person selbst war auch das Reiseprogramm Martin Niemöllers nach seiner Befreiung in den Dolomiten am 30.04.1945: nach Neapel (wohin er mit Hilfe der Amerikaner seine in Leoni am Starnberger See lebende Frau kommen ließ), von dort über Paris nach Frankfurt/Main, wo er zunächst unterkam, später auch in Wiesbaden. Er nahm an sämtlichen protestantischen Konferenzen teil, reiste dazwischen mehrfach an andere Orte und nach Leoni und zog von dort im November nach Büdingen ins Schloss der Fürsten von Ysenburg. Spätestens von hier an verfügte er auch über Personal, vielfach das alte aus Berlin, das ihn bei seinen Aufgaben unterstützte. Einzelheiten bei Wilhelm Niemöller, Neuanfang 1945. Zur Biographie Martin Niemöllers, Frankfurt a. M.: Stimme-Verlag 1967. https://doi.org/10.1515/9783110623406-002

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Christof Dipper

Solche Hoffnungen haben sich nicht bestätigt. Die hauptsächlichen Gründe dafür werden in diesem Beitrag zusammengestellt. Es sind im Wesentlichen drei: das Verhältnis zur Welt, die daraus abgeleitete Programmatik und die Fähigkeit zur politischen Einflussnahme. Zum Stand der Forschung nur wenige, den Kenner nicht überraschende Worte. Da dieser Beitrag im Schnittpunkt von Theologie-, Kirchen- und allgemeiner Geschichte angesiedelt ist, dürfte es nur ganz wenige Namen geben, die auf allen drei Feldern zuhause sind bzw. waren. Genannt seien von theologischer Seite nur die bereits verstorbenen zeitgeschichtlich arbeitenden Kurt Nowak und Martin Greschat, während von allgemeinhistorischer Seite wegen ihrer wegweisenden religionsgeschichtlichen Beiträge die Namen von Lucian Hölscher und Thomas Großbölting fallen müssen. Religionsgeschichte wird in diesem Beitrag jedoch nur gestreift.Werden in der Forschung schon die disziplinären Grenzen nur selten überschritten, so gilt das noch viel mehr von den konfessionellen,² denn hieran wirken auch institutionelle Grenzen, insbesondere natürlich Fakultäten, mit. Zu den Folgen zählen die oft problematische Qualität dieser Disziplin und ihr Nischendasein im Rahmen der Geschichtswissenschaft insgesamt. Die breite Akzeptanz des Säkularisierungsparadigmas ist ein klares Signal, obwohl seine verbreitete Trivialversion wenig Erklärungskraft besitzt.³ Das ändert natürlich nichts daran, dass es für wahr gehalten wird – damals deutlich mehr als in der Gegenwart – und folglich eine wesentliche Rolle für das christliche Weltverständnis spielt(e). Dazu nachfolgend einige wenige Belege.

 Eine Ausnahme ist allerdings Reiner Anselm, „Verchristlichung der Gesellschaft? Zur Rolle des Protestantismus in den Verfassungsdiskussionen beider deutscher Staaten“, in Christentum und politische Verantwortung. Kirchen im Nachkriegsdeutschland, hg. von Jochen Christoph Kaiser und Anselm Doering-Manteuffel, Stuttgart: Kohlhammer 1990, 63 – 87. Der Titel verrät nichts vom konfessionsübergreifenden Erkenntnisinteresse. Erwartbar dagegen der Handbuchbeitrag von Antonius Liedhegener, „Nachkriegszeit (1945 – 1960)“, in 20. Jahrhundert – Epochen und Themen (Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum, Bd. 6/1) hg. von Volkhard Krech und Lucian Hölscher, Paderborn: Schöningh 2015, 135– 174.  Der nicht-trivialen Version zufolge besteht die moderne Welt aus einer „grundsätzlichen Dauerspannung zwischen religiösem und säkularem Weltverhalten, eingebettet in eine beschleunigte ‚Eigengesetzlichkeit‘ der Lebenssphären“ (Gangolf Hübinger, „‚Säkularisierung‘. Ein umstrittenes Paradigma der Kulturgeschichte“, in Dimensionen der Moderne, hg. von Ute Schneider und Lutz Raphael, Frankfurt a. M.: Lang 2008, 93 – 106, 99). Hinzu kommen wachsende Spannungen zwischen den ‚religiösen Lebenswelten‘ selber; vgl. ders., „Die Religion der Historiker“, in Religion(en) deuten. Transformationen der Religionsforschung, hg. von Friedrich Wilhelm Graf und Friedemann Voigt, Berlin/New York: De Gruyter 2010, 281– 289.

Die Konfessionen und die Entstehung des Grundgesetzes

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1 ‚Säkularismus‘: Die Klage über die Welt Dass man 1945 als Deutscher die Zeitumstände beklagte, ist kein Wunder. Die Kirchen jedoch, aber nicht nur sie, beklagten sie freilich schon seit Längerem. Auch wenn das christliche Weltbild seit jeher den Aufenthaltsort im Diesseits als ‚irdisches Jammertal‘ bezeichnete, so gab es doch, jedenfalls im Rückblick, durchaus Zeiten, in denen sich die Welt innerhalb der durch die Erbsünde gezogenen Grenzen mit Gottes Geboten im Einklang befand. Die Scholastik hatte dafür das Denkmuster zweier im Idealverhältnis zueinander stehender Organisationen entwickelt: Staat und Kirche waren als Gottes Schöpfung jeweils eine societas perfecta, mochten die in ihnen aufgehobenen Menschen auch nicht immer den göttlichen Willen vollziehen. Es herrschte, mit Rudolf Smend zu sprechen, in früheren Zeiten „eine gewisse Problemlosigkeit des Verhältnisses von Staat und Kirche“⁴. Diese war mit dem Großereignis ‚Revolution‘, dem politischsozialen Sündenfall par excellence, schlagartig zu Ende.⁵ Der Katholizismus hat seine zu Anfang des 19. Jahrhunderts erzwungene Trennung vom Staat, der darum keine societas perfecta mehr sein konnte, vergleichsweise besser verarbeitet. Ihm half dabei eine längst entwickelte Gesellschaftslehre auf der Grundlage eines geoffenbarten und vernünftigen, den Menschen einsichtigen Naturrechts, das den nötigen Halt zu geben vermochte. Die gleichsam allein übrig gebliebene societas perfecta Kirche mit ihrem von der Hierarchie approbierten Lehrgebäude vertrat nun als einzige Instanz das nicht durch Menschenwerk verunstaltete Diesseits und vermittelte damit der Welt immer noch einen Restbestand göttlicher Schöpfungsordnung, in der man sich als Katholik aufgehoben fühlen konnte. Klagen über ‚Säkularismus‘ begegnet man daher im Katholizismus viel weniger – nicht weil er die Gegenwart mit Wohlgefallen betrachtet, sondern weil er sich den Folgen der ‚Revolution‘ nicht völlig ausgeliefert weiß. Vergleichbares war dem Protestantismus fremd. Seine Kirche ist ihm, geschichtlich gesehen, ebenso ein ‚weltlich Ding‘ wie der Staat, sie vermochte ihm daher solche letzten Sicherheiten nicht anzubieten, sondern verfügte in ihrer Staatsfrömmigkeit über vergleichsweise wenig Instrumente, um dem Übel zu wehren. „Daß sich seit 200 Jahren das Leben und Denken der Menschheit in

 Rudolf Smend, „Staat und Kirche nach dem Bonner Grundgesetz“, Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, Bd. 1, 1951, 4– 14, 5.  Ausführlich zum eher negativen Charakter der Französischen Revolution, an deren Ende „der Nihilismus“ stehe, Dietrich Bonhoeffer, Ethik, 7. Aufl., hg. von Eberhard Bethge, München: Kaiser 1966, 103 ff., 108. Dieser Text war damals, d. h. vor seiner ersten Publikation 1949, unbekannt, natürlich aber nicht sein Tenor.

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Christof Dipper

zunehmendem Maße verweltlicht hat, ist eine Tatsache, die klar vor unseren Augen steht. Dieser Prozeß der Verweltlichung oder, wie wir mit einem Fremdwort zu sagen pflegen: der Säkularisierung, hat sich in keinem anderen Lande so gründlich vollzogen wie in Deutschland“, sagte Bischof Dibelius auf dem Berliner Kirchentag 1947.⁶ Sein Amtsbruder Wurm hatte schon gleich 1945 in Treysa dem Katholizismus recht gegeben, der seit dem 19. Jahrhundert die „Staatsgläubigkeit“ der Protestanten zu kritisieren pflegte, „in der das orthodoxeste Luthertum und der extremste Liberalismus übereinstimmten“. Aus ihr sei „der Säkularisationsprozeß hervorgegangen […] , der im Dritten Reich seinen Höhepunkt erreichte“.⁷ Auch ohne Jahreszahl war klar, was der Herausgeber des Kirchlichen Jahrbuchs, Johannes Beckmann, meinte, wenn er in seiner ‚Ortsbestimmung der Gegenwart‘ von den „Widerfahrnissen der letzten Jahrhunderte“ sprach, „die die ungeheure Bedrohung des Menschen durch die Programme und Ideen des Menschen [haben] ans Licht treten lassen“. Beckmann schrieb dies 1950, als die „Programme und Ideen der Menschen“ seiner Ansicht nach einen weiteren Tiefpunkt erreicht hatten, nämlich die „Atom- und Wasserstoffbombe“.⁸ Er war beileibe nicht der einzige, der eine direkte Linie von der Revolution zur Gegenwart zog. Sein Vorvorgänger im Amt des Vorsitzenden des Bruderrates der EKD, Hans Asmussen, hatte bereits 1945 festgestellt: „Der Geist der Guillotine ist kein besserer Geist als der von Potsdam.“⁹ Es fällt auf, dass sämtliche hier zitierten Protestanten zum Führungspersonal der Bekennenden Kirche zählten, die bis heute wegen ihrer Verweigerungshaltung gegenüber der nationalsozialistischen Kirchenpolitik zu Recht einen denkbar  Dibelius fügte hinzu: „In der schwersten Stunde, die das deutsche Volk je erlebt hat, stehen wir vor dem großen Entweder-Oder: entweder wird mit dieser Säkularisierung ein Ende gemacht und eine Gegenbewegung mit Ernst und Kraft und Vollmacht setzt ein, oder, da man in einer säkularisierten Welt sittliche Ordnungen nicht aufbauen kann, es wird aus dem, was einmal Volk war, eine triebhaft unruhige Masse, die […] eines Tages im Kampf aller gegen alle zugrunde geht. Der Untergang unseres Volkes ist dann da.“ (Otto Dibelius, „Vor dem großen Entweder-Oder“ (1947), in Kirchliches Jahrbuch für die evangelische Kirche in Deutschland 1945 – 1948, Jg. 72– 75, hg. von Joachim Beckmann, Gütersloh: Bertelsmann 1950, 214– 220, 214, 216)  Theophil Wurm, „Ansprache auf der Kirchenversammlung in Treysa“, August 1945, in Kirchliches Jahrbuch, Jg. 72– 75, 9 – 11, 10. Mit seiner antiliberalen Polemik gab auch Wurm zu verstehen, wie weit er von den Ideen der politischen Moderne entfernt war.  Johannes Beckmann, „Die Kirche vor den Fragen der Zeit“ (1949), in Kirchliches Jahrbuch 1945 – 1948, Jg. 76, 1950, 1– 9, 2.  Hans Asmussens Antwort an Karl Barths Werberede für die Demokratie auf der von Martin Niemöller nach Frankfurt/Main einberufenen Vorkonferenz des Bruderrates der BK (21. – 24.08. 1945); zit. nach Michael Klein, Westdeutscher Protestantismus und politische Parteien. Anti-Parteien-Mentalität und parteipolitisches Engagement von 1945 bis 1963, Tübingen: Mohr Siebeck 2005, 368.

Die Konfessionen und die Entstehung des Grundgesetzes

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guten Ruf hat. Daraus aber irgendwelche Nähe zur Demokratie, ja zur Moderne überhaupt abzuleiten, verkennt ihre leitende Idee. Die Mehrheit ihrer Mitglieder bezog im Gegenteil ihre Widerstandskraft aus einer expliziten, ihr von der dialektischen Theologie und dann von Bonhoeffer eingeschärften Weltferne,¹⁰ deren Fehlen sie der liberalen Theologie, wie sie seit dem späten 19. Jahrhundert in Deutschland tonangebend war, vorwarf.¹¹ Entsprechend weltfern fiel auch ihr Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit aus. Denn wenn Säkularisierung ein seit der Revolution die Welt regierender Basisprozess ist, bedarf es außerirdischer Kräfte, sich ihm mit Erfolg in den Weg zu stellen. Individuell mag das immer wieder mit Gottes Hilfe gelungen sein, geschichtlich jedenfalls nicht.¹² Das ‚Dritte Reich‘ ist dann nur eine weitere Station des Abfalls von Gott, damit „vergangenheitspolitisch entsorgt und für das christliche Selbstverständnis theologisch instrumentalisiert“¹³. Nicht ‚Programme und Ideen der Menschen‘ ermöglichen also eine bessere Zukunft, sondern Rückkehr zu Gott, d. h. Hoffen auf ein direktes Eingreifen Gottes. Politisch gewendet konnte das den christlichen Staat bedeuten, auch wenn Bonhoeffer vor „Verchristlichung oder Verkirchlichung der weltlichen Ordnungen“¹⁴ gewarnt hatte.

 „Unter keinen Umständen darf der im Kirchenkampf gewonnene Ertrag […] außer Acht gelassen werden; die in dem vergangenen Jahrzehnt gewahrte unpolitische Haltung der Kirche muß auch jetzt allen Versuchungen zum Trotz festgehalten werden. Die Kirche ist Botin der biblischen Wahrheit und Zeugin Jesu Christi und sonst gar nichts.“ (Walter Künneth, „Gedanken zu Lage und zur Aufgabe der Kirche nach dem Umsturz 1945“, Pfingsten 1945; zit. nach Clemens Vollnhals, „Die Evangelische Kirche zwischen Traditionswahrung und Neuorientierung“, in Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, hg. von Martin Broszat, Klaus-Dietmar Henke und Hans Woller, München: Oldenbourg 1988, 113 – 167, 161)  „Längst vor 1933 war die Evangelische Kirche auf dem Wege von einer allzu sicheren Orthodoxie über Pietismus und Aufklärung weithin säkularisiert worden auf das Ziel eines kulturfreudigen Neuprotestantismus hin.“ (Edmund Schlink, Der Ertrag des Kirchenkampfes, 2. Aufl., Gütersloh: C. Bertelsmann 1947, 13) Auch Schlink war führendes Mitglied der Bekennenden Kirche; dem Buch liegt ein 1946 vor dem Bruderrat gehaltener Vortrag zugrunde.  Nach dem Dreißigjährigen Krieg „setzt nun sehr schnell auf der ganzen Linie der große Säkularisierungsprozeß ein, an dessen Ende wir heute stehen“ (Bonhoeffer 1966, 102; Herv. i.O.).  Klaus Große Kracht, „Die katholische Welle der ‚Stunde Null‘. Katholische Aktion, missionarische Bewegung und Pastoralmacht in Deutschland, Italien und Frankreich, 1945 – 1960“, Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 51, 2011, 163 – 186, 167.  Bonhoeffer 1966, 248 (Anhang). Der Text entstammt einem Gutachten für den Reichsbruderrat, erschien aber im Druck erstmals 1949.

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Christof Dipper

2 Die Illusion der Rechristianisierung Nicht nur 1945 waren die Kirchen voll, sie blieben es auch noch weitere ein bis zwei Jahre. Das hatte mannigfache Gründe, etliche darunter ohne engeren Bezug zum Glauben. Viele Kirchen waren zerstört, also wurde es in den intakten enger. In diesen kamen oft Ausgebombte und Flüchtlinge unter, gab es Essen, Kleidung und Wärme, da blieb man natürlich während des Gottesdienstes. Millionen Flüchtlinge und Vertriebene verdichteten in der amerikanischen, britischen und russischen Besatzungszone die Bevölkerung erheblich, sie fanden in den Kirchengemeinden oft die ersten Ansprechpartner. Zu Schutz und Geborgenheit kamen noch andere, eher fragwürdige Motive. Durch kirchliche Empfehlung bekam man direkt nach Kriegsende am ehesten eine Stelle, sodass beim Kirchgang vielfach Opportunismus im Spiel war. Mehr noch: Von Anfang an bot namentlich die evangelische Kirche Nationalsozialisten Hilfe bei der Verfolgung durch die Besatzungsmächte an. In Stuttgart zeigten sich bereits im Sommer 1945 amerikanische Stellen konsterniert über die zahlreichen Eingaben kirchlicher Stellen zugunsten ehemaliger Parteigenossen. Der Vertrauensmann des Rottenburger Generalvikars bemerkte, dass namentlich Bischof Wurm durch unkluges Verhalten auch die katholische Kirche in Schwierigkeiten bringe; der von ihm geprägte „Begriff des ‚gut-christlichen Nazi‘ als einer harmlosen Spezies von Nationalsozialisten“ werde „von den Amerikanern als grotesk empfunden“.¹⁵ Offen deutschnationale Gesinnung selbst seitens Angehöriger der Bekennenden Kirche erleichterte geschickte Tarnung und half vielen, die quasi über Nacht die Seite gewechselt hatten. Hans Joachim Iwand,¹⁶ Hauptautor des Darmstädter Worts, begründete die Dringlichkeit für diese scharfe Selbstanklage mit der Gefahr, „daß die evangelische Kirche zum ‚Rückzugsgebiet‘ für den nur verdrängten, keines-

 „Bericht Helmut Kruses an Generalvikar Kottmann“, 08.10.1945, in Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933 – 1945, Bd. 6: 1943 – 1945, bearb. von Ludwig Volk, Mainz: Grünewald 1985, Nr. 1053, 805 – 809, 805.  Seine Biografie weist viele, heute widersprüchlich erscheinende Ähnlichkeiten mit der Martin Niemöllers auf: begeisterter Soldat und Freikorpskämpfer, den die Erfahrungen von Krieg, Niederlage und Vertreibung zu einem „biblisch begründeten Fundamentalpazifismus“ konvertieren ließen (Friedrich Wilhelm Graf, „Glaubenspathos, Lutherischer Dezisionismus, Totale Gemeinschaft. Hans Joachim Iwand“ (1998), in: Ders., Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik, Tübingen: Mohr Siebeck 2011, 461– 481, 476).

Die Konfessionen und die Entstehung des Grundgesetzes

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wegs aber überwundenen Nationalsozialismus werden würde“; dies komme gerade in den überfüllten Kirchen zum Ausdruck.¹⁷ Dass Not beten lehrt, gehört zu den anthropologischen Konstanten und galt natürlich auch damals.¹⁸ Aber nicht erst seit 1945, sondern schon seit Stalingrad fand „eine messbare Revitalisierung des Religiösen“ statt, die von den NS-Instanzen durchaus wahrgenommen wurde. „Dieser Trend setzte sich nach 1945 lediglich fort.“¹⁹ Zeitgenössische Stimmen waren dagegen vielfach positiv, gelegentlich sogar euphorisch, teils weil ohne Kenntnis der Vorkriegszahlen, teils vom Augenschein überwältigt.²⁰ Heute ist die Forschung der Ansicht, dass der religiöse Aufschwung ganz überwiegend „Erscheinung der Krisenkonjunktur“²¹ war und

 Dies nach Renate Riemeck, „Das Darmstädter Wort – immer noch aktuell“, Stimme der Gemeinde zum kirchlichen Leben, 24. Jg., 1972, H. 15/16, 253 – 255, 254. Riemeck ist allerdings keine ganz unverdächtige Zeugin.  Das beschränkte sich daher nicht auf Deutschland. Auch in Frankreich führte das Kriegsende „zunächst zu einem Anstieg der religiösen Praxis“ (Marcel Albert, Die katholische Kirche in Frankreich in der Vierten und Fünften Republik, Freiburg i. Br.: Herder 1999, 26). Frankreichs Katholiken reorganisierten die seit 633 überlieferte Prozession der Muttergottes von Boulogne sur Mer, Le grand retour, deren Bild ganze fünf Jahre lang, von 1943 bis 1948, unter großer Anteilnahme bis Lourdes und wieder zurückgetragen wurde; vgl. [https://fr.wikipedia.org/wiki/Vierge_ de_Boulogne#cite_ref-13] (Zugriff: 27.09. 2018).  Nicolai Hannig, Die Religion der Öffentlichkeit. Kirche, Religion und Medien in der Bundesrepublik 1945 – 1980, Göttingen: Wallstein 2010, 42.  Einer, der sich alsbald korrigierte, war Pater Ivo Zeiger SJ, im Sommer 1945 Leiter der vatikanischen Mission in Kronberg/Ts. In seinem Ende September in Rom verfassten Abschlussbericht nannte er enorme Zahlen von Wallfahrten und Kommunionempfängern, schrieb vom „Hunger nach religiöser Belehrung und Lesung“ und der Chance „einer neuen Blütezeit“ („Bericht über die Reise des P. Zeiger SJ zu dem Hochwürdigsten Episkopat von Deutschland und Österreich“, in Akten deutscher Bischöfe, Bd. 6, Nr. 1043, 758– 776, 766 u. 765). 1948 sagte er dagegen auf dem 1. Katholikentag nach dem Krieg, einen Ausspruch seines Ordensbruders Alfred Delp von 1941 aufnehmend, „Deutschland ist Missionsland geworden“ (Ivo Zeiger, Die religiös-sittliche Lage und die Aufgabe der deutschen Katholiken. Eröffnungsrede bei der Vertreterversammlung des 72. Katholikentages, geh. im Dom zu Mainz am 2. Sept. 1948, Paderborn: Generalsekretariat der Deutschen Katholikentage 1948, 13). Diese Aussage wurde ihm damals sehr verübelt.  Werner Jochmann, „Evangelische Kirche und politische Neuorientierung in Deutschland nach 1945“, in Deutschland und die Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts. Fritz Fischer zum 65. Geburtstag, hg. von Immanuel Geiss und Bernd-Jürgen Wendt, Düsseldorf: Bertelsmann 1973, 545 – 562, 556. Jochmann hat wohl als einer der ersten das Thema ‚Rechristianisierung‘ entmythologisiert. Harbsmeier, Pfarrer der BK, kritisierte scharf das kirchliche Schrifttum, das von einem berechnenden Appell an die „Konjunkturreligiosität“ geleitet sei (Götz Harbsmeier, Die Verantwortlichkeit der Kirche in der Gegenwart, München: Kaiser 1946, 14; zit. nach Vollnhals 1988, 162, Anm. 206). Eingehend dazu auch Thomas Großbölting, Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, Kap. 1.1. Abweichend Liedhegener, der von einem allerdings nur kurzfristigen religiösen Aufschwung spricht und zu der abwegigen

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entsprechend rasch abebbte, während Zeitgenossen Opfer ihres unkritischen Umgangs mit Statistiken, wenn nicht gar der von ihnen selbst installierten medialen Religionskultur wurden.²² Sie hätten gewarnt sein müssen. Im Protestantismus stießen Schuldbekenntnisse selbst innerhalb der Kirchen auf Widerspruch,²³ Bußtage beim Kirchenvolk auf Ablehnung.²⁴ Nicht zufällig kam die katholische Kirche bislang in diesem Zusammenhang nicht zu Wort. Sie sah sich, anders als die evangelische, zu Recht als Opfer des Nationalsozialismus und legte daher kein Schuldbekenntnis ab,²⁵ hoffte aber natürlich ebenso wie die Protestanten auf einen Wiederaufstieg des Christentums, den sie im Zeichen des vielfach überhaupt erst jetzt entdeckten Abendlandes erwartete. Ihre viel stärker auf Sichtbarkeit ausgerichteten Gottesdienstformen lieferten zunächst auch eindrucksvolle Zeichen, dass der einstmals selbstverständliche triumphalistische Auftritt die religiös Schwankenden wieder dauerhaft in den Schoß der Kirche zurückführen könnte. Indessen zeigte sich schon rasch, dass das traditionelle katholische Milieu mit seinem ihn prägenden Verbandskatholizismus nicht wiederzubeleben war; allzu viel hatten Nationalsozialismus, Krieg und Zusammenbruch dynamisiert. Der ‚religiöse Aufbruch‘ blieb, genau besehen, Wunschbild kirchlicher Funktionäre und Kerngruppen von Kir-

Vorstellung kommt, deshalb die 1950er Jahre im deutschsprachigen Raum als „Sattelzeit“ der Religionsgeschichte zu bezeichnen (Liedhegener 2015, 142).  Dazu interessante Angaben bei Hannig 2010, Kap. II/2.  Protestbriefe und Eingaben, darunter des Landesbruderrates der Evangelischen Bekenntnisgemeinschaft Württemberg, gegen das durch einen Einschub Niemöllers erheblich verschärfte Stuttgarter Schuldbekenntnis vom 19.10.1945 sind abgedruckt in Protestantismus und politisches Mandat 1945 – 1949, Bd. 2: Dokumente und Kommentare, hg. von Harry Noormann, Gütersloh: Mohn 1985, 44 ff. Das Darmstädter Wort zum politischen Weg unseres Volkes vom 08.08.1947 mit seiner noch viel deutlicheren Selbstanklage empfand Bischof Dibelius als „schwere Zumutung“, Künneth als „theologische Entgleisung“, Asmussen, Mitautor des Stuttgarter Schuldbekenntnisses, als Ausdruck einer „Konjunkturtheologie“ und eines „Religionsbolschewismus“ (dies wegen Ziffer 5); und Präses Scharf klagte, wer dieses Wort schreibe, wisse offenbar nicht, „in welcher Lage wir uns befinden“. In offiziellen Kirchenblättern wurde es damals nicht gedruckt, erstmals findet es sich im 1950 erschienenen Kirchlichen Jahrbuch Jg. 76, 1950, 220 – 222.  Als der neue oldenburgische Landesbischof Wilhelm Stählin für den 17.06.1945 einen „Allgemeinen Buß- und Bettag“ festsetzte, informierte ihn der Oberkirchenrat, „wie unpopulär in dieser Stunde ein Aufruf zur Buße“ sei; zit. nach Jochmann 1973, 551, Anm. 31. Die Deutschen empfanden sich damals mehrheitlich als Opfer.  Pius XII. wies in seiner Rundfunkansprache vom 02.06.1945 die These der Kollektivschuld zurück.

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chenmitgliedern, d. h. der Religionsvirtuosen. „Die habituelle, eine Lebenswelt durchdringende Katholizität ging merklich zurück.“²⁶ Gleichwohl waren die aus heutiger Perspektive in mehrfacher Hinsicht illusionären Hoffnungen, nunmehr einen christlichen Staat etablieren zu können, noch über die Gründung der Bundesrepublik hinaus bei beiden Kirchen lebendig – „das eigentliche Anliegen“²⁷ –, während Politiker sie nach Mai 1949 begruben, und sei es nur, weil der politische Alltag sie nun auf Anderes zu achten veranlasste. Wie aber stellten sich die Kirchen die Verwirklichung ihres ‚Anliegens‘ vor? Der Beitritt von Geistlichen bzw. Funktionären zu den sich seit Sommer 1945 etablierenden Parteien blieb auf Einzelfälle beschränkt, denn die Kirchenleitungen sahen das äußerst ungern; Priestern war es ohnedies nach Kirchenrecht und Reichskonkordat verboten.²⁸ Dass engagierte Christen sich in den Parteien für die Umsetzung kirchlicher Ziele einsetzten, blieb davon natürlich unberührt, kam aber anfangs nur im Zentrum, in der CDU und CSU sowie der Deutschen Partei vor. Das ‚Wächteramt‘, das namentlich die evangelische Kirche, besonders ihr der Bekennenden Kirche zugehöriger Flügel,²⁹ gegenüber dem Staat beanspruchte, bot noch weitere Möglichkeiten. Eine war, die eigenen Vorstellungen in Form offizieller Denkschriften zu Gehör zu bringen. Im Unterschied zur in Gründung befindlichen EKD meldete die Fuldaer Bischofskonferenz denn auch bereits am 23. August 1945 in ihrem ersten gemeinsamen Hirtenbrief gleich politische Forderungen an, an erster Stelle – unter Hinweis auf die „herrliche Erziehungsenzyklika“ Pius’ XI. von 1929 – die „katholische Schule für die katholischen Kinder“.³⁰ Auch die Protestanten verlangten sogleich 1945, dass bei der Neuordnung des Schulwesens „die christliche Schule“ samt entsprechenden Institutio Werner K. Blessing, „‚Deutschland in Not, wir im Glauben …‘. Kirche und Kirchenvolk in einer katholischen Region“, in Von Stalingrad zur Währungsreform, 3 – 111, 110. Dort auch 73 der Hinweis auf die Rundfunkansprache des Papstes. Weitere wichtige Gesichtspunkte dafür, dass der ‚religiöse Aufbruch‘ Illusion blieb, liefert Großbölting 2013.  Burkhard van Schewick, Die katholische Kirche und die Entstehung der Verfassungen in Westdeutschland 1945 – 1950, Mainz: Grünewald 1980, 130. Im Protestantismus war das nicht anders.  Kardinal Joseph Frings, der Kölner Erzbischof, setzte sich jedoch darüber hinweg und trat 1948 der CDU bei, verließ sie allerdings nach päpstlichem „Rüffel“, wie er selber sagte, wieder 1949 nach Verabschiedung des Grundgesetzes.  In seinem ersten öffentlichen Auftritt nach seiner Befreiung kündigte Martin Niemöller an, „die Bekennende Kirche [wird] sich nicht etwa auflösen, sondern ihr Wächteramt weiterführen“ (Martin Niemöller, „Ansprache auf der Kirchenversammlung in Treysa“, August 1945, in Kirchliches Jahrbuch, Jg. 72– 75, 1950, 11– 15, 12).  Die deutschen Bischöfe, „Erster gemeinsamer Hirtenbrief, beschlossen von der Konferenz der katholischen Bischöre Deutschlands in Fulda“, 23.08.1945, in Hirtenbriefe und Ansprachen, Nr. 6, 40 – 45, 42.

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nen eingerichtet werde.³¹ Man kann aus diesen Stellungnahmen unschwer auf die hohe Bedeutung der Schulfrage nach 1945 als Antwort auf die nationalsozialistische Schulpolitik schließen, die tatsächlich bei der Erarbeitung sowohl der Länderverfassungen wie des Grundgesetzes an vorderster Stelle stehen und hier schwere Konflikte verursachen sollte.

3 Religion, Kirche und Politik Mit dem Thema ‚Schule‘ betrat man bereits die politische Arena. Bevor die einschlägigen Aktivitäten der beiden Kirchen betrachtet werden, ist es angebracht, sich ihr Politikverständnis näher anzusehen. Hierzu muss vorausgeschickt werden, dass die Moderne, systemtheoretisch formuliert, vom Nebeneinander einer Vielzahl gleichrangiger Subsysteme gekennzeichnet ist, deren eines die Politik darstellt. Politik folgt also Regeln, die weithin ihre eigenen sind. Das ist deshalb nicht trivial, weil die Kirchen seither vor der Frage stehen, ob sie diese Trennung anerkennen oder, wie jahrhundertelang selbstverständlich, dem universalen Anspruch des Evangeliums Folge leisten wollen – wie sie, mit anderen Worten, das die Moderne kennzeichnende Problem der Vermittelbarkeit alter religiöser Wahrheit mit der jetzt postulierten Autonomie des Menschen glauben lösen zu können. Die Vieldeutigkeit religiöser Texte kommt ihnen dabei zwar zu Hilfe, nimmt ihnen aber nicht die Entscheidung ab. Die protestantische Kirche nahm sich gleich im August 1945 in Treysa „die große und schwere Aufgabe“ vor, „weit stärker als bisher auf die Gestaltung des öffentlichen Lebens und insbesondere der politischen Gemeinschaft einzuwirken“, musste sich allerdings sofort eingestehen, dass „die Frage nach dem rechten Verhältnis von Religion, Kirche und Politik […] bisher im evangelischen Kirchenraum nur sehr unzureichend bearbeitet worden“ ist. Sie empfahl daher eine „enge Zusammenarbeit [mit] erfahrenen und sachkundigen Laien“.³² Bei der

 „Beschluß der Kirchenkonferenz der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Schulfrage“, Treysa, August 1945, in Kundgebungen, Worte und Erklärungen der Evangelischen Kirche in Deutschland 1945 – 1959, hg. von [Friedrich] Merzyn, Hannover: Verlag des Amtsblatts der EKiD 1959, 5.  „Kundgebung der Kirchenkonferenz der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Verantwortung der Kirche für das öffentliche Leben“, Treysa, August 1945, in Kundgebungen, Worte und Erklärungen, 3 f., 3. Alle drei Verfasser, Theodor Steltzer, Hanns Lilje und Gerhard Ritter, hatten Verbindung zum Widerstand, waren vom Volksgerichtshof verurteilt worden und besaßen politische Erfahrung. Es spricht Bände, dass dieser Text nicht im Kirchlichen Jahrbuch abgedruckt wurde.

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Ausarbeitung des Grundgesetzes ist es dazu allerdings (noch) nicht gekommen, bei den späteren richtungweisenden bzw. aufsehenerregenden Denkschriften dagegen schon. Die katholische Kirche hatte auch hier sehr viel weniger Probleme wegen ihrer Selbstbindung an die Naturrechtslehre, deren lange Auslegungsgeschichte darauf eine eindeutige Antwort bereithält, und weil sie über ein Oberhaupt verfügt, das in Lehrfragen das letzte Wort hat. Lange Zeit blieb auch sie in großer Distanz zur Demokratie, die zum Erbe der verwerflichen Revolution zählte und im Vatikan vor allem mit der laizistischen III. Republik assoziiert wurde. Dagegen bestanden einvernehmliche, teilweise konkordatär abgesicherte Beziehungen zu den autoritären Regimen in Portugal und Spanien sowie zum faschistischen Italien; nur die ins „Dritte Reich“ gesetzten Hoffnungen hatten sich nicht erfüllt. Scheinbar aus heiterem Himmel, in Wahrheit jedoch im Blick auf die militärisch-politische Großwetterlage in Europa – Italien war bis zur Gotenlinie, Frankreich bis auf Reste, desgleichen Kroatien befreit, der Zusammenbruch des Nationalsozialismus absehbar – lobte der Papst in seiner Weihnachtsansprache 1944 die Demokratie und erweckte den Eindruck, als sei diese seit jeher von der kirchlichen Lehre akzeptiert.³³ Allerdings müsse auch die Demokratie auf christlich-katholischer Grundlage ruhen, da sie ebenfalls zu Gottes Schöpfungswerk gehöre. Sehr ausführlich setzte sich der Papst mit deren Ausgestaltung auseinander, denn er hatte Sorge vor den ‚Massen‘, die im Namen der Demokratie Recht und Freiheit abzuschaffen pflegen. Hier war noch der klassische Massendiskurs der Vorkriegszeit am Werk. Daher bedürfe es „einer Auslese von geistig hervorragenden und charakterfesten Männern“, die „als Vertreter des gesamten Volkes“ – an anderer Stelle spricht der Text sogar von „Staatsbürgern“³⁴ – „mit tiefer christlicher Gesinnung und Überzeugung“ ihre Fähigkeit bewiesen, „Führer zu sein“.³⁵ Die Defizite liegen auf der Hand: Von Parteien, überhaupt von Pluralismus ist mit keinem Wort die Rede, auch nicht von Wahlen, Gewaltenteilung und Modalitäten, wie diese zu garantieren sei. Alles spricht dafür, dass Pater Gundlach SJ, Stichwortgeber und Verfasser aller Radioansprachen Pius’ XII., letztlich von

 Die Ansprache erweckte eingangs die Vorstellung, dass die Kirche sie schon seit Leos XIII. Enzyklika Libertas praestantissimum, also seit 1888, billige. Pius XII., „Grundlehren über die wahre Demokratie. Radiobotschaft an die Welt“, 24.12.1944, in Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens. Soziale Summe Pius XII., Bd. 2, hg. von Arthur-Fridolin Utz OP und JosephFulko Groner OP, Freiburg i.Ue.: Paulusverlag 1954, 1771– 1823, 1774.  Ebd., 1775. Nur wenig früher sprach Bonhoeffer in ähnlichem Zusammenhang noch umstandslos mehrfach von „Untertanen“; Bonhoeffer 1966, 375.  Ebd., 1776; 1779; 1780.

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pragmatischen Überlegungen geleitet wurde, das Thema Demokratie aufzugreifen, und dass der Papst sich davon hat überzeugen lassen.³⁶ Denn Pius XII. kam später nie wieder darauf zurück. Und auch nach seinem Tod 1958 vermied die katholische Kirche jahrzehntelang, die Sprache auf dieses Thema zu bringen; nicht einmal das Zweite Vatikanische Konzil äußerte sich explizit dazu, obwohl doch die sich mit der Moderne befassende Pastoralkonstitution Gaudium et spes (1965) Anlass geboten hätte. Inneres Anliegen war der katholischen Kirche die Demokratie nicht. Aber immerhin: 1944 hatte das Oberhaupt der katholischen Kirche einen Schritt getan, hinter den seine Bischöfe und das übrige Kirchenpersonal nicht mehr zurückkonnten. Roma locuta, causa finita. Debatten, ob Demokratie erlaubt oder statthaft sei, finden sich in kirchlichen Texten aus Deutschland nach Kriegsende nicht. Bei den Protestanten war das alles weit weniger klar. Ihnen fehlte im Unterschied zu den Katholiken schon ganz praktisch die Erfahrung, als Konfession Politik machen zu müssen. Außerdem hing die Mehrheit einer Ordnungstheologie an, die von den Institutionen nicht nur die Regelung äußerlichen Zusammenlebens erwartete, sondern darüber hinaus auch die Stiftung innerer Gemeinschaft und individuellen Lebenssinnes, sodass Staatsfrömmigkeit und fromme Fundamentalopposition gegen die bleibende Widersprüchlichkeit der sozialen Welt bei ihnen Hand in Hand gingen.³⁷ In der Forschung herrscht darum Einvernehmen, dass es im deutschen Protestantismus „gegen die Demokratie […] stets zwei fundamentale politisch-theologische Vorbehalte gegeben“³⁸ hat – der besondere Rang der Obrigkeit wegen der Schutzbedürftigkeit des Menschen und die Skepsis gegenüber der Leistungsfähigkeit der demokratischen Institutionen –, die von maßgeblichen Theologen auch durch die Erfahrungen des Kirchenkampfes nicht aufgegeben worden sind. Immerhin hat dieser dafür gesorgt, dass nach 1945 die

 Das berichtet Gundlach selbst in seinen bruchstückhaften Erinnerungen, wo er versicherte, „Thema und Disposition“ stammten von ihm selber; Gustav Gundlach, „Meine Bestimmung zur Sozialwissenschaft“, 23.02.1962, in Wider den Rassismus. Entwurf einer nicht erschienenen Enzyklika (1938). Texte aus dem Nachlaß von Gustav Gundlach SJ, hg., eingel. und komm. von Anton Rauscher, Paderborn: Schöningh 2001, 192– 207, 207. Zu Gundlach, allerdings mit Schwerpunkt auf seiner Soziallehre, vgl. Hermann-Josef Große Kracht, Gustav Gundlach SJ (1892 – 1963). Katholischer Solidarismus im Ringen um die Wirtschafts- und Sozialordnung, Paderborn: Schöningh 2019.  Friedrich Wilhelm Graf/Klaus Tanner, „Protestantische Staatsgesinnung. Zwischen Innerlichkeitsanarchie und Obrigkeitshörigkeit“, Evangelische Kommentare, Jg. 20, 1987, 699 – 704, 703 f.  Kurt Nowak, „Protestantismus und Demokratie in Deutschland. Aspekte der politischen Moderne“, in Christentum und Demokratie im 20. Jahrhundert, hg. von Martin Greschat und Jochen Kaiser, Stuttgart: Kohlhammer 1992, 1– 18, 9.

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enge Verbindung von Protestantismus und Staat nicht wieder auflebte, sondern „im Glauben eine dominant-kritische Haltung dem Staat und seinem Willen gegenüber begründet“³⁹ worden ist. Zugleich aber behinderte die von der Bekennenden Kirche favorisierte Lehre von der ‚Königsherrschaft Christi‘ die Anerkennung der Eigengesetzlichkeit des Politischen⁴⁰ und des mit der Demokratie verbundenen Gruppenpluralismus, der die Kirche grundsätzlich nur als einen Verband unter Verbänden betrachtete. Diese Ablehnung erleichterte es ihr, der staatlichen Machtentfaltung klare Grenzen zu ziehen. Nicht mehr Gehorsam war nun vorrangige politische Christenpflicht, sondern Prüfung der dem Staat zugrunde liegenden sittlichen Wertordnung. In diesem Sinne haben Dibelius und die EKD 1947 Grundsätzliches zu den von Gott gesetzten Grenzen staatlicher Macht formuliert und sich daraus sogleich das Recht zum öffentlichen Einspruch zuerkannt: Dibelius etwa in Sachen Schulfrage.⁴¹ Dass ein politischer Neuanfang mit Hilfe der Alliierten die protestantischen Funktionsträger zum Überdenken ihrer hergebrachten Anschauungen veranlasste, war die ganz große Ausnahme. Nicht dazu zählte Bischof Dibelius, der Ende Juli 1945 seinen amerikanischen Gesprächspartner mit der Aussage irritierte: Die Demokratie wird in Deutschland keine Wurzeln schlagen. 1. ist sie eine ausländische Weltanschauung; 2. ist die Demokratie wegen der Erfahrungen Deutschlands mit der schwachen Weimarer Republik im deutschen Bewußtsein mit Arbeitslosigkeit und erfolgloser Außenpolitik verbunden. […] Deshalb sollten die Besatzungsmächte, um das Wiederaufleben des Nazismus zu verhindern, die Kirche unterstützen. Sie bietet ihren Anhängern eine in Deutschland gewachsene Weltanschauung.⁴²

Was er damit meinte, hatte er schon 1926 näher ausgeführt, nämlich „einen hierarchisch-autoritären Aufbau von Staat und Gesellschaft auf kirchlich-christlicher Grundlage“⁴³. Dieser Gedanke fand bei den Deutschen nach 1945 keine

 Arnulf von Scheliha, Protestantische Ethik des Politischen, Tübingen: Mohr Siebeck 2013, 200.  Edmund Schlink sprach von der „sogenannten Eigengesetzlichkeit der Politik, des Rechtes, der Wirtschaft, der Wissenschaft usw.“, die „von liberalen ethischen Voraussetzungen her bestimmt war“, welche ihrerseits „von einem säkularisierten Christentum zehrten“ und so dem „totalen Staat“ den Weg ebneten (Schlink 1947, 25).  Otto Dibelius 1947/1950, 217 f.  „Report on Conference with Dr. Dibelius“, 28.07.1945; zit. nach Vollnhals 1988, 122. Ein Jahr später sagte er laut Zeitungsbericht: „Um des Evangeliums willen brauchen wir eine demokratische Staatsform. Auf das Wort ‚demokratisch‘ kommt es dabei nicht an. Unter ‚Demokratie‘ versteht heute jeder, was er will. Auf die Sache kommt es an! Die staatliche Form, in der die Menschen leben, muß einen erheblichen Einschlag von Freiheit für den einzelnen haben. Darum geht es.“ (Tagesspiegel, Nr. 102 vom 03.05.1946; zit. nach Nowak 1992, 11)  Otto Dibelius, Das Jahrhundert der Kirche, Berlin: Furche-Verlag 1926; zit. nach Nowak 1992, 11.

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Unterstützung, umso mehr aber Dibelius’ Assoziation der Demokratie mit Arbeitslosigkeit, Elend und politischem Scheitern. Aussagen wie diese ermunterten sehr viele zu einer Rehabilitation des Nationalsozialismus, wie durch eine Reihe von Meinungsumfragen der Amerikaner und Briten nachgewiesen ist.⁴⁴ Mit seiner Demokratieskepsis hätte sich Dibelius auf Bonhoeffer berufen können, wenn dessen Ethik damals bereits bekannt gewesen wäre, wo von Demokratie nur ganz am Rande die Rede ist;⁴⁵ und auch die (gleichfalls damals noch unbekannte) Denkschrift des ‚Freiburger Kreises‘ vertrat illiberal-undemokratische Ziele.⁴⁶ Überhaupt repräsentierten Dibelius und mit ihm so gut wie alle damals maßgeblichen Theologen eine Position, die schon in der Weimarer Republik pragmatisches politisches Denken mit der Bereitschaft zum Kompromiss durch frommen Dezisionismus delegitimiert hatte. Das hatte zur Folge, dass Demokraten wie Ernst Troeltsch († 1923),⁴⁷ Otto Baumgarten († 1934) und Martin Rade († 1940), aber auch der Vernunftrepublikaner Adolf von Harnack († 1930) keine Wirkkraft entfalten konnten und nach 1945 vergessen waren. Entsprechend

 „In 1946 the average figure for the number of persons who felt that National Socialism was a good idea badly carried out was 40 percent. In 1947 it had risen to 52 percent and by 1948 it was 55.5 percent.“ („OMGUS Report No. 175, June 1949: Trends in German Public Opinion“, in Public Opinion in Occupied Germany. The OMGUS Surveys, 1945 – 1949, hg. von Anna J. Merritt und Richard Merritt, Urbana: Univ. of Illinois Press 1970, 294– 298, 295)  Dass Bonhoeffers Ordnungsvorstellungen „nur wenig in die Landschaft der kirchlichen und politischen Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit hinein[passen]“ (so Rudolf von Thadden, „Dietrich Bonhoeffer und der deutsche Nachkriegsprotestantismus“, in Kirchen in der Nachkriegszeit. Vier zeitgeschichtliche Beiträge, hg. von Armin Boyens u. a., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1979, 125 – 138, 126), ist nur richtig, wenn man die Nachkriegszeit mit den 1960er Jahren beginnen lässt. In die späten 1940er Jahre passen sie vorzüglich.  Deren Antwort auf die Erfahrungen mit dem NS-System lautet, dass „die Obrigkeit […] den Regierten [zwar] insofern verantwortlich sein [muss], als sie sich nicht durch Terrormaßnahmen der öffentlichen Kritik entzieht, […] aber sie ist zuerst und zuletzt doch Gott verantwortlich und insofern erhaben über den ewigen Meinungskampf der Parteien und über den politischen Wetterwechsel des Tages. […] Die Frage, ob auf Grund solcher Vordersätze eine bestimmte Form der Staatsverfassung vom christlichen Gewissen aus zu fordern ist, haben wir bereits verneint. Keine der geschichtlich vorfindbaren Staatsformen darf mehr als eine zeit- und ortbedingte, also relative Gültigkeit beanspruchen.“ (In der Stunde Null. Die Denkschrift des Freiburger „Bonhoeffer-Kreises“: Politische Gemeinschaftsordnung. Ein Versuch zur Selbstbestimmung des christlichen Gewissens in den politischen Nöten unserer Zeit, eingel. von Helmut Thielicke, Tübingen: Mohr Siebeck 1979, 76 f.)  Die Demokratie ist „eine rein praktische Notwendigkeit geworden“, sie ist „Ausdruck der wirklichen, gesellschaftlichen, durch Krieg und Niederlage klar aufgedeckten und wirksam gewordenen Sachlage“ (Ernst Troeltsch, „Demokratie“ (Aug. 1919), in Ernst Troeltsch. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 15: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie 1918 – 1923, hg. von Gangolf Hübinger, Berlin/New York: De Gruyter 2002, 207– 224, 217; 219; Herv. i.O.).

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apokalyptisch grundiert waren auch die Aussagen zum Staat als solchem. Als bereits die ersten Länder gegründet und demokratisch legitimiert waren, wetterte Dibelius, obschon seit 1945 CDU-Mitglied, wegen der Schulfrage beim Berliner Kirchentag im April 1947: „[W]as heute aus dem Staat geworden ist, ist wider Lehre und Geist der heiligen Schrift.“⁴⁸ Im folgenden Jahr bezeichnet er den Staat als „das Tier aus dem Abgrund“⁴⁹. Wer als protestantischer Funktionsträger gleich 1945 oder wenig später öffentlich für die Demokratie eintrat, gehörte darum zu einer Minderheit. Zu dieser zählte der ehemalige U-Boot-Kommandant und Freikorpsführer Martin Niemöller, der auf der ersten Kirchenversammlung in Treysa 1945 seine Amtsbrüder mit einem uneingeschränkten Bekenntnis zur Demokratie verblüffte, das es wert ist, ausführlich wiedergegeben zu werden: Wenn in dieser Welt die christliche Kirche einen Platz hat und gehört wird, dann haben wir als Kirche ein Interesse und eine Aufgabe, daß den Menschen Recht und Freiheit auch im öffentlichen und staatlichen Leben gegeben werde. Deshalb ist uns aber die Staatsform und deshalb sind uns die Grundsätze, nach denen das öffentliche Leben gestaltet wird, nicht gleichgültig; und deshalb können uns Staatsform und Gesetze nicht einfach als gegebene Tatsachen erscheinen, mit denen wir uns stumm abzufinden haben. Die Demokratie, wie sie in der abendländischen Welt seit dem Eintritt des Christentums in die Geschichte gewachsen ist, hat nun einmal mehr mit dem Christentum zu tun als irgendeine autoritäre Form der Staatsführung, die das Recht und die Freiheit für den einzelnen verneint. Über diese Dinge haben wir uns klar zu werden und für das praktische Verhalten der Kirche wie für unser Reden als Kirche daraus die Folgerungen zu ziehen.⁵⁰

Inwieweit Niemöller die Demokratie tatsächlich gestärkt hat, ist hier nicht zu prüfen.⁵¹ Ebenso wenig kann es hier um die parteiengeschichtliche Neuerung in Deutschland gehen, dass schon 1945 eine überkonfessionelle christliche Partei gegründet wurde, was selbst den längst zum Verteidiger der Demokratie gewor-

 Dibelius 1947/1950, 217.  Otto Dibelius, „‚Die tragende Mitte‘. Programmrede zum 2. Berliner Kirchentag 1948“, in: Ders., Reden-Briefe 1933 – 1967, hg. von Jürgen W. Winterhager, Erlenbach-Zürich/Stuttgart: Eugen Rentsch Verlag 1970, 34– 43, 37.  Niemöller, „Ansprache auf der Kirchenversammlung in Treysa“, August 1945, in Kirchliches Jahrbuch, Jg. 72– 75, 14 f.  Dass die Evangelische Landeskirche Nassau-Hessen beim Referendum zur hessischen Verfassung am 1.12.1946 lediglich zur Teilnahme aufrief, anstatt wie der Limburger Bischof Antonius Hilfrich davon zu reden, sie erinnere „bedenklich an die Art des totalen Staates“, war wohl nicht Niemöllers Werk, denn er trat erst am 1.10.1947 sein Amt als Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche Hessen-Nassau an. Er war jedoch an ihrem Aufbau, bei dem demokratische Elemente mehr als anderswo zum Zuge kamen, beteiligt. Zu Niemöller künftig Benjamin Ziemann, Martin Niemöller. Ein Leben in Opposition, München: DVA 2019.

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denen Gegner der liberalen Theologie, Karl Barth, zu kritischen Bemerkungen veranlasste.⁵² Das geschah im selben Brief, in dem er feststellte, dass man selbst jetzt noch „auch unter den besten BK-Theologen die Meisten schon vor dem Worte ‚Demokratie‘ noch immer scheuen sieht wie die Kuh vor dem neuen Scheunentor“⁵³. Damit hatte er wahrlich recht. Insofern ist es kein Zufall, dass mit Ausnahme Niemöllers kein Angehöriger der kleinen Minderheit, die lautstark dafür eintrat, die strukturellen Fehlentwicklungen im deutschen Protestantismus kritisch zu durchleuchten, in kirchenleitende Funktionen, sondern auf Lehrstühle berufen wurde.⁵⁴ Auch das hinderte die evangelischen Kirchen, bei der Gründung der zweiten deutschen Republik aktiv mitzuwirken.

4 Die Konfessionen und das Grundgesetz Wie erinnerlich, nahmen die beiden Kirchen nach 1945 eine deutlich prominentere Rolle ein als vor 1933. Einem allgemeinpolitischen Auftrag konnten sie sich unter diesen Umständen gar nicht verschließen, und das war auch dem Leitungspersonal klar. Wie also sollten sie mit ihrer neuen Rolle umgehen? Die protestantischen Kirchen berieten sich dazu zwar gleich im August 1945 in Treysa, stellten aber, wie berichtet, ihr erhebliches Defizit fest und empfahlen darum sowohl die Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche als auch die Unterstützung der entstehenden CDU, sofern deren paritätischer Charakter gesichert sei.⁵⁵ Dieses Defizit hielt sie danach jedoch nicht von Stellungnahmen zu

 „Sollte man in Deutschland aus der englischen, amerikanischen – ich kann hinzufügen: auch aus der schweizerischen – Entwicklung nicht lernen, daß man die allerdings bitter notwendige Herstellung einer positiven Beziehung zwischen der Kirche und der politischen Aufgabe gerade nicht auf dem Weg einer christlichen Parteibildung realisieren wollen sollte?“ (Karl Barth, „Brief an Gustav Heinemann vom 16. 2.1946“, in: Ders., Offene Briefe 1945 – 1968 (Gesamtausgabe, Abt. 5), hg. von Diether Koch, Zürich: Theologischer Verlag 1984, 61– 64, 62) Heinemann hatte ihm die Druckfassung seines Vortrags „Demokratie und christliche Kirche. Ein Beitrag zu einer ‚deutschen Demokratie‘“ zugesandt, in dem er Adolf Stoecker unumwunden als Vorläufer der CDU würdigte. Auf Barths klare Worte hin bereinigte er diese Passage. Die neue Version findet sich in Gustav W. Heinemann, Glaubensfreiheit – Bürgerfreiheit. Reden und Aufsätze zu Kirche, Staat, Gesellschaft 1945 – 1975, hg. von Diether Koch, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976, 11– 21.  Barth 1946/1984, 62.  Vollnhals 1988, 150.  „Selbstverständlich muß darauf geachtet werden, daß die Zusammenarbeit beider Partner auf der Grundlage voller Gleichberechtigung erfolgt“, in Kundgebungen, Worte und Erklärungen, 4.

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drängenden Grundsatzfragen ab.⁵⁶ Zum Thema ‚Staat‘ fielen diese, wie dargelegt, weltfremd und vordemokratisch aus, wirtschaftlich mittelständisch und latent antikapitalistisch, hingegen ausgesprochen klar in Sachen ‚Nation‘. Hier verstand man sich nahezu ohne Ausnahme als Sachwalter des nationalkonservativen Teils der Deutschen, wie vor allem aus der Haltung zur Entnazifizierung und später zu den alliierten Prozessen gegen die so genannten Kriegsverbrecher, die in Wahrheit zum Kern der NS-Täter zählten,⁵⁷ hervorgeht; auch der entschiedene Widerspruch gegen Teilung und Westbindung gehörte zum lange unreflektierten nationalprotestantischen Erbe. Der Interpretationsrahmen war oft „geradezu stereotyp“⁵⁸: Der Mensch müsse aus „Vermassung“ und „Säkularismus“ gerettet werden durch „Personalismus“, worunter man die Überwindung von Individualismus und Kollektivismus mit Hilfe der „Idee des gemeinschaftsverbundenen Individuums“ im Zeichen der „Verchristlichung des Lebens“ verstand.⁵⁹ Das war dermaßen abstrakt, dass von hier aus der Blick auf die realen gesellschaftlichen Zustände kaum möglich war. Verchristlichung erhoffte sich natürlich auch die katholische Kirche. Gleich der erste Hirtenbrief des deutschen Episkopats nach Kriegsende verlangte von den Gläubigen, nachdem er sie weitgehend von Schuld freigesprochen hatte, mit Nachdruck die Einhaltung der Zehn Gebote.⁶⁰ Anders als bei den Protestanten verständigten sich die Bischöfe intern aber schon 1945 über die aus ihrer Sicht dringendsten politischen Fragen. Dies war neben den Themen ‚Partei‘ und ‚Konkordat‘ in allererster Linie die Schulfrage. Nicht deren rasche Wiederöffnung wurde gefordert, sondern die Wiederherstellung der Konfessionsschule als staatliche Normalschule, d. h. die „Beseitigung des staatlichen Schulmonopols“⁶¹. Pater Zeiger ließ die Bischöfe der britischen Zone die Mahnung Pius’ XII. wissen, „die Erhaltung der konfessionellen Schulen sei einen Kampf wert“⁶². Damit war die Priorität festgelegt. Sie sollte nicht nur die in den Hirtenworten zu

 Das Folgende vor allem nach Martin Greschat, „Kirche und Öffentlichkeit in der deutschen Nachkriegszeit (1945 – 1949)“, in Kirchen in der Nachkriegszeit. Vier zeitgeschichtliche Beiträge, hg. von Armin Boyens u. a., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1979, 100 – 124, 114.  Zur anfangs maßgeblichen und heute nur noch als skandalös zu bezeichnenden Rolle der evangelischen Kirche vgl. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München: C.H. Beck 1996, 133 ff.  Greschat 1979, 117.  Zit. nach ebd., 118.  Die deutschen Bischöfe 1945/1985.  Vgl. dazu „Protokoll der Konferenz der westdeutschen Bischöfe“, Werl, 04.-06.06.1945, in Akten deutscher Bischöfe, Bd. 6, Nr. 987, 512– 520, 514.  Vgl. „Frings an die Bischöfe der britischen Besatzungszone“, 10.09.1945, in Akten deutscher Bischöfe, Bd. 6, Nr. 1037, 735 – 737, 736.

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den Volksentscheiden über die Länderverfassungen ausgesprochenen Empfehlungen bestimmen,⁶³ sondern bildete auch den Kern der kirchlichen Bemühungen bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes. Da die Protestanten sich dem vorbehaltlos anschlossen, soll dieser Abschnitt sich im Wesentlichen darauf beschränken. Denn dass die künftige Verfassung Grundrechte mit der konkreten Ausgestaltung der Religionsfreiheit enthalten würde, verstand sich von selbst; hierauf nahmen die Kirchen nur am Rande Einfluss. Und ob das Verhältnis von Staat und Kirche überhaupt im Grundgesetz geregelt werden solle, wo schon die Länderverfassungen – im Einzelnen sehr unterschiedliche – Regelungen treffen würden oder bereits getroffen hatten, war offen. Der Herrenchiemseer Entwurf enthielt dazu keine Bestimmungen, vor allem, weil er den provisorischen Charakter des zu gründenden westdeutschen Teilstaates betonte. Der Verchristlichung des Lebens half nicht Demokratie, sondern die Schule, konkret die Volksschule, die, ergänzt um die Berufsschule, damals die übergroße Mehrheit der Schulpflichtigen besuchte. Um sie drehten sich darum die Auseinandersetzungen. Die von den Nationalsozialisten im Zeichen der ‚Deutschen Gemeinschaftsschule‘ mindestens grundsätzlich aufgehobene Konfessions- und Geschlechtertrennung – denn die anderslautenden Garantien im Reichskonkordat von 1933 hatten sie in der Praxis nach Kräften boykottiert – sollte nach 1945 rückgängig gemacht werden, auch um den Preis so genannter Zwergschulen. Deren Zahl drohte durch den Zustrom von Millionen Vertriebenen und Flüchtlingen, die vielfach durchaus absichtlich in konfessionsverschiedenen Gebieten angesiedelt wurden, noch zuzunehmen. Dennoch richteten vor 1949 Bayern, Rheinland-Pfalz, Baden, Südwürttemberg-Hohenzollern, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen konfessionell gebundene Bekenntnisschulen als gleichberechtigte staatliche Volksschulen (wieder) ein, in Bremen und Berlin wurde Religionsunterricht dagegen gar kein ordentliches Lehrfach. Das war der Stand der Dinge zu Beginn der Ausarbeitung des Grundgesetzes. Anders als die Protestanten formulierte die katholische Kirche im August 1948 eine Botschaft an den am 1. September zusammentretenden Parlamentarischen Rat, in der sie ihre Forderungen vorbrachte. Hier versicherten die Bischöfe im altvertrauten Religionspathos, sie „wollen dafür Sorge tragen, daß die Grundsteine mit der Ehrfurcht vor Gott gesalbt und nicht in den Schatten der Gottesferne

 Michael Rackl, Bischof von Eichstätt, „Kanzelverkündigung zur neuen bayerischen Verfassung“, 22.11.1946, in Hirtenbriefe und Ansprachen, Nr. 31, 126 – 128; Die Bischöfe von RheinlandPfalz, „Hirtenbrief zum Volksentscheid über die Verfassung und zur Landtagswahl“, 27.04.1947, in: Ebd., Nr. 46, 196 f.; Johannes Baptista Sproll, Bischof von Rottenburg, „Hirtenwort zur Bekenntnisschule“, 11.11.1948, in: Ebd., Nr. 61, 259 – 265.

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gelegt werden“⁶⁴. Im Klartext hieß das, Gottes Gebote stünden als Naturrecht über dem Staat und seien von diesem zu respektieren.⁶⁵ Elternrecht ist das Stichwort, mit dem dieser Grundsatzkonflikt ausgetragen wurde, obwohl natürlich die Eltern gar nicht gefragt waren,⁶⁶ sondern sich die beiden Kirchen zu deren Sprechern aufwarfen.⁶⁷ Insofern verstanden sich die Bischöfe beider Konfessionen nicht als Interessenvertreter neben anderen,⁶⁸ sondern traten mit dem Anspruch auf, den Laien im Parlamentarischen Rat die Gebote Gottes auszulegen. Im Alltag jedoch verhielten sich ihre Repräsentanten, der Vollblutpolitiker Prälat Wilhelm Böhler und der viel weniger in Erscheinung tretende Oberkirchenrat Heinrich Held,⁶⁹ wie die anderen Lobbyisten. Nur ihre Aktivitäten im Zusammenhang des Elternrechts sind hier von Interesse, der gesamte Prozess der Einflussnahme auf die Entstehung des Grundgesetzes ist hinreichend beschrieben.⁷⁰

 Die deutschen Bischöfe, „Hirtenbrief über die ‚Katholische Aktion‘“, 26.08.1948, in Hirtenbriefe und Ansprachen, Nr. 58, 251– 257, 256.  „Es geht ja hier um ein vor aller menschlichen Gesetzgebung von Gott selbst gegebenes Naturrecht, das kein Parlament und keine Parteienmehrheit beugen oder umgehen kann.“ (Kardinal Josef Frings, „Jahresschlußpredigt zu Grundfragen des politischen und sozialen Lebens“, 31.12. 1948, in Hirtenbriefe und Ansprachen, Nr. 62, 266 – 271, 270 (Herv. i.O.)) Der Lutheraner Lilje sah das im Grundsatz ebenso, formulierte nur natürlich nicht naturrechtlich, sondern politisch. Es sei „Ausdruck einer totalitären Staatsauffassung“, wenn „der Staat den Anspruch erhebt, das gesamte Erziehungswesen aus eigener Macht zu bestimmen“. Hierzu könne „die Evangelische Kirche nur ein entschlossenes Nein sagen“ („Eingabe des Rates der EKD an den Parlamentarischen Rat in Bonn zur verfassungsmäßigen Sicherung des Elternrechts“, 03.03.1949, zit. nach Protestantismus und politisches Mandat, Bd. 2, 280 f., 280).  Es gibt zwei Ausnahmen. Zunächst erreichte die katholische Kirche in der britischen Besatzungszone, dass dort im Frühjahr 1946 eine Elternbefragung zur weltanschaulichen Gestaltung der Volksschule stattfand mit dem Ergebnis einer „zum Teil erdrückenden Mehrheit für das konfessionelle Schulwesen“ (van Schewick 1980, 24). Ihr folgte im April 1947 eine Volksabstimmung über die Verfassung und, gesondert, die Schulartikel in Rheinland-Pfalz, verbunden mit Landtagswahlen. Auch hier stimmte die Mehrheit zu. Dagegen meldete DER SPIEGEL am 17.01. 1948, dass 67 % der Protestanten, aber nur 33 % der Katholiken die Konfessions- als Regelschule ablehnten; vgl. Vollnhals 1988, 166.  Im Protestantismus war das theologisch nur schwer zu begründen.  So jedoch Michael F. Feldkamp in seiner ansonsten zuverlässigen Darstellung Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Die Entstehung des Grundgesetzes, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998, 113.  Held ist in den Akten des Parlamentarischen Rates kaum präsent; vgl. Anselm 1990, 68.  Genannt seien nur Klaus Gotto, „Die katholische Kirche und die Entstehung des Grundgesetzes“, in Kirche und Katholizismus 1945 – 1949, hg. von Anton Rauscher, Paderborn: Schöningh 1977, 88 – 108; van Schewick 1980 und Anselm 1990. An diesen Arbeiten, weniger an ihren Urteilen, orientiert sich auch die nachfolgende Darstellung.

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Gleich nach Beginn der Arbeiten des Parlamentarischen Rates musste Böhler den Eindruck haben, dass die Dinge im Sinne der Kirche liefen, denn sein Vertrauensmann Adolf Süsterhenn von der CDU hatte mit ihm das Vorgehen am Rande des Mainzer Katholikentags besprochen; und dessen Fraktionskollegin Helene Weber erbat von Böhler „die Wünsche der kirchlichen Stellen für das Verfassungsstatut“⁷¹. Mit diesem Material brachte sie am 7. Oktober das Thema ‚Elternrecht‘ auf die Tagesordnung des Grundsatzausschusses und provozierte gleich energische Gegenreden von Theodor Heuss (FDP)⁷² und Carlo Schmid (SPD)⁷³. Es sah für die katholische Kirche nicht gut aus, denn wie sich nun zeigte, war weder sie selbst noch die CDU/CSU in dieser Frage geschlossen. Frings und Böhler bemühten sich daher in den nächsten Wochen erst einmal um interne Einigkeit. Zu Hilfe kamen nun auch die evangelischen Landeskirchen der britischen Zone mit einer Eingabe an den Parlamentarischen Rat, die einfach die einschlägigen Artikel aus der Weimarer Reichsverfassung nahezu unverändert enthielt⁷⁴ – wie sich zeigen sollte, ein kluger Gedanke. Er hatte nur den ‚Makel‘, nicht die katholische Position abzubilden. Böhler intervenierte deshalb erfolgreich bei Held, und tatsächlich schickten vier Tage später die Rheinische und die Westfälische Kirche eine weitere Eingabe, die u. a. ausdrücklich „das Recht der Eltern, über die Erziehung der Kinder zu bestimmen (sog. ‚Elternrecht‘)“⁷⁵, verlangte. Die überkonfessionelle Einigkeit scheint die CDU/CSU-Fraktion davon überzeugt zu haben, dass die kirchen- und schulpolitischen Fragen ins Grundgesetz gehören. Daraufhin lud Böhler einige Mitglieder dieser und der Zentrumsfraktion sowie Vertreter der Nachbardiözesen und prominente Laien am 9. November zu einem Gespräch ein, in dem man sich neben anderem auf eine entgegenkommendere Version des Elternrechts einigte: Bekenntnisschule nur, wenn die Eltern das wollen – entgegenkommender, weil man über die Umsetzung nicht beraten musste. Unterstützung kam von den Protestanten, denn am 9. November machte auch Bischof Wurm namens der EKD – bisher hatten sich ja lediglich nord- und  06.09.1948; zit. nach van Schewick 1980, 73.  „Was heißt denn das Elternrecht als Grundrecht? – Kinder zu kriegen! Was denn sonst?“ 8. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen, 07.10.1948, in Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 5/I, bearb. von Eberhard Pikart und Wolfram Werner, Boppard/Rh.: Boldt 1993, Nr. 9, 218.  „Wir als sozialdemokratische Fraktion wollen nicht, daß zu den klassischen Grundrechten noch die sogenannten Lebensordnungen genommen werden. […] Wir würden ins Uferlose kommen.“ Zit. nach ebd., 217.  „Wünsche und Vorschläge der Landeskirchen in der britischen Zone“, 25.10.1948, in Protestantismus und politisches Mandat, Bd. 2, 241 f.  29.10.1948; zit. nach van Schewick 1980, 81.

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westdeutsche Landeskirchen zu Wort gemeldet – eine Eingabe, die sich, was das Elternrecht betrifft, mit den anderen Texten deckte.⁷⁶ Unterstützung erhielt er vom Vorsitzenden der im März 1948 gegründeten Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen, Niemöller, der sich am 8. Dezember an den Parlamentarischen Rat wandte.⁷⁷ Die konfessionelle Einigkeit überzeugte aber nur eine Minderheit in der Sitzung des Hauptausschusses am 7. Dezember; der entscheidende Satz im Antrag der drei kirchennahen Fraktionen wurde mit 11 zu 10 Stimmen abgelehnt.⁷⁸ Am Tag darauf beschloss der Hauptausschuss aber die Übernahme der Kirchenartikel aus der Weimarer Verfassung.⁷⁹ Adenauer, der als Präsident des Parlamentarischen Rates vor allem eine moderierende Position einnahm, lud nun für den 14. Dezember Vertreter aller Fraktionen außer der KPD zu einem Gespräch mit den Vertretern der beiden Kirchen – Bischof Keller aus Münster, Präses Koch aus Bielefeld und natürlich Prälat Böhler, der das Hauptreferat hielt – ein, um die Kompromissmöglichkeiten zu sondieren. Noch bevor Böhler begann, betonte Carlo Schmid, „einen ‚Christlichen Staat‘ als solchen gebe es nicht“⁸⁰. Inhaltlich gab es keine neuen Aussagen. Klar wurde nun aber, „daß ein Großteil der kirchlichen Desiderate voraussichtlich zu verwirklichen war“⁸¹, nicht jedoch das Elternrecht. Damit rückte dieses nun endgültig zum wichtigsten Ziel der katholischen Kirche auf, während die Protestanten mit dem Erreichten mehr oder minder zufrieden schienen, jedenfalls keine weiteren Aktivitäten entfalteten.⁸² Die katholische Kirche begann dagegen per Hirtenworten zum Jahreswechsel das Kirchenvolk zu mobilisieren. Petitionen, auf Elternversammlungen beschlossen, erreichten den Parlamentarischen Rat in großer Zahl,⁸³ doch enthüllte die Rheinische Zeitung, dass viele davon fast gleichlautend waren und „oft auf gleichem Papier mit der gleichen Maschine geschrieben“ waren, dass also faktisch die

 Text in Protestantismus und politisches Mandat, Bd. 2, 243. Das war zugleich die letzte Intervention der EKD.  Text ebd., 244. Die katholische Kirche war nicht Mitglied dieser Arbeitsgemeinschaft.  21. Sitzung des Hauptausschusses, 07.12.1948, in Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 14: Hauptausschuß, Teilbd. 1, bearb. von Michael F. Feldkamp, München: Oldenbourg 2009, Nr. 21, 596 – 640, 639.  22. Sitzung, 08.12.1948, in ebd., Nr. 22, 641– 678, 658.  Zit. nach van Schewick 1980, 98.  Ebd., 99.  „Es ist nicht zu leugnen, daß die Initiative stark auf seiten der katholischen Kirche gewesen ist und noch ist und daß wir auf diese Weise erheblich in deren Schlepptau geraten sind, was keineswegs erwünscht ist“; Abg. Blomeyer an Präses Held, 11.01.1949; zit. nach Anselm 1990, 71.  Bis 18.01.1949 zählte das Sekretariat bereits ca. 500 Eingaben; vgl. van Schewick 1980, 101.

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Frommen nur sich selbst mobilisierten.⁸⁴ Als Anfang Februar die Nachricht vom Kompromiss im sog. Fünfer-Ausschuss durchsickerte,⁸⁵ dass zwar nicht das Elternrecht, aber sonst so gut wie alle Forderungen der Kirche(n) akzeptiert würden, sah sich Frings veranlasst, Rückendeckung bei seinen Amtsbrüdern zu holen, und lud diese für den 10. Februar zu einer Zusammenkunft nach Pützchen bei Bonn ein. Dort gelang es Böhler, der den Kompromiss „für verbesserungsfähig, aber diskutabel“ hielt,⁸⁶ die Mehrheit der Bischöfe zu überzeugen. Außerdem stellte er die Möglichkeit eines späteren Volksentscheids in Aussicht. Doch was „das gottgegebene Elternrecht“ betraf, protestierten die Bischöfe in einer Erklärung scharf und fügten hinzu, sie würden darauf „unter keinen Umständen verzichten“. ⁸⁷ Trotz weiterer Aktivitäten von katholischer Seite blieb es im Wesentlichen bei dem Ende Januar vereinbarten Kompromiss. Er wurde im Plenum in der 3. Lesung am 8. Mai 1949 ausführlich diskutiert, aber nicht mehr umgestoßen. Weil sie sich nicht vollständig durchsetzen konnten, akzeptierten beide Kirchen das Grundgesetz nur als vorläufige Ordnung, d. h. unter Vorbehalt, glaubten sie doch, „es sei exklusiv ihre Aufgabe, die Wertnormierungen für den neuen Staat zu definieren“; gegenüber einem modernen, weltanschaulich neutralen und pluralistisch verfassten Rechtsstaat herrschte „tiefe Skepsis“.⁸⁸ Er hatte aus Sicht der Kirchen lediglich Garant einer politischen und rechtlichen Struktur zu sein, für deren Geltung er aber nicht selbst sorgen kann, weil er im Unterschied zu ihnen über keine Letztbegründungskompetenz verfügt. Ernst-Wolfgang Böckenförde brachte diese Staatsmetaphysik 1964 in eine bis heute weithin akzeptierte Fassung.⁸⁹ Theodor Heuss, der intellektuelle Gegenspieler der katholischen Aktivisten in der CDU/CSU-Fraktion, hatte für all das nur Spott übrig. Die Anstrengungen der kirchlichen Repräsentanten beider Konfessionen bezeichnete er als „Wichtig-

 22.01.1949; zit. nach van Schewick 1980, 101, Anm. 224. Ludwig Bergsträsser (SPD) fühlte sich an seine Habilitationsschrift über 1848 erinnert, wo er Ähnliches aus den Akten geschöpft hatte; vgl. 21. Sitzung, 07.12.1948, in Der Parlamentarische Rat, Bd. 14/1, 2009, Nr. 21, 627.  Ihn hatte Heuss möglich gemacht, der dort das Zünglein an der Waage war.  Van Schewick 1980, 112.  Die deutschen Bischöfe, „Erklärung zum geplanten Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland“, 11.02.1949, in Hirtenbriefe und Ansprachen, Nr. 68, 289 f. (Herv. i.O.).  Anselm 1990, 73.  „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.“ (Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“, in Säkularisation und Utopie. Ebracher Studien. Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, Stuttgart: Kohlhammer 1967, 75 – 94, 93 (Herv. i.O.))

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tuerei“⁹⁰, in der Schlussdebatte sprach er nur noch vom „sog. Elternrecht“⁹¹, und zu guter Letzt kompensierte er seine Sorge wegen „Klerikalisierung im Anmarsch“⁹² mit einem Gedicht voller Ironie, betitelt „Elternrecht“: Das Elternrecht, Vermessener, rühr’ es doch nicht an, ein ganzes Erzkapitel rückt heran und hinter ihm, elementar, erregt, und schon erprobt, die alte Einsatzschar, ergib dich, Elender, eh du verdammt, dein kecker Kahn vom dunklen Schiff gerammt.⁹³

Die sich als Verlierer fühlenden Kirchenführer nahmen die Dinge weniger leicht. Unmittelbar nach der Verabschiedung des Grundgesetzes trösteten sie sich mit dem Gedanken, dass die nun gefundene Regelung wie der neugegründete Staat überhaupt nur ein kurzlebiges Provisorium sein würde und man bei der endgültigen Version einer Verfassung auch das Elternrecht in der den Kirchen genehmen Form verankern werde. Öffentlich machte nur die katholische Kirche ihren Unmut,⁹⁴ die Protestanten hielten ihre Kritik unter Verschluss.⁹⁵ Nicht jedoch Martin Niemöller. Der temperamentvolle Kirchenpräsident erklärte im Dezember 1949 einer amerikanischen Interviewerin, die westdeutsche Verfassung „ward empfangen im Vatikan und geboren in Washington“ – und löste damit ein publizistisches Erdbeben aus.⁹⁶ Bundeskanzler Adenauer, der sich daraufhin bei ihm

 Zit. nach Feldkamp 1998, 66.  10. Sitzung des Plenums, 08.05.1949. Der Parlamentarische Rat, Bd. 9: Plenum, bearb. von Wolfram Werner, München: Boldt/Oldenbourg 1996, Nr. 10, 539 u. ö.  Brief an Wilhelm Stapel, 04.07.1949. in Theodor Heuss. Stuttgarter Ausgabe. Briefe 1945 – 1949, hg. von Ernst W. Becker, München: Saur 2007, Nr. 207, 511.  Theodor Heuss, Das ABC des Parlamentarischen Rates. Bonn, 23. Mai 1949, Düsseldorf: Tönnes 1949, hier zit. nach Neuausg. in Parlamentarische Poesie, hg. von Gudrun Kuip, Stuttgart: Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus 1999, 14– 29, 16. Heuss kommentierte bzw. persiflierte die gesamten Beratungen in einer Broschüre, die zu jedem Buchstaben des Alphabets ein Gedicht enthielt.  Die deutschen Bischöfe 1949b/1985. Der Text enthält eine Fülle von Superlativen: „schärfste Kritik“, „aufs schwerste gekränkt“, „aufs bitterste enttäuscht“, „nachdrücklichster Einspruch“.  Eine anonyme und offenbar nicht veröffentlichte Stellungnahme ist abgedruckt in Anselm 1990, 79 f.  „Dieses ‚Ereignis‘ gehört vielleicht zu den wichtigsten, die das Jahr 1949 in unserm Bereich aufzuweisen hat“; Johannes Schneider in seinen einführenden Worten zu dem ausführlich dokumentierten „Ereignis“, in Kirchliches Jahrbuch, Jg. 76, 1950, 239. Die Dokumentation in ebd., 240 – 260.

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beschwerte, antwortete er brieflich, er wünsche keine Belehrungen, und fügte hinzu, er habe auch nicht gewählt.⁹⁷ Demokratisches Verhalten sieht anders aus. Bemerkenswert ist auch, dass nun ausgerechnet von katholischer Seite ein ‚Kulturkampf‘ ins Spiel gebracht wurde. Das nach 1945 sofort auf die Tagesordnung gesetzte Thema ‚Schule‘ schien in der Tat alte Konflikte wieder aufleben zu lassen. Als Bayerns SPD-Ministerpräsident Wilhelm Hoegner bzw. sein Kultusminister Franz Fendt gleich nach ihrer Ernennung die soeben von der CSU wieder eingeführte Bekenntnisschule⁹⁸ erneut beseitigen wollten,⁹⁹ äußerte sein württembergischer Kollege Heuss „seine Befürchtung, daß in Bayern ein neuer Kulturkampf entbrenne“; man müsse „in Württemberg alle Mühe darauf verwenden, nicht in eine gleichartige Entwicklung“ zu geraten.¹⁰⁰ Das war die klassische Konstellation: Laizistische Kräfte entfesseln einen als ‚Kulturkampf‘ bezeichneten Konflikt mit der katholischen Kirche. Heuss‘ Sorge erwies sich allerdings rasch als gegenstandslos – nicht wegen des Rücktritts des Kabinetts Hoegner I Ende 1946, sondern weil sich die Zeiten wirklich geändert hatten. Das Prestige der beiden Kirchen war auf nie zuvor erreichtem Gipfel und die in Deutschland immer schon vergleichsweise schwachen laizistischen Kräfte fanden jetzt noch nicht einmal bei den Liberalen nennenswerte Unterstützung. Ausgerechnet die katholische Kirche verkehrte dann aber beim Kampf ums Elternrecht die gewohnten Vorzeichen und dachte 1949 zusammen mit ihren parteipolitischen Verbündeten ihrerseits über einen Kulturkampf nach, falls ihre schulpolitischen Ziele scheitern würden. In einer CDU-Sitzung im Februar 1949 warnte der Abgeordnete Robert Lehr allerdings, „daß es verhängnisvoll wäre, in diesem Augenblick einen Kulturkampf zu entfesseln, weil etwa 20 % dessen, was

 25.01.1950. Bundesarchiv Koblenz, N 1278/208 (Nachlass Friedrich Holzapfel). Holzapfel, dem konservativen Protestanten und 1945 – 1947 Rivalen Adenauers in der nordrhein-westfälischen CDU, hatte Niemöller offenbar eine Abschrift geschickt.  Erlass des CSU-Kultusministers Otto Hipp vom 23.07.1945.  Vgl. Franz Fendt, Aufriss eines deutschen Bildungsplanes, München: Pflaum 1946. Dieser Titel erschien zugleich in englischer Sprache und sollte den Amerikanern signalisieren, dass man in Bayern schulpolitisch ihren Weg gehen, d. h. Staat und Kirche im Unterrichtswesen strikt trennen wolle. Tatsächlich versuchten die Amerikaner, die Gemeinschaftsschule durchzusetzen, gaben aber angesichts des hinhaltenden Widerstands von Fendts Nachfolger Alois Hundhammer (CSU), dem Kardinal Faulhaber den Rücken stärkte, und im Blick auf den sich zuspitzenden Kalten Krieg ab 1947 auf.  „Bericht Helmut Kruses an Generalvikar Kottmann“, in Akten deutscher Bischöfe, Bd. 6, Nr. 1053, 807. Kruse hatte mit Heuss am 06.10.1945 gesprochen, unmittelbar zuvor war in der Stuttgarter Zeitung ein entsprechender Bericht aus München erschienen.

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wir erstrebt haben, nicht erreicht ist“¹⁰¹. Lehrs Hoffnungen drohten aber an der Intransigenz politischer Hardliner in CDU/CSU und DP sowie beim Klerus zu scheitern. In dieser Lage intervenierte der bekannte Publizist Walter Dirks mit einem „Wir wollen keinen Kulturkampf“ betitelten Artikel, in dem er die Hoffnung aussprach: „Vielleicht ist es noch Zeit, dieses zerstörerische Wort auszurotten.“¹⁰² Aber es war kaum diese Intervention, als vielmehr der Sieg besonnener Kräfte im Episkopat, der unmittelbar nach Verkündung des Grundgesetzes zwar davon sprach, dass das „volle Elternrecht“ nicht habe durchgesetzt werden können und der Kirche daher „ein Kampf aufgezwungen“ sei,¹⁰³ es aber bei dieser Drohung beließ. Die von Frings namens der Fuldaer Bischofskonferenz am 9. Januar 1950 eingelegte förmliche Rechtsverwahrung gegen einzelne Bestimmungen des Grundgesetzes machte der Kardinal nicht öffentlich. Die Bundesregierung konnte sie daher dilatorisch behandeln. Dabei ist es bis heute geblieben. Es hat mindestens zwei Jahrzehnte gedauert, bis die evangelische Kirche die Demokratie als unhintergehbares Wertsystem und damit zugleich die Eigengesetzlichkeit des Politischen anerkannt hat¹⁰⁴. Erst seither ist ihr ‚Wächteramt‘ legitim. Die katholische brauchte dazu noch viel länger. Zwar kann man kaum bestreiten, dass sie sich in ihrer politischen Praxis vorbehaltlos auf das Selbstverständnis der parlamentarische Demokratie eingelassen hat; in ihrer politischen Theorie, d. h. in ihren offiziellen staats- und demokratietheoretischen Äußerungen ist das aber bis heute nur partiell der Fall.

Literatur Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933 – 1945, Bd. 6: 1943 – 1945 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe A: Quellen, Bd. 38), bearb. von Ludwig Volk, Mainz: Grünewald 1985.

 „Protokoll der Sitzung des Zonenausschusses der CDU in der britischen Zone am 24. und 25.02.1949 in Königswinter“, in Konrad Adenauer und die CDU der britischen Besatzungszone 1946 – 1949. Dokumente zur Gründungsgeschichte der CDU Deutschlands, hg. von der KonradAdenauer-Stiftung, eingel. und bearb. von Helmuth Pütz, Bonn: Eichholz-Verlag 1975, 811.  Walter Dirks, „Wir wollen keinen Kulturkampf“, Frankfurter Hefte, 4. Jg., H. 4, 1949, 324– 332, 324. Dirks war mit seinem Mitherausgeber Eugen Kogon zu der Zeit der wichtigste katholische Publizist Deutschlands.  Die deutschen Bischöfe 1949b/1985, 315. Im Text ist noch mehrfach vom „Kampf“ die Rede.  Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe. Eine Denkschrift der EKD, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Mohn 1985. Diese Denkschrift wurde unter der Leitung von Trutz Rendtorff erarbeitet.

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Albert, Marcel (1999): Die katholische Kirche in Frankreich in der Vierten und Fünften Republik, Freiburg i. Br.: Herder. Anselm, Reiner (1990): „Verchristlichung der Gesellschaft? Zur Rolle des Protestantismus in den Verfassungsdiskussionen beider deutscher Staaten“, in Christentum und politische Verantwortung. Kirchen im Nachkriegsdeutschland (Konfession und Gesellschaft, Bd. 2), hg. von Jochen Christoph Kaiser und Anselm Doering-Manteuffel, Stuttgart: Kohlhammer, 63 – 87. Barth, Karl (1946/1984): „Brief an Gustav Heinemann v. 16. 2. 1946“, in: Ders., Offene Briefe 1945 – 1968 (Gesamtausgabe, Abt. 5), hg. von Diether Koch, Zürich: Theologischer Verlag 1984, 61 – 64. Beckmann, Johannes (1949/1950): „Die Kirche vor den Fragen der Zeit“ (1949), in Kirchliches Jahrbuch, Jg. 76, 1949, 1 – 9. Blessing, Werner K. (1988): „‚Deutschland in Not, wir im Glauben …‘. Kirche und Kirchenvolk in einer katholischen Region 1933 – 1949“, in Von Stalingrad zur Währungsreform, 3 – 111. „Bericht Helmut Kruses an Generalvikar Kottmann“, 08. 10. 1945, in Akten deutscher Bischöfe, Bd. 6, Nr. 1053, 805 – 809. „Bericht über die Reise des P. Zeiger SJ zu dem Hochwürdigsten Episkopat von Deutschland und Österreich“, 1945, in Akten deutscher Bischöfe, Bd. 6, Nr. 1043, 758 – 776. „Beschluß der Kirchenkonferenz der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Schulfrage“, Treysa, August 1945, in Kundgebungen, Worte und Erklärungen, 5. Die Bischöfe von Rheinland-Pfalz (1947/1985): „Hirtenbrief zum Volksentscheid über die Verfassung und zur Landtagswahl“, 27. 04. 1947, in Hirtenbriefe und Ansprachen, Nr. 46, 196 f. Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1967): „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“, in Säkularisation und Utopie. Ebracher Studien. Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, Stuttgart: Kohlhammer, 75 – 94. Bonhoeffer, Dietrich (1966): Ethik, 7. Aufl., hg. von Eberhard Bethge, München: Kaiser. „Darmstädter Wort zum politischen Weg unseres Volkes“, 08. 08. 1947, in Kirchliches Jahrbuch, Jg. 76, 220 – 222. Dibelius, Otto (1947/1950): „Vor dem großen Entweder-Oder“, in Kirchliches Jahrbuch, Jg. 72 – 75, 214 – 220. Dibelius, Otto (1948/1970): „‚Die tragende Mitte‘. Programmrede zum 2. Berliner Kirchentag 1948“, in: Ders., Reden-Briefe 1933 – 1967, hg. von Jürgen W. Winterhager, Erlenbach-Zürich/Stuttgart: Eugen Rentsch Verlag, 34 – 43. Die deutschen Bischöfe (1945/1985): „Hirtenbrief, beschlossen von der Konferenz der katholischen Bischöfe Deutschlands in Fulda“, 23. 08. 1945, in Hirtenbriefe und Ansprachen, Nr. 6, 40 – 45. Die deutschen Bischöfe (1948/1985): „Hirtenbrief über die ‚Katholische Aktion‘“, 26. 08. 1948, in: Hirtenbriefe und Ansprachen, Nr. 58, 251 – 257. Die deutschen Bischöfe (1949a/1985): „Erklärung zum geplanten Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland“, 11. 02. 1949, in Hirtenbriefe und Ansprachen, Nr. 68, 289 f. Die deutschen Bischöfe (1949b/1985): „Erklärung nach Annahme des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland“, 23. 05. 1949, in: Hirtenbriefe und Ansprachen, Nr. 73, 311 – 316. Dirks, Walter (1949): „Wir wollen keinen Kulturkampf“, Frankfurter Hefte, 4. Jg., H. 4, 324 – 332.

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Christof Dipper

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Die Konfessionen und die Entstehung des Grundgesetzes

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Hinkende Annäherung Die evangelische Kirche und der Staat des Grundgesetzes

1 Ausgangslage 1945: Zäsur und dennoch keine ‚Stunde Null‘ In Deutschland werde die Demokratie keine Wurzeln schlagen. Davon zeigte sich im August 1945 der spätere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Otto Dibelius, überzeugt. Zum einen sei die Demokratie eine ausländische Ideologie, zum anderen werde sie in Deutschland mit den negativen Erfahrungen der gescheiterten Weimarer Republik in Verbindung gebracht.¹ Hans Asmussen, Gründungsleiter der Kirchenkanzlei der EKD, sah sich seinerseits zwei Jahre nach dem Untergang des Dritten Reiches genötigt, „ein sehr deutliches Wort gegen den Götzen Demokratie zu reden“², zumal seiner Überzeugung nach die Zeit für die Demokratie „vorbei“³ sei. Bei Asmussen klingen schlaglichtartig jene Denkhaltungen und Befindlichkeiten an, die für einen Großteil des lutherisch-konservativen Mehrheitsprotestantismus kennzeichnend waren: Misstrauen gegenüber der parlamentarischen Demokratie und Zurückweisung eines gesellschaftlichen (Meinungs‐)Pluralismus bei gleichzeitiger Befangenheit in Denkmustern des Konstitutionalismus, die sich u. a. in der deutlichen Sympathie für eine starke, vermeintlich überparteiliche Staatsautorität offenbart. Vor diesem Hintergrund erscheint es folgerichtig, wenn der lutherische Theologe in verklärender Rückschau im Deutschen Kaiserreich die „freieste Zeit Deutschlands“ erblickte. Beide Wortmeldungen prominenter evangelischer Kirchenvertreter machen eines deutlich: Wer den langwierigen und spannungsreichen Annäherungsprozess der evangelischen Kirche an den bundesrepublikanischen Staat des Grund-

 Vgl. Zitate bei Clemens Vollnhals, Evangelische Kirche und Entnazifizierung 1945 – 1949. Die Last der nationalsozialistischen Vergangenheit, München: Oldenbourg 1989, 19.  Hans Asmussen an Theophil Wurm, 24.03.1947, in „Zum politischen Weg unseres Volkes“. Politische Leitbilder und Vorstellungen im deutschen Protestantismus 1945 – 1952. Eine Dokumentation, bearb. von Dorothee Buchhaas-Birkholz, Düsseldorf: Droste 1989, 76.  Hier und nachfolgend: Hans Asmussen, „Die gegenwärtige Lage, Vortrag vom 28.8.1947“, abgedruckt in „Zum politischen Weg unseres Volkes“, 111– 116, 112. https://doi.org/10.1515/9783110623406-003

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gesetzes in seiner historischen Dimension erfassen will, der muss institutionelle Prägungen, individuelle und kollektivbiografische Erfahrungen, konfessionelle und theologische Spezifika sowie nationale Pfadabhängigkeiten berücksichtigen, die weit hinter die Zäsur von 1945 zurückreichen. Beispielhaft erwähnt seien an dieser Stelle nur das – insbesondere im Luthertum – auf einer pessimistischen Anthropologie basierende Bekenntnis zu einem starken Staat, dessen Untertanen ihm Gehorsam schuldeten; ein über Jahrhunderte gewachsenes Nahverhältnis von Thron und Altar, das im Deutschen Kaiserreich einen performativen Höhepunkt erreichte (‚Heiliges Evangelisches Reich Deutscher Nation‘); damit eng verknüpft eine zur Überidentifikation neigende, unverkennbar antikatholisch grundierte Nationalisierung des Protestantismus;⁴ die kirchlich-theologische Ächtung der Demokratie als „politische[s] Instrument eines ungebremsten Eigennutzes“ und als „Platzhalter einer Anarchie der Werte“;⁵ der 1918 als schmerzhafter Verlust empfundene Untergang der Monarchie und somit des Summepiskopats; eine vor allem im nationalkonservativen Protestantismus schon vor 1933 festzustellende „geradezu messianische Sehnsucht nach einer Art ‚Erlöser‘“⁶, die ihre Projektionsfläche im ‚Führer‘ jener Partei fand, die die mitunter verhasste ‚Gottlosenrepublik‘ von Weimar abzuschaffen versprach; die erstmalige Konfrontation mit einem kirchenfeindlichen, totalitären Weltanschauungsstaat sowie die Erfahrung des in verschiedenen kirchenpolitischen Lagern geführten Kirchenkampfes. Das Wissen um diese Hypothek bewahrt vor allzu kurschlüssigen, linearen Erfolgsnarrativen, nach denen der Protestantismus nach 1945 „die demokratische Idee auch in der deutschen Politik beflügelt [hat]. Das erklärt, warum heute [2015; K.B.] neun der 16 Bundesminister evangelisch sind, die meisten sogar mit engen Beziehungen zur Kirche.“⁷ Unzweifelhaft ist, dass der Zusammenbruch des

 Vgl. Nationalprotestantische Mentalitäten. Konturen, Entwicklungslinien und Umbrüche eines Weltbildes, hg. von Manfred Gailus und Hartmut Lehmann, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005.  Kurt Nowak, „Der lange Weg der deutschen Protestanten in die Demokratie“, in Demokratie in Deutschland. Chancen und Gefährdungen im 19. und 20. Jahrhundert. Historische Essays, hg. von Wolther von Kieseritzky und Klaus-Peter Sick, München: C.H. Beck 1999, 420 – 433, 429.  Andreas Wirsching, „Die deutsche ‚Mehrheitsgesellschaft‘ und die Etablierung des NS-Regimes im Jahre 1933“, in Das Jahr 1933. Die nationalsozialistische Machteroberung und die deutsche Gesellschaft, hg. von Andreas Wirsching, Göttingen: Wallstein 2009, 9 – 29, 13. Zur teilweise euphorischen protestantischen Anteilnahme an der Phase der NS-Machtergreifung vgl. Manfred Gailus, „1933 als protestantisches Erlebnis: emphatische Selbsttransformation und Spaltung“, Geschichte und Gesellschaft, Bd. 29, 2003, 481– 511.  Wolfgang Thielmann, „Können Kirchen demokratisch sein?“, ZEIT ONLINE, 01.05. 2015, [https://t1p.de/nn4n] (Zugriff: 26.09. 2018).

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Dritten Reiches für beide Kirchen den wohl denkbar größten Wandel ihrer Stellung im öffentlichen Raum markierte: heraus aus der erzwungenen Nischenexistenz, hinein in die Rolle des einflussreichsten gesellschaftspolitischen Akteurs Nachkriegsdeutschlands. Als die einzigen weitgehend intakt gebliebenen Großinstitutionen übernahmen sie mit einer Vielzahl von Hilfsmaßnahmen und als Ansprechpartner der Alliierten zumindest ad interim quasi-staatliche Aufgaben. Hierbei kam ihnen zugute, dass sie – ungeachtet des weitestgehend unterbliebenen kirchlichen Widerstands gegen das NS-Regime – weithin als geistigmoralische Bastionen im Weltanschauungskampf gegen die NS-Ideologie galten. Dieses ideelle, aber auch organisatorische und personelle Potenzial für den bevorstehenden Wiederaufbau der deutschen Staatlichkeit und die politische ‚Umerziehung‘ ihrer Gesellschaft wurde von führenden Vertretern der alliierten Siegermächte erkannt und sollte dementsprechend nutzbar gemacht werden. So wurden nicht selten personalpolitische Entscheidungen der Besatzungsmächte auf kirchliche Empfehlung hin getroffen;⁸ in Württemberg erkundigte man sich gar nach der Bereitschaft des evangelischen Landesbischofs Theophil Wurm, Ministerpräsident einer ersten vorläufigen Regierung zu werden.⁹ Motiviert wurde die teilweise enge Kooperation der (angelsächsischen) Besatzungsmächte mit den Kirchen von der Hoffnung, ein Aufschwung des religiösen Lebens in Deutschland „would greatly promote the Allied program for the development of democratic principles in Germany“¹⁰. Unabhängig von der Tragfähigkeit dieser erhofften Kausalität steht außer Frage, dass beide christlichen Kirchen in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine solch herausgehobene öffentliche Stellung einnahmen, wie sie ihnen in dieser Bündelung an Zuständigkeiten, Autorität und entgegengebrachten Erwartungen in der neueren deutschen Geschichte kein zweites Mal zugekommen war. Gleichsam über Nacht wagten sich beide Kirchen – halb gewollt und halb erzwungen – in Grenzbereiche vor, die unter regulären Bedingungen staatlichen bzw. politischen Institutionen vorbehalten sind, und avancierten somit zu den zentralen Akteuren innerhalb der deutschen Nachkriegsöffentlichkeit. Die daraus erwachsene Verantwortung wurde in der evangelischen Kirche – lagerübergreifend – wahr- und angenommen. Als Lehre aus den Erfahrungen und

 Die am 28.05.1945 vollzogene Ernennung Fritz Schäffers zum ersten bayerischen Ministerpräsidenten der Nachkriegszeit gehört zu den prominentesten Beispielen einer solchen Praxis.  Theophil Wurm, Erinnerungen aus meinem Leben, Stuttgart: Quell-Verlag 1953, 176.  Harry S. Truman an Samuel McCrea Cavert, 07.07.1946, zit. nach Gerhard Besier, „Rolle und Entwicklung der evangelischen Kirche in der BRD“, in Normen – Stile – Institutionen. Zur Geschichte der Bundesrepublik, hg. von Peter März, München: Bayerische Landeszentrale für politische Bildung 2000, 51– 74, 51.

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eigenen Verfehlungen in der NS-Zeit sah man sich künftig zur Übernahme eines ‚Öffentlichkeitsauftrags‘ verpflichtet. Bereits im August 1945 wurde eine Kundgebung „zur Verantwortung der Kirche für das öffentliche Leben“ formuliert, die eben jenes Bekenntnis und dessen historisch-theologische Begründung aussprach: Das furchtbare Ergebnis der vergangenen zwölf Jahre hat weiten Kreisen innerhalb und außerhalb der deutschen Kirchen die Augen dafür geöffnet, daß nur da, wo Grundsätze christlicher Lebensordnung sich im öffentlichen Leben auswirken, die politische Gemeinschaft vor der Gefahr dämonischer Entartung bewahrt bleibt. Aus dieser Erkenntnis erwächst den evangelischen Kirchen Deutschlands die große und schwere Aufgabe, weit stärker als bisher auf die Gestaltung des öffentlichen Lebens und insbesondere der politischen Gemeinschaft einzuwirken.¹¹

Auch auf protestantischer Seite fand sich somit jene Vergangenheitsdeutung, die den Nationalsozialismus und dessen Verbrechen mit einer zunehmenden Entchristlichung zu erklären versuchte, woraus wiederum ein in die Zukunft gerichteter Auftrag zur Übernahme öffentlicher Verantwortung im Sinne einer Rechristianisierung abgeleitet wurde.¹² Für die evangelische Kirche bedeutete das Bekenntnis zur Mitgestaltung des öffentlichen Lebens und insbesondere der politischen Gemeinschaft aus mindestens drei Gründen eine ungleich größere Herausforderung als für die katholische Kirche. So absorbierten – erstens – die notwendige Neuorganisation der ‚zerstörten‘ (also von den Deutschen Christen geführten) Landeskirchen sowie die konfliktreiche Gründung des Kirchenbundes der EKD erhebliche innerkirchliche Ressourcen. Zweitens entbehrte die evangelische Kirche jener stabilen Aktions-

 „Kundgebung der Kirchenkonferenz der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Verantwortung der Kirche für das öffentliche Leben“, Treysa, August 1945, in Kundgebungen. Worte und Erklärungen der Evangelischen Kirche in Deutschland 1945 – 1959, hg. von [Friedrich] Merzyn, Hannover: Verlag des Amtsblattes der Evangelischen Kirche 1959, 3.  So blieb nach Martin Niemöller „nichts übrig, als auf dem Boden des Christentums nun neu aufzubauen. […] Heute heißt es: entweder Chaos oder Neugestaltung des politischen Lebens auf der Basis des Christentums.“ Protokoll des Bruderrates der EKD, 22.08.1945, in „Zum politischen Weg unseres Volkes“, 42. Völlig zu Recht betont Klaus Große Kracht, dass der „Rechristianisierungsdiskurs […] keineswegs auf die katholische Kirche beschränkt“ war, sondern sich „auch in protestantischen Kreisen großer Beliebtheit“ erfreute (Klaus Große Kracht, „Von der ‚Rechristianisierung der Gesellschaft‘ zur ‚sauberen Bewältigung der Realität‘. Wandlungen im Sendungsbewusstsein katholischer Intellektueller in der frühen Bundesrepublik (1945 – 1960)“, in Die zweite Gründung der Bundesrepublik. Generationswechsel und intellektuelle Wortergreifungen 1955 – 1975, hg. von Franz-Werner Kersting, Jürgen Reulecke und Hans-Ulrich Thamer, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2010, 133 – 152, 134).

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plattform, von der aus die katholische Kirche selbstbewusst die öffentliche Bühne betreten konnte: Weder der Papst noch dessen Enzykliken, weder eine ausformulierte Sozial- oder Staatslehre noch eine die gottgewollte ‚natürliche Ordnung‘ nachempfindende Naturrechtslehre, weder kanonisches Recht noch die Erfahrungswerte eines politischen Protestantismus standen hier als Wegweiser im Chaos des staatlichen und politischen Zusammenbruchs zur Verfügung. Diese theologische, politische, sozialethische und kirchenrechtliche Differenz wurde in jenem historischen Moment mit besonderer Schärfe wahrgenommen, als die Kirche nach den Worten des bayerischen Landesbischofs Hans Meiser „die einzige Größe“ war, „von der man etwas Maßgebendes erwartet“.¹³ Schließlich war der Protestantismus – drittens – von solch tiefen innerkonfessionellen (lutherischer, unierter und reformierter Konfessionalismus¹⁴), kirchenpolitischen und weltanschaulichen Gräben durchzogen, dass an die Formulierung einer gemeinsamen politischen Agenda oder gar einer politischen Ethik nicht zu denken war.¹⁵ Zwei Lager standen sich besonders unversöhnlich gegenüber. Auf der einen Seite waren dies konfessionsbewusste und politisch mehrheitlich konservative Lutheraner. Als Verfechter der Zwei-Reiche-Lehre gestanden sie der politischen Sphäre eine hohe Selbständigkeit zu, lehnten deshalb klerikale Übergriffe in den Bereich der Politik rundheraus ab und sahen es als Teil der kirchlichen Verkündigung, „sich für die Obrigkeit als Ordnung Gottes einzusetzen“¹⁶. Der Staat solle, so der EKD-Ratsvorsitzende Dibelius, das politische Reich „nicht mit Bibelsprüchen machen, sondern mit politischer Vernunft und sozialer Verantwortung. Dieses Reich solle der Staat allein machen, ohne dass die Kirche ihm hineinrede.“¹⁷ Auf der anderen Seite stand der zahlenmäßig zwar kleine, aber äußerst öffentlichkeitswirksame, vom reformierten Theologen Karl Barth inspirierte Bruderratsflügel. Ausgehend von der Überzeugung einer ‚Königsherrschaft Christi‘ über alle Lebensbereiche erwuchs der Kirche und ihren Gliedern hier ein eben-

 Niederschrift über die Besprechung betr. politische Besinnung in Erlangen am 14. 8.1945, Landeskirchliches Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Nürnberg (LAELKB), Bestand Landesbischof, Nr. 62.  Kristian Buchna, Ein klerikales Jahrzehnt? Kirche, Konfession und Politik in der frühen Bundesrepublik während der 1950er Jahre, Baden-Baden: Nomos 2014, 351 ff.  Reiner Anselm, „Politische Ethik“, in Handbuch der Evangelischen Ethik, hg. von Wolfgang Huber, Torsten Meireis und Hans-Richard Reuter, München: C.H. Beck 2015, 195 – 263.  So der lutherische Theologe Walter Künneth, Niederschrift über Tagung der Kammer für öffentliche Verantwortung, 30.10.1950, LAELKB, Nachlass Walter Künneth, 30.  Zitate aus Festgottesdienst des Gustav-Adolf-Werkes in Berlin, „Der Staat soll nicht in die Dinge der Kirche hineinreden.“ (Christlicher Nachrichtendienst, 20.10.1951)

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so universelles „prophetisches Amt“¹⁸. Folglich gebe es „unter den den Staat bedrückenden Problemen keines, welches nicht irgendwie auch die Kirche berührte“¹⁹. Logische Konsequenz dieser Position war die Berechtigung, ja die Verpflichtung der Gemeindeorgane, „in wichtigen Situationen des politischen Lebens durch besondere Eingaben an die Behörden oder durch öffentliche Proklamationen sich zu Wort“²⁰ zu melden. Die besonders anschaulich in den Wortmeldungen Martin Niemöllers nachvollziehbaren Konsequenzen dieser politischen Ethik provozierten immer wieder den Vorwurf von lutherischer Seite, mit gesinnungsethischer Verve und moralischem Rigorismus theologische Maßstäbe an die Politik anzulegen und somit beide Reiche zu verquicken. Eberhard Müller, Gründungsleiter der Evangelischen Akademie Bad Boll, sah in der politischen Ethik Barths die Gefahr eines „prophetischen Situationsklerikalismus“ angelegt, da der Prediger die Autorität seines kirchlichen Amtes dazu missbrauche, „seinen privaten politischen Meinungen öffentliches Gewicht zu verleihen“.²¹ Bereits diese grobe Skizzierung der Ausgangslage auf evangelischer Seite macht deutlich: Die nach 1945 einsetzende „Hinwendung zur Politik“²² war nur um den Preis fortwährender innerprotestantischer Konflikte um Art und Ausmaß des politischen Mandats der Kirche zu erreichen. Die Voraussetzungen, zielgerichtet, geschlossen und effektiv auf die verfassungsrechtliche Grundlegung des neu zu konstituierenden Staates einzuwirken, waren auf evangelischer Seite somit denkbar schlecht.

 Rudolf Uertz, „Politische Ethik im Christentum“, Aus Politik und Zeitgeschichte, Jg. 57, 2007 Heft 6, 31– 38, 35. In der zweiten Barmer These fand jenes Königsherrschafts-Postulat seine nachhaltig wirksame „Basisformulierung“ (Wolfgang Huber). Es heißt darin: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürften.“  Karl Barth, Christengemeinde und Bürgergemeinde, München: Kaiser 1946, 5.  Ebd., 35.  Eberhard Müller, „Klerikalisierung des öffentlichen Lebens?“, in: Ders./Bernhard Hanssler, Klerikalisierung des öffentlichen Lebens?, Osnabrück: Fromm 1963, 15 – 56, 31.  Martin Greschat, Christentumsgeschichte II. Von der Reformation bis zur Gegenwart, Stuttgart: Kohlhammer 1997, 259.

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2 Bedingt handlungsfähig: die evangelische Kirche und die Beratungen des Grundgesetzes In Teilen der Forschung fällt die Bewertung der evangelischen Anteilnahme an den Verfassungsberatungen des Parlamentarischen Rates in Bonn geradezu verheerend aus: „Der Protestantismus verschlief die Geburtsstunde der zweiten Demokratie in Deutschland. Dies ist das große Versäumnis der evangelischen Kirche, an dem Kritik geübt werden muß. In der entscheidenden Phase demokratischen Neubeginns war die evangelische Kirche nicht an ihrem Platz.“²³ Tatsächlich lassen sich Belege für eine unbeholfen bis dilettantisch anmutende Begleitung der Grundgesetzverhandlungen finden.²⁴ Es waren jedoch weder Gleichgültigkeit noch Desinteresse, die die EKD im Vergleich zur systematischen Einwirkung der katholischen Kirche so schlecht dastehen ließen. Vielmehr gilt es, in ihrem Falle zunächst die für sie besonders neuralgische nationalstaatliche Komponente zu berücksichtigen. Da die Stammlande des Protestantismus jenseits des Eisernen Vorhangs lagen, wurden alle Maßnahmen zur Vertiefung der staatlichen Teilung mit besonderer Sensibilität wahrgenommen. Als gesamtdeutsche Institution gehörte das Bekenntnis zur nationalen Einheit zum Selbstverständnis der EKD.²⁵ Eine allzu intensive oder gar affirmative Begleitung der Weststaatsgründung hätte ihre ‚nationale Glaubwürdigkeit‘ in den Augen vieler nationalprotestantisch geprägter Mitglieder massiv beschädigt. Darüber hinaus erschwerte eine für die EKD der Nachkriegszeit durchaus charakteristische Kombination aus mangelnder Koordination, organisatorischer Selbstbeschäftigung sowie divergierenden Auffassungen eine effektive Vertretung ihrer Interessen. Bezeichnenderweise stammten die ersten kirchlichen Eingaben an die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates nicht vom Rat der EKD, sondern von verschiedenen Landeskirchen, die ihrerseits wiederum sehr unterschiedliche Forderungen erhoben hatten.²⁶ Nach der ebenso nüchternen wie ex-

 Michael J. Inacker, Zwischen Transzendenz, Totalitarismus und Demokratie. Die Entwicklung des kirchlichen Demokratieverständnisses von der Weimarer Republik bis zu den Anfängen der Bundesrepublik (1918 – 1959), Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1994, 257.  So ließ sich die EKD zeitweilig von einem in hohem Alter stehenden, verzweifelt nach Arbeit suchenden Journalisten über den Verlauf der Grundgesetzberatungen informieren, der sie jedoch nicht etwa mit Hintergrundinformationen, sondern – mit großer zeitlicher Verzögerung – mit offiziellen Drucksachen des Parlamentarischen Rates versorgte.  Vgl. Claudia Lepp, Tabu der Einheit? Die Ost-West-Gemeinschaft der evangelischen Christen und die deutsche Teilung (1945 – 1969), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005.  Buchna 2014, 195 ff.

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akten Einschätzung der Kirchenkanzlei der EKD ließ sich eine dem katholischen Vorgehen vergleichbare Entschieden- und Geschlossenheit beim Anmelden kirchlicher Forderungen auch deswegen nicht herstellen, weil es unklar sei, „welcher Standpunkt hierbei vertreten werden soll, ohne damit die Interessen einzelner Landeskirchen zu schädigen. […] Es bestehen über gewisse Fragen des Staatskirchenrechtes in den Landeskirchen teilweise sehr verschiedenartige Auffassungen.“ Es sei daher „aussichtslos […], daß gegenüber dem Parlamentarischen Rat in Bonn eine vollkommen klare und einheitliche Linie vertreten werden könnte“.²⁷ Insbesondere bei der umstrittenen Frage einer verfassungsmäßigen Verankerung des Elternrechts auf Errichtung von Bekenntnisschulen war man auf evangelischer Seite von der einmütigen Kampfbereitschaft der katholischen Kirche weit entfernt. Dies hatte freilich mehrere Gründe. Aufgrund des tradierten Nahverhältnisses zwischen den evangelischen Landeskirchen und den jeweiligen Territorialstaaten sahen sich gläubige Protestanten in der Vergangenheit durch staatliche Schulen nicht in gleicher Weise herausgefordert oder gar in ihrer Religionsfreiheit angegriffen, wie es auf katholischer Seite der Fall war. Darüber hinaus beanspruchte die evangelische Kirche – wiederum im Gegensatz zur katholischen – kein eigentliches „Erziehungsrecht der Kirche“²⁸, und auch eine naturrechtliche Begründung des Elternrechts war der evangelischen Theologie nicht möglich. Vor allem jedoch schätzte man sowohl das Angebot an Lehrern für evangelische Bekenntnisschulen ebenso skeptisch ein wie die Nachfrage evangelischer Eltern nach einem konfessionsgebundenen Unterricht. Da es in ihren Reihen sowohl Befürworter der Bekenntnisschule als auch Anhänger der christlichen Gemeinschaftsschule gab, setzte sich die EKD allenfalls mit gedämpfter Leidenschaft für eine Verankerung des Elternrechts im Grundgesetz ein. Weitere Faktoren wirkten sich nachteilig auf die Verhandlungsposition der evangelischen Kirche gegenüber dem Parlamentarischen Rat aus. Mit dem Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Heinrich Held, hatte die EKD zwar einen Beobachter der Verfassungsberatungen ernannt, doch erfolgte dessen Berufung spät (im Februar 1949) und ohne Verhandlungsmandat. So wird die Klage eines christdemokratischen Mitglieds des Parlamentarischen Rates vom April 1949 [!] verständlich, dass sich die Verfassungsberatungen in Bonn weitgehend ohne Beteiligung der evangelischen Kirche vollzögen. Während auf katholischer Seite ein bevollmächtigter Unterhändler permanent Fühlung mit den Abgeordneten

 Kirchenkanzlei, Harling an den Landeskirchenrat München, 03.11.1948, LAELKB, LKR, 6.  Kai Oliver Thielking, Die Kirche als politischer Akteur. Kirchlicher Einfluss auf die Schul- und Bildungspolitik in Deutschland, Baden-Baden: Nomos 2005, 106.

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halte und die Positionen der katholischen Kirche vertrete, herrsche unter den evangelischen Abgeordneten noch immer Unklarheit darüber, an wen sie sich wenden könnten.²⁹ Beim katholischen Unterhändler handelte es sich um den umtriebigen Prälaten Wilhelm Böhler, der zu den engsten Beratern des Kölner Kardinals und Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz, Josef Frings, gehörte. Während Böhler mit dem Kölner Generalvikariat über einen personenstarken, kirchenpolitisch erfahrenen Rückhalt verfügte, konnte Held auf keinen vergleichbaren Apparat zurückgreifen; die Kirchenkanzlei der EKD hatte ihren Sitz im fernen Schwäbisch Gmünd. Zudem war das evangelische Vereins- und Verbandswesen weder so ausdifferenziert wie das katholische, noch ließ es sich so gezielt und erfolgreich durch entsprechende Anweisungen von oben dazu mobilisieren, sich in Masseneingaben oder öffentlichen Kundgebungen an den Parlamentarischen Rat zu wenden. Vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, dass die in großer Heftigkeit geführten kulturpolitischen Auseinandersetzungen des Parlamentarischen Rates in den Augen weiter Bevölkerungskreise „mehr und mehr zu einer katholischen Angelegenheit“³⁰ wurden. So bescheiden sich der konstruktive Anteil der evangelischen Kirche an den Bonner Verfassungsberatungen ausnimmt, so nachhaltig haben die Grundgesetzverhandlungen in ihren Reihen die Einsicht befördert, an der praktischen Ausgestaltung der Verfassungsordnung aktiv mitzuwirken. Zu schwer wog der Vorwurf, sich lediglich im katholischen Schlepptau zu bewegen, zu zahlreich waren die zwischen Kirche und Staat zu regelnden res mixtae und zu groß war letztlich auch der Wille zur aktiven Mitgestaltung des Gemeinwesens, als dass sich die EKD nach Gründung der Bundesrepublik in eine Haltung distanzierter Passivität hätte zurückziehen können.

3 Annäherung durch Mitarbeit Eine Würdigung des Grundgesetzes aus kirchlicher Sicht war der EKD als ‚Konfliktgemeinschaft‘ (Wolf-Dieter Hauschild) im Jahr 1949 nicht möglich. Bekanntlich sollten noch 36 Jahre vergehen, bis sich die Evangelische Kirche in Deutschland in ihrer Demokratie-Denkschrift über den Staat des Grundgesetzes

 Adolf Blomeyer an Hanns Lilje, 10.4.1949, Landeskirchliches Archiv Hannover, L 3 III 98.  Burkhard van Schewick, Die katholische Kirche und die Entstehung der Verfassungen in Westdeutschland 1945 – 1950, Mainz: Grünewald 1980, 111.

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als Angebot und Aufgabe ³¹ zu einer theologisch-ethischen Würdigung der liberalen, pluralistischen Demokratie durchringen konnte. In der frühen Bundesrepublik lässt sich in der evangelischen Kirche und Theologie ein „gravierende[s] Defizit“³² an Reflexion über die Demokratie als Staats-, Regierungs- und Lebensform sowie allgemein über demokratische Wert- und Ordnungsvorstellungen beobachten – ein Resultat der langfristigen Fixierung auf die Obrigkeit, die es theologisch ebenso zu legitimieren galt wie die Gehorsamspflicht der Untertanen. „Die entscheidende Frage nach dem politischen System, nach der Bildung und Kontrolle politischer Macht wurde nicht gestellt.“³³ Erkannt wurde dieses Defizit bereits zeitgenössisch. Während der praktische und systematische Theologe Wolfgang Trillhaas Mitte der 1950er Jahre im Hinblick auf die politische Ethik der lutherischen Theologie konstatierte, „daß bis zur Stunde die Demokratie für sie das eigentlich unbewältigte Thema darstellt“³⁴, musste Erwin Wilkens, Geschäftsführer der Kammer der EKD für Öffentliche Verantwortung, rund zehn Jahre später ernüchtert zugestehen, „daß der evangelische Beitrag und der Beitrag der evangelischen Theologie zur Durchdringung von Begriff und Wirklichkeit des Rechtsstaates und der Demokratie bisher immer noch nicht ausreichend ist“³⁵. Umso nachdrücklicher stellt sich die Frage, wie sich innerhalb der evangelischen Kirche der frühen Bundesrepublik die Annäherung an Demokratie und Pluralismus sowie die nach 1945 notwendig gewordene Neujustierung ihres Verhältnisses zum Staat vollzog. Zugespitzt könnte man sagen: Sie vollzog sich hinkend; weniger auf dem Wege theoretischer Reflexion als vielmehr durch praktische Aneignung und Mitarbeit. Eine wichtige Voraussetzung für diesen praktischen Annäherungsprozess waren die im Grundgesetz verbürgten staatskirchenrechtlichen Bestimmungen, die vielfach eine enge Kooperation zwischen Kirche und Staat erforderten: Die Kirchen genossen auch in der Bundesrepublik den Status von Körperschaften des

 Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Mohn 1985.  Rudolf von Thadden, „Protestantismus und Demokratie“, in Protestantismus und Neuzeit, hg. von Horst Renz und Friedrich Wilhelm Graf, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Mohn 1984, 103 – 119, 103.  Dorothee Buchhaas-Birkholz, Einleitung, in „Zum politischen Weg unseres Volkes“, 9 – 33, 26.  Wolfgang Trillhaas, „Die lutherische Lehre von der weltlichen Gewalt und der moderne Staat“, in Macht und Recht. Beiträge zur lutherischen Staatslehre der Gegenwart, hg. von Hans Dombois und Erwin Wilkens, Berlin: Lutherisches Verlags-Haus 1956, 22– 33, 26.  Erwin Wilkens, „Evangelische Sozialethik zwischen Klerikalismus und Liberalismus“, in Klerikalismus heute? Mit Beiträgen von Hubert Jedin, Franz X. Arnold, Erwin Wilkens und Karl Forster, Würzburg: Echter 1964, 67– 105, 97.

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öffentlichen Rechts, ihre Selbstverwaltung blieb ebenso unangetastet wie der Sonn- und Feiertagsschutz, Staatsleistungen wurden garantiert, und in öffentlichen Anstalten sowie im Militär durften sie Seelsorge betreiben. Außerdem wurde der Religionsunterricht an allen Schulen als ordentliches Lehrfach festgeschrieben und das Recht zur Errichtung von Privatschulen gewährleistet. Übernommen wurden die Kirchenartikel des Grundgesetzes aus der Weimarer Reichsverfassung. Die kirchliche Distanz gegenüber der Weimarer Republik hatte jedoch gelehrt, dass betont kirchen- und religionsfreundliche Verfassungsbestimmungen keine Gewähr für eine kirchliche Annäherung an den demokratischen Rechtsstaat bedeuteten. Es musste mehr hinzukommen. Auf den ersten Blick mag es paradox anmuten, aber zunächst war es gerade die vielfach als lähmend empfundene innerprotestantische Heterogenität, die unter dem Dach der EKD zu einer „Gewinnung von Dissensfähigkeit“³⁶ als einer demokratischen ‚Kernkompetenz‘ führte. Bei der Beurteilung der großen politischen Fragen der 1950er Jahre (Westbindung, Wiederbewaffnung, atomare Aufrüstung) mit all ihren praktischen Konsequenzen (deutsche Teilung, Verhältnis der BRD zur DDR und Sowjetunion, Militärseelsorge, Kriegsdienstverweigerung) offenbarte sich eine für die EKD charakteristische Verknüpfung von theologischer und politischer Haltung. Während Lutheraner jene Weichenstellungen mehrheitlich mittrugen und der Bundesregierung damit den Rücken stärkten, sahen sich barthianisch geprägte Protestanten wie Martin Niemöller und Gustav Heinemann immer wieder zu entschiedenem Protest gegen die Regierungspolitik Konrad Adenauers genötigt.³⁷ Notgedrungen entwickelte sich im Protestantismus eine Kultur des (Streit‐) Gesprächs, die nicht nur in kirchlichen Gremien ausgiebig gepflegt wurde, sondern in den Evangelischen Akademien ihren zukunftsweisenden Ausdruck fand. Beginnend mit der im September 1945 gegründeten Evangelischen Akademie Bad Boll dienten jene Orte als diskursive Foren der Begegnung von ‚Kirche und Welt‘, in denen Gegenwartsprobleme und Zukunftsfragen von Kirchen- und Verbandsvertretern, Politikern und Intellektuellen, Unternehmern und Gewerkschaftern diskutiert wurden, wobei die Akzeptanz eines Meinungspluralismus der notwendige kleinste gemeinsame Nenner war. Dass die protestantische Vielstimmigkeit konkrete politische Stellungnahmen erschwerte oder gar verhinderte (erinnert sei nur an die sog. ‚Ohnmachts-

 Nowak 1999, 429.  Torsten Oppelland, „Adenauers Kritiker aus dem Protestantismus“, in Adenauer und die Kirchen, hg. von Ulrich von Hehl, Bonn: Bouvier 1999, 116 – 148.

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formel‘ von 1958 in der Atomdebatte³⁸), tritt vor diesem Hintergrund zurück gegenüber dem Befund, dass der Protestantismus im „Einüben und Aushalten konträrer Positionen in einem gemeinsamen Geist“³⁹ einen gewichtigen Beitrag zur Demokratisierung geleistet hat. Die vor den Augen der Öffentlichkeit geführten Kontroversen innerhalb der EKD, eine aktiv geförderte „Partizipationskultur“⁴⁰ sowie die Mitarbeit namhafter Oberkirchenräte und Pfarrer, aber auch profilierter protestantischer ‚Laien‘ in Parlamenten und (verschiedenen!) Parteien trugen maßgeblich dazu bei, die anfängliche politische Apathie zahlreicher Protestanten zu überwinden. In parteipolitischer Hinsicht begünstigte zudem die Gründung der interkonfessionellen Unionsparteien die Annäherung konservativer Protestanten an den Parteienstaat des Grundgesetzes. Galt noch zur Zeit der Weimarer Republik die monarchistische, antidemokratische Deutschnationale Volkspartei als politische Heimat eines Großteils kirchennaher Protestanten,⁴¹ so gehört es zu den großen Integrationsleistungen von CDU und CSU, „dem konservativen Protestantismus den Weg in den parlamentarischen Parteienstaat“⁴² geebnet zu haben. Der Bundesinnenminister Robert Lehr sowie der EKD-Ratsvorsitzende Otto Dibelius stehen beispielhaft für den von vielen Protestanten vollzogenen Schritt von der Weimarer DNVP in die Nachkriegs-CDU, der weit mehr war als nur ein Parteiwechsel. Ihm ging gewiss nicht immer die innere Bejahung einer parteienstaatlichen Demokratie und – damit untrennbar verknüpft – eines pluralistischen Gesellschaftsmodells voraus. Doch jenseits theoretischer Reflexionen vermochten praktische Mitarbeit, Kooperation oder durch eine Mitgliedschaft ausgedrückte

 Die EKD-Synode konnte die Kontroverse zu keinem Ergebnis führen, sondern musste sich auf die Willensbekundung beschränken, unter dem Evangelium zusammenzubleiben und sich um die Überwindung der zutage getretenen Gegensätze zu bemühen; vgl. Claudia Lepp, „Entwicklungsetappen der Evangelischen Kirche“, in Evangelische Kirche im geteilten Deutschland (1945 – 1989/90), hg. von Claudia Lepp und Kurt Nowak, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, 46 – 93, 50.  Inacker 1994, 372.  Reiner Anselm, „Protestantismus und Demokratie in historischer Längsschnittperspektive“, in Aneignung des Gegebenen. Entstehung und Wirkung der Demokratie-Denkschrift der EKD, hg. von Hans Michael Heinig, Tübingen: Mohr Siebeck 2017, 1– 22, 18.  Nicht zufällig lautete ein zeitgenössischer Spottvers: „Die Kirche ist politisch neutral, aber sie wählt deutschnational.“ Zit. nach Martin H. Jung, Der Protestantismus in Deutschland von 1870 bis 1945, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2002, 125.  Gotthard Jasper, „Die Entwicklung des Verhältnisses von Demokratie und protestantischer Kirche in Deutschland“, in Kirche und Politik, hg. von Herbert Kühr, Berlin: Wissenschaftlicher Autoren-Verlag 1983, 23 – 58, 44.

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Sympathie zumindest eine allmähliche Aussöhnung und Annäherung einzuleiten.⁴³ Gleichsam symbolhaft für die These einer Annäherung durch Mitarbeit wie auch für das enge, kooperative Verhältnis von Kirche und Staat steht eine nach Gründung der Bundesrepublik geschaffene Institution: das Amt des Bevollmächtigten des Rates der EKD am Sitz der Bundesrepublik Deutschland.⁴⁴ Motiviert wurde die Gründung dieser in der Geschichte des deutschen Protestantismus völlig neuartigen Einrichtung durch die Bereitschaft, aber auch die Notwendigkeit zur aktiven Mitarbeit am politischen Entscheidungsprozess. Otto Dibelius sah gar die Überlebensfähigkeit der Kirche ohne ständige Fühlung mit dem Staat bedroht.⁴⁵ Aufgabe des EKD-Bevollmächtigten war – und ist⁴⁶ – es, die obersten Kirchengremien über politische Entwicklungen zu unterrichten, den Kontakt zu staatlichen Stellen und den Parteien zu pflegen und kirchliche Interessen möglichst lautlos und effektiv in den politischen Entscheidungsprozess einzubringen. Zu diesem Zweck ist es vorteilhaft, dass der Bevollmächtigte frühzeitig Zugang zu politisch relevanten Informationen und Entscheidungsträgern in Regierung, Parlament und Ministerialbürokratie erhält. Eine nachhaltige Prägung erfuhr das Bevollmächtigten-Amt durch seinen ersten Inhaber Hermann Kunst (1907– 1999). Kunst kann in mancherlei Hinsicht als protestantischer Kompromisskandidat gelten: So war er ein lutherischer Pfarrer aus einer unierten Landeskirche (Westfalen); im Dritten Reich gehörte er zwar der Bekennenden Kirche an, hatte sich dort allerdings nicht exponiert. Niemand hätte vermutet, dass Kunst das innerkirchlich hochumstrittene Bevollmächtigten-Amt ganze 27 Jahre (1950 – 1977) ausüben und zur kirchenpolitisch einflussreichsten Person der EKD aufsteigen würde. Nach Einschätzung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hat er sogar „am umfassendsten von allen evangelischen Kirchenleuten zur politischen Entwicklung in Westdeutschland beigetragen“⁴⁷. Nominell glich das Aufgabenprofil des EKD-Bevollmächtigten dem des Leiters des Katholischen Büros Bonn. Doch in der Praxis musste sich Kunsts Amts-

 Michael Klein, Westdeutscher Protestantismus und politische Parteien. Anti-Parteien-Mentalität und parteipolitisches Engagement von 1945 bis 1963, Tübingen: Mohr Siebeck 2005, 375.  Vgl. dazu Buchna 2014.  Otto Dibelius, Ein Christ ist immer im Dienst. Erlebnisse und Erfahrungen in einer Zeitenwende, Stuttgart: Kreuz-Verlag 1961, 276.  Seit 2013 amtiert Martin Dutzmann als Bevollmächtigter des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union [www.ekd.de/Bevollmaechtigter-10780.htm] (Zugriff: 18.10. 2018).  „Politisch wirksam und doch im kirchlichen Amt von Politik frei“, FAZ vom 21.01.1987.

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führung deutlich von der seines katholischen Pendants Wilhelm Böhler unterscheiden. Zwar hegte Kunst zeitlebens Sympathien für die CDU; diese politische Neigung durfte jedoch unter keinen Umständen sichtbare Auswirkungen auf seinen täglichen Dienst in Bonn haben. Das Bemühen um eine größtmögliche Überparteilichkeit, um eine Äquidistanz zu allen Parteien war eine Grundvoraussetzung für den Erfolg seiner Arbeit. Angesichts der politischen Meinungsvielfalt innerhalb des Protestantismus hätte der Bevollmächtigte bei einer allzu offensichtlichen Parteinahme schnell das Vertrauen einzelner innerkonfessioneller Gruppierungen verloren. Tatsächlich ist es wohl keine Übertreibung, in Kunst eine Art Brückenbauer im Verhältnis der evangelischen Kirche zu den politischen Parteien zu sehen. Seit seinem Dienstantritt im Januar 1950 suchte er den Kontakt zu den Vertretern aller Fraktionen und schuf Foren parteiübergreifender Diskussion. Dies hatte für Kunst den angenehmen Nebeneffekt, dass er – anders als der Leiter des strikt auf die Unionsparteien fixierten Katholischen Büros – fallweise auch Abgeordnete von SPD und FDP für die Interessen der EKD gewinnen konnte. Vier für den Kontext dieses Bandes relevante Tätigkeitsfelder des EKD-Bevollmächtigten seien an dieser Stelle in aller Kürze benannt: 1. Militärseelsorge. Aufgrund der Korrumpierung und politischen Instrumentalisierung der Wehrmachtsseelsorge während des Zweiten Weltkriegs⁴⁸ war dieses grundgesetzlich garantierte Interaktionsfeld von Kirche und Staat innerhalb der EKD besonders umstritten. Gegen alle internen Widerstände führte der ehemalige Wehrmachtsseelsorger Kunst als evangelischer Unterhändler die Verhandlungen des Militärseelsorgevertrags zu einem erfolgreichen Ende, sodass er am 22. Februar 1957 unterzeichnet werden konnte. Die historische Bedeutung dieses Vertrags besteht darin, dass hier erstmals die EKD und nicht eine ihrer Gliedkirchen dem Staat als Verhandlungspartner gegenübertrat. Die Betrauung von Kunst mit dem zusätzlichen Sonderamt des ersten Evangelischen Militärbischofs (1957– 1972) ist zudem ein weiteres Indiz für dessen stetig zunehmenden innerkirchlichen Einfluss. 2. Deutschlandpolitik. Der nationalprotestantisch geprägte Kunst setzte sich unermüdlich dafür ein, die humanitären Folgen der deutschen Teilung durch vertrauliche Verhandlungen und geheime Finanztransfers an ostdeutsche Landeskirchen zu lindern. Von seinem konkurrenzlosen Netzwerk in der DDR wusste auch die Bundesregierung, die Kunst zu einem ihrer Unterhändler bei den so genannten Kirchengeschäften und Häftlingsfreikäufen machte.

 Dagmar Pöpping, Kriegspfarrer an der Ostfront. Evangelische und katholische Wehrmachtseelsorge im Vernichtungskrieg 1941 – 1945, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017.

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Regelmäßig verhandelte er in deutschlandpolitischen Angelegenheiten mit dem Bundeskanzler und dessen Staatssekretär, dem Bundeswirtschafts- und Bundesfinanzministerium, dem Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, mit der amerikanischen Botschaft sowie mit dem Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel der DDR. Auch mit einem leitenden Stasi-Offizier stand Kunst in regelmäßigem Kontakt. Dem EKD-Bevollmächtigten wuchs somit eine (weithin unbekannte) Schlüsselrolle für die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR zu. Innerkirchliche Aufklärungsarbeit. Es würde wohl zu weit führen, Kunst als innerkirchlichen ‚Erzieher zur Demokratie‘ zu titulieren, doch sowohl sein Wirken als auch seine interne Vermittlung waren dazu angetan, einen Beitrag zur Akzeptanz der Bundesrepublik zu leisten. Dies konnte über Erfolge bei der Vertretung kirchlicher Interessen geschehen, die als Ausweis der Kooperationsbereitschaft eines den Kirchen grundsätzlich wohlgesonnenen Staates angesehen werden konnten. Umgekehrt war selbst bei kirchlichen Misserfolgen eine ‚demokratische Schulung‘ möglich, indem der Bevollmächtigte durch die Weitergabe von Hintergrundinformationen aus dem Bonner Politikbetrieb auf die strukturellen Zwänge politischer Entscheidungsfindung in einer parlamentarischen parteienstaatlichen Demokratie verwies, ohne dabei das politische System als solches infrage zu stellen. Der gewiss nicht als vorbehaltlos überzeugter Demokrat nach Bonn entsandte Kunst gab rückblickend zu verstehen, dass man „Demokratie gelernt“⁴⁹ habe über den Umgang mit konkreten politischen Fragen. Seine regelmäßigen Führungen von Gruppen aus Gemeinden und kirchlichen Verbänden zu den Orten der Demokratie in Bonn, die ihren krönenden Abschluss beim Bundeskanzler oder Bundespräsidenten fanden, dürften ebenfalls einen kleinen Beitrag zu diesem praktischen Lernprozess geleistet haben. Anregungen zur theoretischen Reflexion. Nach der erfahrungsgesättigten und leiderprobten Einschätzung Kunsts litten „viele sehr gut gemeinte Stellungnahmen von Pfarrkonferenzen, Synoden usw. daran […], daß die Verfasser nicht über ausreichende Informationen verfügten. Meine Meinung ist, zu einem guten Gewissensentschluß gehört zunächst ein informiertes Gewissen.“⁵⁰ So ist es kein Zufall, dass just vom Bevollmächtigten der EKD zu Be-

 Zit. nach „Die Prälaten in Bonn“, Deutsche Zeitung und Wirtschafts-Zeitung vom 05.06.1954.  Aus einem Brief von Hermann Kunst an Hanns Lilje, 20.6.1968, Evangelisches Zentralarchiv Berlin, 742/465. In einem Brief an Altbundespräsident Theodor Heuss schrieb Kunst wenig verklausuliert: „Ich habe dieses Lexikon angeregt, weil ich seit Jahren unter einer Summe von kranken und abwegigen Stellungnahmen aus Kreisen unserer Kirche leide. Unsere Pfarrer, die Laien in den kirchlichen Körperschaften bedürfen einer sorgfältigen Information. Ich will ein

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ginn der 1960er Jahre die Initiative zur Herausgabe eines Evangelischen Staatslexikons ausging. Für eine informierte Urteilsbildung auf dem sozialethischen und -praktischen Feld lag bereits seit 1954 das von Friedrich Karrenberg herausgegebene Evangelische Soziallexikon vor.⁵¹ Doch für die Bereiche der Staatslehre und des Staats(kirchen)rechts mit all ihren gesellschaftlichen, rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Facetten suchte man eine evangelische Entsprechung zum traditionsreichen, erstmals 1889 erschienenen Staatslexikon der Görres-Gesellschaft vergeblich. Schon bald nach seinem Erscheinen 1966 avancierte jedoch das Evangelische Staatslexikon (Mitherausgeber neben Hermann Kunst waren Siegfried Grundmann, Wilhelm Schneemelcher und Roman Herzog) zum Standardwerk, das breiten interessierten Kreisen auf wissenschaftlicher Grundlage Orientierungswissen bieten sollte. Die durchaus beträchtlichen Möglichkeiten, die der Staat des Grundgesetzes den Kirchen zur Mitwirkung bot, blieben innerhalb der EKD keineswegs unumstritten. Im lutherischen Lager bejahte man zwar einen kirchlichen Öffentlichkeitsauftrag, erblickte jedoch in der Vielzahl tagespolitischer Wortmeldungen evangelischer Kirchenführer die Gefahr einer Säkularisierung oder gar Parteipolitisierung der Kirche. Die in diesem Sinne Angegriffenen – allen voran Martin Niemöller, z.T. auch Gustav Heinemann – kehrten den Vorwurf gleichsam um: Durch die allzu enge Kooperation mit dem Staat und der (von ihnen abgelehnten) Bundesregierung gebe die Kirche ihren Auftrag eines kritischen Wächteramtes preis und behindere die dringend gebotene Emanzipation von althergebrachten, obrigkeitsstaatlichen Denkhaltungen, die maßgeblich zum Versagen der evangelischen Kirche während der Zeit des Nationalsozialismus beigetragen hätten. Der Annäherungsprozess der evangelischen Kirche an den Staat des Grundgesetzes vollzog sich somit auch insofern ‚hinkend‘, als eine starke Minderheit staatskritisch eingestellt war und blieb.

wissenschaftlich gegründetes Werk, das möglichst objektiv informiert.“ Hermann Kunst an Theodor Heuss, 20.04.1963, Bundesarchiv, Koblenz, N 1221/244.  Vgl. dazu Traugott Jähnichen, „Der Protestantismus als ‚soziales Gewissen‘ der Gesellschaft – Impulse des Deutschen Evangelischen Kirchentags zur Ausgestaltung der Sozialen Marktwirtschaft in der Ära Adenauer“, in Katholiken und Protestanten in den Aufbaujahren der Bundesrepublik, hg. von Thomas Sauer, Stuttgart: Kohlhammer 2000, 89 – 107.

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4 Die frühe Bundesrepublik – ein klerikaler Staat? Die kirchlichen Verbindungsstellen, die zunächst in der Bundeshauptstadt, seit den 1960er Jahren dann in jedem Bundesland eingerichtet wurden, können als besonders anschauliche Beispiele für die vielfältige Kooperation von Kirche und Staat und die praktizierte Privilegierung der Kirchen gelten: Kein Verband, keine andere Organisation erhielt auf vergleichbar breiter Ebene einen solch bevorzugten und vor allem frühzeitigen Zugang zu politisch relevanten Informationen und Entscheidungsträgern. In der Gesetzgebung und bei personalpolitischen Entscheidungen wurde den Kirchen in vielen Fällen die Möglichkeit der Einflussnahme gewährt, was ohne Zweifel zur Steigerung der kirchlichen Akzeptanz gegenüber dem Staat beitrug. Dass dieser junge Staat insbesondere in weiten Teilen der evangelischen Bevölkerung legitimierungsbedürftig war, hing mit dem dort besonders schmerzhaft empfundenen Verlust der Kerngebiete der Reformation zusammen, die nunmehr jenseits des ‚Eisernen Vorhangs‘ lagen. Der dadurch noch gesteigerten Hypersensibilität in konfessionellen Fragen versuchte die als katholisch dominiert beargwöhnte Bundesregierung durch die penible Beachtung eines konfessionellen Proporzes in der Personalpolitik zu begegnen. Über die Konsequenzen dieser Praxis berichtete Der Spiegel Mitte der 1950er Jahre ohne verzerrende Übertreibung: Bis zur Referenten-Ebene hinab spielt das ‚richtige Gesangbuch‘ in Bonn heute eine nicht weniger wichtige Rolle als einst das ‚Parteibuch‘. Ganze Abteilungen werden gespalten, Unterabteilungen neu geschaffen, Referate verdoppelt, um in der Bürokratie das konfessionelle Gleichgewicht zu wahren. Das Bundesinnenministerium verschickte schon 1950 Formulare mit einer Konfessions-Rubrik an Bewerber; das Verteidigungsministerium veröffentlichte im vergangenen Jahr eine Statistik über die Religionszugehörigkeit seiner obersten Beamten und Offiziere; in der Personalabteilung des Auswärtigen Amtes tragen Namenslisten die Vermerke ‚E.‘ und ‚K.‘.⁵²

Die Besetzung von Ministerien und Behörden nach konfessionellen Gesichtspunkten provozierte massive Kritik. Ein solches Verfahren – so die vielfach geäußerte Klage – sei unvereinbar mit dem Grundgesetz, das eine allgemeine Benachteiligung oder Bevorzugung aus religiösen Gründen untersage (Art. 3 Abs. 3 GG); ferner dürfe auch die Zulassung zu öffentlichen Ämtern nicht von einer Bekenntniszugehörigkeit abhängig sein (Art. 33 Abs. 3 GG).

 „Böse Erinnerungen“, Der Spiegel vom 04.04.1956, 23.

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Der Vorwurf, gegen Geist und Buchstaben der Verfassung zu verstoßen, richtete sich zwar vornehmlich gegen die Bundesregierung, doch die Kirchen und deren Hauptstadtbüros unterstützten die Praxis des ‚heiligen Proporzes‘ entgegen anders lautenden Beteuerungen tatkräftig. Sie wussten um ihre exponierte Stellung im gesellschaftlichen Gefüge der Bundesrepublik, die weniger eine zwangsläufige Folge des staatskirchenrechtlichen Rahmens als vielmehr das historisch gewachsene Resultat einer engen Kooperation von Kirche und Staat war, wie sie in der spezifischen Situation nach 1945/49 etabliert wurde. Trotz aller Entkonfessionalisierungsbemühungen der Nationalsozialisten gehörten weiterhin über 90 % der Bundesbürger einer christlichen Kirche an. Darüber hinaus entsprach es dem kirchlichen Selbstverständnis ebenso wie der politischen Erwartung, dass die Kirchen nach den Verheerungen des Nationalsozialismus und in einer Zeit weitverbreiteter Unsicherheit als unentbehrliche moralische Instanzen gebraucht würden. Gleichermaßen mahnten der protestantische Bundespräsident Heuss und der katholische Bundeskanzler Adenauer eine Rückbesinnung auf christliche Werte an und beschworen das ‚Abendland‘ als sinn- und gemeinschaftsstiftende Idee.⁵³ Auch auf Länderebene kam die Politik den Kirchen weit entgegen. Zahlreiche Staatskirchenverträge regelten die Rechtsverhältnisse zwischen Kirche und Staat, wobei der Loccumer Vertrag von 1955 zwischen dem Land Niedersachsen und den evangelischen Landeskirchen in Niedersachsen mit seiner vielbeachteten Anerkennung eines kirchlichen „Öffentlichkeitsauftrag[s]“ und dem Willen zur Festigung und Förderung des „freundschaftliche[n] Verhältnis[ses] zwischen Land und Landeskirchen“ den Anfang machte und nachfolgenden Verträgen als Vorbild diente.⁵⁴ Die kirchliche Präsenz in Rundfunk und Fernsehen, im Sozial- und Gesundheitswesen wie auch im Bildungs- und Erziehungsbereich zeigt, wie nachhaltig die in der frühen Bundesrepublik vollzogenen Weichenstellungen fortwirken. Das enge Zusammenwirken von Staat und Kirchen sowie die selbstbewusste Anmeldung kirchlicher Forderungen im politischen Raum schürte bei zahlreichen Zeitgenossen die Befürchtung einer grundlegenden Fehlentwicklung der jungen Bundesrepublik. Zu Beginn der 1950er Jahre entbrannte eine heftige Debatte über die Gefahren einer Klerikalisierung und Konfessionalisierung des öffentlichen

 Axel Schildt, „Das ‚christliche Abendland‘ als Zentrum politischer Integration in der Frühzeit der Ära Adenauer“, in Medienmacht und Öffentlichkeit in der Ära Adenauer, hg. von Tilman Mayer, Bonn: Bouvier 2009, 39 – 54; Kristian Buchna, Im Schatten des Antiklerikalismus. Theodor Heuss, der Liberalismus und die Kirchen, Stuttgart: Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus 2016, 51.  Zit. nach www.kirchenrecht-evlka.de/document/20889 (Abruf: 15.11. 2018).

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Lebens, die im 1955 erschienenen Bestseller Klerikalismus in der deutschen Politik von Thomas Ellwein ihren Höhepunkt erreichte.⁵⁵ Zur Veranschaulichung des Tenors der damaligen Debatten seien zwei Wortmeldungen zitiert: Während im Weser-Kurier die Frage gestellt wurde, „inwieweit die Verwendung religiöser Argumente im politischen Tageskampf die Trennung von Staat und Kirche aufhebe, um an ihre Stelle ein theokratisches System mit dem Priester als Mitregenten einzusetzen“⁵⁶, hielt es der Chefredakteur der Lübecker Nachrichten für kaum noch erträglich, in welchem Maße kirchliche Kreise versuchen, sich Autorität, Geltung, Macht zu verschaffen. Religion soll plötzlich nicht mehr in erster Linie gepredigt, sondern es soll damit operiert, politisch operiert werden. So als wäre sie ein Machtfaktor, den man einsetzen, mit dem man um sich schlagen, mit dessen Hilfe man sich in Positur setzen und damit Positionen schaffen kann.⁵⁷

Über alle Parteigrenzen hinweg wurde auch in der Politik ein allzu anmaßendes Auftreten der Kirchen kritisiert. Bereits während der Grundgesetzverhandlungen warf Theodor Heuss den Kirchen „eine unerhörte politische Instinktlosigkeit“⁵⁸ vor und klagte, beide Kirchen seien „in ihrer Angst, irgendetwas zu verhindern, was als eine Beeinträchtigung der kirchlichen Interessen erscheinen könnte, von einer Wichtigtuerei, die weit über das Maß hinausgeht“⁵⁹. Konrad Adenauer kritisierte einen „klerikalen Hochmut“, an dem „die Kleriker beider Konfessionen“ leiden.⁶⁰ Und Kurt Schumacher erklärte die Kirchen in gewohnt polemischer Schärfe kurzerhand zur „fünften Besatzungsmacht“⁶¹. Nach dem Empfinden vieler Zeitgenossen schien sich in der frühen Bundesrepublik somit jenes Versäumnis zu rächen, das der evangelische Staats- und Kirchenrechtler Rudolf Smend gerade darin gesehen hatte, dass den Kirchen im Grundgesetz zwar umfassende Freiheitsrechte gewährt worden seien, ohne jedoch im Gegenzug ihre „grundsätzliche Begrenzung durch die staatliche Sou-

 Thomas Ellwein, Klerikalismus in der deutschen Politik, München: Isar Verlag 1955.  „Schlagwort Kulturkampf“, Weser-Kurier vom 28.04.1954.  „Der verhinderte Kulturkampf“, Lübecker Nachrichten vom 14.03.1954.  Theodor Heuss an Franz Varrentrapp, 21.03.1949, in Theodor Heuss: Erzieher zur Demokratie. Briefe 1945 – 1949, hg. und bearb. von Ernst Wolfgang Becker, München: K.G. Saur 2007, 481.  Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen, 30.11.1948, in: Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 5/II: Ausschuß für Grundsatzfragen, bearb.von Eberhard Pikart und Wolfram Werner, Boppard am Rhein: Boldt 1993, 64.  Stenographische Niederschrift über die Sitzung des Zonenausschusses der CDU für die britische Zone am 6. 2.1950, ACDP, Nachlass Dörpinghaus, 01-009-004/1, 23.  Kölnische Rundschau vom 23.06.1949.

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veränität“⁶² zu definieren. Dennoch wurde die Bundesrepublik nicht zu einem klerikalen Staat. Dies ist weniger auf kirchliche Selbstbeschränkungen und die Anerkennung staatlicher Regelungskompetenzen zurückzuführen als vielmehr auf eine zweifache Grenzziehung: zum einen durch die Politik, denn entgegen anderslautenden Vorwürfen verwahrte sich insbesondere Bundeskanzler Adenauer wiederholt gegen unangemessene klerikale Einwirkungsversuche zur Durchsetzung konfessioneller Sonderinteressen in sach- und personalpolitischen Fragen. Die kategorische Zurückweisung etwa der katholischen Forderung nach Abschaffung der obligatorischen Zivilehe kann in diesem Sinne als Beispiel erfolgreicher Selbstbehauptung eines säkularen Staates gelten. Zum anderen war es eine kritische mediale Öffentlichkeit, die systemwidrige Eingriffe in den Politikprozess durch kirchliche Stellen anprangerte. Sie stieß damit eine Debatte über die kirchliche Stellung im öffentlichen Raum an, die unter sich wandelnden gesellschaftlichen und politischen Vorzeichen freilich stets aufs Neue zu führen ist.

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 Rudolf Smend, „Staat und Kirche nach dem Bonner Grundgesetz“, Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, Bd. 1, 1951, 4– 14,12.

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Der deutsche Protestantismus auf dem Weg zur Demokratie 1 Einführung: Protestantismus und Demokratie in der Weimarer Republik Das Gedenken an die Weimarer Reichsverfassung, die vor einhundert Jahren entworfen, geschrieben, beraten und beschlossen wurde, ist für den deutschen Protestantismus mit ambivalenten Erinnerungen verbunden. Einerseits waren an der Demokratisierung des Deutschen Reiches prominente Theologen wie Friedrich Naumann (1860 – 1919),¹ Ernst Troeltsch (1865 – 1923),² Adolf von Harnack (1851– 1930)³ und Rudolf Otto (1869 – 1937)⁴ beteiligt. Andererseits blieb der konservative Mehrheitsflügel des deutschen Protestantismus der Weimarer Republik gegenüber kritisch eingestellt und lehnte den demokratischen Staat und seine Institutionen ab, weil er sich mit den Grundlagen der reformatorischen Obrigkeitslehre nicht vermitteln zu lassen schien.⁵ Mehrere Versuche zur erfolgreichen Gründung einer evangelischen Partei in Analogie zur römisch-katholi Vgl. Friedrich Naumann in seiner Zeit, hg. von Rüdiger vom Bruch, Berlin/New York: De Gruyter 2000.  Ernst Troeltschs politisches Wirken hat Gangolf Hübinger umfassend beschrieben in der Einleitung zu: Ernst Troeltsch, Schriften zur Politik und Kulturphilosophie 1918 – 1923, Berlin/New York: De Gruyter 2002, 1– 42.  Vgl. zu Harnacks Wirken in der Weimarer Republik Kurt Nowak, „Adolf von Harnack in Theologie und Kirche der Weimarer Republik“, in Adolf von Harnack. Christentum, Wissenschaft und Gesellschaft, hg. von Kurt Nowak, Otto Gerhard Oexle, Trutz Rendtorff und Kurt-Victor Selge, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003, 207– 235; Anselm Doering-Manteuffel, „Der Kulturbürger und die Demokratie. Harnacks Standort in der ersten Deutschen Demokratie“ in: Ebd., 237– 255.  Die politische Tätigkeit Rudolf Ottos wird gegenwärtig im Rahmen des Projekts „Evangelische Theologen als Parlamentarier“ am Exzellenz-Cluster Religion und Politik an der WWU Münster erforscht; vgl. [https://www.uni-muenster.de/Religion-und-Politik/forschung/projekte/c2-28. html] (Zugriff: 24.01. 2019).  Einen problemgeschichtlichen Überblick zum Umgang mit den theologischen Legitimationshindernissen des modernen Staates gibt Reiner Anselm, „Politische Ethik“, in Handbuch der Evangelischen Ethik, hg. von Wolfgang Huber, Torsten Meireis und Hans-Richard Reuter, München: C.H. Beck 2015, 195 – 263; vgl. auch Rochus Leonhardt, Religion und Politik im Christentum. Vergangenheit und Gegenwart eines spannungsreichen Verhältnisses, Baden-Baden: Nomos 2017, 123 – 393. https://doi.org/10.1515/9783110623406-004

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schen Deutschen Zentrumspartei scheiterten. Vielmehr bildete die rechtskonservative Deutschnationale Volkspartei (DNVP) das Sammelbecken für staatskritische Protestanten. Es ist dabei das eigenartige Paradoxon zu beobachten, dass sich zunehmend demokratiekritische Theologinnen und Theologen auf der Liste der DNVP in den Reichstag und in die Landtage wählen ließen, also am demokratischen Prozess partizipierten, um dann in den Parlamenten gegen den Staat zu agitieren.⁶ Freilich wird man in diesem Zusammenhang mit subkutanen Lernund Aneignungsprozessen rechnen können, die jedoch wegen der kurzen Lebenszeit der ersten deutschen Republik unabgeschlossen blieben oder keine Früchte zeigen konnten. Die theologisch inspirierte Kritik an Demokratie und Grundrechten, zu denen schon im Grundrechtskatalog der Weimarer Reichsverfassung der Hinweis auf das „menschenwürdige Leben“ gehörte⁷, wurde, wie etwa von Emanuel Hirsch (1888 – 1972), auf hohem Niveau vorgetragen.⁸ Das Hauptargument bestand darin, dass Grundrechte und Demokratie Ausdruck eines westlichen Individualismus seien, die den für die deutsche Geschichte konstitutiven, weil erst mühsam errungenen Zusammenhang von Volk und Staat unterlaufen und den Staat zu einer Beute individueller Interessen machen würden, was sich insbesondere im ungebremsten Kapitalismus englischer und amerikanischer Prägung zeige. Die protestantischen Demokratiegegner verlängerten in gewisser Weise den ‚Kulturkrieg‘ der Intellektuellen während des Ersten Weltkrieges und reklamierten einen deutschen Sonderweg.⁹ Aber auch auf Seiten der Bekennenden Kirche waren Bekenntnisse zur Demokratie die Ausnahme: Für Karl Barth (1886 – 1968) etwa würde „heillose Verwirrung und Blasphemie“ folgen, wenn man „dem menschlichen Ich in sei-

 Vgl. Kurt Nowak, Evangelische Kirche und Weimarer Republik. Zum politischen Weg des deutschen Protestantismus zwischen 1918 und 1932, 2. Aufl., Weimar: Böhlau 1988, 144– 157. In die Weimarer Nationalversammlung wurden 15 evangelische Theologen gewählt, davon 9 Liberale (4 DDP, 5 DVP) und 6 Nationalkonservative (DNVP). Im 1920 gewählten ersten Reichstag waren 13 evangelische Theologen vertreten (6 DVP, 3 DDP, 2 DNVP, 1 SPD, 1 USPD). Mit den Reichstagswahlen 1924 wird die DNVP zu derjenigen Fraktion, in der die Zahl der evangelischen Theologinnen und Theologen am größten ist.  Vgl. zum theologiegeschichtlichen Kontext Arnulf von Scheliha, „,Menschenwürde‘ – Konkurrent oder Realisator der Christlichen Freiheit? Theologiegeschichtliche Perspektiven“, in: Ders., Religionspolitik. Gesammelte Aufsätze zur politischen Ethik und zur politischen Dimension des religiösen Pluralismus, Tübingen: Mohr Siebeck 2018, 7– 28.  Vgl. die Darstellung bei Arnulf von Scheliha, Protestantische Ethik des Politischen, Tübingen: Mohr Siebeck 2013, 164– 179.  Vgl. Gangolf Hübinger, „Die Intellektuellen und der ,Kulturkrieg‘ (1914– 1918)“, in Faszination und Schrecken des Krieges. XXIII. Reihlen-Vorlesung, hg. von Notger Slenczka, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015, 11– 26.

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nem Verhältnis zum Du einen nicht weiter abzuleitenden […] Selbstwert“, eine „in sich begründete […] Heiligkeit, Würde und Herrlichkeit“ zumessen würde.¹⁰

2 Protestantismus und Demokratie nach 1945 Die Lage veränderte sich erst nach der Katastrophe der nationalsozialistischen Regierung und des von ihr entfesselten Zweiten Weltkrieges. Jetzt konnte sich die Lerngeschichte von Protestantismus und Demokratie entfalten, die Kritiker blieben stumm oder fanden – wie Emanuel Hirsch – kein Gehör mehr. Jetzt wird in der Bundesrepublik Deutschland das politische Engagement von Protestanten in der Mitte der Gesellschaft, in den politischen Parteien und in höchsten Staatsämtern zum Regelfall. Die politischen Konfessionalismen der Weimarer Zeit werden mit der Gründung von CDU und CSU überwunden. Hier bildet sich auf politischer Ebene eine bemerkenswerte ökumenische Bewegung.¹¹ Beide Parteien führen im Bund zwischen 1949 und 1969 ununterbrochen die Regierungen an, übernehmen damit die staatstragende Funktion des katholischen Zentrums in der Weimarer Zeit und stellen sie auf eine breite konfessionelle Basis. Durch die gemeinsame politische Willensbildung von katholischen und evangelischen Christen wird maßgeblich zur Überwindung der mit der konfessionellen Spaltung in Deutschland verbundenen Verwerfungen beigetragen. Auch in den anderen Parteien wirken Protestanten mit.¹² Die zunehmend stärkere Akzentuierung der Sozialtheologie führt dazu, dass die SPD, insbesondere nach dem Godesberger Programm, zur politischen Heimat vieler Protestanten wird.¹³ Bis in die Gegenwart finden sich in (fast) allen Bundestagsfraktionen evangelische Theologinnen und Theologen.¹⁴

 Karl Barth, Die kirchliche Dogmatik, Bd. I/2, 4. Aufl., Zürich: Theologischer Verlag 1948, 444 f.  Übrigens trotz der Bedenken von Karl Barth: „Gerade repräsentiert durch eine christliche Partei kann die Christengemeinde das politische Salz nicht sein, das zu sein sie ihr [sc. der Bürgergemeinde] schuldig ist.“ (Karl Barth, Rechtfertigung und Recht. Christengemeinde und Bürgergemeinde. Evangelium und Gesetz, Zürich: Theologischer Verlag 1998, 76)  Vgl. Michael Klein, Westdeutscher Protestantismus und politische Parteien. Anti-ParteienMentalität und parteipolitisches Engagement von 1945 bis 1963, Tübingen: Mohr Siebeck 2005.  Schon im ersten Deutschen Bundestag weist die SPD-Fraktion mehr evangelische Theologen auf (3) als die CDU/CSU-Fraktion (2). Das Mischungsverhältnis wird im Laufe der Zeit differenzierter. Im ersten gesamtdeutschen Bundestag, der 1990 gewählt wurde, gehören sogar 13 evangelische Theologinnen und Theologen der SPD-Fraktion an, 5 der CDU/CSU-Fraktion und 2 der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.  In der gegenwärtigen 19. Legislaturperiode des Bundestages gehören 2 evangelische Theologinnen und Theologen der SPD-Fraktion, 4 der CDU/CDU-Fraktion, eine der Fraktion Bünd-

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Die Denkschriften der EKD repräsentieren einen völlig neuen Theologie-Typus, nämlich eine unter breiter Mitwirkung von Nichttheologen ausgearbeitete kirchliche Konsenstheologie, die bis dato im Protestantismus völlig unbekannt war und die sich schwerpunktmäßig auf Fragen der Ethik des Politischen bezieht.¹⁵ Die immer resonanzstärker werdende Kirchentagsbewegung entwickelt sich zu einem öffentlichkeitswirksamen Forum des politischen Protestantismus, der zunehmend weniger durch professionelle Theologen repräsentiert wird. Die Teilnahme an den ethischen Diskursen der frühen Bundesrepublik, etwa um die Schuldfrage,¹⁶ um die deutsche Teilung und Wiedervereinigung, um die Westorientierung der Bundesrepublik, um die Wiederbewaffnung, um die militärische und zivile Nutzung der Kernenergie, um die Entspannungspolitik mit den Staaten des Ostblocks und um die NATO-Nachrüstung, wird zu einem Moment der Selbstverständigung des öffentlichen Protestantismus,¹⁷ der dadurch sukzessive demokratie- und pluralismusfähig wird. Wie dringlich diese Aufgabe war, macht ein Zitat von Wolfgang Trillhaas deutlich, der noch 1956 für die lutherische Ethik feststellte, „daß bis zur Stunde die Demokratie für sie das eigentlich unbewältigte Thema darstellt“¹⁸. Aus dem protestantischen Diskurs der Nachkriegstheologie über das Verhältnis von Glauben und Demokratie werden im Folgenden repräsentative und einflussreiche Stimmen präsentiert. Obwohl direkt nach dem Weltkrieg vorübergehend mit der restaurativen Idee eines christlichen Ständestaates oder mit einem ‚dritten Weg‘ zwischen sozialistischer und marktwirtschaftlicher Ordnung sympathisiert wurde, war die normative Herstellung eines positiven Verhältnisses nis 90/Die Grünen und einer der FDP-Fraktion an. Dazu kommen drei römisch-katholische Theologen bzw. eine Theologin (CDU/CSU, SPD, Die Linke).  Vgl. dazu grundsätzlich die Denkschriften Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen. Eine Denkschrift der Kammer für soziale Ordnung der EKD (1970) und Das rechte Wort zur rechten Zeit. Eine Denkschrift des Rates der EKD zum Öffentlichkeitsauftrag der Kirche (2008).  Im Anschluss an das Stuttgarter Schuldbekenntnis vom Oktober 1949 entwickelte sich eine breite öffentliche, kirchliche und theologische Debatte um die Kollektivschuld und um die Rolle von Christen und Kirchen in der NS-Zeit. Die Auswirkungen dieser Debatte für die Aufarbeitung der Vergangenheit sind wissenschaftlich umstritten. Insgesamt kann aber gesagt werden, dass die politische Thematisierung von Schuld und Versagen seitdem zu den Besonderheiten der protestantischen Ethik des Politischen gehört.  Vgl. Teilnehmende Zeitgenossenschaft. Studien zum Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik Deutschland, hg. von Christian Albrecht und Reiner Anselm, Tübingen: Mohr Siebeck 2015.  Wolfgang Trillhaas, „Die lutherische Lehre von der weltlichen Macht und der moderne Staat“, in Macht und Recht. Beiträge zur lutherischen Staatslehre der Gegenwart, hg. von Hans Dombois und Erich Wilkens, Berlin: Lutherisches Verlagshaus 1956, 22– 33, 26.

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des Protestantismus zum Staat des Grundgesetzes faktisch alternativlos, weil die westlichen Alliierten die demokratische Entwicklung der Bundesrepublik von außen stabilisierten, das ‚Wirtschaftswunder‘ den allgemeinen Wohlstand beförderte und sich in den intellektuellen Kreisen jener Verfassungspatriotismus entwickelte, den Dolf Sternberger 1979 auf den Begriff brachte und der bis heute Ausdruck des breiten gesellschaftlichen Konsenses über die normativen Grundlagen der Verfassungsordnung ist.¹⁹ Schon im August 1945 deutet Martin Niemöller (1892– 1984) in einer Ansprache auf der Kirchenkonferenz in Treysa an, dass man kirchlicherseits auf der Basis der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 die auf Freiheit und Gleichheit aufruhende Demokratie als eine mit dem Christentum innerlich verbundene Staatsform anerkennen will.²⁰ Das war freilich eine Absichtserklärung, der die theologischen Klärungen noch zu folgen hatten. Zu den bemerkenswerten Aspekten dieses Klärungsprozesses gehört, dass sich die theologische Durchführung dieser Annäherung an Grundrechte, Rechtsstaat und Demokratie nicht unter Aufnahme der Einsichten des theologischen Liberalismus, sondern unter eher konservativen theologischen Vorzeichen vollzieht. Dies gilt sowohl für die Vertreter der vom Luthertum inspirierten Ordnungstheologie als auch für diejenigen Theologen, die an die Theologische Erklärung von Barmen (BTE) anknüpfen. Gemeinsam ist allen Theologen der Nachkriegszeit, dass man die Tradition der engen Verbindung von Protestantismus und Staat aufgibt und – trotz sittlicher Appelle zu Engagement und Verantwortung im demokratischen Staat – im Glauben eine dominant kritische Haltung dem Staat und seinem Wollen gegenüber begründet sieht. Dieser konservative Zuschnitt der theologischen Argumentation wird exemplarisch am sog. Obrigkeitsstreit deutlich, den Otto Dibelius (1880 – 1967) 1959 entfacht hatte. Dibelius ist eine der markantesten kirchlichen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts und verkörpert in gewisser Weise die Kontinuität zwischen der Weimarer Republik, der Zeit des Nationalsozialismus und der frühen Bun-

 Dolf Sternberger, Verfassungspatriotismus, Hannover: Landeszentrale für politische Bildung 1982; vgl. auch Jan-Werner Müller, Verfassungspatriotismus, Berlin: Suhrkamp 2010.  Aufgrund der Gottebenbildlichkeit und der Berufung in die Gotteskindschaft „haben wir als Kirche die Aufgabe, daß den Menschen Recht und Freiheit auch im staatlichen Leben gegeben werde. Deshalb ist uns aber die Staatsform und deshalb sind uns die Grundsätze, nach denen das öffentliche Leben gestaltet wird, nicht gleichgültig. […] Die Demokratie, wie sie in der abendländischen Welt seit dem Eintritt des Christentums in die Geschichte gewachsen ist, hat nun einmal mehr mit dem Christentum zu tun als irgendeine autoritäre Form der Staatsführung.“ (zit. nach Quellen zur Geschichte des Protestantismus von 1945 bis zur Gegenwart, Bd. 1, hg. von Karl Kupisch, Hamburg: Siebenstern 1971, 44)

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desrepublik Deutschland.²¹ Der theologischen, kirchlichen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit wurde er durch das vielfach aufgelegte Buch Das Jahrhundert der Kirche (1926; 6. Aufl. 1928) bekannt. Auf der Basis der 1919 vollzogenen Trennung von Kirche und Staat proklamierte Dibelius die gesellschaftliche und politische Selbstständigkeit der Kirche. Die Volkskirche wird zum werterhaltenden Korrelat des religiös neutralen, seine Machtansprüche immer überziehenden Staates aufgebaut. Sie hat eine staatstragende Funktion, ohne jedoch im formalen Sinne Staatskirche zu sein. Vielmehr ist sie auf das den Staat stützende sittliche Fundament bezogen, das sie stabilisiert und kommuniziert. In seinen hohen kirchenleitenden Ämtern während der Nachkriegszeit war Dibelius nicht nur betrachtender Zeitgenosse der deutschen Teilung, sondern auch in besonderer Weise genötigt, das Verhältnis der evangelischen Kirche zu den unterschiedlichen politischen Systemen, die sich in den beiden deutschen Teilstaaten etabliert hatten, zu reflektieren. Mit dieser Reflexion war zugleich der Abschied von der klassischen Obrigkeitslehre verbunden, die bis dato die protestantische Ethik des Politischen gesteuert hatte. In seinem Buch Obrigkeit von 1959,²² das er später umarbeitete, stellt sich Dibelius auf die neue staatliche Situation in Deutschland ein und stellt summarisch fest, „daß der moderne Staat in der gesamten Geschichte der menschlichen Kultur etwas völlig Neues und Einzigartiges darstellt und daß der Sinn des Neuen nicht dadurch verwässert werden darf, daß man Restbestände aus ganz anderen geschichtlichen Erscheinungen in sein Wesen hineinträgt“²³. Aufgrund der Demokratisierung des Staatswesens und der mit ihr verbundenen Konkurrenz der politischen Parteien um die Macht im Staat kann es für Dibelius in der Gegenwart nur noch eine „gebrochene Autorität“²⁴ geben. Dies gilt umso mehr für Staaten, die – wie das NS-Regime oder die DDR – als totale Staaten anzusehen sind, die nicht nur nicht auf dem sittlichen Fundament des Christentums aufruhen, sondern dieses radikal bekämpfen. „Von Machthabern eines totalen Staates soll man nicht als von ‚Obrigkeit‘ reden.“²⁵ Kriterium für die christliche Anerkennung einer staatlichen Ordnung nach dem von Dibelius in seiner Schrift rekonstruierten Ursinn von Röm 13 ist, dass die sittlichen Grundlagen eines Staates danach zu bemessen seien, ob sie den Dekalog und das Gebot der Nächstenliebe zur Geltung bringen. Damit wird von Dibelius die christliche Interpretierbarkeit der dem

 Vgl. Robert Stupperich, Otto Dibelius. Ein evangelischer Bischof im Umbruch der Zeit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1989.  Otto Dibelius, Obrigkeit? Eine Frage an den 60jährigen Landesbischof, Berlin 1959.  Otto Dibelius, Obrigkeit, Stuttgart/Berlin: Kreuzverlag 1963, 122.  Ebd., 13.  Ebd., 16.

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Staat zugrunde liegenden sittlichen Wertordnung zur Voraussetzung für christliche Loyalität und christliches Engagement in den staatlichen Strukturen erklärt. Dibelius zielt auf eine vorsichtige Differenzierung zwischen dem atheistischen und dem Rechtsstaat, die sich nebeneinander im Nachkriegsdeutschland etabliert hatten. Während man dem totalen Machtstaat gegenüber auf Distanz geht,²⁶ kann der moderne Staat, der sich auf ein sittliches Fundament bezieht, anerkannt werden.²⁷ Unwichtig ist für Dibelius, ob ein solcher sittlich eingefriedeter Staat monarchisch, demokratisch oder absolutistisch verfasst ist. Entscheidend ist die Rechtsstaatlichkeit, mit der die sittliche Substanz gegeben ist. Insofern liegt in Dibelius’ Obrigkeitsschrift keine Aneignung der Demokratie vor. Ziel seiner Kritik ist vielmehr die Überwindung der Äquidistanz zu jeder Staatsform, die man gerade in den Kirchen der DDR anstrebte. Daher kritisiert Dibelius den atheistischen Machtstaat, der die christlichen Werte ausdrücklich negiert. Ihm gegenüber wird das sittliche Recht zur kritischen Beurteilung staatlichen Handelns, zum zivilen Widerstand und zur ungestörten religiösen Betätigung eingefordert, was Dibelius in seinen Schriften auf den Begriff des Rechtsstaates bringt. Richtschnur von Kritik und Anerkennung ist die lex caritatis. Dort, wo die staatlichen Strukturen ihr entsprechen, sind die Christen dazu verpflichtet, sich in diesem Staat zu engagieren. Damit ist zwar ein wichtiger Schritt zu einer differenzierten Würdigung des modernen Staates getan, weil durch das Verlassen des Obrigkeitsbegriffs zwischen einem totalitären Staat und einem freiheitlichen Rechtsstaat unterschieden werden kann. Gegenüber dem totalitären Staat genießt der Rechtsstaat aufgrund seines auf den Begriff der Freiheit und der Liebe zu bringenden sittlichen Fundamentes Vorzug. Gleichwohl bleibt der aus der BTE gespeiste Vorbehalt gegen den modernen Staat bestehen und das schroffe Modell eines Gegenübers von Staat und Kirche wird aufrechterhalten. Christen und Kirche haben sich in den Schriften von Dibelius noch nicht als politische und zivilgesellschaftliche Akteure durchschaut. Dieser Befund ist umso erstaunlicher, als Dibelius in seinen kirchlichen Spitzenämtern längst selbst zu einem wichtigen politischen Akteur geworden war, ohne dafür freilich den adäquaten theologischen Begriff gefunden zu haben.

 „Die heutige Theologie […] wird auch einen Blick dafür haben müssen, daß der totalitäre Staat etwas grundsätzlich Anderes ist als alles, was wir bisher ‚Staat‘ genannt haben, und daß das Bild einer gesellschaftlichen Ordnung, das in Röm 13 vorausgesetzt wird, mit dem Bild eines neuen Totalstaats nur Äußeres gemeinsam hat.“ (ebd., 95)  Dabei handelt es sich um „Staaten, die eine Sittlichkeit kennen, die über den Interessen der Macht steht, d. h. also ein Recht, das für alle gemeinsam ist, für die Regierenden wie für die Regierten, ein Recht, das irgendwie metaphysisch verankert ist“ (ebd.).

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Diejenigen Vertreter, die sich im Westen für die theologische Anerkennung der DDR im Sinne der biblischen und reformatorischen Tradition von Röm 13 einsetzten, traten zugleich als Kritiker der politischen Westorientierung der Bundesrepublik Deutschland auf. Man nutzte den demokratischen Spielraum, um sich gegen die wahrgenommene ideologische Überhöhung des Demokratie- und Menschenrechtsdenkens, gegen den Beitritt zur NATO, gegen die Wiederbewaffnung und die Atomrüstung zu engagieren. Einen positiven Begriff des Staates gewinnen diese Vertreter indes nicht. Vielmehr wird in dieser systemkonfrontativen Zeit jeder Staat unter ideologischem Vorzeichen interpretiert, sogar als „Gegenreligion“ aufgefasst.²⁸ So betrachtet etwa Hans Joachim Iwand (1899 – 1960) das Politische ausschließlich unter der Perspektive des ideologischen Gegensatzes im Kalten Krieg, der eine Differenzierung zwischen einer Staats- und Gesellschaftsordnung des real existierenden Sozialismus und des demokratischen Rechtsstaates nicht mehr ermöglicht.²⁹ Seine raumgreifenden ideengeschichtlichen Rückblenden dienen der theologischen De-Legitimierung des politischen Denkens der Gegenwart und der bürgerlichen Freiheitskultur. Die Teilung Europas, die Wiederbewaffnung Deutschlands und der Eintritt in das Atomzeitalter gelten als Ausdruck der ideologischen Konstellation der Gegenwart. Dem setzt Iwand aus reformatorischer Perspektive die Stichworte ‚Schuld‘, ‚Vergebung‘ und ‚Versöhnung‘ entgegen. Mit dem Begriff der Schuld verbindet sich retrospektive Selbstkritik am Denken in den Kategorien des deutschen Sonderweges und an der eigenen – auch christlichen – Verstrickung in die Katastrophen der beiden Weltkriege. In der Gegenwartsperspektive öffnen ‚Schuld‘ und ‚Vergebung‘ die anthropologische Ebene für eine Verbindung der Menschen untereinander trotz des ideologischen Gegensatzes. ‚Versöhnung‘ bahnt den Weg zu einer „Koexistenz der großen menschlichen Völkerfamilie“³⁰. Im Inneren muss es darum gehen, die Herrschaft der Ideologie innerhalb ihres Herrschaftsraums zu begrenzen. Dies leistet die dogmatische Christologie, die die politische Ethik begründet. Der „Primat des Dogmas“³¹ und die wiedergewonnene eschatologische Dimension der Ethik aber verhindern eine inhaltliche Differenzierung der östlichen und westlichen ‚Ideologien‘. Beiden Systemen muss von Glaube und Kirche her eine strikte Grenze gezogen werden, und diese gilt nicht nur für den

 So bei Martin Fischer, Obrigkeit, Berlin: Vogt 1959.  Vgl. zu Iwand Christian Johannes Neddens, Politische Theologie und Theologie des Kreuzes. Werner Elert und Hans Joachim Iwand, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 441– 858.  Hans Joachim Iwand, „Über das Zusammenleben in einer Welt widerstreitender Ideologien und politischer und wirtschaftlicher Systeme“ (1956), in: Ders., Frieden mit dem Osten. Texte 1933 – 1959, hg. von Gerard C. den Hertog, München: Kaiser 1988, 138 – 152, 147 (Herv. i.O.).  Neddens 2010, 787.

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Bereich legitimen staatlichen Handelns, sondern auch für „andere allgemeinmenschliche Betätigungen und Schöpfungen geistigen Lebens“³², wie Iwand in charakteristischer Zurückhaltung formuliert, um die bürgerliche Freiheitssemantik der Menschenrechtsdiskurse zu vermeiden. Einen wichtigen Schritt zur theologischen Würdigung des demokratischen Rechtsstaates geht Helmut Thielicke (1908 – 1986). Der Hamburger Theologe hat durch seine Werke und vor allem durch seine breite Predigt- und Vortragstätigkeit wesentliche Beiträge zur theologischen Aneignung der Demokratie geleistet.³³ Er geht von einer konservativen lutherischen Ordnungstheologie aus, nämlich von der offenbarungstheologischen Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Die Ethik des Politischen fällt in die Sphäre des Gesetzes, denn die obrigkeitliche Macht hat die heilsgeschichtliche Funktion von Ordnungsstiftung in der durch die Sünde geprägten Welt. Sie ist wesentliches Merkmal der mit dem noachitischen Bund „verliehenen Notverordnung über die gefallene Welt“³⁴. Staat und Gerichtsbarkeit sind „dieser Weltzeit als Bewahrungsmaßnahmen der göttlichen Geduld verordnet. Darum verlangen sie im Umkreis ihrer Zuständigkeit Gehorsam, Respekt und Dankbarkeit.“³⁵ Für eine zeitgemäße Bestimmung der Staatsaufgaben sei allerdings dem Wechsel der „Situationen von Einst und Jetzt“³⁶ Rechnung zu tragen. Denn im ursprünglichen Sinn sei die reformatorische Obrigkeitslehre in die Gegenwart unübertragbar. Gleichwohl gäbe es Kontinuitätsaspekte, die Thielicke mit der Unterscheidung von Staatlichkeit und Staat rekonstruiert. Staatlichkeit als solche ist dem Menschen also unverfügbar voraus. Dieser Sachverhalt „wird theologisch als eine Verordnung des Willens Gottes interpretiert“³⁷. Die Staatsform dagegen ist verfügbar. Diese Sphäre kann der Mensch willentlich gestalten. Das zeigt Thielicke durch eine, wie er sagt, ent-institutionalisierende Interpretation der Obrigkeitslehre. Leitbegriff dafür ist die empfangende, von Gott her begrenzte Vernunft. Nach Thielickes Verständnis der reformatorischen Obrigkeitslehre ist der menschlichen Vernunft die Gestaltung des Staatswesens anvertraut. „Demokratie kann in diesem Sinne nur bedeuten,

 Iwand 1956/1988, 149.  Vgl. die Darstellung von Norbert Friedrich, „Helmut Thielicke – Ein protestantischer ,Staatsethiker‘ in der Adenauer-Ära oder evangelischer Erweckungsprediger?“, in Protestanten in öffentlicher Verantwortung. Biographische Skizzen aus der Anfangszeit der Bundesrepublik, hg. von Günter Brakelmann und Traugott Jähnichen, Waltrop: Spenner 2005, 23 – 60.  Helmut Thielicke, Theologische Ethik, Bd. II/2: Ethik des Politischen, 4. Aufl., Tübingen: Mohr 1987, 303.  Ebd., 319.  Ebd., 5.  Ebd., 20 (Herv. i.O.).

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daß zwar die Bürger mit ihrem Willen und kraft der Einsicht ihrer Vernunft über den Staat verfügen, aber doch nur so, daß er ihnen, d. h. ihrem Willen und ihrer Vernunft, zur Verfügung gestellt wird. […] Ihre Aufgabe ist […], mit dem Empfangenen zu wuchern und es im Rahmen ihres Ermessens zu entfalten.“³⁸ Dieses Verständnis der Vernunft ist im christlichen Glauben begründet und gehalten. Es ermöglicht ihre instrumentelle und pragmatische Anwendung. Thielicke spricht daher auch von einer „technischen Autonomie“. In diesem Rahmen können auch die vorstaatlichen Menschenrechte und der Grundrechtskatalog des Grundgesetzes indirekt theologisch anerkannt werden. Sie gelten als irdische Abschattung derjenigen Grenze, die der menschlichen Machtausübung durch Gott gesetzt ist.³⁹ Demokratie kann daher als eine Form der von Gott ermöglichten und begrenzten vernünftigen Selbstbestimmung des Menschen aufgefasst und im Glauben begründet werden. Das im Glauben begründete politische Handeln orientiert sich an einem pragmatischen Vernunftverständnis und ist daher unideologisch. Durch diese Bestimmung gewinnt Thielicke nun Abgrenzungspotenzial zu anderen Staatsformen. Der Ideologiebegriff wird von Thielicke auf diejenigen Staaten angewendet, in denen sich – wie im totalen Staat der NS-Zeit und in den marxistischleninistisch begründeten Staaten Osteuropas – die Vernunft absolut setzt und in ihrer Hybris alle Grenzen ignoriert.⁴⁰ Freilich gibt es, wie Thielicke einräumt, auch eine Ideologisierung des Christentums, die er als „Dämonie“ bezeichnet. Dagegen vermittelt der Glaube – wie Thielicke am Idealtyp des christlichen Staatsmanns erläutert – die „Freiheit sachlicher Einsicht […] und sachlichen Handelns“⁴¹. Thielicke zielt auf ein versachlichtes Politikverständnis, das unterschiedlichen Auffassungen und Interessen Raum gibt, die niemals mit der christlichen Position zusammenfallen, da diese an das Gewissen des Einzelnen gebunden und nicht objektivierbar ist. Daher ist der Kompromiss der Normalfall der politischen Entscheidung.⁴² Er ist, wie Thielicke in markigen theologischen Worten formuliert, „die Gestalt des Handelns innerhalb der Notverordnungen dieses Äons“⁴³. Die Suche nach ihm gilt daher als erstrangige politische Pflicht.⁴⁴

 Ebd., 26 (Herv. i.O.).  Vgl. ebd., 87.  Vgl. ebd. 27– 72, insbesondere 31 (Nr. 152).  Ebd., 135 (Herv. i.O.).  Vgl. ebd., 624.  Ebd., 707 (Herv. i.O.).  ‚Kompromiss‘ ist ein tragender Begriff der theologischen Ethik Thielickes, den er im Rahmen ihrer Grundlegung aus dem Begriff der göttlichen Akkommodation der Gnade entwickelt.

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Auch Wolfgang Trillhaas (1903 – 1995) folgt grundsätzlich der klassischen Ordnungstheologie, nimmt aber im Verhältnis zur Lehrtradition wesentliche Umstellungen vor. Er erweitert in phänomenologischer Absicht den Begriff des Politischen, löst ihn aus den Staatszusammenhängen heraus und verortet ihn in der Gesellschaft.⁴⁵ Grundsätzlich werden auf allen Ebenen des sozialen Miteinanders Interessenskonflikte durch Herrschaftsausübung gelöst. Trillhaas betont den historischen und sachlichen Abstand zur altlutherischen Lehre von der weltlichen Gewalt. In der Gegenwart habe sie nur noch regulative Funktion, indem sie einerseits die Notwendigkeit von Autorität und Herrschaft einschärft, andererseits dem totalen Staat entgegentritt. Politisches Handeln, auch politisches Handeln im Staat, ist ein weltliches Geschäft. Die Demokratie ist die gegebene Staatsform der Gegenwart, die dem erweiterten Politikverständnis Rechnung trägt. Im demokratischen Staat ist daher nicht Gehorsam, sondern „die Verantwortlichkeit oder doch Mitverantwortlichkeit“ des einzelnen Staatsbürgers für das Gelingen des staatlichen Lebens die primäre sittliche Pflicht.⁴⁶ Gleiches gilt für das politische Handeln auf den anderen Feldern der Gesellschaft. Trillhaas warnt vor der ideologischen Überhöhung der Demokratie, diskutiert unterschiedliche Demokratiemodelle und die Kritik, die an der Demokratie vorgebracht wird. Er entgegnet ihr mit einer ‚Ethik der Demokratie‘, die er in dem Satz zusammenfasst: „Wir wollen und müssen miteinander und füreinander leben.“⁴⁷ Auch er stellt den Kompromiss in den Mittelpunkt der politischen Ethik. „Politik heißt […] schlechterdings Bemühung um den vertretbaren Kompromiß. Und dieser ist sittlich geboten, weil das Gesamtinteresse die Teilinteressen übergreift und weil wir miteinander auch morgen wieder zusammenleben müssen.“⁴⁸ Im Unterschied zu Thielicke und Trillhaas bleiben diejenigen Theologen, die direkt an die BTE und die Tradition der Bekennenden Kirche anknüpfen, noch längere Zeit vormodernen Denkformen verhaftet. Der Grund dafür ist, dass sie im Zuge ihrer Auslegung der zweiten und fünften These der BTE im statischen Gegenüber von Kirche und Staat verharren und somit weder den gesellschaftlichen Pluralismus noch die demokratischen Verfahren im politischen Willensbildungsprozess, deren Teil sie als Akteure immer schon sind, begreifen können. Dazu bedurfte es weiterer Differenzierungen, die auch in diesem Lager gefunden wurden. Die dafür notwendige grundlegende Einsicht findet sich bei dem

   

Vgl. Wolfgang Trillhaas, Ethik, 3. Aufl., Berlin: De Gruyter 1970, 411– 414. Vgl. ebd., 429. Ebd., 466 – 470, 466. Ebd., 470.

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Göttinger Theologen Ernst Wolf (1902– 1971),⁴⁹ der hier exemplarisch herangezogen wird. Wolf konstruiert eine Verbindung zwischen der mit der BTE verknüpften These von der Königsherrschaft Christi und dem Satz von der Menschenwürde, der dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes voransteht, und wendet diese Verbindung kritisch gegen jedwede metaphysische, ordnungstheologische, ideologische oder geschichtspositivistische Überhöhung des Staates. Dabei argumentiert er im Rahmen der damals üblichen wertphilosophischen Interpretation des Satzes von der Menschenwürde: Ihr vorstaatlicher und überpositiver Charakter führt aus dem Rechtspositivismus der Weimarer Zeit heraus. Der Mensch als geistig-personales Wesen in der Spannung von Individualität und Sozialität bildet den axiologischen Maßstab, an dem sich alle rechtlichen Normen auszurichten haben. Es ist gerade die mit dieser Interpretation der Menschenwürde verknüpfte Absage an den liberalen Individualismus und an das humane Autonomiestreben, die es Wolf erlaubt, theologisch an die Menschenwürde anzuschließen: „Sofern nach christlichem Verständnis die Würde des Menschen darin gründet, daß die Menschlichkeit Gottes ihn, den Menschen, gewürdigt hat, zum Leben in Mitmenschlichkeit berufen zu werden, ist für christliches Verständnis die Würde des Menschen von vornherein bezogen auf das Leben aus personaler Verantwortung in mitmenschlicher Gemeinschaft.“⁵⁰ Daher kann es die evangelische Ethik […] nur begrüßen, wenn der sittliche Wert der Menschenwürde durch Übernahme in das Verfassungswerk des Grundgesetzes zu einem ‚Rechtswert‘ geworden ist. […] Evangelische Ethik wird […] darin die verfassungsrechtliche Grundlage der Rechtsstaatlichkeit anerkennen und wird sich für sie einzusetzen haben. Sie wird daher auch mit positiver Kritik jene Versuche begleiten, die aus dem Grundrechtssatz von der Menschenwürde ein Wertsystem der Grundrechte zu entwerfen suchen.⁵¹

Im ideell-sittlichen Wertfundament, das staatliches Handeln begrenzt und grundsätzlich ausrichtet,⁵² konvergieren also evangelische Sozialethik und modernes Staatsdenken. Staatszweck ist „die relative Ermöglichung und Sicherung menschenwürdigen Lebens auf Erden. Es geht um das ‚Wohl‘ des Menschen […], um sein irdisches Wohl.“⁵³ Gerade in dieser Beschränkung auf das mit den Mitteln der politischen Vernunft zu erreichende Staatsziel liegt der Grund dafür, dass

 Hauptquelle sind Wolfs Vorlesungen zur Sozialethik; vgl. Ernst Wolf, Sozialethik. Theologische Grundfragen, hg. von Theodor Strohm, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1975.  Ebd., 327.  Ebd., 328.  „Mit alledem wird deutlich, daß bei dieser Konzeption ernst gemacht wird mit dem Gedanken, daß der Staat dem Menschen zu seinem Menschsein zu dienen hat und nicht umgekehrt.“ (ebd.)  Ebd., 254.

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Christen und Kirche die Demokratie nicht nur bejahen, sondern auch an ihr partizipieren. Dabei betont Wolf im Anschluss an die fünfte These von Barmen stark die kritische Komponente, indem er die Kirche dazu aufgerufen sieht, staatliche Verletzungen der freiheitlichen und für alle gleichen Grundrechte zu kritisieren. Die positive Seite der Kritik wird als die „aufgetragene Mitsorge für die ‚salus publica‘“ bezeichnet, die „heute“ als „eine Einübung des Christen in die Demokratie als Lebensform […] bewußt versucht wird“.⁵⁴ Damit ist bei Wolf die sozialethische Anerkennung der Demokratie vollzogen, Christen und Kirche werden in die demokratischen Prozesse ethisch eingebunden.⁵⁵ Das Erbe der BTE bleibt erhalten. Auch Helmut Gollwitzer (1908 – 1993) versteht die Kirche im Anschluss an die BTE als kritisches Gegenüber zum Staat. Er steigert diese Wächterfunktion noch, indem er die Kirche sogar als Vorbild versteht, denn es gilt „in ihrer eigenen Mitte exemplarisch das zu leben, worauf es im Staate ankommt, […] als Gemeinde von Brüdern (Barmen 3 und 4!)“⁵⁶. Die Demokratie als Lebensform der Freien und Gleichen wird in der Kirche verwirklicht und von dort aus strahlt sie in den demokratischen Staat ab. Zwar gilt die Demokratie für Gollwitzer als zeitgemäße Staatsform,⁵⁷ weil einzig sie „heute die Aufgaben einer ethisch vertretbaren Machtordnung erfüllen, nämlich gleichzeitig eine funktionierende Führung und den Raum für Recht und Freiheit für den einzelnen Bürger garantieren kann“⁵⁸. Aber Gollwitzer akzentuiert vor allem die herrschaftskritische Bedeutung der demokratischen Staatsform, die sich insbesondere gegen die ökonomische Konzentration von Macht zu richten hat. Wesentliche Theoriebausteine zur Anbahnung eines inneren Verhältnisses von Glaube und Demokratie werden von Heinz-Dietrich Wendland (1900 – 1992)⁵⁹ und seiner Schule entwickelt.⁶⁰ In seiner Einführung in die Sozialethik ⁶¹ geht er von einem immer schon vorliegenden Ineinander von Gesellschaft, Kirche und

 Ebd., 342.  Ebenso auch im Denken und Wirken von Heinz Eduard Tödt (1918 – 1991).  Helmut Gollwitzer, „Bürger und Untertan“ (1962), in Politik und Ethik, hg. von Heinz-Dietrich Wendland und Theodor Strohm, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1969, 151– 185, 185.  „Die Verhältnisse unserer Zeit machen Demokratie nötig.“ (ebd., 165)  Ebd., 163.  Vgl. Katja Bruns/Stefan Dietzel, Heinz-Dietrich Wendland (1900 – 1992). Politisch-apologetische Theologie, Göttingen: Edition Ruprecht 2017 und neuerdings Reiner Anselm/Katja Bruns, „Heinz-Dietrich Wendland“, Zeitschrift für Evangelische Ethik, Bd. 63, 2019, 65 – 69.  Vgl. dazu Martin Laube, Theologie und neuzeitliches Christentum. Studien zu Genese und Profil der Christentumstheorie Trutz Rendtorffs, Tübingen: Mohr Siebeck 2006.  Heinz-Dietrich Wendland, Einführung in die Sozialethik (1963), 2. Aufl., Berlin: De Gruyter 1971.

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Glauben aus. Ausgangspunkt ist die moderne Gesellschaft, die insgesamt zwar durch die Kultur des Christentums geprägt ist, in der aber verschiedene Spielarten des Humanismus religiös, ethisch und weltanschaulich miteinander konkurrieren. Wendland erhebt den Begriff des christlichen Humanismus zum sozialethischen Leitbegriff. Die Kirche ist nach Wendland eine wichtige gesellschaftliche Institution, hat aber keine beherrschende Schlüsselstellung mehr; sie kann den modernen Pluralismus nicht mehr sozialintegrativ einfrieden. Ihre bleibende Aufgabe nennt Wendland ‚diakonisch‘. Der Dienst der Kirche richtet sich vor allem „auf die Gefährdungen und Belastungen des Menschen in der Gesellschaft […]. Sie wird dabei […] jene Fragen aufnehmen, die mit der Unsicherheit, der Ortlosigkeit und Abhängigkeit des Menschen gegeben sind und sich in dem sog. ‚Unbehagen‘ oder sozialen Ressentiments oder übersteigenden Ansprüchen an den Wohlstand Ausdruck verschaffen.“⁶² Der christliche Humanismus befindet sich im kritischen Dialog mit dem ethischen Denken der anderen Humanismen, auch dem Naturrecht. „Das Gebot der Liebe enthält ein kritisches Ja zu den Forderungen der Humanität und Gerechtigkeit. […] Die Liebe will Gerechtigkeit und Mitmenschlichkeit um des Einzelmenschen und der Gesellschaft willen. Sie verleiht diesen naturrechtlichen Forderungen Gültigkeit und Sinn.“⁶³ Weil Wendland mit einer pluralen Gesellschaft rechnet und die Kirche darin als einen von vielen Akteuren ansieht, ergibt sich für ihn eine grundsätzliche Affinität zwischen christlicher Sozialethik und der demokratischen Herrschaftsform. Der Pluralismus wird von Wendland als ‚gesellschaftliche Demokratie‘ verstanden; und diese fungiert als sittliches Fundament der demokratischen Herrschaftsform, für das der christliche Humanismus wesentliche Beiträge liefert.⁶⁴ Die alte Obrigkeitslehre wird abgelegt. Kontinuität gibt es zwar mit Blick auf die „Aufgabe des Staates […] für Ordnung, Recht und Frieden […] zu sorgen“⁶⁵. Aber die „Demokratie macht aus dem Untertanen der ‚Obrigkeit‘ den Bürger“⁶⁶. Der demokratische Staat steht im Dienst der politischen Freiheit, des Friedens und der Gerechtigkeit. Die Demokratie ist „die einzige uns gegebene politische Ordnung, in der wir Herrschaft und

 Ebd., 67.  Ebd., 47.  „Die Demokratie bedarf in weit höherem Maße als andere Staatsformen der verantwortlichen Teilnahme des Einzelnen und des Prozesses der ständigen Integration, nicht zuletzt durch die politische Erziehung aller Glieder des Gemeinwesens. […] Von hier aus wird die Bedeutung des christlichen Humanismus für die Fundierung und Stärkung der Demokratie sichtbar.“ (ebd., 80)  Ebd., 83.  Ebd., 82.

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Freiheit verbinden und durcheinander kontrollieren und begrenzen können“⁶⁷. Zugleich unterstreicht Wendland die politische Verantwortung von Christen.

3 EKD und Demokratie – Die Denkschrift von 1985 Ihren Abschluss findet die theologische Bewegung hin zum freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat in der Demokratie-Denkschrift der EKD, die 1985 unter dem Titel Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe vorgelegt wird.⁶⁸ Hierbei handelt es sich um eine eindrucksvolle Syntheseleistung, in der die unterschiedlichen theologischen Strömungen der Nachkriegszeit verknüpft und auf Konvergenzkurs mit dem wertphilosophischen und naturrechtlichen Denken gebracht werden.⁶⁹ Sie stellt das protestantische Staatsverständnis endgültig auf die Füße. Weder der biblischpaulinische, von der Obrigkeit her denkende, noch der im Umfeld der BTE dominierende christologische Ansatz bestimmen das Staatsverständnis und die Ethik des Politischen, sondern die Prinzipien Menschenwürde, Demokratie, Partizipation, Rechtsstaatlichkeit und Verantwortung. Es wird festgestellt: Für Christen ist es wichtig zu erkennen, daß die Grundgedanken, aus denen heraus ein demokratischer Staat seinen Auftrag wahrnimmt, eine Nähe zum christlichen Menschenbild aufweisen. Nur eine demokratische Verfassung kann heute der Menschenwürde entsprechen. Das ist bei aller Unsicherheit in der Auslegung von Verfassungsprinzipien und bei allem Streit um deren Gestaltung festzuhalten. Auch die Demokratie ist keine ‚christliche Staatsform‘. Aber die positive Beziehung von Christen zum demokratischen Staat des Grundgesetzes ist mehr als äußerlicher Natur; sie hat zu tun mit den theologischen und ethischen Überzeugungen des christlichen Glaubens.⁷⁰

Aus dem Zitat geht hervor, dass der Begriff der Menschenwürde in der Begründung der Nähe des christlichen Glaubens zur Demokratie eine Schlüsselfunktion

 Ebd., 84.  EKD, „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe“ in Die Denkschriften der EKD, Bd. 2/4, hg. von der Kirchenkanzlei der EKD, Hannover 1985. Die Denkschrift umfasst drei Teile: „I. Demokratie im evangelischen Verständnis. Alte Fragen und neue Aufgaben. II. Grundelemente des freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaates. III. Demokratie vor den Herausforderungen der Gegenwart.“  Zur Entstehungsgeschichte vgl. Aneignung des Gegebenen. Entstehung und Wirkung der Demokratie-Denkschrift der EKD, hg. von Hans Michael Heinig, Tübingen: Mohr Siebeck 2017.  EKD 1985, 19.

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übernimmt, weil in ihm die unterschiedlichen gedanklichen Fäden ineinanderlaufen. Daher hat man auch von einer zivilreligiösen Bedeutung der Menschenwürde gesprochen.⁷¹ Grundlegend ist die Feststellung einer Konvergenz zwischen der biblischen Anthropologie, nämlich der rechtfertigungstheologisch interpretierten Gottebenbildlichkeit, und dem durch das Grundgesetz vorausgesetzten Verständnis des Menschen, das in Art. 1 und dem durch ihn eingeleiteten Katalog der Grundrechte entfaltet wird. Aus der Achtung der Würde des Menschen folgt die ‚Anerkennung der Freiheit und Gleichheit‘, aus der das ‚Gebot der politischen und sozialen Gerechtigkeit‘ abgeleitet wird. Die Aufgabe des Staates wird darin gesehen, in der ‚nicht-erlösten‘, fehlsamen, lutherisch gesprochen: sündigen Welt für Ordnung zu sorgen. Weil aber der Staat – und hier liegt eine gravierende Abweichung von der klassischen Obrigkeitslehre vor – selbst der gleichen Fehlsamkeit unterliegt, wird nicht nur die strikte Begrenzung der staatlichen Macht aufgrund der unantastbaren Menschenwürde und den aus ihr folgenden Grundrechten festgestellt, sondern die Menschenwürde und ihre Entfaltung werden zum kritischen Maßstab, an dem sich politische Vernunft und politisches Handeln zu orientieren haben. Die Menschenwürde begründet auch die politische Partizipation, zu der die Christen aufgerufen sind.⁷² Der Begriff der Menschenwürde dient schließlich als Maßstab zur Beurteilung der Staatsformen. Im Blick auf die deutsche Teilung wird zwar festgehalten, dass man auch in totalitären Staaten Christ sein kann, aber es kann doch am Maßstab der Menschenwürde und den aus ihr abgeleiteten Grundrechten aus christlicher Sicht zwischen den Staatsformen kritisch unterschieden werden.

 Vgl. Arnulf von Scheliha, „Ist Menschenwürde ein theologisch-politischer Grundbegriff? Thesen aus evangelisch-theologischer Perspektive“, in: Ders., Religionspolitik, 30 – 38.  „Grundelemente des freiheitlichen demokratischen Staates sind Achtung der Würde des Menschen, Anerkennung der Freiheit und der Gleichheit. Daraus folgt das Gebot politischer und sozialer Gerechtigkeit. Der Gedanke der Menschenwürde ist inhaltlich eine Konsequenz der biblischen Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen als Geschöpf Gottes (Gen 1,27). Wir bekennen Jesus Christus als den, der die Menschen und damit die Welt mit Gott versöhnt hat. Das Neue Testament lehrt uns, dass Christus stellvertretend für jeden sündigen Menschen sein Leben gegeben hat und für uns vor Gott eintritt. Kirche und Staat haben ihren Ort ‚in der noch nicht erlösten Welt‘ (Barmen V), die darum der staatlichen Ordnung bedarf. Der Staat soll die Auswirkungen der Fehlsamkeit des Menschen in Grenzen halten. Aus dem gleichen Grund muss auch die Ausübung staatlicher Macht kontrolliert werden. Die Würde des Menschen als Gabe Gottes ist dabei der Maßstab, den die politische und gesellschaftliche Gestaltung des Gemeinwesens zu achten hat und dem sie nach menschlicher Einsicht gerecht werden muss. In ihr gründet die Berufung des Menschen zu freier Mitverantwortung in der Gestaltung des Gemeinwesens.“ (EKD 1985, 19 f.)

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Die Denkschrift betont die aus der Menschenwürde abgeleitete Freiheit und Gleichheit. Damit verbindet sich eine theologische Selbstkritik, denn Theologie und Kirche sind es über viele Jahre selbst gewesen, die sich der politischen Realisierung der eigenen religiösen Einsichten entgegengestellt haben. Mit dem Bekenntnis zu Freiheit und Gleichheit nimmt die protestantische Ethik des Politischen Abstand vom klassischen Ordnungsdenken, das den paternalistischen Obrigkeitsstaat ebenso einschloss wie die Einbindung des Einzelnen in den Organismus der Nation mit ihrer geschichteten Gesellschaftsstruktur. Freiheit und Gleichheit werden also in einem partizipativen, emanzipativen und sozial durchlässigen Sinn verstanden. Dabei liegt ein besonderer Akzent auf dem Bekenntnis zum Sozialstaat, dessen Aufgabe darin besteht, durch Umverteilung sozialen Ausgleich für die wirtschaftlich Benachteiligten und damit Chancengerechtigkeit herzustellen. Die ökonomische Macht soll mit Mitteln des öffentlichen Rechtes beschränkt werden im Interesse der materiellen Freiheit des Einzelnen einerseits und des Gemeinwohls andererseits. In der ethischen Pflichtenlehre stellt die Denkschrift endgültig von ‚Gehorsam‘ und ‚Dienst‘ auf ‚Verantwortung‘ oder ‚Mitverantwortung‘ um. Die von Gott geforderte Mitwirkung daran, dass der demokratische Staat seinem Auftrag, die Rahmenbedingungen für die freiheitliche Entfaltung der Würde aller Menschen zu schaffen, gerecht wird, entspricht der reformatorischen Berufsethik, die den Christen in das gesellschaftliche Leben einbindet und dies mit dem jesuanischen Gebot der Nächstenliebe begründet.⁷³ Als Ort des Berufes gilt nun die Welt des Politischen. Die Pflicht zur verantwortungsbewussten Mitwirkung setzt ein mit der Wahrnehmung des aktiven Wahlrechtes und endet mit der Übernahme von politischen Mandaten und Ämtern, nicht nur in der Administration und Regierung, sondern auch in der parlamentarischen Opposition.

 „Nach evangelischem Verständnis gehört die politische Existenz des Christen zu seinem weltlichen Beruf. Christliche Bürger sind deswegen hier nach ihrer Berufserfüllung gefragt. Im Beruf kommen nach evangelischem Verständnis seit Luther eine weltliche Aufgabe und die Verantwortung vor Gott zusammen. Der weltliche Beruf kann dem Christen nicht gleichgültig sein, weil er etwa mit seinem Glauben nichts zu tun hätte. Auch im weltlichen Beruf sind wir von Gott beansprucht. Denn er ist ein Ort, an dem die Nächstenliebe geübt werden soll, die danach fragt, was dem Nächsten und der Gemeinschaft dient und nützt. Der Ruf zur Nächstenliebe fordert also sehr nüchtern auch die Bereitschaft zur Übernahme politischer Verantwortung. Im Gehorsam gegen Gottes Gebot und in der Freiheit des Glaubens soll der Christ im Beruf nicht nach dem besonderen Ansehen der Christen suchen, sondern sich bereitfinden, Verantwortung zu übernehmen, wo dies von ihm erwartet wird. In diesem Sinne enthält die Demokratie die Aufforderung zu einer Erneuerung und einer Erweiterung des Berufsverständnisses auf allen Ebenen des politischen Gemeinwesens.“ (EKD 1985, 28)

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Arnulf von Scheliha

Der demokratische Staat gründet auf der Verantwortung der Bürger. Die Verfahren der politischen Willensbildung, Rechts- und Sozialstaat entfalten dies. In diesem Zusammenhang werden die Rolle der politischen Parteien, die Verfahren, die politische Öffentlichkeit unter Einschluss des politischen Journalismus und der gesellschaftliche Pluralismus positiv gewürdigt. „Ein demokratischer Staat braucht eine ihm entsprechende demokratiebewußte Gesellschaft, die sich Grundentscheidungen der Demokratie zu eigen macht und aus ihnen lebt.“⁷⁴ Das Prinzip der repräsentativen Demokratie wird positiv hervorgehoben, die Probleme des politischen Lobbyismus, eines reinen Mehrheitsprinzips und des Widerstandsrechtes werden ausführlich diskutiert, Perspektiven der Weiterentwicklung des demokratischen Gemeinwesens erörtert. In Fortsetzung der klassischen Unterscheidung zwischen dem geistlichen Auftrag der Kirche und dem weltlichen Auftrag des Staates und in Berücksichtigung der christlichen Verantwortung für das Politische unterhalten Kirche und Staat „eine positive Beziehung“⁷⁵. Insgesamt bleibt die öffentliche und politische Rolle der Kirche in der Denkschrift auffällig unterbetont. Daher haben sich an dieser Stelle reiche Debatten angeschlossen, die bis zur Stunde andauern. ⁷⁶ Wie auch immer man in der Gegenwart einzelne Aspekte beurteilen mag; die Grundaussage der EKD-Denkschrift dürfte auch gegenwärtig gelten: „Keine heute bekannte Staatsform bietet eine bessere Gewähr, die gestellten Probleme zu lösen, als die freiheitliche Demokratie.“⁷⁷

4 Ausblick Die Demokratie-Denkschrift der EKD bedeutet nicht das Ende der Geschichte im Verhältnis von deutschem Protestantismus und Demokratie.⁷⁸ Mit dem gemeinsamen Wort Demokratie braucht Tugenden haben die beiden großen Kirchen in Deutschland im Jahre 2006 in Sachen politischer Ethik einen ökumenischen

 Ebd., 35.  Ebd., 12.  Vgl. dazu den Überblick bei Arnulf von Scheliha, „Die Rolle der Kirchen im gesellschaftlichen und politischen Diskurs“, in: Ders., Religionspolitik, 99 – 117.  EKD 1985, 40.  Vgl. Georg Pfleiderer zu Anselms Darstellung im Handbuch Evangelischer Ethik (Georg Pfleiderer, „Rezension zu Handbuch Evangelischer Ethik“, Theologische Literaturzeitung, Bd. 142, 2017, 679 – 681).

Der deutsche Protestantismus auf dem Weg zur Demokratie

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Konsens formuliert.⁷⁹ Das jüngste Dokument Konsens und Konflikt. Politik braucht Auseinandersetzung reflektiert die politischen Herausforderungen, die aus der sog. Flüchtlingskrise und dem Erstarken rechtspopulistischer Kräfte und Parteien erwachsen sind.⁸⁰ Die Grundsätzlichkeit und Schärfe dieser Debatte innerhalb der protestantischen Theologie zeigen, dass es in sachpolitischen Fragen immer wieder Vergewisserungsbedarf an den theologischen Grundeinsichten gibt, deren Auslegung die innerprotestantische Vielfalt begründet.⁸¹ Weitere Herausforderungen hat Reiner Anselm weitsichtig skizziert.⁸² Zu ihnen gehört eine theologische Auseinandersetzung mit dem Europa-Thema, das im Bereich der römischkatholischen Theologie viel stärker verankert ist.⁸³ Die theologischen Aufgaben, die sich im Verhältnis von Theologie, Kirchen und demokratischem Verfassungsstaat stellen, sind also keineswegs erledigt, sondern treten ein Jahrhundert nach der Verabschiedung der Verfassung der ersten deutschen Republik möglicherweise in eine neue Phase ein. Die vielen Debatten, die in diesen hundert Jahren geführt wurden, zeigen, dass man theologischerseits gut gerüstet ist, die neuen Herausforderungen zu meistern.

Literatur Adolf von Harnack. Christentum, Wissenschaft und Gesellschaft, hg. von Kurt Nowak, Otto Gerhard Oexle, Trutz Rendtorff und Kurt-Victor Selge, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003. Aneignung des Gegebenen. Entstehung und Wirkung der Demokratie-Denkschrift der EKD, hg. von Hans Michael Heinig, Tübingen: Mohr Siebeck 2017. Anselm, Reiner (2015): „Politische Ethik“, in Handbuch der Evangelischen Ethik, hg. von Wolfgang Huber, Torsten Meireis und Hans-Richard Reuter, München: C.H. Beck, 195 – 263.

 Demokratie braucht Tugenden. Gemeinsames Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur Zukunft unseres demokratischen Gemeinwesens, Hannover/Bonn: Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland/Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 2006 [vgl. https://www.ekd.de/23010.htm] (Zugriff: 25.01. 2019).  Vgl. EKD, Konsens und Konflikt. Politik braucht Auseinandersetzung. Zehn Impulse der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD zu aktuellen Herausforderungen der Demokratie in Deutschland, Hannover: Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland 2017.  Vgl. Arnulf von Scheliha, „Politische Flüchtlingskrise und öffentlicher Protestantismus“, Zeitschrift für Evangelische Ethik, Bd. 61, 2017, 264– 273.  Vgl. Anselm 2015, 256 – 263.  Vgl. Christof Mandry, Europa als Wertegemeinschaft. Eine theologisch-ethische Studie zum politischen Selbstverständnis der Europäischen Union, Baden-Baden: Nomos 2009.

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Arnulf von Scheliha

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Der deutsche Protestantismus auf dem Weg zur Demokratie

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Arnulf von Scheliha

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Christoph Kösters

Demokratische Kultur und katholische Kirche in der frühen Bonner Republik Beobachtungen am Beispiel der Geschichte des Katholischen Büros 1948 – 1965 Bekanntlich war am Anfang nicht nur Adenauer. Nach den verbreitet als ‚religionsfeindlich‘ bzw. als ‚Abkehr von Gott‘ gedeuteten Erfahrungen mit der totalitären Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus bestimmte im Nachkriegsdeutschland das Christentum die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Wirklichkeiten sowie ihre Wahrnehmungen und Deutungen. Der Bogen seiner Präsenz war weit gespannt: von der starken, von sämtlichen Alliierten gestützten Stellung der Kirchen als einem stabilisierenden Ordnungsfaktor 1945 und ihrer verfassungsrechtlichen Absicherung im Grundgesetz über die Neugründung der interkonfessionellen christlichen Parteien, die religiös-kulturelle Integration der Flüchtlings- und Vertriebenenströme und retardierende Konfessionalisierungskonflikte bis zu kirchlichen Strategien und Praktiken gesellschaftlicher Rechristianisierung. Es galt, den spürbaren Vorboten des am Ende der Nachkriegszeit dann massiv einsetzenden, als ‚Säkularisierung‘ gedeuteten religiös-kirchlichen „Gezeitenwechsels“ (Wilhelm Damberg) institutionell und missionarisch zuvorzukommen. Die Signaturen, mit denen in der Forschung die christlichen Kirchen in der Nachkriegsepoche versehen werden, liegen weit auseinander: War diese Zeit von „mehr Aufbruch und Veränderung als Restauration“¹ bestimmt? Antonius Liedhegener hat überzeugend den Anteil nachgewiesen, den die Kirchen an der politischen Stabilisierung und zivilgesellschaftlichen Mitgestaltung der durchaus gefährdeten demokratischen Nachkriegsordnung hatten. Oder standen die Kirchen dem freiheitlich-demokratischen Projekt mit ihren alten, konfessionsbelasteten Weltanschauungen und daraus abgeleiteten Machtansprüchen nicht vielmehr erheblich im Wege? Thomas Gauly und an ihn anschließend Thomas Großbölting, aber auch Kristian Buchna haben eindrucksvoll gezeigt, dass die Kirchen erst in den ‚langen 1960er Jahren‘ ihre gegen die Moderne errichteten

 Antonius Liedhegener, „Nachkriegszeit (1945 – 1960)“, in Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum, hg. von Peter Dinzelbacher, Bd. 6/1: 20. Jahrhundert – Epochen und Themen, hg. von Volkhard Krech und Lucian Hölscher, Paderborn: Schöningh 2015, 135– 174, 173. https://doi.org/10.1515/9783110623406-005

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Christoph Kösters

Barrikaden zurückließen und eine demokratie- und pluralitätsfähige Gestalt gewannen.² Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die Entwicklungen der katholischen Kirche. In den letzten Jahren wurde vermehrt über die kirchenpolitische Ereignisgeschichte hinaus der Wandel des Katholischen und seiner Akteure als Teil gesamtgesellschaftlicher Transformationen untersucht und damit griffigen, an Buchtiteln wie „Siegerin in Trümmern“ (van Mehlis/Köhler)³ oder „Machtanspruch und Machtverlust“ (Gauly)⁴ orientierten Formeln die notwendige sozial-, mentalitäts- und kulturgeschichtliche Tiefenschärfe verliehen. Daran anknüpfend sollen im Folgenden wesentliche Befunde im Blick auf die Frage zur Sprache kommen, welche Bedeutung der katholischen Kirche für die entstehende demokratische Kultur der frühen Bundesrepublik zukommt. (1) Zunächst gilt es, dem kirchlichen Selbstverständnis und den damit verbundenen Ordnungsvorstellungen nachzugehen, die die Wahrnehmung und Deutung des Staat-Kirche-Verhältnisses bestimmten. Die sich im Schatten des Kalten Krieges anbahnende deutsch-deutsche Teilung erweiterte im ‚katholischer‘ gewordenen Westen die politischen Handlungsspielräume. Für deren Gestaltung reichten die früheren Formen des politischen Katholizismus schon deshalb nicht mehr aus, weil die mit Flucht und Vertreibung einhergehende Ablösung überkommener konfessioneller Gewissheiten regional mit gegenläufigen, zum Teil erheblichen wechselseitigen Abgrenzungserfahrungen einherging. (2) Vor diesem Hintergrund richtet sich dann das Interesse auf das ‚Katholische Büro‘ als maßgeblicher Schnittstelle der Kirche zum demokratischen Staat. Einerseits war nach 1945 die Vertretung kirchlich-katholischer Interessen konkordatsbedingt auf den vorparlamentarischen Raum begrenzt und infolge der Gründung der interkonfessionellen CDU zu Kompromissen gezwungen. Andererseits traten nun beide Kirchen überhaupt erstmals als eigenständige Akteure im politischen Feld auf. Auf diese Weise blieben aber kirchliche Ordnungsvorstellungen bedeutsam, die politische Kompromissbildungen deutlich erschwerten.

 Vgl. Thomas Gauly, Kirche und Politik in der Bundesrepublik Deutschland 1945 – 1976, Bonn: Bouvier 1990; Thomas Großbölting, Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013; Kristian Buchna, Ein klerikales Jahrzehnt? Kirche, Konfession und Politik in der Bundesrepublik während der 1950er Jahre, Baden-Baden: Nomos 2014.  Siegerin in Trümmern. Die Rolle der katholischen Kirche in der deutschen Nachkriegsgesellschaft, hg. von Joachim Höhler und Damian van Melis, Stuttgart: Kohlhammer 1998.  Thomas Gauly, Katholiken. Machtanspruch und Machtverlust, Bonn: Bouvier 1991. Der Band stellt eine gekürzte Fassung der Dissertation von 1990 dar (Gauly 1990).

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(3) Am Beispiel der Auseinandersetzungen um die Bekenntnisschule bzw. das Elternrecht und ihrer Beilegung in Niedersachsen ist schließlich ein Prozess demokratischer Transformation im Kirche-Staat-Verhältnis zu beobachten, der zur Überwindung der alten katholischen Struktur- und Wahrnehmungsmuster beitrug. Die Anerkennung als konfessionelle Minderheit durch den Staat wurde für die katholische Kirche zu einer vertrauensbildenden Erfahrung, in deren Rahmen frühere Härten und Unerbittlichkeiten in ihrem Verhältnis zum säkularen Staat abgebaut wurden.

1 Nach 1945: Das Ende konfessioneller Gewissheiten, katholische Ordnungsvorstellungen und christlich fundierter Verfassungsstaat Die nach den Schrecken des Krieges europaweit erhoffte neue Hinwendung der Völker zur Religion war in Deutschland bikonfessionell strukturiert. Die sukzessive Abgrenzung der protestantischen Kerngebiete infolge der deutschen Teilung führte in den Westzonen und der frühen Bundesrepublik erstmals zu einer konfessionellen Parität; der Westen erschien ‚katholischer grundiert‘ denn je. In der Schuld- und Entnazifizierungsdebatte beklagten die christlichen Kirchen zwar die Verbrechen des Nationalsozialismus und ihr eigenes Versagen; aber es überwog doch allgemein das Bewusstsein, das bekennende Christentum habe dem irrlichternden neuheidnischen Glauben des Nationalsozialismus letztlich siegreich widerstanden.⁵ Aus Sicht der katholischen Bischöfe schien sich überdies die grundsätzliche Distanz gegenüber dem omnipotenten Staat bewährt zu haben. Dieses auf den Mainzer Bischof von Ketteler als ‚Vorkämpfer‘ kirchlicher Freiheit zurückgeführte katholische Staatsverständnis war während der NS-Zeit zum Ankerpunkt zunächst massiver bischöflicher Kritik an der Verletzung konkordatär verbriefter kirchlicher Rechte geworden; und es hatte schließlich zu einer eindrucksvollen, am biblischen Dekalog orientierten Forderung geführt, die göttlichen und natürlichen Rechte als Grundlage jeder staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung

 Vgl. die knappen Überblicke von Mark Edward Ruff, „Katholische Kirche und Entnazifizierung“, und Karl-Joseph Hummel, „Die Schuldfrage“, in Die katholische Kirche im Dritten Reich. Eine Einführung, 2., aktual. Aufl., hg. von Christoph Kösters und Marc Edward Ruff, Freiburg i. Br.: Herder 2018, 142– 153 u. 154– 170; kritisch dazu Olaf Blaschke, Die Kirchen und der Nationalsozialismus, Stuttgart: Reclam 2014.

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zu verankern.⁶ Schon deshalb erschien die naturrechtliche Fundierung einer christlich zu gestaltenden Nachkriegsordnung unumgänglich.⁷ Das Selbstbild der Vergangenheit und das päpstliche Programm der ‚Katholischen Aktion‘ waren fester Bestandteil einer in Struktur, Selbstverständnis und religiösem Alltag vergleichsweise fest gefügten Kirche: Sofern Bischöfe und Ortsklerus nach 1945 die ihnen durch die „Zusammenbruchsgesellschaft“ (Christoph Kleßmann) zugewiesenen Aufgaben sozialer, karitativer und kurzfristig sogar politischer Ordnungsmacht überzeugend zugunsten des allgemeinen und täglichen Überlebenskampfes ausfüllten, waren sie unumstrittener denn je – was eine zumeist allzu bedenkenlose Ausstellung sogenannter ‚Persilscheine‘ einstatt ausschloss.⁸ Zu den in beiden Konfessionen verbreiteten Erwartungen einer Rechristianisierung Deutschlands und dem öffentlichen Ansehen der Geistlichkeit fügte sich der Eindruck übervoll gedrängter Kirchenräume.⁹ Auf dem Höhepunkt 1949 lag die Teilnahme der bundesdeutschen Katholiken am sonntäglichen Kirchenbesuch bei fast 51 % und an der jährlichen Osterkommunion bei knapp 56 %.¹⁰ Der enorme Zustrom an Flüchtlingen und Vertriebenen füllte allerdings nicht nur die eigenen Kirchenbänke. Er bescherte beiden Kirchen das schleichende Ende der tradierten, regional verwurzelten konfessionellen Gewissheiten. Dieser Prozess verlief schon deshalb besonders vielschichtig, weil er mit wechselseitigen Abgrenzungen zwischen angestammter Konfessionsmehrheit und der zuwandernden neuen Minderheit der vertriebenen ‚Glaubensfremden‘ einherging. Zugleich ließ die alliierte, vorwiegend ökonomischen Erwägungen folgende Neuumschreibung fast sämtlicher Bundesländer geschichtlich gewordene Kon Vgl. Christoph Kösters, „Die deutschen katholischen Bischöfe 1933 – 1945“, in Die katholische Kirche im Dritten Reich, 92– 108.  Rudolf Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht. Das katholische Staatsdenken in Deutschland von der Französischen Revolution bis zum II. Vatikanischen Konzil, Paderborn: Schöningh 2005.  Vgl. Werner K. Blessing, „‚Deutschland in Not, wir im Glauben …‘. Kirche und Kirchenvolk in einer katholischen Region 1933 – 1949“, in Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, hg. von Martin Broszat, Klaus-Dietmar Henke und Hans Woller, München: Oldenbourg 1989, 3 – 111. Zur evangelischen Kirche vgl. Clemens Vollnhals, „Die Evangelische Kirche zwischen Traditionswahrung und Neuorientierung“, in: Ebd., 113 – 167. Zur Wahrnehmung des Katholizismus aus protestantischer Sicht vgl. Martin Greschat, Protestantismus im Kalten Krieg. Kirche, Politik und Gesellschaft im geteilten Deutschland 1945 – 1963, Paderborn: Schöningh 2010, 363 – 368; außerdem Buchna 2014.  Vgl. den Überblick bei Wilhelm Damberg, „An der Jahrhundertwende“, in Im Aufbruch gelähmt? Die deutschen Katholiken an der Jahrhundertwende, hg. von David Seeber, Frankfurt a. M.: Knecht 2000, 9 – 24.  Vgl. Liedhegener 2015, 159.

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fessionsprägungen und Diözesangrenzen außer Acht (u. a. Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und bedingt auch BadenWürttemberg). Man darf mit guten Gründen annehmen, dass die Anfang der 1950er Jahre einsetzende Entkirchlichung eine ihrer Ursachen im „Diaspora-Effekt“¹¹, also der Inferiorität katholischer Flüchtlinge und Vertriebener in dominant protestantischen Gebieten, hatte.¹² Die solche Entwicklungen begleitenden Verlustängste flossen in die zeitweise heftigen Verwerfungen zwischen beiden christlichen Konfessionen ein. Unbeschadet eines neu entstehenden Kirchenbildes (Pius XII: Enzyklika Mystici corporis Christi, 1943) galt im Staat-Kirche-Verhältnis noch immer das ältere, kanonisch verankerte Verständnis der katholischen Kirche als autoritativer Wahrerin der unverrückbaren göttlichen Rechte in Staat und Gesellschaft. Demnach trat die Kirche dem Staat, der als societas perfecta seine Legitimität von Gott erhielt und nicht dem Individuum, sondern dem Gemeinwohl zu dienen hatte, durch die am Naturrecht orientierte vertragliche Ordnung ihrer Beziehungen gegenüber.¹³ Diese Vorstellung wirkte umso nachhaltiger, als sie in immer wieder von neuem aktualisierte historische Vorerfahrungen hinein verwoben war: ‚Inferiorität‘ oder ‚Parität‘, ‚Mischehenstreit‘ oder ‚Kulturkampf‘ waren insbesondere in den westdeutschen Bundesländern mit preußischer Vorgeschichte alles andere als „leere Worthülsen“, wie Kristian Buchna mit Recht hervorgehoben hat.¹⁴ Zusammengefasst und zugespitzt formuliert, drehte sich das katholische Selbstverständnis um zwei Achsen: erstens, göttliches Recht und kirchliche Wahrheit sind nicht demokratisch verhandelbar¹⁵ und zweitens, eine Demokratie innerhalb der Kirche verbietet sich von selbst. Das schloss die Akzeptanz der Demokratie als Herrschaftsform und innerkirchliche Erneuerungen nicht aus, setzte ihnen aber von vornherein klare Grenzen. Notwendig oder auch nur sonderlich wünschenswert war die Demokratie weder nach ‚außen‘ noch nach ‚innen‘.

 Gauly 1990, 73.  Vgl. Michael Hirschfeld, „Alte Diaspora und Neue Diaspora. Die innerkirchliche und gesellschaftliche Rolle der Diasporakatholiken in der Epoche der Industrialisierung und in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg“, Wichmann-Jahrbuch, N.F., Bd. 13, 2014/2015, 177– 198; vgl. auch die methodischen Überlegungen zu einer Erweiterung des Diasporabegriffs bei Christoph Kösters, „Minderheit und Konfession. Einige Überlegungen zur Erforschung der Diaspora in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert“, Wichmann-Jahrbuch, N.F., Bd. 13, 2014/2015, 9 – 39.  Vgl. Christoph Link, Kirchliche Rechtsgeschichte. Kirche, Staat und Recht in der europäischen Geschichte von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert. Ein Studienbuch, 3., erw. u. erg. Aufl., München: C.H. Beck 2017, 252; ausführlich Matthias Scholz, Streit um die Freiheit in der Moderne. Kirchen, Katholiken und FDP (1948 – 1976), theol. Diss. (Masch.Schr.), Münster 1994, 79 – 87.  Vgl. Buchna 2014, 83.  Vgl. ebd., 185.

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Antonius Liedhegener hat deshalb zutreffend auf die heute weithin vergessene Tatsache aufmerksam gemacht, dass die „Vorbehalte gegenüber Demokratie und Pluralismus in den Reihen der Kirchen […] für die zweite Demokratiegründung in Deutschland durchaus ein Risiko“¹⁶ bargen. Umso bemerkenswerter erscheint das für deren Stabilisierung und Anerkennung entscheidende Engagement katholischer Laien bei der Gründung der beiden neuen konfessionsübergreifenden christlich-konservativen Parteien. Die erfolgreiche, bis in die 1960er Jahre reichende Einbindung der katholischen wie protestantischen Wählerklientel und die politische Einhegung der konfessionsbelasteten Konflikte um ‚Inferiorität‘ und ‚Imparität‘ erwiesen sich im Nachkriegsdeutschland als Glücksfall für die politische Kultur, für die Integration der vormals katholischen Minorität und für die demokratische Partizipation beider Kirchen. Spannungsfrei indes verlief dieser Prozess keineswegs.¹⁷ Die innere Geschlossenheit der katholischen Kirche und der konfessionell übergreifende politische Aktionsradius des organisierten Laienkatholizismus blieben nicht ohne Eindruck auf die evangelischen Kirchen. Ihr kirchenpolitischer Beauftragter, Hermann Kunst, konstatierte 1950 ebenso anerkennend wie selbstkritisch: „Überhaupt verfahren die Katholiken auch in kleinen Dingen nach der Erkenntnis, daß Geist und Gestalt unlöslich zusammen gehören.“¹⁸ Es verwundert daher kaum, dass der kirchenpolitische Druck auf die Verhandlungen des Parlamentarischen Rates 1948 von der katholischen Kirche und namentlich von Prälat Böhler ausging.¹⁹ Davon wird gleich die Rede sein. Ein katholischer Alleingang war es dennoch nicht. Darauf hat Paul Mikat mit Blick auf die gemeinsame Aussprache hingewiesen, die zwischen Kirchenvertretern beider Konfessionen und Politikern der im Parlamentarischen Rat vertretenen Parteien Mitte Dezember 1948 stattfand.²⁰ Es war deshalb kennzeichnend, dass der schließlich angenommene Vorschlag, die Artikel 136 – 139 und 141 der Weimarer Reichsverfassung dem Grundgesetz zu inkorporieren, von dem lutherischen Liberalen Theodor Heuss und dem katholischen Christdemo-

 Liedhegener 2015, 148.  Vgl. Greschat 2010.  Vgl. Buchna 2014, 147.  Vgl. insbesondere die Quellenedition Akten deutscher Bischöfe seit 1945. Westliche Besatzungszonen und Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1948/1949, bearb. von Annette Mertens, Paderborn: Schöningh 2010.  Paul Mikat, „Verfassungsziele der Kirchen unter besonderer Berücksichtigung des Grundgesetzes“, in Christen und Grundgesetz, hg. von Rudolf Morsey und Konrad Repgen, Paderborn: Schöningh 1989, 33 – 69, 42.

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kraten Adolf Süsterhenn ausging:²¹ Nach den Gewalterfahrungen des NS-Regimes fiel neues Licht auf den bereits erreichten „Kulturkompromiss“²² der Weimarer Verfassung: Das Verbot der Staatskirche, das kirchliche Selbstbestimmungsrecht „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“ und der Korporationsstatus der Kirchen als Körperschaften des Öffentlichen Rechts (Art. 137) wurden zusammen mit der Zusicherung einer Reihe kirchlicher Freiheiten verankert (Art. 137, 6: Besteuerungsrecht „nach Maßgabe der landesrechtlichen Bestimmungen“, Art. 138, 1: Staatsleistungen, Art. 138, 2: Kirchengutsgarantie, Art. 139: Schutz des Sonntags und der staatlich anerkannten Feiertage); die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit als individuelles Bürgerrecht (Art. 136) und die Garantie des Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach (Art. 149) wurden in den Grundrechtskanon der neuen Verfassung (Art. 4 und Art. 7 GG) übernommen. Wie schon 1919 fand auch drei Jahrzehnte später das Recht der Eltern, die Konfession der öffentlichen Volksschule, die ihre Kinder besuchen, zu bestimmen, keine Aufnahme in die Verfassung. Da das Reichsschulgesetz (Art. 146, 2 WRV) seit 1919 nicht zustande gekommen war, galt aufgrund einer Bestandsklausel (Art. 174 WRV) auch nach 1949 die bestehende Rechtslage des Volksschulunterhaltungsgesetzes aus dem Jahre 1906. Die Frage, wie dies mit der Fortgeltung der im Reichskonkordat gewährleisteten „Beibehaltung und Neueinrichtung katholischer Bekenntnisschulen“ zu vereinbaren sei, hatte der Kölner Kardinal Frings bereits 1948 gegenüber dem Präsidenten des Parlamentarischen Rates Adenauer als drängendes Problem angesprochen.²³ Die Frage des Elternrechts blieb aus katholischer Sicht eine Wunde, die so sehr schmerzte, dass der münsterische Bischof Michael Keller sogar erwog, der neuen Verfassung die Zustimmung zu verweigern.²⁴

 Vgl. Link 2017, 247. Zu Heuss’ Vorstellungen vgl. Kristian Buchna, Im Schatten des Antiklerikalismus. Theodor Heuss, der Liberalismus und die Kirchen, Stuttgart: Stiftung BundespräsidentTheodor-Heuss-Haus 2016; zu Süsterhenn vgl. Christoph von Hehl, Adolf Süsterhenn (1905 – 1974). Verfassungsvater, Weltanschauungspolitiker, Föderalist, Düsseldorf: Droste 2012.  Vgl. Link 2017, 198.  Frings an Adenauer, 25.10.1948, in Akten deutscher Bischöfe seit 1945. Westliche Besatzungszonen und Gründung der Bundesrepublik 1948/49, Nr. 113, 338 – 342; vgl. auch Mikat 1989, 51– 54.  Bericht Böhlers vom 09.05.1949, in Akten deutscher Bischöfe seit 1945. Westliche Besatzungszonen und Gründung der Bundesrepublik 1948/49, Nr. 237, 623 – 632. Zum erweiterten Kontext instruktiv Wilhelm Damberg, „Die Säkularisierung des Schulwesens am Beispiel der Bekenntnisschule in Westfalen 1906 – 1968“, in Politische Zäsuren und gesellschaftlicher Wandel im 20. Jahrhundert. Regionale und vergleichende Perspektiven, hg. von Matthias Frese und Michael Prinz, Paderborn: Schöningh 1996, 631– 647.

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2 Neue Wege katholisch-politischer Interessenvertretung Zu Recht hat man darauf hingewiesen, dass der unrühmliche Untergang der Zentrumspartei und das im Reichskonkordat (Art. 32) für den katholischen Klerus festgeschriebene parteipolitische Betätigungsverbot nach 1945 neue Wege der katholisch-politischen Interessenvertretung erforderlich machten.²⁵ In der katholischen Kirche war deren Organisierung und Institutionalisierung sowie deren Verflechtung in den politischen Vorraum der Bonner Republik mit dem Namen des Kölner Prälaten Wilhelm Böhler (1891– 1958) verbunden.²⁶ Der enge kirchenpolitische Berater des Kölner Kardinals Frings sah die von Konrad Adenauer angeführte interkonfessionelle, in ihren westlichen, um das entstehende Regierungszentrum Bonn gruppierten Landesverbänden de facto dominant katholische CDU geradezu als natürlichen Bündnispartner an. Kristian Buchna ist in seiner Kritik zuzustimmen, die anekdotenbeladene, persönliche und kleinräumlich-rheinische Verbindung zwischen ‚Köln‘ und ‚Bonn‘ in ihrer politischen Tragweite nicht zu überschätzen;²⁷ allerdings sind die Erfolge Böhlers beim agenda setting der Unionsfraktion nicht zu übersehen. Böhler band seine von tiefer Überzeugung getragene Strategie, eine weltanschauliche Front der christlichen Politiker gegen den Einfluss liberaler, sozialistischer und kommunistischer ‚Feinde‘ zu bilden, an die innere Geschlossenheit von Bischöfen, Laienapostolat und katholischem Kirchenvolk zurück. Diese sehr politisch gedachte und ausgesprochen kampagnenfähige Organisation der ‚Katholischen Aktion‘ (sog. ‚Kölner Modell‘) bildete die organisatorische Plattform, um weitgehende staatskirchenrechtliche Absicherungen in das Grundgesetz und in die nordrheinwestfälische Landesverfassung einbringen zu können.²⁸ Angesichts der starken gesellschaftlichen Stellung beider christlicher Kirchen als moralische Institutionen und einem breiten Konsens christlicher Naturrechtsvorstellungen nach dem Ende der totalitären NS-Herrschaft waren die gesellschaftlichen und politischen

 Vgl. Gauly 1990, 119 ff.; Buchna 2010, 136 – 139; Liedhegener 2015, 167 f.; ders., Macht, Moral und Mehrheiten. Der politische Katholizismus in der Bundesrepublik Deutschland und den USA seit 1960, Baden-Baden: Nomos 2006, 313 – 333.  Eine politische Biografie Böhlers ist noch immer ein Desiderat. Die folgenden Ausführungen stützen sich auf die Ergebnisse der vorzüglichen Studie Buchna 2014.  Vgl. Buchna 2014, 145.  Vgl. Link 2017, 245 – 247. Zur ‚Katholischen Aktion‘ vgl. Klaus Große Kracht, Die Stunde der Laien. Katholische Aktion in Deutschland im europäischen Kontext 1920 – 1960, Paderborn: Schöningh 2016.

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Rahmenbedingungen günstiger als je zuvor. Zu Böhlers Bündnispartner auch im Geiste wurde der gebürtige Kölner und rheinland-pfälzischen Justiz- und Kultusminister (bis 1951) Adolf Süsterhenn. Dass schlussendlich Elternrecht und katholische Bekenntnisschule sowohl 1949 in der rheinland-pfälzischen Landesverfassung als auch im 1952 verabschiedeten nordrhein-westfälischen Schulgesetz festgeschrieben wurden, dürfte der Kölner Prälat als den größten kirchenpolitischen und persönlichen Erfolg seines lebenslangen Kampfes für eine den katholischen Glauben sichernde Schulerziehung angesehen haben.²⁹ Dass SPD und FDP solche katholische Interessenvertretung mit dem alten Kampfbegriff des ‚Klerikalismus‘ anprangerten, veranschaulichte, wie tief ihr je eigenes programmatisches Selbstverständnis ebenfalls noch von alten weltanschaulichen Positionen dominiert war. Der Klerikalismus-Vorwurf verdeckte somit, dass sich mit dem Auftritt beider Kirchen als eigenständiger Akteure im politischen Feld tatsächlich institutionell Neues ereignete. Die Einrichtung des sogenannten ‚Katholischen Büros‘ als Informations- und Verhandlungsbüro zwischen katholischem Episkopat und Regierung reichte in ihren Anfängen bis in die NS-Zeit zurück.³⁰ In der Hochphase der kirchenpolitischen Konflikte hatten die Bischöfe in Berlin ein sogenanntes ‚Commissariat der Fuldaer Bischofskonferenz‘ eingerichtet, ohne allerdings den mit seiner Leitung beauftragten Weihbischof Heinrich Wienken mit eindeutigen Verhandlungskompetenzen auszustatten.³¹ Während Wienken nach 1945 in Berlin verblieb und seine kirchenpolitischen Initiativen bei den sowjetischen Besatzungsbehörden vom dortigen Berliner Kardinal von Preysing zunehmend unterbunden wurden,³² verlagerte  Vgl. Buchna 2014, 410.  Vgl. Florian Ganslmeier, Katholische Interessenvertretung im pluralistischen Staatswesen. Die ‚katholischen Büros‘ als Verbindungsstellen zwischen Staat und Kirche, Münster: Ludgerus 2005. In der evangelischen Kirche blieb nach 1945 die Berufung eines EKD-Bevollmächtigten lange umstritten. Erst im Oktober 1949 begann Hermann Kunst mit dem Aufbau eines entsprechenden Bonner Büros; vgl. Buchna 2014, 276 – 299; vgl. auch Hermann Kunst, „Verbindungsstellen zwischen Staat und Kirchen. Evangelische Kirche“, in Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, hg. von Ernst Friesenhahn und Ulrich Scheuner, Berlin: Duncker & Humblot 1975, 273 – 283.  Vgl. Martin Höllen, Heinrich Wienken, der ‚unpolitische Kirchenpolitiker‘. Eine Biographie aus drei Epochen des deutschen Katholizismus, Mainz: Grünewald 1981; zusammenfassend zuletzt Christoph Kösters, Art. „Heinrich Wienken“, in Neue Deutsche Biographie, Bd. 27 (im Druck).  Vgl. Wolfgang Tischner, Katholische Kirche in der SBZ/DDR 1945 – 1951. Die Formierung einer Subgesellschaft im entstehenden sozialistischen Staat, Paderborn: Schöningh 2001. Zur Geschichte der katholischen Kirche in der DDR vgl. Katholische Kirche in SBZ und DDR, hg. von Christoph Kösters und Wolfgang Tischner, Paderborn: Schöningh 2005. Zur Beurteilung von Preysings vgl. auch Josef Pilvousek, „… eine kaum zu bewältigende Aufgabe. Konrad Graf von Preysing 1850 – 1950. Bischof von Berlin 1935 – 1950. 1946 Kardinal“, in Zwischen Seelsorge und Politik. Katholische

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sich mit Beginn der Grundgesetz-Beratungen im Oktober 1948 und der Gründung beider deutschen Teilstaaten im Mai bzw. Oktober 1949 der politische Schwerpunkt dieser kirchenpolitischen Schnittstelle von Berlin nach Bonn. Für Böhlers Aktivitäten im unmittelbaren Umfeld des Parlamentarischen Rates und später des Bundestages fehlte die rechtliche Grundlage.³³ Wie sehr damit aber innerkirchlich ein neuer institutioneller Akzent gesetzt war, war nicht zuletzt an der spürbaren Reserve des päpstlichen Nuntius abzulesen, der seine spezifische diplomatische Zuständigkeit keinesfalls berührt sehen wollte.³⁴ Unter Böhlers tatkräftiger Führung entwickelte sich das ‚Katholische Büro‘ rasch zu einer bedeutsamen Einrichtung, mit der anders als bei den christdemokratischen Parteipolitikern kirchenamtliches und kirchenjuridisches Denken in den parlamentarischen Vorfeldraum Einzug erhielt. Heinz Hürten hat deshalb nicht zu Unrecht von einer „Verkirchlichung“³⁵ des Katholizismus gesprochen. Im Unterschied zu der kleinen Zahl der ‚Zentrums-Prälaten‘ im Deutschen Reichstag und den Landtagen vor 1933 blieb Böhlers Aktionsradius nach 1945 auf ebendiesen Vorfeldraum begrenzt. Diesen gestaltete die ‚graue kirchenpolitische Eminenz‘ allerdings virtuos und höchst einflussreich. Der Vermittlungs- und Gesprächsauftrag durch den Episkopat verschaffte ihm unmittelbaren Zugang zu höchsten Bonner Regierungs- und Parteistellen. Deren katholische Vertreter nahm er in sein dicht in den kirchlichen Binnenraum hinein geknüpftes Netzwerk auf. Und dies wiederum verlieh der mit seiner Person verbundenen Vertretung kirchenpolitischer Interessen entscheidendes Gewicht – nach innen wie nach außen.³⁶ Dieses neue, sehr entschiedene Agieren einer kirchenamtlichen Stelle auf dem Feld der Kirchenpolitik musste allerdings umso mehr zur ernsthaften Herausforderung für das Gespräch werden, je länger sie im politischen Handeln die ‚traditionelle‘ Einheit von Kirche und Katholizismus voraussetzte und darauf verzichtete, die starken gesellschaftlichen Veränderungen in Ehe, Familie und Bildung in einer Weise einzuholen, die konfessionsübergreifend und damit auch parlamentarisch durchsetzbar war.

Bischöfe in der NS-Zeit, hg. von Maria Anna Zumholz und Michael Hirschfeld, Münster: Aschendorff 2017, 77– 106.  Vgl. Buchna 2014, 396.  Vgl. ebd., 334– 336.  Vgl. Heinz Hürten, „Zukunftsperspektiven kirchlicher Zeitgeschichtsforschung“, in Der deutsche Katholizismus in der zeitgeschichtlichen Forschung, hg. von Ulrich von Hehl und Konrad Repgen, Mainz: Grünewald 1988, 97– 106.  Cum grano salis trifft Ähnliches auch auf Hermann Kunst als kirchenpolitischem Beauftragten der EKD zu; vgl. Buchna 2014, 232– 276.

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Ein vorsichtiger Wandel setzte nach Böhlers plötzlichem Tod 1958 ein, als Geistliche im ‚Katholischen Büro‘ das Steuer übernahmen, die durch Erfahrungen als Jugendseelsorger in der NS-Zeit und sogenannte ‚Priestersoldaten‘ geprägt waren. Berührungsängste zu anderen Konfessionen waren ihnen fremd. Sie begriffen ihren kirchlichen Auftrag in der Politik stärker als missionarischen Dienst; und sie verbanden mit ihrer Generation die Vorstellung einer ‚Entideologisierung‘ des Politischen.³⁷ Mit Wilhelm Wissing (1916 – 1996)³⁸, Heinrich Tenhumberg (1915 – 1979)³⁹ und Wilhelm Wöste (1911– 1991)⁴⁰ kamen überdies gleich drei Nachfolger Böhlers aus dem Bistum Münster. Dort hatte man den einsetzenden fundamentalen Umbruch der deutschen Nachkriegsgesellschaft in seinen Ausmaßen frühzeitig erfasst. Unter Führung Bischof Kellers suchte man der neuen Entwicklung seelsorglich mit einem von der Pfarrei ausgehenden missionarischen Konzept eines auf das ‚Sozialmilieu‘ bezogenen Laienapostolats zu begegnen⁴¹ – zweifellos ein anderes Verständnis der ‚Katholischen Aktion‘ als jene vom Imperativ der Geschlossenheit geprägte Strategie Böhlers. Vor diesem Hintergrund mag es kaum überraschen, dass 1959 mit Johannes Niemeyer ein junger, kundiger Jurist als Berater und Stellvertreter Wissings in das ‚Katholische Büro‘ eintrat, der ebenfalls aus dem Bistum Münster stammte. Für den nach Böhlers Tod eingeleiteten Paradigmenwechsel gewann diese Personalie der ‚zweiten Reihe‘ eine nicht zu unterschätzende Bedeutung, wie insbesondere im Kontext des sogenannten Konkordatsstreits in Niedersachsen deutlich werden sollte.

 Vgl. Buchna 2014, 414 f., der die entsprechende Zuschreibung Tenhumbergs an Böhler zu Recht hinterfragt. Zur zeitgenössischen Diskussion vgl. auch Thomas Großmann, Zwischen Kirche und Gesellschaft. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken 1945 – 1970, Mainz: Grünewald 1991, 291– 293.  Vgl.Wilhelm Wissing, Gott tut nichts als fügen. Erinnerungen an ein Leben in bewegter Zeit, hg. von Karl R. Höller, Mainz: Grünewald 2001; Florian Ganslmeier, Art. „Wissing“, in Biographischbibliographisches Kirchenlexikon, Bd. XXV (Ergänzungen XII), Hamm: Bautz 2005, 1525 – 1529.  Vgl. Wilhelm Damberg, „Heinrich Tenhumberg (1915 – 1979)“, in Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem deutschen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 9, hg. von Jürgen Aretz, Rudolf Morsey und Anton Rauscher, Münster: Aschendorff 1999, 135 – 148; Ekkart Sauser, Art. „Tenhumberg“, in Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. XX (Ergänzungen VII), Hamm: Bautz 2002, 1449 – 1451.  Vgl. Bernhard Hachmöller, „Wilhelm Wöste (1911– 1993). Weihbischof von Münster“, in Der katholische Klerus im Oldenburger Land. Ein Handbuch, hg. von Willi Baumann und Peter Sieve, Münster: dialog 2006, 568 – 575; vgl. auch Wilhelm Wöste, „Verbindungsstellen zwischen Staat und Kirchen. Katholische Kirche“, in Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 285 – 297.  Vgl. Wilhelm Damberg, Abschied vom Milieu? Katholizismus im Bistum Münster und in den Niederlanden 1945 – 1980, Paderborn: Schöningh 1997 und Große Kracht 2016.

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3 Vom Streit zum Dialog über Elternrecht und Bekenntnisschule in Niedersachsen In der jungen Bundesrepublik wurde Niedersachsen nach 1954 für mehr als ein Jahrzehnt zum vorrangigen Schauplatz des katholischen Streits um Elternrecht bzw. Bekenntnisschule – und schließlich von dessen, vom kompromissbereiten Dialog getragener verfassungsstaatlicher Überwindung. Mit dem Abschluss eines Konkordats zwischen dem Land Niedersachsen und dem Heiligen Stuhl im Februar 1965 folgte die katholische Kirche nicht nur einem staatskirchenrechtlichen Pfad wechselseitiger Verständigung, den die evangelischen Landeskirchen Niedersachsens bereits im März 1955 durch den Abschluss des sogenannten ‚Loccumer Vertrags‘ eingeschlagen hatten.⁴² Vielmehr erscheint rückblickend der gesamte Weg, dessen Anfänge bis in die Tage der Verabschiedung des Grundgesetzes zurückreichen, als bedeutsame demokratische Lernerfahrung des katholischen Episkopats.⁴³ Entscheidend wurde die staatliche Zusage, die religiösen Rechte der katholischen Minderheit im Schulalltag zu verwirklichen und das beidseitige Versprechen, in Konfliktfällen nicht den offenen Streit, sondern die Verständigung zu suchen. Das durch die britische Besatzungsmacht aus der aufgelösten preußischen Provinz Hannover und den Ländern Oldenburg, Braunschweig und SchaumburgLippe zusammengefügte Bundesland verband ein dominant evangelisches Bekenntnis der vorrangig lutherischen Landeskirchen. Hannover bildete darüber hinaus das institutionelle Zentrum der 1945 als gemeinsames organisatorisches Dach der Gliedkirchen errichteten Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Bis 1970 gehörten 75 % der niedersächsischen Bevölkerung den evangelischen Landeskirchen an.⁴⁴ Die Katholiken bildeten mit nahezu 20 % die weitaus größte religiös-konfessionelle Minderheit. Ihre Kirchenführung stritt von Beginn an mit allen ihr zu  Zum Loccumer Vertrag vgl. Joseph Listl, Die Konkordate und Kirchenverträge in der Bundesrepublik Deutschland. Textausgabe für Wissenschaft und Praxis, Bd. 2, Berlin: Duncker & Humblot 1987, 108 – 132; vgl. auch Jörg Ohlemacher, „Der Loccumer Vertrag – der erste Staatskirchenvertrag in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg“, Kirchliche Zeitgeschichte, Bd. 3, 1990, 245 – 275.  Zu den Anfängen des Konkordatsstreits und seiner Entwicklung bis zur Anrufung des Bundesverfassungsgerichts 1955 vgl. Konrad Repgen, „Der Konkordatsstreit der fünfziger Jahre. Von Bonn nach Karlsruhe (1949 – 1955/57)“, Kirchliche Zeitgeschichte, Bd. 3, 1990, 201– 245.  Ein zusammenfassender knapper Überblick von Günter Mann, „Niedersachsen“, in Handbuch der deutschen Bundesländer, hg. von Falk Esche und Jürgen Hartmann, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1990, 273 – 307.

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Gebote stehen Mitteln für eine öffentliche, d. h. staatlich getragene und finanzierte, katholische, also hauptsächlich für katholisch getaufte Kinder und Lehrer bestimmte Bekenntnisschule und das damit verknüpfte Elternrecht, über die schulisch-religiös gebundene Erziehung ihrer Kinder selbst zu entscheiden. Beteiligt waren die Bischöfe von Hildesheim,⁴⁵ Osnabrück,⁴⁶ Münster⁴⁷ und sogar Paderborn,⁴⁸ deren Bistümer zu unterschiedlich großen Teilen auf niedersächsischem Territorium lagen und ihre je eigene, bis weit ins 19. Jahrhundert zurückreichende Konfliktgeschichte mit dem Staat einbrachten. Besonders sensibel war der zum Bistum Münster gehörige, vormals oldenburgische Bistumsteil, dessen ländliche, territorial- und konfessionsgeschichtlich bedingt fast ausnahmslos katholische Bevölkerung eine auch kirchlich weitgehend eigenständige Enklave in der niedersächsischen Diaspora bildete.⁴⁹ Da innerhalb der Fuldaer Bischofskonferenz das Schulreferat in seinen Händen lag, war überdies der Aachener Bischof Johannes Pohlschneider involviert, der mit den niedersächsischen Verhältnissen aus eigener Erfahrung bestens vertraut war.⁵⁰ Unterstützt durch das ‚Katholische Büro‘ in Bonn stritten die Bischöfe nicht nur in Niedersachsen für die Bekenntnisschule in einer unerbittlichen Weise, die aus heutiger Sicht kaum noch verständlich erscheint. Wilhelm Damberg hat jüngst darauf aufmerksam gemacht, wie eng gerade die Bekenntnisschule in die alltägliche, religiös-konfessionelle Lebenswelt der Katholiken hinein verwoben war.⁵¹ Das ganze Leben stand unter dem vorrangigen Anspruch der Religion, aber nicht als persönlicher Entscheidung, sondern unter der Anleitung der Kirche.⁵² Diese verstand ihre Verkündigung, ihre Sakramente und ihre Sozial- und Morallehre nicht als Angebot, sondern als lebensentscheidende Notwendigkeit. Die bis in die Alltagspraxis affektiv verankerte Einheit von Ehe, Familie und Schule

 Godehard Machens (1934– 1956) und Heinrich Maria Janssen (1957– 1982); vgl. Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1945 – 2001. Ein biographisches Lexikon, hg. von Erwin Gatz, Berlin: Duncker & Humblot 2002, 262– 267.  Hermann Wilhelm Berning (1914– 1955) und Hermann Wittler (1957– 1987); vgl. ebd., 422– 430.  Michael Keller (1947– 1961) und Joseph Höffner (1962– 1969); vgl. ebd., 408 – 411 u. 290 – 295.  Lorenz Kardinal Jaeger (1941– 1973); vgl. ebd., 439 f.  Zur Geschichte vgl. Christian Gerdes, Das Bischöflich Münstersche Offizialat zu Vechta. Ein kirchliches Amt sui generis, Münster: Aschendorff 2010.  Von 1940 bis 1948 war Johannes Pohlschneider bischöflicher Offizial in Vechta, bevor ihn Bischof Keller zu seinem Generalvikar berief; vgl. August Brecher, Bischof einer Wendezeit der Kirche. Dr. Dr. Johannes Pohlschneider (1899 – 1981), Aachen: Einhard 1997, 22– 35.  Vgl. Wilhelm Damberg, „Bildung, Schule und katholische Identität im 20. Jahrhundert“, Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte, Bd. 37, 2018, 113 – 124.  Vgl. Scholz 1994.

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war nicht nur naturrechtlich begründet; sie war seit 1917 auch kirchenrechtlich kodifiziert.⁵³ Die gesetzliche Einführung anderer Schulformen, zumal der neutralen Gemeinschaftsschule, konnte deshalb kaum anders denn als kulturpolitische Bedrohung der eigenen katholischen Identität gedeutet werden. Dem galt es durch entsprechende, den Staat rechtlich bindende Abwehrmaßnahmen entgegenzutreten. Hier hatte der bereits erwähnte lebenslange Kampf Böhlers seinen politischen wie persönlichen Ort. Die Weimarer Reichsverfassung hatte vorbehaltlich eines Reichsschulgesetzes (Art. 174) ein organisch zu gestaltendes Schulwesen vorgesehen, und zwar ausdrücklich unter Absehung des elterlichen Religionsbekenntnisses. Eine Vorstellung darüber, wie dies in der konfessionell zerklüfteten Schullandschaft Deutschlands umgesetzt werden könnte, war allerdings weder 1919 noch in den folgenden Jahren entwickelt worden. Dass es ausgerechnet im 1933 ohne parlamentarische Basis geschlossenen Reichskonkordat gelang, die Bekenntnisschule zu sichern, hat der Staatskirchenrechtler Alexander Hollerbach zutreffend als „genetische Last“⁵⁴ bezeichnet. In der Tat bildeten seitdem die schulpolitischen ‚Kulturkampf-Konflikte‘ einen festen Bestandteil des katholischen Gedächtnisses, das sich in die Distanz gegenüber dem als feindlich empfundenen säkularen Staat einfügte. Die nur wenige Jahre später eintretende Erfahrung, dass das NS-Regime den konkordatär vereinbarten Schutz vollständig missachtete und gewaltsam die Deutsche Einheitsschule durchsetzte, hat nach 1945 nicht nur Böhlers rastloses Bemühen um eine Restitution des religiös determinierten Elternrechts verstärkt. ⁵⁵ Doch während der Religionsunterricht als Teilgrundrecht staatlich verantworteter Schulbildung im Grundgesetz (Art. 7, 3) verankert wurde, scheiterten sämtliche Versuche Böhlers und der katholischen Bischöfe, eine verfassungsrechtlich bestimmte Mitwirkung der Eltern an der konfessionellen Ausrichtung der öffentlichen Schule zu erreichen.⁵⁶ In seiner mit „Klarstellungen“ über-

 „Nach can. 1374 CIC/1917 durften katholische Kinder grundsätzlich keine akatholischen Schulen, religionslosen Schulen oder Simultanschulen besuchen; Ausnahmen waren an strikte Vorgaben gebunden“; vgl. Ansgar Hense, „60 Jahre Konkordatsurteil des Bundesverfassungsgerichts. Bausteine zur Rekonstruktion des Kontextes und seine Folgewirkungen“, Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, N.F., Bd. 65, 2017, 357– 392, 362.  Alexander Hollerbach, Art. „Reichskonkordat (II.)“, in Staatslexikon, Bd. IV, 7. Aufl., Freiburg i. Br.: Herder 1988, 789 – 792, 791.  Zu den schulpolitischen Auseinandersetzungen in Oldenburg während der NS-Zeit und ihrer Wirkungsgeschichte vgl. Joachim Kuropka, „Das katholische Schulwesen im Wiederaufbau 1945 – 1960“, in Handbuch katholische Schule, Bd. 3: Zur Geschichte des katholischen Schulwesens, hg. von Rainer Illgner, bearb. von Christoph Kronabel, Köln: Bachem 1992, 259 – 303.  Vgl. dazu ausführlich Akten deutscher Bischöfe seit 1945. Westliche Besatzungszonen und Gründung der Bundesrepublik 1948/1949.

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schriebenen, auf den Tag vor der ersten Bundestagswahl am 14. August 1949 datierten Stellungnahme für die deutschen Bischöfe konstatierte Böhler: Ich muß feststellen: in Fragen der Bekenntnisschule, des Elternrechtes und des Konkordates steht die SPD im krassen Gegensatz zum katholischen Standpunkt. Und niemand wird daran zweifeln, daß sie auch versuchen wird, im politischen Leben ihren Standpunkt durchzusetzen, soweit es ihr möglich sein wird. Die SPD lehnt die Bekenntnisschule ab, obwohl die katholischen Eltern und die katholischen Bischöfe sie verlangen. Die SPD will die Simultanschule als staatliche Zwangsschule, auch wenn das Elternrecht dabei verletzt wird. Die SPD versucht es auf diese und jene Weise, an den Verpflichtungen des Reichskonkordates vorbeizukommen.⁵⁷

Gleichwohl handelte der Kölner Prälat mit Augenmaß, als es dann darum ging, den Episkopat für die Zustimmung zu einem Grundgesetz ohne Elternrecht zu gewinnen.⁵⁸ Dies umso mehr, als auch die SPD ihre schulpolitischen Vorstellungen erst noch von ideologischer Patina befreien musste. Die im Juni 1950 verabschiedete Verfassung Nordrhein-Westfalens trug hingegen deutlich Böhlers Handschrift: „(1) Die Volksschulen sind Bekenntnisschulen, Gemeinschaftsschulen oder Weltanschauungsschulen. […] (3) Die Wahl der Schulart steht den Erziehungsberechtigten zu. […] (4) Die Lehrer müssen die persönlichen und sachlichen Voraussetzungen erfüllen, die sich aus dem Charakter der einzelnen Schulart ergeben.“⁵⁹ Erledigt waren Bekenntnisschul- und Elternrechtsfrage damit keineswegs. Bereits 1954 brachen die Gegensätze erneut auf, als das angekündigte niedersächsische Schulgesetz zu einem Briefwechsel zwischen dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Niedersachsens, Hinrich W. Kopf, auf der einen und den Bischöfen Berning, Machens, Keller und Jaeger auf der anderen Seite führte. Die außergewöhnlich scharfe Tonlage zeigte, wie sehr die schulpolitische Auseinandersetzung „nicht nur von grundsätzlichen Positionen, sondern von grundsätzlichem Unverständnis für die Sichtweise des jeweiligen Gegners geprägt war und welchen emotionalen Stellenwert die Schulfrage für die katholische Kirche hatte“⁶⁰. Während z. B. in Nordrhein-Westfalen nach der Bekenntnisschule nunmehr auch die finanzielle Grundlage der Privatschulen im ganzen habe ge-

 Stellungnahme Böhlers vom 13.08.1949, in: Ebd., Nr. 282, 744.  Zur SPD vgl. Stefan Ummenhofer, Hin zum Schreiten Seit’ an Seit’? – SPD und katholische Kirche seit 1957, Berlin: Logos 2000.  Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 28.06.1950, Art. 12; abrufbar unter www. verfassungen.de/nrw/index.htm (Zugriff: 17.03. 2019); vgl. auch Buchna 2014, 411.  Annette Mertens, „Einleitung“, in Akten deutscher Bischöfe seit 1945. Bundesrepublik Deutschland 1950 – 1955, Paderborn 2017, 16.

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sichert werden können, herrsche in Niedersachsen „noch heller Kulturkampf“, stellte der Kölner Kardinals Frings in seinem Lagebericht vor der Fuldaer Bischofskonferenz Ende August 1954 fest.⁶¹ Eine letzte Eskalationsstufe war erreicht, als sich sämtliche – religiöse, schulpolitische und historische – katholische Motivstränge 1955 zu einer Verfassungsklage der Bundesregierung gegen das Bundesland Niedersachsen verbanden.⁶² Die Frage, ob die SPD-geführte niedersächsische Landesregierung 1954 mit ihrer Entscheidung, landesweit die Gemeinschaftsschule einzuführen, die konkordatsrechtlich vereinbarte Sicherung der katholischen Bekenntnisschule missachtet habe, beantworteten die Karlsruher Richter 1957 in doppelter Weise: Sie erkannten die Fortgeltung des Reichskonkordats als einen die Bundesrepublik völkerrechtlich bindenden Vertrag an, was dem mit der Klage verbundenen strategischen Interesse der Adenauer-Regierung entsprach. Der katholischen Kirche hingegen wiesen die Bundesverfassungsrichter den Weg der Verhandlungen mit dem niedersächsischen Staat, indem sie die in der föderalen Ordnung der Bundesrepublik grundgelegte Hoheit der Länder in Kulturfragen unterstrichen.⁶³ Auch jene, die gesellschaftliche Öffentlichkeit polarisierende Strategie Böhlers, das katholische Kirchenvolk für die Sache des Elternrechts zu mobilisieren, war an seine Grenzen gestoßen: Als 1954 in der Landeshauptstadt Hannover 60.000 und im emsländischen Lingen gar 70.000 Katholiken gegen die Einführung der Gemeinschaftsschule demonstrierten, stand dies bereits in eigentümlicher Spannung zu dem in der Gesamtgesellschaft und auch unter den Katholiken verbreiteten Wunsch, ältere konfessionelle Schranken um den schulischen Alltag zu überwinden. „Man soll keine Gegensätze schaffen“, begründeten die meisten Teilnehmer einer Umfrage bereits 1953 ihr Votum zugunsten der Gemeinschaftsschule.⁶⁴ Nach den emotional aufgeladenen Demonstrationen und Debatten der zurückliegenden Jahre galt es nunmehr, einen staatskirchenrechtlichen Kompromiss zu finden; es ging um kaum weniger als den Dialog zwischen den weltanschaulichen Gegnern. Die katholischen Bischöfe betraten den dornenreichen Weg demokratischer Lernerfahrungen. Wie tief die beidseitigen Verletzungen und katholischerseits die Enttäuschung über das BVerfG-Urteil saßen, machten die 1957 noch von Böhler aufgenommenen und nach seinem Tod vom münsterischen Bischof Keller fortgeführten Sondierungen deutlich. Sie waren von wechselseitiger Intransigenz bestimmt. Erst 1960 kamen die direkten Gespräche der niedersächsischen Regierung mit    

Referat Frings‘ auf der Fuldaer Bischofskonferenz vom 31.08.1954, in: Ebd., Nr. 214, 759. Zu den Einzelheiten vgl. Repgen 1990. Vgl. Hense 2017, 375. Vgl. Kuropka 1992, 284 und Liedhegener 2015, 171.

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dem jetzt mit am Tisch sitzenden Nuntius Bafile als Vertreter des Heiligen Stuhls ernsthaft in Gang.⁶⁵ An die Verhandlungspraxis des Loccumer Vertrages von 1955 anschließend, nahmen sie die umstrittene Schulfrage als nur einen Verhandlungspunkt in die Agenda der nunmehr umfassend und grundsätzlich zu regelnden Kirche-Staat-Beziehungen auf. Dass die schrittweise Annäherung wie im Falle der evangelischen Kirche am Ende von einem erfolgreichen Konkordatsabschluss gekrönt sein würde, war zu Beginn keineswegs absehbar.⁶⁶ Es wäre eine eigene, hier nicht zu leistende Aufgabe, der Frage nachzugehen, inwiefern die abseits der öffentlichen Bühne vertraulich geführten Gespräche die zeitgleichen Anzeichen eines gesellschaftlichen und kulturellen Klimawandels aufnahmen⁶⁷ und die je eigene Verhandlungsposition zugunsten einer Annäherung verstärkten: z. B. die politische Öffnung der SPD, die Reformdiskurse über die ‚Bildungskatastrophe‘⁶⁸ oder über das ‚Aggiornamento‘ des zeitgleich im Gang befindlichen Zweiten Vatikanischen Konzils; aber auch die anschwellenden Kontroversen über Vergangenheiten des ‚Dritten Reiches‘, deren gerade erst verstorbene schulpolitische Akteure ihre je eigenen langen Schatten auf das Reichskonkordat und seine Wirkungsgeschichte seit 1945 geworfen hatten.⁶⁹ Auch

 Vgl. Das Niedersächsische Konkordat: Erklärungen, Kommentare und Stellungnahmen, hg. im Auftr. der niedersächsischen Ordinariate vom Bischöfl. Generalvikariat zu Hildesheim, Hildesheim 1965; vgl. auch Scholz 1994, 147– 160 und Hense 2017, 383 – 385.  So die rückblickende Einschätzung von Johannes Niemeyer, „Kirche und Staat nach dem Konkordat in Niedersachsen. Überarbeitete Fassung eines Vortrags, gehalten auf einer Akademietagung des Ludwig Windthorst-Hauses, Holthausen, am 28.09.1965“, Ordo Socialis. CarlSonnenschein-Blätter, 1965, Heft 5/6, 3 – 16, 3.  Vgl. für das Bistum Münster die Pionierstudie Damberg 1997 sowie Großbölting 2013. Über die unmittelbar beteiligten Verhandlungspartner hinaus wäre das Augenmerk auf die im niedersächsischen Landtag vertretenen politischen Gruppierungen zu richten, vor allem auf die seit dem Godesberger Programm von 1959 und ihren bildungspolitischen Leitsätzen von 1963 dezidiert auf katholische Wählerschichten zielende Sozialdemokratie.  Vgl. Johannes Knewitz, Bildung! Aber welche? Bundesdeutsche Bildungskonzeptionen im Zeitalter der Bildungseuphorie (1963 – 1973) und ihr politischer Niederschlag am Beispiel von Bayern und Hessen, Mainz: V&R unipress 2019. Anfang November 1963 war in der Illustrierten Stern ein Bericht unter der Schlagzeile „Sind Katholiken dümmer?“ erschienen; im Februar 1964 folgte in der Zeitung Christ und Welt eine Artikelserie.  Das traf für den Osnabrücker Bischof Wilhelm Berning wie für den Staatssekretär im niedersächsischen Kultusministerium, Helmut Bojunga, zu; vgl. Klemens-August Recker, „St. Michael – Wer ist wie Gott? Wilhelm Berning 1877– 1955. Bischof von Osnabrück (1914– 1955) im Dritten Reich und in der Nachkriegszeit“, in Zwischen Seelsorge und Politik. Katholische Bischöfe in der NS-Zeit, 211– 242; Helmut Bojunga, 1953 – 1954 Staatssekretär im niedersächsischen Kultusministerium und 1955 – 1958 Präsident der Klosterkammer Hannover, war während der NS-Zeit einer der Spitzenbeamten (seit 1934 Ministerialdirektor) im Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung gewesen; vgl. Anne C. Nagel, Hitlers Bildungsreformer. Das Reichs-

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deshalb erscheint der Umstand bedeutsam, dass die Verhandlungen seit den 1960er Jahren auf beiden Seiten von jüngeren, der sogenannten ‚45er-Generation‘ angehörenden, staatskirchenrechtlich versierten Gesprächspartnern – auf kirchlicher Seite Johannes Niemeyer und auf staatlicher Seite Konrad Müller – geführt wurden. Johannes Niemeyer war 1927 im münsterländischen Ramsdorf geboren worden, in Ibbenbüren aufgewachsen und hatte sein Abitur an der Staatlichen Oberschule in Tecklenburg, der protestantischen Enklave im Bistum Münster, abgelegt. Im Krieg hatte er Bruder und Vater verloren und war als Siebzehnjähriger an der Front selbst schwer verwundet worden. Im kriegszerstörten Münster hatte er das Studium der Rechts- und Staatswissenschaften und seine Referendarsausbildung absolviert, anschließend als Staatsanwalt und Richter am dortigen Landgericht gearbeitet. Vor seinem Wechsel in das ‚Katholische Büro‘ war er von 1955 bis 1959 im Bundesjustizministerium für völkerrechtliche Fragen zuständig gewesen. Gleichsam als Ausweis seiner künftigen Tätigkeit reichte er 1961 unter dem Titel „Zum Verhältnis von Kirche und Staat im Recht der Bundesrepublik Deutschland“ eine Qualifikationsschrift ein, mit der er bei dem jungen, in Würzburg lehrenden Rechtsprofessor Paul Mikat⁷⁰ zum Doktor beider Rechte (Dr. iur. utr.) promoviert wurde.⁷¹

ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 1934 – 1945, Frankfurt a. M.: Fischer 2012, 116 – 118 u. 169 – 172. Zum Gesamtzusammenhang vgl. Mark Edward Ruff, The Battle for the Catholic Past in Germany, 1945 – 1980, Cambridge: Cambridge University Press 2017.  Paul Mikat (1924– 2011), 1957– 1965 Professor für Deutsches Recht, Bürgerliches Recht, Handelsrecht und Kirchenrecht an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg und Direktor des Instituts für Deutsches Recht und des Instituts für kirchliche Rechtsgeschichte. 1962– 1966 Kultusminister Nordrhein-Westfalens. 1965 – 1990 Professor für Bürgerliches Recht, Rechtsgeschichte und Kirchenrecht an der Ruhr-Universität Bochum; vgl. Markus Lingen, Art. „Mikat, Paul“, in Personen der Geschichte der CDU; abrufbar unter: www.kas.de/statische-inhalte-detail/-/content/ mikat-paul (Zugriff: 21.03. 2019).  In seiner Dissertation hatte Niemeyer das in den Weimarer Kirchenartikeln begründete und in das Grundgesetz (Art. 140) übernommene Verhältnis von Staat und Kirche als eigenständige gleichberechtigte Partner (Art. 137, Abs. 3, WRV, Selbstbestimmungsrecht der Kirchen in den ‚Schranken des für alle geltenden Gesetzes‘) unter Bezugnahme auf die seinerzeit verbreitet diskutierte völkerrechtliche ‚Koordinationsrechtsordnung‘ zu fassen versucht. „Der Grundsatz der Gleichberechtigung zwischen Staat und Kirche und der Rücksichtnahme für die gegenseitigen Belange“, so das Ergebnis der rechtlichen Prüfung, „führt z. B. zu einer Konsequenz für die Stellung der Kirchen innerhalb der ‚pluralistischen Gesellschaft‘.“ Die Anerkennung der Kirchen als öffentlich-rechtliche Körperschaften müsse nicht unbedingt zur Folge haben, dass die Kirchen sich aller Rechte bedienen könnten, die ihnen als Körperschaften zustünden. „In ähnlicher Weise müssen die Kirchen es meiden, die ihnen an sich gegebenen Möglichkeiten innerhalb des gesellschaftlichen Raumes unbeschränkt auszunutzen. Sie haben zwar das Recht und nach ihrem

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Der 15 Jahre ältere Konrad Müller hatte den umgekehrten Berufsweg vom Kirchen- in den Staatsdienst beschritten. Geboren 1912 als ältestes von sechs Kindern des evangelischen Pastors und späteren Bischofs der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen (1947– 1955), Ludolf Hermann Müller, und erzogen im kulturprotestantischen Geist, hatte er seine prägenden Jugendjahre im katholischen Heiligenstadt verbracht. Dorthin war sein Vater 1927 als Superintendent des Kirchenkreises Eichsfeld berufen worden. Nach dem humanistischen Abitur am dortigen Staatlich-katholischen Gymnasium hatte Müller ein juristisches Studium in Marburg und Göttingen aufgenommen, nach dessen erfolgreichem Abschluss er als Referendar in den Justiz- und Verwaltungsdienst der preußischen Provinz Sachsen eingetreten war. Nach Krieg und Gefangenschaft war Müller zum Promotionsstudium (Geschichte und Öffentliches Recht) nach Göttingen zurückgekehrt und hatte dort mit einer bei Rudolf Smend angefertigten Dissertation über „Staatsgrenzen und evangelische Kirchengrenzen. Gesamtdeutsche Staatseinheit und evangelische Kircheneinheit nach deutschem Recht“⁷² den juristischen Doktorgrad erworben. Nach zwei Jahren am von Smend geleiteten Kirchenrechtlichen Institut der EKD war Müller schließlich 1950 als Beamter in die niedersächsische Staatsverwaltung gewechselt und als Mitarbeiter der Staatskanzlei von Ministerpräsident Hinrich W. Kopf an den Beratungen des Loccumer Vertrags beteiligt worden, bevor ihn SPD-Ministerpräsident Richard Voigt als Staatssekretär in die Spitze des niedersächsischen Kultusministeriums berufen hatte.⁷³ Mit Niemeyer und Müller bildeten zwei kirchlich nicht-ordinierte Laien die tragende Achse der Verhandlungen, die außer der gemeinsamen GenerationenSelbstverständnis auch die Pflicht, gegebenenfalls selbst zu Tagesfragen Stellung zu nehmen, und zwar dann, wenn ihre Aufgaben das erfordern. Auf der anderen Seite müssen sie nicht nur eine parteipolitische Neutralität wahren, sondern auch vermeiden, ihre Autorität insofern geltend zu machen, als es sich um partikuläre Interessen handelt.“ Insofern leitende kirchliche Persönlichkeiten in ihrer amtlichen Eigenschaft sprächen, hätten sie daher die Pflicht, ihr Recht auf freie Meinungsäußerung nur insoweit zu gebrauchen, als es mit der Stellung der Kirchen vereinbar sei. Damit war Aufschlussreiches über die ‚Kirche‘ als kirchenpolitischer Akteur gesagt, nicht zuletzt in Gestalt des Katholischen Büros (vgl. Johannes Niemeyer, Das Verhältnis von Kirche und Staat im Recht der Bundesrepublik Deutschland, Juristische Diss. (Masch.Schr.), Würzburg 1961, 89 u. 90). Ich danke Prof. Dr. Ansgar Hense, Bonn, für den Hinweis auf die zeitgenössische Diskussion der Koordinationslehre.  Das maschinenschriftliche Manuskript von 1948 erschien erst postum 1988 in einer von Axel Freiherr von Campenhausen eingeleiteten Ausgabe in der Reihe Jus Ecclesiasticum. Beiträge zum evangelischen Kirchenrecht und Staatskirchenrecht.  Zum Lebenslauf Müllers vgl. Ohlemacher 1990, 259 f.; Bundesarchiv, Nachlassdatenbank; abrufbar unter www.nachlassdatenbank.de/viewsingle.php?person_id=9717&asset_id=10538 (Zugriff: 21.03. 2019).

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erfahrung ihr staatskirchenrechtliches Expertenwissen verband. Zu den Beratungen stießen mit dem Apostolischen Nuntius Bafile ein älterer, im kanonischen Recht promovierter Kirchendiplomat⁷⁴ und mit dem für die Verbindung zur SPDLandtagsfraktion verantwortlichen Regierungsrat Ernst Gottfried Mahrenholz ein junger, 1957 promovierter und – wie Müller – zunächst als Referent am Kirchenrechtlichen Institut der EKD tätiger Smend-Schüler⁷⁵ hinzu; beide vervollständigten den Kreis außergewöhnlich kundiger Kirchenjuristen.⁷⁶ Der zuweilen zäh verlaufende Verhandlungsprozess zog sich bis 1965 hin.⁷⁷ Die Diskussion um die Bekenntnisschule erhielt im Oktober 1964 allerdings einen entscheidenden pädagogischen Anstoß, nachdem die Ministerpräsidenten der Länder im ‚Hamburger Schulabkommen‘ das Ende der ungegliederten achtjährigen Volksschule zugunsten eines gegliederten Schulwesens beschlossen hatten.⁷⁸ Für die hier verfolgte Argumentation genügt es einstweilen, die Ergebnisse des am 26. Februar 1965 unterzeichneten Niedersachsenkonkordats und der mit seinem Abschluss verknüpften Änderung des niedersächsischen Schulgesetzes festzuhalten:⁷⁹ In der politisch umkämpften Schulfrage wurde nämlich ein Ausgleich dadurch erreicht, dass innerhalb des bestehenden Systems der staatlichen Gemeinschaftsschule und vorbehaltlich einer bildungspolitisch leistungsfähigen Größen- und Gliederungsordnung dem Bekenntnis der katholischen Minderheit ein hohes Maß an Achtung und Unterstützung zuteilwurde, sei es durch die institutionelle Sicherung der Bekenntnisschulen (Zusatzprotokoll: Oldenburger Klausel) als de facto katholische Gemeinschaftsschulen (sogenannte 80 %-‚Konkordatsschulen‘) oder durch die Förderung von Schulen in freier kirchlicher Trägerschaft. Damit verband der niedersächsische Schulkompromiss die Anforderungen schulpolitisch notwendiger Bildungsreformen mit der Zusage des

 Corrado Bafile (1903 – 2005), 1936 Priester, 1960 Titularerzbischof, 1960 – 1975 Nuntius in Deutschland, 1976 Kardinal.  Vgl. Peter Landau, Art. „Smend, Rudolf“, in Neue Deutsche Biographie, Bd. 24, 2010, 510 f.  Vgl. Ernst Gottfried Mahrenholz, „‚Dass wir uns da nicht vertun‘. Einige Erinnerungen an die Entstehung des Konkordats“, in Staat und Kirche in Niedersachsen. 50 Jahre Niedersachsenkonkordat, hg. vom Katholischen Büro Niedersachsen, Hannover: Katholisches Büro Niedersachsen 2015, 75 – 79.  Vgl. Scholz 1994, 152 f.; vgl. auch Hans-Georg Aschoff, „Das Niedersachsenkonkordat von 1965“, Jahrbuch für Geschichte und Kunst im Bistum Hildesheim, Bd. 82/83, 2014/2015, 284– 287.  Ein präziser zeitgenössischer juristischer und politischer Überblick findet sich bei Hubert Hermans, „Der Streit um die Konfessionsschule. Die schulpolitischen Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik“, Stimmen der Zeit, Bd. 179, 1967, 178 – 193 und ders., „Die Zukunft der katholischen Schule in Deutschland“, ebd., 241– 250.  Vgl. Listl 1987, 366 und Hermans 1967a, 183 f.

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Staates, die religiösen Freiheitsrechte der katholischen Glaubensminderheit zu achten und – wichtiger noch – im Dialog mit ihr zu verwirklichen. Dem aufsehenerregenden Junktim, das die Ratifizierung des Konkordats durch den Heiligen Stuhl an eine entsprechende Novellierung des Schulgesetzes von 1954 band, stand die für Konkordate gänzlich unübliche Zusicherung des kirchlichen Vertragspartners gegenüber, „bei einer wesentlichen Änderung des niedersächsischen Schulwesens eine entsprechende Anpassung des Konkordates durch gegenseitige Verständigung herbeizuführen“ (Art. 19, 2) (sog. ‚Freundschaftsklausel‘). Konfliktsituationen, wie sie am Ausgang der 1950er Jahre zwischen Staat und Kirche eskaliert waren, sollten sich nicht wiederholen, künftig bereits im Vorfeld vermieden und im beiderseitigen Einvernehmen gelöst werden. Die vertragsrechtlich zementierte gemeinsame Vertrauensbasis mit dem niedersächsischen Staat bedeutete eine kaum zu überschätzende Abkehr der katholischen Kirche von ihrer bis ins 19. Jahrhundert zurückreichenden kulturkämpferischen Distanz gegenüber dem ‚liberalen‘ Staat – ein zweifellos erheblicher Fortschritt und bemerkenswerter Beitrag zur demokratischen Rechtskultur der Bundesrepublik zwanzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Johannes Niemeyer hat 2015 deshalb die ‚Freundschaftsklausel‘ zutreffend als „Herz des Niedersachsenkonkordats“ bezeichnet.⁸⁰ Die Gründung eines für die kirchenpolitischen Belange Niedersachsens zuständigen ‚Katholischen Länderbüros‘ 1964, also noch vor dem Konkordatsabschluss, institutionalisierte den Wandel des kirchenpolitischen Selbstverständnisses vom einstigen Akteur im ‚Kampf‘ gegen den omnipotenten Staat zum ‚Dialog‘ mit dem säkularen, demokratisch verfassten Staat; die Kirche nahm die nicht nur in der Schulfrage ausgestreckte Hand des niedersächsischen Staates an. Dass ein fortschrittlicher Beitrag der katholischen Kirche zur demokratischen Rechtskultur der Bundesrepublik gleichbedeutend mit dem Ende aller emotionsbesetzten Feindbilder sein würde, dürften die Verhandlungspartner kaum erwartet haben. Allerdings wurden sie doch von der Wucht überrascht, mit der die politische und gesellschaftliche Öffentlichkeit das Ergebnis aufnahm. Zwar hatte sich die in der Schulfrage zerstrittene niedersächsische FDP bereits Anfang April darauf verständigt, den Konkordatsabschluss im Landtag abzulehnen und damit ihren eigenen, im Kabinett mit den Verhandlungen betrauten Kultusminister Hans Mühlenfeld zum Rücktritt gezwungen. Ihm waren am 13. Mai die noch im Kabinett verbliebenen FDP-Minister gefolgt, nachdem die SPD-geführte Landesregie-

 Vgl. Johannes Niemeyer, „Die Freundschaftsklausel. Das ‚Herz‘ des Niedersachsenkonkordats“, in Staat und Kirche in Niedersachsen. 50 Jahre Niedersachsenkonkordat, 81– 84.

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rung die von den Liberalen geforderten Nachverhandlungen abgelehnt hatte.⁸¹ Doch erst als das Nachrichtenmagazin Der Spiegel in gleich zwei Ausgaben Kritikern und verbreiteten ‚antirömischen‘ Ressentiments ein öffentlichkeitswirksames Sprachrohr bot, drohte der soeben erreichte, von verbreiteter ökumenischer Aufbruchsstimmung und auch persönlicher Annäherung der Vertragspartner mitgetragene Schulfriede einen spürbaren Dämpfer zu erhalten. Die Auswirkungen schienen umso bedrohlicher, als sich das Augenmerk anderer, zumal SPDregierter Bundesländer gerade in der schulpolitischen Frage auf die niedersächsische Situation richtete. In seiner Ausgabe vom 3. Mai 1965 hatte der Spiegel zunächst ein ausführliches Interview mit dem niedersächsischen Liberalen Winfried Hedergott veröffentlicht. Darin hatte der FDP-Fraktionschef behauptet, dass infolge einer auf Bitten des Nuntius erfolgten Zustimmung der Bundesregierung zum Niedersachsenkonkordat in seinem Bundesland im Konfliktfall das Reichskonkordat fortgelten werde, und den Ausstieg seiner Partei aus der Regierungskoalition angedroht.⁸² Während die Regierungskrise durch den Eintritt der CDU in eine Große Koalition am 19. Mai rasch überwunden und der Weg parlamentarischer Zustimmung zur Ratifizierung des Konkordats einschließlich der Verabschiedung der Schulgesetznovelle geebnet war, brach die vom Spiegel medial angeheizte öffentliche Debatte von neuem auf. Am 30. Juni 1965, dem Tag der 3. Lesung im Landtag, veröffentlichte das Hamburger Nachrichtenmagazin einen mit ‚Römische Dörfer‘ überschriebenen Artikel über die Anzeigenkampagne, mit der die von SPD-Ministerpräsident Georg Diederichs geführte Landesregierung zwischenzeitlich für das Konkordat geworben hatte, sowie über die Demonstrationen, die dies in der niedersächsischen Landeshauptstadt ausgelöst hatte. Nach den zahllosen Kampagnen der katholischen Kirche zugunsten von Elternrecht und Bekenntnisschule in den 1940/ 1950er Jahren war in der polarisierten Öffentlichkeit der 1960er Jahre das Pendel spürbar in die entgegengesetzte Richtung ausgeschlagen – eine Entwicklung, die der Spiegel in martialischen Bildern eines vergeblichen Kampfes aufrechter Liberaler und einer außerparlamentarischen Opposition bewusst zuspitzte. Dabei beförderte der Artikel sprachlich höchst wirksam die von tiefsitzendem Misstrauen gegen einen antiaufklärerisch-römischen Katholizismus bestimmten Emotionen der Öffentlichkeit; er sei deshalb ausführlich zitiert:

 Vgl. die konzise Darstellung der Zusammenhänge bei Scholz 1994, 150 – 161.  Vgl. den Artikel „Konkordat. Ehe zu dritt“, Der Spiegel, Nr. 19 vom 03.05.1965, 43 sowie das Interview „‚Aus Loyalität das Schienbein schonen‘. Spiegel-Gespräch mit dem FDP-Fraktionschef Winfried Hedergott über die Konkordatskrise“, ebd., 44– 49.

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Zwei Tage nach Ende des propagandistischen Trommelfeuers der Regierung erhoben sich die Konkordatsfeinde unversehrt zum vorerst letzten Gefecht: 3.000 Studenten, 1.500 Lehrer und ein Kabarettist gaben den 14 Oppositionsabgeordneten der FDP im Landtag Schützenhilfe. Bei SPD und Regierung stapelten sich Briefe und Telegramme. Beispiel: ‚Wir wünschen die SPD zum Teufel.‘ Studenten der Pädagogischen Hochschule Hannover stülpten sich schwarze Kapuzen über und trugen Plakate durch die niedersächsische Hauptstadt: ‚Diederichs, oh Diederichs.‘ Kabarettist Dieter Hildebrandt, Lach- und Schießgesellschafter aus München, kam honorarfrei und auf eigene Kosten herbeigeflogen, kletterte an fünf Punkten der hannoverschen City, zuletzt vor dem Kultusministerium, auf eine Trittleiter und ‚verkündete‘ das ‚Konkordat‘: ‚Ihr müßt die Kirche nicht mehr im Dorf lassen, ihr habt sie in der Regierung‘ (siehe Seite 14).⁸³ Und der Lehrerverband, der seine Mitglieder in einer Sternfahrt aus ganz Niedersachsen zu einer Protestversammlung nach Hannover geholt hatte, setzte den halbseitigen Annoncen der Regierung ganzseitige Inserate (Kosten: 200.000 Mark) entgegen. Pressechef Manfred Menzel von der Industriegewerkschaft Chemie, Papier, Keramik, die dem Lehrerverband mit ihrem ‚technischen Apparat‘ solidarische Hilfe lieh: ‚Die Lehrer staunen über ihre eigene Macht. Sie haben nicht gewußt, wie mächtig sie sind. Es mußte nur jemand kommen, der ihnen das beibringt.‘ Als dann am Mittwoch voriger Woche die zweite Landtagslesung begann und der FDP-Abgeordnete Professor Jungmichel neue Verhandlungen mit dem Heiligen Stuhl forderte, entlud sich die Nervosität der Konkordatsmacher in heftigen Ausbrüchen. SPD-Regierungschef Diederichs, puterrot, gab das Stichwort: ‚Durch diese ganze Antipolemik ist ein Antikatholizismus offenbar geworden, der dieses Vertragswerk gerade erst erforderlich macht.‘ Die SPD-Katholikin Maria MeyerSevenich, die früher die Gemeinschaftsschule gegen ‚sich steigernde Angriffe katholischer Kreise‘ verteidigt und die ‚Einheitsfront der Gegner der Aufsplitterung des Schulwesens‘ gefordert hatte, ging noch weiter. Sie bezichtigte die Gegner der Aufsplitterung nun nacheinander – einer ‚militanten antichristlichen Haltung‘, – der ‚militanten atheistischen Diskussion‘ und schließlich – des Angriffs ‚gegen den Glauben an sich‘. Der Skandal war perfekt. Die FDP‐Abgeordnete Heinke, Tochter des 20.-Juli-Generals Fromm, hinterher: ‚Wenn ich keine Dame wäre, hätte ich meinen Schuh ausgezogen und damit geworfen.‘ Es hätte ihr nichts genützt: Die CDU- und SPD-Mehrheit akzeptierte gegen alle FDP- und sechs SPDStimmen und ungeachtet aller außerparlamentarischen Proteste die Gesetzentwürfe und schickte sie auf den Weg zur dritten (endgültigen) Lesung, die schon in dieser Woche stattfinden soll. Letzte Hoffnung der Konkordatsgegner blieb nun nur noch ein Brief, den der hannoversche Landesbischof Lilje Parlament und Regierung Ende letzter Woche zustellen ließ: Das Papier des Lutheraners enthielt eine Stellungnahme des Landessynodalausschusses, in der die Sorge um die Zukunft der evangelischen Minderheiten an Schulen in

 Verweis auf: „Regiert Peter Stuyvesant?“, Der Spiegel, Nr. 27 vom 30.06.1965, 14. In dem vom Spiegel veröffentlichten Auszug spottete Hildebrandt: „Endlich erreicht Ihr Niedersachsen das, was Bayern so auszeichnet – eine formierte Gemeinde! Ihr müßt die Kirche nicht mehr im Dorf lassen – Ihr habt sie in der Regierung.“ Um dann gegen die mit dem Leitspruch der Hansestadt Lübeck ‚Concordia domi – foris pax – Eintracht innen, draußen Friede‘ überschriebene Anzeigenkampagne der Regierung zu polemisieren: „Das heißt, wenn ich’s richtig übersetze: Rom ist in der kleinsten Hütte. Euern Landtag kann man getrost Gutehoffnungshütte nennen.“

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katholischen Distrikten betont wird. Lilje: ‚Ich füge die Bitte hinzu, diesen Bedenken nach Möglichkeit … Rechnung zu tragen.‘⁸⁴

Ebenso wie sein Verhandlungspartner Staatssekretär Müller⁸⁵ sah sich Niemeyer gefordert, die Wogen emporschießender öffentlicher Emotionen zu glätten und Bedenken auch in den eigenen Reihen auszuräumen.⁸⁶ Insbesondere im katholischen Emsland und im Oldenburger Münsterland begegnete man dem vereinbarten Schulkompromiss mit unverhohlener Skepsis.⁸⁷ Zudem schienen das Verhalten der Liberalen sowie die mediale Polemik gegen die katholische Kirche und ihr römisches Kirchenoberhaupt die Zweifel an einem auf Ausgleich setzenden Staat zu bestätigen. Mancher Verteidiger der Bekenntnisschule befürchtete sogar einen negativen Rutschbahneffekt: Die Zugeständnisse des Heiligen Stuhls in der Bildungsfrage, so die Sorge, könnten unerwünschte Folgen für jene Bundesländer haben, in denen die Bekenntnisschule verfassungsrechtlich als gesichert galt. Das Niedersachsenkonkordat dürfe deshalb keinesfalls einen Modellfall für spätere Vereinbarungen mit anderen Bundesländern darstellen.⁸⁸ Bei einer Akademie-Tagung des Ludwig Windthorst-Hauses im nahe Lingen gelegenen Holthausen stand Niemeyer Ende September 1965 Rede und Antwort.⁸⁹ In der Schulfrage hätten „Streit, Mißtrauen und Mißverständnisse“ geherrscht. Das Aufbegehren des katholischen Volksteiles gegen das Schulgesetz von 1954 sei auf beiden Seiten ebenso unvergessen wie der Prozess vor dem Bundesverfassungsgericht. Neben den zahlreichen Problemen, die für sich allein schon schwierig genug gewesen seien, habe man sich immer wieder mit dem Wunsche auseinanderzusetzen gehabt, „das Gesicht zu wahren“. Damit war zutreffend die emotionale Belastung benannt, die untrennbar in die rechtliche Lösung der Schulfrage hinein verwoben war. Es werde, so Niemeyers sachliche Zusicherung, „keine Konfessionalisierung um jeden Preis, aber auch keine Simultanisierung und Zentralisierung um jeden Preis“, also gegen den Elternwillen geben – um anschließend das auch im ländlichen Raum wirksame Argument verbesserter  „Römische Dörfer“, Der Spiegel, Nr. 27 vom 30.06.1965, 42.  Vgl. Konrad Müller, „Zur Kritik an Konkordat und Schulgesetznovelle“, in Die niedersächsische Schule vor und nach dem Konkordat, hg. von der niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung, Hannover 1965, 6 – 40.  Vgl. Johannes Niemeyer, „Das Niedersachsenkonkordat“, Das Soziale Seminar. Informationen, Nr. 3/65, Juni 1965, Münster 1965; vgl. auch die in der vom Bistum Hildesheim herausgegebenen Broschüre veröffentlichten Berichte und Stellungnahmen in der katholischen Kirchenpresse: Das niedersächsische Konkordat, 24– 53.  Vgl. Niemeyer 1965a.  Ich danke Herrn Dr. Niemeyer für die Überlassung des ungezeichneten Manuskripts.  Vgl. Niemeyer 1965a. Die folgenden Zitate ebd., 7, 7, 10, 13, 14 f.

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Bildungsaussichten für die nächste Generation ins Feld zu führen: Wenn der Wille vorhanden sei, nach den Jahren des Schulstreits konstruktiv zusammenzuarbeiten, werde die Umsetzung der konkordatären Einigung in der alltäglichen Praxis wesentlich zur Verbesserung der niedersächsischen Schulsituation beitragen. Angesichts des Bildungsrückstandes der ländlichen Regionen sei nicht die Konfessionsfrage aufzuwerfen, sondern „auf die Ausschöpfung der Verbesserungsmöglichkeiten hinzuwirken“: „Beweglichkeit und Phantasie bei der Suche nach Lösungen, die von allen beteiligten Kräften getragen werden können, sind vonnöten. Das Gespräch am runden Tisch sollte Resolutionen und Manifeste ersetzen.“ Die vom Bistum Hildesheim veröffentlichte Informationsbroschüre schließlich zeigte, dass sich mit dem kirchlichen Bemühen um eine sachliche Auseinandersetzung auch die Fronten umgekehrt hatten: Zwar fehlte es im Vorwort nicht an deutlichen Worten, und die Enttäuschung über die öffentlichen Angriffe war deutlich spürbar, wenn es hieß: Am 26. Februar 1965 wurde das Konkordat zwischen dem Hl. Stuhl und dem Lande Niedersachsen vom Apostolischen Nuntius in Deutschland, Erzbischof Dr. Konrad Bafile, und dem Ministerpräsidenten des Landes, Dr. Georg Diederichs, feierlich in Hannover unterzeichnet. Das Echo hierauf war im Lande selbst unerwartet heftig. Die Stimmen gegen das Konkordat kamen vor allem aus den Reihen der Lehrergewerkschaft, der Humanistischen Union, der liberalen Kräfte, die sich um die Freien Demokraten gruppieren, aber auch aus Kreisen der evangelischen Geistlichkeit bis in die Landessynoden der evangelisch-lutherischen Landeskirchen hinein.

Aber anders als bei den früheren, die Bekenntnisschule verteidigenden Demonstrationen mahnte man nun Besonnenheit und ein sachbezogenes Gespräch an. Die Attacken der Konkordatsgegner außerhalb wie innerhalb der Kirche sollten sich in ihrer undemokratischen Emotionalität selbst entlarven: Leider war diese Reaktion mehr emotional bestimmt als sachlich orientiert. Um allseits ein ruhiges Urteil zu ermöglichen, sind von den niedersächsischen Ordinariaten nunmehr die Landtagsdrucksachen, die die Landesregierung dem Niedersächsischen Landtag zugeleitet hat, um ihm die Beschlußfassung nach sorgfältiger Prüfung der Materie zu ermöglichen, ebenfalls allen katholischen Kirchengemeinden und weiteren interessierten Kreisen zugeleitet.⁹⁰

Das in der Broschüre dokumentierte Schreiben der katholischen Lehrerverbände Niedersachsens an die Landtagsabgeordneten vom 14. Mai 1965 brachte es auf den Punkt:  Das niedersächsische Konkordat, 5.

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Wir sind der Überzeugung, daß die pluralistische Gesellschaft im demokratischen Rechtsstaat nur gewinnt, wenn alle Gruppen die Möglichkeit haben, sich in der Verantwortung vor dem Ganzen in ihrer Eigenart auszuprägen und zu entfalten; nur auf diese Weise kann wirkliche Toleranz wachsen, ohne daß Indifferentismus und Nivellierung an die Stelle dieser Toleranz treten.⁹¹

Mit dem 1. Oktober 1965 wurde die niedersächsische Schulgesetznovelle rechtsgültig, am 5. Oktober trat nach dem Austausch der Ratifikationsurkunden das Niedersachsenkonkordat in Kraft. Der an diesem Dienstag von der Katholischen Nachrichtenagentur verbreitete, mit ‚Schlußstrich und Neubeginn‘ überschriebene Kommentar Niemeyers gestand über die in den zurückliegenden Monaten gebetsmühlenartig vorgetragenen Argumente zugunsten des Schulkompromisses hinaus auch selbstkritisch Fehler ein: Die öffentliche Diskussion habe bewiesen, dass „das Wirken der Kirche in der Welt von heute nicht allein durch Verträge mit dem Staat unterstützt werden kann, sondern daß auch die gesellschaftlichen Kräfte das kirchliche und staatliche Einverständnis mittragen müssen“. Die Landesregierung habe zu erkennen gegeben, dass es besser gewesen wäre, die auf dem Schulsektor maßgebenden Kräfte vor der Unterzeichnung genauer zu unterrichten. „Jetzt, nachdem die öffentliche Kontroverse abzuklingen beginnt, werden sich beide Partner darum bemühen müssen, dem Werk ihrer Verständigung eine breite Resonanz zu verschaffen.“⁹² Mit der Aufgabe, künftig in religionspolitisch umstrittenen Fragen gesellschaftliche Transparenz zu schaffen, hatte Niemeyer das Startsignal für die nächste Etappe im demokratischen Lernprozess der katholischen Kirche in der Bundesrepublik gegeben.

4 Fazit Wenn Gerhard Schmidtchen vier Jahrzehnte nach der Verabschiedung des Grundgesetzes die deutschen Katholiken rückblickend als die „eigentlichen Entdecker“⁹³ der Bundesrepublik bezeichnete, so traf dies in besonderer Weise auf

 Monika Feise (Verband katholischer deutscher Lehrerinnen, Landesverband Niedersachsen) und Wilhelm Heidemeyer (Verband der katholischen Lehrerschaft Deutschlands, Landesverband Niedersachsen) an die Abgeordneten des Niedersächsischen Landtags vom 14.05.1965, in: Ebd., 43 f.  Johannes Niemeyer, „Schlußstrich und Neubeginn. Das Niedersachsenkonkordat tritt in Kraft“, Katholische Nachrichtenagentur. Der Kommentar, Nr. 11 vom 05.10.1965.  Gerhard Schmidchen, „Religiöse Legitimation im politischen Verhalten. Wandlungen und Motive im Wahlverhalten der Katholiken“, in Kirche, Politik, Parteien, hg. von Anton Rauscher, Köln: Bachem 1974, 57– 104, 57: „Die Katholiken sind die eigentlichen Entdecker der Bundesre-

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den politischen Katholizismus der interkonfessionellen CDU zu. Die Kirche im engeren Sinn hatte als Akteurin im politischen Feld einen deutlich weiteren Weg zurückzulegen. Das galt ebenso für Aufbau und Strategie wie für die Praxis des Kommissariats der Katholischen Bischöfe in der Bundesrepublik Deutschland, des ‚Katholischen Büros‘. Dessen Arbeit war von Beginn an vom Kölner Diözesanpriester und schulpolitischen Experten Wilhelm Böhler inhaltlich dominiert und kirchenpolitisch straff organisiert worden – ein politisch begnadeter Prälat ‚alter Schule‘, dessen Aktivitäten nach den Diktaturerfahrungen in der jungen bundesrepublikanischen Demokratie geradezu ideale Voraussetzungen fanden, dessen Grundsätze und Denkmuster sich allerdings zunehmend als jene einer längst überwundenen ‚Zentrums-Generation‘ erwiesen. Böhlers Tod 1958 markierte das Ende der ersten, in den Erfahrungen der NS-Zeit verwurzelten und durch die Ägide kultureller und kirchenpolitischer Geschlossenheit bestimmten Phase des ‚Katholischen Büros‘. Seine jüngeren Nachfolger aus der Diözese Münster – Wilhelm Wissing und Heinrich Tenhumberg und ihre Mitarbeiter – leiteten in ‚dynamischen Zeiten‘ einen deutlichen Kurswechsel ein, der alte, einst zum festen Arsenal der katholischen Kirche zählende konfessionelle und weltanschauliche Feindbilder samt zugehörigem ‚Demonstrationskatholizismus‘ zugunsten der kirchlichen Akzeptanz einer demokratischen Kultur und ihrer dialogischen Mitgestaltung verabschiedete. Die durch zahllose ‚Kulturkämpfe‘ konfessionell wie emotional aufgeladene Bekenntnisschulfrage hatte in der föderalen Verfassungswirklichkeit der Länder sehr unterschiedliche Antworten erfahren, die sich an den bestehenden konfessionellen Mehrheitsverhältnissen ausgerichtet hatten. Der Zustrom von Flüchtlingen und Vertriebenen hatte die Probleme eher verschärft, da die Auflösung alter konfessioneller Gewissheiten mit wechselseitigen Abgrenzungen von alten Mehr- und neuen Minderheiten einherging. Insofern den im Loccumer Vertrag erreichten Vereinbarungen mit den evangelischen Landeskirchen staatskirchenrechtliche Qualität zukam, richteten sich die Erwartungen seit Mitte der 1950er Jahre bundesweit auf Verhandlungen des niedersächsischen Staates mit der katholischen Kirche. Die katholische Kirche, ihr Episkopat und deren kirchenpolitischer Akteur, das Bonner ‚Katholische Büro‘, vollzogen in den folgenden zehn Jahren bis zum Konkordatsabschluss 1965 einen von demokratischen Lernerfahrungen be-

publik. Früher als die Protestanten haben sie im ersten Jahrzehnt der Existenz der Bundesrepublik ein politisches Heimatgefühl entwickelt, während die Protestanten noch länger den Farben Schwarz-Weiß-Rot nachtrauerten und unter der Teilung litten.“

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stimmten Paradigmenwechsel, der sie vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Modernitäts- und konziliarer Aufbruchsstimmungen in neuer Weise in der Mitte des demokratischen Verfassungsstaates und der pluriformen Gesellschaft ankommen ließ. Nach dem Urteil der Karlsruher Richter von 1957 nahm die katholische Kirche das Angebot der SPD-geführten Landesregierung an, die schulpolitischen Fragen im Rahmen eines Gesamtpakets von Vereinbarungen zwischen dem niedersächsischen Staat, den Bistümern Hildesheim, Osnabrück, Münster und Paderborn sowie dem Heiligen Stuhl zu regeln. Dabei erwies es sich als enormer Vorteil, dass die Konkordatsverhandlungen auf beiden Seiten von staatskirchenrechtlich versierten Experten geführt wurden, die zwar in der Wolle ihrer je eigenen Konfession gefärbt waren, aber als Angehörige der sogenannten ‚45er-Generation‘ die junge Bonner Republik neu gestalten wollten. Unbeschadet der jedem politischen Verhandlungsprozess innewohnenden eigenen Dynamiken, die im niedersächsischen Fall zunehmend auch von wechselseitigem Respekt und persönlicher Anerkennung getragen wurden, war für die katholische Kirche eine doppelte Demokratie-Erfahrung ausschlaggebend: Der Staat garantiert die religiösen Rechte der katholischen Minderheit in einer rechtsverbindlichen Weise, die der Kirche das Versprechen ermöglicht, in Konfliktfällen nicht die offene Auseinandersetzung, sondern den beidseitigen Dialog zu suchen. Rechtliche Normierung und ‚freundschaftliches‘ Einvernehmen griffen ineinander und wiesen einen Ausweg aus dem alten, konfessionell belasteten Schulstreit. Dieses neue Selbstverständnis verlieh der Einrichtung eines ‚Katholischen Büros‘ in Hannover 1964 die Legitimität katholisch institutionalisierter Interessensvermittlung. „In Oldenburg herrscht Schulfrieden“, hatte Niemeyer den Konkordatskritikern aus den eigenen Reihen in der Ludwig Windthorst-Akademie entgegengehalten.⁹⁴ Erst im Blick auf die langen, bis in die schulpolitischen ‚Kulturkämpfe‘ der Weimarer Republik und darüber hinaus zurückreichenden, zeitweise erbittert geführten Auseinandersetzungen lässt sich der Beitrag ermessen, den die katholische Kirche mit ihrer, durch ihr Zentrum in Rom mitgetragenen Zusage zum Dialog zur demokratischen Kultur der Bundesrepublik beitrug. Dass sich dieser Beitrag unmittelbar bewähren würde angesichts der vom Spiegel medial zugespitzten, neuen weltanschaulichen Standortbestimmungen von SPD und FDP, war angesichts der Wucht, mit der die Fronten in einer demokratisierten Öffentlichkeit aufeinanderprallten, keineswegs abzusehen. Dies ließ die Herausforderungen erkennen, vor die eine demokratische Ausgestaltung der res mixtae und

 Niemeyer 1965, 13.

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zumal der Schulfrage in Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen künftig gestellt sein würde.⁹⁵

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Klaus Große Kracht

Der demokratische Kompromiss und seine Grenzen Standortbestimmungen katholischer Laien in der Gründungsphase der Bundesrepublik

1 Einleitung Am 23. Mai 1949 trat durch Beschluss des Parlamentarischen Rates in Bonn das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Die deutschen Bischöfe reagierten darauf am gleichen Tag mit den Worten: „Die Würfel sind gefallen.“¹ In ihrer gemeinsamen Erklärung zur Annahme des Grundgesetzes erkannten sie zwar durchaus an, dass an mehreren Stellen kirchliche Einzelforderungen Anerkennung gefunden hätten; zugleich beklagten sie aber, dass es nicht gelungen sei, dem gesamten Verfassungstext eine „tiefere religiöse Begründung“ zu geben.² Insbesondere zwei Punkte nahmen die Bischöfe mit „tiefstem Bedauern“ zur Kenntnis: Zum einen sei das „Recht der Eltern“, den religiösen Charakter der Schule ihrer Kinder zu bestimmen, missachtet worden. Zum anderen habe das Grundgesetz jenen Bundesländern eine Ausnahme vom bekenntnisgebundenen Religionsunterricht gewährt, in denen entsprechende landesrechtliche Regelungen vor Inkrafttreten des Grundgesetzes vorgelegen hätten.³ Vor allem der erste Punkt, die Einschränkung des sogenannten Elternrechts, d. h. des Rechts der Eltern, ihre Kinder in konfessionell homogenen Primarschulen beschulen zu lassen, erzürnte die katholischen Oberhirten, die daher das Grundgesetz auch nur „als ein vorläufiges betrachten“ wollten.⁴

 Die deutschen Bischöfe, „Erklärung nach Annahme des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland“, 23.05.1949, in Hirtenbriefe und Ansprachen zu Gesellschaft und Politik 1945 – 1949, hg. von Günter Baadte und Anton Rauscher, bearb. von Wolfgang Löhr, Würzburg: Echter 1985, 311– 316, 311.  Ebd., 313.  Ebd. Dies galt insbesondere für das Bundesland Bremen, weshalb der entsprechende Art. 141 GG auch als ‚Bremer Klausel‘ bezeichnet wird; vgl. Christoph Link, Kirchliche Rechtsgeschichte. Kirche, Staat und Recht in der europäischen Geschichte von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert, München: C.H. Beck 2009, 221.  Die deutschen Bischöfe 1949/1985, 315. https://doi.org/10.1515/9783110623406-006

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Die Frage des Fortbestandes bzw. der Wiedereinrichtung der sogenannten Bekenntnisschule war in der Tat der Zankapfel zwischen der katholischen Kirche und anderen Kräften in der politischen Gesellschaft Westdeutschlands während der Gründungsphase der Bundesrepublik. Bereits unmittelbar nach Kriegsende, im Juni 1945, forderten die westdeutschen Bischöfe unmissverständlich: „Katholische Schulen für die katholischen Kinder.“⁵ Kraft „des Lehrauftrags des Herrn und kraft ihrer übernatürlichen Mutterschaft“ komme der Kirche „eine Erziehungspflicht und ein Erziehungsrecht für das christliche Kind“ zu.⁶ Diesen Anspruch durchzusetzen, war das zentrale Anliegen der katholischen Bischöfe in den späten 1940er Jahren, zumal sie über einen päpstlichen Gesandten erfahren hatten, dass auch der Heilige Vater in Rom die Ansicht vertrete, dass „die Erhaltung der katholischen Schule […] einen Kampf wert“ sei.⁷ Im Zentrum der weitausgreifenden kirchlich-katholischen Interessen im politischen Raum dieser Jahre stand daher immer wieder die praktische Forderung nach Wiedererrichtung der Bekenntnisschule.⁸ Eines war den Bischöfen allerdings klar: Die verbrieften Rechte aus dem im Jahr 1933 mit der Hitler-Regierung abgeschlossenen Reichskonkordat, in dem der Erhalt der konfessionellen Primarschule zugesichert worden war, stellten keine ausreichende Rechtssicherheit im Prozess der neuen westdeutschen Staatsgründung dar.⁹ Zudem fehlte es den kirchlichen Autoritäten in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg an Ansprechpartnern auf staatlicher Seite, mit denen vergleichbare Verträge hätten abgeschlossen werden können. Umso dringlicher erschien es den Bischöfen daher, über katholische Abgeordnete sowie insbesondere die schon bald nach Kriegsende wieder zu Leben erwachenden katholischen Verbände konkreten Einfluss auf die politische Meinungsbildung und insbesondere auf den Prozess

 Die westdeutschen Bischöfe, „Hirtenwort der westdeutschen Bischöfe“, 05.06.1945, in Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933 – 1945, Bd. 6: 1943 – 1945, bearb. von Ludwig Volk, Mainz: Grünewald 1985, Nr. 988, 521– 529, 526.  Ebd.  Vgl. „Frings an die Bischöfe der britischen Besatzungszone“, 10.09.1945, in Akten deutscher Bischöfe, Bd. 6, Nr. 1037, 735 – 737, 736.  Vgl. dazu im Einzelnen: Joachim Kuropka, „Das katholische Schulwesen im Wiederaufbau 1945 – 1960“, in Handbuch Katholische Schule, Bd. 3: Zur Geschichte des katholischen Schulwesens, hg. von Christoph Kronabel, Köln: Bachem 1992, 258 – 303.  Die Fortgeltung des Reichskonkordats stellte bis zum entsprechenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 1957 einen äußerst strittigen Punkt innerhalb der Staat-Kirche-Beziehung der frühen Bundesrepublik dar; vgl. Mark Edward Ruff, The Battle for the Catholic Past in Germany 1945 – 1980, Cambridge UK: Cambridge University Press 2019, 48 – 85.

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der Verfassungsgebung auf Bundes- und Länderebene zu nehmen.¹⁰ Am Beispiel des Diözesankomitees der Katholikenausschüsse in der Erzdiözese Köln soll dies im Folgenden genauer erläutert werden (2.). Das Eintreten für katholische Sonderinteressen wurde zumeist mit dem Pathos einer umfassenden ‚Verchristlichung der Gesellschaft‘ verbunden, das nur wenig Spielraum für Verhandlungen und Kompromisse mit Andersdenkenden ließ. Zugleich fanden sich im katholischen Raum aber auch Stimmen, die vor einer Überstrapazierung des Rechristianisierungsmotivs warnten und für die politische Kunst der Kooperation und Koalition mit anderen Bevölkerungsgruppen warben. Dies soll in einem zweiten Schritt am Beispiel des katholischen Gymnasiasten- und Studierendenbundes Neudeutschland dargestellt werden, in dem beispielsweise der spätere kurzzeitige Parteivorsitzende der CDU, Rainer Barzel, wichtige Prägungen erfuhr (3.). Allerdings wäre es historisch gesehen zu kurzsichtig, von einer relativ raschen und geradlinigen Integration der Katholiken in das politische System der Bundesrepublik im Sinne einer vollumfänglichen Akzeptanz westlich-liberaler Verfassungsprinzipien auszugehen. Auch wenn die pluralistische Ordnung der frühen Bundesrepublik akzeptiert wurde, hielt man gleichwohl an einem Kirchenverständnis fest, das die Kirche als Sakralanstalt aus dem gesellschaftlichen Kräftespiel heraushalten und ihr eine Deutungsmacht oberhalb des durch Kompromiss, Koalition und rationalen Konsens erreichten Mehrheitswillens sichern sollte. Dies soll abschließend am Beispiel entsprechender Diskussionen im Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) in den späten 1950er Jahren gezeigt werden (4.). Die Frage nach dem ‚demokratischen Ethos‘ auf Seiten katholischer Gläubiger war insofern auch nach den ersten zehn Jahren des Grundgesetzes noch nicht eindeutig geklärt (5.).

 Bengt Beutler, „Die Stellung der Kirchen in den Länderverfassungen der Nachkriegszeit“, in Kirche und Katholizismus 1945 – 1949, hg. von Anton Rauscher, Paderborn: Schöningh 1977, 26 – 52; Burkhard van Schewick, Die katholische Kirche und die Entstehung der Verfassungen in Westdeutschland 1945 – 1960, Mainz: Grünewald 1980.

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2 Kollektive Interessenmobilisierung und politische Partizipation: Kardinal Frings, Wilhelm Böhler und die Katholikenausschüsse in der Erzdiözese Köln Unmittelbar nach Kriegsende, teilweise aber auch schon in den Monaten zuvor, bildeten sich in zahlreichen deutschen Städten informelle Zirkel katholischer Frauen und Männer, die sich die „Wiederverchristlichung“ der NS-Trümmergesellschaft auf die Fahnen geschrieben hatten.¹¹ Innerhalb des deutschen Episkopats erkannte insbesondere der Erzbischof von Köln, Josef Kardinal Frings, die Bedeutung dieser Aktionsgruppen für die Durchsetzung kirchlich-politischer Interessen. Bereits im Februar 1946 richtete er daher ein Rundschreiben an die Dechanten der Erzdiözese, in dem er diese zur Unterstützung der bereits bestehenden bzw. noch aufzubauenden Katholikenkomitees aufforderte.¹² Der Aufruf hatte Erfolg: Ende des Jahres bestanden bereits über dreißig solcher lokalen Katholikenausschüsse, die sich auf Wunsch von Frings zu einem Diözesankomitee zusammenschlossen.¹³ Der Gründung des Diözesankomitees waren im Sommer 1946 drei überörtliche Treffen von bereits bestehenden Katholikenausschüssen im Kölner Erzbistum vorausgegangen, auf denen unter Führung des bischöflichen Beauftragten für die Laienarbeit, Domkapitular Wilhelm Böhler, Eckpunkte der zukünftigen gemeinsamen Arbeit diskutiert wurden.¹⁴ Auf dem letzten dieser Treffen fasste Böhler im September 1946 die Aufgaben der katholischen Aktionsgruppen wie folgt zusammen: Die Katholikenausschüsse sollen beileibe nicht Parteipolitik treiben, aber sie haben die Pflicht, dafür zu sorgen, daß im politischen Leben die katholischen Grundsätze nicht miß-

 Darüber geben insbesondere die ab Januar 1949 in den Werk-Heften der Arbeitsgemeinschaft katholischer Laienwerke abgedruckten Arbeitsberichte Rechenschaft.  Vgl. Norbert Trippen, Josef Kardinal Frings (1887 – 1978), Bd. 1: Sein Wirken für das Erzbistum Köln und für die Kirche in Deutschland, 2., durchges. Aufl., Paderborn: Schöningh 2003, 353 – 356, 506 – 508.  Vgl. hierzu und zum Folgenden: Klaus Große Kracht, Die Stunde der Laien? Katholische Aktion in Deutschland im europäischen Kontext 1920 – 1960, Paderborn: Schöningh 2016, 311– 326.  Zu Böhler, der später die politische Lobbystelle der katholischen Kirche in der Bundesrepublik, das sogenannte Katholische Büro, leiten wird, vgl. Kristian Buchna, Ein klerikales Jahrzehnt. Kirche, Konfession und Politik in der Bundesrepublik während der 1950er Jahre, Baden-Baden: Nomos 2014, 76 – 229.

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achtet werden, wenn es sich um Fragen der Grundsatzgesetzgebung, der Schulpolitik, der Ehegesetzgebung, der Wohlfahrtsgesetzgebung, wenn es sich um das Verhältnis von Staat und Kirche handelt usw.¹⁵

Die konkrete Tätigkeit des Kölner Diözesankomitees hinsichtlich dieser Fragen bestand vor allem in einer breiten Öffentlichkeitsarbeit, angefangen bei Vortragsund Schulungsabenden – seit 1948 auch im eigenen Bildungshaus¹⁶ – bis hin zu großen Publikumskundgebungen, mit denen sich das Diözesankomitee an die breitere katholische Öffentlichkeit wandte.¹⁷ Die Umsetzung des vollen Elternrechts, also die Beibehaltung der Bekenntnisschule, stand im Mittelpunkt der zahlreichen Aktionen, mit denen das Diözesankomitee in den Gründungsjahren der Bundesrepublik das politische Meinungsbild im Gebiet der Erzdiözese Köln sowie des seit 1946 bestehenden Landes Nordrhein-Westfalen insgesamt zu beeinflussen versuchte. Bereits das zweite Mitteilungsblatt des Diözesankomitees, das im März 1948 erschien, war ganz der Schulfrage gewidmet.¹⁸ Das Heft enthielt keineswegs nur rein deklamatorische Bekenntnisse, sondern präsentierte als Argumentationshilfe für die öffentliche Auseinandersetzung Materialien zur schulrechtlichen Lage sowie eine Liste kirchlicher Forderungen. In der Einleitung zu diesem Heft schrieb Böhler: Die hier aufgestellten Grundsätze und Forderungen müssen von allen Mitgliedern klar erkannt, in ihrer Begründung gesehen und mutig vertreten werden. Darüber hinaus wäre es wünschenswert, wenn einzelne besonders wichtige Fragen auch in größeren Kreisen der Elternschaft, der Lehrerschaft sowie sonstiger Interessierter besprochen würden. […] Je klarer unsere Grundsätze von der Gesamtheit des katholischen Volkes erfaßt werden, um so beruhigter können wir über den Ausgang all dieser Auseinandersetzungen sein.¹⁹

 „Bericht über die Tagung von Walberberg vom 28. bis 29. September 1946“, zit. nach Große Kracht 2016, 315.  Die spätere Thomas-Morus-Akademie in Bensberg; vgl. Oliver M. Schütz, Begegnung von Kirche und Welt. Die Gründung Katholischer Akademien in der Bundesrepublik Deutschland 1945 – 1975, Paderborn: Schöningh 2004, 230 ff.  An erster Stelle ist hier das Kölner Dombaufest von August 1948 zu nennen, die erste große deutsche Massenveranstaltung nach dem Zweiten Weltkrieg; vgl. dazu Jürgen Brügger, „Das Kölner Dombaufest 1948: Vom Versuch, sich eine neue Vergangenheit zu geben“, in Köln in den 50er Jahren. Zwischen Tradition und Modernisierung, hg. von Jost Dülffer, Köln: SH-Verlag 2001, 219 – 238.  Aus dem Katholischen Leben. Mitteilungen des Diözesankomitees der Katholikenausschüsse der Erzdiözese Köln, Heft 2, März 1948.  Ebd., 2.

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Böhlers Aufruf blieb nicht folgenlos. Die Geschäftsstelle des Kölner Diözesankomitees konnte im Jahresbericht 1949 stolz berichten: „Allein im Kampf um das Elternrecht und bei der Vorbereitung zur Wahl des Bundestages wurden 1 694 Drucksachen, 13 690 Broschüren und Schriften sowie 650 000 Flugblätter verteilt.“²⁰ Der Vorsitzende des Diözesankomitees, der Rechtsanwalt Anton Roesen, hatte sich zudem bereits im November 1948 in einem offenen Brief an die Mitglieder des Parlamentarischen Rates gewandt und gefordert, das „Recht der Eltern, über den religiös-weltanschaulichen Charakter der Schule ihrer Kinder zu entscheiden“²¹, in den Grundrechtekatalog der neuen bundesstaatlichen Verfassung aufzunehmen. Eingaben und öffentliche Stellungnahmen dieser Art, die sich auch in anderen Bundesländern nachweisen lassen und zum Teil bis in die 1950er Jahre andauerten,²² waren im deutschen Katholizismus der damaligen Zeit keine Seltenheit: Das Sekretariat des Parlamentarischen Rates zählte allein bis Mitte Januar 1949 bereits rund 500 Eingaben aus dem katholischen Raum, in denen eine grundgesetzliche Verankerung des Elternrechts auf die Konfessionsschule verlangt wurde.²³ Die schiere Masse dieser Aktionen zeugt von einem hohen politischen Partizipationsgrad katholischer Laiengruppierungen an den öffentlichen politischen Debatten während der Gründungsphase der Bundesrepublik. Gerade dort, wo Katholikinnen und Katholiken mit den Mehrheitspositionen in den Landesparlamenten und dem Parlamentarischen Rat nicht übereinstimmten – und dies betraf insbesondere die Elternrechtsfrage –, meldeten sie ihren Protest an und kämpften für andere Mehrheitsverhältnisse. Die Mittel, die sie im damaligen öffentlichen Meinungskampf anwendeten, entstammten dabei dem Arsenal des modernen Lobbying und der öffentlichen Meinungsbeeinflussung. Die Katholiken, so hatte Wilhelm Böhler im Jahr 1949 formuliert, müssten lernen, zu diskutieren, ihren Standpunkt zu verteidigen, auf Einwürfe zu antworten. […] Wenn wir das öffentliche Leben beeinflussen wollen, dann nicht nur durch Forderungen und Verhandlungen, sondern wir müssen an der Gestaltung des öffentlichen Lebens selbst

 „Jahresbericht des Diözesankomitees der Katholikenausschüsse in der Erzdiözese Köln 1949“, zit. nach Große Kracht 2016, 321.  Anton Roesen, „Wort an den Parlamentarischen Rat“, Aus dem Katholischen Leben, Heft 4, Januar 1949, 6; vgl. auch van Schewick 1980, 87.  So zogen beispielsweise noch im März 1954 60 000 Katholiken schweigend durch Hannover, um gegen das niedersächsische Schulgesetz zu protestieren (vgl. Kuropka 1992, 284).  van Schewick 1980, 101.

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teilnehmen, uns einschalten, wo öffentliche Einrichtungen, wo Massenbildungsmittel auf das Volk einwirken.²⁴

Genau das haben die Katholikenkomitees der ‚Stunde Null‘ in Westdeutschland versucht, wenn auch nicht immer mit dem gewünschten Erfolg, wie die eingangs zitierte Reaktion der deutschen Bischöfe auf die Verkündung des Grundgesetzes zeigt. Waren auch nicht alle katholischen Forderungen vom Parlamentarischen Rat in Bonn erfüllt worden, so zeigte sich Böhler zumindest im Hinblick auf das politische Engagement der katholischen Bevölkerung gleichwohl zufrieden: Während man bis vor kurzem noch feststellen konnte, daß das deutsche Volk kaum Anteil an den Beratungen des Parlamentarischen Rates in Bonn nahm, ist inzwischen eine Wendung eingetreten. Allmählich hat man erkannt, daß es sich in Bonn um sehr wesentliche Dinge handelt […]. Auch das christliche Volk ist lebendig geworden. So haben die Katholikenausschüsse, so haben Verbände und Organisationen ihre Stimme erhoben.²⁵

3 Von der Rechristianisierung zum Ethos des Kompromisses: Rainer Barzel, Johannes B. Hirschmann und der Bund Neudeutschland Die ersten Nachkriegsjahre waren auf Seiten der katholischen Kirche von einer umfassenden Rechristianisierungsrhetorik geprägt. Geistliche Würdenträger predigten allenthalben die Rückkehr in den Schoß der Kirche: Diese allein habe als Hüterin der ewigen Wahrheit dem Götzendienst der Nationalsozialisten getrotzt; sie allein sei als strahlende ‚Siegerin in Trümmern‘ in der Lage, dem am Boden liegenden deutschen Volk den rechten Weg in die Zukunft zu weisen.²⁶ „Wiederaufbau für Gott und mit Gott, das ist die Forderung der Stunde“²⁷, proklamierte der Erzbischof von Paderborn, Lorenz Jaeger, im Jahr 1946 und stand

 Wilhelm Böhler, „Katholikenausschüsse und Verbände“, Aus dem Katholischen Leben, Heft 6, Juni 1949, 3 f.  Zit. nach „Verfassung und Volk“, Aus dem Katholischen Leben, Heft 5, Januar 1949, 2.  Vgl. Siegerin in Trümmern. Die Rolle der katholischen Kirche in der deutschen Nachkriegsgesellschaft, hg. von Joachim Köhler und Damian van Melis, Stuttgart: Kohlhammer 1998; Wolfgang Löhr, „Rechristianisierungsvorstellungen im deutschen Katholizismus 1945 – 1948“, in Christentum und politische Verantwortung. Kirchen im Nachkriegsdeutschland, hg. von Jochen-Christoph Kaiser und Anselm Doering-Manteuffel, Stuttgart: Kohlhammer 1990, 25 – 41.  Lorenz Jaeger, „Fastenhirtenbrief über den ‚Wiederaufbau für Gott mit Gott‘“, 02.02.1946, in Hirtenbriefe und Ansprachen, Nr. 15, 73 – 85, 74.

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damit keineswegs allein im Chor der kirchlichen Stimmen nach 1945. „Ein durch und durch christliches Volk müssen wir wieder werden“, so forderten auch die bayerischen Bischöfe in ihrem ersten gemeinsamen Hirtenbrief nach dem Krieg.²⁸ Auch auf Seiten der Laienverbände wurde der Appell zur Rechristianisierung lautstark verkündet, so beispielsweise im ersten Nachkriegsprogramm des katholischen Schüler- und Studentenbundes Neudeutschland, der sich bei seiner Wiedergründung zum Ziel setzte, eine „neue Lebens- und Gesellschaftsordnung […] im Sinne der Rundschreiben der letzten Päpste“ zu verwirklichen.²⁹ Der erste ‚Bundesmeister‘ der Nachkriegszeit, der späterhin einflussreiche Publizist und Medienwissenschaftler Otto B. Roegele, ließ es ebenfalls an Pathos nicht fehlen: In unserem chaotisch durcheinandergeworfenen Volk gibt es nur diese eine Hilfe: mit dem bescheidensten Anspruch müssen kleine Zellen echter Ordnung entstehen. So wie der Heilige Benedikt in die chaotische Welt des zusammenbrechenden Römerreiches seine Klöster als Zellen und Kristallisationspunkte echter christlicher, menschlicher, römischer Ordnung hineingepflanzt hat, so müssen sich unsere jungen Christen entschließen, bescheiden, demütig und zäh Ordnung zu verwirklichen und auszustrahlen.³⁰

In einem vielbeachteten Aufsatz in der katholischen Kulturzeitschrift Hochland forderte Roegele im Jahr 1949 die deutschen Katholiken daher „zu einem bewußten, lebendigen, aktiven, wachsamen, verteidigungs- und vormarschbereiten Christentum“ auf.³¹ Auch beim jungen Rainer Barzel, ebenfalls Mitglied im Bund Neudeutschland, lassen sich in den ersten Nachkriegsjahren deutliche Anklänge an einen

 Die bayerischen Bischöfe, „Erstes gemeinsames Hirtenwort nach dem Krieg“, 28.6.1945, in Hirtenbriefe und Ansprachen, Nr. 4, 29 – 32, 31.  „Hirschbergprogramm – Brückenauer Fassung“, Werkbrief. Vom Neudeutschen Bund für die Arbeit in seinen Gruppen, Nr. 4, Juli 1948, 19; zum Bund Neudeutschland vgl. Rolf Eilers, Konfession und Lebenswelt. 75 Jahre Bund Neudeutschland 1919 – 1994, Mainz: Grünewald 1998. Hierzu und zum Folgenden auch Klaus Große Kracht, „Von der ‚Rechristianisierung der Gesellschaft‘ zur ‚sauberen Bewältigung der Realität‘. Wandlungen im Sendungsbewusstsein katholischer Intellektueller in der frühen Bundesrepublik (1945 – 1960)“, in Die zweite Gründung der Bundesrepublik. Generationswechsel und intellektuelle Wortergreifungen 1955 – 1975, hg. von Franz-Werner Kersting, Jürgen Reulecke und Hans-Ulrich Thamer, Stuttgart: Steiner 2010, 133 – 152.  Otto B. Roegele, „Neudeutschlands Aufgabe in dieser Zeit“, Bund Neudeutschland. Monatliche Mitteilungen der Bundesleitung 4, Nr. 1, 1951, 1– 9, 4 (Herv. i.O.). Zur Biografie Roegeles vgl. KarlJoseph Hummel, „Otto B. Roegele (1920 – 2005)“, in Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem deutschen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 12, hg. von Jürgen Aretz, Rudolf Morsey und Anton Rauscher, Münster: Aschendorff 2007, 201– 213.  Otto B. Roegele, „Der deutsche Katholizismus im sozialen Chaos. Eine nüchterne Bestandsaufnahme“, Hochland, Bd. 41, 1948/49, 205 – 233, 225.

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liberalismus- und modernekritischen Katholizismus vernehmen.³² In einer verbandsinternen Mitteilung aus dem Jahr 1947 zu Fragen moderner Verfassungspolitik lässt er als letzte Rechtsinstanz nur das (katholische) Naturrecht gelten: „Ordnung setzt Wertbewußtsein voraus. […] Das bedeutet, daß die Legalität (gesetzesmäßiges Zustandekommen der Rechtsnormen) allein nicht das Recht ist. […] Nur das ist Recht, was der gottgewollten, in Natur, Vernunft und Offenbarung aufgezeigten Ordnung nicht widerspricht. Dieses Naturrecht schwebt als objektiver, theozentrischer Bezugspunkt über jeder positiven Rechtsordnung […].“³³ Die Moderne, so Barzel dann zwei Jahre später auf dem zweiten Neudeutschen Studententag nach dem Krieg, kranke geradezu daran, dieses Wertbewusstsein zersetzt zu haben: Die Säkularisation zersetzte diese Ordnung durch anthropozentrische Religionslosigkeit, atomisierenden Zentralismus und Rechtspositivismus. So ergibt sich die Situation der Moderne: Der aus der religiösen Ordnung gefallene Mensch fällt damit zugleich aus der natürlichen Ordnung und steht so in der Vereinzelung seiner Person einem die Verbindlichkeit des Naturrechts negierenden Staat gegenüber.³⁴

Nun wäre es allerdings zu einfach, wollte man aus Barzels dezidierter Ablehnung des Rechtspositivismus und in seinem Rekurs auf ein letztlich substanzialistisches Verständnis gottgegebener Ordnung nichts als den Ausdruck eines in der Tat in der damaligen Zeit weit verbreiteten kirchlichen Antimodernismus heraushören. Im Gegenteil: Für Barzel war die gottgewollte „Natur der Dinge und Menschen“ gerade der Garant für die uneinschränkbare Geltung der Menschenrechte, einschließlich der Gewissensfreiheit, der Freiheit auf Meinungsäußerung und des Rechts auf körperliche Unversehrtheit:³⁵ „Ohne Menschenrechte vermögen Kirche und Menschen nicht ein gottgefälliges Leben zu führen und ihre Aufgaben in dieser Zeitlichkeit zu verwirklichen. Die Menschenrechte sind der Rahmen des Staates, in den hinein die actio catholica mit den Mitteln des Apostolats (nicht der Politik!) wirken und die Verchristlichung der Welt betreiben kann.“³⁶ Zu diesen Menschenrechten zählten für Barzel aber nicht nur die modernen formalen Abwehrrechte des Individuums gegenüber dem Staat, sondern

 Zu Barzels aktiver Rolle im Bund Neudeutschland vgl. seine Memoiren: Rainer Barzel, Ein gewagtes Leben. Erinnerungen, Stuttgart/Leipzig: Hohenheim 2001, 66 – 70.  Rainer Barzel, Grundzüge zeitnaher Verfassungspolitik. Rundbrief Nr. 1 des Neudeutschen-Älterenbundes, Westmark, Juli 1947, 1 (Herv. i.O.).  Ders., „Die Rechte und Pflichten des Menschen im Staat“, in 2. Neudeutscher Studententag Fulda, Juli – August 1949, hg. vom Bund Neudeutschland, o.O., o. J., 20 – 22, 20.  Ebd., 20 f.  Ebd., 22.

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auch ganz materiale Rechtsansprüche, insbesondere im Hinblick auf den Schutz der Familie einschließlich des Elternrechts in der Schulfrage.³⁷ Was ihm vorschwebte, war die „Schaffung eines organischen, persönlichkeitsbetonten, demokratischen Staatswesens naturrechtlicher Fundierung“, nicht jedoch die Etablierung einer, wie er abschätzig formulierte, „unitaristischen Formal- oder einer kollektivistischen Pseudodemokratie“.³⁸ Die Grenzen dessen, was der demokratischen Abstimmung freigegeben wurde, waren insofern durch die strenge katholisch-naturrechtliche Ableitung der Grundrechte und ihre Verankerung in der ‚gottgewollten Ordnung‘ eng gezogen. Neben den ‚jungen Wilden‘ wie Barzel und Roegele gab es im Bund Neudeutschland allerdings auch Stimmen, die wesentlich moderater an die politischen Reorganisationsaufgaben Westdeutschlands nach 1945 herangingen und vor einer Überstrapazierung des Rechristianisierungsappells warnten. An erster Stelle ist hier der Jesuit und Theologe Johannes B. Hirschmann zu nennen.³⁹ Hirschmann, der bereits in der Zwischenkriegszeit zum Bund Neudeutschland gestoßen war, fungierte zwischen 1950 und 1967 als Kaplan des Männerrings, bevor er von 1966 bis 1981 das Amt des Kaplans des gesamten Bundes bekleidete.⁴⁰ Aber auch ohne offizielle Funktion war Hirschmann bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit, in den Jahren zwischen 1945 und 1950, innerhalb des Bundes sehr aktiv und auf größeren Bundestreffen dieser Jahre mit Redebeiträgen vertreten.⁴¹ Hirschmann, der stets für eine aktive Beteiligung der Katholiken am öffentlichen Leben eintrat, warnte gleichwohl bereits in der frühen Nachkriegszeit vor einer Überdehnung christlicher Gestaltungsansprüche. So heißt es beispielsweise in einem Vortragsmanuskript aus seiner Feder, das vermutlich aus dem Jahr 1946 stammt, dass man „für den gegebenen Augenblick nicht mehr Durchchristlichung“ verlangen solle, als möglich sei, „um nicht durch unmögliche Ansinnen die Forderung der Durchchristlichung selbst in den Verruf einer

 Barzel 1947, 2 u. 4.  Ebd., 2.  Zu Hirschmann vgl. demnächst die kirchengeschichtliche Dissertation von Katharina Krips (München). Zu seiner Tätigkeit für den Bund Neudeutschland bei Kriegsende vgl. seine Selbstauskunft: Johannes B. Hirschmann, „Ordnung und Aufbau der katholischen Jugendarbeit in Deutschland“ (mit einem Bericht von K. Happe über die Nachkriegszeit in Paderborn), in „Dazu ist ein Dreifaches zu sagen“: Johannes Baptist Hirschmann S.J. Elemente eines Porträts, hg. von Johannes Beutler SJ u. a., Würzburg: Echter 1986, 11– 23.  Vgl. Eilers 1998, 332.  Vgl. etwa Johannes B. Hirschmann, „Unsere Verantwortung in Staat und Gesellschaft“, in 2. Neudeutscher Studententag, Fulda, Juli – August 1949, hg. vom Bund Neudeutschland o.O., o.J., 15 – 20.

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Utopie zu bringen“.⁴² Als ethische Maxime bedeutete dies für Hirschmann: „Aufbau einer Ordnung, die dem unverschuldet irrigen Gewissen der anderen sein relatives Recht läßt […].“⁴³ In diesem Zusammenhang führte Hirschmann dann einige Jahre später im Verbandsorgan des Bundes aus, dass unter bestimmten Umständen gerade nicht die Durchsetzung des eigenen Standpunktes, sondern der politisch-gesellschaftliche Kompromiss regelrecht christliche Pflicht sein könne. Die Anerkennung der Gewissensfreiheit des anderen sei jedenfalls als Gut höher zu bewerten als die zwanghafte Durchsetzung sozial-katholischer Verchristlichungsziele. Vor diesem Hintergrund, so Hirschmann, „ist der Kompromiß christlich, und das sture Durchhalten eines abstrakt christlichen Standpunktes mit der Vergewaltigung eines Gewissens ist der Abfall vom Herrn“⁴⁴. Die moralische Akzeptanz des Prinzips politischer Kompromissfindung bedeutete letztlich die grundsätzliche Anerkennung der modernespezifischen Differenz von Politik und Religion, auch wenn bei Hirschmann letztinstanzlich natürlich immer die geoffenbarte Wahrheit in ihrer christlich-kirchlich-römischen Gestalt die Oberhand behielt. Aber, so schrieb er bereits 1949, die sittliche Seite einer gesellschaftsbezogenen Entscheidung ist immer nur eine Seite, nicht ihre einzige; richtig verstanden, auch nicht ihre letzte! Die Entscheidung darüber, was sittlich tragbar ist, was nicht, ist nicht schon die Entscheidung darüber, was von dem sittlich Tragbaren gesellschaftlich tragbar ist, was nicht. Das – im Rahmen der von der Kirche festgestellten sittlichen Ordnung zu entscheiden – ist Sache der Gesellschaft selbst.⁴⁵

Damit unterscheidet Hirschmann deutlich zwischen der Lehre der Kirche einerseits und dem Kräftespiel innerhalb der politischen Gesellschaft andererseits; ein einfacher Kurzschluss zwischen dem naturrechtlich Geforderten und den Bauprinzipien der Demokratie findet bei ihm jedenfalls nicht statt. Die eigentliche Aufgabe der politischen Entscheidungsfindung setzt für ihn im Grunde erst da ein, wo die naturrechtliche Diskussion zwar den Rahmen des sittlich Zulässigen abgesteckt, sich ansonsten aber aus dem demokratischen Prozess der gesellschaftlichen Mehrheitsfindung zurückgezogen hat.

 Ders., „Christliches Gewissen und politische Verantwortung“, in: Ders., Ja zu Gott im Dienst an der Welt. Vorträge, Aufsätze, Predigten, hg. von Johannes Beutler SJ u. a., Würzburg: Echter 1984, 5 – 12, 12.  Ebd.  Ders., „Problem und Probleme der christlichen Demokratie“, Hirschberg, Heft 10, Oktober 1955, 145 – 151, 150.  Ders., „Die gesellschaftsordnende Macht der katholischen Kirche in der deutschen Gegenwart“, in Auf dem Wege zur christlichen Gesellschaftsordnung. Fragen der Männerseelsorge, Bd. 4, hg. von Anton Wohlgemuth, Fulda: Parzeller 1947, 47– 54, 52 (Herv. i.O.).

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Hirschmann nimmt damit eine Position vorweg, die sich in späteren Jahren auch bei Rainer Barzel finden lässt. Nach seinem Eintritt in die interkonfessionelle CDU und der Übernahme erster politischer Ämter argumentierte Barzel in der Tat ganz ähnlich wie Hirschmann, mit dem er über den Bund Neudeutschland in engerem Kontakt gestanden hatte.⁴⁶ Statt weiterhin auf das katholische Naturrecht als letzter Rechtsinstanz zu pochen, plädierte er 1956 auf einer Tagung des Bundes Neudeutschland für ein ‚realistisches’ Verständnis von Politik als der Kunst des Kompromisses und der Koalition: „Politik, Parteien und Staat können die Verchristlichung der Welt nicht direkt bewirken“, so Barzel nunmehr; gleichwohl könnten sie gute Voraussetzungen für das öffentliche Wirken der Kirche und das persönliche christliche Engagement des Einzelnen schaffen.Wolle die Christdemokratie ihren Einfluss auf die Gestaltung der gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit behalten und weiter ausbauen, dann, so Barzel weiter, „muss ihr Programm sehr allgemein sein. Mit einem betont ‚christlichenʻ Programm wird sie nicht die Mehrheit erringen.“ „Politik und Koalition“, so Barzels Fazit, „gehören zusammen wie Wasser und Meer“.⁴⁷ Das Pathos der ‚Stunde Null‘, das Pochen auf die Alleingeltung kirchlich-konfessioneller Positionen, hatte sich somit bis Mitte der 1950er Jahre merklich abgekühlt und Fragen der konkreten parlamentarischen Arbeit – und das hieß vor allem die Schaffung stabiler Mehrheiten – waren an die Stelle prinzipieller Erwägungen zum Verhältnis von Mehrheitswillen und naturrechtlichem Rahmen getreten. Oder, wie Barzel in einer Rede auf dem Fuldaer Katholikentag 1954 ausführte: „Politik ist immer irgendwie Kompromiß, also auch immer Scheitern gegenüber den eigenen Vorstellungen von der besten Lösung. Die praktische Politik hat es zum ganz überwiegenden Teil mit Dingen zu tun, die nicht aus dem Glauben direkt entschieden werden können. Es gibt nun einmal keinen aus dem Glauben direkt ableitbaren Margarinepreis.“⁴⁸

 Nach Auskunft seines Ordensbruders Oswald von Nell-Breuning SJ hatte Hirschmann Barzel gefördert und in das politische Leben eingeführt; vgl. Große Kracht 2010, 144.  Rainer Barzel, „Koalitionspolitik“ (1956), in Die Katholiken vor der Politik, hg. von Gustav E. Kafka, Freiburg i. Br.: Herder 1958, 119 – 131, 121; 128; 130.  Ders., „Die persönliche religiöse Verpflichtung der Christen zur Politik“, in Ihr sollt mir Zeugen sein. 76. Deutscher Katholikentag 1954, Fulda, hg. vom Zentralkomitee der deutschen Katholiken, Paderborn: Bonifacius, 277– 284, 282 f.

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4 Grenzen der Kooperation: Pluralismustheorie im Zentralkomitee der deutschen Katholiken Ende der 1950er Jahre Die Abschwächung des anfänglichen Rechristianisierungspathos und die erklärte Bereitschaft, auf Andersgläubige zuzugehen – ja selbst das ‚unverschuldet irrige Gewissen‘ in seinem Recht anzuerkennen –, waren zu einem großen Teil das Ergebnis der bürgerlich-wertkonservativen Entwicklung der jungen Bundesrepublik. Der Katholizismus hatte sich unter Adenauer in der rheinischen Republik behaglich eingerichtet; der Kalte Krieg förderte den Schulterschluss der Katholiken mit anderen christlichen und bürgerlich-konservativen Kreisen; die Schlachten um das Grundgesetz und die Länderverfassungen lagen bereits weit zurück. Gleichwohl blieb die Frage nach den Grenzen des politischen Kompromisses mit Andersdenkenden auch in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre unter Katholiken virulent und beschäftigte die katholische Reflexionskultur, so zumindest innerhalb des 1952 offiziell neugegründeten Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK).⁴⁹ Auch im obersten Repräsentativgremium des westdeutschen Laienkatholizismus hatte sich bis Mitte der 1950er Jahre die Einsicht durchgesetzt, dass die Förderung des Gemeinwohls die Zusammenarbeit mit Kräften außerhalb des katholischen Raumes als geboten erscheinen lassen könnte. Selbst „wenn eine politische Initiative in einer förderungswürdigen Angelegenheit von nichtkatholischen Kräften“ ausgehe, so war in einer Entschließung des ‚Staatspolitischen Arbeitskreises‘ des ZdK aus dem Jahr 1956 zu lesen, solle „die erbetene Mitarbeit nicht verweigert werden, sofern sie weder als Hilfeleistung für glaubensfeindliche Kräfte noch sonst als Demonstration gegen die Hierarchie ausgelegt werden kann“.⁵⁰ Waren diese Sätze in erster Linie auf eine Zusammenarbeit mit den Protestanten und damit auf eine Abstützung des interkonfessionellen Politikmodells der CDU gemünzt, so ließ sich die getroffene Aussage aber grundsätzlich auch über den christlichen Block hinaus ausdehnen, etwa in Richtung der liberalen oder gar der sozialdemokratischen Partei, auch wenn diesen vom Zentral-

 Zur Geschichte des ZdK vgl. Thomas Großmann, Zwischen Kirche und Gesellschaft. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken 1945 – 1970, Mainz: Grünewald 1991.  „Staatspolitische Arbeit“, in Die Kirche – Das Zeichen Gottes unter den Völkern. 77. Deutscher Katholikentag vom 29. August bis 2. September 1956 in Köln, hg. vom Zentralkomitee der deutschen Katholiken, Paderborn: Bonifacius, 372– 382, 382.

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komitee der deutschen Katholiken in den 1950er Jahren freilich noch eindeutige Absagen erteilt wurden.⁵¹ Der genannten Entschließung aus dem Jahr 1956 lag ein Entwurf zugrunde, der maßgeblich vom hauptamtlichen Referenten für staatsbürgerliche Angelegenheiten im Zentralkomitee der deutschen Katholiken, dem habilitierten Staatsrechtler Gustav E. Kafka, verfasst worden war.⁵² Zu Kafkas wesentlichen Aufgaben gehörte die Koordinierung des erwähnten ‚Staatspolitischen Arbeitskreises‘, in dem unter anderem die bekannten CDU-Politiker Josef Gockeln, Adolf Süsterhenn und Rainer Barzel, aber auch der Vorsitzende des Kölner Diözesankomitees der Katholikenausschüsse, Anton Roesen, sowie Wilhelm Böhler mitarbeiteten.⁵³ In seiner Funktion als Referent für staatsbürgerliche Angelegenheiten bemühte sich Kafka in den späten 1950er Jahren um eine klare Positionsbestimmung der politischen Partizipationsmöglichkeiten von Katholiken in der weltanschaulich neutralen, demokratischen Verfassungsordnung der Bundesrepublik. Und er tat dies keineswegs nur auf der Grundlage der einschlägigen Verlautbarungen des kirchlichen Lehramtes, sondern bemühte auch die zeitgenössische Pluralismustheorie, insbesondere die einschlägigen Konzepte des in der Weimarer Zeit eng mit den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie verbundenen, von den Nationalsozialisten verfolgten und nach dem Exil nach Berlin zurückgekehrten Politikwissenschaftlers Ernst Fraenkel.⁵⁴ Auf einer Tagung der Görres-Gesellschaft sprach Kafka 1960 von dem großen Verdienst, den sich Ernst Fraenkel durch die Herausarbeitung des Unterschiedes zwischen dem Typus der ‚repräsentativen Demokratie‘, so wie ihn die Bundesrepublik verwirkliche, und der ‚plebiszitären‘ erworben habe. Während letztere von der Annahme eines einheitlichen Volkswillens ausgehe, fuße die parlamentarisch-repräsentative Demokratie auf der Annahme einer grundsätzlichen Pluralität kollektiver Interessen innerhalb des staatlichen Rahmens. Insofern dürfe auch das Grundgesetz der Bundesrepublik „nicht im Sinne einer die Pluralität heterogener Gruppen abwertenden neutralistischen und d. h. monistischen Staatsideologie interpretiert werden“⁵⁵. Die repräsentative Demokratie habe vielmehr „vor der Verschiedenheit der Überzeugungen und der Gegensätzlichkeit von Interessen keine Angst“, denn

 Zur Haltung des ZdK gegenüber Liberalen und Sozialdemokraten vgl. Großmann 1991, 299 – 332.  Zu Kafka und seiner Rolle im ZdK vgl. Große Kracht 2016, 369 – 380.  Vgl. ebd.; auch Großmann 1991, 266.  Simone Ladwig-Winters, Ernst Fraenkel. Ein politisches Leben, Frankfurt a. M./New York: Campus 2009.  Zit. nach Große Kracht 2016, 375.

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sie sei getragen vom Glauben „an einen gemeinsamen Bestand von Rechtsgrundsätzen und an einen vernünftigen Kompromiß über das Gemeinwohl“.⁵⁶ Bezogen auf den eigenen gesellschaftlich-politischen Standort hätte dies in letzter Konsequenz aber bedeutet, dass auch die Katholiken im Grunde nur eine Interessengruppe neben anderen darstellten und auch sie insofern das Prinzip des ‚vernünftigen Kompromisses über das Gemeinwohl‘ als letzte Richtschnur zu akzeptieren hätten. So weit ging Kafka allerdings nicht. Zwar bekenne sich die Kirche, wie er auf einer Arbeitstagung des ZdK im Jahr 1960 ausführte, zur „Freiheit der pluralistischen Gesellschaft“, indem sie den Gläubigen nicht nur die Mitarbeit in katholischen, sondern auch in interkonfessionellen und konfessionsneutralen Vereinigungen ermögliche.⁵⁷ Die Hierarchie selbst einschließlich des Lehramtes nahm er allerdings aus dem pluralistischen Kräftespiel der gesellschaftlichen Meinungsbildung heraus: In seinem bereits erwähnten Vortrag vor der Görres-Gesellschaft hielt er ausdrücklich fest, dass die Kirche als meinungsbildende gesellschaftliche Kraft zwar ein „Glied der pluralistischen Gesellschaft“ sei, zugleich aber auch außerhalb derselben stehe, da sie staatskirchenrechtlich „neben und mit dem Staat“ existiere und dadurch „von allen übrigen sozialen Gruppen, von allen ‚Ständen‘ der Gesellschaft“ unterschieden sei.⁵⁸ Diese Sonderstellung der Kirche oberhalb anderer gesellschaftlicher Gruppierungen bestehe, so Kafka, durchaus zu Recht, da sie nun einmal anders als andere gesellschaftliche Organisationen keine partikularen Interessen vertrete, sondern ihr Anliegen in nichts weniger als der Verkündigung der „Wahrheit“ bestehe. Und dieser „Dienst an der Wahrheit hebt – auch für den Staat – die Kirche über alle anderen Weltanschauungsgruppen hinaus“⁵⁹. Während Kafka die Katholiken mit ihren Organisationen somit innerhalb der Gesellschaft auf gleicher Ebene mit anderen sozialen Interessengruppen ansiedelte, war die Kirche als hierarchische Sakralanstalt für ihn gleichsam ein Ort oberhalb der Gesellschaft, dem staatlich verfassten Gemeinwesen nicht unter-, sondern nebengeordnet.⁶⁰ Kafka verdoppelte damit in gewisser Weise den Kirchenbegriff und handelte sich so gleich zwei fundamentale Probleme ein: Zum

 Zit. nach ebd.  „Arbeitskreis staatspolitische Arbeit“, in Arbeitstagung Ettal, 25.-28. 04. 1960, hg. vom Zentralkomitee der deutschen Katholiken, Paderborn: Bonifacius 1960, 267– 302, 282.  Zit. nach Große Kracht 2016, 376.  Zit. nach ebd.  Im Grunde rekurrierte Kafka hier auf das bereits von Leo XIII. vertretene Theorem der zwei societates prefectae von Staat und Kirche; vgl. Leo XIII., „Enzyklika Immortale Dei über die christliche Staatsordnung“, 01.11.1885, in Päpstliche Verlautbarungen zu Staat und Kirche. Originaldokumente mit deutscher Übersetzung, hg. von Helmut Schnatz, Darmstadt: WBG 1973, 97– 139.

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einen beruhte dieses Denkmodell auf einer scharfen ekklesiologischen Unterscheidung von Laien und Klerikern, zum anderen verbaute es die Möglichkeit einer partnerschaftlich-egalitären Positionsbestimmung der katholischen Kirche gegenüber anderen gesellschaftlichen Interessengruppen. Wer doktrinär an der universalen Geltung einer partikularen Glaubensoffenbarung oder ihres naturrechtlichen Derivats festhält, setzt dem ‚vernünftigen Kompromiss‘ aller Beteiligten bereits im Vorfeld enge Grenzen, die nicht aus diesem selbst zu begründen sind.

5 Fazit: Der deutsche Katholizismus und ‚das Ethos der Demokratie‘ Noch Ende der 1950er Jahre war die Haltung der Katholiken gegenüber der freiheitlichen Ordnung des Grundgesetzes also nicht frei von Ambivalenzen. Auch wenn sie die demokratische, rechtsstaatliche Verfassung nicht in Frage stellten, sondern im Gegenteil durch die Übernahme öffentlicher und politischer Ämter stabilisierten und verteidigten, zogen sie dem Bereich dessen, was für sie der demokratischen Abstimmung und damit dem Kompromiss unterlag, doch enge Grenzen. Und diese Grenzen bestimmten sie nicht entlang verfassungsrechtlicher Kategorien, sondern aufgrund partikularer Glaubensüberzeugungen bzw. einer naturrechtlichen Argumentation, die für Nicht-Katholiken kaum nachvollziehbar war. Kafkas Versuch, über den Anspruch auf ‚Wahrheit‘ die Kirche über andere gesellschaftliche Interessengruppen zu erheben, konnte daher jene kaum überzeugen, die diesen Wahrheitsbegriff nicht teilten. Auf dieser Basis war eine überzeugende Positionsbestimmung der Kirche im pluralen Meinungsgefüge des pluralen Staates jedenfalls nicht möglich. Jüngere katholische Intellektuelle sahen diese Problematik Ende der 1950er Jahre sehr deutlich. Allen voran Ernst-Wolfgang Böckenförde, der in seiner ersten Veröffentlichung überhaupt, einem Artikel im Hochland, das demokratische Ethos von Kirche und Katholizismus auf den Prüfstand stellte.⁶¹ Den Anlass zu dieser Intervention hatte der Bischof von Münster, Michael Keller, gegeben, der,

 Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Das Ethos der modernen Demokratie und die Kirche“ (1957), in: Ders., Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit. Beiträge zur politischtheologischen Verfassungsgeschichte 1957 – 2002, Münster: LIT 2004, 9 – 25; zu den vielgestaltigen Interventionen Böckenfördes im politisch-kirchlichen Leben der Bundesrepublik vgl. Religion – Recht – Republik. Studien zu Ernst-Wolfgang Böckenförde, hg. von Hermann-Josef Große Kracht und Klaus Große Kracht, Paderborn: Schöningh 2014.

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wie Böckenförde später rückblickend schrieb, „die praktische Anerkennung des kirchlich interpretierten Naturrechts zum Kriterium der Wählbarkeit einer politischen Partei“ gemacht hatte.⁶² In seinem Aufsatz kritisierte Böckenförde das eingeschränkte, rein instrumentelle Verständnis von Demokratie, das aus einer Haltung wie derjenigen Kellers sprach, den er explizit allerdings nicht nannte. Demnach, so Böckenförde, tendiere die Kirche dazu, jene Verfassung, Regierung oder Partei zu unterstützen, die am weitestgehenden ihre naturrechtlich abgeleiteten materialen Werte schützt bzw. fördert (wie beispielsweise das ‚Elternrecht‘). Dann aber würden „Kompromisse und Koalitionen“ nur mehr zu „taktischen Manövern, lediglich Mittel zum Zweck“, und das Ethos der Demokratie werde verfehlt.⁶³ Denn dieses, so Böckenförde, bestehe in der wechselseitigen Anerkennung politisch Andersdenkender als Gleicher und der Akzeptanz gemeinsamer Spielregeln, ohne für sich Sonderrechte in Anspruch zu nehmen. Erst dann bestünde „echte Bereitschaft zum Kompromiß, nicht als taktisches Manöver, weil man zur Alleinherrschaft (noch) nicht stark genug ist, sondern als wirkliches Zugeständnis und Verzicht, weil man auch seinem politischen Gegner das Recht auf eine eigene politische Überzeugung zuerkennt“⁶⁴. Mit anderen Worten: „Für die Demokratie ist ein faires Wahlgesetz entscheidender als ein gutes Schulgesetz […].“⁶⁵ Böckenfördes Artikel von 1957 blieb nicht unwidersprochen.⁶⁶ Gleichwohl hat der Text vor inzwischen über 60 Jahren die berechtigte Frage nach der Haltung der Katholiken zur freiheitlich-demokratischen Ordnung des Grundgesetzes wie kein zweiter auf den Punkt gebracht. Auch heute noch empfiehlt sich die Lektüre – nicht nur für historisch Interessierte.

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 Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Vorbemerkung“, in: Ders. 2004, 7 f., 7.  Böckenförde 1957/2004, 19.  Ebd., 14.  Ebd., 16.  Vgl. ders., „Noch einmal: Das Ethos der modernen Demokratie. Eine Kontroverse“ (1958), in: Ders. 2004, 27– 49.

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II Zwischen Distanz, Akzeptanz und Über-Legitimation Selbstverständigungsbemühungen der christlichen Kirchen in der Bonner und der Berliner Republik

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Zwischen Selbstinszenierung und Wirklichkeit Zu den aktuellen programmatischen Selbstverständigungsbemühungen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gegenüber dem Staat des Grundgesetzes In diesem Beitrag stelle ich Beobachtungen an, die das Verhältnis der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zur Staatsform der Demokratie – genauer: zum freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaat des Grundgesetzes – thematisieren, wie es sich in kirchlichen Verlautbarungen seit der Demokratiedenkschrift von 1985 abbildet. Es geht mir im Folgenden also nicht um eine Thematisierung des grundgesetzlichen Rechts auf Selbstbestimmung der Religionsgemeinschaften vor dem Hintergrund der dem Staat als „Heimstatt aller Staatsbürger“¹ gebotenen „religiös-weltanschauliche[n] Neutralität“², ebenso wenig um Begründungen des schulischen Religionsunterrichts als Inanspruchnahme der grundgesetzlich garantierten Religionsfreiheit.³ Vielmehr erörtere ich das in öffentlichen Äußerungen der EKD während der letzten drei Jahrzehnte zum Ausdruck gebrachte (kirchliche) Selbstverständnis im Gegenüber zum Staat des Grundgesetzes.⁴ Nachdem ouvertürenartig die Bedeutung der Demokratiedenkschrift als Wendepunkt im Verhältnis des deutschen Protestantismus zur Staatsform der Demokratie vor Augen geführt wird (1.), beschäftige ich mich mit den aktuellen pro-

 BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 14.12.1965 – 1 BvR 413/60, Rn. 35 (BVerfGE 19, 206 (216)).  BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 24.09. 2003 – 2 BvR 1436/02, Rn. 43 (BVerfGE 108, 282 (300)).  Vgl. Christentum und politische Kultur. Über das Verhältnis des demokratischen Rechtsstaates zum Christentum. Eine Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Hannover: Kirchenamt der EKD 1997, Nr. 22– 24; ferner Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, hg. vom Kirchenamt der EKD, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1994 (2. Aufl., 1995), 37– 49 und Religiöse Orientierung gewinnen. Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, hg. vom Kirchenamt der EKD, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2014, 38 – 42.  Verzichtet werden muss auf eine Erörterung der Stellungnahmen der EKD bei Verfassungsbeschwerdeverfahren, wenn also den beiden großen christlichen Kirchen, wie anderen Verbänden und Institutionen auch, bei sie (auch nur annähernd) betreffenden Themen im Rahmen von Verfassungsbeschwerdeverfahren Gelegenheit zur Stellungnahme als „sachkundige[] Dritte[ ]“ (§ 27a BVerfGG) gegeben wird. https://doi.org/10.1515/9783110623406-007

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grammatischen Selbstverständigungsbemühungen der EKD gegenüber dem Staat des Grundgesetzes (2.). Abschließend werden diese Bemühungen vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Herausforderungen der bundesrepublikanischen Demokratie durch antidemokratische Strömungen bewertet (3.).

1 Die Demokratiedenkschrift als Wendepunkt „Die Frage besonderer Affinität von Demokratie und Christentum kann man ruhig beiseite lassen. Die moderne Demokratie ist gewiß nicht ohne Einwirkung des Christentums (Freiheit, Gewissen), aber wesentlich an ihm vorbei entstanden“⁵ – so das nüchterne Urteil des Göttinger Theologen Ernst Wolf (1902– 1971) über das Verhältnis von Demokratie und Christentum in seinem Beitrag zur Tagung der Kirchlichen Bruderschaften im Oktober 1957 in Wuppertal. Auf die Frage, wie sich die am 31. August 1945 im nordhessischen Treysa gegründete EKD zur freiheitlichdemokratischen Grundordnung des Grundgesetzes bekennt, gab es erst 40 Jahre nach ihrer Gründung eine klare, unmissverständliche Antwort: Nach intensiven, oft kontroversen Beratungen⁶ legte die EKD am 17. Oktober 1985 eine Denkschrift vor, die unter dem Titel Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie.

 Ernst Wolf, „Die Königsherrschaft Christi und der Staat“, in: Werner Schmauch/Ernst Wolf, Königsherrschaft Christi. Der Christ im Staat, München: Kaiser 1958, 20 – 61, 59 (Herv. i.O.); vgl. hierzu Wolfs nahezu wörtliche bzw. geringfügig modifizierte Übernahme dieses Urteils im Aufsatz „Die rechtsstaatliche Ordnung als theologisches Problem“ (1964), in Kirche und moderne Demokratie, hg. von Theodor Strohm und Heinz Dietrich Wendland, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1973, 257– 304, 289, sowie in: Ders., Sozialethik. Theologische Grundfragen (1975), 3. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1988, 255. Aus dem Jahr vor Wolfs Wuppertaler Vortrag stammt das vielzitierte Diktum seines Göttinger Kollegen Wolfgang Trillhaas (1903 – 1995), dass „bis zur Stunde die Demokratie für sie [scil. die lutherische Ethik] das eigentlich unbewältigte Thema darstellt“ (Wolfgang Trillhaas, „Die lutherische Lehre von der weltlichen Gewalt und der moderne Staat“, in Macht und Recht. Beiträge zur lutherischen Staatslehre der Gegenwart, hg. von Hans Dombois und Erwin Wilkens, Berlin: Lutherisches Verlagshaus 1956, 22– 33, 26). Und noch zehn Jahre später fragte der Jurist Rolf-Peter Calliess: „Es stellt sich […] auf dem Hintergrund der jüngsten Kirchengeschichte ebenso wie angesichts der gegenwärtigen Bewegung in unserer Gesellschaft mit drängender Aktualität die Frage: Wird die Kirche die Chance der Demokratie abermals verpassen, weil sie noch immer ‚Kirche im Widerstand‘ ist?“, in: Ders., Kirche und Demokratie, München: Chr. Kaiser 1966, 8.  Vgl. hierzu Hans Michael Heinig, „Die Entstehung der Demokratiedenkschrift – Einsichten aus der Archivarbeit“, in Aneignung des Gegebenen. Entstehung und Wirkung der Demokratie-Denkschrift der EKD, hg. von Hans-Michael Heinig, Tübingen: Mohr Siebeck 2017, 51– 78.

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Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe ⁷ eine „grundsätzliche Neujustierung“⁸ im Verhältnis des deutschen Protestantismus zur Staatsform der Demokratie vornahm. Nachdem sich das bisherige Verhältnis der EKD zur Bonner Demokratie nachgerade als „kritische Partnerschaft ohne Ja-Wort“⁹ gestaltet hatte, wurde nun in einem offiziellen kirchlichen Dokument die demokratische Verfassung der Bundesrepublik Deutschland als gegebene staatliche Wirklichkeit erstmals ausdrücklich anerkannt und positiv gewürdigt: „Als evangelische Christen stimmen wir der Demokratie als einer Verfassungsform zu, die die unantastbare Würde der Person als Grundlage anerkennt und achtet“¹⁰, heißt es eingangs der Denkschrift. Zwar sei die Demokratie „keine ‚christliche Staatsform‘“¹¹, und doch biete, wie an anderer Stelle formuliert wird, „[k]eine heute bekannte Staatsform […] eine bessere Gewähr“, die gegenwärtig drängenden gesellschaftlichen und politischen Probleme zu lösen, „als die freiheitliche Demokratie“.¹² Diese ‚amtliche‘ Zustimmung zum Staat des Grundgesetzes ist als grundsätzliche Bestätigung der in vorherigen Äußerungen der EKD eher praktisch erfolgenden Bejahung demokratischer Prinzipien zu verstehen, nicht aber als staatstheologisches Bekenntnis zur Demokratie.¹³ Die Zustimmung der EKD zur demokratischen Verfassung der Bundesrepublik Deutschland beruht nämlich „nicht auf einer theologischen Staatsmetaphysik“¹⁴ zur theologischen Legitimierung dieser Staatsform als ‚Anordnung Gottes‘, sondern erfolgt auf der Grundlage einer vornehmlich ethisch-theologischen Beurteilung ihrer Qualitäten, Leistungen und Potenziale als einer menschlichen Einrichtung im Blick auf „die Verwirklichung von Grundrechten und Grundwerten, die mittelbar oder unmit Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, hg. vom Kirchenamt im Auftrag des Rates EKD, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Mohn 1985 (im Folgenden zitiert nach der 4. Aufl., 1990).  Pressemitteilung der EKD vom 16.10. 2015 („30 Jahre Denkschrift zum ‚Staat des Grundgesetzes‘“), abrufbar unter: http://t1p.de/1dgi (Zugriff: 01.09. 2018).  Andreas Püttmann, „Ein ‚ja, aber‘ zur Bonner Demokratie. Die EKD-Denkschrift ‚Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe‘ (1985)“, Zeitschrift für Politik, Bd. 36, 1989, 75 – 87, 75.  Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie (1985), 12.  Ebd., 14.  Ebd., 40.  Vgl. dagegen Bastian Scholz, Die Kirchen und der deutsche Nationalstaat. Konfessionelle Beiträge zum Systembestand und Systemwechsel, Wiesbaden: Springer 2016 [Dissertation, TU Chemnitz 2015], 599: „1985 legte die EKD in ihrer Demokratie-Denkschrift ein verspätetes staatstheologisches Demokratiebekenntnis ab.“  Püttmann 1989, 78.

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telbar [als] Hervorbringungen des Christentums“¹⁵ betrachtet werden. Die Demokratiedenkschrift, in der die EKD ihr Verständnis von Demokratie und ihrer Rolle im Staat des Grundgesetzes einer prinzipiellen systematischen Klärung zuführt, ist gerade nicht als „eine abstrakte, allgemeine Staatstheorie“¹⁶, sondern als „eine aktuelle, situationsbezogene Zustimmung“¹⁷ zu verstehen: Es gilt, „über die Zustimmung zu dieser Demokratie und das Eintreten für sie Rechenschaft ab[zu]legen“¹⁸. Gerade deshalb markiert die Demokratiedenkschrift eine bemerkenswerte „Neuorientierung“¹⁹ protestantischer Staatslehre, die das Resultat eines langwierigen, von Teilen des Luthertums²⁰ als zutiefst unangenehm und schmerzhaft empfundenen Prozesses darstellt, dessen Aspekte und Stationen hier nicht en détail nachgezeichnet werden müssen.²¹ Gleiches gilt für die Beantwortung der damit in einem Atemzug zu stellenden Frage nach den bis in das Zeitalter der Reformation und zur Errichtung des landesherrlichen Kirchenregiments zurück-

 Ebd.  Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie (1985), 12.  Heinz-Georg Binder, „Die Verantwortung des Christen in der heutigen Zeit – Kirche in der Demokratie“ (Rede auf dem 2. Bad Bramstedter Gespräch am 3. März 1986), in Glaube und Politik. Die Bad Bramstedter Gespräche. Vorträge zum Dialog zwischen Kirche und Staat. 1985 – 1986, hg. von Walter Bernhardt und Gottfried Mehnert, Neumünster: Karl Wachholtz 1987, 52– 62, 57 (bei Püttmann 1989, 76, mit Abweichungen vom Original zitiert).  Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie (1985), 9 (meine Herv.).  Rochus Leonhardt, Religion und Politik im Christentum. Vergangenheit und Gegenwart eines spannungsreichen Verhältnisses, Baden-Baden: Nomos 2017, 396.  Die Zustimmung zur Demokratie in ideengeschichtlicher Hinsicht wird schwerlich – ohne Weiteres – aus der (genuin) lutherischen Tradition herzuleiten sein. Zur Auseinandersetzung mit der These der Demokratiefeindlichkeit des Protestantismus vgl. die Nachweise bei Kurt Nowak, „Protestantismus und Demokratie in Deutschland. Aspekte der politischen Moderne“, in Christentum und Demokratie im 20. Jahrhundert, hg. von Martin Greschat und Jochen-Christoph Kaiser, Stuttgart: Kohlhammer 1992, 1– 18, bes. 3 – 5, sowie, was die Kontextbezogenheit lutherischer sozialethischer Entwürfe angeht, Angelika Dörfler-Dierken, Luthertum und Demokratie. Deutsche und amerikanische Theologen des 19. Jahrhunderts zu Staat, Gesellschaft und Kirche, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001 [zugl. Habilitation, Universität Heidelberg 1998], die von der Hypothese ausgeht, „dass die angebliche Demokratieunfähigkeit von Theologen aus der lutherischen Tradition ihre Wurzeln nicht in der Theologie Luthers hat, sondern im jeweiligen politischgesellschaftlichen Kontext der Lutheraner“ (17).  Zur Rekonstruktion dieses mühseligen Weges des Protestantismus zu einer prinzipiellen Bejahung der freiheitlichen Demokratie als Staatsform im Sinne des Grundgesetzes vgl. Freiheit gestalten. Zum Demokratieverständnis des deutschen Protestantismus. Kommentierte Quellentexte 1789 – 1989, hg. von Dirk Bockermann u. a., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996.

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reichenden Gründen,²² warum sich der deutsche Protestantismus mit demokratischer Herrschaftslegitimation derart lange schwergetan hat und sich nur ausgesprochen mühsam mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes arrangieren konnte.²³ Lange Zeit orientierte sich das Luthertum an der vormodernen Ständeordnung, „nicht aber an den Koordinaten moderner Staatlichkeit“²⁴. Im Blick auf das in diesem Kontext als theologischer Hintergrund der lutherischen Ablehnung demokratischer Strukturen angeführte pessimistische Menschenbild,²⁵ welches zum autoritären Verständnis des Staates als ‚Notordnung‘ Gottes gegen die Sünde beitrug, sei hier wenigstens bemerkt, dass die Demokratiedenkschrift „die Einsicht in die Sündhaftigkeit und Fehlbarkeit des Menschen“²⁶ interessanterweise zugunsten der demokratischen Herrschaftsform deutet, insofern nämlich, als Regierte und Regierende gleichermaßen in Sünde verstrickt seien.²⁷ Mit der Zustimmung der EKD zum Staat des Grundgesetzes und zu seiner repräsentativ-demokratischen Regierungsform wurde weniger ein „staatstheologische[r] Neubeginn“²⁸ als vielmehr eine theologische Korrektur²⁹ einer einseiti-

 Vgl. Hans Michael Heinig, „Protestantismus und Demokratie“, Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, Bd. 60, 2015, 227– 264.  Zur protestantischen Aneignung des Grundgesetzes vgl. Arnulf von Scheliha, Protestantische Ethik des Politischen, Tübingen: Mohr Siebeck 2013, 197– 218. Anders als die katholische Kirche scheint die evangelische Kirche bei der Entstehung des Grundgesetzes keinen direkten Einfluss auf die Formulierung von Verfassungsartikeln ausgeübt zu haben; vgl. Klaus Gotto, „Die katholische Kirche und die Entstehung des Grundgesetzes“, in Kirche und Katholizismus 1945 – 1949, hg. von Anton Rauscher, Paderborn: Schöningh 1977, 88 – 108; Hans Maier, „Christentum und Staat: Modelle des Rechts, Entwicklungsphasen der Geschichte“, in Das Christentum und der Staat. Annäherungen an eine komplexe Beziehung und ihre Geschichte, hg. von Christian Hillgruber, Göttingen: V&R unipress 2014, 31– 50.  Reiner Anselm, Art. „Zweireichelehre I. Kirchengeschichtlich“, in Theologische Realenzyklopädie, Bd. 36, 2004, 776 – 784, 779. Anselm fährt fort: „Trotz dieser Schwierigkeiten hielt die lutherische Theologie an ihrem Integrations- und Führungsanspruch fest. Die Ausrichtung an ständischen Orientierungsmodellen sollte gerade im 19. Jh. den als atomisierend interpretierten Individualisierungstendenzen fortschreitender Modernisierung entgegenwirken. Unter dem Stichwort ‚Schöpfungsordnung‘ ist darum die Orientierung an der ständischen Ordnung ein populäres Postulat der zeitgenössischen lutherischen Ethik.“  Etwa Erhard Eppler, Die Wiederkehr der Politik, Frankfurt a. M.: Insel 1998, 209.  Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie (1985), 15.  Vgl. ebd., 15 f.  So Scholz 2016, 754, was argumentationslogisch in Spannung steht zur m. E. treffenden Rede von einer „demokratietheologische[n] Evolution der deutschen evangelischen Kirche“ (ebd.), in Spannung insofern, als ein evolutionärer Prozess gerade durch die Abfolge von vielen kleinen Zwischenschritten gekennzeichnet ist, aus dem heraus sich per se kein Neubeginn ergeben könnte. Gewiss: „Die EKD tilgte alle monarchistischen und antiliberalen Restbestände rück-

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gen Sicht innerhalb des bisherigen Staatsverständnisses vollzogen: Der demokratische Staat übt „seine Funktion als ‚Obrigkeit‘ nicht von oben her aus“³⁰, sondern durch eine von den Christinnen und Christen als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger selbst zu gestaltende Ordnung politischer Herrschaft. Es galt, sich dieser Ordnungsmacht nicht untertänig als nunmehriger „von Gott verordnete[r] Obrigkeit in aller Loyalität“³¹ zu unterwerfen, sondern sich deren normative Grundlagen „unter eigenen Prämissen“³² anzueignen. Das mit der Demokratiedenkschrift vollzogene Übermalen der „vordemokratische[n] Grundierung“³³ des Protestantismus war kein einfaches Sich-Entledigen-Wollen der zunehmend als drückende Belastung empfundenen „[o]brigkeitsstaatliche[n] Hypothek“³⁴, sondern – recht betrachtet – der Versuch einer funktionalen ReEvaluation und Neuinterpretation von ‚Obrigkeit‘³⁵ sub specie theologiae. ³⁶

standslos und interpretierte die Demokratie neu als Angebot an und Aufgabe für die Kirche.“ (ebd.)  Vgl. bes. Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie (1985), 14 u. 16 f.  Ebd., 16.  So die retrospektive Äußerung des Staats- und Kirchenrechtlers Rudolf Smend (1882– 1975) im Blick auf das Verhältnis der evangelischen Kirche zur demokratischen Ordnung der Weimarer Republik in seiner Abhandlung „Protestantismus und Demokratie“ (1932), in: Ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 2. Aufl., Berlin: Duncker und Humblot 1968, 297– 308, 298.  Jürgen Habermas, „Religiöse Toleranz als Schrittmacher kultureller Rechte“ (2004), in: Ders., Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, 258 – 278, 268.  So in der Einleitung des Gesprächs von Sven Töniges mit Hans Michael Heinig („Wie sich der Protestantismus mit der Demokratie anfreundete. Teil 2: Nach 1945 – Zwischen politischer Theologie und ‚protestantischer Mafia‘“) im Deutschlandfunk vom 22.12. 2015, abrufbar unter: http://t1p.de/j9e6 (Zugriff: 01.09. 2018).  Martin Honecker, „Demokratie als Lebensform. Die evangelische Kirche in Deutschland und ihre Einstellung zur politischen Kultur“, Deutsches Pfarrerblatt, Bd. 113, 2013, 492– 496, 492.  Zur systematisch-theologischen Entfaltung des Obrigkeitsbegriffs vgl. Eilert Herms, Art. „Obrigkeit“, in Theologische Realenzyklopädie, Bd. 24, 1994, 723 – 759.  Zum vorsichtigen Abrücken der Demokratiedenkschrift von der paulinischen Obrigkeitslehre in Röm 13 vgl. Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie (1985), 16 f. Zur Frage, ob die EKD mit der Demokratiedenkschrift, wie verschiedentlich behauptet wurde, gleich einer ‚Revolution‘ einen definitiven, endgültigen Abschied von der traditionellen Vorstellung eines obrigkeitlichen Staates vollzogen hat, vgl. Klaus Schlaich, „Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe. Einführung in die Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland“ (1986), in: Ders., Gesammelte Aufsätze. Kirche und Staat von der Reformation bis zum Grundgesetz, hg. von Martin Heckel und Werner Heun, Tübingen: Mohr Siebeck 1997, 405 – 422, 406 ff.

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Eine andere Frage aber ist, inwieweit es seitens der EKD „[n]ach der auch inhaltlichen Versöhnung mit dem Verfassungsstaat“³⁷ in der Demokratiedenkschrift im Rahmen der weiteren öffentlichen theologischen Aneignung der freiheitlichdemokratischen Grundordnung zur Anerkenntnis nicht nur des Eigenwertes des demokratischen Prozesses, sondern auch des Mehrwertes demokratischer Prinzipien und Strukturen gegenüber nichtdemokratischen Systemen gekommen ist und in welche Beziehung dabei demokratische Grundwerte zu den Grundanliegen christlicher Werthaltungen gesetzt wurden. Die nachfolgenden, in sechs Aspekte unterteilten, in gebündelter Form festgehaltenen und im Anschluss daran jeweils kommentierten Beobachtungen zu den öffentlichen Äußerungen der EKD zum Staat des Grundgesetzes³⁸ verstehen sich als ein Beitrag zur Klärung dieser Frage, auch wenn auf eine sprachlich-inhaltliche Detailanalyse der untersuchten Texte und eine eingehende Rekonstruktion ihrer Entstehungs- und Wirkungsgeschichten an dieser Stelle verzichtet werden muss.

 Christian Waldhoff, „Die Kirchen und das Grundgesetz nach 60 Jahren“, in 60 Jahre Bonner Grundgesetz – eine geglückte Verfassung?, hg. von Christian Hillgruber und Christian Waldhoff, Göttingen: V&R unipress 2010, 151– 172, 151.  Neben der Demokratiedenkschrift 1985, der Erklärung Christentum und politische Kultur 1997, dem Gemeinsamen Wort von EKD und DBK Demokratie braucht Tugenden 2006 und dem Impulspapier Konsens und Konflikt: Politik braucht Auseinandersetzung 2017 als Kerntexten der programmatischen Selbstverständigungsbemühungen der EKD wurden in die Untersuchung auch solche Veröffentlichungen der EKD einbezogen, die in thematisch andersgelagerten Kontexten wenigstens passagenweise zum Staat des Grundgesetzes Stellung beziehen, einschließlich der Geleit- und Vorworte sowie einschlägiger öffentlicher Äußerungen der jeweils amtierenden EKDRatsvorsitzenden. Eine hochspannende Frage, der hier nicht nachgegangen werden kann, betrifft Begründung, Berechtigung und Notwendigkeit sowie Ziel und Modus kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen und/oder politischen Fragen, mithin das Proprium kirchlicher Äußerungen gegenüber Äußerungen anderer (religiöser und nicht-religiöser) Bekenntnisgemeinschaften und Institutionen, sei es aus verfassungsrechtlicher (vgl. hierzu Klaus G. Meyer-Teschendorf, Staat und Kirche im pluralistischen Gemeinwesen. Verfassungstheoretische Vorverständnisse von Staat, Kirche und Gesellschaft in der staatskirchenrechtlichen Diskussion der Gegenwart, Tübingen: Mohr Siebeck 1979, 87– 90) oder sei es aus kirchlicher Perspektive (vgl. hierzu bes. die beiden metareflexiven ‚Denkschriften-Denkschriften‘ Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen. Eine Denkschrift der Kammer für Soziale Ordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland, hg. vom Rat der EKD, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Mohn 1970 und Das rechte Wort zur rechten Zeit. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Öffentlichkeitsauftrag der Kirche, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2008).

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2 Beobachtungen 2.1 Wertschätzung der Demokratie als Staatsform Die freiheitliche Demokratie des Grundgesetzes wird nicht nur im Spiegel christlicher Werthaltungen, sondern als deren Spiegelung betrachtet. Im Zentrum dieser Selbst-Erkenntnis tamquam in speculo steht die Überzeugung von der unantastbaren Menschenwürde als einer inhaltlichen Konsequenz der biblischen Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen.³⁹ Aus dieser Affinität des christlichen Menschenbildes zur freiheitlichen Demokratie des Grundgesetzes⁴⁰ begründet sich deren Wertschätzung und die Aufgabe, sich als Christinnen und Christen in die demokratische Ordnung dieses Staates einzustellen, für sie einzutreten und das demokratische Staatswesen (mit)verantwortlich zu gestalten.⁴¹ Kommentar. Die Überzeugung von der unantastbaren Menschenwürde ist nicht einfach der säkulare Ausdruck der theologischen Kategorie der Gottebenbildlichkeit, welche, als unverfügbare und unverlierbare Gabe Gottes verstanden, die Gleichheit der Menschen coram Deo in allen ihren Unterschiedlichkeiten coram hominibus begründet. Gottebenbildlichkeit ist aus theologischer Sicht vielmehr unbedingte und unabdingbare Voraussetzung der nicht nur jeder kulturellen Deutung, sondern auch allen politischen Gesellschaftsmodellen vor Vgl. z. B. Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie (1985), 13 f. (Abschnitt „Die Demokratie und die Würde des Menschen“).  Vgl. z. B. Wolfgang Huber, Ethik und Demokratie (Ansprache auf dem Katholikentag in Ulm, 19.06. 2004), abrufbar unter: www.ekd.de/vortraege/huber/04_06_19_huber_katholikentag.html (Zugriff: 30.08. 2018); Demokratie braucht Tugenden. Gemeinsames Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur Zukunft unseres demokratischen Gemeinwesens, hg. vom Kirchenamt der EKD und vom Sekretariat der DBK, 20.11. 2006, 12 sowie Die Balance von Kontinuität und Wandel wahren. Gemeinsame Erklärung […] zum 60. Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (20.05. 2009), abrufbar unter: http://t1p.de/37yz (Zugriff: 30.08. 2018).  Vgl. z. B. Demokratie braucht Tugenden (2006), 48: „Die weit über den Tag und sogar über dieses Leben hinausreichende Hoffnung, die Christinnen und Christen miteinander teilen und von der sie anderen Menschen mitteilen können, befreit zu einer verantwortlichen Weltgestaltung. Dies gilt nicht nur, aber auch für das Leben in einem demokratischen Gemeinwesen und somit für die im weiten Sinne verstandene Berufung der Bürgerinnen und Bürger zur Politik.“ Vgl. ferner Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie (1985), 14: „Aber die Sündhaftigkeit und Fehlbarkeit des Menschen sagt nicht alles über den Auftrag des Staates. Eine solche einseitige theologische Sicht bedarf der Korrektur; denn diese Sicht hat in der Kirche zu einer tiefen Skepsis gegenüber der modernen Demokratie bis hin zu ihrer grundsätzlichen Ablehnung geführt. Damit hat sie blind gemacht für die Verantwortungsfähigkeit des Menschen, aus der für Christen die Aufgabe folgt, den Auftrag des Staates mitzugestalten.“ (Herv. i.O.)

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ausliegenden Würde des Menschen. Diese kann auch ohne theologische, nicht aber ohne anthropologische Hintergrundannahmen gedacht werden.⁴² Mit der Konfundierung oder gar Identifizierung von theologischem Vokabular und Deutungsanspruch mit verfassungsrechtlichen Begrifflichkeiten und Gegebenheiten wird nicht nur der Säkularität und Eigenständigkeit des modernen demokratischen Rechtstaats Eintrag getan. Vielmehr läuft auch die Kirche ihrerseits damit Gefahr, von einer Anwältin für die vom säkularen Verfassungsstaat nicht selbst gewährleisteten, aber zu fördernden Voraussetzungen⁴³ zu einem Produkt eben dieses Staates zu werden.⁴⁴

2.2 Hochschätzung der christlichen Prägekraft und Verwurzelung Der spezifische Zusammenhang zwischen Christentum und modernem demokratischem Rechtsstaat wird als sowohl geschichtlicher wie sachlicher Art, das Wertefundament des demokratischen Rechtsstaates als von christlichen Wurzeln durchzogen betrachtet.⁴⁵ Dieses gründe, wie unter Verweis auf entsprechende  Vgl. Wolfgang Vögele, Art. „Gottebenbildlichkeit“, in Wörterbuch der Würde, hg. von Rolf Gröschner u. a., München: Fink 2013, 158 – 159, 159. Zum Verhältnis von Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde sowie zur Begründungsleistung der Rede von ersterer für letztere vgl. ders., „Menschenwürde und Gottebenbildlichkeit“, in Freiheit und Menschenwürde. Studien zum Beitrag des Protestantismus, hg. von Jörg Dierken und Arnulf von Scheliha, Tübingen: Mohr Siebeck 2005, 265 – 276; ferner Stefan Heuser, Menschenwürde. Eine theologische Erkundung, Münster: LIT 2004 [Dissertation, Universität Erlangen 2002], 258 – 268.  Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, 60, zusammen mit Hermann-Josef Große Kracht, „Fünfzig Jahre Böckenförde-Theorem. Eine bundesrepublikanische Bekenntnisformel im Streit der Interpretationen“, in Religion – Recht – Republik. Studien zu Wolfgang-Ernst Böckenförde, Paderborn: Schöningh 2014, hg. von Hermann-Josef Große Kracht und Klaus Große Kracht, Paderborn: Schöningh 2014, 155 – 183.  Vgl. hierzu Waldhoff 2010, 172; ferner die pointierte Einschätzung bei Friedrich Wilhelm Graf, Kirchendämmerung. Wie die Kirchen unser Vertrauen verspielen, München: C.H. Beck 2011, 93: „Gern macht man sich im politischen Tageskampf die normativen Leitbegriffe der Verfassung zu eigen, vor allem den in den deutschen Kirchen inzwischen inflationär benutzten Begriff der Menschenwürde. Nicht selten lässt sich dabei ein imperialistischer Gestus der Begriffsbesetzung beobachten, etwa indem ‚die Menschenwürde‘ zu einer genuin oder gar exklusiv christlichen Idee erklärt und damit eine spezielle kirchliche Deutungsmacht reklamiert wird. Der demokratische Staat gehört jedoch, Gott sei Dank, nicht den Kirchen und die Menschenwürde nicht den Theologen.“ (Herv. i.O.)  Vgl. Christentum und politische Kultur (1997), Nr. 33, Nr. 62 sowie Nr. 63 – 69; vgl. ferner Räume der Begegnung. Religion und Kultur in evangelischer Perspektive. Eine Denkschrift der Evangelischen

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verfassungsgerichtliche Aussagen und mit Bezug auf den vom Bundesverfassungsgericht verwendeten Begriff der ‚Prägekraft‘ des Christentums hervorgehoben wird, auf „Wertentscheidungen, in denen sich die prägende Kraft des Christentums […] auswirkt“⁴⁶. Diese hochgeschätzte, buchstäblich fundamentale Bedeutung des Christentums für den modernen Rechtsstaat sei (von ihm) anzuerkennen. Kommentar. Die Beiträge des christlichen Glaubens und der Kirchen zur Ausbildung moderner Grundrechte und zum Wertefundament des demokratischen Rechtsstaates werden in den untersuchten Texten vornehmlich abstrakt und retrospektiv konstatiert, weniger spezifiziert und/oder prospektiv im Blick auf zukünftige Herausforderungen entwickelt. In einem – selbstbewussten – Verweis auf bisher Geleistetes und zukünftig zu Leistendes wäre deshalb zu zeigen, inwiefern die bundesverfassungsgerichtlich attestierte Prägekraft des Christentums auch für den Zusammenhalt unserer gegenwärtigen, fortgeschritten säkularisierten Gesellschaft neue oder erneute Relevanz gewinnen könnte – und dies umso mehr dann, wenn einzelne gesetzliche Regelungen dem als christlich apostrophierten Wertefundament des demokratischen Rechtsstaates nicht entsprechen können sollten.⁴⁷ Schlechterdings grotesk mutet die Hochschätzung des christlichen Einflusses auf den demokratischen Rechtsstaat allerdings an, wenn dieser Einfluss schon aufgrund der nominellen Religionszugehörigkeit führender Politikerinnen und Politiker behauptet wird: „Christen, wohin das Auge schaut!“⁴⁸ Jeder undifferen-

Kirche in Deutschland und der Vereinigung Evangelischer Freikirchen, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2002, 26 u. 78 f.  Christentum und politische Kultur (1997), Nr. 3, mit Verweis auf BVerfGE 41, 65 (84); vgl. ferner Hermann Barth, „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie“, in: Josef Homeyer u. a., Religion und Politik, Interne Studie, Nr. 151/1998, hg. von der Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin: Konrad-Adenauer-Stiftung 1998, 87– 94, bes. 91– 94.  In der Kruzifix-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 16.05.1995 (vgl. dazu Beate Schulte zu Sodingen, „BVerfGE 93, 1 – Kruzifix“, in Verfassungsrechtsprechung. Ausgewählte Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in Retrospektive (2014), 3. Aufl., hg. von Jörg Menzel und Ralf Müller-Terpitz, Tübingen: Mohr Siebeck 2017, 587– 594) ist, wie in der Erklärung Christentum und politische Kultur (1997), Nr. 4 konstatiert wird, „sogar von der ‚überragenden Prägekraft‘ des Christentums“ die Rede (vgl. BVerfGE 93, 1 (22)). Auf die in eben dieser Entscheidung geweckten Zweifel an der „Kontinuität in der Auslegung des Grundgesetzes“ soll in der Erklärung jedoch bezeichnenderweise „nicht eingegangen werden“ (ebd.).  Wolfgang Huber, „Christen in der Demokratie“, Aus Politik und Zeitgeschichte, Jg. 59, 2009, Heft 14, 6 – 8, 6, wo Huber die christliche Prägung aller Bundespräsidenten und von Bundeskanzler/innen als „Beispiele dafür“ betrachtet, „dass das demokratische Gemeinwesen Deutschlands und somit die Geschichte unserer Republik durch das Wirken von Christen in leitenden politischen Ämtern mitgeprägt sind“.

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zierte Verweis auf christliche Wurzeln des modernen demokratischen Rechtsstaates missachtet überdies, dass der „Übergang zur Moderne“ kein „Prozess einfacher Entfaltung christlicher Ideen“ war.⁴⁹ Die modernen Ideen der Toleranz, der Menschenrechte und einer freien Gesellschaft sind keine Hervorbringungen „auf dem Boden kirchlicher Autorität“⁵⁰, sondern „säkularisierte Schätze der Kirche“⁵¹, die erst durch „die weltliche ‚Beerbung‘ ursprünglich christlicher ‚Güter‘“⁵² zu Errungenschaften des modernen demokratischen Rechtsstaates wurden.

2.3 Moralische Selbstermächtigung als Selbstbemächtigung Obschon ohne Monopol auf die Vertretung und Geltendmachung grundlegender moralischer Werte bzw. Werthaltungen und Ansprüche im und gegenüber dem demokratischen Rechtsstaat, profiliert sich die EKD in ihren öffentlichen Äußerungen (selbst) als kritisches Gewissen und ‚Wächterin‘ über die moralische Ordnung sowie als engagierte, von selbst tätige Anwältin für Unterprivilegierte innerhalb gesellschaftlich-wirtschaftlich-politischer Konflikt- und Kräftekonstellationen.⁵³ Kommentar. Mit dem für sich selbst als gesellschaftliche Institution erhobenen hohen ethisch-moralischen Anspruch,⁵⁴ mitunter in Spannung oder Widerspruch zur Wirklichkeit eigenen Handelns,⁵⁵ geht bisweilen die Tendenz der Kirche zur moralisierenden Bevormundung und zur Disqualifizierung anderer (gesellschafts)politischer Positionen als notorisch orientierungsbedürftig ein-

 Wolfhart Pannenberg, „Die Kirchen und die entstehende Einheit Europas“ (1994), in: Ders., Beiträge zur Ethik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, 221– 235, 231.  Ebd.; zit. bei Waldhoff 2010, 172.  Eberhard Jüngel, „Untergang oder Renaissance der Religion? Überlegungen zu einer schiefen Alternative“ (1995), in: Ders., Indikative der Gnade – Imperative der Freiheit. Theologische Erörterungen IV, Tübingen: Mohr Siebeck 2000, 24– 39, 31.  Ebd.; vgl. dazu Herbert Schnädelbach, „Mit oder ohne Gott? Ansichten des Atheismus“, in: Ders., Religion in der modernen Welt. Vorträge, Abhandlungen, Streitschriften, Frankfurt a. M.: Fischer 2009, 52– 77, bes. 57 f.  Vgl. z. B. Christentum und politische Kultur (1997), Nr. 50; Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, 2. Aufl., Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2002, 12 u. 120 f.; Das rechte Wort zur rechten Zeit (2008), 37 (Nr. 40) u. 41 f. (Nr. 51); Zum Umgang mit Menschen ohne Aufenthaltspapiere (2006), 11.  Im Blick auf ersteren Anspruch ist dieser hohe Standpunkt unbedingt nötig, wenngleich ‚Selbstermächtigung‘ recht besehen in ‚Selbsterniedrigung‘ liegt (vgl. Lk 14,11 par).  Vgl. Birgit Rommelspacher, Wie christlich ist unsere Gesellschaft? Das Christentum im Zeitalter von Säkularität und Multireligiosität, Bielefeld: transcript 2017, bes. 165 – 171.

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her,⁵⁶ zumal wenn die Erteilung eines entsprechenden Mandats nicht explizit erfolgt ist. Bisweilen offenbart sich in den untersuchten öffentlichen Äußerungen der EKD die Sichtweise, sich „eher als moralische Letztinstanz[ ] denn als gleichberechtigte Akteur[in] im demokratischen Wettstreit“⁵⁷zu begreifen.

2.4 Zwischen Äquidistanz-Distanzierung und Äquidistanz-Affirmation Vor dem Hintergrund des in öffentlichen Äußerungen der EKD der letzten drei Jahrzehnte durchgängig zum Ausdruck gebrachten Bekenntnisses zum verfassungsrechtlichen Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates einerseits, der entschiedenen Verteidigung des vom Bundesverfassungsgericht vielfach anerkannten, grundsätzlich bestätigten Sonderstatus der Kirchen einschließlich ihrer Inanspruchnahme daraus folgender Sonderrechte⁵⁸ andererseits, wird das Prinzip der Äquidistanz des Staates gegenüber religiösen Bekenntnissen und anderen Glaubensüberzeugungen heterogen interpretiert. Einerseits wird in Christentum und politische Kultur (1997) die verfassungsrechtlich geforderte weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates prinzipiell begrüßt, das Prinzip der „Äquidistanz gegenüber allen religiösen und weltan-

 Vgl. z. B. Christentum und politische Kultur (1997), Nr. 3 u. Nr. 6 sowie, in gewisser Spannung dazu, Nr. 42; ferner Räume der Begegnung (2002), 71; Das rechte Wort zur rechten Zeit (2008), 45 (Nr. 60) sowie das Vorwort des amtierenden EKD-Ratsvorsitzenden, Heinrich Bedford-Strohm, in Konsens und Konflikt: Politik braucht Auseinandersetzung (2017), 6; vgl. hierzu Reiner Anselm, „Die Elitendemokratie überwinden. Die Kirchen müssen Konsequenzen aus der Bundestagswahl ziehen“, Zeitzeichen, Bd. 18, 2017, Nr. 11, 8 – 11; vgl. auch die allgemeine Charakteristik der als Orientierungshilfen bezeichneten Texte als Form kirchlicher Verlautbarungen der EKD in Das rechte Wort zur rechten Zeit (2008), 29 (Nr. 28): „Orientierungshilfen beziehen sich in der Regel auf eine eng umgrenzte, aktuelle und umstrittene Thematik, für die in Kirche und Gesellschaft nach überzeugenden Argumenten gefragt wird, die eine Anleitung und Hilfe zu einer persönlich verantworteten Entscheidung darstellen können. Orientierungshilfen zielen häufig auf eine umfassende oder begrenzte Handlungsempfehlung im persönlichen oder im gesellschaftlichen Bereich.“ (Herv. i.O.)  Anselm 2017, 8.  Vgl. z. B. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 22.10. 2014 – 2 BvR 661/12 bezüglich der Loyalitätspflicht kirchlicher Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, wonach Angestellte von den Kirchen entlassen werden können, wenn sie gegen zentrale kirchliche Positionen verstoßen. Arbeitsgerichte dürften dieses „kirchliche Selbstverständnis“ nur eingeschränkt überprüfen – „Fragen der Lehre, der Religion und des kirchlichen Selbstverständnisses gehen den Staat grundsätzlich nichts an“ (Rn. 89).

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schaulichen Bekenntnissen“⁵⁹ de facto jedoch eingeschränkt. Dies geschieht unter Verweis auf (1.) den gebotenen Respekt des Staates vor der Prägekraft des Christentums und die in der Verfassung zum Ausdruck kommende „innere Nähe zu ihr“, (2.) das besondere Verhältnis von Kirchen und Christen zur staatlichen Gemeinschaft, (3.) den Umstand, dass „Öffentlichkeit und Politik sich der Mobilisierung weiterer christlicher Prägekraft nicht widersetzen“, sondern von Kirchen und Christen „deutliche und hilfreiche Beiträge zur Entwicklung ethischer Maßstäbe im Umgang mit schwierigen Gegenwartsfragen […] sogar ausdrücklich anfordern“ sowie (4.) die seitens des Staates im Interesse an seiner eigenen Legitimation zu erfolgende besondere Würdigung und staatliche Unterstützung des vornehmlich in den Kirchen organisierten Christentums. Es sei eben keine grundlose Ungleichbehandlung anderer Religionsgemeinschaften oder gar eine Diskriminierung, wenn der Staat in der Gestaltung seiner Zusammenarbeit mit den christlichen Kirchen der Erfahrung Rechnung trägt, daß diese zu seinem Bestand an Werten und zum gedeihlichen Zusammenleben der Bürgerinnen und Bürger unvergleichlich viel beigetragen haben und weiterhin beizutragen bereit sind.

Die Forderung, „allen mit der gleichen Aufgeschlossenheit zu begegnen“, könne „allenfalls Ausfluß einer Pflicht zu blinder Neutralität sein“, die überdies auch „vom Grundgesetz nicht gewollt“ sei. Andererseits wird in Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive (2015)⁶⁰ einer solchen Relativierung des Äquidistanzprinzips eine deutliche Absage erteilt. Grundlage der Argumentation ist hier die durch den deutschen Verfassungsstaat erfolgte Ausgestaltung des Grundsatzes der Religionsfreiheit „in religionsfreundlicher Offenheit und Verbundenheit“⁶¹. Dieses grundgesetzliche Verständnis einer „religionsfreundlichen Offenheit des Gemeinwesens“ gelte es nicht nur zu bewahren, sondern „als Modell auch im europäischen und internationalen Kontext zu nutzen“.⁶² Menschenwürde, Geschlechtergleichberechtigung und Religionsfreiheit als normative Grundlagen des modernen Rechtsstaates stellten „Voraussetzungen dar, die nicht darum verbindlich sind, weil sie aus dem christlichen Glauben stammten oder ‚immer

 Christentum und politische Kultur (1997), Nr. 41 (meine Herv.). Die weiteren Zitate ebd., Nr. 41; Nr. 49; Nr. 50; Nr. 53; Nr. 54.  Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland hg. vom Kirchenamt der EKD, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2015.  Ebd., 41 (ohne Herv.); vgl. dazu 16 u. 41– 45.  Ebd., 45.

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schon christlich‘ wären“⁶³. Vielmehr verbiete es sich, das unterschiedliche Gesellschaftsteile verbindende ethische Fundament auf dem Umweg historischer Ableitungen einseitig allein aus dem Christentum herleiten zu wollen […]. Die Chance zur Beheimatung unterschiedlicher Religionen in der Ordnung des Grundgesetzes ergibt sich gerade daraus, dass keine von ihnen die Grundlagen des Rechtsstaates exklusiv mit ihren eigenen Überzeugungen verbindet. Das schmälert nicht die berechtigte Suche nach den produktiven Zusammenhängen zwischen christlichem Glauben und modernem Rechtsstaat. Aber einen Verfassungspatriotismus zu pflegen oder den demokratischen Wertekonsens zu teilen, ist noch kein implizites Bekenntnis zum Christentum oder gar zum Protestantismus.⁶⁴

Die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates zeige sich darin, dass die „religionsfreundliche Zusage des Grundgesetzes für ein breites öffentliches Wirken […] unter der Voraussetzung [steht], dass die entsprechenden Gewährleistungen dem Grunde nach allen Religionen in gleicher Weise zukommen können“⁶⁵. Der Gleichbehandlungsgrundsatz der staatlichen Rechtsordnung gebe das Maß vor, „das sie gegenüber den Religionsgemeinschaften einzuhalten hat. Differenzierungen in der Rechtsstellung sind begründungspflichtig.“ Der Gleichbehandlungsgrundsatz führe allerdings nicht zu einer „nivellierenden Gleichheit“ der Religionen. Die evangelische Kirche fühle sich dem freiheitlichen Verfassungsstaat „in besonderer Weise verbunden“, woraus eine vielfach vertraute und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Staat und christlichen Kirchen resultiere. Aus dieser Erfahrung heraus unterstütze es die evangelische Kirche gleichwohl, „dass der freiheitliche Staat das Angebot der religionsfreundlichen Zusammenarbeit auch an die anderen Religionen richtet“⁶⁶. Dies gelte sowohl für das Judentum als auch für den Islam. Der Gleichbehandlungsgrundsatz dürfe „nicht an formalisierten Voraussetzungen scheitern“⁶⁷. Kommentar. Das Gebot der weltanschaulich-religiösen Neutralität verpflichtet den Staat nicht zur Gleichgültigkeit gegenüber der Art und Weise, wie „das Verhältnis von Religion und Staat von Seiten der Religion bestimmt wird“⁶⁸. Vielmehr besitzt jede faktische oder potenzielle Religionsgemeinschaft im Sinne des Grundgesetzes aus grundgesetzlicher Sicht die gleiche Gültigkeit – und damit die gleichen Rechte und Pflichten, aber auch die gleichen Chancen und Poten Ebd., 23 f.  Ebd., 24.  Ebd., 42. Diese Angabe gilt auch für die folgenden drei Zitate.  Ebd., 42 f. (Herv. i.O.).  Ebd., 43.  So Wolfgang Huber, „Der christliche Glaube und die politische Kultur in Europa“ (Vortrag in Brüssel, 24.05. 2004), abrufbar unter: http://t1p.de/lwnp (Zugriff: 31.08. 2018).

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ziale auf dem, religionsökonomisch gesprochen, „Markt der Religionen“⁶⁹. Aus dem Umstand und dem Anspruch, dass das spezifische Verhältnis von Christentum und demokratischem Rechtsstaat von nicht zufälliger – sei es geschichtlicher, sei es sachlicher – Art ist, folgt kein Primat inter pares. Christinnen und Christen in der Demokratie sind keine „Bürger besonderer Art“⁷⁰, aller Verweise auf eine inhaltliche Verwandtschaft von kirchlichem Christentum und der Gesellschaftsform der Demokratie sowie auf „eine Legierung von Christentum und politischer Kultur“⁷¹ zum Trotz.

2.5 „Überidentifikation mit dem Grundgesetz“⁷² Das Grundgesetz wird nicht nur in seinen grundrechtlichen Bestimmungen, sondern mitunter auch in legitimatorischen Grundfragen als vorbildlich akzeptiert.⁷³ Verfassungsrechtliche Argumente werden dabei nicht nur im innertheologischen Diskurs in Anspruch genommen, sondern zum Teil auch tale quale in die kirchliche Verkündigung übernommen. So heißt es etwa in der Ansprache Wolfgang Hubers als EKD-Ratsvorsitzender im ökumenischen Gottesdienst anlässlich des Verfassungsjubiläums am 22. Mai 2009 im Berliner Dom: Das Grundgesetz, dessen Jubiläumstag uns zusammenführt, gibt uns den Ton vor, in dem wir heute Gottesdienst feiern. Seine Maßstäbe zeigen sich daran, dass Menschenwürde und Demokratie, Rechtsstaat und Bundesstaat nicht zur Disposition des Gesetzgebers stehen, auch nicht mit verfassungsändernder Mehrheit. Es anerkennt, dass wir alle, Regierende wie Regierte, nur Menschen mit begrenzter Vollmacht sind. Es respektiert, dass zur politischen Loyalität die Freiheit gehört, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen. Es stellt unser menschliches Handeln unter den Vorbehalt: ‚Was bei den Menschen unmöglich ist, das ist

 Hartmut Zinser, Der Markt der Religionen, München: Fink 1997. Zu Konzept und Grundeinsichten der religious economics als religionsdiagnostischem Deutungsangebot, welches den religiösen Pluralismus mittels Marktmodellen zu erfassen versucht, vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München: C.H. Beck 2007, 19 – 30. Für die Gegenwart trifft wohl zu: „Die Anbieter harter Religionsprodukte haben im Moment besonders gute Absatzchancen.“ („Multireligiosität, Kirchenkritik, Orientierungsbedürfnis und Radikalisierung“, Gespräch mit Friedrich Wilhelm Graf, Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte, 2014, Heft 11, 4– 10, 4).  Friedrich Wilhelm Graf, „Christen im demokratischen Verfassungsstaat“, Aus Politik und Zeitgeschichte, Jg. 59, 2009, Heft 14, 15 – 20, 19.  Henriette Rösch, „Christentum als Kultur“, in Religiöse Gegenwartskultur. Zwischen Integration und Abgrenzung, hg. von Aleksandra Lewicki u. a., Münster: LIT 2012, 119 – 134, 130.  So Waldhoff 2010, 151; vgl. dazu ebd., 168 – 170.  Vgl. ebd., 172.

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bei Gott möglich.‘ Wir danken Gott für eine gute und bewährte Verfassung. Als der Weg zur deutschen Einheit sich öffnete, wurde das Provisorium bestätigt.⁷⁴

Eine wesentliche Ausnahme bildet die politische Strategie des sogenannten zivilen Ungehorsams als Form des Protestes gegen Entscheidungen und Maßnahmen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers, wie es sich beispielsweise Anfang 2015 bei der neuerlichen Auseinandersetzung um das staatliche Recht brechende, von Kirchenleitungen jedoch als „ein Dienst am Rechtsstaat“⁷⁵ bezeichnete Kirchenasyl zeigte. Diese von hohem persönlichen Einsatz und gemeinschaftlicher Solidarität geprägte, zeitlich begrenzte materielle, rechtliche und soziale Unterstützung Schutzsuchender wird einerseits als ultima ratio christlicher Nothilfe und Beistandspflicht, andererseits als legitimer ziviler Ungehorsam im demokratischen Rechtsstaat verstanden.⁷⁶ Kommentar. Die Lehre von der Rechtfertigung des sündigen Menschen vor Gott allein durch den Glauben bietet „eine Ideologiekritik von nicht zu überbietender Radikalität“⁷⁷. Dennoch bedarf es einer wie auch immer gearteten Identifikation mit dem Bestehenden, damit auf diesem Boden „Distanz und Kritik“

 Pressemitteilung der EKD „Zuversicht schöpfen aus Vertrauen“, 22.05. 2009, abrufbar unter: http://t1p.de/m3c4 (Zugriff: 31.08. 2018); teilweise zit. bei Waldhoff 2010, 169. Angesichts der von Huber hier wie auch andernorts vielfach Ausdruck verliehenen, dabei als alternativlos und unstrittig apostrophierten Bejahung der demokratischen Staatform (vgl. z. B. Wolfgang Huber, „Demokratie wagen. Der Protestantismus im politischen Wandel 1965 – 1985“, in Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren, 2. Aufl., hg. von Siegfried Hermle u. a., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, 383 – 399) mag der Blick in die von H. M. Heinig vorgestellte Genese der Demokratiedenkschrift überraschen, sowohl was Hubers damalige Position zur Frage der konkreten Themenfindung als auch was seinen retrospektiven Blick auf die Gesamtanlage der Denkschrift betrifft; vgl. Heinig 2017, 56 u. 59. Ich danke Arnulf von Scheliha für diesen Hinweis!  So Wolfgang Huber bereits 2003, zit. bei Reinhard Schmidt-Rost, „Flüchtlingskrise und Kirchenasyl – die christlich-theologische Perspektive“, in Fluchtpunkt Integration. Panorama eines Problemfeldes, hg. von Manuel Becker u. a., Wiesbaden: Springer 2018, 269 – 281, 277; vgl. auch ders., „Ziviler Ungehorsam“, in Evangelisches Soziallexikon, 9. Aufl., hg. von Jörg Hübner u. a., Stuttgart: Kohlhammer 2016, Sp. 1772– 1776, bes. Sp. 1776, wo Huber zivilen Ungehorsam als „Ausdruck einer reifen Demokratie“ bezeichnet, der „die rechtsstaatliche Demokratie nicht in Frage stellt, sondern ihr dient“, samt Hans Michael Heinig, „Der Protestantismus in der deutschen Demokratie“, FAZ, Nr. 195 vom 24.08. 2015.  Vgl. bereits Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie (1985), 21 f. zum „Widerstehen des Bürgers gegen einzelne gewichtige Entscheidungen staatlicher Organe“; zur Frage des Kirchenasyls vgl. vor allem Zum Umgang mit Menschen ohne Aufenthaltspapiere. Eine Orientierungshilfe des Kirchenamtes der EKD, hg. vom Kirchenamt der EKD, Hannover: EKD 2006, 23 f.  Hermann Peiter, Theologische Ideologiekritik. Die praktischen Konsequenzen der Rechtfertigungslehre bei Schleiermacher, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1977, 15.

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überhaupt entstehen können: „eine Kritik der bestehenden Welt ohne Identifikation führt zu apolitischen Fluchtbewegungen“⁷⁸. Die Zustimmung zum Staat des Grundgesetzes und die Affirmation demokratischer Prinzipien und Legitimationsleistungen verbieten keineswegs, zugleich auf die Grenzen des dem Staat geschuldeten Gehorsams aufmerksam zu machen (vgl. Apg 5,29). Das Kirchenasylrecht kann allerdings nicht als ein konkurrierendes Rechtssystem neben die staatliche Rechtsordnung treten,⁷⁹ sondern bildet eine „konkurrierende Wahrheit bezüglich des betroffenen Menschen“⁸⁰, der eben nicht auf eine einzige Rolle festgelegt werden darf – auch nicht auf die eines oder einer Geflüchteten ohne Aufenthaltserlaubnis.

2.6 Auf dem Weg zu einer Demokratie 2.0 Die in „kritischer Solidarität mit“⁸¹ – statt: in kritischer Distanz zu – der als ebenso „verbesserungsfähig“ wie „verbesserungsbedürftig“⁸² erkannten demokratischen Ordnung erfolgte Zustimmung der EKD zum Staat des Grundgesetzes in der Demokratiedenkschrift von 1985 wird gut dreißig Jahre später im Impulspapier Konsens und Konflikt (2017)⁸³ mit dem Anspruch verbunden, „eine öffentliche Debatte zur Weiterentwicklung der Demokratie und einem erweiterten Ver-

 Dorothee Sölle, Politische Theologie. Auseinandersetzung mit Rudolf Bultmann, Stuttgart/ Berlin: Kreuz-Verlag 1971, 111.  So der Regierungspräsident des Regierungsbezirks Mittelfranken, Thomas Bauer, bei einem Treffen Anfang August 2018, zit. bei Dieter Reinhardt, „Die Verfassung gilt auch gegenüber der Kirche“, Fränkische Landeszeitung, Nr. 180 vom 07.08. 2018 (Regionalteil Westmittelfranken); vgl. auch BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 24.05. 2006 – 2 BvR 669/04 – Rn. 63 (BVerfGE 116, 24 (48)): „Eine Rechtsordnung, die sich ernst nimmt, darf nicht Prämien auf die Missachtung ihrer selbst setzen. Sie schafft sonst Anreize zur Rechtsverletzung, diskriminiert rechtstreues Verhalten und untergräbt damit die Voraussetzungen ihrer eigenen Wirksamkeit.“ Zur Kritik am Kirchenasyl vgl. ferner Püttmann 1989, 79 – 81 sowie Josef Isensee, „Widerstand und demokratische Normalität. Loyalität und Bürgersinn fürchten die Öffentlichkeit“, Academia, Bd. 3, 1984, 92– 97.  Reinhard Bingener, „Abgelehnte Asylbewerber: Zuflucht Kirchenraum“, FAZ vom 17.02. 2015; abrufbar unter: http://t1p.de/vk3t (Zugriff: 31.08. 2018).  Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie (1985), 17.  So auch im Vorwort des Vorsitzenden der Kammer für Öffentliche Verantwortung, Trutz Rendtorff, ebd., 7; vgl. dazu 16 f. u. 39 f.  Konsens und Konflikt: Politik braucht Auseinandersetzung. Zehn Impulse der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD zu aktuellen Herausforderungen der Demokratie in Deutschland, Hannover: EKD 2017.

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ständnis von Demokratie an[zu]stoßen“⁸⁴. In Anbetracht der Herausforderung des demokratischen Miteinanders durch das Auftreten neuer rechtspopulistischer Gruppierungen, Parteien und zivilgesellschaftlicher Akteure⁸⁵ erschöpft sich das im August 2017 veröffentlichte Impulspapier nicht in einer Analyse und Bewertung der derzeitigen Gestalt der Demokratie, sondern möchte auch konzeptionelle Ansätze zu deren weiteren Gestaltung bieten: „Die Demokratie weiterzuentwickeln und zu stärken bedeutet daher, eine demokratische Streitkultur zu fördern. Dies geschieht, indem zur Auseinandersetzung zwischen den unterschiedlichen Positionen aufgefordert und gleichzeitig darauf geachtet wird, dass es nicht zu einer Verrohung der Debatte kommt.“⁸⁶ Konflikt sei in einer Demokratie nicht per se eine „Krise“, sondern deren „Normalfall“⁸⁷. Als Anwältin und Bürgin für die Demokratie als einer „Lebensform der Vielfalt“⁸⁸ gehe es der Kirche nicht einfach um eine bloße Affirmation der Demokratie als freiheitliches politisches System, sondern um einen konstruktiven Beitrag zur Fortentwicklung der demokratischen Gesellschaft, was dabei nicht ohne selbstkritischen Rückbezug geschieht: „Als Kirchen können wir nur dann als politische Akteure für die Stärkung des demokratischen Gemeinwesens ernst genommen werden, wenn wir berücksichtigen, dass auch in unserer Mitte die Ängste vor dem Wandel und die Versuchung zur Abgrenzung anzutreffen sind.“⁸⁹ Dieser Aspekt soll im folgenden Abschnitt dieses Beitrages im Rahmen einer kurzen Bewertung der aktuellen programmatischen Selbstverständigungsbemühungen der EKD gegenüber dem Staat des Grundgesetzes angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen der bundesrepublikanischen Demokratie durch antidemokratische Strömungen kommentiert werden.

 Anselm 2017, 9; vgl. Konsens und Konflikt (2017), 10. In der Erklärung Christentum und politische Kultur (1997) sind es hingegen die auf christlicher Grundlage entstandenen, in die Verfassungspraxis des säkularen Staates aufgenommenen gemeinsamen Wertvorstellungen, zu deren „Pflege und Weiterentwicklung“ (Nr. 42) Christinnen und Christen gemeinsam durch ihren Glauben aufgerufen seien.  Vgl. Konsens und Konflikt (2017), 24 f.; ferner Anselm 2017, 9.  Konsens und Konflikt (2017), 11.  Ebd., 9; vgl. auch ebd., 11– 13.  Ebd., 9.  Ebd., 27.

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3 Kritisches Korrektiv „Bekanntlich hat die EKD ihren Weg zur vorbehaltlosen Anerkennung der Demokratie nach 1945 mühsam finden müssen. Die Denkschrift von 1985 mag als Abschluss dieses Prozesses gelten – bloß ist Demokratie niemals abgeschlossen.“⁹⁰ Letzteres wird besonders virulent bei der Frage nach dem angemessenen Umgang des demokratischen Rechtstaates mit gegenwärtig besonders lautstark auftretenden nationalistischen und rechtsextremen Gruppierungen und Parteien mit dem Anspruch, ‚Volkes Stimme‘ zu sein. Wie sind angesichts der dabei mehr oder weniger deutlich artikulierten Infragestellung der normativen Kraft der freiheitlich-demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes im Allgemeinen, einer Reihe von grundgesetzlichen Bestimmungen im Besonderen, was verschiedentlich als ‚Krise‘ der oder ‚Abgesang‘ auf die Demokratie bezeichnet worden ist, die oben angestellten Beobachtungen zum Verhältnis der EKD zum freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaat des Grundgesetzes zu bewerten? Das Bild, das sich aus den veröffentlichten programmatischen Selbstverständigungsbemühungen der EKD in dieser Hinsicht erstellen lässt, changiert zwischen Selbstinszenierung und Wirklichkeit – d. h. zwischen dem selbstbewussten Anspruch, eine gesamtgesellschaftlich etablierte und für die Lebensdeutungen und Werthaltungen nicht nur ihrer Mitglieder relevante Größe zur gesellschaftlichen Normierung von Moral zu sein, und dem realistischen Eingeständnis des zunehmenden Bedeutungsverlustes⁹¹ christlicher Überzeugungen im und kirchlicher Äußerungen für den gesellschaftspolitischen Diskurs als Folge der zunehmenden „Selbstprivatisierung“⁹² und „Selbstsäkularisierung“⁹³ des Christentums. Insofern spiegeln sich in den untersuchten öffentlichen Äußerungen der EKD während der letzten drei Jahrzehnte die allgemeinen Tendenzen der Zeit zur Enttraditionalisierung, Destandardisierung und Individualisierung auch religiöser Identitätsbildung unter den Bedingungen einer postsäkularen Gesellschaft wider.

 Paul Nolte, „Mehr Konflikt, bitte!“, Herder Korrespondenz, Jg. 71, 2017, Heft 10, 6.  Vgl. etwa Christentum und politische Kultur (1997), Nr. 21: „Die Kirchen haben sich in beiden Teilen Deutschlands auf diese Lage [scil. den Verlust der Kirchenbindung und Abbrüchen im Blick auf christliche Fundamente der Kultur] einzustellen, ohne ihren Auftrag, der sich an alle Menschen wendet, und den Anspruch auf Öffentlichkeit preiszugeben.“  Johann Baptist Metz, Memoria passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, 2. Aufl., Freiburg i. Br.: Herder 2006, 204.  Jean Améry, „Atheismus ohne Provokation“ (1968), in: Ders., Aufsätze zur Philosophie (Werke, Bd. 6), hg. von Gerhard Scheit, Stuttgart: Klett-Cotta 2004, 469 – 482, 475.

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Die Frage nach dem Selbstverständnis der EKD im Gegenüber zum Staat des Grundgesetzes wird daher nicht „durch den Entwurf einer auf die Wesensfrage bezogenen Staatslehre“⁹⁴ zu beantworten sein. Kritik und Würdigung vorfindlicher Staatsformen sind stets zeitgebunden, relativ zum jeweiligen Staat und dessen Institutionen, zumal die Rechtsordnung einer Gesellschaft nicht in Stein gemeißelt, mithin immer auch Ausdruck und Spiegel gesellschaftlicher und kultureller Normen und Werthaltungen ist.⁹⁵ Indem die Kirche nicht nur Werte bildet und kultiviert, die von den Bürgerinnen und Bürgern in das Gemeinwohl eines bestimmten Gemeinwesens eingebracht werden, sondern auch Organisations- und Sozialformen entwickelt und ausbildet, in denen diese er- und gelebt werden können, kann sie „auch zum kritischen Korrektiv für den Staat selbst werden“⁹⁶. Die Verantwortung vor Gott und den Menschen ist immer auch tätige Mitverantwortung für etwas, was sie ursächlich nicht zu verantworten hat. Die in den untersuchten öffentlichen Äußerungen der EKD bisweilen geradezu herbeigesehnte „Prägekraft des Christentums gehört nicht ins Museum oder in den privaten Winkel“⁹⁷. Man kann „in der Nachfolge Jesu nie predigen, ohne dass das Folgen für die Welt, für die Polis hat. Predigt ist keine Politik! Und darf es auch nicht sein wollen! Aber eben auch nie ohne politische Folgen!“⁹⁸ Im Unterschied zur antidemokratischen Kritik besagter Gruppierungen und Parteien, einer Kritik, die nur negieren will und damit Ausdruck destruktiver Negativität ist, bricht das kritische Korrektiv einer Kritik Bahn, die Ausdruck konstruktiver Negativität ist – einer Negativität, die in der Negation eine innere Distanz zur gegebenen Wirklichkeit schafft, um das Bestehende zu gestalten und, wo nötig, zu verbessern. Während die erstere, im Destruktiven verharrende Form von Kritik ohne Bezug auf eine Positivität bleibt (diese ist in ihr nicht angelegt), bildet im Bereich des Religiösen die Positivität den Grund, auf den hin sich der Mensch im Vollzug der Negation übersteigt: „Mit anderen Worten, der Christ verweilt nicht beim Kampf, beim Zweifel, beim Schmerz, beim Negativen, sondern ergötzt sich am Siege, an der Gewissheit, an der Seligkeit, am Positiven.“⁹⁹  So bereits Wolf 1958, 42.  Man muss sich in Erinnerung halten, dass das Grundgesetz nicht nur in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung grundlegenden Auslegungsänderungen unterworfen wurde, sondern auch selbst zum Gegenstand mannigfaltiger Änderungen geworden ist.  Winfried Kretschmann und Sven Giegold: „Religionspolitische Thesen“, 06.06. 2014, 3, abrufbar unter: http://t1p.de/brsv (Zugriff: 31.08. 2018).  Barth 1998, 94.  So Steffen Reiche im Manuskript seiner Predigt vom 24.12. 2017 in Berlin-Nikolassee, die den Anstoß zu einer öffentlichen Debatte über Kirche und Politik gegeben hat; das Manuskript ist dokumentiert in DIE ZEIT, Nr. 2/2018; abrufbar unter: http://t1p.de/2bwl (Zugriff: 31.08. 2018).  Søren Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie, Düsseldorf/Köln: Diederichs 1961, 79 f.

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Zwischen Selbstinszenierung und Wirklichkeit

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Vorbehalte, Sympathien und bleibende Ungleichzeitigkeiten Die katholischen Bischöfe und ihre Verhältnisbestimmungen zum Staat des Grundgesetzes In den universitären Diskursen der Rechts- und Politikwissenschaften wird dem deutschen Religionsverfassungsrecht regelmäßig „eine religiös-christlichgroßkirchliche Schlagseite“ attestiert.¹ In der Tat zeichnen sich die bundesdeutschen Rechtsverhältnisse zwischen dem Staat des Grundgesetzes und den christlichen Großkirchen durch jahrzehntelang eingelebte Nähe-Beziehungen aus, die im Vergleich zum Umgang mit anderen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften illegitime Privilegierungen darstellen und dem Leitbild einer klaren Trennung von Kirche und Staat entgegenstehen. Allerdings könnte es sein, dass gerade die vielschichtigen, oft diffusen Beziehungen zwischen den Kirchen und dem Staat, die sich im Verlauf einer langwierigen Konfliktgeschichte herausgebildet haben, die deutschen religionspolitischen Verhältnisse in besonderer Weise produktiv und funktionsfähig gemacht haben. Betrachtet man die ‚lahmende‘ Trennung zwischen Kirche und Staat in Deutschland, dann ist jedenfalls festzuhalten, dass sich hier – gegenläufig zu allen Hinweisen auf die mangelnde Trennungsintensität und den damit verbundenen Modernitätsrückstand dieses Modells – ein zwar theoretisch ‚unsauberes‘, in der Praxis aber hochgradig leistungsfähiges Kooperationsarrangement herausgebildet hat, das heute parteipolitisch kaum ernsthaft in Frage gestellt wird. Dies gilt nicht nur für die traditionellen Volksparteien, die dieses Arrangement seit Jahrzehnten auch programmatisch unterstützen. Es gilt mittlerweile weithin auch für Bündnis 90/Die Grünen und die FDP, die von früheren laizistischen Tendenzen deutlich abgerückt sind. Und es gilt auch für die Partei Die Linke, von der man heute am ehesten dezidiert laizistische Optionen erwarten würde. So hat ein Linken-Parteitag in Hannover im Juni 2017 zwar spätabends dafür plädiert, die bestehenden Verträge zwischen Staat und Kirchen aufzukündigen; er kippte diesen Beschluss aber schon am nächsten Morgen, nachdem sich mehrere Delegierte mit persönlichen Erklärungen zu Wort gemeldet und u. a. auf die gute

 Vgl. u. a. Ulrich Willems, „Religionspolitik vor neuen Herausforderungen“, in Religionspolitik heute. Problemfelder und Perspektiven in Deutschland, hg. von Daniel Gerster, Viola van Melis und Ulrich Willems, Freiburg i. Br.: Herder 2018, 38 – 69, 45. https://doi.org/10.1515/9783110623406-008

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und erprobte Zusammenarbeit mit den Kirchen, etwa in der Geflüchteten- und der Friedensarbeit, hingewiesen hatten.² Die Praktikerinnen und Praktiker der Partei wissen offensichtlich darum, dass sich zahlreiche soziale Probleme ohne die eingespielten Kooperationsstrukturen zwischen Staat und Kirchen nicht in wünschenswerter Weise bearbeiten lassen. Und religionspolitische Verhältnisse jenseits dieser Kooperationspraxis kann und will man sich also offensichtlich auch in der Linkspartei mehrheitlich – zumindest bis auf Weiteres – nicht vorstellen. Von daher spricht vieles dafür, dass unsere religionsrechtlichen Regelungen zu de facto erfolgreichen religionspolitischen Verhältnissen geführt haben, auch wenn sie den Normativitätsstandards des verfassungsrechtlichen und politiktheoretischen Gegenwartsdiskurses kaum zu entsprechen vermögen. Vor diesem Hintergrund will ich zunächst kurz an die mit den Kulturkämpfen des späten 19. Jahrhunderts verbundenen Erfahrungen und Lernimpulse für Kirche und Staat erinnern, ohne die sich das spezifisch deutsche religionspolitische Modell nicht entwickelt hätte (1.). Anschließend will ich anhand zentraler Texte der deutschen katholischen Bischöfe nachzeichnen, in welchen Etappen sich die bisherige Begegnungsgeschichte der katholischen Kirche mit dem säkularen Staat des Grundgesetzes vollzogen hat (2.), um deutlich zu machen, dass hier im Blick auf die Chancen und Potenziale öffentlichen kirchlichen Handelns im Rahmen einer zivilgesellschaftlichen Demokratie noch immer erhebliche Ungleichzeitigkeiten am Werke sind, die eigentlich längst überwunden sein könnten (3.).

1 Kulturkampf-Erfahrungen Gerade die spezifisch deutschen, auf die Zeiten des bismarckschen Kulturkampfes zurückgehenden Konflikterfahrungen zwischen ultramontan-katholischer Kirche und preußisch-protestantischem Staat haben offensichtlich für ‚beide Seiten‘ wertvolle normative Lernimpulse ausgelöst, die das Verhältnis der Kirche zum säkularen Staat, aber auch das politische Selbstverständnis dieses Staates nicht unverändert gelassen haben.³ Bekanntlich begann der ultramontane Katholizismus Mitte des 19. Jahrhunderts einen energischen Kampf um die libertas ecclesiae, die Unabhängigkeit der

 Vgl. Christine Buchholz, „Religionsfreiheit und Trennung von Staat und Kirche. DIE LINKE entwickelt ihre Positionen“, in Religionspolitik heute, 378 – 385, 383 f.  Vgl. zum Folgenden u. a. Hermann-Josef Große Kracht, „Ist ohne Kirchen kein Staat zu machen? Zur historischen Entwicklung von Religion und Politik in Deutschland“, in Religion in Politik und Gesellschaft. Eine Einführung, hg. von Johannes Varwick und Stefan Schieren, Schwalbach/Ts.: Wochenschau 2013, 8 – 30.

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Kirche vom Staat, um die neuen schul-, kultur- und religionspolitischen Regulierungsansprüche der modernen Staaten zurückzuweisen. So kam es immer wieder zu vehementen Auseinandersetzungen um die jeweiligen Zuständigkeiten, etwa in den Fragen der Verwaltung und Beaufsichtigung der Kirchenfinanzen, der Mitwirkungsmöglichkeiten des Staates bei Bischofsernennungen, der kirchlichen Einsegnung konfessionsverschiedener Ehen, der Fortexistenz der geistlichen Schulaufsicht, der Errichtung bischöflicher, von den staatlichen Universitäten unabhängiger Ausbildungsstätten für den Klerikernachwuchs etc. Die langwierigen Abgrenzungskämpfe zwischen dem katholischen Ultramontanismus und den aufgeklärten Fürstenstaaten des 19. Jahrhunderts erlebten ihren Höhepunkt im preußischen Kulturkampf der Jahre 1870 bis 1878. Die nationalliberale Bewegung und die aufgeklärte Beamtenschaft des 1871 gegründeten Kaiserreichs waren – im Interesse an der ‚inneren Reichsgründung‘ und im ungebrochenen Überlegenheitsgefühl der eigenen Modernitätsstandards von Bildung und Wissenschaft – davon überzeugt, gegenüber modernisierungsfernen Bevölkerungsgruppen auch eine elementare Erziehungsaufgabe wahrnehmen zu müssen. Und dabei war es nicht zuletzt die sich seit dem Siegeszug des Ultramontanismus hartnäckig als vernunft- und aufklärungsfeindlich inszenierende katholische Kirche, die man nationalpolitisch ‚zur Raison bringen‘ wollte. Der moderne Staat musste in diesem Rahmen allerdings lernen, sich nicht dauerhaft als ein protestantisch-bürgerlich geprägter Weltanschauungsstaat verstehen und auf eine entsprechende Leitkultur festlegen zu können, die man allen Bevölkerungsgruppen durch begleitende kulturpolitische Maßnahmen mehr oder weniger nachdrücklich nahelegen oder gar aufnötigen kann. Dass sich die deutschen Katholiken unter der Ägide ihrer dezidiert antimodern auftretenden Bischöfe mit Erfolg gegen eine solche ‚Fremdmodernisierung von oben‘ zu wehren vermochten, dürfte dazu beigetragen haben, dass sich der säkulare Staat der Moderne auf ein freiheitlich-rechtsstaatliches – und nicht obrigkeitlich-kulturstaatliches – Profil festlegen konnte und musste. Denn in dem Maße, wie er diesen Kulturkampf nicht gewinnen konnte, musste er sich – durchaus ungewollt – von einem materialen Weltanschauungsstaat zu einem formalen Rechts- und Freiheitsstaat weiterentwickeln. Religionsfreiheit und säkulare Staatlichkeit meinen in diesem Sinne dann echte ‚Zollfreiheit der Gedanken‘ (Ernst-Wolfgang Böckenförde), in der die Bürgerinnen und Bürger, solange sie die geltenden Gesetze befolgen, religiös und kulturell denken und empfinden dürfen, wie und was sie wollen.⁴ Sie müssen

 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, München: Carl Friedrich von Siemens Stiftung 2006, bes. 29 f.

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dann nicht so denken, empfinden und wollen, wie ein ängstlich um sich selbst besorgter Staat es kultur- und ideologiepolitisch für opportun oder gar notwendig hält. Und dass der Staat des Grundgesetzes allen seinen Bürgerinnen und Bürgern in diesem Sinne als Rechts- und Freiheitsstaat begegnet, dürfte sich auch diesen Lernerfahrungen aus der Zeit des 19. Jahrhunderts verdanken. Aber nicht nur der Staat der Moderne, sondern auch der katholische Ultramontanismus ist aus diesen Konflikten nicht unverändert hervorgegangen. Er hat sich in dieser Zeit nämlich in eine Art ‚Demokratisierungsfalle‘ manövriert, die er nicht ohne erhebliche staats- und verfassungsrechtliche Modernisierungsleistungen verlassen konnte. Schon im Kontext der Frankfurter Nationalversammlung des Jahres 1848 hatten die ultramontanen Katholiken das moderne Petitionsrecht sowie die Presse- und Vereinsfreiheit für sich entdeckt. So gelang es den damals neu gegründeten Pius-Vereinen für religiöse Freiheit innerhalb weniger Wochen, religionspolitische Petitionen mit mehr als 270.000 Unterschriften an die Abgeordneten zu adressieren, die ihre politische Wirkung nicht verfehlten.⁵ Auch die katholische Presse, ursprünglich gedacht als reines Defensiv-Medium zur Formierung und Festigung des katholischen Milieus, begann in dieser Zeit zu fordern, dass „jede Meinung gleiches Recht haben müsse sich zu äußern. […] Also Preßfreiheit! – Haben wir eine Wahrheit, so dürfen wir ihr nicht misstrauen – sie wird sich im Kampfe bewähren.“⁶ Vor allem aber sollte die breite katholische Vereinsund Verbandsbewegung und die 1870 gegründete Zentrumspartei den katholischen Ultramontanismus mit den Verkehrsformen des modernen Verfassungsstaates infizieren, denn schließlich konnte man nicht dauerhaft die egalitären Partizipationsfreiheiten für sich selbst in Anspruch nehmen und sie zugleich – wie von der päpstlichen Soziallehre verlangt – als ‚verwerfliche Irrtümer‘ der Moderne verachten und verurteilen. Von daher wird verständlich, warum die katholische Kirche in der Weimarer Republik zu einer wichtigen Trägergruppe der neuen parlamentarischen Demokratie avancieren konnte. Dies bedeutet aber nicht, dass der ultramontane Katholizismus die mit den Selbstbehauptungskämpfen seiner politischen Alltagspraxis verbundenen Modernisierungsimpulse auch gleich in bewusste Lernprozesse umsetzen und für sein theologisches Selbstverständnis und seine Verhältnisbestimmung zum sä-

 Vgl. Ernst-Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 2: Der Kampf um Einheit und Freiheit 1830 – 1850, Stuttgart: Kohlhammer 1960, 687.  Schlesisches Kirchenblatt, Jg. 11, 1846, 285 f.; zit. nach Rudolf Pesch, Die kirchlich-politische Presse der Katholiken in der Rheinprovinz vor 1848, Mainz: Grünewald 1966, 307– 309. Den Päpsten galt die Pressefreiheit – ebenso wie die Glaubens- und Gewissensfreiheit – in dieser Zeit als ‚seuchenartiger Irrtum‘ (Gregor XVI., 1832); eine Lehrmeinung, die erst im Kontext des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962– 1965) aufgegeben wurde.

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kularen Staat fruchtbar machen konnte und wollte. Zu konstatieren ist eher, dass diese Modernisierungsschübe in der katholischen Kirche lange Zeit ohne eine entsprechende staats- und demokratietheoretische Begleitreflexion geblieben sind.

2 Die Bischöfe und der Staat des Grundgesetzes An den ersten Stellungnahmen der katholischen Kirche zum 1949 verabschiedeten Grundgesetz lässt sich der ausgebliebene Lernprozess deutlich ablesen. Allerdings hat sich im Verhältnis der katholischen Bischöfe zum Staat des Grundgesetzes in den letzten siebzig Jahren eine fulminante Entwicklungsdynamik vollzogen, die bis heute nicht abgeschlossen ist. Eine theoretisch überzeugende Klärung des Verhältnisses der katholischen Kirche zum säkularen Staat ist den Texten der deutschen Bischofskonferenz bis heute jedoch nicht gelungen. Vielmehr findet sich hier, wenn auch deutlich abgeschwächt, nach wie vor eine Sichtweise, die der katholischen Kirche diskursenthobene, ‚oberhalb der Gesellschaft‘ angesiedelte Normierungskompetenzen vorbehalten will und dem Selbstverständnis des demokratischen Verfassungsstaates und seiner politischen Öffentlichkeit damit offenkundig zuwiderläuft. Die katholische Kirche verstand sich in ihrem Verhältnis zu Staat und Gesellschaft bis weit in das 20. Jahrhundert hinein als göttlich legitimierte Normierungsinstanz, die verbindliche sittliche Prinzipien aufzustellen und deren Befolgung autoritativ einzufordern habe. Ihr Ideal war nicht eine säkulare Republik, sondern der ‚katholische Glaubensstaat‘. Diese obrigkeitliche Tradition wurde im Kontext des II. Vatikanischen Konzils (1962– 1965) jedoch fundamental aufgebrochen. Hier ist vor allem die berühmte und seinerzeit heiß umkämpfte Konzilserklärung über die Religionsfreiheit (Dignitatis humanae) zu nennen.⁷ Aber auch Gaudium et spes, die große Pastoralkonstitution des Konzils, formulierte als neues Leitbild die Vorstellung von der Kirche als ‚pilgerndes Volk Gottes‘, die ihr Verhältnis zu Politik und Gesellschaft nicht mehr im Modus obrigkeitlicher Wahrheitshinsage, sondern in der Form einer kritisch-konstruktiven Zeitgenossenschaft ‚auf Augenhöhe‘ zu bestimmen versucht. Was dieser Umbruch im Blick auf die notwendige Neudefinition des Verhältnisses der Kirche zum säkularen Staat bedeutet, ist von den deutschen Bischöfen jedoch nur sehr partiell reflek-

 Vgl. dazu Wie fand der Katholizismus zur Religionsfreiheit? Faktoren der Erneuerung der katholischen Kirche, hg. von Karl Gabriel, Christian Spieß und Katja Winkler, Paderborn: Schöningh 2016.

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tiert worden. Die – ohnehin arg spärlichen – bischöflichen Texte zum Staat des Grundgesetzes nehmen die konziliaren Aufbrüche jedenfalls nur verhalten auf und bringen sich damit um wertvolle Innovationspotenziale.

2.1 ‚Ernste Besorgnis‘: Die Bischöfe und das Grundgesetz im Jahr 1949 So wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland schon in seiner Geburtsstunde nur sehr reserviert aufgenommen. Bereits im Februar des Jahres 1949 hatten die katholischen Bischöfe in einer öffentlichen Erklärung ihre „ernste Besorgnis“ bekundet, „daß in dem Bundesgrundgesetz wichtigste und für den Aufbau eines gesunden staatlichen Lebens unentbehrliche Grundrechte und Grundsätze außer Acht gelassen werden“.⁸ Konkret fürchteten sie, dass im Blick auf die öffentlichen Schulen „das gottgegebene Elternrecht“ unberücksichtigt bleiben und die „Garantie für die Aufrechterhaltung des vom Heiligen Stuhl mit dem Deutschen Reich abgeschlossenen Konkordats“ fehlen könnte. Grundsätzlich hielten sie fest: „Das Grundgesetz eines Staates kann nur dann seinen Zweck erfüllen, wenn darin die schon in der Natur gegebene, ewig gültige, durch Christus neu gefestigte und vollendete Gottesordnung als die tragende Grundlage des staatlichen Gebäudes anerkannt wird.“⁹ Am 23. Mai 1949, dem Tag der feierlichen Verkündigung des Grundgesetzes, veröffentlichten sie dann eine weitere Erklärung, in der sie nachdrücklich bedauerten, dass die von ihnen erwartete „öffentliche und feierliche Anerkennung“ der erwähnten ‚Gottesordnung‘, ohne die „für ein Volk auf Dauer ein glückliches und gesundes Leben unmöglich ist“, nicht zustande gekommen war. Deshalb könnten sie das Grundgesetz „nur als ein vorläufiges betrachten, das baldigst einer Ergänzung bedarf. Wir werden den Kampf um die Gewissensfreiheit und volles Elternrecht nicht einstellen.“¹⁰

 Die deutschen Bischöfe, „Erklärung zum geplanten Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland“, 11.02.1949, in Hirtenbriefe und Ansprachen zu Gesellschaft und Politik 1945 – 1949, hg. von Günter Baadte und Anton Rauscher, bearb. von Wolfgang Löhr, Würzburg: Echter 1985, 289 f., 289 (ohne Herv.).  Ebd., 289 f. (ohne Herv.).  Die deutschen Bischöfe, „Erklärung nach Annahme des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland“, 23.05.1949, in Hirtenbriefe und Ansprachen, 311– 316, 311 u. 315. Konkret monierten sie das fehlende Elternrecht und die Festschreibung der sogenannten ‚Bremer Klausel‘, die „unsere schärfste Kritik herausfordern und den Wert des Grundgesetzes wesentlich herabmindern“ (313). Im Blick auf das Reichskonkordat gingen die Bischöfe davon aus, dass die Bundesländer zu dessen Fortführung verpflichtet seien.

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2.2 ‚Abglanz von Gottes Herrschermacht‘: Ein Positionspapier von 1953 Die prunkende Formel von der ‚naturgegebenen und in Christus vollendeten Gottesordnung‘ sollte sich in späteren Programmtexten der katholischen Bischöfe jedoch nicht mehr finden; und auch die vehemente Forderung nach dem Elternrecht verstummte in den Folgejahren zunehmend. Zudem wurden grundsätzliche Anfragen an die Legitimität des Grundgesetzes oder öffentliche Forderungen nach seiner ‚Ergänzung‘ in den Folgejahren nicht mehr erhoben. So erschien vier Jahre später, im Juli 1953 – kurz vor der Wahl zum zweiten Deutschen Bundestag – eine umfangreiche Programmschrift zu den Aufgaben und Grenzen der Staatsgewalt, die jede Bezugnahme zum Grundgesetz geradezu penibel vermied.¹¹ Es ging dieser Schrift – im Rahmen der damals vehement aufkommenden antisozialistischen Aversionen – vor allem um scharfe, wenn auch in der Sache wenig plausible Absagen an eine „kommandierte Zwangsordnung des Kollektivismus“ und ein vermeintlich „weit verbreitetes Streben nach sozialer Sicherheit und staatlicher Versorgung“.¹² In seinen staatstheoretischen Positionen mutet dieses Schreiben über weite Passagen wie eine Paraphrase einschlägiger neuscholastischer Lehrbuchliteratur an. Es bewegt sich ungebrochen in der vormodern-monarchischen Tradition katholischen Staatsdenkens, in der die Staatsgewalt als „Abglanz von Gottes Herrschermacht und Majestät“ vorgestellt wird. Der Staat habe „im irdisch-natürlichen Bereich die Hoheit Gottes darzustellen“, denn nicht Volkssouveränität oder Herrscherwille, sondern einzig „[d]er von Gott kommende Ursprung und Auftrag des Staates“ könnten dessen „überragende Autorität im irdischen Bereich“ begründen. Deshalb komme es heute mehr denn je darauf an, dass die Politiker „über Staat und Gesellschaft klare, auf dem Naturrecht beruhende Grundsätze haben“. So sei anzuerkennen, dass „die gottgesetzten Rechte und Pflichten der menschlichen Persönlichkeit eine Schranke für die Staatsgewalt“ darstellen, die auch durch demokratische Mehrheitsentscheidungen nicht durchbrochen werden dürfe. In diesem Zusammenhang sei festzuhalten: „Die rein formale Demokratie mit der Tendenz, alle gleich zu machen, hat viel zur Zerstörung der Autorität beigetragen.“ Dass die ungebrochene Anrufung einer längst aus der Zeit gefallenen Staatstradition, die ihre frontale Widersprüchlichkeit zur modernen Staatlichkeit als Problem nicht einmal wahrzunehmen scheint, noch im Jahr 1953 mit großer  Die deutschen Bischöfe, „Aufgaben und Grenzen der Staatsgewalt“, 16.07.1953, in Akten deutscher Bischöfe seit 1945. Bundesrepublik Deutschland 1950 – 1955, bearb. von Annette Mertens, Paderborn: Schöningh 2017, 529 – 553.  Vgl. ebd., 529 f. Die folgenden Zitate ebd., 535; 533 f.; 551; 542; 511.

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Selbstverständlichkeit möglich war, beweist das hohe Ausmaß der mentalen Ungleichzeitigkeit, die die katholische Kirche in ihrem Verhältnis zum Staat des Grundgesetzes noch in den 1950er Jahren kennzeichnete. Und dass dieses anachronistische Lehrschreiben offensichtlich kaum auf vehemente öffentliche Proteste gestoßen zu sein scheint, liefert zugleich einen Hinweis darauf, wie sehr die politische Moderne im Umgang mit den Religionen offensichtlich in der Lage ist, derartige Ungleichzeitigkeiten gelassen auszuhalten.

2.3 ‚Wohlgeordnete Zusammenarbeit‘: Katholische Kirche und Staat in der Ära Adenauer Nach diesem Lehrschreiben hat es bis zum Ende der 1960er Jahre keine weiteren Stellungnahmen der deutschen Bischöfe zu Staat und Demokratie gegeben. Insgesamt hat die katholische Kirche in der Adenauer-Ära – trotz der kämpferischschrillen Auftakttöne der Anfangszeit – ihren Frieden mit den Verhältnissen der Bonner Republik geschlossen und sich im neuen Staat behaglich eingerichtet. So waren diese Jahre durch eine erhebliche – und für die deutsche Geschichte neuartige – Nähe von Staat und katholischer Kirche gekennzeichnet, wobei beide davon überzeugt waren, für Bestand und Wohlergehen des jeweils anderen von unverzichtbarer Bedeutung zu sein. Es herrschte in den 1950er und 1960er Jahren eine Phase enger ‚partnerschaftlicher‘ Verbundenheit; und nicht nur führenden Kirchenvertretern, sondern auch vielen katholischen Politikern galt das neue Staatswesen mehr oder weniger als ‚katholische Demokratie‘ in den Grenzen des bischöflich gehüteten Naturrechts. Das parlamentarische Mehrheitsprinzip stand für die katholische Kirche dabei unter dem Generalverdacht der ‚Mehrheitsdiktatur‘, der man die unbedingte Verpflichtung des Staates auf die Wahrheiten der göttlichen Schöpfungsordnung und des natürlichen Sittengesetzes entgegenstellte.¹³  Von der ‚Mehrheitsdiktatur‘ sprach etwa der spätere Trierer Bischof Hermann-Josef Spital in einem Text aus dem Jahr 1957, in dem er – explizit gegen Ernst-Wolfgang Böckenförde – betonte, dass die Existenz ‚unverrückbarer sittlicher Normen‘ schon aus sich heraus – gegen „die nur formale Fassung des demokratischen Ethos“ – deren kompromisslose Umsetzung in staatliches Recht einfordere. Die Kirche könne sich schlechterdings nicht „auf den Boden der pluralistischen demokratischen Ordnung“ stellen, wenn es um die „Wahrung unverzichtbarer, personaler Rechte“ gehe (Hermann-Josef Spital, „Noch einmal: Das Ethos der modernen Demokratie und die Kirche. Eine Kontroverse“, Hochland, Bd. 50, 1957/58, 401– 409, 408 f.). Spital reagierte damit auf einen wenige Monate zuvor erschienenen Hochland-Artikel Böckenfördes, in dem dieser energisch dafür plädierte, dass sich die katholische Kirche „auf den Boden des demokratischen Ethos“ stellen und ihre Gläubigen „zur vollen politischen Mündigkeit“ entlassen sollte (Ernst-

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Nach dem Scheitern der Weimarer Republik und der moralischen Katastrophe des Nationalsozialismus war das Vertrauen in die republikanisch-säkulare Politikfähigkeit der Deutschen in eine schwere Krise geraten. Deshalb griffen die politischen und kirchlichen Eliten wieder auf Traditionsbestände des vormodernen Modells einer ‚wohlgeordneten Zusammenarbeit‘ von geistlicher und weltlicher Herrschaft zurück. Man wollte die Großkirchen bewusst als staatsnahe Organisationen in den Legitimationshaushalt des Staates einbinden, da man davon überzeugt war, dass die neue Republik ohne die von den Kirchen tradierten Wertmuster und Moralstandards nicht auskommen könne. So entstand der Versuch, sich die motivationalen Grundlagen der Politik bei einer großkirchlich organisierten Mehrheitsreligion zu beschaffen und diese für die eigenen Legitimationszwecke gewissermaßen in Dienst zu nehmen, was sich an den bis heute üblichen Präambel-Formeln der Staatskirchenverträge ablesen lässt, etwa in der Rede von der ‚Bedeutung der Kirchen für die Wahrung und Festigung der religiösen und sittlichen Grundlagen des menschlichen Lebens‘. Damit gibt das politische Gemeinwesen – wie es in einem repräsentativen Handbuch aus dem Jahr 1975 treffend heißt – zu verstehen, dass es „den öffentlichen Dienst der Kirchen wünscht, dessen begehrt und daß es die Kirchen daraufhin will in Anspruch nehmen können“¹⁴. Man war in der Frühzeit der Bundesrepublik also politisch davon überzeugt, auf die religiösen Haltekräfte der katholischen Kirche nicht verzichten zu können, auch wenn diese aus ihren tiefsitzenden Aversionen gegenüber den demokratischen Prinzipien von Volkssouveränität und öffentlichem Vernunftgebrauch nie einen Hehl machte.

2.4 Zaudernde Rezeptionsbereitschaft: Die deutschen Bischöfe und das II. Vatikanische Konzil Mit den Aufbrüchen des Konzils – insbesondere mit der Anerkennung der Religionsfreiheit – hatte sich in der kirchlichen Staatslehre ein fundamentaler Modernisierungsschub vollzogen. Die Option für den katholischen Glaubensstaat wurde in diesem Rahmen programmatisch aufgegeben, denn die Erklärung zur Religionsfreiheit Dignitatis humanae verpflichtet den Staat – zumindest der Tendenz nach – nicht länger auf die Verwirklichung einer ihm vorgegebenen naturrechtliWolfgang Böckenförde, „Das Ethos der modernen Demokratie und die Kirche“, Hochland, Bd. 50, 1957/58, 4– 19, 18 f.).  Klaus Schlaich, „Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen“, in Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, hg. von Ernst Friesenhahn und Ulrich Scheuer, Berlin: Duncker & Humblot 1975, 231– 272, 268 (Herv. i.O.).

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chen Tugend- und Wahrheitsordnung, sondern vor allem auf die Gewährleistung einer auf die individuelle Moralität der Staatsbürger vertrauenden Rechts- und Freiheitsordnung.¹⁵ Das Konzil unterscheidet hier zwischen der Staatsgewalt (potestas civilis, potestas publica) und der staatsfernen Gesellschaft (societas, societas humana) und – damit korrespondierend – zwischen dem vor allem in der Verantwortung der Gesellschaft stehenden Gemeinwohl (bonum commune) und der vom Staat zu gewährleistenden öffentlichen Ordnung (ordo publicus).¹⁶ Damit hat die neuzeitliche Differenzierung von Recht und Moral, von Staat und Zivilgesellschaft erstmals Eingang in ein offizielles lehramtliches Dokument gefunden. Die weltlichen und geistlichen Autoritäten erscheinen damit nicht länger als diejenigen Instanzen, die den Untertanenverband in einträchtiger Zusammenarbeit zum ‚irdischen Wohl‘ und zum ‚himmlischen Heil‘ zu führen haben. Die Gemeinwohl-Verantwortung obliegt nun vielmehr „sowohl den Bürgern wie auch den sozialen Gruppen und den Staatsgewalten, der Kirche und den religiösen Gemeinschaften, dies je nach ihrer eigenen Weise und je nach der Pflicht, die sie dem Gemeinwohl gegenüber haben“ (DH 6,1). Der Staat wird damit – zumindest ansatzhaft – zu einem von allen intrinsischen Hoheits- und Souveränitätsattributen entbundenen technischen Kunstprodukt im Dienste der gesellschaftlichen Selbstregierung der Bürger. Und diese sind es, die den nun entsubjektivierten Staatsapparat politisch und moralisch auf seine Gemeinwohlpflichtigkeit programmieren können und zugleich auch müssen. Dignitatis humanae eröffnet in diesem Sinne die Chance zu einem grundlegenden kirchlichen Umbruch von der überkommenen obrigkeitsstaatlichen zu einer neuen zivilgesellschaftlichen Politikperspektive. Und seitdem steht die katholische Kirche vor der Aufgabe, sich nicht länger als hierarchische Anstaltskirche mit gesamtgesellschaftlichen Normierungsaufgaben zu inszenieren, sondern zu einem gleichberechtigten Teil der demokratischen Zivilgesellschaft und ihrer politischen Öffentlichkeit zu werden; ein programmatischer Aufbruch, der sich in den nachkonziliaren Dokumenten der deutschen Bischofskonferenz jedoch kaum zu verankern vermochte. So erschien im Jahr 1969 ein 30-seitiges Grundsatzpapier der deutschen Bischöfe, das sich explizit die Rezeption der Konzilsbeschlüsse und deren An-

 Vgl. dazu bis heute grundlegend: Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Religionsfreiheit als Aufgabe der Christen. Gedanken eines Juristen zu den Diskussionen auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil“, Stimmen der Zeit, Bd. 176, 1965, 199 – 213.  Vgl. dazu Hermann-Josef Große Kracht, „Deutliche Kontinuitäten und eine klare Neubestimmung. Eine Sichtung lehramtlicher Dokumente zur modernen Demokratie“, Theologische Quartalschrift, Bd. 193, 2013, 64– 80, 65 ff.

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wendung auf die Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland zum Ziel setzte.¹⁷ Von den bisherigen Rekursen auf Gottesordnung und Naturrecht war hier nichts mehr zu spüren. Ebenso fehlten nun alle Anklänge an monarchisch-hoheitliche Bestimmungen der Staatsautorität und der Staatsaufgaben. Allerdings kennzeichnete sich auch dieses Schreiben durch das Interesse, die Kirche ‚oberhalb‘ der Gesellschaft anzusiedeln und ihr universale moralische Ordnungs- und Integrationsaufgaben für die Gesellschaft als Ganzes zuzuschreiben, statt sie als gleichwertigen Teil der Zivilgesellschaft ‚neben‘ anderen moralisch ambitionierten Gruppen und Bewegungen, Traditionen und Überzeugungen in der Gesellschaft zu positionieren. So stellt sich dieses Dokument zwar auf den Boden der „religiös und weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft“, betont aber zugleich, dass diese „als solche keine integrierende Kraft“ habe.¹⁸ Und um dieses Defizit zu kompensieren, komme der Kirche ein „Öffentlichkeitsauftrag besonderer Art“ zu: der „Dienst einer integrierenden Funktion zur Einheit“, um für „die Anerkennung gemeinsamer Werte“ zu sorgen, die sonst unter die Räder zu kommen drohen. Die deutschen Bischöfe entwerfen die Kirche hier im Kern also – wenn auch in einer deutlich moderneren Semantik, die nicht mehr um das Naturrecht, sondern um ‚allgemeine Menschenwerte‘ kreist – noch immer als Ordnungsanstalt mit gesamtgesellschaftlichen Normierungsaufgaben, ohne dem neuen Herausforderungsprofil des Konzils wirklich gerecht zu werden.

2.5 Ruf nach dem ‚Büttel des Staates‘? Die Bischöfe und die Grundwerte-Debatte Ein wichtiger staatstheoretischer Reflexionsschub – wohl der wichtigste Lernschritt überhaupt – ereignete sich dann im Kontext der sogenannten GrundwerteDebatte der 1970er Jahre. Hier hatte sich die katholische Kirche erstmals ernsthaft mit der für sie schmerzlichen Tatsache auseinanderzusetzen, nicht länger als autoritative Moralsicherungsinstanz auftreten zu können. Als es im ‚sozialdemokratischen Jahrzehnt‘ der Bundesrepublik zur Liberalisierung des Ehescheidungsrechts und zu Lockerungen beim Schwangerschaftsabbruch kam, hatten die Bischöfe noch einmal vehement, aber erfolglos versucht, den Gesetzgeber auf kirchliche Ordnungsvorstellungen zu verpflichten, wobei sie auch hier nicht mehr vom göttlichen Naturrecht, sondern ausschließlich von menschlichen Grund-

 Die deutschen Bischöfe, Die Kirche in der pluralistischen Gesellschaft und im demokratischen Staat der Gegenwart, Bonn: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 1969.  Ebd., 18. Die folgenden Zitate ebd., 29; 19; 25.

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werten sprachen. Im Blick auf die Novellierung des § 218 StGB beklagten sie in einer Stellungnahme vom 7. Mai 1976, dass sich der Staat nicht mehr verpflichtet fühle, „Leben und Würde des Menschen im notwendigen Umfang auch strafrechtlich zu schützen. Diese Regelung erschüttert das Fundament unseres Rechtsstaates, sie zerstört das sittliche Bewußtsein der Bürger und macht die Gesellschaft nicht menschlicher, sondern unmenschlicher.“¹⁹ Staat und Gesellschaft bräuchten aber, wie es in einem weiteren, am gleichen Tag veröffentlichen Text heißt, „tief gegründete Fundamente“, die „jeder Manipulation durch parlamentarische Mehrheiten entzogen“ sein müssten.²⁰ Und diese Fundamente habe der Staat durch seine Gesetzgebung unbedingt zu sichern. Daraufhin hatte Bundeskanzler Helmut Schmidt im Mai 1976 in der Katholischen Akademie in Hamburg den Bischöfen vorgeworfen, sie würden in dem Moment „nach dem Büttel des Staates“ rufen, in dem es ihnen nicht mehr gelingt, in der Bevölkerung hinreichende Zustimmungswerte zu den von ihnen vertretenen Grundwerten zu sichern.²¹ Der Staat habe aber, wie Schmidt energisch ausführte, nicht unmittelbar moralische ‚Grundwerte‘, sondern allein die ‚Grundrechte‘ der Bürger zu schützen. Er dürfe als Rechts- und Freiheitsstaat nicht von oben herab moralische Wertvorstellungen mit Zwangsmitteln für die Gesellschaft verbindlich machen, wenn diese unter den Bürgerinnen und Bürgern nicht aus sich selbst heraus genügend Akzeptanz und Folgebereitschaft finden. Die Kirchen sollten also zusehen, so die klare Botschaft des Kanzlers, dass sie selbst ihre moralischen Werte in der Gesellschaft pflegen und entwickeln, statt ersatzweise den Staat dafür in Anspruch zu nehmen. In der nun folgenden Grundwerte-Debatte, die bis in das Jahr 1979 hinein vor allem im katholischen Milieu eine Vielzahl von Stellungnahmen nach sich zog und das Verständnis für die verfassungsrechtliche Notwendigkeit einer klaren Differenzierung zwischen formalen Grundrechten und materialen Grundwerten, zwischen religiös und moralisch neutraler Staatlichkeit und einer religiös und moralisch lebendigen Zivilgesellschaft deutlich beförderte, haben vor allem der katholische Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde und der damalige Freiburger Dogmatikprofessor Karl Lehmann herausragende Beiträge geliefert. Böckenförde hatte schon 1965 vehement für das Prinzip der Religionsfreiheit

 Die deutschen Bischöfe, Zur Novellierung des § 218. Pastorales Wort, 07.05.1976, Bonn: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 1976, 2.  Die deutschen Bischöfe, Gesellschaftliche Grundwerte und menschliches Glück. Ein Wort der deutschen Bischöfe zu Orientierungsfragen unserer Gesellschaft, 07.05.1976, Bonn: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 1976, 3 u. 5.  Helmut Schmidt, „Ethos und Recht in Staat und Gesellschaft“, in Grundwerte in Staat und Gesellschaft, hg. von Günter Gorschenek, München: C.H. Beck 1977, 13 – 28, 25.

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gefochten und den Entwurf der Hamburger Rede Schmidts zur notwendigen Differenzierung von Grundrechten und Grundwerten verfasst;²² und Lehmann hatte bei mehreren Gelegenheiten – wenn auch eher vorsichtig – ebenfalls für diese Differenzierung geworben, schon mit dem von Böckenforde übernommenen schlichten Hinweis, dass das Wort ‚Grundwert‘ im Grundgesetz gar nicht vorkomme.²³ Seit den späten 1970er Jahren schien die von Dignitatis humanae vorgenommene Differenzierung von Staat und Gesellschaft, von Recht und Moral im deutschen Katholizismus also – zumindest im Grundsatz – angekommen zu sein. Und der Staatsapparat schien nun tatsächlich aus der Zumutung entlassen zu werden, sich letztlich doch auf vordemokratisch feststehende, ewig gültige und vom kirchlichen Lehramt authentisch verwaltete Moralwahrheiten verpflichten lassen zu müssen. Hinreichend klare Texte, die diesen Umbruch deutlich markieren und systematisch auszeichnen, finden sich unter den Stellungnahmen der katholischen Bischöfe der letzten Jahrzehnte jedoch nicht. Eine Fortführung der staats- und demokratietheoretischen Aufbrüche der Konzilszeit hat schlechterdings nicht stattgefunden.

3 Jenseits des Staatskirchenrechts: Religionspolitische Perspektiven 3.1 Angstfreie Säkularität und zivilgesellschaftliche Demokratie Hielt das Staatskirchenrecht der Bonner Republik die Frage der Trennung von Staat und Kirche, von Republik und Religion noch in einer unklaren Schwebe, bekam es die Berliner Republik nach der Wiedervereinigung mit der bleibenden – und zunehmenden – Präsenz von vielen Millionen Staatsbürgerinnen und -bürgern zu tun, die sich ganz selbstverständlich als konfessionslos verstehen und für die westdeutschen Nähe-Verhältnisse zwischen Kirche und Staat keinerlei Sympathien hegen. Und in dem Maße, wie darüber hinaus auch die Frage nach dem

 Vgl. dazu Hermann-Josef Große Kracht, „Fünfzig Jahre Böckenförde-Theorem. Eine bundesrepublikanische Bekenntnisformel im Streit der Interpretationen“, in Religion – Recht –Republik. Studien zu Ernst-Wolfgang Böckenförde, hg. von Hermann-Josef Große Kracht und Klaus Große Kracht, Paderborn: Schöningh 2014, 155 – 183, bes. 160 ff.  Vgl. Karl Lehmann, „Grundwerte in Staat und Gesellschaft. Eine Zwischenbilanz zur bisherigen Diskussion“, Herder-Korrespondenz, Bd. 31, 1977, 13 – 18.

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rechts- und religionspolitischen Umgang mit dem Islam bzw. den Muslimen in Deutschland auf die Tagesordnung drängt, sieht sich die Bundesrepublik endgültig genötigt, ihr überkommenes Staatskirchenrecht in ein modernes Religionsverfassungsrecht zu transformieren. Dies bedeutet m. E. zunächst einmal, dass sich der Staat des Grundgesetzes nun endgültig in ein angstfreies Verhältnis zu seiner eigenen Säkularität bringen muss. Er muss beginnen, wirklich darauf zu vertrauen, dass sich seine Wertmuster und Legitimationsquellen allein auf menschenrechtlicher, republikanischer und säkularer Basis gründen können; und er muss aufhören, nach wie auch immer verfassten kulturreligiösen Legitimationsressourcen Ausschau zu halten, auch wenn ihm von einflussreichen Kräften in Politik und Publizistik noch immer eingeredet wird, er könne ohne religiös oder metaphysisch vorgegebene ‚feste Werte‘ letztlich nicht bestehen. Für die katholische Kirche bedeutet dies, dass sie nun endgültig vor der lange hinausgezögerten Entscheidung steht, ob sie den säkularen, sich in Sachen unverrückbarer naturrechtlicher Grundwerte für unzuständig erklärenden Staat aus ihrer vermeintlichen Obhut entlassen kann und will. Für die längst anstehende und vom Konzil nachdrücklich ermöglichte, von den deutschen Bischöfen bis heute jedoch allenfalls ansatzweise vollzogene Neubestimmung des Verhältnisses der katholischen Kirche zu Staat und Zivilgesellschaft der säkularen Moderne finden sich in der katholischen Theologie seit den 1970er Jahren zahlreiche Vorarbeiten, die sich an den ambitionierten Modellen einer deliberativen Demokratie im Medium politischer Öffentlichkeit orientieren und von allen Versuchen einer kulturreligiösen Legitimationsdienstleistung für den Staat klar distanzieren. Diese demokratietheoretischen Perspektiven zielen auf ein religionspolitisches Arrangement, in dem – zum einen – die Kirche die ‚staatsfernen‘ Arenen der Zivilgesellschaft für sich und ihre Öffentlichkeitsansprüche entdeckt und darauf verzichtet, zur Durchsetzung ihrer Moralstandards auf die Unterstützung durch staatliche Autoritäten zu hoffen. Sie zielen auf ein religionspolitisches Arrangement, in dem – zum anderen – auch die säkulare Republik auf (ersatz‐)religiöse Legitimationsstrategien verzichtet und darauf vertraut, dass ihr allein aus den Moralressourcen der weltanschaulich pluralen Staatsbürgergesellschaft, zu der selbstverständlich auch die Religionsgemeinschaften gehören, in hinreichendem Maße diejenigen sozialmoralischen Überzeugungen zuwachsen, ohne die eine normativ ambitionierte demokratischdiskursive Selbstregierung im Medium des öffentlichen Vernunftgebrauchs nicht gelingen kann.²⁴

 Vgl. dazu Hermann-Josef Große Kracht, „Solide Säkularität. Diskursdemokratische Reflexionen zum Verhältnis von Religion und Republik im Zeitalter postmetaphysischer Politik“, in Mo-

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Es geht hier um ein religionspolitisches Modell, in dem sich Staat und Kirche nicht wechselseitig vermeintliche Moraldefizite vorwerfen oder vom jeweils anderen politisch-institutionelle bzw. ideologisch-kulturelle Unterstützungsleistungen erwarten. Das Leitbild wäre eine selbstbewusst-säkulare Republik, die in ihrer Religionspolitik weder auf laizistische Modernisierungsprogramme noch auf zivilreligiöse Selbstsakralisierungen noch auf legitimatorische Anleihen bei etablierten Religionsgemeinschaften in ihrer Mitte zurückgreift. Stattdessen wird es ihr darum gehen, strikte staatliche Religionsfreiheit mit einer zivilgesellschaftlichen Religions- genauer: Religionenfreundlichkeit zu verbinden. Konkret würde dies bedeuten, dass der Staat das Prinzip weltanschaulich-religiöser Neutralität auf der Ebene der Gesetzgebung kompromisslos verteidigt, sodass Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften sich auf dieser Ebene mit ihrer ‚politischen Egalisierung‘ abfinden müssen. Für ihre Wahrheitsansprüche gibt es keinerlei Privilegierung. Sie müssen sich strikt egalitär zu allen anderen moralischen Geltungsansprüchen vor den ‚Richterstuhl der öffentlichen Vernunft zerren‘ lassen, um in den Diskursen der politischen Öffentlichkeit hinreichende Zustimmung und Unterstützung zu finden – oder eben nicht. Diese strikte Neutralitätshaltung des Staates setzt die Religionsgemeinschaften unter einen erheblichen Reflexions- und Rechtfertigungsdruck, der allerdings nichts mit Assimilations- und Anpassungszumutungen zu tun hat. Während ein kulturell-materialer Assimilationsdruck erfahrungsgemäß religiöse Abschottungsbestrebungen befördern dürfte, könnte ein rechtlich-formaler Reflexionsdruck die Chance erhöhen, dass sich die Religionsgemeinschaften in einem Rahmen, der ihnen alle Rechte auf gleichberechtigte politisch-öffentliche Teilhabe am gesellschaftlichen Diskurs freihält, auf den Weg machen, eigene Lernprozesse zu initiieren und sich neu um die Sprach- und Diskursfähigkeit ihrer religiösen Traditionen zu bemühen – und dabei womöglich auch zuvor unterschätzte Freiheits- und Autonomiegehalte ihrer eigenen Lehrtradition neu zu entdecken. So spricht im Blick auf die politische Integrationsgeschichte der katholischen Religion in den Staat der Moderne einiges dafür, dass es weniger ein kultureller Assimilations- als ein solcher formaler Reflexionsdruck war, der hier eigenständige Lern- und Modernisierungsprozesse auszulösen vermochte.²⁵ Zugleich fungiert das Prinzip des neutralen Staates, der weder religiöser Glaubensstaat noch laizistischer Weltanschauungsstaat sein will, aber auch als delle des religiösen Pluralismus. Historische, religionssoziologische und religionspolitische Perspektiven, hg. von Karl Gabriel, Christian Spieß und Katja Winkler, Paderborn: Schöningh 2012, 269 – 289.  Vgl. dazu u. a. Christian Spieß, Zwischen Gewalt und Menschenrechten. Religion im Spannungsfeld der Moderne, Paderborn: Schöningh 2016, 72– 98.

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permanente Einladung an die Religionsgemeinschaften, ihre in der Genese partikularen, in ihrer Geltung aber als universal behaupteten Moralvorstellungen offensiv zur Sprache zu bringen. Selbstbewusste öffentliche Artikulationen solcher Religiosität sind aus der Perspektive einer säkularen Republik dann erst einmal als potenziell werthaltig zu bewerten. Denn jede zivilgesellschaftliche Verständigungskultur lebt davon, dass ihr von engagierten, in der Öffentlichkeit selbstbewusst auftretenden Überzeugungsgemeinschaften verschiedene Wertund Normvorstellungen vorgelegt werden. Denn nur an ihnen können sich moralische Selbstverständigungsprozesse entzünden, auf die eine demokratische Republik angewiesen ist, die sie mit ihren Rechts- und Verfahrensprozeduren allein aber nicht hervorbringen kann und darf. Ohne die nachhaltige zivilgesellschaftliche Präsenz derartiger Wertvorstellungen gerade auch in ihrer Pluralität und Widersprüchlichkeit steht die Republik in der Gefahr, dass ihre politische Öffentlichkeit moralisch austrocknet – und dass die Bürgerinnen und Bürger am Ende, wie Jürgen Habermas treffend formulierte, „ihre subjektiven Rechte nur noch wie Waffen gegeneinander richten“²⁶. Nicht zufällig wächst vor diesem Hintergrund – angesichts zahlreicher Tendenzen einer politisch und moralisch ‚entgleisenden Modernisierung‘ (Jürgen Habermas) – gegenwärtig die Aufmerksamkeit dafür, dass die moralischen Traditionen der großen Religionsgemeinschaften in der Lage sind, „auch dem religiös Unmusikalischen etwas [zu] sagen“²⁷ – und dass auch religionsfrei aufgewachsene Bürgerinnen und Bürger „in den normativen Wahrheitsgehalten einer religiösen Äußerung eigene, manchmal verschüttete Intuitionen wiedererkennen“²⁸ könnten, auch wenn sie mit Autoritätshinweisen auf göttliche Gebote und heiliges Überlieferungsschrifttum nichts anzufangen wissen.

3.2 Funkstille? Die deutschen Bischöfe und die zivilgesellschaftliche Demokratie Abschließend ist nun zu fragen, ob sich die katholische Kirche der Bundesrepublik auf dem Weg befindet, sich einer solchen religionspolitischen Konzeption anzunähern und sich nicht länger als gesamtgesellschaftliche Normierungsinstanz im Namen ausgedünnter sittlicher Minimalstandards, sondern als integraler  Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, 112.  Jürgen Habermas, „Glauben und Wissen. Friedenspreisrede 2001“, in: Ders., Zeitdiagnosen. Zwölf Essays, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, 249 – 262, 261.  Habermas 2005, 137.

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Teil einer demokratischen Zivilgesellschaft zu verstehen und als solche – frei von selbst oder fremd verursachten Instrumentalisierungen – die biblischen Optionen des Evangeliums selbstbewusst und wirkmächtig in der politischen Öffentlichkeit zu vertreten. Zunächst ist festzuhalten, dass sich die hochrangigen Vertreter der katholischen Kirche heute ganz selbstverständlich und mit innerer Überzeugung zur parlamentarischen Demokratie, zur freien politischen Öffentlichkeit und zum Staat des Grundgesetzes bekennen.Von den früheren Vorbehalten ist nichts mehr zu spüren. Allerdings fällt auf, dass seit 1969 keine ambitionierte gemeinsame bischöfliche Stellungnahme zum Verhältnis der katholischen Kirche zum demokratischen Staat der Gegenwart erschienen ist. Einen offiziellen Text der deutschen Bischofskonferenz zum Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1995, das hohe Wellen schlug und allgemein als Fanal des Säkularisierungsschubs der Berliner Republik gilt, gibt es überraschenderweise nicht. Und auch danach wurde kein nennenswerter Text der deutschen Bischöfe zu den veränderten religionspolitischen Herausforderungen der Berliner Republik veröffentlicht. Zu nennen ist lediglich ein von EKD und Bischofskonferenz gemeinsam verantwortetes Papier aus dem Jahr 2006, das für unsere Fragestellung aber wenig austrägt.²⁹ Es stellte u. a. die Frage nach der demokratischen Gemeinwohlverantwortung von Bürgerinnen und Bürgern, von Politikerinnen und Politikern, von Journalistinnen und Journalisten sowie von ‚Repräsentanten partikularer Interessen im politischen Prozess‘, beschäftigte sich aber nicht mit der demokratischen Gemeinwohlverantwortung der Kirchen. Überlegungen zur Rolle der Kirchen in der politischen Öffentlichkeit demokratischer Zivilgesellschaften wurden hier nicht angestellt. Dennoch hat die Einsicht, dass sich die katholische Kirche in ihrem Verhältnis zur politischen Öffentlichkeit nicht länger als autoritative Moralinstanz mit gesamtgesellschaftlichen Integrationsaufgaben, sondern als partikularer Teil der Zivilgesellschaft zu verstehen hat, auch in den Spitzen der katholischen Kirche durchaus Karriere gemacht. So schrieb etwa Karl Lehmann als Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz im Jahr 1997 programmatisch, dass die Aufgabe der Kirche im Blick auf Staat und Gesellschaft vor allem darin bestehen müsse, „mit den eigenen Optionen in einen wirklichen Wettbewerb der Ideen und Herausforderungen einzutreten“: „Wir sind viel zu scheu und ängstlich-zögerlich, um die  Demokratie braucht Tugenden. Gemeinsames Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur Zukunft unseres demokratischen Gemeinwesens, 20.11. 2006, Hannover/Bonn: Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland/Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2006.

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wirkliche Stärke unserer Optionen“ öffentlich in Stellung zu bringen; stattdessen „erscheinen wir oft als verzagt, flüchten in eine abstrakte Gemeinsamkeit mit anderen Positionen und verraten so manchmal unser Proprium“.³⁰ Allerdings gibt es bei führenden Kirchenrepräsentanten auch heute noch ein merkwürdiges Zaudern gegenüber der Vorstellung, die katholische Kirche könne und müsse sich gegenüber Staat und Öffentlichkeit ‚lediglich‘ als gleichberechtigter Teil der Zivilgesellschaft verstehen. Kennzeichnend dafür ist etwa ein programmatischer Text von Hans Langendörfer SJ, dem Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz, aus dem Jahr 2003. Darin erhob er für die katholische Kirche zwar ganz selbstverständlich den Anspruch, ein wichtiger und integraler Teil der Zivilgesellschaft zu sein; zugleich wollte er sie aber auch ‚oberhalb‘ der Zivilgesellschaft ansiedeln und ihr und ihren moralischen Überzeugungen eine höhere Autorität zugestehen. So schrieb er, dass sich für das Verhältnis der katholischen Kirche zur Zivilgesellschaft „eine schwierige ‚Doppelrolle‘“ abzeichne: Kirchliche Aktivitäten nehmen am Wirken der Zivilgesellschaft teil. Debatten insbesondere über Fragen einer nachhaltigen Lebens- und Wirtschaftsform oder Initiativen zum Schutz bestimmter, besonders schutzbedürftiger Personengruppen erfolgen unter kirchlicher Beteiligung und unter den Bedingungen der Spielregeln auch der Zivilgesellschaft. Letztlich sind die Kirchen aber ein Gegenüber zur Zivilgesellschaft, die deren Chancen fördern, aber auch Fehlentwicklungen und Schwächen entgegentreten sollen.³¹

Die katholische Kirche der Bundesrepublik scheint heute also einerseits auf dem Sprung zu sein, nicht nur den Staat des Grundgesetzes, sondern auch das deliberative Selbstverständnis einer zivilgesellschaftlichen Demokratie und ihrer politischen Öffentlichkeit anzuerkennen. In der theologischen Sozialethik ist dies mittlerweile längst der vom mainstream des Faches rezipierte Standard; und auch hohe Repräsentanten der katholischen Kirche scheinen sich deutlich auf diese Perspektive verpflichten zu wollen, auch wenn sie sich von den alten ObrigkeitsTraditionen offensichtlich noch immer nicht wirklich emanzipieren können. Man muss der katholischen Kirche aber andererseits attestieren, dass sie mit dem säkularen Staat und seiner demokratisch-deliberativen Zivilgesellschaft

 Karl Lehmann, „Wächter, wie lange noch dauert die Nacht?“ Zum Auftrag der Kirche angesichts verletzlicher Ordnungen in Gesellschaft und Staat. Eröffnungsreferat von Bischof Karl Lehmann bei der Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda, 22.09.1997, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 1997, 18 f.  Hans Langendörfer SJ, „Politik ist nicht alles – Über die politische Präsenz der Kirchen“, in Religion und Politik. Ergebnisse und Analysen einer Umfrage, hg. von Bernhard Vogel im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., Freiburg i. Br.: Herder 2003, 41– 69, 58 (Herv. i.O.).

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theoretisch noch immer fremdelt, obwohl sie beide in ihrer alltäglichen politischen Praxis längst ganz selbstverständlich akzeptiert und anerkennt, fördert und unterstützt. Wahrscheinlich wird man vor diesem Hintergrund heute nur überflüssige und womöglich gar kontraproduktive Schlachten schlagen, wenn man meint, der in ihrer Lernentwicklung in der Tat vielfach ungleichzeitig agierenden katholischen Kirche theoretisch-abstrakte Modernisierungsleistungen abverlangen zu müssen. Seit den Zeiten der Kulturkämpfe des 19. Jahrhunderts spricht vielmehr einiges dafür, dass man den Blick eher auf die oft unbeabsichtigten, dennoch aber wirkmächtigen wechselseitigen Lernerfahrungen richten sollte, die sich die Religionen und der säkulare Staat permanent und immer wieder neu gegenseitig ‚zumuten‘ – und die offensichtlich viel demokratietheoretisches Innovationspotenzial freisetzen, auch wenn nicht nur die Religionen, sondern mitunter auch der Staat selbst ‚hinterherhinken’, wenn es darum geht, diese politisch-praktischen Lernerfahrungen auch in eine stimmige Theorie und in klare Selbstverständigungstexte zu überführen. Statt sich also in religionspolitischen Aufgeregtheiten über die zahllosen Ungleichzeitigkeiten im gegenwärtigen Verhältnis von Religionen und Politik zu verlieren, könnte es für Staat und Gesellschaft ratsamer sein, auf diese Ungleichzeitigkeiten zunächst einmal mit einer gehörigen Portion historisch informierter Gelassenheit zu reagieren.

Literatur Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1957/58): „Das Ethos der modernen Demokratie und die Kirche“, Hochland, Bd. 50, 4 – 19. Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1965): „Religionsfreiheit als Aufgabe der Christen. Gedanken eines Juristen zu den Diskussionen auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil“, Stimmen der Zeit, Bd. 176, 199 – 213. Böckenförde, Ernst-Wolfgang (2006): Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert (Themen, Bd. 86), München: Carl Friedrich von Siemens Stiftung. Buchholz, Christine (2018): „Religionsfreiheit und Trennung von Staat und Kirche. DIE LINKE entwickelt ihre Positionen“, in Religionspolitik heute, 378 – 385. Demokratie braucht Tugenden. Gemeinsames Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur Zukunft unseres demokratischen Gemeinwesens (Gemeinsame Texte Nr. 19), 20. 11. 2006, Hannover/Bonn: Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland/Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Die deutschen Bischöfe (1949a): „Erklärung zum geplanten Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland“, 11. 02. 1949, in Hirtenbriefe und Ansprachen, 189 f. Die deutschen Bischöfe (1949b): „Erklärung nach Annahme des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland“, 23. 05. 1949, in Hirtenbriefe und Ansprachen, 311 – 316. Die deutschen Bischöfe (1953/2017): „Aufgaben und Grenzen der Staatsgewalt“, 16. 07. 1953, in Akten deutscher Bischöfe seit 1945. Bundesrepublik Deutschland 1950 – 1955

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(Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe A: Quellen, Bd. 59), bearb. von Annette Mertens, Paderborn: Schöningh, 529 – 553. Die deutschen Bischöfe (1969): Die Kirche in der pluralistischen Gesellschaft und im demokratischen Staat der Gegenwart, Bonn: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Die deutschen Bischöfe (1976a): Zur Novellierung des § 218. Pastorales Wort, 07. 05. 1976, Bonn: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Die deutschen Bischöfe (1976b): Gesellschaftliche Grundwerte und menschliches Glück. Ein Wort der deutschen Bischöfe zu Orientierungsfragen unserer Gesellschaft, 07. 05. 1976, Bonn: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Große Kracht, Hermann-Josef (2012): „Solide Säkularität. Diskursdemokratische Reflexionen zum Verhältnis von Religion und Republik im Zeitalter postmetaphysischer Politik“, in Modelle des religiösen Pluralismus. Historische, religionssoziologische und religionspolitische Perspektiven (Katholizismus zwischen Religionsfreiheit und Gewalt, Bd. 5), hg. von Karl Gabriel, Christian Spieß und Katja Winkler, Paderborn: Schöningh, 269 – 289. Große Kracht, Hermann-Josef (2013a): „Deutliche Kontinuitäten und eine klare Neubestimmung. Eine Sichtung lehramtlicher Dokumente zur modernen Demokratie“, Theologische Quartalschrift, Bd. 193, 64 – 80. Große Kracht, Hermann-Josef (2013b): „Ist ohne Kirchen kein Staat zu machen? Zur historischen Entwicklung von Religion und Politik in Deutschland“, in Religion in Politik und Gesellschaft. Eine Einführung, hg. von Johannes Varwick und Stefan Schieren, Schwalbach/Ts.: Wochenschau, 8 – 30. Große Kracht, Hermann-Josef (2014): „Fünfzig Jahre Böckenförde-Theorem. Eine bundesrepublikanische Selbstverständigungsformel im Streit der Interpretationen“, in Religion – Recht – Republik. Studien zu Ernst-Wolfgang Böckenförde, hg. von Hermann-Josef Große Kracht und Klaus Große Kracht, Paderborn: Schöningh, 155 – 183. Habermas, Jürgen (2003): „Glauben und Wissen. Friedenspreisrede 2001“, in: Ders., Zeitdiagnosen. Zwölf Essays, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 249 – 262. Habermas, Jürgen (2005): Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hirtenbriefe und Ansprachen zu Gesellschaft und Politik 1945 – 1949 (Dokumente deutscher Bischöfe, Bd. 1), hg. von Günter Baadte und Anton Rauscher, bearb. von Wolfgang Löhr, Würzburg: Echter 1985. Huber, Ernst-Rudolf (1960): Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 2: Der Kampf um Einheit und Freiheit 1830 – 1850, Stuttgart: Kohlhammer. Langendörfer SJ, Hans (2003): „Politik ist nicht alles – Über die politische Präsenz der Kirchen“, in Religion und Politik. Ergebnisse und Analysen einer Umfrage, hg. von Bernhard Vogel im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., Freiburg i. Br.: Herder, 41 – 69. Lehmann, Karl (1977): „Grundwerte in Staat und Gesellschaft. Eine Zwischenbilanz zur bisherigen Diskussion“, Herder-Korrespondenz, Bd. 31, 13 – 18. Lehmann, Karl (1997): „Wächter, wie lange noch dauert die Nacht?“ Zum Auftrag der Kirche angesichts verletzlicher Ordnungen in Gesellschaft und Staat. Eröffnungsreferat von Bischof Karl Lehmann bei der Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda, 22. 09. 1997, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Der

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Vorsitzende der Bischofskonferenz, Nr. 18), Bonn: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Pesch, Rudolf (1966): Die kirchlich-politische Presse der Katholiken in der Rheinprovinz vor 1848 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B: Forschungen, Bd. 2), Mainz: Grünewald. Religionspolitik heute. Problemfelder und Perspektiven in Deutschland, hg. von Daniel Gerster, Viola van Melis und Ulrich Willems, Freiburg i. Br.: Herder 2018. Schlaich, Klaus (1975): „Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen“, in Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, hg. von Ernst Friesenhahn und Ulrich Scheuer, Berlin: Duncker & Humblot, 231 – 272. Schmidt, Helmut (1977): „Ethos und Recht in Staat und Gesellschaft“, in Grundwerte in Staat und Gesellschaft, hg. von Günter Gorschenek, München: C.H. Beck, 13 – 28. Spieß, Christian (2016): Zwischen Gewalt und Menschenrechten. Religion im Spannungsfeld der Moderne, Paderborn: Schöningh. Spital, Hermann-Josef (1957/58): „Noch einmal: Das Ethos der modernen Demokratie und die Kirche. Eine Kontroverse“, in Hochland, Bd. 50, 401 – 409. Wie fand der Katholizismus zur Religionsfreiheit? Faktoren der Erneuerung der katholischen Kirche (Katholizismus zwischen Religionsfreiheit und Gewalt, Bd. 2), hg. von Karl Gabriel, Christian Spieß und Katja Winkler, Paderborn: Schöningh 2016. Willems, Ulrich (2018): „Religionspolitik vor neuen Herausforderungen“, in Religionspolitik heute, 38 – 69.

III Einweisung in die Indifferenz? Religionsverfassungsrecht und Religionspolitik in nachchristentümlicher Zeit

Peter Unruh

Aktuelle Grenzarbeiten Religionsverfassungsrechtliche Koordinaten in Deutschland und der Europäischen Union Seit dem zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts ist das Verhältnis von Staat und Religion auch in der Bundesrepublik Deutschland nachhaltig in den Fokus nicht nur der juristischen Fachöffentlichkeit geraten. Wenige Schlagworte wie ‚Kruzifix in der Schule‘, ‚Kopftuch‘ oder ‚Beschneidung‘ zeigen an, welches gesamtgesellschaftliche Konfliktpotenzial in diesem Thema liegt.¹ Die aktuellen Rahmenbedingungen für das Religionsverfassungsrecht sind einerseits bestimmt von einer zunehmenden Säkularisierung und Individualisierung bzw. Singularisierung der Gesellschaft, die ihr Wertesystem nicht mehr primär auf ein religiöses Fundament stellt.² Andererseits wird eine ‚Wiederkehr der Religion‘ diagnostiziert, die zu einer verstärkten Nachfrage der religiösen Angebote der Religionsgemeinschaften führt.³ Beide tendenziell gegenläufigen Annahmen lassen sich jedenfalls in der Diagnose einer postsäkularen Gesellschaft zusammenführen, „die sich auf das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Umgebung einstellt“⁴. Zu konstatieren ist darüber hinaus eine intra- und interorganisatorische Pluralisierung der Religion.⁵ Die religiöse Landschaft ist nicht mehr ausschließlich von den großen christlichen Kirchen geprägt. Während die Binnendifferenzierung der christlichen Religion in verschiedene Konfessionen noch nicht das Ausmaß einer gravierenden Zersplitterung angenommen hat, wird das verstärkte Auftreten anderer Religionen und (vermeintlich) religiös inspirierter Bewegungen vermehrt zu einem Gegenstand religionsverfassungsrechtlicher Überlegungen. Dies gilt u. a.

 Vgl. zum Folgenden Peter Unruh, Religionsverfassungsrecht, 4. Aufl., Baden-Baden: Nomos 2018, Rdnr. 47 ff.  Zur Singularisierung vgl. u. a. Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin: Suhrkamp 2017.  Paradigmatisch Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München: C.H. Beck 2007.  Jürgen Habermas: Glauben und Wissen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2001, 13; ebenso ders.: „Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates“ (2004), in: Ders., Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2005, 106 – 118, 116 ff.  Dazu Karl Gabriel, „Religionen und ihre Stellung zum Staat – eine soziologische Bestandsaufnahme“, in Religionen in Deutschland und das Staatskirchenrecht, hg. von Burkhard Kämper und Hans-Werner Thönnes, Münster/W.: Aschendorff 2005, 11– 30. https://doi.org/10.1515/9783110623406-009

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für die Scientology-Bewegung und für Gruppierungen, die diversen asiatischen Einflüssen unterliegen; es gilt aber vor allem für den Islam. Mit dem Fehlen einer tatsächlich repräsentativen Zentralorganisation sowie seiner z.T. abweichenden Haltung zu religiöser Toleranz, Menschenrechten und der Trennung von Staat und Kirche stellt der Islam das geltende Religionsverfassungsrecht auf eine Belastungsprobe. Mögen aber Säkularisierung, Individualisierung und Pluralisierung auch de facto zu einem Verlust an staatskirchenrechtlichen Selbstverständlichkeiten geführt haben, so geben sie keinen Anlass, das geltende Religionsverfassungsrecht des Grundgesetzes grundsätzlich in Frage zu stellen. Im Gegenteil: Das Religionsverfassungsrecht des Grundgesetzes bietet ein Integrationspotenzial, wie es nur wenige andere Rechtsordnungen zur Verfügung stellen.⁶ Es ist zudem gerade nicht von einer wechselseitigen ‚Indifferenz‘ von Staat und Religion, sondern von der Grundeinsicht in die Bedeutung der Religion für Individuen, Gesellschaft und Staat getragen – das gegenseitige Verhältnis ist nicht kritisch-distanziert, sondern freundlich-kooperativ. Zum Beleg für diese Grundeinsicht wird zunächst ein kurzer Blick auf die jüngeren historischen Grundlagen geworfen (1.). Im Anschluss werden die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen in ihrem Fundament und in zwei tragenden Säulen skizziert (2.). Vor diesem Hintergrund werden einige besonders aktuelle Themen – quasi als Ausdruck aktueller ‚Grenzarbeiten‘ – angerissen (3.). Anschließend werden religionsverfassungsrechtliche Modelle in der EU systematisiert (4.) und abschließend vier Thesen zur Qualifikation des grundgesetzlichen Religionsverfassungsrechts als (vermeintliche) Normierung einer wechselseitigen Indifferenz bzw. Erwartungslosigkeit formuliert (5.). Ein Fazit rundet den Durchgang ab (6.).

1 Historische Grundlagen Das aktuelle Religionsverfassungsrecht des Grundgesetzes bleibt ohne zumindest rudimentäre Kenntnisse seiner historischen Grundlagen unverständlich.⁷ Die Geschichte des Verhältnisses von Staat und Religion in Deutschland war seit der Reformation im 16. Jahrhundert geprägt von einer strukturellen staats- und verfassungsrechtlichen Verbindung.⁸ In den weitgehend selbstständigen Territorien, den König- und Fürstentümern waren die weltlichen Herrscher  Vgl. Unruh 2018, Rdnr. 48 m.w. N.  Zum Folgenden ebd., Rdnr. 14 ff.  Dazu auch Peter Unruh, Reformation – Staat – Religion. Zur Grundlegung und Aktualität der reformatorischen Unterscheidung von Geistlichem und Weltlichem, Tübingen: Mohr Siebeck 2017.

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zugleich die oberste kirchliche Instanz. Dieses sog. Landesherrliche Kirchenregiment wurde im Verlaufe des 19. Jahrhunderts zunehmend gelockert, jedoch (noch) nicht vollständig beseitigt. Zu einer Trennung von Staat und Religion kam es erst im 20. Jahrhundert. Besonders radikal erfolgte sie in Frankreich mit dem Gesetz vom 9. Dezember 1905, das den Laizismus zur Rechtsnorm erhob. In Deutschland konnten sich nach der Revolution von 1918 laizistische Strömungen nicht – wie etwa in Frankreich – durchsetzen. Die Verhandlungen über die neue Weimarer Reichsverfassung führten am 11. August 1919 zum sog. ‚Kulturkompromiss‘, mit dem das Band zwischen dem Staat und der Religion nicht vollständig zertrennt wurde. Dieser Kompromiss wurde zur conditio sine qua non des gesamten Verfassungswerkes.⁹ In und mit den maßgeblichen sog. Kirchen-Artikeln 135 – 141 WRV wurden die letzten Reste des Landesherrlichen Kirchenregimentes beseitigt und die Wiedereinführung des Staatskirchentums untersagt. Alle Religionsgemeinschaften sollten fortan im säkularen Staat gleichberechtigt sein. Zugleich wurden die Kirchen als wichtige gesellschaftliche Kräfte anerkannt und in ihrer traditionellen körperschaftlichen Rechtsform belassen. In das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 wurden nach anfänglichen Diskussionen im Parlamentarischen Rat die meisten religionsverfassungsrechtlichen Artikel der Weimarer Reichsverfassung inkorporiert. Der Kompromiss von 1918 wurde also in das menschenwürde- und grundrechtebasierte System des Grundgesetzes eingepasst.¹⁰

2 Religionsverfassungsrechtliche Grundlagen Die beiden Zentralnormen des grundgesetzlichen Religionsverfassungsrechts sind Art. 4 GG und Art. 140 GG mit der Inkorporation der Art. 136 – 139, 141 WRV. Daneben finden sich Regelungen zu Einzelbereichen, etwa zu Diskriminierungsverboten in Art. 3 und Art. 33 GG oder zum Religionsunterricht in Art. 7 GG. Die über Art. 140 GG inkorporierten Artikel der WRV sind vollgültiges Verfassungsrecht.¹¹ Systematisch sind Art. 4 GG und Art. 140 GG zudem so zu lesen, als bildeten sie auch äußerlich eine Einheit in Gestalt aufeinanderfolgender Artikel. Schließlich stehen die zumeist institutionellen, d. h. auf das Verhältnis des Staates zu den Kirche(n) und anderen Religionsgemeinschaften ausgerichteten

 Vgl. Christoph Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen: Mohr Siebeck 1997, 321 ff.  Vgl. Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/2: Die einzelnen Grundrechte, München: C.H. Beck 2011, 1201 ff.  BVerfGE 111, 10 (50); Stern 2011, 1167 und 1175 m.w. N.

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Artikel der WRV auch funktional in einem engen Zusammenhang mit Art. 4 GG. Sie dienen der Grundrechtsförderung bzw. Grundrechtsverwirklichung¹² (dies gilt auch für den vermeintlich ‚privilegierten‘ Status einiger Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts eigener Art gemäß Art. 140 GG i.V. m. Art. 137 Abs. 5 WRV). Das bedeutet: Auf dem Fundament des Grundrechts auf Religionsfreiheit erheben sich einige tragende Säulen, die dem Verhältnis von Staat und Religion bzw. Religionsgemeinschaften unter Einschluss der Kirchen einen rechtlichen Halt geben.

2.1 Das Grundrecht der Religionsfreiheit (Art. 4 GG) (a) Schutzaspekte. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG beschreibt ein einheitliches Grundrecht der Religionsfreiheit mit drei sich z.T. überlagernden Schutzaspekten.¹³ Mit der Freiheit des Glaubens wird die Bildung und Beibehaltung einer religiösen Überzeugung, d. h. das forum internum, geschützt. Mit der Freiheit des religiösen Bekenntnisses wird das Recht gewährleistet, die eigene religiöse Überzeugung in vielfältiger Form kommunikativ nach außen zu tragen. Die Freiheit der Religionsausübung wird schließlich und ganz überwiegend weit verstanden. Mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ist davon umfasst „das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln“¹⁴. Dazu gehört auch das Recht, sich zu Religionsgemeinschaften zusammenzuschließen, die sich ihrerseits auf das Grundrecht der Religionsfreiheit berufen können. Unmittelbar aus diesem Grundrecht folgt das Gebot der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates.¹⁵ Es enthält ein Beeinflussungs-, ein Identi-

 BVerfGE 105, 370 (387).  Gegen die Qualifizierung des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG als einheitliches Grundrecht etwa Karl-Hermann Kästner, „Hypertrophie des Grundrechts auf Religionsfreiheit“, JuristenZeitung, 53. Jg., 1998, 974– 980. Dagegen und insgesamt zum Folgenden Unruh 2018, Rdnr. 64 ff. Differenziert Claus Dieter Classen, Religionsrecht, 2. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck 2015, Rdnr. 146 ff.  BVerfGE 32, 98 (106); ebenso BVerfGE 93, 1 (15), 108, 282 (297).  Dazu Stefan Huster, Die ethische Neutralität des Staates. Eine liberale Interpretation der Verfassung, 2. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck 2017; Lorenz Engi, Die religiöse und ethische Neutralität des Staates. Theoretischer Hintergrund, dogmatischer Gehalt und praktische Bedeutung eines Grundsatzes des schweizerischen Staatsrechts, Zürich: Schulthess 2017. Gegen die Verabschiedung des Neutralitätsgebotes überzeugend Hans Michael Heinig, „Verschärfung der oder Abschied von der Neutralität?“ (2009), in: Ders., Die Verfassung der Religion. Beiträge zum Religionsverfassungsrecht, Tübingen: Mohr Siebeck 2015, 133 – 145.

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fikations- und ein Bewertungsverbot auch gegenüber der Kirche bzw. den Kirchen. Es ist andererseits nicht gleichbedeutend mit einem vermeintlichen Gebot kritischer Distanz gegenüber der Religion. Das BVerfG versteht das Neutralitätsgebot zutreffend als Gebot einer offenen Neutralität, das die staatliche – auch finanzielle – Förderung von Religion und Religionsgemeinschaften nicht grundsätzlich ausschließt.¹⁶ (b) Schranken. Art. 4 GG enthält keinen ausdrücklichen Schrankenvorbehalt. Gleichwohl ist die Religionsfreiheit auch unter dem Grundgesetz nicht schrankenlos gewährleistet. Maßgeblich sind – insofern vergleichbar mit der Schrankenregelung der Schweizer Bundesverfassung – sog. verfassungsimmanente Schranken, d. h. Grundrechte Dritter oder sonstige Rechtsgüter mit Verfassungsrang.¹⁷ Auch Einschränkungen des Neutralitätsgebotes können gerechtfertigt sein, etwa wenn eine Religionsgemeinschaft Integrität und Persönlichkeit ihrer Mitglieder durch Gewalt und Misshandlung verletzt, den Austritt durch strafbewehrte Nötigung zu verhindern sucht oder sich im aktiven Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung wendet. Hier stellt eine unterschiedliche Behandlung von Religionsgemeinschaften durch den Staat keine Privilegierung etwa der christlichen Kirchen dar. Vielmehr ist sie zum Schutz von Grundrechten Dritter nicht nur legitimiert, sondern geradezu geboten.

2.2 Das Verbot der Staatskirche (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 1 WRV) Eine tragende Säule des Verhältnisses von Kirche(n) und Staat unter dem Grundgesetz wird durch Art. 137 Abs. 1 WRVgeformt; er lautet schlicht: „Es besteht keine Staatskirche.“ Mit diesem Paukenschlag der Verfassunggebung von 1919, der im Grundgesetz nachhallt, wurden die letzten Reste des Landesherrlichen Kirchenregiments beseitigt und die Trennung von Staat und Religion auf Verfassungsebene normativ fixiert. Aus dieser Trennung folgt das grundsätzliche Verbot institutioneller und funktioneller Verbindungen beider Sphären. Streit besteht hingegen über die normative Reichweite des Trennungsgebotes.¹⁸ Gegen die These einer strikten Trennung i.S. eines Verbotes jeglicher Berührung von Staat und Religion spricht schon der Wortlaut des Art. 137 Abs. 1 WRV, der allein das Verbot des Staatskirchentums benennt. Ferner lässt das Grundgesetz selbst eine Reihe

 Grundlegend BVerfGE 41, 29 (50); vgl. auch BVerfGE 123, 148 (178 ff.).  Dazu Unruh 2018, Rdnr. 120 ff. m.w. N.  Dazu ebd., Rdnr. 144 ff. m.w. N.

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von Verbindungen zu, etwa beim Religionsunterricht, bei der Kirchensteuer und in der Anstaltsseelsorge. Im Ergebnis ist daher von einer freundlichen Trennung auszugehen, die eine sachlich begründete Berührung von Staat und Religion sowie eine Kooperation von Staat und Kirche(n) nicht ausschließt und in einigen Bereichen sogar verfassungsrechtlich vorschreibt. So begreift das BVerfG das Verbot der Staatskirche zutreffend (nur) als Verbot institutioneller bzw. organisatorischer Verbindungen zwischen Staat und Kirche(n).¹⁹ Daraus folgt zunächst das Verbot der Einführung staatskirchlicher Strukturen.²⁰ Eine Eingliederung der Kirche(n) in die Staatsorganisation sowie ihre umfassende Unterwerfung unter die Staatsaufsicht scheiden demnach ebenso aus wie die staatliche Einflussnahme auf die zu vermittelnden religiösen Inhalte und Aktivitäten der Kirche(n). Selbst diese institutionelle bzw. organisatorische Trennung schließt aber eine auch umfangreiche Kooperation beider Sphären nicht aus. Sie schafft vielmehr die Voraussetzungen dafür, diese Kooperation in klaren Strukturen zu gestalten.

2.3 Das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV) Gemäß Art. 137 Abs. 3 WRV ordnet und verwaltet jede Religionsgesellschaft ihre Angelegenheiten selbstständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Dieses Selbstbestimmungsrecht ist die zweite tragende Säule des grundgesetzlichen Religionsverfassungsrechts und gilt für alle Religionsgemeinschaften unabhängig von ihrem Rechtsstatus. (a) Ordnen und Verwalten der eigenen Angelegenheiten. Sachlich geschützt sind das Ordnen und Verwalten der eigenen Angelegenheiten der Kirche(n) – und damit der gesamte Bereich ihrer Aufgaben und Tätigkeitsbereiche. Das selbstständige Ordnen betrifft die eigenständige Rechtsetzung der Kirche(n) in eigenen Angelegenheiten.²¹ Das Inkrafttreten kirchlicher Rechtsvorschriften kann daher nicht einseitig vom Staat an Vorlagepflichten oder Genehmigungsvorbehalte gebunden werden. Mit selbstständigem Verwalten der eigenen Angelegenheiten ist die „freie Betätigung kirchlicher Organe zur Verwirklichung der jeweiligen Auf-

 BVerfGE 19, 206 (216); 93, 1 (17); 108, 282 (299).  Vgl. Jörg Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung mit kirchenrechtlichen Exkursen, Neuwied/Kriftel: Luchterhand 2001, 102.  So schon Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis (1933), 14. Aufl., Aalen: Scientia 1987, 635.

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gaben“ gemeint.²² Dazu gehört zunächst die Verwaltung im engeren Sinne, d. h. die Umsetzung des eigenen Rechts und der darauf beruhenden Beschlüsse auf der Grundlage eines eigenen Verfahrensrechts. Dazu zählen ferner Bestimmungen über die interne Organisation, insbesondere über die Leitung der Kirche(n) sowie die Errichtung einer eigenständigen Gerichtsbarkeit in eigenen Angelegenheiten. Für die Bestimmung des Zentralbegriffs der eigenen Angelegenheiten ist grundsätzlich das Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften maßgeblich. Die bloße Behauptung jedoch, eine Angelegenheit sei ihre eigene und keine staatliche, genügt nicht. Vielmehr obliegt es den staatlichen Rechtsanwendungsinstanzen, diese Behauptung (zumindest) auf ihre Plausibilität zu überprüfen.²³ Zu den eigenen Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften gehören unumstritten die Bereiche von Lehre und Kultus sowie von Verfassung und Organisation, die Ausbildung der Geistlichen, das Mitgliedschaftsrecht inklusive der Rechte und Pflichten der Mitglieder, die karitativ-diakonischen Tätigkeiten und das kirchliche Arbeitsrecht, das allerdings hinsichtlich seiner konkreten Ausgestaltung mittlerweile zum Gegenstand diverser, auch (höchst‐ und europa-)richterlicher Auseinandersetzungen geworden ist.²⁴ (b) „… innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“. Das Selbstbestimmungsrecht der Kirche(n) wird „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“ gewährleistet. Die wechselhafte Geschichte der Auslegung dieses Schrankenvorbehalts hat zu der Erkenntnis geführt, dass Einschränkungen des Selbstbestimmungsrechts nur zugunsten kollidierender und nach einer Abwägung überwiegender Rechtsgüter erfolgen können.²⁵

3 Aktuelle Probleme Vor diesem historischen Hintergrund und in diesem religionsverfassungsrechtlichen Rahmen können nunmehr einige aktuelle Probleme des Verhältnisses von Staat und Religion in der Bundesrepublik Deutschland in den Blick genommen werden.

 Axel von Campenhausen/Heinrich de Wall, Staatskirchenrecht. Eine systematische Analyse des Religionsverfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl., München: C.H. Beck 2006, 101.  Vgl. Unruh 2018, Rdnr. 159 m.w. N.  Dazu ebd., Rdnr. 188 ff. m.w. N.  Dazu ebd., Rdnr. 170 ff. m.w. N. und Classen 2015, Rdnr.275 ff. m.w. N.

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3.1 Religionsverfassungsrecht und Kirchen In einem ersten Überblick können drei aktuelle Probleme herausgehoben werden. (a) Staatsleistungen. So geraten – erstens – die historisch bedingten Staatsleistungen an die betroffenen Religionsgemeinschaften zunehmend unter Druck. Bei den Staatsleistungen handelt es sich um staatliche Entschädigungsleistungen für Vermögensverluste der Kirchen im Wege der Säkularisation, die in der Zeit vor 1918 gründen und aktuell in den Staatskirchenverträgen pauschaliert und dynamisiert sind.²⁶ Art. 139 WRV beschreibt ein gestuftes Verfahren zur Ablösung dieser Staatsleistungen, das ein Bundesgrundsätze-Gesetz und konkretisierende Landesgesetze vorsieht.²⁷ Vielfach wird von staatlicher und gesellschaftlicher Seite eine Ablösung außerhalb dieses Verfahrens²⁸ oder sogar – in Verkennung des rechtlichen Status dieser Leistungen als Entschädigungsleistungen – ein vollständiger Verzicht der Kirchen gefordert. (b) Arbeitsrecht. Das zweite Problem betrifft das Arbeitsrecht in den Religionsgemeinschaften.²⁹ Die Ausgestaltung des Arbeitsrechts in den und durch die Kirche(n) ist Teil ihres Selbstbestimmungsrechts aus Art. 140 GG i.V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV. Gleichwohl gilt das staatliche Arbeitsrecht grundsätzlich auch für die Kirche(n). Es wird jedoch in Inhalt und Anwendung durch das Selbstbestimmungsrecht der Kirche(n) modifiziert. Mit den Worten des BVerfG muss auch in den Arbeitsverhältnissen das „kirchliche Proprium“ erkennbar bleiben (können), sodass den Kirchen „eine glaubwürdige Erfüllung ihres Sonderauftrags“ möglich ist.³⁰ Umstritten sind hier zunächst die von den Kirchen normierten sog. Loyalitätspflichten, die jedenfalls für zentrale Stellen die Kirchenmitgliedschaft als Einstellungsvoraussetzung und im Übrigen eine ‚loyale‘ Verhaltensweise auch außerhalb des Dienstes vorschreiben. Die Normierung derartiger Loyalitätspflichten hat bisher vor dem BVerfG Bestand, ist aber vor dem europarechtlich indizierten Antidiskriminierungsrecht insbesondere vor dem EuGH und dem Bundesarbeitsgericht (BAG) jüngst in die Kritik geraten.³¹ Grenzen bilden u. a.

 Zum Begriff der Staatsleistungen vgl. u. a. Martin Morlok, „Art. 140 GG/Art. 138 WRV“, Rdnr. 15, in Grundgesetz. Kommentar, hg. von Horst Dreier, Bd. 3, 3. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck 2018. Grundlegend Michael Droege, Staatsleistungen an Religionsgemeinschaften im säkularen Kultur- und Sozialstaat, Berlin: Duncker & Humblot 2004.  Dazu Unruh 2018, Rdnr. 527 ff. m.w. N.  So etwa von Gerhard Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht. Eine Einführung, Berlin/ Heidelberg: Springer 2008, Rdnr. 362.  Dazu Unruh 2018, Rdnr. 188 ff. m.w. N.  BVerfGE 70, 138 (165 f.).  Vgl. Unruh 2018, Rdnr. 192 ff. m.w. N.

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das Willkürverbot und – insbesondere nach der jüngeren Rechtsprechung des EGMR – die Verhältnismäßigkeit der Anforderungen. Gegenstand anhaltender Anfechtungen ist zudem das kollektive Arbeitsrecht der Kirchen. Die jüngere instanzliche Arbeitsgerichtsbarkeit hatte insbesondere Zweifel an der Zulässigkeit des Streikverbots in kirchlichen Einrichtungen angemeldet.³² Das Bundesarbeitsgericht hat in zwei Entscheidungen aus dem November 2012 für Klarheit gesorgt.³³ Der Ausschluss von Arbeitskampfmaßnahmen kollidiert zwar mit der grundrechtlich verbürgten Koalitionsfreiheit der Gewerkschaften aus Art. 9 Abs. 3 GG unter Einschluss des Rechts, (auch in kirchlichen Einrichtungen) Arbeitskämpfe zu führen. Er ist jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn den Gewerkschaften ein Einfluss auf die Gestaltung der Arbeitsrechtsregelung der Kirchen zugestanden und ein adäquates Schlichtungsverfahren etabliert wird. Eine Verfassungsbeschwerde der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft Verdi ist vom BVerfG verworfen worden.³⁴ (c) Sonn- und Feiertagsschutz. Schließlich ist im Zuge der Säkularisierung, der religiösen Pluralisierung, der Kommerzialisierung des Sonntags und der Feiertage sowie des veränderten Freizeitverhaltens weiter Teile der Gesellschaft der Sonnund Feiertagsschutz zunehmend unter (wirtschafts‐)politischen Druck geraten.³⁵ Der in Art. 139 WRV verankerte Sonntagsschutz gilt nach Maßgabe des Grundgesetzes nicht absolut. Die erforderliche Abwägung mit gegenläufigen Grundrechten – etwa der Ladeninhaberinnen und Ladeninhaber oder der potenziellen Käuferinnen und Käufer – erfolgt am Maßstab der Verhältnismäßigkeit. Dazu hat das BVerfG ausgeführt, dass Ausnahmen von der generellen Arbeitsruhe „eines dem Sonntagsschutz gerecht werdenden Sachgrundes“ bedürfen.³⁶ Der jeweilige Sachgrund muss zudem von besonderem Gewicht sein. So genügen ein „bloß wirtschaftliches Umsatzinteresse der Verkaufsstelleninhaber und ein alltägliches Erwerbsinteresse (‚Shopping-Interesseʻ) potenzieller Käufer […] grundsätzlich nicht […]“. Zudem müssen „Ausnahmen als solche erkennbar bleiben“ und dürfen „nicht auf eine weitgehende Gleichstellung der sonn- und feiertäglichen Verhältnisse mit den Werktagen und ihrer Betriebsamkeit hinauslaufen“.³⁷

 Nachweise ebd., Rdnr. 205.  BAGE 144, 1 ff.; 143, 354 ff.  BVerfGE 140, 42 ff.  Dazu Unruh 2018, Rdnr. 541 ff. m.w. N. und ders., „Kirche(n) und Staat im demokratischen Verfassungsstaat – Grundlagen und aktuelle Probleme“, in Umwelt – Hochschule – Staat. Festschrift für Franz-Joseph Peine zum 70. Geburtstag, hg. von Lothar Knopp und Heinrich Amadeus Wolff, Berlin: Duncker & Humblot 2016, 603 – 619, 614 ff.  BVerfGE 125, 39 (87).  Vorstehende Zitate aus BVerfGE 125, 39 (87).

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Vor diesem Hintergrund liefern insbesondere die sog. ‚Bäderregelungen‘, die Ausnahmen für touristisch besonders bedeutsame Orte enthalten, Anlass für anhaltenden Streit.³⁸ Dies gilt z. B. für die Bäderregelung in MecklenburgVorpommern, die an mindestens 31 von 52 Sonntagen eine Ladenöffnung im Küstengebiet mit großem Einzugsbereich sowie an zahlreichen weiteren Orten erlaubt. Diese Regelung ist in einem entsprechenden Verfahren von dem zuständigen Oberverwaltungsgericht Greifswald am 18. Juli 2018 – allerdings (nur) aus formalen Gründen – für unwirksam erklärt worden.

3.2 Religionsverfassungsrecht und Islam Das Religionsverfassungsrecht des Grundgesetzes gilt für alle Religionsgemeinschaften gleichermaßen. Gleichwohl ergibt sich aktuell eine Reihe von Anwendungsproblemen im Kontext des Islam.³⁹ Dies gilt nach wie vor etwa für den koedukativen Schulunterricht, das Schulgebet und die Einrichtung islamischer Fakultäten an den deutschen Universitäten. Auf drei aktuelle Themenfelder ist gesondert hinzuweisen. (a) Islamischer Religionsunterricht. Gemäß Art. 7 Abs. 3 GG ist Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach.⁴⁰ Er wird unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“ erteilt. Im Grundsatz ist daher auch islamischer Religionsunterricht möglich und geboten. Probleme ergeben sich u. a. aus der Frage, ob die aktuell auftretenden islamischen Vereinigungen als Religionsgemeinschaft(en) i. S. d. Art. 7 Abs. 3 GG gelten können.⁴¹ Besonders umstritten ist insbesondere, ob auch Dachverbände islamischer (Moschee‐)Vereinigungen als Religionsgemeinschaften angesehen werden können. Zu den Voraussetzungen gehört nach einer Grundsatzentschei-

 Dazu Unruh 2016, 615.  Vgl. Wiebke Hennig, Muslimische Gemeinschaften im Religionsverfassungsrecht. Die Kooperation des Staates mit muslimischen Gemeinschaften im Lichte der Religionsfreiheit, der Gleichheitssätze und des Verbots der Staatskirche, Baden-Baden: Nomos 2010.  Dazu Unruh 2018, Rdnr. 413 ff. m.w. N.; vgl. auch Stefan Korioth, „Der Auftrag des Religionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 GG“, in Religionsunterricht in der religiös pluralen Gesellschaft, hg. von Burkhard Kämper und Klaus Pfeffer, Münster/W.: Aschendorff 2016, 7– 37.  Dazu Unruh 2018, Rdnr. 457 ff. m.w. N.; vgl. auch Bernd Greszick, „Islamischer Religionsunterricht an öffentlichen Schulen“, Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, Bd. 62, 2017, 362– 388; Janbernd Oebbecke, „Die rechtliche Ordnung des islamischen Religionsunterrichts in Deutschland – Stand und Perspektiven“, in Religionsunterricht in der religiös pluralen Gesellschaft, 153 – 178.

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dung des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 2005 zunächst, dass der jeweilige Dachverband in seiner Satzung mit Sachautorität und -kompetenz für identitätsstiftende religiöse Aufgaben ausgestattet ist.⁴² Ferner muss die von ihm in Anspruch genommene Autorität in der gesamten Gemeinschaft bis hinunter zu den Moscheegemeinden real wirksam sein. Das Oberverwaltungsgericht Münster hat in einer Entscheidung vom 9. November 2017 festgestellt, dass diese Voraussetzungen beim Zentralrat der Muslime in Deutschland e.V. sowie beim Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland e.V. nicht vorliegen.⁴³ Im Ergebnis sind diese beiden Dachverbände daher untauglich, einen islamischen Religionsunterricht i. S. d. Art. 7 Abs. 3 GG inhaltlich zu verantworten. Als Alternative wird z. B. im Bundesland Nordrhein-Westfalen bereits seit einigen Jahren ein sog. Beiratsmodell praktiziert.⁴⁴ Danach kann und soll als Gegenüber zum Staat ein vom zuständigen Ministerium gebildeter Beirat tätig werden. Er soll die den Religionsgemeinschaften vorbehaltenen Mitwirkungsrechte bei der Ein- und Durchführung des islamischen Religionsunterrichts wahrnehmen. Hinsichtlich der Zusammensetzung des Beirats wird übereinstimmend zwischen zwei Gruppen unterschieden. Die Hälfte der Mitglieder (zumeist vier) soll sich aus theologisch, religionspädagogisch oder islamwissenschaftlich qualifizierten Vertreterinnen und Vertretern der organisierten Muslime zusammensetzen. Sie werden von den betreffenden islamischen Organisationen oder Dachverbänden benannt. Die andere Hälfte soll sich aus vergleichbar qualifizierten muslimischen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Religionsgelehrten rekrutieren, die vom jeweiligen staatlichen Ministerium im Einvernehmen mit den islamischen Organisationen oder Dachverbänden bestimmt werden. Damit soll eine lückenlose Repräsentation aller muslimischen Schülerinnen und Schüler erreicht werden. Dieses Beiratsmodell unterliegt jedoch religionsverfassungsrechtlichen Bedenken. So widerspricht die Bildung des Beirats durch eine staatliche Instanz dem Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften. Auch die Zusammensetzung des Beirats ist problematisch, denn die staatlich-selektive Auswahl nicht-organisierter Muslime verleiht diesen Rechte, die gemäß Art. 7 Abs. 3 GG nur den Religionsgemeinschaften zustehen. Insgesamt ist bis zu der religionsverfassungsrechtlich möglichen Einführung islamischen Religionsunterrichts – auch von den muslimischen Gemeinschaften – noch ein gutes Stück des Weges zurückzulegen.  BVerwGE 123, 49 ff.  OVG Münster, Kirche und Recht, Bd. 23, 2017, 245 ff.; dazu auch Greszick 2017, 387.  Dazu Die Einrichtung von Beiräten für islamische Studien, hg. von Christian Walter u. a., BadenBaden: Nomos 2011; Unruh 2018, Rdnr. 460 f. m.w. N.

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(b) Verbot der Vollverschleierung. Seit 2010 haben einige europäische Länder, wie etwa Belgien, Frankreich und jüngst Österreich, Gesetze zum Verbot der Vollverschleierung bzw. der Gesichtsverhüllung in der Öffentlichkeit erlassen.⁴⁵ In der Schweiz hat bisher der Kanton Tessin ein entsprechendes Verbot in seiner Kantonsverfassung nebst Ausführungsgesetz verankert. Der Kantonsrat des Kantons St. Gallen hat im September 2017 ein ‚Verhüllungsverbot im öffentlichen Raum‘ im Grundsatz beschlossen; die Umsetzung steht aus. Auf föderaler Ebene steht zu erwarten, dass die erfolgreiche Volksinitiative ‚Ja zum Verhüllungsverbot‘ zu einer bundesweiten Volksabstimmung führen wird. Auch in Deutschland ist die Diskussion um ein Verbot der Vollverschleierung im öffentlichen Raum seit etwa 2015 aufgeflammt.⁴⁶ Diese Flamme wurde jedoch nach kurzer Zeit und nach einem Blick auf die religionsverfassungsrechtliche Dogmatik im Keim erstickt. Sofern das Tragen gesichtsverhüllender Kleidung religiös motiviert ist, ist das Grundrecht auf Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG einschlägig. Für eine Beschränkung sind – wie gesehen – gegenläufige Grundrechte Dritter oder anderweitige Rechtsgüter mit Verfassungsrang erforderlich. Entsprechende Schranken sind jedoch derzeit nicht erkennbar. Insbesondere das Argument, eine freie und plurale demokratische Gesellschaft sei auf offene Kommunikation ‚von Angesicht zu Angesicht‘ angewiesen, ließ sich verfassungsrechtlich nicht untermauern. Am 15. Juni 2017 trat jedoch das Gesetz zu bereichsspezifischen Regelungen der Gesichtsverhüllung und zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften in Kraft.⁴⁷ Es verbietet zum einen die Gesichtsverhüllung bei der Ausübung des öffentlichen Dienstes von Beamtinnen und Beamten sowie für Soldatinnen und Soldaten. Zur Begründung wurde auf die „Funktionsfähigkeit der Verwaltung“ und das erforderliche „Vertrauen in ein öffentliches Amt und damit in die Tätigkeit und Integrität des Staates“ abgestellt.⁴⁸ Ausnahmen gelten bei dienstlichen oder gesundheitlichen Gründen. Zum anderen gilt nunmehr ein Gesichtsverhüllungsverbot im Kontext der Mitwirkung bei der Identitätsfeststellung oder beim Lichtbildabgleich. So muss im Rahmen einer erforderlichen Identitätsfeststellung – etwa im Straßenverkehr oder bei der Vornahme einer Wahlhandlung – die Möglichkeit eines Abgleichs des Gesichts mit dem Lichtbild im Personalausweis eröffnet werden.

 Vgl. die Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages: „Sachstand. Verbot der Vollverschleierung in den Staaten der EU“, abrufbar unter Az.: WD2– 3000 – 095/17 (Stand: 16.10. 2017).  Zum Folgenden Unruh 2018, Rdnr. 133a m.w. N.  Dazu Holger Greve/Paul Kortländer/Michael Schwarz, „Das Gesetz zu bereichsspezifischen Regelungen der Gesichtsverhüllung“, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht, Bd. 36, 2017, 992– 997.  Bundestag-Drucksache 18/11180, 9.

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Diese Regelungen zum bereichsspezifischen Verhüllungsverbot sind religionsverfassungsrechtlich umstritten, aber haltbar, weil die ‚Funktionsfähigkeit der Verwaltung‘ ein gegenläufiges Verfassungsgut und damit eine taugliche Schranke der Religionsfreiheit markiert.⁴⁹ Von einem generellen Verbot der Vollverschleierung in der Öffentlichkeit wurde allerdings bisher zu Recht Abstand genommen. (c) Verhaltenscodex der Universität Hamburg. Das dritte aktuelle Themenfeld betrifft Verhaltenskodizes für öffentliche Einrichtungen, die durch die religiöse Pluralisierung und die damit verbundenen divergenten Verhaltensweisen induziert sind. Als Beispiel kann der Verhaltenskodex zur Religionsausübung an der Universität Hamburg nebst den einschlägigen Ausführungsbestimmungen aus dem Oktober 2017 gelten.⁵⁰ In diesem Kodex wird u. a. darauf hingewiesen, dass die Religionsausübung an der Universität „die Anerkennung Anderer und den Respekt vor deren Glauben oder Unglauben und deren Überzeugungen“ voraussetzt. Offensichtlich aus gegebenem Anlass wird ferner festgestellt: „Alle Universitätsangehörigen bekennen sich zur Gleichberechtigung der Geschlechter und zur gleichberechtigten Teilhabe am gesamten Universitätsleben.“ In den Ausführungsbestimmungen heißt es schließlich: Insoweit die Universität über den Einsatz ihres Personals in Lehre und Forschung sowie die begleitenden administrativen Handlungen entscheidet, kann von Studierenden nicht beansprucht werden, von Angehörigen eines bestimmten Geschlechts nicht unterrichtet oder geprüft zu werden. Wird beispielsweise die Annahme von Zeugnissen oder anderen Schriftstücken aus der Hand von Mitarbeitern eines bestimmten Geschlechts verweigert, gehen die damit verbundenen Rechtsnachteile zu Lasten des Empfängers.⁵¹

Diese und andere Regelungen des Verhaltenskodex – etwa das Verbot, religiös motivierten Druck auf Universitätsangehörige auszuüben oder das Gebot, zur Identitätsfeststellung bei Prüfungen die Vollverschleierung zu lockern – stehen im Einklang mit dem Religionsverfassungsrecht des Grundgesetzes. Sie sind nicht nur nicht zu beanstanden, sondern bringen zum ganz überwiegenden Teil religionsverfassungsrechtliche Selbstverständlichkeiten zum Ausdruck, auf die aber offensichtlich zunehmend und explizit hingewiesen werden muss.

 Kritisch Jens Reisgies, „Verbot der Vollverschleierung für Verfahrensbeteiligte im Gerichtssaal“, Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, Bd. 62, 2017, 271– 292.  Abrufbar unter: www.uni-hamburg.de/uhh/profil/leitbild/verhaltenskodex-religionsausue bung.html (Abruf: 22.11. 2018).  Ebd.

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4 Religionsverfassungsrechtliche Modelle in der EU⁵² Der EU und dem Unionsrecht kommen eine zunehmende Bedeutung auch für die Religion und die Religionsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten zu. In diesem Zusammenhang sind zwei Aspekte hervorzuheben und zumindest im Aufriss zu erläutern. Es handelt sich zum einen um die Analyse der religionsverfassungsrechtlichen Modelle in den Mitgliedstaaten der EU. Zum anderen geht es um die Frage, ob und ggf. in welchem Ausmaß die EU ein eigenes Europäisches Religionsverfassungsrecht ausbilden oder zumindest einen verbindlichen Rahmen für das Religionsverfassungsrecht der Mitgliedstaaten setzen darf. Dabei ist zunächst festzustellen, dass die normative Regelung des Verhältnisses von Staat und Religion als Konstante aller Rechtsordnungen auch in den Mitgliedstaaten der EU anzutreffen ist. Aber die jeweiligen historischen Ausgangspunkte differieren, und daher sind auch die Entwicklungslinien im Laufe der neuzeitlichen Geschichte unterschiedlich verlaufen. Ob sich „die individuell gewachsene Besonderheit eines Staates nirgends deutlicher abzeichnet als gerade im religionsverfassungsrechtlichen Bereich“⁵³, mag hier offen bleiben. In der aktuellen Diskussion wird jedenfalls überwiegend angenommen, dass sich drei Modelle unterscheiden lassen, nämlich das Staats- bzw.Volkskirchenmodell, das Trennungsmodell und das Kooperationsmodell. Die Benennung der Modelle weist bereits darauf hin, dass es im Kontext der EU (bisher) nur um das Verhältnis des Staates zu den Kirchen geht. Im Hinblick auf die potenzielle Erweiterung der EU sind jedoch auch andere Religionsgemeinschaften – etwa der Islam in der Türkei – in den Blick zu nehmen.

4.1 Das Staats- bzw. Volkskirchenmodell (a) Kriterium und Erscheinungsformen. Das Religionsverfassungsrecht eines Mitgliedstaates der EU lässt sich dem Staats- bzw. Volkskirchenmodell zuordnen, wenn sich eine (verfassungs‐)rechtlich verankerte institutionelle und funktionelle Verbindung zwischen dem Staat und einer Religionsgemeinschaft nachweisen lässt. Dieses Kriterium wird etwa in den evangelisch-lutherischen Volkskirchen der skandinavischen bzw. nordischen Länder Dänemark und Finnland erfüllt.

 Entspricht i.W. Unruh 2018, § 17.  Axel von Campenhausen/Heinrich de Wall 2006, 344.

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Entsprechendes gilt für Griechenland mit der griechisch-orthodoxen Kirche als vorherrschender Religion. Außerhalb der EU lassen sich auch einige Kantone der Schweiz diesem Modell zuordnen. Allerdings ist anzumerken, dass auch in diesen Ländern die Religionsfreiheit gewährleistet und allen (!) Religionsgemeinschaften ein weitgehendes Selbstbestimmungsrecht eingeräumt wird. Hervorzuheben ist schließlich, dass die evangelisch-lutherische Schwedische Kirche, die seit 1527 Staatskirche war, diesen Status mit Wirkung vom 1. Januar 2000 verloren hat. Gleichwohl bestehen nach wie vor enge Beziehungen zwischen dem Staat und der Schwedischen Kirche. (b) Das Vereinigte Königreich als Sonderfall. Das Vereinigte Königreich liefert ein differenziertes Bild. Während in Nordirland und Wales keine Staatskirchen bestehen, kann die presbyterianische Church of Scotland dem Staatskirchenmodell zugeordnet werden.⁵⁴ In England ist die anglikanische Church of England seit ihrer Etablierung durch Heinrich VIII. im Jahre 1534 Staatskirche. Die übrigen Religionsgemeinschaften sind auf die Rechtsformen des Privatrechts verwiesen. Die Einwirkungen des Staates auf die Anglikanische Kirche sind zahlreich. So ist die Queen kraft Amtes zugleich das Oberhaupt der Kirche. Die von der Synode beschlossenen Kirchengesetze stehen unter dem Vorbehalt der Genehmigung durch das staatliche Parlament. Das Ernennungsverfahren für die (Erz‐)Bischöfe ist mit Ausnahme des kirchlichen Bestellungsakts in Form der Bischofsweihe von staatlichen Stellen dominiert. Staatliche Gerichte üben die Rechtskontrolle über die Rechtsprechung der Kirchengerichte aus. Umgekehrt betreffen Einwirkungen der Kirche auf den Staat zunächst die Person der Monarchin bzw. des Monarchen, die bzw. der zwingend der Anglikanischen Kirche angehören muss. Im Übrigen haben 26 Bischöfe Sitz und Stimme im Oberhaus. Obwohl sich neben dem Strukturprinzip der Staatskirche auf der Grundlage der Religionsfreiheit auch die Elemente der Neutralität und Parität etabliert haben, bestehen zwischen dem Staat und der Anglikanischen Kirche nach wie vor erhebliche wechselseitige Interferenzen.

4.2 Das Trennungsmodell (a) Kriterium und Erscheinungsformen. Ein religionsverfassungsrechtliches Trennungsmodell liegt vor, wenn die Religion als gesellschaftliches Phänomen konsequent in den privaten Bereich verwiesen wird und die Religionsgemeinschaften ausschließlich als zivilrechtliche Vereinigungen gelten. Erscheinungsformen

 Vgl. ebd., 388 f.

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dieses Modells finden sich in den Niederlanden und aufgrund der formalen Verfassungslage auch in der Republik Irland. Außerhalb der EU wird vor allem das Religionsverfassungsrecht der USA als Beispielsfall angeführt. Die konkreten Erfahrungen der zumeist religiösen Minderheiten angehörenden Siedler aus Europa führten zu einer grundsätzlich religionsfreundlich motivierten Trennung von Staat und Kirche. Diese strikte Trennung wird nicht nur faktisch z. B. durch den Aufdruck auf Geldmünzen und -scheinen (‚In God we trust‘) konterkariert. Auch religionsverfassungsrechtlich lässt sich ein Wandel von der rigorosen wall-of-separation-Doktrin zu einem grundrechtlich fundierten Verständnis der Religion beobachten, das nunmehr auch eine Förderung der Religion zulässt.⁵⁵ (b) Frankreich als Sonderfall. In Frankreich hat die Trennung von Staat und Kirche seit der Französischen Revolution – anders als in den USA – eine grundsätzlich religionskritische Tendenz.⁵⁶ Aufgrund historischer Besonderheiten sind die drei östlichen Departements im Elsass davon ausgenommen. Hier sind z. B. die Geistlichen zugleich Staatsbeamte und die theologischen Fakultäten ordentliche Fakultäten an den staatlichen Universitäten. Im Übrigen liefert die Loi concernant la séparation des Eglises et de l’Etat vom 9. Dezember 1905 das Fundament des französischen Trennungsmodells. Der in diesem Gesetz verankerte normative Laizismus wurde jeweils in Art. 1 der Verfassungen von 1946 und 1958 bekräftigt („La France est une République […] laique.“). Folgerichtig gelten die Religionsgemeinschaften in Frankreich als Kultvereine (associations cultuelles). Im Lichte der – natürlich – auch in Frankreich gewährleisteten Religionsfreiheit hat sich der strikte Laizismus im Wege modifizierender Norminterpretation zu einer abgemilderten Laizität gewandelt. Kennzeichen sind eine positive Neutralität mit Elementen der Kooperation und der Religionsförderung. Beispiele liefern steuerliche Vergünstigungen für die Kultvereine sowie die staatlich organisierte Anstaltsseelsorge.

4.3 Das Kooperationsmodell Das Religionsverfassungsrecht im Kooperationsmodell zeichnet sich dadurch aus, dass der religiös und weltanschaulich neutrale Staat eine grundsätzlich positive Haltung gegenüber der Religion und den Religionsgemeinschaften einnimmt. Der Staat fördert die Religion und kooperiert mit den Religionsgemein Vgl. Maren Rosenkötter, Die Establishment Clause der U.S. Verfassung und staatliche Unterstützung religiöser Privatschulen, Frankfurt a. M.: Lang 2011, insbesondere 17 ff.  Dazu ausführlich Claus Dieter Classen, „Laizität und Religionsfreiheit in Frankreich“, Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, Bd. 62, 2017, 111– 151.

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schaften, denen zudem ein besonderer rechtlicher Status zukommt. Eine tiefergehende Beschreibung erübrigt sich an dieser Stelle, da das Religionsverfassungsrecht des Grundgesetzes diesem Modell zuzuordnen ist. Entsprechendes gilt für Belgien, Italien, Luxemburg, Österreich, Portugal und Spanien. Im Einzelnen können aber auch in diesen Ländern Art und Ausmaß der Kooperation voneinander abweichen. Dies gilt etwa für das System der Finanzierung der Religionsgemeinschaften. Hier reicht die Vielfalt der Praxis von der Finanzierung durch die Kirchensteuer über die Zahlung der Gehälter und Pensionen der Geistlichen durch den Staat bis zu einer Zweckbindung eines Teils der allgemeinen Steuerschuld für religiöse Belange.⁵⁷

4.4 Konvergenz und Zwei-Ebenen-Modell Die kategoriale Unterscheidung zwischen den drei Modellen nebst Zuordnung des jeweiligen mitgliedstaatlichen Religionsverfassungsrechts ist auf berechtigte Kritik gestoßen.⁵⁸ Das Unbehagen an dieser Systematisierung kann sich auf zumindest vier Argumente stützen. Zunächst kann darauf verwiesen werden, dass die Kategorie der Trennung von Staat und Kirche dem seinerzeit noch ausschließlich staatskirchenrechtlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts entstammt und mit entsprechendem Bedeutungsgehalt aufgeladen ist. Die uneingeschränkte Tauglichkeit dieser Kategorie für die religionsverfassungsrechtlichen Probleme der Gegenwart und Zukunft kann zumindest in Frage gestellt werden. Zweitens ist die dogmatische Leistungsfähigkeit der Unterscheidung zweifelhaft. Nicht nur gelegentlich vermag die Zuordnung des jeweiligen mitgliedsstaatlichen Religionsverfassungsrechts zu einem der drei Modelle weder die rechtliche noch die tatsächliche Situation adäquat abzubilden. So muss z. B. das (formale) Religionsverfassungsrecht Irlands dem Trennungsmodell zugeordnet werden, obwohl die faktische Dominanz der römisch-katholischen Kirche offensichtlich ist. Der gleiche Befund trifft auf das dem Kooperationsmodell zugeordnete Religionsverfassungsrecht in Italien, Portugal und Spanien zu. In dieselbe Richtung – nur aus einer anderen Perspektive – zielt der Einwand, dass die Begriffe Staatskirche, Trennung und Kooperation im Detail nur schwer voneinander abzugrenzen sind. Und viertens schließlich suggeriert die kategoriale Unterscheidung ein statisches

 Dazu Matthias Triebel, Das europäische Religionsrecht am Beispiel der arbeitsrechtlichen AntiDiskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG, Frankfurt a. M.: Lang 2005, 196.  Vgl. Stefan Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts, Baden-Baden: Nomos 2005, 387 ff.

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Modelldenken, das Modifikationen, Entwicklungen und vermeintliche Grenzüberschreitungen nicht in den Blick bekommen kann. (a) Die Konvergenzthese. Als Alternative zu diesem triadischen Modell ist die sog. Konvergenzthese vorgebracht worden. Grundlage ist hier einerseits die Beobachtung einer graduellen, grundsätzlich vorsichtigen, wie im Falle Schwedens gelegentlich aber auch abrupten Entstaatlichung der Staatskirchen. Andererseits könne eine zunehmende Bereitschaft vermeintlich strikter Trennungssysteme zur Kooperation mit den Religionsgemeinschaften festgestellt werden. Der Grund für beide Feststellungen wird in einer verstärkten Reflexion auf den normativen Gehalt und die normativen Konsequenzen der Religionsfreiheit unter den Bedingungen von Säkularisierung, Pluralisierung und Individualisierung/Singularisierung erblickt. Darauf aufbauend besagt die Konvergenzthese, dass sich aus unterschiedlichen Richtungen eine Entwicklung auf die Mitte des Kooperationsmodells vollziehe, an deren Ende die Überwindung der Modell-Trias stehen werde. Diese Konvergenzthese ist ihrerseits auf Kritik gestoßen.⁵⁹ Zwar könnten die diagnostizierten Veränderungen mit dem gestiegenen Stellenwert der Religionsfreiheit erklärt werden. Der systemprägende institutionelle Rahmen des jeweiligen Religionsverfassungsrechts bleibe aber im Grundsatz davon unberührt. Insgesamt handele es sich um systemimmanente Fortentwicklungen und nicht um systemsprengende Annäherungen. Der Streit zwischen Konvergenz- und Immanenzthese kann jedoch offenbleiben, wenn und soweit das nachfolgend skizzierte umfassende Zwei-Ebenen-Modell akzeptiert werden kann. (b) Das Zwei-Ebenen-Modell. Zur Überwindung der Modell-Trias ist das einheitliche und umfassende Zwei-Ebenen-Modell entwickelt worden.⁶⁰ Danach ist zwischen einer grundrechtlichen Ebene und einer Ebene der spezifischen Ausprägungen der Religionsfreiheit zu unterscheiden. Auf der grundrechtlichen Ebene kann festgestellt werden, dass in allen Mitgliedstaaten die Religionsfreiheit in ihrer individuellen, kollektiven und korporativen Dimension gewährleistet wird und durch Grundrechte Dritter oder sonstige gegenläufige Verfassungsgüter eingeschränkt werden kann.⁶¹ In allen Mitgliedstaaten finden sich einschlägige Normen des Religionsverfassungsrechts, sei es in Gestalt eigener Normierungen wie in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG oder durch Verweis auf Art. 9 EMRK wie in Österreich. Dies gilt – natürlich – auch im Rahmen des Staatskirchen- und des Trennungs-

 Dazu ebd., 391 f.  Grundlegend Triebel 2005, 198 ff.  Überblick bei Martin Morlok, „Art. 4“, Rdnr. 17, in Grundgesetz. Kommentar, hg. von Horst Dreier, Bd. 1, 3. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck 2015.

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modells. Auf dieser grundrechtlichen Ebene hat die insoweit zu modifizierende Konvergenzthese ihren dogmatischen Ort. Auf der Ebene der spezifischen Ausprägungen der Religionsfreiheit zeigen sich Unterschiede im Religionsverfassungsrecht der Mitgliedstaaten. Diese Unterschiede können z. B. in der Reichweite des Schutzbereiches oder in Art und Ausmaß der Grundrechtsbeschränkung liegen. So reicht z. B. der Schutz der Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG in der zutreffenden Auslegung durch das BVerfG erheblich weiter als der Schutz dieses Grundrechts aus Art. 9 EMRK in der zweifelhaften Auslegung durch den EGMR. Auch können Differenzen in der besonderen Rolle und im rechtlichen Status der Religionsgemeinschaften auftreten, die von der Organisation als privatrechtliche Vereine über die Option eines spezifischen Körperschaftsstatus bis zu einer Identifizierung des Staates mit einer bestimmten Religionsgemeinschaft reichen, die verfassungsimmanent das Neutralitätsprinzip einschränken.

5 Thesen zum aktuellen Stand des Religionsverfassungsrechts Auf der Grundlage der historischen und dogmatischen Skizzen sowie der exemplarischen Problemanalyse lassen sich nunmehr vier Thesen formulieren: 1. Für die aktuelle und zukünftige Modellierung des Religionsverfassungsrechts ist davon auszugehen, dass das Phänomen der Religion nicht verschwinden wird. Auch die im Wesentlichen durch die Aufklärungsphilosophie geprägte (Spät‐) Moderne ist keine säkulare Gesellschaft – und da sie es nie war, ist die Rede von der ‚postsäkularen‘ Gesellschaft unscharf. Die Religion hat sich in den säkular begründeten und säkular handelnden Staat einzupassen, sie begegnet säkular legitimierten Grenzen, ihre Träger werden zu zivilgesellschaftlichen Akteuren neben anderen, aber sie verschwindet nicht als prägender Faktor für das Leben vieler Menschen und als eine der tragenden Säulen der Gesellschaft überhaupt. 2. Das Grundgesetz basiert nicht auf einer ‚wechselseitigen Erwartungslosigkeit‘ oder Indifferenz von Staat und Religion/Religionsgemeinschaften. Vielmehr steht das Grundgesetz der Religion – getragen von dem Bewusstsein ihrer individuellen und gesellschaftlichen Bedeutung – positiv gegenüber. Dies belegen das Grundrecht auf Religionsfreiheit und die vielfältigen grundgesetzlich verankerten Kooperationen von Staat und Religion, etwa im Bereich des Religionsunterrichtes (Art. 7 Abs. 3 GG), der Anstaltsseelsorge (Art. 140 GG i.V. m. Art. 141 WRV) etc. Der weltanschaulich-religiös neutrale Staat des Grundgesetzes hat – zutreffend – zur Kenntnis genommen, dass Religion für (viele) seiner Bürgerinnen und Bürger

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individuell, aber auch für Staat und Gesellschaft insgesamt von Bedeutung ist. Die Trennung von Staat und Religion ist daher keine ‚strikte‘ bzw. die Religion (aggressiv) privatisierende, sondern eine ‚freundliche‘ Trennung, die eine diversifizierte Kooperation fordert und fördert. 3. Dieses positive, vom Grundgesetz geformte Kooperationsverhältnis mündet nicht in ein kirchenprivilegierendes Religionsverfassungsrecht. Religion und Religionsgemeinschaften stehen im freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaat nicht über dem (Verfassungs‐)Recht. Das Religionsverfassungsrecht des Grundgesetzes eröffnet der Religionsfreiheit in individueller und kollektiver bzw. korporativer Hinsicht gemeinwohlverträgliche und -fördernde Spielräume, die von Grundrechten Dritter und sonstigen Verfassungswerten begrenzt werden. Das Religionsverfassungsrecht steht nicht nur den christlichen Kirchen, sondern allen Religionen und Religionsgemeinschaften offen. Insgesamt ist damit eine (Re‐) Sakralisierung des Grundgesetzes mit der ausdrücklichen Bevorzugung bestimmter Religionsgemeinschaften, speziell der christlichen Kirchen, ausgeschlossen.⁶² 4. Die angerissenen (und mögliche künftige) Probleme im Verhältnis von Staat und Religion bzw. Religionsgemeinschaften lassen sich auf der Grundlage des freiheitlichen Religionsverfassungsrechts des Grundgesetzes lösen. Das Religionsverfassungsrecht des Grundgesetzes hat sich – auch im internationalen Vergleich – als leistungsfähige, integrationsoffene und stabile Normierung des Verhältnisses von Staat und Religion bzw. Religionsgemeinschaften im freiheitlichdemokratischen Verfassungsstaat erwiesen. Es besteht kein Anlass für grundlegende Modifikationen oder gar eine Ablösung.

 Tendenzen einer (Re‐)Sakralisierung der Verfassung etwa bei Christian Hillgruber, Staat und Religion. Überlegungen zur Säkularität, zur Neutralität und zum religiös-weltanschaulichen Fundament des modernen Staates, Paderborn: Schöningh 2007, insb. 49 ff.; Paul Kirchhof, „Die Freiheit der Religionen und ihr unterschiedlicher Beitrag zu einem freien Gemeinwesen“, in Religionen in Deutschland und das Staatskirchenrecht, hg. von Burkhard Kämper und Hans-Werner Thönnes, Münster/W.: Aschendorff 2005, 105 ff.; Arnd Uhle, Staat – Kirche – Kultur, Berlin: Duncker & Humblot 2004; ders., Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, Tübingen: Mohr Siebeck 2005; Karl-Heinz Ladeur/Ino Augsberg, Toleranz – Religion – Recht. Die Herausforderung des ‚neutralen‘ Staates durch neue Formen der Religiosität in der postmodernen Gesellschaft, Tübingen: Mohr Siebeck 2007; differenziert Udo di Fabio, „Staat und Kirche: Christentum und Rechtskultur als Grundlage des Staatskirchenrechts“, in Die Verfassungsordnung für Religion und Kirche in Anfechtung und Bewährung, hg. von Burkhard Kämper und Heinz-Werner Thönnes, Münster/W.: Aschendorff 2008, 129 – 144. Gegen diese Tendenzen Unruh 2017, 210 ff. m.w. N.

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6 Fazit Das Verhältnis von Kirche und Staat in Deutschland ist geschichtsgesättigt und geschichtsbewusst. Das aktuelle Religionsverfassungsrecht, das im Kern bereits ein Jahrhundert alt ist, schafft Raum für Religion und die Religionsgemeinschaften, zu denen auch die Kirchen gehören. Es liefert die Grundlage nicht nur für den Frieden zwischen den Religionen und Konfessionen, sondern auch für den Frieden zwischen den Kirchen und dem Staat. Die beschriebenen Problemlagen sind allesamt im Kontext des geltenden Religionsverfassungsrechts des Grundgesetzes lösbar. Auch in diesen Konfliktsituationen sollte sich der Staat vor Augen führen, dass er jedenfalls in den Kirchen verlässliche Partner zur menschenwürdebasierten und menschenwürdeorientierten Förderung des Gemeinwohls hat. Ob damit die Kirchen zum Lieferanten der Voraussetzungen werden, von denen der Staat lebt, ohne sie selbst produzieren zu können, ist fraglich. Gleichgültig können sie dem Staat dennoch nicht sein – dies ist keine Frage der nummerischen Größe, und es wird zunehmend auch von den religiös Unmusikalischen unter den Gebildeten (an)erkannt. Die Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften sollten ihrerseits dem Staat stets in dem Bewusstsein gegenübertreten, dass ihnen unter dem Grundgesetz eine nicht selbstverständliche Freiheit zur Entfaltung ihres Glaubens zuteilwird. Insgesamt liefert das Religionsverfassungsrecht des Grundgesetzes eine gesunde Basis für ein auch zukünftig nicht indifferentes und erwartungsleeres, sondern vertrauensvolles, kooperatives und produktives Verhältnis von Staat und Religion.

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Gerhard Czermak

Religions- und Weltanschauungsfreiheit in Deutschland und ihre juristische und gesellschaftliche Gefährdung Anmerkungen zu neuralgischen Bereichen

1 Einführung Als Arbeitsthese und Hauptergebnis dieses Beitrags seien folgende Sätze vorangestellt: Das rein säkulare Grundgesetz (GG) statuiert in der Gesamtheit seiner religionsverfassungsrechtlichen Normen ein freiheitliches, kooperatives Trennungssystem mit umfassendem Neutralitätsgebot. Die gesellschaftlich-politische und die rechtliche Praxis sehen aber ganz anders aus. Die Gesetzgebungsorgane scheinen nicht begriffen zu haben, dass Gesetzgebung auch in ideologisch bedeutsamen Fragen nicht einfach Sache der Mehrheit sein darf, sondern gegenüber jedermann rechtfertigungsfähig sein muss. Das private religiös-weltanschauliche Gewissen der Entscheidungsträger ist zu unterscheiden vom Amtsgewissen der Träger eines öffentlichen Amts, das am Gemeinwohl und am Recht orientiert ist. Die konsequentere Beachtung der Regeln des Gebots religiös-weltanschaulicher Neutralität würde viele Probleme lösen und auch die Integration der zahlreichen unterschiedlichen religiös-weltanschaulichen Gemeinschaften und Gruppierungen fördern. Ziel der nachfolgenden Ausführungen ist es, auch ein nichtjuristisches Publikum mit den Grundlagen des Religions- und Weltanschauungsrechts sowie einigen seiner wichtigen juristischen Diskussionen vertraut zu machen. Das soll die Hinterfragung gängiger Ansichten in Rechtsprechung und Literatur einschließen und auch die Frage nach der künftigen Tragfähigkeit heutiger Regelungen berücksichtigen. Der seit Jahrzehnten stetig wachsenden Zahl von Menschen, die sich keiner Religion zuordnen lassen, sollte man mit dem an sich in ‚Religionsrecht‘ bzw. ‚Religionsfreiheit‘ der Sache nach schon enthaltenen Ausdruck ‚Religions- und Weltanschauungsrecht‘ bzw. ‚Weltanschauungsrecht‘ gerecht werden (Art. 4 I GG).¹ Gemeint sind freilich immer alle Rechtsgenossen bzw.

 Art. 4 I GG lautet: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“ https://doi.org/10.1515/9783110623406-010

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Gemeinschaften, ungeachtet ihrer religiös-weltanschaulichen Ausrichtung. Die Existenz zahlreicher Verstöße der Rechtspraxis gegen das Gebot der Gleichbehandlung von religiöser und nichtreligiöser Grundüberzeugung bzw. das Neutralitätsgebot erfordert es, die nichtreligiösen Weltanschauungen auch verbal besonders zu berücksichtigen.

2 Zur Herkunft des säkularen Staates des Grundgesetzes Entscheidende Vorbedingung für eine konsequentere Trennung von Kirche und Staat und für die Religionsfreiheit war die Reformation, die die Glaubenseinheit in zwei Teile zerbrach. Dieser Bruch wurde 1648 auf drei Teile erweitert, indem die reichsrechtliche Parität der exklusiv christlichen Konfessionsparteien durch die Reformierten ergänzt wurde. Die Aufklärung brachte neue Entwicklungen. Einerseits bestand ein Staatskirchentum, andererseits wurde die Religionsfreiheit schon als individuelles Menschenrecht verstanden. Der Gleichheitsgedanke des modernen Naturrechts, der nicht in der Gleichheit vor Gott, sondern wesentlich in der biologischen Artgleichheit wurzelte, gewann an Bedeutung. Entwickelt wurden die Menschenrechte zwar durch Gelehrte der christlichen Welt. Es waren aber hauptsächlich weltliche Juristen und Philosophen, die ihre fortschrittlichen Ansichten, freilich nur mit Einschränkungen, offen äußern durften. Die ‚Atheisten‘ blieben Staatsfeinde. Im 19. Jh. entfaltete sich sehr langsam die Glaubensfreiheit. Die leider nicht in Kraft getretene Paulskirchenverfassung enthielt einen äußerst fortschrittlichen § 147, der bereits die Regelung der Weimarer Reichsverfassung (WRV) vorwegnahm (keine Staatskirche, Selbstverwaltungsrecht, Gleichbehandlung aller Religionsgesellschaften). Trotz der nach 1848 teilweise weiterbestehenden Verklammerung von Staat und Religion schritt die Trennung beider Sphären fort. Der Summepiskopat der Landesherren war eher Fassade, „bis sich dann im Jahre 1919 die äußere Trennung gleichsam als reife Frucht eines Jahrhunderts vom Baume der Geschichte löst[e]“².

 Martin Heckel, „Zur Entwicklung des deutschen Staatskirchenrechts von der Reformation bis zur Schwelle der Weimarer Verfassung“, Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, Bd. 12, 1966/67, 1– 39, 31.

Religions- und Weltanschauungsfreiheit in Deutschland

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Die Menschenrechte einschließlich der Religionsfreiheit im heutigen Verständnis waren nicht spezifisch christlich.³ Otfried Höffe etwa beschreibt das Kapitel ‚Christentum und Menschenrechte‘ eingehend als ein ‚Drama in fünf Akten‘. Das Christentum habe zunächst wesentlich selbst jene Schwierigkeiten geschaffen, für deren Lösung man die Menschenrechte brauchte.⁴ Das sozial unverträgliche Prinzip ‚Wahrheit vor Freiheit‘ galt im katholischen Bereich in abgeschwächter Form sogar bis zum 2. Vatikanum mit seiner revolutionären Erklärung über die Religionsfreiheit (1965).⁵ Säkularität und zumindest grundsätzliche Trennung von Staat und Religion sind Kennzeichen des modernen Staates, der sich als Resultat jahrhundertelanger blutiger Auseinandersetzungen nicht mehr religiös, insbesondere als christlicher Staat, definierte. Das ist eine wesentliche Folge der allmählichen Verweltlichung (Säkularisierung) aller Lebensbereiche im Zusammenhang mit der im 17. Jh. beginnenden Aufklärung. Der säkulare Staat hat ausschließlich innerweltliche Zielsetzungen. Er kümmert sich nicht mehr um das geistliche Wohl und Seelenheil seiner Bürger. Er hat, wenn er konsequent ist, den Glaubensstaat überwunden, ist zum Staat der Glaubensfreiheit geworden und hat keine religiöse Kompetenz mehr.⁶

 Auch z. B. Hans Maier, Wie universal sind die Menschenrechte? Freiburg i. Br.: Herder 1997, 82 ff., hat zugestanden, dass kein direkter Weg von der christlichen Lehre zu den modernen Menschenrechtserklärungen führt.  Otfried Höffe, Vernunft und Recht. Bausteine zu einem interkulturellen Rechtsdiskurs, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, 83 – 105; vgl. auch Hasso Hofmann, „Zur Herkunft der Menschenrechtserklärung“, Juristische Schulung, Bd. 28, 1988, 841– 848.  Hierzu statt aller Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Die Bedeutung der Konzilserklärung über die Religionsfreiheit. Überlegungen 20 Jahre danach“, Stimmen der Zeit, Bd. 204, 1986, 303 – 312, 303. Für die im Kern bis dahin geltenden offiziellen Überzeugungen des 19. Jahrhunderts siehe Josef Isensee, „Keine Freiheit für den Irrtum. Die Kritik der katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts an den Menschenrechten als staatsphilosophisches Paradigma“, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung, Bd. 73, 1987, 296 – 336.  Vgl. dazu neuestens Horst Dreier, Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne, München: C.H. Beck 2018.

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3 Das religionsrechtliche System des deutschen Grundgesetzes⁷ (1.) Den im Verfassungstext etwas verstreuten Normenkomplex des Religionsverfassungsrechts kann man grob zusammenfassen durch die Trias ‚Freiheit, Gleichheit, Trennung‘ und den Sammelbegriff ‚Religions- und Weltanschauungsfreiheit‘. Die Gesamtregelung gründet wesentlich in der Weimarer Reichsverfassung (WRV) vom 11. August 1919. Nahezu alle ihre religionsrechtlichen Vorschriften (‚Weimarer Kirchenartikel‘) wurden über Art. 140 in das Bonner Grundgesetz inkorporiert, d. h. im vollen Wortlaut und im gleichen Geltungsrang wie die übrigen Bestimmungen als Verfassungsbestandteil übernommen. Dennoch hat das Weimarer System, das man zu Recht als das einer ‚hinkenden Trennung‘ von Staat und Religion bezeichnet hat, im GG eine wesentliche inhaltliche Änderung erfahren. Es ist nämlich in einen anderen Gesamtzusammenhang eingebettet und dadurch wesentlich aufgewertet. Die Aufwertung besteht darin, dass die Grundrechte des GG nach Art. 1 III GG alle Staatsgewalt als unmittelbar geltendes Recht binden, und noch weiter gefasst ist Art. 20 III GG, wonach Gesetzgebung, Exekutive und Judikative „an Gesetz und Recht gebunden“ sind. Das betrifft natürlich auch Art. 4 GG, die Grundnorm der individuellen Religionsfreiheit. Im Weimarer System konnte demgegenüber der Gesetzgeber Grundrechte im Einzelfall durch gesetzliche Regelungen viel leichter einschränken oder gar aushöhlen. Unter dem Regime des GG ist jedes innerstaatliche Recht des Bundes und der Länder ausnahmslos am GG als oberster Instanz zu messen (Art. 31 GG: „Bundesrecht bricht Landesrecht“). Diese rechtliche Grundtatsache wird freilich zu Gunsten des rechtspolitischen Prinzips in dubio pro ecclesia noch heute gern übergangen. Aber jede Einschränkung von Grundrechten ist – bei individueller Betroffenheit und Einhaltung der prozessrechtlichen Vorschriften – justiziabel und kann grundsätzlich von jedem Grundrechtsträger nach Ausschöpfung des Rechtswegs vor das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gebracht werden. (2.) Das Religionsverfassungsrecht der Bundesrepublik besteht aus einem grundrechtlichen (individualrechtlichen), im Wesentlichen in Art. 4 GG garantierten Teil und einem organisationsrechtlichen Abschnitt, der – neben einzelnen grundrechtlichen Aspekten – in Art. 140 GG i.V. m. den Weimarer Kirchenartikeln

 Vgl. Gerhard Czermak/Eric Hilgendorf, Religions- und Weltanschauungsrecht. Eine Einführung, 2. Aufl., Berlin/Heidelberg: Springer 2018; Gerhard Czermak, Weltanschauung in Grundgesetz und Verfassungswirklichkeit, Aschaffenburg: Alibri 2016.

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inkorporiert ist. Die Grundnorm, Art. 4 I, II GG, lautet: „I. Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. II. Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“ Art. 4 I, II und Art. 140 GG (insb. mit den inkorporierten Art. 136, 137, 138 WRV) sind die beiden Grundpfeiler des religionsverfassungsrechtlichen Systems, die immer zusammen zu lesen sind. Sie werden durch einige andere GG-Artikel mit weltanschaulichem Einschlag ergänzt; vgl. insb. die Art. 3 III, 7 II und III, 33 III (spezielle Gleichheitsrechte, Religionsunterricht). Man unterscheidet zwischen individueller und korporativer (kollektiver) Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Das Grundrecht aus Art. 4 I, II GG wird allgemein auch den ‚Religionsgesellschaften‘ (Art. 137 II – VII WRV) bzw. ‚Religionsgemeinschaften‘ (Art. 7 III GG) zugestanden. Die Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit einschließlich der Religionsausübungsfreiheit (Art. 4 I, II GG) wird in Anlehnung an das BVerfG in der Rechtspraxis (trotz starker substanzieller Kritik) als einheitliches Grundrecht verstanden. Seine besondere Bedeutung wird unterstrichen durch den Begriff ‚unverletzlich‘ und das Fehlen einer ausdrücklich vorgesehenen Grundrechtsschranke bei Art. 4 I, II. Leider ist die Terminologie immer noch verworren. (3.) Einigkeit besteht in der Bundesrepublik seit Langem darüber, dass die Gewissensfreiheit wegen ihrer andersartigen Funktion ein ganz eigenständiges Grundrecht darstellt. Es befreit bei gravierenden, vom Staat aufgezwungenen Gewissenskonflikten unabhängig von Religion und Weltanschauung im Einzelfall von staatlichem Rechtszwang. Sinn ist der Schutz der psychischen Integrität bzw. moralisch-personalen Identität auch bei höchstpersönlichen Wertvorstellungen. Auch bei Sonderüberzeugungen sollen die Bürger von Gewissensnot befreit werden, wenn nicht andere Verfassungsgüter noch schwerer zu gewichten sind. Die Hauptbedeutung der Gewissensfreiheit besteht in der Veranlassung des jeweiligen Gesetzgebers, gewissensneutrale Alternativen zur Verfügung zu stellen (z. B. kein Eideszwang). Mit der Religions- und Weltanschauungsfreiheit hat die Gewissensfreiheit nur indirekt zu tun, weshalb sie im Folgenden außer Acht gelassen wird. (4.) Das säkulare grundgesetzliche System des Religions- und Weltanschauungsrechts kann man wie folgt zusammenfassen: Die einschlägigen Normen des GG einschließlich Weimarer Reichsverfassung ergeben insgesamt eine umfassende individuelle und korporative Freiheit für Religion und Weltanschauung auf der Basis uneingeschränkter Gleichstellung bzw. Neutralität im Sinn der Unparteilichkeit. Staat und Religion sind institutionell-organisatorisch bis auf seltene ausdrückliche Ausnahmen getrennt. In einem Satz: Das religionsrechtliche Nor-

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mensystem des GG ist „ein kooperatives Trennungssystem mit umfassendem Neutralitätsgebot“⁸. Dieses theoretische Strukturbild steht weitgehend im Einklang mit der umfangreichen Spezialliteratur und ist anhand des Verfassungstextes gut nachzuvollziehen. Bei den einzelnen Sachmaterien wie Schulrecht, kirchliches Arbeitsrecht, Steuerrecht usw. ergeben sich aber oft – trotz zumindest verbaler Übereinstimmung in den grundsätzlichen Rechtsfragen – erhebliche Meinungsunterschiede. Ein besonderes Merkmal des Religionsrechts ist das häufig weite Auseinanderklaffen von Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit. Auf die wichtigsten Problembereiche sei im Folgenden in der gebotenen Knappheit eingegangen.

4 Neuralgische Punkte des Religionsverfassungsrechts Auf die Problematik der hauptsächlichen Diskussionspunkte in der klerikalen⁹ Adenauer-Ära soll hier nicht näher eingegangen werden.¹⁰ Zwar war ohne jeden Anhaltspunkt im Verfassungstext in Theorie und Rechtsprechung die katholische Koordinationslehre zunächst erstarkt, wonach Kirche und Staat als gleichberechtigte Mächte nebeneinanderstehen (!). Mit den Kirchensteuerurteilen des BVerfG von 1965, insbesondere der Entscheidung zur Badischen Kirchenbausteuer (s. unten zur Neutralität), und der Staatsrechtslehrertagung von 1967,¹¹ brach sie aber schlagartig und restlos zusammen. Die Phase der staatskirchenrechtlichen Euphorie war beendet. In jedem Konfliktfall hat der Staat das juristische Letztentscheidungsrecht auch gegenüber den großen Kirchen.¹²

 Czermak/Hilgendorf 2018, 35 (ohne Herv.).  Unter Klerikalismus wird hier das Erheben gesellschafts- und machtpolitischer Ansprüche der Kirche(n) verstanden mit dem Ziel, unangemessene Dominanz über konkurrierende Richtungen zu erringen oder zu behalten.  Vgl. zur Gesellschaftskritik Thomas Ellwein, Klerikalismus in der deutschen Politik, München: Isar 1955. Intensive rechtliche Kritik bei Helmut Simon, Katholisierung des Rechtes? Zum Einfluß katholischen Rechtsdenkens auf die gegenwärtige Gesetzgebung und Rechtsprechung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1962; zur Nachkriegsgeschichte des Religionsrechts in der Bundesrepublik Czermak/Hilgendorf 2018, 47– 57.  Die religionsverfassungsrechtlichen Referate von Martin Heckel und Alexander Hollerbach standen unter dem Motto: „Die Kirchen unter dem Grundgesetz.“  Vgl. Stefan Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, Berlin: Duncker & Humblot 1997.

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Das Religionsrecht des GG konnte sich jetzt freiheitlicher entwickeln. Trotz dieser religionsrechtlichen Wende war das Religionsrecht noch jahrzehntelang geprägt durch eine allzu kirchenfreundlich-einseitige Literatur und Rechtsprechung. In einem materialreichen Überblick über diese Periode auf dem Stand von 1983 unter dem Titel Gelöste und ungelöste Probleme des Staatskirchenrechts erklärte Hermann Weber: Die juristische Wende „hat nichts daran geändert, dass die Rechtsprechung – nach einigen gegenläufigen Tendenzen […] an ihrer kirchenfreundlichen, kirchliches Selbstbestimmungsrecht und Religionsfreiheit eher überbetonenden Tendenz festgehalten hat“¹³. Das ist noch untertrieben. Bernd Jeand’Heur und Stefan Korioth haben 2000 in ihrem Lehrbuch zutreffend festgestellt: „Das Hauptproblem im Staatskirchenrecht ist, dass in diesem Rechtsgebiet häufig vom (erwünschten) Ergebnis und den jeweiligen staats- und kirchentheoretischen Prämissen her diskutiert wird; die juristische Methode droht in den Hintergrund geschoben zu werden.“¹⁴ Erst neuerdings haben sich die jahrzehntelangen Einseitigkeiten reduziert. Aber auch das BVerfG tut sich nach wie vor schwer mit der Unparteilichkeit der Rechtsprechung in religiös-weltanschaulicher Hinsicht, was an dieser Stelle nicht näher auszuführen ist. Die Zahl der aktuellen neuralgischen Punkte des Religionsrechts ist auch nach 70 Jahren Grundgesetz immer noch beachtlich, und neue sind dazugekommen. Auf die wichtigsten wird im Folgenden knapp eingegangen.

4.1 Dogmatik des Art. 4 I, II GG Nach wie vor sind grundlegende theoretische Fragen dieser Hauptnorm der individuellen Religionsfreiheit umstritten. Das betrifft bereits die Terminologie und die Frage, ob Art. 4 I, II GG ein Einheitsgrundrecht darstellt, wie die Mehrheitsmeinung im Anschluss an das BVerfG meint, oder ob – dem Text des GG folgend – Glaubensfreiheit (im engeren Sinn als Freiheit von einseitiger staatlicher Beeinflussung verstanden), Bekenntnisfreiheit und Religionsausübungsfreiheit als eigenständige Grundrechte anzusehen sind. Das ist von Bedeutung für eine Differenzierung in der Schrankenfrage. Die Gewissensfreiheit ist anerkanntermaßen ein vollständig eigenes Grundrecht. Immer noch umstritten ist manchmal die thematische Reichweite des Art. 4 I, II GG, des sogenannten Schutzbereichs. Dieser entscheidet darüber, ob Art. 4 überhaupt einschlägig ist oder ob stattdes Hermann Weber, „Gelöste und ungelöste Probleme des Staatskirchenrechts“, Neue Juristische Wochenschrift, 36. Jg., 1983, 2541– 2554, 2541 f.  Bernd Jeand’Heur/Stefan Korioth, Grundzüge des Staatskirchenrechts, Stuttgart: Boorberg 2000, 67 (Herv. i.O.).

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sen die leichter beschränkbare Allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 I GG maßgeblich ist. Weitgehend bevorzugt wird zu Recht die Annahme eines weiten Schutzbereichs, was allerdings bei der Prüfung der jeweiligen Grundrechtsschranken zu berücksichtigen ist.¹⁵ Ein auch rechtspraktisch wichtiges Thema ist die Reichweite des Religionsausübungsrechts (Art. 4 II GG). Das BVerfG hat den traditionellen Schutz des Kultus und der religiösen Gebräuche ohne Veranlassung durch den GG-Text und die Entstehungsgeschichte exzessiv ausgeweitet und auf jegliches religiös motivierte Verhalten erstreckt.¹⁶ Diese in der Literatur zunehmend kritisierte Ansicht (Verwischung von Art. 4 und Art. 2 GG) hat große Probleme und bedeutsame Auswirkungen mit sich gebracht. Das Gericht hat sogar rechtlich selbstständige karitative Einrichtungen als Grundrechtsträger akzeptiert, wenn sie nur hinreichend an die Kirche angebunden sind. Einen weiteren Streitpunkt mit zwei etwa gleich starken Lagern bildet die Frage der Schranken des Grundrechts aus Art. 4 I, II GG, da Art. 4 keinen ausdrücklichen Schrankenvorbehalt kennt. Es geht zum einen um die auch vom BVerfG vertretene These, dass das ‚vorbehaltlose‘ Grundrecht nur durch verfassungsunmittelbare Rechtsgüter eingeschränkt werden darf, und zum anderen um die m. E. realistischere und klarere Ansicht, dass Art. 136 I WRV/140 GG als vollgültiges Verfassungsrecht einen allgemeinen Schrankenvorbehalt bereitstellt.

4.2 Selbstverwaltungsrecht Für die Rechtspraxis noch wichtiger ist die Problematik des allen Religionsgemeinschaften garantierten ‚Selbstbestimmungsrechts‘. Art. 137 III 1 WRV/ 140 GG lautet: „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.“ Die übliche Rede vom Selbstbestimmungsrecht verfälscht daher die Verfassung, die nur von Selbstverwaltung spricht, und signalisiert so vage einen Vorrang kirchlicher Rechte und Interessen.¹⁷ Die herrschende Meinung hat die kirchlichen Befugnisse erheblich ausgeweitet und sogar auf Einrichtungen von Caritas und Diakonie erstreckt, obwohl diese selbst keine Religionsgemeinschaften sind. Das führte zur

 Gegenüber den vor allem zwischen 1975 und 2000 z.T. massiv bekämpften kleinen Religionsgemeinschaften (‚Sekten‘) hat man vielfach schon den Schutzbereich verneint und damit jeden Rechtsschutz aus Art. 4 von vornherein ausgeschlossen.  BVerfGE 24, 236 (Lumpensammler).  Zur Gesamtproblematik des Selbstverwaltungsrechts vgl. Czermak/Hilgendorf 2018, 107– 113; Bernhard Schlink, „Die Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften“, JuristenZeitung, 2013, 209 – 219; Claus Dieter Classen, Religionsrecht, 2. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck 2015.

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Ausbildung einer Sonderstellung kirchlichen Arbeitsrechts im Rahmen des staatlichen Arbeitsrechts.¹⁸ Mittlerweile wurde aber innerkirchlich ein gewisser Umbruch eingeleitet und der EuGH hat mit Urteil vom 12. September 2018 eine erhebliche Entschärfung des kirchlichen Arbeitsrechts herbeigeführt.¹⁹

4.3 Körperschaftsstatus Der Körperschaftsstatus der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften (RG bzw. WG) ist eine Besonderheit des Religionsrechts der Bundesrepublik. Dieser Status hat nach unbestrittener Meinung nichts mit dem üblichen staatsunterworfenen Status von Gebietskörperschaften oder öffentlich-rechtlichen berufsständischen Kammern (z. B. Rechtsanwaltskammern) zu tun. Die RG und WG haben ein eigenständiges Selbstverwaltungsrecht ohne Staatsaufsicht. Das hat erhebliche praktische Bedeutung, denn der Status nach Art. 137 V WRV/140 GG ist traditionell mit einer größeren Zahl von Privilegien verbunden. Der Verfassungstext gibt für den Inhalt dieses Status kaum Aufschluss. Die Verfassung besagt nämlich nur, dass alle Religionsgesellschaften, die 1919 schon den Körperschaftsstatus hatten, diesen behalten, während alle anderen, auch Weltanschauungsgemeinschaften (so Art. 137 VII WRV), den Status bei Einhaltung (unklarer) formaler Kriterien ebenfalls erhalten können. Auf die Fülle der mit Art. 137 V WRV verbundenen Rechtsfragen (Statusanerkennung, öffentlich-rechtliches Organisationsrecht, Ausübung von Hoheitsgewalt, Widmung von Sakralgegenständen, Parochialrecht u. a.) kann hier nicht im Einzelnen eingegangen werden. Stattdessen sei auf die tiefschürfende, aber gut nachvollziehbare Fundamentalkritik von Achim Janssen hingewiesen.²⁰ Wesentliche Punkte seien hier zusammengefasst: Schon immer war bekannt, dass der Körperschaftsbegriff des Art. 137 V WRV bei Inkrafttreten der WRV völlig unklar war. Daher hat man auch seine Ausgestaltung ausschließlich den Ländern überlassen (Art. 137 VIII WRV). Man brauchte den öffentlich-rechtlichen Begriff

 Unverständlicherweise hat das BVerfG seine äußerst kirchenfreundliche Entscheidung von 1985 mit Urteil vom 22.10. 2014, BVerfGE 137, 273 (Chefarztfall) noch bestätigt.  EuGH, Urteil vom 12.09. 2018, Abruf unter: http://curia.europa.eu/juris/document/document. jsf?text=&docid=205521&pageIndex=0&doclang=de&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid= 343865 (Diskriminierung durch kirchliches Arbeitsrecht) (Abruf: 28.09. 2018).  Vgl. z. B. Czermak/Hilgendorf 2018, 114– 123 und Classen 2015, 146 – 164. Monografisch-kritisch: Achim Janssen, Aspekte des Status von Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts. Ausgewählte Fragen des Körperschaftsstatus in der Rechtspraxis, 2. Aufl., Berlin: Duncker & Humblot 2017, 148 – 268.

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nur dazu, um die Kirchensteuer nach dem Umbruch (Übergang vom gemäßigten Glaubensstaat zum Staat der Glaubensfreiheit) auch für die Protestanten zu gewährleisten und um die Bedeutung der Kirchen positiv hervorzuheben. Eine zivilrechtliche Regelung wäre damals als Herabdrückung auf den Status etwa von Sportvereinen empfunden worden. Janssen hat im Einzelnen anhand der umfangreichen Erörterungen in der Nationalversammlung nachgewiesen, dass es sich nur um eine Notlösung handelte, die auf jegliche inhaltliche Festlegung verzichtete. Eine Verfassungsbestimmung, die einzelne Körperschaftsrechte festschrieb, wurde ausdrücklich abgelehnt. Auch diejenigen Länder, die einschlägige Gesetze erließen, kannten keinen Normalbestand von Privilegien. Die Herausarbeitung von verfassungskräftig garantierten Körperschaftsprivilegien war eine Erfindung der Nachkriegszeit, die weder im Verfassungstext noch in der Entstehungsgeschichte und der Staatspraxis einen Anhaltspunkt hatte. Die früher gängige Behauptung, der Körperschaftsstatus sei Ausdruck einer gemäßigten Zusammenarbeit zwischen Staat und Kirche, trifft auch nach eindeutiger Ansicht des BVerfG²¹ nicht zu. Denn wegen der prinzipiellen Trennung von Staat und Religion (Art. 137 I WRV) bedarf jede institutionelle Zusammenarbeit einer besonderen verfassungsrechtlichen Legitimation, wie sie ausnahmsweise in Art. 7 III GG (Religionsunterricht) und 137 VI WRV (Steuererhebung) vorliegt. Das sog. Privilegienbündel ist eine Sammelbezeichnung für die Vielzahl aller Rechte, die zahlreiche Bundes- und Landesgesetze speziell den öffentlichrechtlichen Religionsgemeinschaften (oft aber nicht den Weltanschauungsgemeinschaften) zuerkennen, nicht aber den privatrechtlichen Gemeinschaften. Beispiele dafür sind Sonderregelungen aus folgenden Bereichen: Kirchensteuererhebung, vielfältige Steuervergünstigungen, Arbeitsrecht (Freistellung von Betriebsverfassungs- und Tarifrecht), Beamtenrecht, Bestattungs- und Friedhofsrecht, Datenschutzrecht, Denkmalschutzrecht, Jugendhilferecht (Träger der Jugendhilfe), Konkursrecht, Kosten- und Gebührenrecht, Melderecht, Rundfunkrecht, Strafrecht, Schutz vor Zwangsvollstreckung. Neben diesen unvollständigen Hinweisen darf die Mitwirkung religiöser Körperschaften in zahlreichen öffentlichen Gremien wie in Rundfunkräten, in der Bundesprüfstelle zum Jugendmedienschutz u. a. nicht vergessen werden. Dabei erhebt sich die von der herrschenden Meinung kaum je gestellte Frage nach der Rechtfertigung solcher Bevorzugungen von Religionsgemeinschaften mit Körperschaftsstatus gegenüber Religionsgemeinschaften des Privatrechts.

 BVerfGE 102, 370 = NJW 2001, 429, Urteil vom 19.12. 2000 (Zeugen-Jehovas-Urteil; grundsätzlich zum Körperschaftsstatus; Aufhebung von BVerwGE 105,117 = NJW 1997, 2396).

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Art. 137 V WRV trifft ja, wie erwähnt, keine Festlegung darüber, ob bzw. welche Vorrechte an den Körperschaftsstatus gebunden sind. In der gesamten Weimarer Zeit und auch nach 1949 blieb das unklar. Folglich müssen solche Unterscheidungen aus der Körperschaftsgarantie ableitbar und nach dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) gerechtfertigt sein. Dieser bedeutet nicht nur ein Verbot willkürlicher Differenzierungen, d. h. solcher, für die sich ein irgendwie sachlich einleuchtender Grund nicht finden lässt. Nach der neueren Rechtsprechung des BVerfG ist Art. 3 I GG verletzt, wenn Gruppen, zwischen denen keine ausreichenden und genügend gewichtigen Unterschiede bestehen, rechtlich verschieden behandelt werden (Unverhältnismäßigkeit). Eine Bevorzugung von korporierten Religionsgemeinschaften gegenüber privaten ist daher nur gerechtfertigt, wenn sie aus dem Körperschaftsstatus folgen oder die Dauerhaftigkeit des Bestandes der Religionsgemeinschaften fördern (das ist eine Voraussetzung der Anerkennung), denn andere verfassungsunmittelbare Gründe sind nicht erkennbar. Daher liegt etwa kein Grund vor, privaten Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsgemeinschaften pauschal Mitwirkungs- und Anhörungsrechte, etwa in Rundfunkräten und bei der Aufstellung von Bauleitplänen, zu versagen. Denn die soziale Bedeutung und Größe einer privaten Religionsgemeinschaft kann größer sein als die einer korporierten Religionsgemeinschaft. Entsprechendes gilt für die Eignung, Träger der Jugendwohlfahrt zu sein. Warum vielfach nur öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaften von Gerichts- und Verwaltungsgebühren befreit sind, lässt sich nicht begründen. Eine – bisher noch nicht erfolgte – Einzelfallprüfung dürfte ergeben, dass ein großer Teil der Vergünstigungen des sog. Privilegienbündels den Anforderungen der konkreten Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen des Gleichheitssatzes (Art. 3 I GG) nicht standhalten würde.²² Man kann auch nicht argumentieren, die Anerkennung gemäß Art. 137 V WRV stehe jeder Religionsgemeinschaft frei. Religionsgemeinschaften können ja auch vom Glauben her Gründe haben, den Körperschaftsstatus abzulehnen. Auch könnte die Problematik des (von der bisherigen Rechtsprechung weitgehend verweigerten) Rechtsschutzes gegen kircheninternes öffentliches Recht wie das Pfarrerdienstrecht gegen den Körperschaftsstatus sprechen. Die Bedeutung des Körperschaftsstatus ist bei Licht besehen rechtlich gering. Denn zumindest große Teile des Privilegienbündels dürften gleichheitsrechtlich  Meist im Ergebnis anderer Auffassung, aber unplausibel bzw. nur behauptend: Jost-Benjamin Schrooten, Gleichheitssatz und Religionsgemeinschaften. Die gleichheitsrechtliche Behandlung von Religionsgemeinschaften nach den Bestimmungen des Grundgesetzes, der EMRK und der EUGrundrechte-Charta unter besonderer Berücksichtigung ihrer Organisationsformen, Tübingen: Mohr Siebeck 2015; dazu kritisch meine Rezension in Kritische Justiz, 2016, 265 ff.

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unhaltbar sein. Ein berechtigtes Motiv, einen Anerkennungsantrag zu stellen, ist bei vielen Gemeinschaften eigentlich nicht ersichtlich: Es ergibt heute keinen Sinn zu behaupten, öffentliches Recht sei höherwertig als Privatrecht. Die etwaige tatsächliche Ansehenssteigerung durch einen ‚öffentlichen‘ Status ist rechtlich unbegründet und beruht nur auf fehlender gesellschaftlicher Aufklärung. Die Rechtsfähigkeit (Art. 137 IV WRV) und auch das zentrale Selbstverwaltungsrecht (137 III WRV) hängen nicht von Art. 137 V WRV ab. An der Erhebung von ‚Kirchensteuern‘ mit Garantie staatlicher Vollstreckung sind viele Gemeinschaften ohnehin nicht interessiert, und auch in den Kirchen wird die staatliche Kirchensteuer teilweise stark kritisiert. Die Religionsfreiheit erfordert nach unbestrittener Rechtsmeinung ohnehin keinen Körperschaftsstatus. Bedenkt man all dies, so spricht viel dafür, die Abschaffung des speziell deutschen Körperschaftsstatus ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Zahllose Rechtsprobleme²³ und Ungerechtigkeiten würden entfallen. Eine möglichst bundesgesetzliche entschlacktere Regelung wäre wünschenswert. Jüngst hat zwar Stefan Muckel in einer grundsätzlich angelegten Arbeit versucht, den Körperschaftsstatus des Art. 137 V WRV/140 GG neu zu legitimieren, ja ihm sogar Modellcharakter für die künftige Entwicklung zuzuerkennen.²⁴ Aber auch er muss einräumen, dass noch viele Fragen offen sind. Zu inhaltlichen Fragen des Status nimmt er leider kaum Stellung. Die Behauptung einer integrativen Funktion wird mit psychologischen Argumenten gestützt und die Funktion der Wertschätzung von Körperschaften hervorgehoben, obwohl Wertschätzung nicht zu den Anerkennungskriterien zählt. Die eigentlichen Körperschaftsrechte wie Dienstherrenfähigkeit (Beamtenrecht) und Widmungsbefugnis sind auch nach Muckel überprüfungsbedürftig und keineswegs ohne Weiteres verfassungsfest. Auch er hält insbesondere eine Überprüfung des Privilegienbündels für notwendig, enthält sich aber einer konkreten Erörterung der dabei bestehenden zahlreichen Neutralitätsfragen, die auch er zum Zentrum des Religionsverfassungsrechts zählt. Alles in allem stellt Muckel den Körperschaftsstatus dadurch eher in Frage, als dass er ihn stützt.

 Zu diesen statt aller Janssen 2017. Das Friedhofsrecht müsste z. B. völlig bereinigt werden.  Stefan Muckel, „Körperschaftsstatus im 21. Jahrhundert – Anachronismus oder Zukunftsmodell?“, Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, Bd. 63, 2018, 30 – 56.

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4.4 Privilegierung von Religionsgemeinschaften Durch zahlreiche Bundes- und Landesgesetze, aber auch öffentliche Verwaltungen werden Religionsgemeinschaften, meist die großen Kirchen, bevorzugt. Nichtreligiöse Gemeinschaften und Bürger werden dagegen gern ignoriert. Allgemein kann man sagen, dass der Staat zumindest mit Einschränkungen auch Religion und Weltanschauung fördern darf. Das betrifft z. B. Musik, Kunst, Kultur, Bildung, Sport. Dass der Staat auf Förderung auch verzichten kann, ist aber ebenfalls anerkannt. Wenn er fördert, muss er dabei den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) beachten. Das wird meist verbal anerkannt, aber in praxi missachtet. (1.) Es werden sogar rein innerkirchliche Anliegen gefördert. Dazu gehören die in sehr großem Umfang geförderten, aber regelmäßig überdimensionierten Kirchentage. Für die Lutherdekade von 2008 – 2017 hat es nach qualifizierten Schätzungen öffentliche Zuschüsse in der Größenordnung von 250 Mio. Euro gegeben.²⁵ Der Staat besoldet mit Steuergeldern auch Andersgläubiger und Konfessionsfreier einseitig Bischöfe, Domherren und andere Geistliche. Selbst vor der Mitfinanzierung der Auslandsmission scheut er nicht zurück.²⁶ Er zieht die internen Mitgliedsbeiträge der Kirchen trotz grundsätzlich verfügter institutioneller Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften als Kirchensteuer mit Mitteln der staatlichen Finanzverwaltung ein. Für die Zulässigkeit dieser (von der großen Mehrheit der Bevölkerung abgelehnten) Verwaltungsmethode gibt der Verfassungstext (Art. 137 VI WRV/140 GG) aber keinen Anhaltspunkt. Die Verquickung des staatlich-kirchlichen Zusammenwirkens im Kirchensteuerwesen ist groß. Der angeblich neutrale Staat unterhält zahlreiche christliche Theologische Fakultäten ²⁷ als Ausbildungsstätten nicht nur für Religionslehrer, sondern auch für Priester. Er finanziert sie mit Steuergeldern aller Bürger und stattet sie so üppig aus, dass der Bayerische Oberste Rechnungshof dies in den Jahren 1998 und 2000 wegen der zahlreichen katholischen Fakultäten und Lehrstühle in Bayern und der weiter abnehmenden minimalen Studierendenzahlen – teilweise erfolgreich – beanstandete. Auch der Rechnungshof von Baden-Württemberg sparte nicht mit Kritik. Die Theologischen Fakultäten sind durch das Grundgesetz nach Zahl und Umfang nicht garantiert und verstoßen gegen zentrale Verfassungsgebote. Die jüdische Religion ist im staatlichen und staatlich geförderten privaten Bereich  https://fowid.de/meldung/kosten-lutherdekade-2008-2017 (Abruf: 30.09. 2018).  Carsten Frerk, Violettbuch Kirchenfinanzen. Wie der Staat die Kirchen finanziert, Aschaffenburg: Alibri 2010, 178 ff.  Vgl. Czermak/Hilgendorf 2018, 235 – 247.

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angemessen vertreten, und der Islam wird im Schul- und Hochschulbereich trotz einer orthodoxen Dominanz und erheblicher Rechtsprobleme massiv gefördert und nahezu hofiert. Zum säkularen Humanismus hingegen gibt es keine einzige Professur. Für die Aleviten dagegen schon. (2.) Das Kapitel Religion und Schule ²⁸ bietet seit eh und je Anlass zu Streit. Der Staat richtet wegen Art. 7 II, III GG zulässigerweise Religionsunterricht ein, sorgt aber insbesondere in den westlichen Bundesländern auch dafür, dass die stetig zunehmenden Abmeldungen durch Einrichtung eines andersartigen Ersatzunterrichts oder Alternativunterrichts möglichst erschwert werden. Das ist vor allem für nichtreligiöse Schüler von Bedeutung. Dabei garantieren die Art. 7 II und 4 I GG die freie, d. h. unsanktionierte Entscheidung über die Teilnahme am Religionsunterricht.²⁹ Ein umfangreiches Kapitel ist die entgegen der einschlägigen Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 1975³⁰ offizielle dezidiert-christliche Schulpolitik ³¹ insbesondere in Bayern; und eine einseitige Bevorzugung der christlichen Religionsgemeinschaften auch in einigen anderen Bundesländern. In Nordrhein-Westfalen und teilweise auch in Niedersachsen sorgen gebietsweise Konfessionsschul-Monopole für viel Ärger.³² (3.) Auch in sonstigen öffentlichen Institutionen und bei Amtsakten privilegiert der Staat insbesondere den christlichen Glauben. Mit dem Kreuzsymbol werden nicht nur Schulen und Krankenzimmer und somit Bereiche gesellschaftlich-öffentlicher Bedeutung, sondern in größeren Teilen Westdeutschlands sogar Gerichtssäle und Ratssäle, d. h. Orte der ausschließlich säkularen öffentlichen Gewalt, ausgestattet.³³ Der unerquickliche Kosmos des Arbeitsrechts im kirchlichen Bereich, der durch mehrere Fehlentscheidungen des BVerfG ermöglicht wurde³⁴,

 Vgl. ebd., 153 – 190; Gerhard Czermak, „Öffentliche Schule, Religion und Weltanschauung in Geschichte und Gegenwart der Bundesrepublik Deutschland“, in Kirche und Religion im sozialen Rechtsstaat, hg. von Stefan Muckel, Berlin: Duncker & Humblot 2003, 79 – 109; Ludwig Renck, „Verfassungsprobleme der christlichen Gemeinschaftsschulen“, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht, Bd. 11, 1991, 116 – 120; ders., „Schule und religiöse Erziehungshilfe“, Bayerische Verwaltungsblätter, 134. Jg., 2003, 134– 139 (noch aktuell wegen § 27 I der Bayer. Schulordnung von 2016).  Zur verfassungsrechtlichen Problematik des Ethikunterrichts vgl. Czermak/Hilgendorf 2018, 176 ff.  Sie bindet den bayerischen Staat, BVerfGE 41, 65, zusammen mit BVerfGE 41, 29 betr. BadenWürttemberg.  Gerhard Czermak, Art. „Christliche Schulpolitik“, Abruf unter: https://weltanschauungsrecht. de/lexikon.  Vgl. Czermak/Hilgendorf 2018, 157.  Vgl. ebd., 163 ff. bzw. 103 f.  Zuletzt erstaunlich beharrend BVerfGE 137, 273 (Chefarztfall).

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kann hier nicht behandelt werden. Es sieht aber derzeit (Sept. 2018) so aus, als ob der EuGH mit seinem Urteil vom 11. September 2018 (Chefarztfall) eine Wende zu mehr Säkularität in kirchlichen Arbeitsverhältnissen eingeläutet hätte. Auch die große Problematik der in einigen Bereichen absolut dominierenden Sozialeinrichtungen der ‚kirchlichen Satelliten‘ mit etwa 1,4 Millionen Arbeitnehmern³⁵ kann hier nicht erörtert werden.³⁶ (4.) In manchen Bundesländern leisten katholische Bischöfe einen staatlichen Treueid, obwohl das Grundgesetz ausdrücklich die Ämterhoheit der Religionsgemeinschaften ohne staatliche Mitwirkung festlegt (Art. 137 III 2 WRV/140 GG). Vertragsrechtlich gilt sogar, dass die Ernennung von Geistlichen von der Einhaltung bestimmter Voraussetzungen gegenüber dem Staat abhängig gemacht wird. Der Staat finanziert die gesamte Militärseelsorge sowie Gefängnis- und Polizeiseelsorge, obwohl es sich dabei um verfassungsrechtlich nicht erkennbar legitimierte institutionelle Verbindungen handelt. Auf die Existenz zahlreicher weiterer privilegierender Sachverhalte sei hier nur hingewiesen. (5.) Ein besonders gewichtiger Punkt ist die allgemeine direkte und indirekte finanzielle Förderung speziell kirchlicher Anliegen durch die öffentliche Hand. Ein erkennbar kirchengeneigter Autor hat dazu im Jahr 2015 Folgendes geschrieben: „Schon ein Überblick über die einfachen, nicht historisch begründeten Leistungen erscheint – heute mehr denn je – fast unmöglich.“³⁷ Sehr groß ist die Zahl der Steuer- und Gebührenvergünstigungen. Eine für Gemeinden mitunter erhebliche Bedeutung haben staatliche und gemeindliche Kirchenbaulasten³⁸, obwohl sie z.T. schon seit Jahrhunderten bestehen. Die naheliegende Frage des Erlöschens derartiger historischer Staatsleistungen, insbesondere infolge Wegfalls der Geschäftsgrundlage und Leistungsabgeltung, spielt in Rechtsprechung und Literatur kaum eine Rolle.³⁹ Der Umfang der jährlichen Subventionierung von Religionsgemeinschaften ist milliardenschwer.⁴⁰ Es handelt sich um rechtlich-gesetzlich nicht erforderliche, also völlig freiwillige finanzielle Leistungen (Zuschüsse zu Kirchentagen, Kulturförderung, Steuer- und Gebührenbefreiungen usw.), die nach  Die Zahlen differieren auch wegen der Kompliziertheit der Berechnung.  Vgl. Czermak/Hilgendorf 2018, 223 ff.  Schrooten 2015, 265 (unter Hinweis auf die Bestandsaufnahme von Michael Droege, Staatsleistungen an Religionsgemeinschaften im säkularen Kultur- und Sozialstaat, Berlin: Duncker & Humblot 2004, 30 ff.).  Dabei wurden die gemeindlichen Baulasten 1919 von Art. 138 I WRV eindeutig gar nicht erfasst.  Vgl. Czermak/Hilgendorf 2018, 209 ff.  Einen detaillierten Begriff davon gibt Frerk 2010, insb. 257– 259 (Tabellen). Je nach Betrachtungsweise (rein freiwillige oder gesetzliche bzw. verfassungswidrige Leistungen) sind derzeit 10 bis über 20 Mrd. als finanzielle Gesamtleistung zu veranschlagen.

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dem Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 I GG) zu behandeln wären, aber meist mit damit unvereinbaren interessengeleiteten Differenzierungen gerechtfertigt werden. Und was heißt schon Gleichbehandlung bei so vielen leistenden öffentlichen Trägern, nämlich in Bund, Ländern und Gemeinden? (6.) Die staatlichen Vergünstigungen reichen von den Gebetbüchern der Militärseelsorge bis zur Auslandsmission. Bei aller Unvollständigkeit obiger Hinweise sei noch auf die staatlich-gesellschaftliche und justizielle Benachteiligung, ja Diffamierung und Verfolgung religiöser Minderheiten während eines Vierteljahrhunderts hingewiesen. Sie fand erst durch den Endbericht der einschlägigen Enquête-Kommission des Bundestags im Jahr 1998 ein vorläufiges Ende.⁴¹ Generell wurde und wird es religiösen Minderheiten und erst recht weltanschaulichen Vereinigungen i. S. des Art. 137 VII WRV oder schlicht Konfessionsfreien durch Politik, Verwaltung und Gerichte schwer gemacht, ihre Rechte, insbesondere das auf Gleichbehandlung, durchzusetzen.

4.5 Christliche Aspekte unserer Rechtsordnung? Das Grundgesetz als pyramidale Spitze unserer Rechtsordnung hat keine religiöse Grundlage, nimmt jedoch auf religiös-weltanschauliche Interessen deutlich Rücksicht. Das sind zwei ganz unterschiedliche Dinge. Die Nennung Gottes in der Präambel ist lediglich ein Hinweis auf die Motivlage der meisten Mitglieder des Parlamentarischen Rats und auf den Gedanken, dass sich die überwundene Hybris des totalitären Staats nicht wiederholen darf. Sie ist nach allgemeiner juristischer Ansicht nicht in der Lage, den konkreten Inhalt der Verfassung auf den Kopf zu stellen.⁴² Der staatliche Religionsunterricht ermöglicht zwar den großen Kirchen faktisch einen privilegierten Zugang zur öffentlichen Schule, ist aber nicht auf christliche Schulen beschränkt. Die Regelung über den Schutz von Sonn- und Feiertagen ist ebenfalls allgemein formuliert und erwähnt den Faktor Religion nicht. Daher hat auch der engagierte Protestant und Religionsrechtler Martin Heckel für das Grundgesetz resümiert: „Von der christlichen Tradition ‚des Abendlandes‘ […] findet sich in der Staatsverfassung keine Spur; das alles wird

 Endbericht der Enquête-Kommission Sogenannte Sekten und Psychogruppen, Drucksache 13/ 10950 vom 09.06.1998.  Gerhard Czermak, „‚Gott‘ im Grundgesetz?“, Neue Juristische Wochenschrift, 52. Jg., 1999, 1300 – 1303; Dreier 2018, 171 ff.; ergänzend Hartmut Kreß, Ethik der Rechtsordnung. Staat, Grundrechte und Religionen im Licht der Rechtsethik, Stuttgart: Kohlhammer 2012, 34 ff.

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von ihr sehr distanziert den Individuen und den Religionsgesellschaften nach ihrer eigenen Façon anheimgestellt.“⁴³ In auffälligem Gegensatz hierzu stehen Normen einiger westdeutscher Landesverfassungen⁴⁴ und Schulgesetze.⁴⁵ Da finden sich Wendungen wie: Der Mensch sei berufen, „seine Gaben in Freiheit und in der Erfüllung des christlichen Sittengesetzes […] zu entfalten“, und der Staat habe den Menschen hierbei zu dienen. Auch sei die Jugend „im Geiste der christlichen Nächstenliebe“ zu erziehen (Art. 1 I, II und Art. 2 I Ba-WüVerf). Auch „Ehrfurcht vor Gott“ findet sich in vier Landesverfassungen als Erziehungsziel. Bundesverfassungsrechtlich sind solche erstaunlichen Regelungen bedeutungslos. Sie dürfen wegen des absoluten Vorrangs des Bundesrechts auch von den Gerichten nicht angewendet werden. Maßgeblich ist stets das bundesrechtliche Verständnis von Neutralität und formaler Gleichberechtigung. Versuche, die Geltung von Religionsfreiheit und Neutralität länderspezifisch abzustufen, sind nicht begründbar.⁴⁶ Die Politik sieht dennoch keinen Grund, die überholten Vorschriften der Landesverfassungen zu beseitigen. Die ‚verfassungsrechtliche‘ Berufung auf Gott und Christentum hat Teilen der Politik bisher immer wahltaktische Vorteile oder doch wenigstens keine Nachteile gebracht. Ebenso wichtig wie reizvoll wäre es, auf religiöse Einflüsse in anderen Teilen der Rechtsordnung einzugehen. Im Vordergrund dürften bioethische Fragen stehen: Lebensbeginn, Schwangerschaftsabbruch, Embryonenschutz, humanes Sterben u. a. Das würde den Rahmen dieses kritischen Überblicks sprengen. Jeweils stellt sich die Frage, ob nicht alle Rechtsnormen so abgefasst werden müssen, dass sie von allen Rechtsgenossen unabhängig von ihren persönlichen weltanschaulichen Motiven als Versuch des Gerechten angesehen werden können. Damit ist man wieder beim Neutralitätsgebot angelangt.

 Martin Heckel, Gleichheit oder Privilegien? Der Allgemeine und der Besondere Gleichheitssatz im Staatskirchenrecht, Tübingen: Mohr Siebeck 1993, 40.  Ausführlicher dazu Gerhard Czermak, „Das System der Religionsverfassung des Grundgesetzes“, Kritische Justiz, 2000, 229 – 247, 244 ff.  Vgl. die Nachweise oben 4.4 (2.).  Näher z. B. Gerhard Czermak, „Zur Unzulässigkeit des Kreuzes in der Schule aus verfassungsrechtlicher Sicht“, in Der Streit um das Kreuz in der Schule, hg. von Winfried Brugger und Stefan Huster, Baden-Baden: Nomos 1998, 13 – 40, 35 ff.; m. zahlr. Nachw. aus Lit. und Rspr.

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4.6 Religiös-weltanschauliche Neutralität: Zentralbegriff unserer säkularen Ordnung⁴⁷ In der bisherigen Darstellung hat sich gezeigt, dass neben der gut entwickelten Freiheit der Religion einerseits die grobe Missachtung des Gebots der religiösweltanschaulichen Neutralität andererseits geradezu als ein Hauptmerkmal der religionsrechtlichen Praxis anzusehen ist. Dabei ist Neutralität bzw. Gleichheit das ungeliebte und unverstandene Zentrum des Religionsverfassungsrechts.⁴⁸ Diese Wertung setzt ein richtiges Grundverständnis der religiös-weltanschaulichen Neutralität voraus. In der Nachkriegszeit hatten die rechtlichen Interessen weltanschaulicher Minderheiten auch in der höchstrichterlichen Rechtsprechung so gut wie keine Beachtung gefunden. Erst 1965 erklärte das BVerfG dann, an sich bahnbrechend: „Das Grundgesetz legt durch Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3 GG sowie durch Art. 136 Abs. 1 und 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV in Verbindung mit Art. 140 GG dem Staat als Heimstatt aller Staatsbürger ohne Ansehen der Person weltanschaulich-religiöse Neutralität auf. Es verwehrt die Einführung staatskirchlicher Rechtsformen und untersagt auch die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse (vgl. auch BVerfGE 12, 1 [4]; 18, 385 [386]; BVerfG NJW 1965, 1427 f.).“⁴⁹ Das ist die später vielfach wiederholte Grundformel des Gerichts zur weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates. Neutralität ist somit kein Begriff des Verfassungsrechts, aber eine abkürzende Zusammenschau der genannten Artikel⁵⁰ und ergibt zusammen mit dem Gebot der formalen Gleichbehandlung von religiösen und nichtreligiösen Gemeinschaften (Äquidistanz; Art. 137 VII WRV) die Grundregel der Gleichbehandlung (auch Unparteilichkeit, Nichtidentifikation). Sie bedeutet objektivrechtlich ein allgemeines staatliches Handlungsgebot, sofern nicht das Grundgesetz selbst eine Abweichung (Bereichsausnahme) vorsieht. Keine der genannten Vorschriften sieht für ihren jeweiligen Geltungsbereich Einschränkungsmöglichkeiten vor, sodass ein Gebot absoluter Gleichbe-

 Eingehend etwa Czermak/Hilgendorf 2018, 91– 104; Dreier 2018, 95 – 139. Grundlegend Stefan Huster, Die ethische Neutralität des Staates, 2. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck 2017 (mit etwa 40seitiger Einleitung zur Neuauflage der materialreichen Habil.-Schrift von 2002: Das Gebot der ethischen Neutralität des Staates in der Diskussion).  Vgl. auch Hans Markus Heimann, Deutschland als multireligiöser Staat. Eine Herausforderung. Frankfurt a. M.: Fischer 2016, 26.  BVerfGE 19, 206 (219) – Badische Kirchenbausteuer.  Martin Morlok, „Art. 4 GG“, in Grundgesetz Kommentar, 3. Aufl., Bd. 1, hg. von Horst Dreier, München: C.H. Beck 2013 und „Art. 140 GG“, in Grundgesetz Kommentar, 3. Aufl., Bd. 3, hg. von Horst Dreier, München: C.H. Beck 2018.

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handlung/Neutralität besteht. Auf den oft schwierigen Bereich der Anwendung des Allgemeinen Gleichheitssatzes (wann sind Sachverhalte als rechtlich gleich anzusehen?), kann nicht weiter eingegangen werden. Ist einmal die Entscheidung über Gleichheit oder Ungleichheit gefallen, so gibt es – in der Theorie – keine Abweichungen vom Neutralitätsgebot, es sei denn, sie sind ausdrücklich im Grundgesetz vorgesehen. Das ist beim Religionsunterricht insofern der Fall, als er gegen das Gebot der Trennung und Nichtidentifikation verstößt. Bei notwendig liberalem Verständnis des Grundgesetzes ergibt sich für das Gesetzgebungs- und Rechtssystem Folgendes: „Staatliche Regulierungen sowie Beschränkungen individueller Handlungsfreiheit sind nur auf der Grundlage solcher Argumente zulässig, die keine besonderen religiösen oder philosophischen Lehren voraussetzen. Mit anderen Worten: Freiheitsbeschränkungen, aber auch Fördermaßnahmen dürfen nur auf Grund solcher Rechtsgüter erfolgen, deren Vorrang im konkreten Fall unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit neutral (rational) begründet werden kann.“⁵¹ Diese Überlegung ist, mehr noch als bei Juristinnen und Juristen, bei vielen Repräsentanten der Gesellschaft unverstanden, ja wirkt auf sie teilweise sogar befremdlich. Das zeigt in besonderer Weise die Ökumenische Erklärung katholischer und evangelischer Professoren und Hochschullehrer der Theologie zum bayerischen Kreuzerlass vom 1. Juni 2018.⁵² Dieser Verwaltungsvorschrift zufolge müssen, zumindest theoretisch, im Eingangsbereich aller Staatsbehörden gut sichtbar Kreuze angebracht werden. Auf eine Darlegung der sich neuerdings wieder häufenden Versuche einer kleinen juristischen Minderheit, das Neutralitätsgebot (trotz seiner guten normativen Fundierung) aufzuweichen, muss wegen der Komplexität und teilweisen Unverständlichkeit der Diskussion verzichtet werden.⁵³ Zu unterscheiden vom inhaltlichen Neutralitätsgebot ist das Trennungsgebot (Art. 137 I WRV), das nach allgemeiner Rechtsansicht das Verbot organisatorischer Verflechtungen bedeutet. Beides zusammen, Neutralität und Trennung, sind die Kehrseite der Religionsfreiheit.

 Czermak/Hilgendorf 2018, 99; vgl. auch 41 ff. (Liberale Rechtstheorie).  https://www.kreuzerlass.de/. Die Unterzeichner erklären, wie auch viele Politiker, ihre subjektiven Überzeugungen und Wünsche für maßgebend. Kritisch dazu Michael Schmidt-Salomon, „Die Furcht vor dem ‚gottlosen Humanismus‘“ (01.06. 2018), Abruf unter: https://hpd.de/artikel/ furcht-vor-dem-gottlosen-humanismus-15659.  Vgl. Dreier 2018, 141 ff.

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4.7 Verträge zwischen Staat und Religionsgemeinschaften⁵⁴ Rein tatsächlich ist das mittlerweile alle Bundesländer umfassende Vertragssystem eine weltweit auffällige Besonderheit. Es geht um eine große Fülle von Fragen, die hauptsächlich die großen Kirchen betreffen. Kaum ein Lebensbereich ist ausgenommen, von der Pfarrer- und Bischofsbesoldung zur Besetzung kirchlicher Positionen in der Anstaltsseelsorge, von der Ausbildung der Geistlichen auf Staatskosten, von Kirchenbaulasten zur allgemeinen finanziellen Förderung, von Schulfragen zum Denkmalschutzrecht, Friedhofsrecht, Rundfunkrecht und vielem anderen. Dabei geht es nicht in erster Linie um die sachgemäße Regelung strittiger Fragen, die der Staat erforderlichenfalls durch konsentierte Gesetze oder in öffentlich-rechtlichen Verträgen nach den einschlägigen verwaltungsgesetzlichen Regelungen behandeln könnte. Vielmehr geht es den Kirchen um eine möglichst gute Sicherung des Bestandes ihrer Privilegien und um eine herausgehobene gesellschaftliche Position durch allgemeine Redewendungen. Die behauptete staatsvertragliche, wenn nicht gar völkerrechtliche Bindung des Staates soll Änderungen erschweren, die den Kirchen nicht genehm sind. Die Vertragsinhalte werden zwar durch Staatsgesetze in staatliches Recht transformiert, sodass sie an sich jederzeit geändert werden könnten. Das würde man aber ggf. als vertragsbrüchig anprangern (Doppelnatur der Verträge; herrschende, wenn auch nicht unbestrittene Meinung). Man kann folgende Kategorien vertraglicher Regelungen aufstellen: ‒ Überflüssige Wiederholungen staatlicher Rechtsgarantien; ‒ Organisatorische Absprachen beim Religionsunterricht sowie der Militär- und Anstaltsseelsorge (statt aktuelle Verwaltungsvereinbarungen); ‒ Grundgesetzwidrige Regelungen (meist Verstöße gegen das Neutralitätsgebot, aber auch Trennungsgebot); ‒ Problematische Bestimmungen, die kircheninterne Vorgänge betreffen; ‒ Formulierungen, die lediglich der besonderen Hervorhebung der gemeinwohlförderlichen Tätigkeit und der Bedeutung der großen Religionsgemeinschaften dienen. Der Staat betreibt im Vertragswesen die seit 1919 an sich verpönte cura religionis. Es geht den Kirchen darum, dem Staat paktierte Anweisungen über den Inhalt seiner Rechtsetzung zu geben.⁵⁵ Zu dieser Grundlagenproblematik passt das au Eingehend Gerhard Czermak, „Rechtsnatur und Legitimation der Verträge zwischen Staat und Religionsgemeinschaften“, Der Staat, Bd. 39, 2000, 69 – 85; Ludwig Renck, „Der sogenannte Rang der Kirchenverträge“, Die öffentliche Verwaltung, 50. Jg., 1997, 929 – 938.  Ebenso Renck 1997, 935.

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ßergewöhnliche Verfahren, die Vertragsinhalte zwischen staatlicher und kirchlicher Verwaltung auszuhandeln und dann en bloc dem Parlament zur Zustimmung oder Ablehnung vorzulegen. Nicht unproblematisch sind auch die Verträge mit jüdischen und neuerdings islamischen Verbänden. Ein durchaus kirchengeneigter, wenngleich kritischer Kenner der Materie hat schon 1970 festgestellt: „Jedenfalls finden sich kaum irgendwo anders so viele verfassungsrechtlich anfechtbare Bestimmungen wie in den Kirchenverträgen.“⁵⁶

5 Gesellschaftliche Gefährdung des Religionsund Weltanschauungsrechts als gleiches Recht für alle 5.1 Religionsrecht als ideologisch aufgeladene Materie Seit Errichtung der Bundesrepublik wurde der kirchliche Lobbyismus zunehmend ausgebaut. Insbesondere die Bundesministerien gaben und geben den Kirchlichen Beauftragten schon im Vorfeld Kenntnis von geplanten oder in Erwägung gezogenen Rechtsänderungen. Dafür gibt es keinerlei Rechtsgrundlage.⁵⁷ Das hebt die Kirchen noch über den allgemeinen Lobbyismus hinaus, der ohnehin gefährlich ausgeufert ist.⁵⁸ Und dies hat die Schieflage des Religionsrechts zusätzlich befördert. Immer noch gilt, wenn auch heute in reduzierter Form: „Das Hauptproblem im Staatskirchenrecht ist, dass in diesem Rechtsgebiet häufig vom (erwünschten) Ergebnis und den jeweiligen staats- und kirchentheoretischen Prämissen her diskutiert wird; die juristische Methode droht in den Hintergrund geschoben zu werden.“⁵⁹ Auch und gerade BVerfG und BVerwG waren (trotz gewichtiger freiheitlicher Aspekte) daran unbestreitbar wesentlich mitbeteiligt. Das kann im Rahmen dieser Abhandlung nicht näher dargelegt werden.⁶⁰

 Hermann Weber, Grundprobleme des Staatskirchenrechts, Bad Homburg v. d. H.: Gehlen 1970, 51.  Eindringlich Carsten Frerk, Kirchenrepublik Deutschland. Christlicher Lobbyismus, Aschaffenburg: Alibri 2015, 44 ff.  Näher Gerhard Czermak, Art. „Lobbyismus“, Abruf unter: https://weltanschauungsrecht.de/ lexikon (Webportal des Instituts für Weltanschauungsrecht, ifw).  Jeand’Heur/Korioth 2000, 67 (Herv. i.O.).  Dazu wären größere Untersuchungen erforderlich. Siehe aber vorläufig das von Gerhard Czermak in https://weltanschauungsrecht.de/entscheidungen-bverfg vorgelegte Material zum BVerfG.

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5.2 Religionspolitik Seit Längerem wird in Öffentlichkeit und Literatur zunehmend von ‚Religionspolitik‘ gesprochen. Viele Disziplinen sind an den Untersuchungen beteiligt. Merkwürdigerweise spielen dabei substanzielle rechtliche Überlegungen nur selten eine Rolle, und eine tragfähige Begriffsklärung fehlt bis heute. Aus Sicht der Politiker geht es darum, welche Gestaltungswünsche sie hinsichtlich der religiös-weltanschaulichen Richtungen entwickeln und umsetzen wollen. Die Rede von Religionspolitik macht aber nur Sinn, wenn man die vom – stets einzuhaltenden – Verfassungsrecht gelassenen Spielräume anders nutzen und ggf. das Grundgesetz ändern will. Letzterem begegnen aber alle maßgeblichen politischen und juristischen Akteure mit großer Skepsis. Wegen einzelner weniger, vielleicht diskussionsfähiger Punkte will man die Büchse der Pandora nicht öffnen. Die Verfassungsjuristen sind fast alle der Überzeugung, dass die meisten anstehenden aktuellen Probleme anhand des heutigen Grundgesetzes gelöst werden können. Bei dieser Sachlage erwartet man gute Information und Hilfe vom repräsentativen Sammelband Religionspolitik heute. ⁶¹ Er basiert auf einer gleichnamigen Ringvorlesung des Exzellenzclusters Religion und Politik ⁶² und des Centrums für Religion und Moderne, beide Universität Münster. Trotz vieler lesenswerter Beiträge von über 30 Wissenschaftlern, Politikern und Repräsentanten religiösweltanschaulicher Institutionen vermag die Lektüre des Bandes aus verfassungsrechtlicher Sicht in der Gesamtschau nicht recht zu befriedigen. Der Faktor Recht ist, wie auch in der politischen Wirklichkeit, stark unterbelichtet, wenn auch viele Beiträge die Einhaltung der Rechtsgleichheit anmahnen. Ein Satz des Bandes trifft den Nagel genau: „Manches spricht dafür, dass am Ende nur das Recht und nicht eine zunehmend unter populistischem Druck stehende, immer kurzfristiger agierende Politik imstande sein wird, das Prinzip gleicher Religionsfreiheit hochzuhalten.“⁶³ Dass die Spielräume für echte Religionspolitik bei kritischer und konsequenter Anwendung der verfassungsrechtlichen Vorgaben trotz der Flexibilität

 Religionspolitik heute. Problemfelder und Perspektiven in Deutschland, hg. von Daniel Gerster, Viola van Melis und Ulrich Willems, Freiburg i. Br.: Herder 2018 (Bespr. Gerhard Czermak, Abruf unter: https://weltanschauungsrecht.de/religionspolitik-heute).  Laut Selbstbeschreibung des Exzellenzclusters beschäftigen sich seit 2007 etwa 200 Geistesund Sozialwissenschaftler aus 20 Fächern mit dem Verhältnis von Religion und Politik quer durch die Epochen und Kulturen.  Thomas Gutmann, „Zur Fragilität des Rechts auf gleiche Religionsfreiheit“, in Religionspolitik heute, 162– 173, 171.

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des Rechts gering sind, habe ich an anderer Stelle näher ausgeführt.⁶⁴ Immerhin lässt das Neutralitätsgebot Spielräume bezüglich der Wahl von offener oder distanzierender Neutralität zu. Der (ohnehin flexible) Allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 I GG ist stets zu beachten. Parlamentarier dürfen nicht Rechtspolitik gegen die Verfassung betreiben. Ihre Gesetze müssen – ungeachtet einer ggf. individuell religiösen Motivation – rational so begründbar sein, dass sie auch in ideologisch befrachteten Materien von allen Rechtsgenossen als akzeptabel und gerecht angesehen werden können.⁶⁵ Dabei dürfen Abgeordnete, die sich auf ihr Gewissen berufen, nicht nach ihrem privaten religiös-weltanschaulichen Gewissen entscheiden, sondern nur nach dem professionellen Gewissen des dem Gemeinwohl verpflichteten Mandatsträgers.⁶⁶ Gute und wirkungsvolle Rechtspolitik wäre es, das Ausmaß des verfassungswidrigen Rechts nach und nach zu reduzieren. Die Rede von ‚Rechtspolitik‘ ist wenig aussagekräftig.

6 Zusammenfassung und Ausblick Das Religionsverfassungsrecht ist heute endlich zu einem Teil der allgemeinen verfassungsrechtlichen Diskussion geworden. Die Religions- und Weltanschauungsfreiheit ist verfassungsrechtlich-normativ umfassend gesichert. Aber in Rechtsprechung und vor allem Politik ist immer noch eine Schlagseite in Richtung Religion festzustellen. Nichtreligiöse Bürgerinnen und Bürger, die seit Langem etwa die Hälfte der Bevölkerung ausmachen und sich zunehmend auch formal von den Großkirchen abwenden, ⁶⁷ werden nahezu vollkommen ignoriert mit dem Ergebnis, dass das Neutralitätsgebot immer noch die am meisten missachtete Verfassungsregel ist. Besonders die Politik tut kaum etwas, um von der

 Gerhard Czermak, Art. „Religionspolitik“ (2018), Abruf unter https://weltanschauungsrecht. de/lexikon.  Vgl. Czermak/Hilgendorf 2018, 42 f. u. 99 f. in Anlehnung insb. an Stefan Huster.  Auf diese wichtige Forderung hat jetzt Michael Schmidt-Salomon hingewiesen in seiner Abhandlung „Der blinde Fleck des deutschen Rechtssystems. Über die Missachtung des Gebots der weltanschaulichen Neutralität“, Aufklärung und Kritik, 2018, Heft 4, 7– 27, 22 f.  Für 2016 gibt die Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (fowid) anhand von amtlichen Statistiken und teilweise eigenen Berechnungen/Schätzungen folgende Daten für Religionszugehörigkeiten an: 36,2 % Konfessionsfreie, 28,5 % Formalkatholiken, 26,5 % Formalprotestanten und 8,8 % Zugehörige sonstiger Religionen bzw. konfessionsgebundene Muslime; vgl. https://fowid.de/meldung/religionszugehoerigkeiten-deutschland-2016.

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„Asymmetrie der religionspolitischen Ordnung“⁶⁸ wegzukommen. Im Gegenteil wird sogar der islamische Religionsunterricht aus fragwürdigen Gründen der Integration trotz erheblicher Rechtsprobleme bei der Universitätsausbildung, der Lehrerauswahl und der allgemeinen Organisationsprobleme staatlich forciert. Das leistet der absolut dominierenden und problematischen islamischen Orthodoxie Vorschub.⁶⁹ Gerade die gesellschaftlich-rechtlich so wichtigen liberalen Islamwissenschaftler und Pädagogen wie Mouhanad Khorchide, Abdel-Hakim Ourghi u. a. beklagen das.⁷⁰ Die Politiker, die sich mit der Frage religionsrechtlicher Regelungen befassen, sollten sich zunächst fragen, welche ihrer Grundvorstellungen sich überhaupt mit dem Grundgesetz vereinbaren lassen. Einer Änderung des Grundgesetzes, vielleicht von der Abschaffung des Körperschaftsstatus abgesehen, bedarf es nicht, wohl aber seiner kritischen Anwendung nach den anerkannten Regeln der Rechtswissenschaft. Alle sonstigen neuralgischen Punkte (Arbeitsrecht, Ausgestaltung von Steuerrecht und Militärseelsorge, Schulwesen, Islam, historische Staatsleistungen, Religionsförderung u. a.) können damit wohl gelöst werden. Mit einem Abbau der gröbsten Verstöße gegen das Neutralitätsgebot wäre zu beginnen. Wenn stattdessen 2018 in einem großen Bundesland von der Staatsregierung eine allgemeine Dienstvorschrift erlassen wurde, die – aus offensichtlich wahltaktischen Gründen – alle staatlichen Behörden verpflichtet, im Eingangsbereich ein Kreuzsymbol anzubringen⁷¹, so ist das nicht nur eine Geschmacklosigkeit, sondern ein grober Schlag in die Substanz unseres freiheitlichen säkularen Rechtsstaats.⁷²

 Ulrich Willems, „Religionspolitik vor neuen Herausforderungen“, in Religionspolitik heute, 38 – 69, 50.  Vgl. die Problematisierung bei Czermak/Hilgendorf 2018, 189.  Abdel-Hakim Ourghi, „40 Thesen zur Reform des Islams“ (01.11. 2017), Abruf unter: https:// www.zeit.de/2017/45/islam-reform-thesen-theologie; Uwe Lehnert, „Kommentar: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde – und ihre fehlenden Freunde“ (13. 06.2018), Abruf unter https://hpd. de/artikel/offene-gesellschaft-und-ihre-feinde-und-ihre-fehlenden-freunde-15694.  Allgemeine Geschäftsordnung für die Behörden des Freistaates Bayern (AGO) vom 12.12. 2000 i. d. F. der Bek. vom 24.04. 2018 (GVBl., 281), in Kraft seit 01.06. 2018. – Dort § 28. Nachträgliche Ausnahmen für Theater und Museen bestätigen die politische Absicht.  Zur rechtspolitischen Bedeutung des staatlichen Kreuzes als Zwangssymbol vgl. Czermak 2016, 79 – 91 (Düsseldorfer Justizkampf).

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Literatur Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1986): „Die Bedeutung der Konzilserklärung über die Religionsfreiheit. Überlegungen 20 Jahre danach“, Stimmen der Zeit, Bd. 204, 303 – 312. Böckenförde, Ernst-Wolfgang (2006): Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert (Themen, Bd. 86), München: Carl Friedrich von Siemens Stiftung. Classen, Claus Dieter (2015): Religionsrecht (Mohr Siebeck Lehrbuch), 2. Aufl., Tübingen: Mohr-Siebeck. Czermak, Gerhard (1998): „Zur Unzulässigkeit des Kreuzes in der Schule aus verfassungsrechtlicher Sicht“, in Der Streit um das Kreuz in der Schule (Interdisziplinäre Studien zu Recht und Staat, Bd. 7), hg. von Winfried Brugger und Stefan Huster, Baden-Baden: Nomos, 13 – 40. Czermak, Gerhard (1999): „‚Gott‘ im Grundgesetz?“, Neue Juristische Wochenschrift, 52. Jg., 1300 – 1303. Czermak, Gerhard (2000a): „Rechtsnatur und Legitimation der Verträge zwischen Staat und Religionsgemeinschaften“, Der Staat, Bd. 39, 69 – 85. Czermak, Gerhard (2000b): „Das System der Religionsverfassung des Grundgesetzes“, Kritische Justiz, 229 – 247; wesentliche Neubearbeitung unter dem Titel „Das System des Weltanschauungsrechts im Grundgesetz,“ in Aktuelle Entwicklungen im Weltanschauungsrecht (Schriften zum Weltanschauungsrecht, Bd. 1), hg. von Jacqueline Neumann et al., Baden-Baden: Nomos 2019. Czermak, Gerhard (2003): „Öffentliche Schule, Religion und Weltanschauung in Geschichte und Gegenwart der Bundesrepublik Deutschland“, in Kirche und Religion im sozialen Rechtsstaat (FS Wolfgang Rüther) (Staatskirchenrechtliche Abhandlungen, Bd. 42), hg. von Stefan Muckel, Berlin: Duncker & Humblot, 79 – 109. Czermak, Gerhard (2016): Weltanschauung in Grundgesetz und Verfassungswirklichkeit, Aschaffenburg: Alibri 2016. Czermak, Gerhard/Hilgendorf Eric (2018): Religions- und Weltanschauungsrecht. Eine Einführung, 2. Aufl., Berlin/Heidelberg: Springer. Dreier, Horst (2018): Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne, München: C.H. Beck. Ellwein, Thomas (1955): Klerikalismus in der deutschen Politik, München: Isar. Frerk, Carsten (2010): Violettbuch Kirchenfinanzen. Wie der Staat die Kirchen finanziert, Aschaffenburg: Alibri. Frerk, Carsten (2015): Kirchenrepublik Deutschland. Christlicher Lobbyismus, Aschaffenburg: Alibri. Gutmann, Thomas (2018): „Zur Fragilität des Rechts auf gleiche Religionsfreiheit“, in: Religionspolitik heute, 162 – 173. Heckel, Martin (1993): Gleichheit oder Privilegien? Der Allgemeine und der Besondere Gleichheitssatz im Staatskirchenrecht (Jus Ecclesiasticum, Bd. 47), Tübingen: Mohr Siebeck. Heckel, Martin (1966/67): „Zur Entwicklung des deutschen Staatskirchenrechts von der Reformation bis zur Schwelle der Weimarer Verfassung“, Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, Bd. 12, 1 – 39. Heimann, Hans Markus (2016): Deutschland als multireligiöser Staat. Eine Herausforderung, Frankfurt a. M.: Fischer.

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Religions- und Weltanschauungsfreiheit in Deutschland

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Stefan Korioth

Das Religionsverfassungsrecht der Berliner Republik als Einweisung in die wechselseitige Indifferenz von Staat und Kirchen? Das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften ist im westlichen Kulturkreis Gegenstand beständiger Diskussionen. Sie schließen neben dem religiösen den juristischen¹ wie den gesellschaftlich-politischen² Diskurs mit ein. Die Frage, wie das Verhältnis verfassungsrechtlich geordnet werden soll, mündete in Deutschland 1919 und 1949 jeweils in einen Kompromiss: Die von der Weimarer Nationalversammlung nach langen Verhandlungen, die anfangs unüberbrückbar erscheinende Gegensätze zusammenführten, im Wege eines Kompromisses formulierten Normen des Staatskirchenrechts hat 1949 – wiederum als Kompromiss – der Parlamentarische Rat in das Grundgesetz übernommen.³ Heute stellen sich vielfältige Herausforderungen für das Religionsverfassungsrecht, die üblicherweise unter den Schlagworten Pluralisierung, Individualisierung und Säkularisierung diskutiert werden.⁴ Sie werfen die Frage einer Neujustierung des Staat-Religionsgemeinschaften-Verhältnisses in juristischer wie tatsächlicher Hinsicht auf. Die Themenstellung fragt nach Anzeichen einer wachsenden Indifferenz zwischen den Religionsgemeinschaften, insbesondere den Kirchen, und dem Staat. Eine solche Gleichgültigkeit, ebenso wie Konflikte zwischen Staat und Religion, sind aber in dem freiheitlichen und säkularen Staat des Grundgesetzes kaum anzutreffen. Das Religionsrecht forciert vielmehr einen fortwährenden Dialog zwischen Staat und Religionsgemeinschaften. In ihm verschieben sich allerdings die Gewichte und Interessen. Dass dies nicht vom religionsfreundli-

 Aktuell Christian Hillgruber, „Hat das deutsche Staatskirchenrecht Bestand?“, Kirche und Recht, Bd. 24, 2018, 1– 20.  Vgl. etwa aus dem politischen Tagesgeschehen den unglücklichen sogenannten ‚Kreuz-Erlass‘ der Bayerischen Staatsregierung in § 28 der Allgemeinen Geschäftsordnung für die Behörden des Freistaates Bayern, der vorsieht, dass „[i]m Eingangsbereich eines jeden Dienstgebäudes […] als Ausdruck der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns gut sichtbar ein Kreuz anzubringen [ist]“, und das geteilte Echo der Kirchen und der Medien.  Vgl. Michael Germann, „Art. 140 GG“, in BeckOK GG, hg. von Volker Epping und Christian Hillgruber, München: C.H. Beck 2018, Rn. 2.  Jüngst Hillgruber 2018, 1. https://doi.org/10.1515/9783110623406-011

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chen Staat ausgeht, sondern von der zunehmend religiös indifferenten Gesellschaft, wird sich im Folgenden zeigen.

1 Bonner Staatskirchenrecht, Berliner Religionsverfassungsrecht und beständige Herausforderungen an ein Rechtsgebiet Die begriffliche Auseinandersetzung um die Bezeichnung des Rechtsgebietes als Staatskirchenrecht oder Religions(verfassungs)recht hat in den letzten 20 Jahren viele beschäftigt. Die Kontroverse sollte nicht überschätzt werden.⁵ Ihr Hintergrund sind die Fragen nach dem Zugang zu den einschlägigen Normen und nach der Schwerpunktsetzung: Der Fokus kann auf der grundrechtlichen oder der institutionellen Seite der Religion liegen.⁶ Wie sich zeigen wird, erweisen sich beide Seiten des Rechtsgebiets als tragende Säulen, die nur im Zusammenspiel zu adäquaten Lösungen führen. Unbestritten ist, dass die individuelle und kollektive Garantie der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) die Grundlage allen religionsrechtlichen Argumentierens ist. Obwohl es auf die Terminologie im Ergebnis nur am Rande ankommt und die inhaltliche Bewertung im Vordergrund stehen sollte, ist ein Wandel hin zur Verwendung des Begriffs Religionsverfassungsrecht – nicht zuletzt in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts⁷ – zu beobachten. Der näheren Untersuchung bedarf, mit welchen Veränderungen sich das Religionsrecht auf seinem Weg von einem Bonner Staatskirchenrecht hin zu einem Berliner Religionsverfassungsrecht konfrontiert sieht und welche inhaltlichen Implikationen hinter der Terminologie damit verbunden sind. Hier trifft ein statischer Normbestand (1.1) auf weitreichende gesellschaftliche Veränderungen (1.2). Dies führt zu bedeutenden Herausforderungen an das Religionsrecht (1.3).

 Vgl. etwa die Beiträge des Bandes Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht? Ein begriffspolitischer Grundsatzstreit, hg. von Hans Michael Heinig und Christian Walter, Tübingen: Mohr Siebeck 2007.  Vgl. Stefan Korioth, „Vom institutionellen Staatskirchenrecht zum grundrechtlichen Religionsverfassungsrecht? Chancen und Gefahren eines Bedeutungswandels des Art. 140 GG“, in Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität und Wandel, hg. von Michael Brenner, Peter M. Huber und Markus Möstl, Tübingen: Mohr Siebeck 2004, 727– 747, 729.  BVerfGE 102, 370 (393).

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1.1 Statischer Normbestand Der religionsrechtliche Normenbestand auf der Verfassungsebene weist eine bemerkenswerte Dauerhaftigkeit auf. Dies betrifft insbesondere – und hier nicht überraschend – das Grundrecht der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) als ersten Grundpfeiler des Religionsverfassungsrechts. Sie gilt aber auch im sogenannten institutionellen Staatskirchenrecht (Art. 136, 137, 138, 139, 141 WRV). Dieses hat der Parlamentarische Rat im eingangs angesprochenen Kompromiss mittels Art. 140 GG aus der Weimarer Verfassung übernommen und dem Grundgesetz inkorporiert. Die Weimarer Normen sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „vollgültiges Verfassungsrecht“⁸. Sie enthalten die wesentlichen verfassungsrechtlichen Regelungen für das Verhältnis von Staat und Religionsgesellschaften. Auch die Staatskirchenverträge als weitere Rechtsquelle des Religionsrechts haben in ihren grundsätzlichen Festlegungen seit Langem Bestand. Seit 1993 sind – in den neuen Ländern, aber auch in Hamburg, Bremen und Schleswig-Holstein – neue Verträge mit den christlichen Kirchen, den jüdischen Gemeinschaften und neuestens auch (einigen) islamischen Gemeinschaften (so etwa in Hamburg und Bremen) hinzugekommen. Viele der neuen Vereinbarungen knüpfen an die traditionellen Garantien der Verträge seit 1919 an.

1.2 Gesellschaftliche Veränderungen Jenseits dieser normativen Statik mit vorsichtiger Weiterentwicklung hat sich ein bedeutender Faktor verändert: das religionssoziologische Umfeld. Bestimmend ist hier das bekannte Nebeneinander von zunehmender religiöser Pluralisierung und Individualisierung sowie wachsender religiöser Gleichgültigkeit. Pluralisierung äußert sich vor allem, aber nicht nur, mit Blick auf den Islam, dessen Gemeinschaften in das überkommene Arrangement des Staates mit den christlichen Kirchen aufgenommen werden möchten, vom Religionsunterricht bis zum Friedhofswesen. Im religionsneutralen Staat stehen dazu den islamischen Gemeinschaften alle Türen offen. Gesellschaftliche Gleichgültigkeit gegenüber der Religion spielt sich vor allem im Umfeld der großen Kirchen ab. Formale Mitgliedschaft, vermittelt durch die Taufe, ist – jedenfalls in den alten Ländern – nach wie vor weit verbreitet,⁹ reli-

 BVerfGE 19, 206 (219).  Man kann hier nach wie vor von einer „Kultur der Konfessionszugehörigkeit“ sprechen, während in den neuen Bundesländern bereits eine „Kultur der Konfessionslosigkeit“ vorherrscht; vgl.

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giöses Interesse und Engagement eher nicht. Etwa 45 Prozent der Bevölkerung Deutschlands, wobei zurzeit die Zahl statistisch jährlich um etwa einen Prozentpunkt steigt, will mit Kirchen oder Religionsgemeinschaften, aber auch mit Religion nichts zu tun haben. Dahinter steckt in der überwiegenden Mehrheit der Fälle kein kämpferischer oder reflektierter Atheismus,¹⁰ sondern einfach Desinteresse.¹¹ Es herrscht ein gewisser Pragmatismus hinsichtlich der eigenen Nichthaltung zur Transzendenz. Nichtreligiosität wird als Normalfall und als nicht erklärungsbedürftig angesehen.¹² Religionssoziologie und Theologie sprechen von „religiöser Indifferenz“¹³. Die Merkmale dieses Phänomens sind jedoch umstritten. Indifferenz kann sowohl im Sinne einer Kirchenferne, die nicht zwingend mit einer Ablehnung von Religiosität verbunden sein muss, als auch im Sinne einer vollständigen Säkularisierung des Einzelnen verstanden werden. In letzterem Fall wären nicht nur die Institutionen, vor allem also die Kirchen, aus der Lebensrealität der Bürger verdrängt, sondern auch Religion und Religiosität als solche. Sieht man hingegen den religiös Indifferenten als Suchenden, der sich und seine religiösen Bedürfnisse in den Angeboten der Religionsgemeinschaften (noch) nicht gefunden hat, erkennt man immerhin noch eine Art religiösen „Schwebezustand“, der durch veränderte Formen von Religiosität aufgefangen werden kann.¹⁴ Die Ansätze für gewandelte Formen reichen von einem Marktmodell des Religiösen¹⁵ über eine individuell zusammengestellte Patchwork-Religion¹⁶ bis hin zu dem von den Gegenpolen Beliebigkeit und Zielstrebigkeit geprägten Typus des sogenannten spirituellen Wanderers¹⁷. Diese Tendenzen haben gemeinsam, dass sie keiner verfassten Religionsgemeinschaft im traditionellen Sinn bedürfen. Gerade die Kirchen verlieren daGert Pickel, „Religiöse Indifferenz – Freundliche Beschreibung für eine drastische Entwicklung?“, in Die soziale Reichweite von Religion und Kirche. Beiträge zu einer Debatte in Theologie und Soziologie, hg. von Detlef Pollack und Gerhard Wegner, Würzburg: Ergon 2017, 165 – 182, 171.  Anders, jedoch ohne Beleg, Hillgruber 2018, 17.  Vgl. Stefan Korioth, „‚Jeder nach seiner Façon‘: Grundgesetz für die multireligiöse Gesellschaft“, in Verfassungsrecht und gesellschaftliche Realität, hg. von Kritische Justiz, Baden-Baden: Nomos 2009, 175 – 185, 176 f.  Vgl. Pickel 2017, 172 f.  Vgl. etwa ebd., 165 m.w. N.  Ebd., 165 f.  Hierzu Gert Pickel, Religionssoziologie. Eine Einführung in zentrale Themenbereiche, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011, 198 ff.  Vgl. Norbert Scholl, Religiös ohne Gott. Warum wir heute anders glauben, Darmstadt: Lambert Schneider 2010, 34 ff.  Vgl. Winfried Gebhardt, Martin Engelbrecht und Christoph Bochinger, „Die Selbstermächtigung des religiösen Subjekts. Der ‚spirituelle Wanderer‘ als Idealtypus spätmoderner Religiosität“, Zeitschrift für Religionswissenschaft, Bd. 13, 2005, 133 – 151.

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durch an Bedeutung. Empirisch betrachtet steht jedoch – jedenfalls unter den Konfessionslosen – die zweite Deutungsmöglichkeit der religiösen Indifferenz im Vordergrund: die Deutung als nichtreligiös.¹⁸ Nach der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD halten sich drei Viertel der Konfessionslosen für gleichgültig gegenüber Religion. Nur etwa drei Prozent geben an, religiös auf der Suche zu sein.¹⁹ Diese geringe Aufgeschlossenheit für Religiosität unter den Konfessionslosen gibt gleichzeitig den Hinweis, dass die oftmals aufgerufene Trennung von Religiosität und Kirchlichkeit, das heißt die Differenzierung zwischen den zwar hohen Kirchenaustrittszahlen einerseits und der möglicherweise trotzdem vorhandenen individuellen religiösen Einstellung sowie Spiritualität andererseits, zwar in der Theorie angebracht und nachvollziehbar, in der Praxis aber von geringer Bedeutung ist.²⁰ Religionssoziologisch gesehen hat man es doch mit echter Religionslosigkeit und nicht nur mit einer Abkehr von den Kirchen als Institutionen zu tun. Zu erklären ist diese Tendenz über die Bedeutung der sozialen Dimension von Religiosität: „Ohne entsprechende Kommunikationsformen, soziale Praktiken und das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft verblasst auch die subjektive Religiosität.“²¹ In der Gesellschaft lässt sich somit sowohl ein kontinuierlicher Bedeutungsverlust der Kirchen als auch ein wachsendes Desinteresse der Einzelnen an religiösen Inhalten feststellen.

1.3 Herausforderung für das Religionsverfassungsrecht Diese Entwicklung ändert an der Geltung der religionsrechtlichen Normen nichts. Sie kann aber ihre Legitimität bedrohen. Das Religionsrecht in Deutschland enthält ein voraussetzungsvolles Arrangement von religiösen Freiheitsräumen, die nicht nur die persönliche religiöse oder areligiöse Lebensführung schützen, sondern der religiösen Überzeugung des Einzelnen und der Religionsgemeinschaften im Besonderen Entfaltungsmöglichkeiten in öffentlichen und staatlichen Sphären eröffnen. Die Entfaltungsmöglichkeiten in den Sphären der Öffentlichkeit und des Staates reichen beispielhaft von dem in Art. 7 Abs. 3 GG vorgesehenen konfessionellen Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen

 Vgl. Pickel 2017, 180; vgl. auch die Analysen bei Eberhard Hauschild und Claudia Schulz, „Religiosität und Kirchlichkeit als Indikatoren für den Wandel des Religiösen“, in Die soziale Reichweite von Religion und Kirche, 25 – 47, sowie Gerhard Wegner, „Das Gespenst der Verkirchlichung. Zum Ertrag der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung“, in: Ebd., 279 – 311.  Zit. nach Pickel 2017, 174.  Vgl. ebd., 175.  Ebd., 180 f.

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über die theologischen Fakultäten an staatlichen Hochschulen bis zur Garantie der Anstaltsseelsorge in Art. 140 GG i.V. m. Art. 141 WRV. In allen Fällen obliegt die inhaltliche Gestaltung dem Einzelnen und den dazu berufenen Religionsgemeinschaften, während der Staat äußere Voraussetzungen wie etwa die Einbindung in die Organisationsstruktur, den tatsächlichen Rahmen für die Ausübung oder die Finanzierung bereitstellt.²² Im Bereich der Wohlfahrtspflege wendet sich das Verhältnis noch ein Stück weiter: Die kirchlichen Träger nehmen – auf Grundlage des Subsidiaritätsprinzips und ebenso wie die sonstigen freien Träger – sogar eine gewisse Vorrangstellung gegenüber dem Staat ein.²³ Diese Freiheitsräume gehen mit einem ebenfalls voraussetzungsvollen Verständnis staatlicher Neutralität in Fragen der Religion und Weltanschauung einher.²⁴ Das an den Staat gerichtete Verbot, sich mit einer bestimmten Religion inhaltlich zu identifizieren oder sich auf eine religiöse Legitimation zu berufen, findet seinen Ausdruck nicht in einer strikten Trennung des Staatlichen und Religiösen im Sinne eines laizistischen Berührungsverbots; religiöse Neutralität nach dem deutschen Religionsverfassungsrecht bedeutet vielmehr überwölbende Neutralität, gleichmäßige Offenheit für alle religiösen Interessen, auch und gerade in der öffentlichen Sphäre.²⁵ Das Religionsrecht hat ein Verhältnis „wechselseitiger Zugewandtheit und Kooperation“²⁶ zwischen Staat und Religionsgemeinschaften als Leitbild. Die oben genannten Beispiele verdeutlichen, dass sich der Staat gerade nicht von religiösen Aktivitäten der Gesellschaft fernhält und – anders gewendet – auch kein Anspruch des Einzelnen auf einen religionsfreien öffentlichen Raum besteht. Letzteres lässt sich exemplarisch am viel zitierten Kruzifix-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1995²⁷ zeigen: Aus der in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verbürgten Religionsfreiheit hat der Einzelne „kein Recht darauf, von fremden Glaubensbekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen verschont zu bleiben“²⁸. Ausnahmen ergeben sich nur in besonderen Konstellationen wie etwa dem Kontext der Schule mit Schulpflicht; in dieser Situation sieht sich der Einzelne im Fall des staatlich angeordneten Ver Vgl. Korioth 2009, 182.  Vgl. Hillgruber 2018, 7.  Etwa BVerfGE 93, 1 (16): „Aus der Glaubensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG folgt […] der Grundsatz staatlicher Neutralität gegenüber den unterschiedlichen Religionen und Bekenntnissen. Der Staat, in dem Anhänger unterschiedlicher oder gar gegensätzlicher religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen zusammenleben, kann die friedliche Koexistenz nur gewährleisten, wenn er selbst in Glaubensfragen Neutralität bewahrt.“  Vgl. Korioth 2009, 182.  BVerfGE 42, 312 (330); vgl. dazu jüngst Hillgruber 2018, 7.  BVerfGE 93, 1.  BVerfGE 93, 1 (16).

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wendens religiöser Symbole „ohne Ausweichmöglichkeiten dem Einfluß eines bestimmten Glaubens, den Handlungen, in denen dieser sich manifestiert, und den Symbolen, in denen er sich darstellt, ausgesetzt“²⁹. Dem Grunde nach bleibt es bei dem Befund, dass der Staat nach dem deutschen Religionsverfassungsrecht zwar dem Neutralitätsgebot unterliegt, jedoch keineswegs dem Modell der Laizität folgt. Gerade die grundrechtlichen Gewährleistungen des Art. 4 GG erschöpfen sich nicht in einem bloßen Schutz vor staatlicher Einmischung in die Glaubensüberzeugungen oder Nichtüberzeugungen des Einzelnen. Sie fordern die Bereitstellung von Freiheits- und Betätigungsräumen für die individuelle und kollektive Entfaltung in religiös-weltanschaulicher Hinsicht.³⁰ Neben der Ordnungsfunktion hat das Religionsrecht eine dezidierte Bereitstellungsfunktion.³¹ Dieses Arrangement von Freiheitsräumen durch das Religionsrecht setzt jedoch voraus, dass die (öffentlichen) religiösen Entfaltungsmöglichkeiten aktiv genutzt werden. Es ist nicht die zunehmende religiöse Pluralisierung, die das grundgesetzliche Religionsrecht in Schwierigkeiten bringt. Trotz der Herkunft aus den nachreformatorischen bikonfessionellen Zeiten des Gegenüber und Miteinander von zwei christlichen Großkirchen³² lässt sich dieses Staatskirchenrecht unschwer auf die Pluralität religiöser Interessen umstellen. Hier sind bereits viele Entwicklungen vollzogen; die zahlreichen Gerichtsurteile der letzten dreißig Jahre zu neuartigen religiösen Geltungsansprüchen und auch religiösen Konflikten zeigen dies. Besonders im Bereich der grundrechtlichen Religionsfreiheit wurde so eine genauere Bestimmung des Schutzbereichs notwendig. Das Bundesverfassungsgericht hält an einer weiten Auslegung fest, die vor allem auch das Selbstverständnis des Grundrechtsträgers in den Blick nimmt.³³ Gleichzeitig anerkennt das Gericht jedoch auch eine staatliche Prüfung und Entscheidung, „ob hinreichend substantiiert dargelegt ist, dass sich das Verhalten tatsächlich nach geistigem Gehalt und äußerer Erscheinung in plausibler Weise dem Schutzbereich des Art. 4 GG zuordnen lässt, also tatsächlich eine als religiös anzusehende Motivation hat“³⁴. Der grundrechtliche Bereich erlaubt auf dieser Grundlage (von

 BVerfGE 93, 1 (16) unter Verweis auf BVerfGE 41, 29 (49).  So schon BVerfGE 93, 1 (16). Aus der Literatur vgl. nur Michael Germann, „Art. 4 GG“, in BeckOK GG, hg. von Volker Epping und Christian Hillgruber, München: C.H. Beck 2018, Rn. 60 ff.  Vgl. Korioth 2009, 179 m.w. N.  Vgl. dazu ausführlich Stefan Korioth, „Deutsches Staatskirchenrecht im langen Schatten des deutschen Bikonfessionalismus – Steht das deutsche Staatskirchenrecht noch heute unbotmäßig unter dem Eindruck der Reformation?“, Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, Bd. 63, 2018, 14– 29.  BVerfGE 108, 282 (298 f.).  BVerfGE 138, 296 (329).

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Weite und Korrektiv auf Seiten des Schutzbereichs kombiniert mit den bekannten Maßstäben für eine Eingriffsrechtfertigung) eine differenzierende Betrachtung der sich pluralisierenden religiösen Landschaft und kann so zu adäquaten Lösungen führen. Aus der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seien beispielhaft die Entscheidungen zur Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts im Sinne des Art. 140 GG i.V. m. Art. 137 Abs. 5 WRV an die Zeugen Jehovas³⁵ sowie – aus dem Bereich des Konflikts zwischen den institutionellen Garantien des Religionsrechts und den Grundrechten Dritter – die aktuelle Entscheidung zum Ausmaß des Stilleschutzes am Karfreitag³⁶ genannt. Das Gericht hat eine differenzierende und integrierende Rechtsprechung zu konfliktbehafteten Themen auf der Grundlage des vorhandenen – und statischen – Normbestandes entwickelt. Nicht zuletzt leistet hier eine Betonung der grundrechtlichen Komponente des Religionsrechts in Art. 4 GG im Vergleich zu den institutionenbezogenen Verbürgungen in Art. 140 GG i.V. m. den aus der Weimarer Verfassung übernommenen Artikeln ihren Beitrag.³⁷ Diese Tendenz lässt sich problemlos innerhalb der normativen Trennung der beiden Säulen des Religionsrechts verwirklichen.³⁸ Erst das Zusammenspiel beider Komponenten macht das Religionsverfassungsrecht in seinen verschiedenen Akzenten aus. Religiöse Pluralität wird durch das bestehende System des Religionsrechts also ohne größere Probleme aufgefangen. Bedroht wird die Legitimität dieses auf Offenheit gegenüber der Religion angelegten Systems hingegen durch religiöse Gleichgültigkeit, die selbstverständlich ebenso grundrechtlichen Schutz genießt wie religiöse Bekenntnisse und Aktivitäten. Die oben beschriebene gesellschaftliche Indifferenz gegenüber institutionellen Trägern der Religion und gleichzeitig – und das ist besonders bedeutend, weil es auch die grundrechtliche Garantie betrifft – gegenüber der Religiosität an sich ist geeignet, die Frage nach der Legitimität des bestehenden Systems zu stellen. Religionsfreundliche Offenheit des Staates – als Gegenbild zu einer strikten Trennung der öffentlichen und staatlichen Sphäre und religiöser Aktivitäten – setzt voraus, dass von den Grundrechtsträgern Offenheit gewollt und genutzt wird.

 BVerfGE 102, 370 und BVerfGE 139, 321.  BVerfGE 143, 161.  Vehement für diesen Ansatz Peter Unruh, Religionsverfassungsrecht, 3. Aufl., Baden-Baden: Nomos 2015, 24 ff.  Vgl. dazu Korioth 2009, 184 f.

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2 Religion als öffentliche Angelegenheit und der Diskussionsbedarf zwischen Staat und Kirche Diskussionsbedarf zwischen Staat und Kirche, allgemein zwischen Politik und Religion, gibt es immer. Das hat – unabhängig von dem jeweiligen religionsrechtlichen System – damit zu tun, dass Religion und Politik sich analytisch und praktisch nicht voneinander trennen lassen. Wenn Religion eine Bestimmungskraft für das gesamte Leben eines religiösen Menschen oder einer religiösen Gruppe ist und Einstellungen sowie Vorstellungen über das Zusammenleben der Menschen formuliert, dann können der Religion und den organisierten Religionsgemeinschaften Staat und Gesellschaft nicht gleichgültig sein. Mehr noch: Religiöse Kräfte versuchen, ihren Standpunkt geltend zu machen. Umgekehrt interessiert sich der Staat für religiöse Aktivitäten seiner Bürger, auch wenn er sie nicht bewerten, belohnen und kontrollieren darf, weil sich diese, bewusst oder als Nebenwirkung, auf das gesellschaftliche Zusammenleben erstrecken. Religion ist immer auch public religion ³⁹, nicht etwa reine Privatsache. Wenn Horst Dreier von einer „‚Privatisierung‘ der Religion“⁴⁰ spricht, meint er ausdrücklich nicht eine „Abdrängung in die Bedeutungslosigkeit oder [eine] Verbannung in die häusliche Sphäre“⁴¹. Die Formulierung ist vielmehr als Abgrenzung der Religion von der Sphäre des (säkularen) Staates zu verstehen. Dieser „perhorresziert Religion nicht, ordnet sie aber der Sphäre der Gesellschaft zu und grenzt ihren Wirkungsbereich dadurch ein“⁴². Der Staat emanzipiert sich so von der religiösen Wahrheitsfrage und stützt seine eigene Legitimation nicht auf Moralität oder einen Wahrheitsanspruch, sondern nimmt für seine Normen lediglich einen Geltungs- und Befolgungsanspruch (bloße Legalität) in Anspruch.⁴³

 José Casanova, Public Religions in the Modern World, Chicago: University of Chicago Press 1994; ders., „What Is a Public Religion?“, in Religion Returns to the Public Square. Faith and Policy in America, hg. von Hugh Heclo und Wilfred M. McClay,Washington, D.C.: Woodrow Wilson Center Press u. a. 2003, 111– 139.  Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität. Zum Selbstverständnis des modernen Verfassungsstaates, Tübingen: Mohr Siebeck 2013, 33.  Ebd., 35.  Ebd., 39.  Ebd., 33 ff.; vgl. hierzu auch Jürgen Habermas, „Politik und Religion“, in Politik und Religion. Zur Diagnose der Gegenwart, hg. von Friedrich Wilhelm Graf und Heinrich Meier, München: C.H. Beck 2017, 287– 300, 288 f.

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Dies tut der politischen Rolle und Wirkung von Religion jedoch keinen Abbruch,⁴⁴ ihre „politische […] Potenz“⁴⁵ zeigt sich in verschiedenster Hinsicht: Sie kann demokratiefördernd sein,⁴⁶ fundamentalistisch, sie kann Lebensformen in einer Gesellschaft begleiten oder kritisieren. All das genießt – im Rahmen der Grenzen der Freiheit – grundrechtlichen Schutz. Das Interesse des Staates darf und kann nicht auf eine volkskirchliche, oligopolistische Religionskultur gerichtet sein, auch nicht vorrangig darauf, dass es in der Gesellschaft religiöse Institutionen der Wertevermittlung gibt. Freiheit und Vielfalt, Konsens und Dissens auch im religiösen Bereich sind vielmehr Integrationsmechanismen der gegenwärtigen Gesellschaft, auf die der Staat in Zeiten von Ökonomisierung und Internationalisierung, aber auch des eigenen Rückzugs (man denke nur an die Privatisierung sozialer Aufgaben und Dienste) angewiesen ist. An dieser Stelle wird auf das Diktum Ernst-Wolfgang Böckenfördes zu den „bindenden Kräften“⁴⁷ des säkularen Staates aus dem Jahre 1967 verwiesen:⁴⁸ Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots, zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.⁴⁹

 Umfassend und kritisch vor allem in Bezug zur Neutralität des Staates Christoph Möllers, „Grenzen der Ausdifferenzierung“, in Religionsverfassungsrechtliche Spannungsfelder, hg. von Hans Michael Heinig und Christian Walter, Tübingen: Mohr Siebeck 2015, 9 – 34.  Heinrich Meier, „Epilog“, in Politik und Religion, 301– 313, 303.  Ausführlich zum Verhältnis zwischen Demokratie und Christentum Michael Eilfort, „Kirchen als Basisinstitutionen des freiheitlich-liberalen Staats“, in Religion und Politik in der freiheitlichen Demokratie, hg. von Klaus Stüwe, Berlin: Duncker & Humblot 2018, 249 – 260 sowie Klaus Stüwe, „Freiheitliche Demokratie und Christentum“, in: Ebd., 235 – 248.  Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“, in Säkularisation und Utopie. Ebracher Studien. Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, Stuttgart: Kohlhammer 1967, 75 – 94, 75; vgl. dazu Dreier, Staat ohne Gott, 2018, 189 ff.  Vgl. etwa Jürgen Aretz, „Staat, Gesellschaft und Religion in Deutschland“, in Religion und Politik in der freiheitlichen Demokratie, 141– 171, 171, Eilfort 2018, 249 und Stüwe 2018, 241 f.  Böckenförde 1967, 75 (Herv. i.O. entfernt). Um Missverständnisse dieses Satzes auszuschließen, hat Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, München: Carl Friedrich von Siemens Stiftung 2006, 11– 41, 25 f. dreißig Jahre später präzisiert: „[Der säkularisierte Staat] vermag Fortbestand und Lebenskraft der Religion mit den ihm zu Gebote stehenden Mitteln nicht zu garantieren, kann

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Das ist häufig dahin fehlinterpretiert worden, als sei der Staat auf Religion (und Kirchen) als Quelle der gesellschaftlichen und staatlichen Integration angewiesen. Darum aber geht es nicht. Religion kann eine wichtige Prägekraft entfalten, auch wenn sie sicher nicht die einzige Zusammenhalt stiftende Kraft ist und nicht verpflichtet werden darf, in diese Richtung zu wirken. Obwohl sie selbstverständlich nicht Quell der Legitimation von Staatsgewalt in einem säkularen Staat sein kann und darf, leistet sie auf der anderen, von Böckenförde adressierten Ebene als gesellschaftliche Institution und in Bezug auf ein gewisses Ethos aller Bürger ihren Beitrag – neben anderen Kräften – zu dem Bestand und dem Funktionieren des säkularen Staates, ohne dazu verpflichtet werden zu können.⁵⁰ Das gegenwärtige Interesse des Staates an der Religion sollte deshalb nicht auf ein Kontrollinteresse verengt werden. So meint aber Friedrich Wilhelm Graf, die neue religiöse Vielfalt könne „für den demokratischen Verfassungsstaat zu einem Problem“ werden. „Mehr Verschiedenheit bedeutet potentiell mehr Konflikt. Die weiter wachsende Zahl miteinander konkurrierender religiöser Akteure macht es für den parlamentarisch-demokratischen Rechtsstaat jedenfalls nicht leichter, den schnell entzündlichen Mentalstoff ‚Gottesglaube‘ unter bürokratisch-rationaler Kontrolle zu halten.“⁵¹ Allerdings: Auch „Religion und Kirche leben von Voraussetzungen, die der Staat nicht garantieren kann.“⁵² Angesichts des Diskussionsbedarfs ist eine wechselseitige Gleichgültigkeit von Staat und Kirchen kaum denkbar. Möglich ist dagegen, dass das, was eine Seite der anderen sagen möchte, auf Ablehnung oder mangelndes Interesse stößt. Aber auch das ist zurzeit nicht erkennbar, es prägt jedenfalls nicht die religiöse Kultur, wenngleich es auffallend ist, dass es in den letzten Jahren der Staat ist, der religiöse Kräfte in die Pflicht nehmen will. Den Kruzifix-Beschluss des Jahres 1995 kritisierten die Kirchen als Versuch der Marginalisierung des Religiösen – die 2018 eingeführte Kruzifix-Pflicht bayerischer Behörden halten viele Vertreter der Kirchen dagegen für anmaßend und konfliktfördernd.

auch Religion nicht zur verbindlichen Grundlage des Zusammenlebens erklären. Die von ihm gewährleistete Religionsfreiheit garantiert nur die Möglichkeit von Religion und religiöser Lebendigkeit, nicht den Bestand von Religion.“  Vgl. Stüwe 2018, 242.  Friedrich Wilhelm Graf, „Einleitung“, in Politik und Religion, 7– 45, 18.  Christian Walter, „Das Böckenförde-Diktum und die Herausforderungen eines modernen Religionsverfassungsrechts“, in Religion-Recht-Republik. Studien zu Ernst-Wolfang Böckenförde, hg. von Hermann-Josef Große Kracht und Klaus Große Kracht, Paderborn: Schöningh 2014, 185 – 199, 188.

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3 Institutionalisierter Diskurs und inhaltliche Verbindungen als Grundlage für den Dialog zwischen Staat und Kirchen Ein sehr positivistischer und vielleicht noch nicht sehr aussagekräftiger Beleg für das beständige gegenseitige Zuhören und Diskutieren ist die eingespielte, vielleicht inzwischen verkrustete politische Praxis: Es gibt insbesondere zwischen den beiden großen Kirchen und dem Staat regelmäßigen Kontakt und Austausch. Im evangelischen Bereich sind es der Rat der EKD, insbesondere die Ratsvorsitzenden, zusammen mit den Bevollmächtigten des Rats in Berlin und Brüssel, die den ständigen Kontakt mit der staatlichen Seite halten.⁵³ Entsprechendes gibt es im Bereich der katholischen Kirche, hier über die Deutsche Bischofskonferenz und ihren Vorsitzenden, ferner über das Katholische Büro in Berlin und Kontaktstellen in den einzelnen Ländern. Diese Einrichtungen tragen dazu bei, die gesellschaftliche und damit auch politische Funktion der Religionsgemeinschaften mit Leben zu füllen. Wichtiger sind – tatsächlich, nicht normativ – die inhaltlichen Verbindungslinien. Sie reichen von der schon klassischen kirchlichen Inanspruchnahme eines Öffentlichkeitsauftrags mit Stellungnahmen zu gesellschaftlich wichtigen Fragen (Denkschriften der EKD, gemeinsame Stellungnahmen der Kirchen) über soziale (caritative/diakonische) Dienste und Einrichtungen bis hinein in das Schulwesen. Religionsgemeinschaften haben große Bedeutung in den Bereichen Erziehung, Soziales, Politik (weniger in den Bereichen Kunst, Wissenschaft und Wirtschaft). Das gegenwärtige gesellschaftliche Gesamtarrangement weist – rechtlich ermöglicht, nicht etwa vorgeschrieben – viele unausweichliche Überschneidungsbereiche von Religion und Politik auf. Hier zeigt sich auch in materieller Hinsicht, dass die Kirchen ihre oben theoretisch dargestellte Rolle in Gesellschaft und Politik mit konkreten Inhalten füllen. In gewisser Hinsicht als theologisches Gegenstück und mit anderer Betonung zum säkularen Diktum Böckenfördes stellt Papst Benedikt XVI. in der Enzyklika Caritas in Veritate fest, dass „die Zustimmung zu den Werten des Christentums ein nicht nur nützliches,

 Vgl. dazu Joachim Gaertner, „Das Wirken der Verbindungsstellen zwischen Staat und (evangelischer) Kirche als gelebtes Staatskirchenrecht“, in Entwicklungstendenzen des Staatskirchen- und Religionsverfassungsrechts, hg. von Thomas Holzner und Hannes Ludyga, Paderborn: Schöningh 2013, 405 – 431.

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sondern unverzichtbares Element für den Aufbau einer guten Gesellschaft“⁵⁴ sei. Dieses Selbstverständnis, das mit Sicherheit jedenfalls zum Teil auch auf andere Religionsgemeinschaften übertragbar ist, stellt die inhaltliche Basis für das religionsgemeinschaftliche Engagement in den genannten Bereichen dar und trägt insbesondere die kirchliche Einmischung in die politische und gesellschaftliche Debatte.⁵⁵ Indes: Die behauptete Unverzichtbarkeit des christlichen Fundaments akzeptiert der Staat aus seiner säkularen Sicht als eine Auffassung unter mehreren, ohne sie sich zu eigen zu machen. Er schützt elementare und rechtlich gesicherte Grundlagen des Zusammenlebens. Wie der Einzelne oder einzelne Gruppen sie herleiten, bleibt ihnen überlassen. Der grundrechtliche Schutz geht sogar noch weiter: „Die Bürger sind […] rechtlich auch nicht gehalten, die der Verfassung zugrunde liegenden Wertsetzungen persönlich zu teilen. Das Grundgesetz baut zwar auf der Erwartung auf, dass die Bürger die allgemeinen Werte der Verfassung akzeptieren und verwirklichen, erzwingt die Werteloyalität aber nicht.“⁵⁶

4 Nebeneinander von Präsenz und Gleichgültigkeit? Wie passt die starke öffentliche Präsenz der Religion und ihrer Institutionen zu dem Befund zunehmender religiöser Gleichgültigkeit in der Bevölkerung? Hierfür gibt es zwei naheliegende, vielleicht miteinander verbundene Erklärungen. Zum einen nehmen die Kirchen mit wachsender Intensität eine Art Stellvertreterrolle ein. Sie stehen weniger für die sperrige religiöse Botschaft, sondern gelten als Sachwalter kultureller und sozialer, kurz: immaterieller Werte und Wertvorstellungen in der Gesellschaft. Sie werden – gerade von nichtreligiösen Menschen – zunehmend „als für sie persönlich kaum relevante, gesellschaftlich aber segensreiche Institutionen im Sinne sowohl von Moralproduzenten als auch Sozialagenturen“⁵⁷ gesehen und als solche – schon aus utilitaristischen

 Benedikt XVI., Caritas in Veritate, Vatikanstadt: Libreria Editrice Vaticana 2009, Ziffer 4; vgl. dazu Stüwe 2018, 242.  Im Bereich der Schnittstelle zwischen Staat und Religion ist hier etwa an die eben erwähnte Debatte über den bayerischen ‚Kreuz-Erlass‘ zu denken: Die Kirchen reagierten mit zum Teil erheblicher Kritik; vgl. etwa Matthias Drobinski und Jakob Wetzel, „Kardinal Marx wirft Söder Spaltung vor“, Süddeutsche Zeitung vom 29.04. 2018, [https://t1p.de/mf59] (Zugriff: 14.06. 2018).  BVerfGE 124, 300 (320).  Eilfort 2018, 259.

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Gründen – angenommen und begrüßt. Der religionssoziologische Befund lautete schon im Jahr 1973: „Die gesellschaftlich-moralischen Funktionen der Kirche scheinen in der Bundesrepublik, weitgehend unabhängig von der kirchlichen Bindung, allgemein akzeptiert zu sein.“⁵⁸ Die Kirchen werden in dieser Rolle auch von denjenigen häufig nicht nur akzeptiert, sondern auch gewünscht, die mit der Kernbotschaft des Religiösen nichts anfangen können. Gerade die großen Kirchen verstehen sich darüber hinaus aber auch als Repräsentanten von Religion überhaupt – sie treten etwa für islamischen Religionsunterricht in der öffentlichen Schule ein. Sie sind, im Fall der evangelischen Kirche in Norddeutschland, bereit, einen überkonfessionellen Religionsunterricht sogar unter Einbeziehung des Islam zu erarbeiten und verantwortlich zu gestalten. Sie verteidigen religiöse Minderheiten. Diese Stellvertreterrolle ist nicht auf Deutschland beschränkt. In England stammt der Gedanke, Teile des islamischen Familienrechts im weltlichen Recht anzuerkennen, vom geistlichen Oberhaupt der anglikanischen Kirche. Zum anderen begeben sich die Kirchen zunehmend gerne in die beschriebene Rolle. Jedenfalls zum Teil werden religiöse Inhalte zugunsten der säkular angehauchten zivilgesellschaftlichen Funktion aufgegeben. Ob damit tatsächlich die Gefahr der Selbstsäkularisierung und neue Formen einer Staatsfrömmigkeit verbunden sind, muss von den Kirchen selbst beurteilt werden. Kritik ist weit verbreitet. Nach den Worten Christian Hillgrubers befinden sich die Kirchen auf einer „fast schon verzweifelten Suche nach Zustimmung“ und würden, indem sie sich in die beschriebene gesellschaftliche „Hilfsfunktion“ begäben, „auf ihre gesellschaftliche Nützlichkeit als ‚sozialer Kitt‘ reduziert“.⁵⁹ Ähnlich drastisch stellt Wolfgang Schäuble fest: „Manchmal aber entsteht der Eindruck, es gehe in der evangelischen Kirche primär um Politik, als seien politische Überzeugungen ein festeres Band als der gemeinsame Glaube.“⁶⁰ Eine wechselseitige Gleichgültigkeit von Staat und Kirche gibt es also sicher nicht und kann es nach dem Selbstverständnis sowohl der politischen als auch der religiösen Akteure nicht geben. „Die Politik wird das Religiöse und die Religion das Politische so schnell nicht los und doch gehen sie nicht ineinander auf.“⁶¹ Aus dem Diskurs entstehende „produktive Spannungen“⁶² zwischen Kir-

 Franz-Xaver Kaufmann, Theologie in soziologischer Sicht, Freiburg i. Br.: Herder 1973, 114; vgl. dazu auch Hillgruber 2018, 15.  Hillgruber 2018, 15.  Wolfgang Schäuble, Protestantismus und Politik, München: Claudius 2017, 17 f.  Hans Michael Heinig, „Staat und Gesellschaft – Religion und Politik“, in Religionsverfassungsrechtliche Spannungsfelder, hg. von Hans Michael Heinig und Christian Walter, Tübingen: Mohr Siebeck 2015, 35 – 44, 44.  Hillgruber 2018, 16.

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chen und Gesellschaft, aber auch zwischen Religion und Staat, sollten genutzt und nicht zu Gunsten einer bloßen Indifferenz der Gegenpole aufgegeben werden.

5 Flankierung durch rechtliche Gewährleistungen Welche Folgen ergeben sich daraus für das Religionsrecht, das in Deutschland zu wesentlichen Teilen aus der vergangenen Epoche volkskirchlicher Strukturen stammt? Zunächst: Das Religionsrecht hat die oben genannte „Bereitstellungsfunktion“⁶³. Es muss Freiheitsräume für religiöse und nichtreligiöse Geltungsansprüche und für religiöse Aktivitäten bereithalten. Es muss zugleich im Interesse der Vermeidung und Lösung von Konflikten, die aus der Entfaltung religiöser Vorstellungen entstehen, Freiheitsräume begrenzen. So meint etwa das Bundesverfassungsgericht, eine Lehrerin muslimischen Glaubens dürfe auch in der öffentlichen Schule mit Kopftuch unterrichten; dieser Freiheitsentfaltung sei aber eine Grenze zu setzen, wenn der Schulfrieden konkret gefährdet sei. Abweichende religiöse Vorstellungen anderer Lehrer, von Schülern und Eltern reichen dazu jedoch noch nicht – diese haben die Möglichkeit, ihre eigenen religiösen oder nicht-religiösen Vorstellungen ebenfalls zu artikulieren.⁶⁴ Offenheit gegenüber allen religiösen und nichtreligiösen Interessenten ist das Grundprinzip,⁶⁵ auf dessen Grundlage differenzierende Lösungen gefunden werden können. Dementsprechend wird das Grundrecht der Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nicht nur als Recht verstanden, positiv oder negativ einen Glauben zu bilden, zu haben, zu äußern und erkennbar religiöse Handlungen vorzunehmen – Religionsfreiheit ist noch mehr, nämlich ein religiöses Lebensführungsrecht im Sinne eines Rechts des Einzelnen, sein „gesamtes Verhalten an den Lehren [seines] Glaubens auszurichten und dieser Überzeugung gemäß zu handeln, also glaubensgeleitet zu leben“⁶⁶.

 Korioth 2009, 179 m.w. N.  BVerfGE 138, 296 (insbes. 335 ff.).  Lothar Häberle sieht hier – auch anhand des eben besprochenen Falles der kopftuchtragenden Lehrerin – eine Verbindung von Toleranz und Religionsfreiheit; vgl. Lothar Häberle, „Religionsfreiheit und Toleranz“, Der Staat, Jg. 57, 2018, 35 – 76.  BVerfGE 138, 296 (329) unter Verweis auf BVerfGE 108, 282 (297); 137, 273 (305).

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6 Entwicklungsoffenheit des Religionsrechts Im Übrigen ist das deutsche Staatskirchenrecht konflikterprobt. Es nahm seinen Anfang in den Zeiten der Glaubensspaltung und des Konfessionalismus. Von Beginn an hatte es die Aufgabe, zwischen unterschiedlichen religiösen Vorstellungen zu vermitteln und ihnen Entfaltungsmöglichkeiten zu geben. Das Religionsrecht des religiös-neutralen Staates hat in den letzten drei Jahrzehnten gezeigt, dass die überkommenen Problemlösungsmechanismen des Miteinander, Nebeneinander und Gegeneinander der beiden großen christlichen Kirchen durchaus auf eine multireligiöse Gesellschaft umgestellt und erweitert werden können.⁶⁷ Damit dies gelingt, müssen drei Fallstricke bei der Auslegung und Anwendung dieses Rechts vermieden werden. Erstens darf in das Religionsrecht nicht eine Privilegierung der christlichen Religion hineingelesen werden, etwa dadurch, dass die überwölbende Neutralität des Staates so verstanden wird, dass eine Kooperation von Staat und Religionsgemeinschaften bevorzugt oder ausschließlich bei solchen Religionsgemeinschaften in Frage komme, die dem Staat loyal gegenüber stehen, eine dezidierte Gemeinwohlorientierung erkennen lassen oder einem wie auch immer zu bestimmenden abendländischen Kulturvorbehalt entsprechen (Präferenzmodell oder Stufenmodell).⁶⁸ Zum Zweiten darf zunehmende religiöse Vielfalt nicht dazu führen, die weiten Entfaltungsbereiche der Religion zu begrenzen, etwa durch eine einschränkende Auslegung des Grundrechts der Religionsfreiheit.⁶⁹ Religion darf nicht als Bedrohung oder Gefahr der säkularen Gesellschaft eingeschätzt werden, die in den individuellen Raum der Privatheit versetzt werden muss, in der Öffentlichkeit aber nur eingeschränkt auftreten darf, um von vornherein Konflikte zu vermeiden (Privatisierungsmodell). In gleicher Weise abzulehnen sind Versuche, die offene und überwölbende Neutralität durch eine stärker in Richtung einer distanzierenden

 Vgl. Stefan Korioth, „Gesellschaftliche Modellbildungen und die Konstruktion religionsrechtlicher Ordnungsvorstellungen – Bemerkungen am Beispiel der Entwicklungen unter dem Grundgesetz“, in Religionsverfassungsrechtliche Spannungsfelder, hg. von Hans Michael Heinig und Christian Walter, Tübingen: Mohr Siebeck 2015, 283 – 295.  So Arnd Uhle, Staat – Kirche – Kultur, Berlin: Duncker & Humblot 2004, 158 – 169; Christian Hillgruber, „Der deutsche Kulturstaat und der muslimische Kulturimport“, JuristenZeitung, Bd. 48, 1999, 538 – 547, 538 ff.; vgl. dazu Korioth 2009, 184 f.; zur nicht vorauszusetzenden Staatsloyalität inkorporierter Religionsgemeinschaften BVerfGE 102, 370 (395 f.).  Zu möglichen Einschränkungen Hillgruber 2018, 12.

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Neutralität gehende Interpretation des Religionsrechts abzulösen.⁷⁰ Drittens muss klar sein, dass dieses Verständnis einer überwölbenden religionsrechtlichen Neutralität des Staates schon seiner Herkunft nach nicht neutral ist, sondern sich der Entwicklung der letzten Jahrhunderte verdankt, und dabei auch christlichen Anstößen. Es mag Religionen geben, die diese Grundhaltung deshalb als gerade nicht neutral einschätzen – sie müssen sie aber dennoch akzeptieren, um in Deutschland zu einer gemeinsamen Grundlage der gesellschaftlichen und religiösen Kräfte zu gelangen. Religiöse Vielfalt ist ein komplizierter gesellschaftlicher Kommunikationsprozess. Gelingt die Beibehaltung der Offenheit für plurale religiöse Interessen, dann hat das deutsche Staatskirchenrecht auch Zukunft. Beständige Voraussetzung ist aber, dass von seinen Angeboten und Einrichtungen Gebrauch gemacht wird. Ein religionsfreundliches Recht stirbt in einer religionsgleichgültigen Gesellschaft.⁷¹ Konfessioneller Religionsunterricht etwa ergibt nur Sinn, wenn diese Entfaltungsmöglichkeit auch auf Nachfrage stößt.

7 Fortwährender Dialog statt wechselseitiger Indifferenz Das Recht eines freiheitlichen Verfassungsstaates hat weder distinkte religiöse oder weltanschauliche Wertvorstellungen durchzusetzen noch kann es sich zur Begründung seiner Geltung auf theologische und religiöse Argumente berufen. Es muß vielmehr auf Gründen und Erwägungen beruhen, die allgemein akzeptiert werden können, ohne die weltanschaulichen oder religiösen Prämissen einer insofern notwendig partikularen Gruppenüberzeugung teilen zu müssen.⁷²

Aber auch das führt schließlich nicht zu einer wechselseitigen Erwartungslosigkeit von religiösen Kräften und dem Staat, sondern ermöglicht gerade den Dialog. Ob religiöse Argumente weiterhin in die gesellschaftliche Diskussion eingebracht und dort gehört werden, muss sich zeigen. Auch das freiheitliche, neutrale und religionsfreundliche Staatskirchenrecht ist ein Plebiszit, das sich jeden Tag wiederholt. Religion ist nicht in der Pflicht, dem Staat Wertfundamente zu liefern,

 In diese Richtung BVerfGE 108, 282 (310) – Kopftuch I. Hier meint das Gericht, dass es etwa im Bereich der Schule gute Gründe dafür geben könne, dass der Gesetzgeber „der staatlichen Neutralität im schulischen Bereich eine striktere und mehr als bisher distanzierende Bedeutung“ zumesse. In der Sache hat das Gericht dies später wieder zurückgenommen.  Ähnlich, jedoch stark einseitig auf das Christentum fokussiert, Hillgruber 2018, 17.  Dreier 2013, 26 f.

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der Staat kann und darf umgekehrt Religion nicht garantieren. Insofern gibt es kein (vergangenes) Bonner Staatskirchenrecht oder ein Berliner Religionsverfassungsrecht, sondern ein Verhältnis des Staates zur religiösen Freiheit, dessen normative Ordnung man Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht nennen kann.

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Vom Interesse des Staates an den Kirchen Warum Berlin religionsverfassungsrechtlich nicht Bonn ist Das Religionsverfassungsrecht des Grundgesetzes beschreibt das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften als das einer freundlichen Trennung, die auf Kooperation angelegt ist. Statt laizistisch gleichgültig präsentierte sich der Staat in der Bonner Republik – vor allem in der Rechtsprechung – nicht nur als für Religion aufgeschlossen, sondern überdies als an institutionalisierter Religion interessiert, die im Grundgesetz noch einen erkennbar kirchlichen Zuschnitt hat. Von staatlicher Indifferenz gegenüber den Religionsgemeinschaften konnte nicht die Rede sein. Vielmehr waren das Verfassungsrecht und seine Ausdeutung in der Rechtsprechung der alten Bundesrepublik vom Interesse des Staates an den Kirchen getragen. Dies ist aus heutiger Sicht erklärungsbedürftig, denn es impliziert, der Staat als Garant religiöser Freiheit habe etwas von den Religionsgemeinschaften gebraucht oder gewollt. Und dies erscheint grundlegend diskussionswürdig. Schließlich muss sich ein religiös neutraler und säkularer Staat stets Rechenschaft darüber geben, ob und wie er mit den Religionsgemeinschaften kooperieren kann, ohne den Neutralitätsgrundsatz zu verletzen. Wiewohl also hiermit ein kritischer Punkt berührt ist, meine ich, dass man das Staat-Kirche-Verhältnis der Bonner Republik nur vor dem Hintergrund des staatlichen Interesses an institutionalisierter Religion verstehen kann, mit heute teils dramatischen Folgen. Meiner These, auf die ich im Fazit noch einmal resümierend zurückkomme (5.), will ich in vier Schritten nachgehen. Ich will dartun, dass der Grundgesetzgeber bei der Konzeption des Religionsverfassungsrechts von der Voraussetzung ausging, in den Religionsgemeinschaften – konkret den Kirchen – zentrale Produzentinnen eines bürgerlichen Grundkonsenses zu finden (1.). Damit die Religionsgemeinschaften ihre Konsensarbeit bewerkstelligen konnten, eröffnete ihnen der Staat durch die religionsverfassungsrechtlichen Garantien einen breiten Ermöglichungsraum (2.). Dieser Raum ist – vor allem in der Ausdeutung durch die Gerichte – recht groß geraten. Die umfängliche Autonomie und das weitreichende Selbstbestimmungsrecht religiöser Institutionen stellt ein deutsches Sondergut dar, das sich nur vor dem Hintergrund ausgeprägter staatlicher Erwartungen gegenüber den Religionsgemeinschaften erklären lässt. Dies erzeugt heute jedoch Erklärungsnöte. Denn die Erwartungen, die der Staat mit institutionalisierter Religion verband, werden heute nicht beziehungsweise nicht mehr durchgängig eingelöst (3.). Die gesellschaftliche Bedeutung der Religionsgemeinschaften schwindet. Auch wenn die Säkularisierungsthese hinkt und https://doi.org/10.1515/9783110623406-012

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ihr vielfach widersprochen wird,¹ so ist der Rückgang institutioneller Religiosität kaum zu bestreiten. Diese Beobachtung erzeugt zunehmende Zweifel daran, ob die Religionsgemeinschaften die Erwartungen zu erfüllen imstande sind, die der Staat mit seiner traditionellen Interpretation des Religionsverfassungsrechts verband. Dies motiviert zwar keine Veränderung der religionsverfassungsrechtlichen Normtexte, wohl aber einen Wandel in ihrer Auslegung (4.). Das gegenwärtige Abschmelzen des Autonomie- und Selbstbestimmungsumfangs der Religionsgemeinschaften durch die staatlichen Gerichte ist eine Folge davon.

1 Religiöser Grundkonsens Dass der Staat den Kirchen durch das Religionsverfassungsrecht einen großen Freiraum garantierte, in dem sie sich umfänglich entfalten konnten, geschah nicht zuletzt aus einem Impuls heraus, den Ernst-Wolfgang Böckenförde in den 1960er Jahren in den berühmten Satz von den moralischen Voraussetzungen freiheitlich‐säkularer Staatlichkeit fasste.² Man versprach sich von den Kirchen, zu denen damals noch der überwiegende Teil der Bevölkerung gehörte, einen Beitrag zum Wertfundament der Gesellschaft, als dessen bedürftig sich der Staat gerade in der Nachkriegszeit erfuhr. Diese Versprechung findet im Grundgesetz, vor allem aber in der Grundgesetzinterpretation der staatlichen Gerichte, ihren Ausdruck. Hier manifestiert sich die staatliche Erwartung, dass die Religionsgemeinschaften maßgeblich und dauerhaft an der Erzeugung der böckenfördeschen Voraussetzungen freiheitlicher Staatlichkeit mitwirken würden. Nur von dieser Erwartung her kann man den Freiheitsraum verstehen, den Grundgesetz und Gerichte den Religionsgemeinschaften eröffneten. Der Umfang an institutioneller Autonomie und Selbstbestimmung, den das deutsche Religionsverfassungsrecht den Religionsgemeinschaften garantiert und der von den Gerichten traditionell extensiv interpretiert wurde, erklärt sich staatlicherseits nur vor dem Hintergrund des Selbstverständnisses, dass es – zumindest auch – ein religiöser Konsens sei, der die Gesellschaft trägt, und von der Erwartung her, dass dies so bleiben würde. Die Gewährleistung ausgedehnter Freiheiten mit der Erfüllung staatlicher Erwartungen zu verbinden, zeugt von einer bestimmten Vorstellung, was Religionsgemeinschaften sind und wie sie sich zum Staat verhalten. Sie verweist auf  Vgl. u. a. Hans Joas, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, Berlin: Suhrkamp 2017.  Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“ (1967), in: Ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976, 42– 64, 60.

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ein Staat-Kirche-Verhältnis, das von der wechselseitigen Erwartung geprägt war, ein Entgegenkommen des Staates in der Garantie von Autonomie und Selbstbestimmung würde durch einen kirchlichen Beitrag zur Stabilisierung von Staatlichkeit honoriert werden. Diese Vorstellung ist aus systematischer Sicht mit der Ratio eines Religionsverfassungsrechts nicht leicht vereinbar. Denn anders als beispielsweise das Konkordatsrecht bildet das Verfassungsrecht ja nicht einen Kräfteausgleich zweier politisch gleichgeordneter Mächte ab, sondern nimmt den Staat als Grundrechtsverpflichteten wahr, der den Grundrechtsträgerinnen und -trägern durch die Gewährleistung von Rechten Freiheiten eröffnet. Als Grundrechtsberechtigte sind die Religionsgemeinschaften keine Partnerinnen des Staates auf Augenhöhe, sondern hängen in ihrer Betätigung von den staatlichen Gewährleistungen korporativer Autonomie und Selbstbestimmung ab. Das Verhältnis ist ein asymmetrisches, bei dem der Staat den Religionsgemeinschaften Möglichkeiten aufzeigt, die diese wahrnehmen – oder auch nicht. Gleichwohl meine ich zeigen zu können, dass sich der Staat der Nachkriegszeit bei der Ausgestaltung der korporativen Religionsfreiheit vom Gedanken der Wechselseitigkeit und Augenhöhe hat leiten lassen. Im Hintergrund steht ein Staat-Kirche-Verständnis gemäß dem Modell zweier societates perfectae, wie es die katholische Kirche seit dem 19. Jahrhundert vertrat. Die Grundzüge dieses Staats- und Kirchenverständnisses legte Leo XIII. in der Enzyklika Immortale Dei über die christliche Staatsordnung von 1885 nieder. Zur Erzeugung sozialer Ordnung seien zwei Kräfte notwendig, die staatliche und die kirchliche Gewalt. Für die weltlichen Angelegenheiten sei der Staat, für die geistlichen die Kirche zuständig.³ Wiewohl diese Lehre eine primär katholische Position darstellt und angesichts des schwindenden Einflusses der Kirche in der politischen Sphäre aus der Defensive heraus entwickelt wurde, blieb sie doch nicht folgenlos und wurde von deutschen Rechtswissenschaftlern zur Begründung der sich ergänzenden staatlichen und kirchlichen Kompetenzen rezipiert.⁴ Während man staatlicherseits keine durchgängige Aufteilung der Gesellschaft in staatliche und kirchliche Sphären akzeptierte, verfing doch das Argument, der Staat müsse den Kirchen die Sorge um die geistlichen Belange der Gesellschaft überlassen. Immerhin kann der neutrale, säkulare Staat in dieser Hinsicht nicht selbst tätig werden. Ein Staat, dem es (auch) um das geistliche Wohl der Bürgerinnen und Bürger geht, muss daher den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften umfängliche Wirk Vgl. Leo XIII., „Enzyklika Immortale Dei über die christliche Staatsordnung“, 01.11.1885, Acta Sanctae Sedis, Bd. 18, 1885, 161– 180, bes. 165 f.  Vgl. u. a. Alexander Hollerbach, Verträge zwischen Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M.: Klostermann 1965, 92– 96.

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möglichkeiten einräumen. Dass hierdurch nicht nur kirchliche, sondern auch staatliche Interessen berührt sind, ist dann plausibel, wenn man von einer staatlichen Angewiesenheit auf eine kirchlich erzeugte Moral ausgeht. Eine eigenständige und -mächtige Betätigung der Kirchen in der Gesellschaft ist folglich dann im Sinn des Staates, wenn die Gesellschaft andernfalls an einem geistlichen Defizit leiden müsste, das auch den Staat des Wertfundaments beraubte, auf das er sich stützt. Dass die Annahme, der Grundgesetzgeber habe sich von einem Staat-KircheVerhältnismodell leiten lassen, das Staat und Kirche als wechselseitig aneinander interessiert sieht, auch für das 20. Jahrhundert nicht unplausibel ist, zeigen diverse Beobachtungen. Ein Beispiel bietet bereits die Terminologie, konkret die Rede vom Staatskirchenrecht. Der Rechtswissenschaftler Martin Morlok weist nachvollziehbar darauf hin, dass dieser Begriff in seiner ranggleichen Aneinanderreihung von Staat und Kirche eine Gleichstellung beider Entitäten impliziere: „Beim ‚Staatskirchenrecht‘ geht es – jedenfalls historisch – um die rechtliche Gestaltung des Verhältnisses zwischen Staat und christlichen Großverbänden vom Typus Kirche.“⁵ Es gehe um „die Ordnung des Verhältnisses von zwei Großinstitutionen“⁶. Dass dieser Eindruck nicht fehlgeht, stützen Überlegungen von Staatsrechtlern in der Nachkriegszeit, wie sie sich unter anderem bei Rudolf Smend finden. Dieser legte in seinem vielbesprochenen Beitrag Staat und Kirche nach dem Bonner Grundgesetz dar, dass das deutsche Staatskirchenrecht mehrere Wachstumsringe aufweise. Eine Schicht, aus der nach Smend die Regelungen zu Vermögens- und Finanzfragen zwischen Staat und Kirche, die Staatsdotationen und die staatliche Beteiligung an der Besetzung kirchlicher Ämter stammten, bringe zwei etwa gleich starke Partner in ein ausgewogenes Rechtsverhältnis. Smend schreibt: Staat und Kirche ordnen ihre Beziehungen sozusagen wie zwei Grundstückseigentümer ihre nachbarlichen Verhältnisse – als zwei einigermaßen kommensurable, in klaren Beziehungen zueinander lebende Mächte. Sie mögen diese Beziehungen eng gestalten, sie mögen sie lockern bis zur Trennung von Staat und Kirche – es bleibt eine Auseinandersetzung auf

 Martin Morlok, „Die korporative Religionsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht nach § 140 GG/Art. 137 Abs. 3 WRV einschließlich ihrer Schranken“, in Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht? Ein begriffspolitischer Grundsatzstreit, hg. von Hans Michael Heinig und Christian Walter, Tübingen: Mohr Siebeck 2007, 185 – 210, 187.  Ebd., 186 f.

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einem klar übersehbaren Felde über klar übersehbare einzelne kommensurable Gegenstände.⁷

Zwar bildet die Ordnung ‚nachbarlicher Verhältnisse‘ nur eine Schicht des Staatskirchenrechts ab, jedoch keine von geringem Einfluss. Es ist daher keineswegs unwahrscheinlich, dass sich der Grundgesetzgeber und die Gerichte bei der Ausgestaltung der korporativen Seite des Religionsverfassungsrechts von der Idee der Wechselseitigkeit haben leiten lassen. Hierauf deutet auch hin, dass das Verhältnis des Staates zu den Religionsgemeinschaften bis in die Gegenwart hinein vielfach als das einer partnerschaftlichen Beziehung interpretiert wird – und dies vor allem aufgrund eines besonderen Genres der Staat-Kirche-Verhältnisgestaltung, des Staatskirchenvertragsrechts. Im Handbuch des Staatskirchenrechts beispielsweise preist Alexander Hollerbach den Vertrag als das vorzugswürdige Mittel der Verhältnisgestaltung zwischen Staat und Kirche. Die Wahl dieses Mittels sei nicht allein pragmatisch, sondern „der Wirklichkeit des Verhältnisses von Staat und Kirche angemessener“⁸ als andere rechtliche Mittel der Verhältnisgestaltung, meint Hollerbach. Denn das Vertragsmodell berücksichtige in adäquater Weise, dass die Kirchen autonome und eigenberechtigte Institutionen seien: Der Staat anerkennt nämlich in der Verfassung die eigenständige Existenz der Kirchen und Religionsgemeinschaften aus eigenem Recht, er anerkennt das hohe Gut der Religions- und Kirchenfreiheit und damit […] seine eigene Selbstbegrenzung als weltliche Ordnungsmacht. […] Es ist mithin der Kompetenzmangel des neutralen Staates in religiös-weltanschaulicher Hinsicht, der für das Vertragsstaatskirchenrecht spricht.⁹

Die Garantie korporativer Religionsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht liest Hollerbach in diesem Sinne nicht als staatliche Gewährung eines kirchlichen Betätigungsraums, sondern als Gewährleistung eines vorfindlichen Rechts. In ihr drücke sich nicht nur die Anerkennung aus, dass die Kirchen und Religionsgemeinschaften dem Staat vorgängige Entitäten seien, sondern auch, dass ihre Rechtsgestalt eine vom Staat unabhängige Existenz beanspruchen könne. Indem Hollerbach die Garantie religionsgemeinschaftlicher Selbstbestimmung als staatliches Eingeständnis der eigenen Grenzen versteht, die Gesellschaft in reli-

 Rudolf Smend, „Staat und Kirche nach dem Bonner Grundgesetz“, Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, Bd. 1, 1951, 4– 14, 6.  Alexander Hollerbach, „Die vertragsrechtlichen Grundlagen des Staatskirchenrechts“, in Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, hg. von Joseph Listl und Dietrich Pirson, 2. Aufl., Berlin: Duncker & Humblot 1994, 253 – 287, 270.  Ebd.

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giös-weltanschaulicher Hinsicht zu organisieren, ordnet er die religionsgemeinschaftliche Betätigung in diesem Feld weniger der staatlichen Kompetenz unter als ihr vielmehr bei. Staat und Religionsgemeinschaften erscheinen so als Partner in der Gestaltung der Gesellschaft, ganz so, wie Leo XIII. dies in der Enzyklika Immortale Dei avisierte. Hollerbach notiert: „Solange die Kirchen wichtige Faktoren in der Wirklichkeit des politischen Gemeinwesens sind und deshalb die Notwendigkeit umfassender Regelungen besteht, müssen für die öffentliche Gesamtordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche beide Partner zu ihrem Teil Verantwortung tragen, im Verhältnis zueinander wie zum Staatsbürger.“¹⁰ Dieses Motiv der Partnerschaft evoziert den Gedanken der Augenhöhe – und konfligiert daher mit der asymmetrischen Grundstruktur des Religionsverfassungsrechts. Dass Kirche und Staat keine gleichgewichtigen Partner sind, wird in diesem Zugang allein daran deutlich, dass die Kirche ihren Ort innerhalb der staatlichen Ordnung hat. Hollerbach spricht von der Kirche als einem Verband, „der innerhalb der staatlich-territorialen Ordnung seine Wirksamkeit entfaltet, aber grundsätzlich nach eigenem, unabgeleitetem Recht lebt“¹¹. Es erfolgt also eine Einordnung der Kirche in den staatlichen Rechtsraum. Dabei ist aber kaum zu übersehen, dass ihr eigenrechtsmächtig geordnetes Eigenleben innerhalb der staatlichen Rechtsordnung Züge eines ‚Staates im Staate‘ trägt. Dieses Staat-Kirche-Denken könnte man als überholt abtun, wenn es das wäre. Es zeigen allerdings auch gegenwärtige Stimmen in der Debatte an, dass das Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften auch heute noch vielfach als das einer partnerschaftlichen Beziehung interpretiert wird. Erst jüngst betonte der Rechtswissenschaftler Gunnar Folke Schuppert, das Mittel zur Ausgestaltung des Staat-Religionsgemeinschaften-Verhältnisses sei der Vertrag.¹² Schuppert versteht „Staat und institutionell verfasste Religionsgemeinschaften als Governancekollektive aus je eigener Legitimation und Funktionslogik“¹³. Daher „liegt es in der Tat nahe, ihr Verhältnis zueinander kontraktuell zu ordnen“¹⁴. Die Religionsverfassung sei eine „Koexistenzordnung“ von Staat und Religionsgemeinschaften. Koexistenzordnungen seien „Aushandlungsordnungen“. Der Staat und die Religionsgemeinschaften begegneten sich als Verhandlungs- und Vertragspartner.

 Ebd.  Ebd.  Vgl. Gunnar Folke Schuppert, Governance of Diversity. Zum Umgang mit kultureller und religiöser Pluralität in säkularen Gesellschaften, Frankfurt a. M./New York: Campus 2017, 236.  Ebd., 238 f.  Ebd., 239 (Herv. i.O.). Die folgenden Zitate ebd., 228; 238; 244.

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Ferner seien Koexistenzordnungen Anerkennungsordnungen. Hieraus folge, „dass eine solche Religionsverfassung notwendig als eine gegenseitige Anerkennungsordnung verstanden werden muss“. Schuppert geht somit von der Notwendigkeit einer reziproken Anerkennung von Staat und Religionsgemeinschaften aus.¹⁵ Während der Staat den Religionsgemeinschaften Anerkennung zolle, indem er ihre Selbstbestimmung anerkenne, sei es Anerkennungsleistung der Religionsgemeinschaften, die staatliche Verfassung und den staatlichen Primat in der Konfliktlösung, ferner andere Religionsgemeinschaften als existenzberechtigt zu akzeptieren. Während dieses Bild einer friedlichen Koexistenz dank wechselseitiger Akzeptanz traditionell denkende Staatsrechtslehrerinnen und -lehrer, die vom Paradigma des staatlichen Gewaltmonopols und der ‚Einheit der Rechtsordnung‘ her argumentieren, in Unruhe versetzen wird und man sich durchaus fragen darf, ob es der Realität institutioneller Religiosität in Deutschland entspricht, ist doch zur Kenntnis zu nehmen, dass solche und ähnliche Überlegungen aktuell nicht sonderlich aus der Reihe fallen. Denn es stellt sich gegenwärtig angesichts von Globalisierungs- wie Digitalisierungsphänomenen die Frage nach der zukünftigen Rolle des Staates und der staatlichen Souveränität. So ist weitgehend unstreitig, dass Staatlichkeit und Souveränität zu den Konzepten gehören, deren Bedeutung zukünftig neu zu bewerten sein wird. In einer zunehmend globalen Welt, so steht zu vermuten, tritt vielfach Governance an die Stelle von Government. Mit dem Steuerungsmodell Governance geht aber einher, bestimmte gesellschaftliche Felder der Selbstregulierung nichtstaatlicher Kräfte zu überlassen. Zu denken ist auch an die Selbstregulierung durch Religionsgemeinschaften.¹⁶ Das soll vorliegend nicht näher besprochen werden. Der Hinweis sei aber gestattet, denn er plausibilisiert, warum die Idee, Staat und Religionsgemeinschaften als partnerschaftlich verbunden zu verstehen, auch heute nicht so abwegig ist, wie es die asymmetrische Grundstruktur des Religionsverfassungsrechts insinuiert.

2 Institutionelle Aufblähung Für das Religionsverfassungsrecht der Bonner Republik hatte das Modell eines partnerschaftlichen Verhältnisses von Staat und Religionsgemeinschaften zur Folge, dass die korporative Dimension religiöser Freiheitsrechte eine extensive  Vgl. ebd., 255.  Vgl. u. a. Fabian Wittreck, „Religiöse Paralleljustiz im Rechtsstaat?“, in Ordnungen religiöser Pluralität. Wirklichkeit – Wahrnehmung – Gestaltung, hg. von Ulrich Willems, Astrid Reuter und Daniel Gerster, Frankfurt a. M./New York: Campus 2016, 439 – 493.

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Ausdeutung erfuhr. Vor allem die in Art. 140 GG i.V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV normierte Garantie religionsgemeinschaftlicher Selbstbestimmung wurde durch die Interpretation des Bundesverfassungsgerichts auf Grundrechteniveau angehoben. Dies zeigt sich in mehrfacher Hinsicht. Ein Beispiel bietet die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde bei Verletzung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts. Obwohl formal kein Grundrecht oder grundrechtsgleiches Recht, wurde den Religionsgemeinschaften mit der Vermutung, dass eine Verletzung ihres Selbstbestimmungsrechts zugleich eine Verletzung des Art. 4 GG darstellen könnte, der Weg zur Verfassungsbeschwerde in allen potenziell ihrer Selbstbestimmung unterfallenden Angelegenheiten eröffnet. Dies wurde zwar differenziert begründet: Eine Verfassungsbeschwerde bei einer Verletzung des Selbstbestimmungsrechts sei nur in der Hinsicht zulässig, dass zugleich eine Verletzung der Religionsfreiheit möglich sei.¹⁷ Bei der dann zulässigen Verfassungsbeschwerde, so hielt das Bundesverfassungsgericht fest, muss aber nicht mehr eigens materiell-rechtlich durchgeprüft werden, ob eine Verletzung des Art. 4 GG tatsächlich vorliegt: Das Gericht „kann die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit des angegriffenen Urteils vielmehr unter jedem in Betracht kommenden verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt prüfen“¹⁸. So kann auch ausschließlich überprüft werden, ob ein Recht aus Art. 140 GG i.V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV verletzt wurde. Die Grundgesetzinterpretation der Bonner Republik ging also überwiegend von einem Ineinandergreifen von Selbstbestimmungsrecht und Religionsfreiheit aus. Hierdurch verfugte sie beide Normenkomplexe miteinander.¹⁹ Diese Verbindung ist in ihrer Selbstverständlichkeit durchaus fragwürdig. Immerhin verbindet sich ein Grundrecht mit einem subjektiven Recht mit Verfassungsrang, ein vorbehaltslos (wenngleich nicht schrankenlos) gewährleistetes Recht mit einem explizit beschränkten Recht, ein individuell formuliertes (wenn auch kollektiv und korporativ gedeutetes) mit einem korporativen Recht. Die Asymmetrien sind augenfällig. Man hat sie jedoch nicht selten übergangen. Dies hat in der Auslegungsgeschichte des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts phasenweise dazu geführt, dass die Garantie aus Art. 140 GG i.V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV in problematischer Weise aufgebläht wurde. Im Feld des kirchlichen Arbeitsrechts zum Beispiel kann man anhand der Regelungen zur Mitbestimmung in kirchlichen Einrichtungen aufzeigen, wie das wechselseitige Interesse von Staat und Kirche aneinander unter den Bedingungen der Bonner Republik Verfassungsinterpretationen beförderte, die aus heutiger  Vgl. wegweisend den Beschluss des Zweiten Senats, 21.09.1976, Az. 2 BvR 350/75, BVerfGE 42, 312, hier: 322 f.  Ebd., BVerfGE 42, 325 – 326.  Vgl. zur Verfugung Morlok 2007, 201 f.

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Sicht bedenklich sind. So wurde über Jahre die Auffassung vertreten, die Freistellung der Kirchen von der Geltung des staatlichen Mitbestimmungsrechts sei verfassungsrechtlich geboten.²⁰ Die umfänglichen Freistellungsklauseln in §§ 118 BetrVG und 112 BPersVG (und in den jeweiligen Personalvertretungsgesetzen der Länder) sind konkrete Folgen dieses Verständnisses. Eine staatlich angeordnete Mitbestimmung komme in kirchlichen Einrichtungen nicht in Frage, weil dies das kirchliche Selbstbestimmungsrecht – und damit zugleich die korporative Garantie der Religionsfreiheit – verletze. Die Mitbestimmungsmaterie sei eine eigene Angelegenheit der Kirchen, die diese in Wahrnehmung ihres verfassungsmäßigen Rechts selbst regeln können müssten. Diese Argumentation ist nicht unwidersprochen geblieben. Immerhin drängt sich der Eindruck auf, dass man die vollständige Freistellung der Kirchen von der Geltung des staatlichen Mitbestimmungsrechts eher als Zugeständnis denn als verfassungsrechtlich geboten zu verstehen habe, hätte doch schon eine partielle Freistellung der Kirchen der religiösen Eigenart kirchlicher Beschäftigungsverhältnisse ausreichend Rechnung getragen. Pauschal den Mitbestimmungsanspruch der kirchlichen Beschäftigten gegenüber dem kirchlichen Anliegen auf Selbstbestimmung fallen zu lassen, erscheint als eine Interpretation der Verfassungssituation, die einseitig stark die Interessen der Kirchen zulasten der Mitarbeiterinteressen berücksichtigt. Eine Lösung dieses Problems erfolgte weniger verfassungssystematisch elegant als vielmehr pragmatisch. Man fand sie darin, dass die Freistellung der Kirchen von den staatlichen Mitbestimmungsgesetzen als ‚Freistellung mit Auflage‘ interpretiert wurde. Auch wenn man offenkundig zweifelte, ob die durchgängige Freistellung verfassungsrechtlich gedeckt sei, wurde der Überschuss an staatlichem Zugeständnis als in der Sache vertretbar ausgewiesen, insoweit die Kirchen selbst adäquate Ersatzregelungen, nämlich ein funktionsfähiges kircheneigenes Mitarbeitervertretungsrecht, erzeugten. Dietrich Pirson hält beispielsweise im Handbuch des Staatskirchenrechts in Bezug auf die Freistellungsklauseln im Personalvertretungsrecht fest: „Man vertraut darauf, daß die sozialen Belange der Amtsträger durch die Existenz entsprechender kirchlicher Vorschriften und durch die bisherige kirchliche Praxis gewahrt sind.“²¹ Reinhard Richardi notiert in ähnlicher Weise:

 Vgl. u. a. Wolfgang Rüfner, „Das kirchlich rezipierte und adaptierte Dienst- und Arbeitsrecht der übrigen kirchlichen Bediensteten“, in Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 878 – 900, 880; Reinhard Richardi, „Das kollektive kirchliche Dienst- und Arbeitsrecht“, in: Ebd., 927– 958, 934 u. 947.  Dietrich Pirson, „Das kircheneigene Dienstrecht der Geistlichen und Kirchenbeamten“, in Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 845 – 875, 859.

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Die Verfassungsgarantie des Selbstbestimmungsrechts bezweckt […] nicht die Schaffung eines rechtsfreien Raumes, sondern die Bildung von Recht entsprechend dem Bekenntnis der Kirche. […] Darin liegt keine die Kirchen bindende Pflicht. Aber der Staat bringt eine Erwartung zum Ausdruck, damit die Kirchen sich durch eine kircheneigene Regelung der Betriebsverfassung ihrer Einrichtungen in die sozialstaatliche Ordnung der Arbeitsverfassung einfügen.²²

Richardis differenzierte Position, die Kirchen seien zur Schaffung eines eigenen Mitarbeitervertretungsrechts nicht verpflichtet, ist zutreffend – und doch nur die halbe Geschichte. Rechtlich sind die Kirchen nicht dazu angehalten, darauf verzichten können sie ohne Nachteile jedoch genauso wenig. Denn während der Staat die Kirchen nicht zu einer entsprechenden Rechtserzeugung zwingen kann, so kann – ja muss – er doch die Freistellung davon abhängig machen, dass das Schutzdefizit, das andernfalls gegenüber den kirchlichen Beschäftigten bestünde, durch die Kirchen selbst gefüllt wird. Statt einer Rechtspflicht wirkt gegenüber den Kirchen die politische Erwartung, dass dies geschieht. Hieraus kann man einiges über den Zuschnitt des Bonner Staat-Kirche-Verhältnisses lernen. Es beruht auf der Stabilität wechselseitiger Erwartungen und der Zuverlässigkeit ihrer Erfüllung. Es ist erkennbar als Koexistenzordnung konzipiert. Es setzt auf einen Staat, der den Religionsgemeinschaften maximal entgegenkommt, weil er von ihnen konstruktive Zusammenarbeit erwarten kann, und auf Religionsgemeinschaften, die dieser Erwartung entsprechen, weil sie wissen, dass ihr Freiraum hiervon abhängt. Dieses System ist auf Harmonie angewiesen. Es erweist sich nur im Gleichklang von Staat und Religionsgemeinschaften als funktionstüchtig. Auch dies kann man am Beispiel des kirchlichen Arbeitsrechts zeigen. Fast harmonietrunken muten manche Beiträge an, in denen die Autorinnen und Autoren die Einigkeit von Staat und Kirche und ihre arbeitsrechtlich gleichgelagerten Interessen beschwören. Bei Wolfgang Rüfner etwa liest man in Bezug auf die kirchliche Ausgestaltung des individuellen Arbeitsrechts: Zwischen den staatlichen und den kirchlichen Vorstellungen von individuellem Arbeitsrecht besteht kein prinzipieller Gegensatz. Insbesondere hat die Kirche keine Einwendungen gegen den sozialen Schutz der Arbeitnehmer. Sie ist sogar geneigt, ihre Arbeitnehmer prinzipiell ‚sozialer‘, d. h. günstiger zu behandeln als andere Arbeitgeber. Der Spruch ‚Unter dem Krummstab ist gut leben‘ setzt sich in den kirchlichen Arbeitsverhältnissen der Gegenwart fort.²³

 Richardi 1995, 947 f.  Rüfner 1995, 884.

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Jenseits der Frage, ob die vorgenannten Beobachtungen die soziale Realität kirchlicher Beschäftigter ausnahmslos zutreffend abbilden, verdeutlichen sie, dass das Staat-Kirche-Verhältnis der Bonner Republik, das auf maximalen Freiraum der Religionsgemeinschaften setzte, nur dadurch denkbar wurde, dass sich die Religionsgemeinschaften die staatlichen Interessen in umfangreicher Weise zu eigen machten.

3 Erklärungsnöte Die Bereitschaft der Kirchen, sich staatlichen Interessen konform zu verhalten, wurde in der Bonner Republik staatlicherseits dadurch honoriert, dass der Staat kirchliche Ansprüche weitgehend als verfassungsrechtlich gedeckt auswies. Man neigte gesetzgeberisch und höchstrichterlich dazu, die einschlägigen religionsrechtlichen Artikel im Sinne der Kirchen auszudeuten, da dies für alle Beteiligten vorteilhaft erschien. Doch was geschieht, wenn die Vorteile dieser Praxis nicht mehr offenkundig auf der Hand liegen, wenn der Staat von seinem Entgegenkommen nicht mehr durchgängig profitiert? Für diese Unwucht in einer reziproken Interessenstruktur kommen unterschiedliche Gründe in Frage. Zum einen erlebt die institutionelle Religiosität einen Verlust ihrer gesellschaftlichen Bedeutung. Zum anderen ist keineswegs mehr ausgemacht, dass das Verhältnis zwischen dem Staat und den Religionsgemeinschaften von Harmonie geprägt ist. Ob Religionsgemeinschaften dauerhaft zu den Produzentinnen der Voraussetzungen gehören werden, auf die der Staat angewiesen ist und die sich einer staatlichen Selbstherstellung entziehen, wird heute kritisch diskutiert. Während das Böckenförde-Diktum in den kirchlichen und kirchennahen Debatten emphatisch beschworen und auf den gesellschaftlichen Beitrag der Kirchen zurückbezogen wird, steht zugleich im Raum, dass das Theorem nicht notwendig auf die Leistung der Kirchen und Religionsgemeinschaften abstellt – wie ja auch Böckenförde selbst betont.²⁴ Während weitgehend unstreitig ist, dass der Staat von Voraussetzungen lebt, die andere gewährleisten, gilt doch nicht mehr unhinterfragt, dass dies religiös erzeugte Voraussetzungen, ja mehr noch, von den Religionsgemeinschaften geschaffene Voraussetzungen sein müssen oder zukünftig überhaupt sein können. Der Politikwissenschaftler Klaus von Beyme hat 2015 auf die Fragilität dieser Behauptung hingewiesen und bezweifelt, „dass die  Vgl. Dieter Gosewinkel, „‚Beim Staat geht es nicht allein um Macht, sondern um die staatliche Ordnung als Freiheitsordnung‘. Biographisches Interview mit Ernst-Wolfgang Böckenförde“, in Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht. Aufsätze von Ernst-Wolfgang Böckenförde. Biographisches Interview von Dieter Gosewinkel, Berlin: Suhrkamp 2011, 305 – 486, 432.

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heutige Gesellschaft auf die christliche Religion als geistiges Fundament angewiesen sei“²⁵. An die Stelle religiöser Moralagenturen träten säkulare Alternativen gesellschaftlicher Inklusion: „Der bürgerschaftliche Grundkonsens beruht auf gemeinsamen Interessen, Kooperationschancen und gemeinsamen historischen Lernprozessen mehr als auf dem zerfallenen religiösen Konsens der Vergangenheit.“²⁶ Über die Frage, wie es gerade um einen ‚bürgerlichen Grundkonsens‘ bestellt ist und inwieweit sich die von von Beyme vorgeschlagenen Alternativen als konsenskonstitutiv erweisen, könnte man intensiv sprechen, das soll hier allerdings nicht geschehen. Von Bedeutung für meine Ausführungen ist vielmehr von Beymes Rede vom „zerfallenen religiösen Konsens der Vergangenheit“. Sie verweist auf die Entwicklung einer nachchristentümlichen Gesellschaft, in der sich ein (faktischer oder immer schon fiktiver) religiöser Konsens der Vergangenheit zwar noch in mancherlei Rhetorik findet, dessen ungeachtet aber kaum mehr als Geltungsgrund taugt. Das bedeutet nicht, dass Religiosität schwindet, doch sie ist nicht mehr zwingend religionsgemeinschaftlich verankert und nicht mehr durchgängig christlich geprägt. Unter den Bedingungen einer sich säkularisierenden wie religiös pluralisierenden Gesellschaft nimmt jedoch auch die Rede vom Religionsverfassungsrecht als Koexistenzordnung eine andere Bedeutung an. So wird Koexistenz in der nachchristentümlichen Gesellschaft weniger als Herausforderung begriffen, Staat und Religionsgemeinschaften einander konstruktiv zuzuordnen, sondern vielmehr zu einer Ordnungsaufgabe des Staates, der ein Ordnungsgefüge bereitstellt, in dem plurale Religiosität friedlich koexistieren kann. Gunnar Folke Schuppert sieht in diesem Sinne den Staat in der Pflicht, „Governance of Diversity“ zu betreiben, das heißt eine „Theorie des Umgangs mit Pluralität“²⁷ zu entwickeln, die den staatlichen „Umgang mit Religion und Religionsgemeinschaften als ein zentrales Governanceproblem moderner Staatlichkeit“²⁸ wahrnimmt. Ein solches Staat-Religionsgemeinschaften-Verhältnis ist erkennbar anders als das Partnerschaftsmodell der Bonner Zeit. Es verlangt dem Staat vermehrt eine hoheitliche Ordnungsleistung gegenüber Religiosität und den Religionsgemeinschaften ab. Zugleich macht der Staat immer häufiger die Erfahrung, dass institutionalisierte Religiosität nicht nur als Quelle von Konsens versagt, sondern vielmehr Quelle gesellschaftlichen Dissenses sein kann. Dieser Dissens manifestiert sich  Klaus von Beyme, Religionsgemeinschaften, Zivilgesellschaften und Staat. Zum Verhältnis von Politik und Religion in Deutschland, Wiesbaden: Springer 2015, 95.  Ebd.  Schuppert 2017, 16 (Herv. i.O.).  Ebd., 18.

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nicht zuletzt zwischen dem Staat und den Religionsgemeinschaften selbst. Dass der Status von Religion in der Gesellschaft zunehmend gerichtlich geklärt wird, legte Astrid Reuter 2014 in einer beeindruckenden Monografie dar. Sie zeigte auf, dass auch die Religionsgemeinschaften ihre Konflikte gegenüber dem Staat zunehmend gerichtlich austragen. Denn über rechtliche Ansprüche – und zuvörderst die gerichtlich durchgesetzten – werde in der Gegenwartsgesellschaft Anerkennung erzeugt. Astrid Reuter spricht vom Recht, vor allem von den Grundund Menschenrechten, als „Schlüsselressource im Kampf um Anerkennung“²⁹. Die gerichtliche Anerkennung verfassungsrechtlich verbürgter Ansprüche gelte heute als eine zentrale Form, in der sich die gesellschaftliche Anerkennung von Individuen oder Gruppen ausdrücke. Reuter nennt dies die „‚Vergerechtlichung‘ bzw. ‚Vergrundrechtlichung‘ sozialer Anerkennung“³⁰. Ihr konkretes Beispielfeld sind Streitfälle über die Religionsfreiheit. Der vor staatlichen Gerichten ausgetragene Streit religiöser Individuen oder Religionsgemeinschaften um in der Religionsfreiheit begründete Rechte sei als Kampf um Anerkennung religiöser Positionen in einer sich pluralisierenden und säkularisierenden Gesellschaft zu verstehen. Diesen Kampf gerichtlich zu führen, ist unbestrittenes Recht von Religionsgemeinschaften. Hierüber ist vorliegend nicht zu diskutieren. Wohl aber zeigt die Tendenz zu einem gegen den Staat vor Gerichten ausgetragenen Kampf um Anerkennung an, dass das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften nicht mehr durchgängig von Harmonie und Koexistenz getragen ist.

4 Folgen Dies bleibt nicht folgenlos. Vielmehr nimmt das politisch ausgehandelte StaatKirche-Verhältnis der Bonner Zeit in der Berliner Republik zunehmend Züge eines rechtlich determinierten Verhältnisses an. Es reguliert sich nicht mehr primär auf dem Verhandlungswege, sondern durch das Recht und im Zuge der Rechtsprechung. Während das harmonische Miteinander von Staat und Kirchen in der Bonner Republik das Staat-Kirche-Verhältnis als eine Koexistenzordnung unter dem Leitbild der Partnerschaft möglich machte, verweist der Staat heute im Konflikt verstärkt auf die asymmetrischen Verhältnisse des Religionsverfassungsrechts.  Astrid Reuter, Religion in der verrechtlichten Gesellschaft. Rechtskonflikte und öffentliche Kontroversen um Religion als Grenzarbeiten am religiösen Feld, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 71.  Ebd.

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Dies findet auch terminologischen Ausdruck. Die Rede vom Staatskirchenrecht, die eine Gleichordnung der Partner Staat und Kirche insinuiert, wird seltener. An ihre Stelle tritt der Begriff Religions(verfassungs)recht, der die staatliche Leistung, Angelegenheiten der Religion der Verfassungsordnung zu unterwerfen, ins Bild bringt. Gunnar Folke Schuppert spricht von einem mit dem Begriff Religionsverfassungsrecht bewirkten „Geländegewinn und Realitätszuwachs“³¹ des staatskirchenrechtlichen Feldes. Der Staat als Urheber der Normen findet im Terminus Religions(verfassungs)recht selbst keine Erwähnung. Martin Morlok sieht hierin eine Entwicklung, die den europarechtlichen Normen und ihrer Bedeutung für den rechtlichen Status der Religionsgemeinschaften Rechnung trägt.³² Genauso wenig tauchen die Religionsgemeinschaften begrifflich auf – schon gar nicht in einer christlichen oder kirchlichen Verengung.³³ Sie wurden ersetzt durch den abstrakten Begriff Religion, der sowohl die individuelle wie die kollektive oder korporative Dimension der Religionsfreiheit umfassen kann. Morlok deutet die Rede vom Religionsverfassungsrecht daher als von dem Ziel mitgetragen, die individuelle Religiosität und die mit ihr verbundenen Rechtsansprüche auch im Kontext der korporativen Dimension von Religionsfreiheit zu berücksichtigen.³⁴ Religion wird heute verstärkt individuell wahrgenommen. Die Rechtsprechung stellt zunehmend das Individuum als Träger religiöser Rechte in den Vordergrund. Institutionelle Rechte werden hingegen tendenziell nachrangig gewichtet. Dies hängt mit der schon angesprochenen Entwicklung zusammen, die Astrid Reuter als „‚Vergrundrechtlichung‘ des Staatskirchenrechts“³⁵ bezeichnet hat. In dem Maße, in dem das Staatskirchenrecht zu einem Religionsverfassungsrecht werde, trete die Religionsfreiheit in den Vordergrund und dränge die institutionelle Konzeption des traditionellen Staatskirchendenkens zurück. Rudolf Streinz macht das am Begriffswandel vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht fest. Er hält allerdings den Begriff Staatskirchenrecht für geeigneter, denn dieser betone „die fortbestehende Bedeutung der institutionellen Dimension auch gegenüber der grundrechtlichen Dimension“ und sei daher Ausdruck für einen „institutionellen ‚Überhang‘, der nicht freiheitsrecht-

    

Schuppert 2017, 199. Vgl. Morlok 2007, 188. Vgl. ebd., 187 f. Vgl. ebd., 188 f. Reuter 2014, 86.

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lich erklärt werden kann“.³⁶ Der Terminus Religionsverfassungsrecht stehe in diesem Sinne für die Erfahrung, dass dieser institutionelle Überhang zunehmend in Abrede steht. Dies lässt sich am gerichtlichen Abschmelzen des Autonomie- und Selbstbestimmungsumfangs der Religionsgemeinschaften beobachten. Heute ist zum Beispiel in Arbeitsrechtssachen nicht mehr ausgemacht, dass die Gerichte den Kirchen mehr Gehör schenken als einzelnen kirchlichen Beschäftigten. Symptomatisch für diesen Kurswechsel steht der Impuls, den der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den deutschen Gerichten 2010 in der Rechtssache Schüth gab, insoweit das Gericht mit Blick auf die deutschen Vorinstanzen verwundert feststellte, man habe in den vorinstanzlichen Entscheidungen, „wie es scheint ohne weitere Nachprüfungen vorzunehmen, den Standpunkt des kirchlichen Arbeitgebers […] übernommen“; eine Entscheidung sei jedoch nicht möglich, ohne dass dabei „tatsächlich eine Abwägung der in Rede stehenden Interessen im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit stattfindet“.³⁷ Nicht zuletzt durch solche europäischen Impulse ist im Feld des Religionsverfassungsrechts von einem weiteren Abschmelzen des institutionellen Primats vor dem individuellen auszugehen. Neben diesen Gewichtsverlagerungen, die man beobachten kann, wenn individuelle und korporative Rechte aufeinandertreffen, kann man einen Vorrang der individuellen Perspektive bei der Interpretation korporativer Ansprüche erkennen. So legt Martin Morlok dar, dass man selbst Normen wie den Art. 140 GG i.V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV vom individuellen Schutzgedanken des Art. 4 GG her zu lesen habe: „In dieser Betrachtung wird damit nicht nur und nicht in erster Linie die Freiheit der Korporation als vorgefundene gesellschaftliche Größe geschützt, sondern die Freiheit der Bürger, sich korporativ religiös zu betätigen und ihre Religion zusammen mit anderen auszuüben.“³⁸ So erhielten die korporativen Garantien von Freiheit und Selbstbestimmung ihren Sinn nur von der individuellen Religionsfreiheit her. Morlok spielt dies am Beispiel der kirchenspezifischen Loyalitätsobliegenheiten im Arbeitsrecht durch. Diese seien im Grunde nur dann tragfähig, wenn sie sich auf Ansprüche der korporativ verbundenen religiösen Individuen zurückführen ließen. So sei „das Recht auf Tendenzreinheit zu ver-

 Rudolf Streinz, „Vielfalt der Religionen und Kulturen als Herausforderung an das Religionsverfassungsrecht“, in Theologische Ethik im Pluralismus, hg. von Konrad Hilpert, Freiburg i. Br./ Freiburg i.Ue.: Herder 2012, 141– 161, 144.  Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil in der Rechtssache Schüth gegen Deutschland, 23.09. 2010, Az. 1620/03, Rdnr. 69; dt. Übersetzung einsehbar unter www.bmjv.de/ SharedDocs/EGMR/DE/20100923_1620 - 03.html (07.08. 2018).  Morlok 2007, 196.

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stehen vom Recht der Mitglieder der Organisation her, sich nur mit Gleichgesinnten zusammenzutun und in einer Organisation die gemeinsame Religion zu praktizieren“³⁹. Je stärker die Loyalitätsobliegenheiten sich von diesem Ankerpunkt entfernten, desto geringer müssten sie ausfallen: „In dem Maße, in dem das Homogenitätsinteresse nichts mehr mit der Erfahrung der Mitglieder zu tun hat, sondern sich verselbständigt hat, ist sein Gewicht geringer zu veranschlagen.“⁴⁰ Die Entwicklung im katholisch-kirchlichen Bereich, hinsichtlich der Loyalitätsobliegenheiten sukzessive abzurüsten – wie man z. B. bei der letzten Novelle der Grundordnung des kirchlichen Dienstes aus dem Jahr 2015 beobachten konnte, kann man vor diesem Hintergrund als Lernprozess begreifen. Er trägt der Erkenntnis Rechnung, dass sich der gegenüber den Beschäftigten geltend gemachte Anspruch, diese müssten ihre Lebensführung an amtlich-katholischen Sittenvorstellungen orientieren, heute kaum mehr als ein Anspruch begründen lässt, den die Mitglieder der Organisation Kirche gegenüber den kirchlichen Beschäftigten erheben. In Morloks Diktion handelt es sich vielmehr um ein ‚Homogenitätsinteresse‘, das ‚sich verselbständigt hat‘ und daher zunehmend schwieriger begründbar ist. Im Licht einer Norminterpretation, die von einem Primat individueller Ansprüche ausgeht, wird es mühsamer werden, diese Verselbständigungen gegen kollidierende individuelle Ansprüche ins Feld zu führen und durchzusetzen – und dies auch jenseits des kirchlichen Arbeitsrechts. Von dieser Dynamik werden auch Kernbereiche kirchlicher Selbstbestimmung berührt sein, die heute noch fraglos als verfassungsmäßig geschützt angesehen werden. Mein Bochumer Kollege Georg Essen stellte in einem Gespräch einmal die Frage: „Fällt das Angelusgeläut noch unter den Schutzbereich des Art. 4, wenn niemand in der Gemeinde den Angelus mehr betet bzw. kaum jemand noch weiß, was selbiger ist?“ Auf Dauer wird man das angesichts des Vorgesagten kaum mehr affirmativ beantworten können.

5 Fazit War das Zueinander von Staat und Kirche in der Bonner Republik noch weitgehend von einer wechselseitigen Erwartungsstruktur getragen, so wird es nun sukzessive durch ein Staat-Religionsgemeinschaften-Verhältnis abgelöst, das den Staat als Garanten einer Religionsverfassung versteht, die der sich pluralisierenden religiösen Landschaft einen Rahmen verleiht und die Koexistenz pluraler

 Ebd., 207.  Ebd.

Vom Interesse des Staates an den Kirchen

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Religiosität in der Gesellschaft ermöglicht. Religion ist nicht mehr durchgängig christlich. Sie ist nicht mehr überwiegend institutionell verfasst. Und sie ist nicht mehr ausnahmslos staatsfreundlich. Statt partnerschaftlich geteilter Sorge um die Gesellschaft in ‚weltlicher‘ und ‚geistlicher‘ Hinsicht, wie sie sich in dem Begriff Staatskirchenrecht ausdrückt, ist heute der Staat als Ursprung eines Religionsverfassungsrechts im Blick, das die pluralen Ansprüche religiöser Individuen und Gemeinschaften in einen koexistenzfähigen Ausgleich setzen soll. Das hat zur Folge, dass sich die deutsche Religionsverfassung ändert. Statt Politik mit ihrem Medium der Aushandlung herrscht heute zunehmend Recht, das einseitig staatlich gesetzt wird. Auch dieses wandelt sich. Dabei ändern sich nicht die Normtexte, wohl aber ihre Interpretationen. Was wir aktuell in der Rechtsprechung erleben – ob zum Streikrecht in kirchlichen Einrichtungen, zur Kündigungsrelevanz von Loyalitätsobliegenheiten oder der Relevanz der Religionszugehörigkeit in Beschäftigungsfragen –, sind Korrekturen in der Ausdeutung der korporativen Garantien des Grundgesetzes, die sukzessive den ‚institutionellen Überhang‘ zurücknehmen, der den Kirchen in der Nachkriegszeit zugestanden wurde. Die Normtexte bleiben dieselben. Aus ihnen wird jedoch einiges an institutioneller Luft abgelassen. Es ist daher kein Zufall, dass die zentralen Problemfelder des Religionsverfassungsrechts heute an der konzeptionellen Nahtstelle aufbrechen, an der die Garantie der Religionsfreiheit mit der Garantie des Selbstbestimmungsrechts verfugt wurde. Fabian Wittreck hat in Bezug auf die Religionsfreiheit im Grundgesetz einmal geschrieben „Bonn ist doch Weimar“⁴¹. Berlin aber, so meine ich, ist erkennbar nicht Bonn.

Literatur Beyme, Klaus von (2015): Religionsgemeinschaften, Zivilgesellschaften und Staat. Zum Verhältnis von Politik und Religion in Deutschland, Wiesbaden: Springer. Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1967/1976): „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“ (1967), in: Ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 42 – 64. Gosewinkel, Dieter (2011): „‚Beim Staat geht es nicht allein um Macht, sondern um die staatliche Ordnung als Freiheitsordnung‘. Biographisches Interview mit Ernst-Wolfgang Böckenförde“, in Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht. Aufsätze von Ernst-Wolfgang Böckenförde. Biographisches Interview von Dieter Gosewinkel, Berlin: Suhrkamp, 305 – 486.

 Fabian Wittreck, „Bonn ist doch Weimar. Die Religionsfreiheit im Grundgesetz als Resultat von Konflikt und Kontroverse“, in Religionskonflikte im Verfassungsstaat, hg. von Astrid Reuter und Hans G. Kippenberg, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 66 – 92.

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Joas, Hans (2017): Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, Berlin: Suhrkamp. Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1 – 2, hg. von Joseph Listl und Dietrich Pirson, 2., grundl. neubearb. Aufl., Berlin: Duncker & Humblot 1994/1995. Hollerbach, Alexander (1965): Verträge zwischen Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland (Juristische Abhandlungen, Bd. 3), Frankfurt a. M.: Klostermann. Hollerbach, Alexander (1994): „Die vertragsrechtlichen Grundlagen des Staatskirchenrechts“, in Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 253 – 287. Leo XIII. (1885): „Enzyklika Immortale Dei über die christliche Staatsordnung“, 01. 11. 1885, Acta Sanctae Sedis, Bd. 18, 161 – 180. Morlok, Martin (2007): „Die korporative Religionsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht nach § 140 GG/Art. 137 Abs. 3 WRV einschließlich ihrer Schranken“, in Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht? Ein begriffspolitischer Grundsatzstreit, hg. von Hans Michael Heinig und Christian Walter, Tübingen: Mohr Siebeck, 185 – 210. Pirson, Dietrich (1995): „Das kircheneigene Dienstrecht der Geistlichen und Kirchenbeamten“, in Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 845 – 875. Reuter, Astrid (2014): Religion in der verrechtlichten Gesellschaft. Rechtskonflikte und öffentliche Kontroversen um Religion als Grenzarbeiten am religiösen Feld (Critical Studies in Religion/Religionswissenschaft, Bd. 5), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Richardi, Reinhard (1995): „Das kollektive kirchliche Dienst- und Arbeitsrecht“, in Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 927 – 958. Rüfner, Wolfgang (1995): „Das kirchlich rezipierte und adaptierte Dienst- und Arbeitsrecht der übrigen kirchlichen Bediensteten“, in Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 878 – 900. Schuppert, Gunnar Folke (2017): Governance of Diversity. Zum Umgang mit kultureller und religiöser Pluralität in säkularen Gesellschaften (Religion und Moderne, Bd. 10), Frankfurt a. M./New York: Campus. Smend, Rudolf (1951); „Staat und Kirche nach dem Bonner Grundgesetz“, Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, Bd. 1, 4 – 14. Streinz, Rudolf (2012): „Vielfalt der Religionen und Kulturen als Herausforderung an das Religionsverfassungsrecht“, in Theologische Ethik im Pluralismus (Studien zur theologischen Ethik, Bd. 133), hg. von Konrad Hilpert, Freiburg i. Br./Freiburg i. Ue.: Herder 2012, 141 – 161. Wittreck, Fabian (2010): „Bonn ist doch Weimar. Die Religionsfreiheit im Grundgesetz als Resultat von Konflikt und Kontroverse“, in Religionskonflikte im Verfassungsstaat, hg. von Astrid Reuter und Hans G. Kippenberg, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 66 – 92. Wittreck, Fabian (2016): „Religiöse Paralleljustiz im Rechtsstaat?“, in Ordnungen religiöser Pluralität. Wirklichkeit – Wahrnehmung – Gestaltung (Religion und Moderne, Bd. 3), hg. von Ulrich Willems, Astrid Reuter und Daniel Gerster, Frankfurt a. M.: Campus, 439 – 493.

IV Die Kirchen und der säkulare Staat Ausblicke zu einem spannungsreichen Verhältnis

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Berührungsängste/Berührungspunkte Motive zur Neudeutung des demokratischen Projekts aus dem christlichen Glauben heraus Wie viel Christentum steckt (noch) in unserem demokratischen Staat? Braucht dieser Staat in irgendeiner Weise die Kirchen und den christlichen Glauben oder hat er sich komplett von ihnen emanzipiert und steht gleichsam ganz auf eigenen Füßen? Akademischer formuliert: Welche Rolle hat das Christentum für die Genese des modernen demokratischen Staates, welche Rolle für sein fortwährendes Funktionieren? Ich werde diese doppelte Doppelfrage im Reflexionshorizont der Politischen Theorie erörtern, also der in Politikwissenschaft, Philosophie und auch Soziologie wissenschaftlich verankerten systematischen Erörterung der Voraussetzungen gut funktionierender Gemeinwesen. Zugleich geht es mir darum, die Politische Theorie in einen Dialog mit dem christlichen Glauben zu bringen, wie er in den kirchlichen Traditionen überliefert und interpretiert wird. Dies erfolgt ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit und eingedenk der Tatsache, dass ich keine theologische Autorität im wissenschaftlichen Sinne beanspruchen kann – wobei ich mich durch den Umstand ermuntert fühle, dass ja gerade die christliche Theologie seit geraumer Weile vehement für die stärkere Beteiligung von ‚Laien‘ eintritt. Nach einer von solch gemischt persönlich-traditionsorientiertpolitiktheoretisch geprägten Motiven getragenen Annäherung an die erwähnten Fragen (1.) werde ich in einem zweiten Teil den Begriff der Säkularität bzw. Weltlichkeit auf spezifische Weise interpretieren und den demokratischen Verfassungsstaat als im eigentlichen Sinne ‚weltlichen‘ Staat deuten (2.). Im dritten Teil werde ich, ausgehend vom Verständnis des säkularen Staates als Garanten gleicher Autonomie, drei mögliche christliche Impulse für eine Erneuerung des damit angelegten politischen Projekts des demokratischen Verfassungsstaates geben (3.).

1 Annäherung Ich möchte mit dem Bekenntnis einer Verlegenheit mit Blick auf die oben genannten Fragen beginnen: Als Christ und Katholik wünsche ich mir, dass der christliche Glaube eine Rolle spielt, und dies auch in Politik und Staat. Worin soll auch der Wert eines Glaubens liegen, der zwar das Leben von der Wiege bis zur Bahre umfasst, aber für gesellschaftliche und politische Verhältnisse bedeuhttps://doi.org/10.1515/9783110623406-013

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tungslos ist? Wenn er vielen Menschen so wichtig, ja unverzichtbar ist, wie kann er dann politisch nicht vorkommen, wie sollte in der Regelung der öffentlichen Angelegenheiten auf ihn verzichtet werden können? Als Bürger in einer Demokratie wünsche ich mir hingegen, dass es auf den christlichen Glauben nicht unbedingt ankommt. Denn wenn es auf ihn ankäme, würde es mir schwerfallen, politisch die Hoffnung zu bewahren, gerade angesichts der allgegenwärtigen und (trotz der m. E. substanzlosen Rede von der Rückkehr der Religion) voranschreitenden Krise des christlichen Glaubens in Europa. Als Wissenschaftler schließlich fällt es mir schwer, Evidenz dafür zu finden, dass es für die Demokratie wirklich auf den christlichen Glauben ankommt. Hat doch etwa die relativ stark ‚verkirchlichte‘ Gesellschaft seinerzeit den Nationalsozialismus und den Faschismus nicht verhindern können, ihm in manchen Fällen sogar einen fruchtbaren Nährboden bereitet (und in Person hoher Amtsträger auch bei der Zuführung von Staatsverbrechern zu ihrer gerechten Strafe eine oft wenig förderliche Rolle gespielt). Auch mit Blick auf die heutige Lage erscheint mir eine scheinbar stark vom Christentum geprägte Gesellschaft wie die USA politisch (freilich aufgrund der konkreten Ausprägung religiöser Praxis auch spirituell) nicht unbedingt anstrebenswert. Umgekehrt bekenne ich eine dauerhafte Faszination für Schweden und die anderen nordischen Länder mit ihrem Verständnis eines ‚guten Staates‘ – und stelle zugleich fest, dass diese Faszination nicht ohne Umstände mit dem Wunsch vereinbar ist, dass dem christlichen Glauben eine dauerhafte Relevanz im demokratischen Staat zukommen möge. An den skandinavischen Ländern beeindruckt mich die fest verankerte Haltung, dass alle Menschen gleichermaßen wertgeschätzt werden und dass niemand zurückgelassen werden soll. „Die öffentliche Macht soll im Respekt vor dem gleichen Wert aller Menschen und der Würde und Freiheit des einzelnen Menschen ausgeübt werden“, wie es (in meiner Übersetzung) in der Regierungsform, einem der vier Grundgesetze Schwedens, heißt. Auch wenn sich heute vielfältige Krisenanzeichen erkennen lassen, ist es Schweden und anderen nordischen Ländern über lange Zeit in beachtlicher Weise gelungen, den Respekt vor dem gleichen Wert aller Menschen recht effektiv in Form sozialer Teilhaberechte zum Ausdruck zu bringen. Zugleich sind diese Gesellschaften (trotz oder auch wegen ihrer merkwürdigen Staatskirchen-Konstrukte) hochgradig säkularisiert. Man darf vermuten: Auch aufgrund des Erfolgs wohlfahrtsstaatlicher Politiken, liegt diesen doch die Idee zugrunde, dass der Staat den/die Einzelne/n nicht nur vor den Unbilden des Marktes schützen, sondern auch zur Unabhängigkeit sowohl von ihrem Familienkreis als auch von sozialen Institutionen (und das heißt historisch vor allem: von der Kirche und ihrem Wohlwollen) befreien soll.

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Die Historiker Henrik Berggren und Lars Trädgårdh sprechen in diesem Zusammenhang von der schwedischen bzw. skandinavischen Idee des ‚Staatsindividualismus‘.¹ Auch wenn ich es in gewisser Weise bedauerlich finde, dass öffentliche Marginalisierung des christlichen Glaubens und Ausbau sozialer Teilhaberechte Hand in Hand gehen, würde ich mir nicht wünschen, dass die Gesellschaft sich weniger um die Menschen kümmert, damit sie Zuflucht zur Religion nehmen. Dies wäre zynisch und würde (einmal mehr) Marxens Urteil bestätigen, dass die Religion nur als Ausdruck menschlichen Elends (oder aber bigotter Bürgerlichkeit) fortbestehen kann. Ein derartiger Zynismus streicht aber den Wahrheits- und Weltgestaltungsanspruch des Glaubens unweigerlich durch. Gewiss, man kann aus christlicher Perspektive immer argumentieren, dass solche sympathischen Staaten und Gesellschaftsmodelle ‚letztlich‘ als säkularisierte Varianten christlicher (Grund‐)Werte zu verstehen sind. Für die Frage der Universalisierbarkeit von Liberalismus, Demokratie und Wohlfahrtsstaatlichkeit mag das durchaus ein wichtiger Gesichtspunkt sein (denn Säkularisierung setzt voraus, dass etwas Säkularisierbares besteht; und hier können verschiedene Ausprägungen von religiösem Glauben einen Unterschied machen). Doch was folgt daraus für diese säkularisierten Gesellschaften selbst? Es greift zu kurz, wenn die Antwort darauf lautet, dass man als Christ einem solchen Staat, der die eigenen Werte säkularisiert, seine Unterstützung geben könne. Das kann man – aber die Ambivalenz des scheinbaren Überflüssig-Machens des christlichen Glaubens durch seine erfolgreiche Säkularisierung ist ja dennoch nicht von der Hand zu weisen. Eine nüchterne, hinlänglich differenzierte und wissenschaftlich fundierte Antwort auf die eingangs gestellte Doppelfrage nach der Relevanz des christlichen Glaubens für die Demokratie hinsichtlich Genese und Funktion kann meines Erachtens lauten:² Die jüdisch-christliche Tradition mag im Hinblick auf bestimmte historische Vorbedingungen der modernen Demokratie eine wesentliche Rolle gespielt haben;³ diese vorbereitende Rolle beschränkte sich allerdings auf die (gewiss bedeutsame) Vorstellung der grundlegenden Gleichheit aller Menschen

 Henrik Berggren/Lars Trägårdh, Ist der Schwede ein Mensch? Was wir von unseren nordischen Nachbarn lernen können und wo wir uns in ihnen täuschen, München: btb 2016.  Vgl. Michael Haus, „Ort und Funktion der Religion in der zeitgenössischen Demokratietheorie“, in Politik und Religion, hg. von Michael Minkenberg und Ulrich Willems, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2003, 45 – 67.  Tine Stein, Himmlische Quellen und irdisches Recht. Religiöse Voraussetzungen des freiheitlichen Verfassungsstaates, Frankfurt a. M./New York: Campus 2007; Hans Maier, „Demokratischer Verfassungsstaat ohne Christentum – was wäre anders?“, in Christentum und Demokratie, hg. von Manfred Brocker und Tine Stein, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 2006, 15 – 28.

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als Geschöpfe und Ebenbilder Gottes, auf die Trennbarkeit von Religion und Politik oder auch auf die Ermöglichung sozialer Mobilität in einer ansonsten feudal-hierarchischen Gesellschaftsordnung. Die Reformation kann als wichtiger Zwischenschritt zur Entwicklung des neuzeitlichen Individualismus und der Autonomie des modernen Wirtschaftslebens verstanden werden. Ob andere Kulturkreise dazu funktionale Äquivalente aufbieten können, ist durchaus fraglich, aber nicht grundsätzlich auszuschließen. Der eigentliche Schritt hin zur liberalen Demokratie konnte aber erst im Zuge von Säkularisierungstendenzen vollzogen werden. Was nur durch die Rückbesinnung auf die griechische Antike, durch eine dezidiert säkularistische Aufklärung sowie (was gerne vergessen wird) durch oft kirchenkritische kämpferische soziale Bewegungen (zunächst der Arbeiter, später der Frauen) formulierbar und (zumindest weitgehend) nur gegen die institutionalisierte Form der Religion durchsetzbar gewesen ist, das war eine politische Auffassung vom Menschen und eine Gleichheitsvorstellung, die sich auf die Teilhabe an der Politik bezogen hat.⁴ Wenn die liberale Demokratie einmal ihren Weg gefunden hat, so lässt sich schlussfolgern, dann ist sie nicht mehr auf die Religion angewiesen – sie ist post-religiös. Bildet sie sich zum Wohlfahrtsstaat aus, so erfolgt dies tendenziell auf Kosten kirchlicher Bindung. Der Kern dieser Antwort lässt sich m. E. nicht überzeugend in Frage stellen. Jeder Versuch, eine Art geistigen Eigentums an der Demokratie seitens des christlichen Glaubens zu reklamieren, ist zweifelhaft und historisch unglaubwürdig. Allerdings wird die Antwort von der Annahme getragen, dass der demokratische Verfassungsstaat so etwas wie das in Stein gemeißelte Endprodukt einer historischen Entwicklung mit einer im Kern vernünftigen Logik ist. Etwas anders könnte die Sache allerdings aussehen, wenn wir den säkularen Staat nicht als ein für alle Mal hervorgebrachtes Gebilde betrachten, dessen Sinn und Legitimität uns gleichzeitig mit seiner historischen Genese klar vor Augen gestellt werden. Zudem sollten wir auch auf Seiten der liberalen Demokratie jedweden Geschichtstriumphalismus unterlassen. Gerade in den letzten Jahren verstärkt sich der Eindruck, dass die liberale Ordnung und die Demokratie keine selbstverständlichen Formen von Staatlichkeit sind und dass es auch mit dem gleichsam volkspädagogischen Verweis auf das Abgleiten in diktatorische, ja totalitäre Regime nicht getan ist, wenn es darum geht, Liberalismus und Demokratie zu

 So wird selbst in Siedentops wortmächtiger Darstellung der christlichen Wurzeln von Liberalismus und Demokratie zwar auf die christliche Gottesvorstellung als „ontologischer Grundlage“ des Individualismus und die christliche Verknüpfung von Individualismus und Universalismus als „ursprüngliche Verfassung Europas“ verwiesen; zugleich jedoch wird herausgestellt, dass diesen Ideen im Zuge der Aufklärung ein „neues, weltliches Leben“ beschieden war (Larry Siedentop, Demokratie in Europa, Stuttgart: Klett-Cotta 2002, 285 – 321).

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erhalten. Angesichts der ökologischen Krise und der immer wieder hervortretenden Unfähigkeit demokratischer Gesellschaften zur nachhaltigen Entwicklung, aber auch der Wahrnehmung, dass der globalisierte Kapitalismus zu einer Aushöhlung des politischen Kerns der Demokratien führe und demokratische Gesellschaften ihre innere Widerstandsfähigkeit gegen solche Aushöhlungsdynamiken verloren hätten (‚Post-Demokratie‘), wird ersichtlich, dass demokratische Staaten keine mechanischen Uhrwerke sind (wobei auch diese ja zumindest regelmäßig aufgezogen oder mit neuer Energie versorgt werden müssen, mithin keine perpetua mobilia darstellen). Sie stellen politische Projekte dar, die sich immer wieder bewähren und immer wieder erneuert werden müssen – und sich auch immer wieder fundamental in Frage stellen (lassen) müssen, weil sie ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden. In dieser Erneuerung stellt sich zudem immer wieder die Frage, wie viel und welche Art von Liberalismus der Demokratie eigentlich guttun und wie sich im Rahmen demokratischer Politik Gemeinsinn und Formen von Gemeinschaftlichkeit wiedergewinnen lassen. Wenn ich im Folgenden also einige Anregungen zu Inspirationsdimensionen durch den christlichen Glauben formuliere, dann vor dem Hintergrund der Annahme, dass es einerseits kein evidentes oder auch nur historisch stark plausibles Unverzichtbarkeitsargument dahingehend gibt, dass Demokratie auf christlichen Glauben fortdauernd angewiesen ist, und dass andererseits sowohl christlicher Glaube als auch Demokratie ihre Bedeutung immer wieder durch soziale Praktiken der Artikulation und Interpretation zu erneuern haben. Die gemeinsame Herausforderung sowohl der Demokratie als auch des christlichen Glaubens scheint mir dabei darin zu liegen, dass beide ihre Anliegen zugleich ernster und damit in gewisser Weise radikaler nehmen müssen und sie nicht in komplexitätsdestruktiver Weise artikulieren sollten. In einer Welt, die sich im eigentlichen Sinne nicht beherrschen lässt, kommt es darauf an, jenseits von Allmachtphantasien Verständnisse eines guten Zusammenlebens aufzuzeigen, die übergreifende Orientierung geben können.

2 Säkularität Unter dem säkularen Staat verstehe ich im Folgenden den demokratischen Verfassungsstaat. Das ist nicht nur dem Umstand geschuldet, dass letzterer in meiner eigenen Kultur als scheinbar konkurrenzlose Form einer säkularen, also weltlichen politischen Ordnung gelten kann. Vielmehr ist der demokratische Verfassungsstaat auch in besonderer Weise mit der Idee der Säkularität verknüpft, ist säkularer Staat par excellence. Er ist weltlich nicht nur im Vergleich zu theokratischen, klerikalen und fundamentalistischen Regimen, in denen religiöse Lehr-

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gebäude eine zentrale Rolle zur Legitimation von Herrschaft spielen. Auch gegenüber autokratischen Regimen kann ihm eigentliche Säkularität zugesprochen werden, und zwar besonders dann, wenn diese Regime ihre Legitimität durch eine scharfe Abgrenzung oder sogar Feindseligkeit gegenüber religiösen Ideen rechtfertigen. Denn die Weltlichkeit der zuletzt genannten Regime ist immer noch die Weltlichkeit einer bestimmten Weltanschauung – sei es die Weltanschauung einer bestimmten (möglicherweise sich als ‚wissenschaftlich‘ gerierenden) Doktrin, die durch Disziplinierung immer wieder hergestellte Sicht einer herrschenden Partei oder die in der Person des Autokraten Fleisch und Blut annehmende Anschauung des charismatischen Führers. Der demokratische Verfassungsstaat hingegen ist weltlich auch in seiner Art, sich auf die Welt als der Instanz seiner Legitimität zu berufen. ‚Welt‘ ist im hermeneutischen Sinne nicht etwas, dass wir als Objekt begreifen können, sondern Horizont unserer Möglichkeiten, etwas zu sehen und zu begreifen. ‚Welt‘ ist Perspektivität, weil wir in-der-Welt-seiend niemals von identischen Standpunkten auf die Welt blicken können.⁵ Eine weltliche Ordnung im Vollsinne kann also keine auf eine Weltanschauung gegründete Ordnung sein, weil sich die staatliche Festschreibung letzterer gerade gegen die mit dem In-der-Welt-Sein verbundene Vielfalt von Perspektiven auf die Welt richten muss. Damit wird die weltanschauliche Herrschaft notwendig gewaltsam, sie richtet ihre Gewalt gegen das Weltliche. Weltanschauung wurde das Christentum, so gesehen, nur durch sein Bündnis mit dem Staat, der es mit seinem Monopolanspruch auf legitime Gewaltsamkeit verband. Innerhalb des christlichen Glaubens selbst dreht sich ein entscheidender Deutungskampf immer wieder um die Frage, inwiefern die Verschiedenheit von Standpunkten (von häretischen über nichtchristlich-religiöse bis zu christentums- bzw. religionskritischen Überzeugungen) als ein Ergebnis von Sünde oder aber als der Schöpfung unweigerlich eingeschrieben und von Gottes Heilsplan gewollt zu betrachten sei. Inwiefern ist sie, anders formuliert, Ausdruck von Welt und wie verhält sich Glaube damit zu Welt? Interessanterweise gibt es ja zwei diametral entgegengesetzte Bedeutungen von ‚Welt‘ in der christlichen Semantik:⁶ eine positiv konnotierte (etwa: ‚Gott hat die gute Welt geschaffen‘, ‚alle Welt möge ihm dienen‘) und eine negativ konnotierte (etwa:

 Ich schließe hier an die Überlegungen Hannah Arendts an; vgl. Hannah Arendt, Macht und Gewalt, München: Piper 1970; Hannah Arendt, Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass, München: Piper 2003.  Vgl. Dietmar Mieth, Im Wirken schauen. Die Einheit von Vita activa und Vita contemplativa bei Meister Eckhart und Johannes Tauler, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2018, 65 – 67.

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‚gleicht euch nicht der Welt an!‘, ‚ich habe die Welt überwunden‘). Glauben definiert sich also zugleich in Entgegensetzung wie Komplementarität zu Welt. Ein zentraler Reflexionsschritt hin zu einem modernen Verständnis von christlichem Glauben erscheint mir zu sein anzuerkennen, dass die Anderen nicht nur zu tolerieren, sondern für den christlichen Glauben unverzichtbar sind, um die blinden Flecken und unterentwickelten Potenziale der eigenen Welt zu erkennen. Damit dies hervortreten konnte, musste das Christentum entthront werden, und dafür ist wiederum den Religionskritikern unterschiedlicher Couleur aufrichtiger Dank zu sagen.⁷ An dieser Stelle sollte ein Einwand Erwähnung finden, dass nämlich auch der demokratische Verfassungsstaat auf einer Weltanschauung beruhe, und zwar auf der Weltanschauung des Liberalismus. Dieser Einwand ist ernst zu nehmen. Ich stimme ihm insofern zu, als ein auf einer liberalen Weltanschauung gründender Staat kein wirklich säkularer Staat wäre; aber ich bestreite, dass der demokratische Verfassungsstaat auf einer liberalen Weltanschauung beruhen muss. Wie man dies einschätzt, hängt natürlich stark davon ab, was man unter einer liberalen Weltanschauung versteht. Ich möchte es aufgrund des gegebenen Rahmens dabei belassen, dass eine liberale Weltanschauung jedenfalls nicht schon darin gesehen werden kann, dass Freiheit als unverzichtbare Voraussetzung für ein gutes menschliches Leben zu verstehen und deshalb unverzichtbarer Bezugspunkt einer legitimen politischen Ordnung sei. Denn diese Überzeugung wird auch außerhalb des Liberalismus geteilt. Eine liberale Weltanschauung (wie sie etwa bei John Stuart Mill artikuliert wird) bezieht sich demgegenüber auf eine distinkte Vorstellung der menschlichen Person und der Art, wie sie handelt. In diesem Sinn lässt sich von einer liberalen Weltanschauung sprechen, wenn behauptet wird, dass Menschen in ihren Lebensentscheidungen souverän sind, von ihren Kräften unbehelligt durch andere Gebrauch machen und sich ihren Lebensentwurf frei wählen sollten; und wenn davon ausgegangen wird, dass eine solche freie Wahl von Lebensentwürfen erstens unter normalen Umständen (Freiheitsrechte, aufklärerische Bildung, materielle Ressourcen) tatsächlich erreicht wird und sich zweitens Fragen des Gemeinwohls dann nicht mehr weiter stellen, weil eine Gesellschaft, in der alle Menschen ihre selbst gewählten Lebensentwürfe verfolgen, gleichsam automatisch die einzig sinnvolle Vorstellung von Gemeinwohl (nämlich eine irgendwie geartete Summe von Einzelwohl) realisieren wird.

 Vgl. Charles Taylor, „A Catholic Modernity?“, in A Catholic Modernity? Charles Taylor’s Marianist Award Lecture, hg. von James Heft, New York/Oxford: Oxford University Press 1999, 13 – 37, 18.

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Ein größerer Teil der in einem demokratischen Verfassungsstaat lebenden Menschen mag nun einer solchen (oder einer ähnlichen) liberalen Weltanschauung bewusst oder unbewusst anhängen – ein anderer Teil wird dies jedoch nicht tun. Letztere werden zum Beispiel der Auffassung sein, dass das gute Leben nicht darin liegt, sich nach persönlicher Vorliebe irgendeinen Lebensentwurf frei zu wählen, sondern dass zunächst einmal den überlieferten Traditionen die Ehre gegeben werden sollte, oder dass Menschen sich bei der Wahl von Zielen an bestimmten übergeordneten Gesichtspunkten orientieren sollten (z. B. die ihnen geschenkten Talente zur Entfaltung zu bringen), oder dass die Verwirklichung eines Gemeinwohls einer besonderen Verständigung darüber bedarf, wie man als Gesellschaft zusammenleben will und dass diese Verständigung andere Einstellungen und Praktiken verlangt als jene, die sich Individuen mit Blick auf ihre jeweiligen Lebensentwürfe aneignen. Es mag auch so sein, dass die liberal-weltanschauliche Auffassung abgelehnt wird, wir würden nur jeweils unseren eigenen Lebensentwurf zu wählen haben – während es doch darauf ankomme, sich die Bedürfnisse der anderen zur Bedingung der eigenen Selbstverwirklichung zu machen (Marx). Alle diese Haltungen gegenüber dem Leben und der Gesellschaft sind ‚unliberal‘ im Sinne einer liberalen Weltanschauung – sie können aber sehr wohl mit einer Unterstützung des demokratischen Verfassungsstaates und insofern mit einer ‚liberalen‘ politischen Ordnung einhergehen. In diesem Sinne lässt sich mit Michael Walzer sagen, dass in einer Welt, deren Ordnung der demokratische Verfassungsstaat ist, viele Menschen keine Liberalen sein werden, sondern „something else in a liberal way“⁸. Mit John Rawls lässt sich hingegen festhalten, dass eine im politischen Sinne liberale Ordnung eben gerade keine im weltanschaulichen Sinne liberale sein darf.⁹ Um denselben Gedanken noch einmal anders zu formulieren: Wenn der demokratische Verfassungsstaat qua liberalistischer Weltanschauung naturalisiert wird, wenn also davon ausgegangen wird, dass er eine natürliche Ordnung darstellt, in der sich das natürliche Wesen des Menschen allseitig unbeschränkt entfalten kann, wenn nur natürliche Rechte garantiert werden, dann ist in der Tat der demokratische Verfassungsstaat an eine bestimmte, liberalistische Weltanschauung gebunden und somit nicht wirklich säkular im hier dargelegten Sinne von ‚weltlich‘. Die Säkularität des demokratischen Verfassungsstaates folgt nicht aus einer Betrachtung, wie der Mensch natürlicherweise im Sinne einer ge Michael Walzer, „On Negative Politics“, in Liberalism without Illusions. Essays on Liberal Theory and the Political Vision of Judith N. Shklar, hg. von Bernard Yack, Chicago: University of Chicago Press 1996, 17– 24, 22 (Herv. i.O.).  Vgl. Rawls’ entsprechende Kritik an Mill: John Rawls, Political Liberalism, New York: Columbia University Press 1993, 400.

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schichtsunabhängigen Wahrheit ist, sondern aus einer Betrachtung des Menschen, wie er historisch geworden ist – wie seine Welt geschichtlich gewachsen ist und wie er dem gerecht werden kann. In dieser Welt gibt es Glaube und Agnostik, Liberalismus und Liberalismuskritik, Fortschrittsglauben und radikalen Pessimismus; Säkularität bedeutet, die Welt in dieser Uneindeutigkeit und Offenheit jetzt und hier zu akzeptieren – einfach, weil es keine andere Welt gibt als diese, und weil die Hoffnung auf eine zukünftig andere Welt die Perspektivenvielfalt hier und jetzt nicht aufhebt, zumindest nicht ohne Gewalt. Was bedeutet es, wenn Menschen, die entweder Weltanschauungsliberale oder ‚something else in a liberal way‘ sind, in einer Gesellschaft zusammenleben und dafür eine gemeinsame politische Ordnung unterhalten, ohne diese aus Postulaten des vermeintlich Natürlichen abzuleiten? – Die von Rawls ins Spiel gebrachte Formel des übergreifenden Konsenses (overlapping consensus) steht für den einen Pol eines Spektrums von Versuchen, eine Perspektive dafür aufzuzeigen.¹⁰ Der Grundgedanke ist hier, dass es möglich und geboten ist, jenseits spezifischer weltanschaulicher Differenzen einen Gerechtigkeitskonsens über die grundlegenden öffentlichen Institutionen und Politiken zu erzielen. Der andere Pol wird durch Chantal Mouffes Position einer agonistischen Politik markiert, in der die Kontrahenten sich als Gegner und den politischen Prozess als grundsätzlich offen anerkennen, aber keine Konsensmöglichkeit über verschiedene hegemoniale Projekte hinweg in Betracht gezogen werden.¹¹ Dazwischen liegen kommunitaristische und diskursethische Konzeptionen, in denen Verständigung über Weltanschauungen hinweg zwar nicht als Arbeit des politischen Philosophen betrachtet, in Form einer auf wechselseitiger Anerkennung gründenden politischen Praxis jedoch als grundsätzlich denkbar erachtet werden.¹² Allen diesen Perspektiven ist gemeinsam, dass sie sich der Aufgabe stellen, Weltlichkeit im hier gemeinten Sinne ernst zu nehmen. Kommunitaristische und diskursethische Ansätze scheinen mir dabei aufgrund ihrer mittleren Position besonders in der Lage, zwischen dem liberalen, auf gleiche individuelle Autonomie zielenden, und dem agonistischen, auf die radikale Autonomie demokratischer Politik gegenüber allen externen Kriterien abstellenden Pol zu vermitteln, wobei

 John Rawls, „Der Gedanke eines übergreifenden Konsenses“, in: Ders., Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978 – 1989, hg. von Wilfried Hinsch, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992, 293 – 332.  Chantal Mouffe, Agonistik, Berlin: Suhrkamp 2014.  Charles Taylor, „Für einen neuen Säkularismus. Zur Einführung“, Transit. Europäische Revue, Bd. 39, 2010, 5 – 28; Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996.

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kommunitaristische Perspektiven in besonderer Weise die Stimme verschiedener kultureller Quellen, eben auch des Glaubens, zu artikulieren vermögen.

3 Säkularität, demokratischer Verfassungsstaat und Autonomie Der liberale Kern des wahrhaft säkularen Staates wurzelt in der gleichen Würde aller Menschen, die dieser Staat sichert. Gemäß der etablierten Formel im Menschenrechtsdiskurs lässt sich davon sprechen, dass die Würde staatlicherseits respektiert, geschützt und ermöglicht (respect, protect, fulfill) werden muss. Damit wird zunächst einmal anerkannt, dass gemäß Kants berühmter Formulierung Menschen niemals nur als Mittel für irgendwelche Zwecke gebraucht werden dürfen und immer auch als Selbstzweck zu achten sind, und dass sie (bei Kant nicht ganz so klar formuliert) zur Autonomie, verstanden als ein Handeln aus eigener Einsicht heraus, befähigt werden müssen. Entsprechend lässt sich die Legitimität des Staates in seiner Ordnungs- und Gewährleistungsfunktion für eine Gesellschaft sehen, in der Menschen würdevoll leben können, d. h. sich ihrer Autonomie versichert wissen und diese wertschätzen. Soweit der Versuch, einen in modernen Gesellschaften und ihrer Säkularität tief verankerten Grundkonsens zu skizzieren, mit dem freilich grundlegende Kontroversen unabwendbar programmiert sind.¹³ Es gehört zur normativen ratio essendi des säkularen Staates, dass diese Kontroversen einen breiten Raum im gesellschaftlichen Leben einnehmen. Zunächst einmal bleibt ja stets offen, wann sich davon sprechen lässt, dass eine Person wirklich autonom handelt und damit auch, was es bedeutet, Autonomie wertzuschätzen bzw. wertschätzen zu können. Autonomie lässt sich nicht empirisch beobachten (wie Kant bereits feststellte); sie ist eine Idee mit praktischem Anspruch. Dies bedeutet aber, dass wir soziale Praxis interpretieren müssen, um Autonomie thematisieren zu können. So lässt sich auch nie sicher sagen, ob ein Mensch aus selbst eingesehenen Gründen handelt oder fremdbestimmt wird. Autonomie einfach nicht zu thematisieren, ist aber auch keine Lösung. Wenn junge Frauen sich überwiegend für ein sprachliches und gegen ein naturwissenschaftliches Studium entscheiden, könnte dies daran liegen, dass das

 Vgl. auch Michael Haus, „Equality beyond Liberal Egalitarianism: Walzer’s Contribution to the Theory of Justice“, in New Perspectives on Distributive Justice. Deep Disagreements, Pluralism, and the Problem of Consensus, hg. von Manuel Knoll, Stephen Snyder und Nurdane Şimsek, Berlin/ Boston: De Gruyter 2019, 71– 89.

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ihren reflektierten Vorstellungen eines sinnvollen Bildungs- und Berufsweges entspricht, es könnte aber auch an geschlechtsspezifischen Mustern liegen, die es im Namen autonomer Lebensführung zu überwinden gilt. Ganz allgemein widerspricht es der Würde, Menschen abzusprechen, dass sie aus eigenem Willen handeln; es widerspricht aber auch der Würde, faktisches Handeln mit autonomem Handeln gleichzusetzen. Menschen handeln immer im Rahmen von Begrenztheit, Kontingenz und Heteronomie. Die Grenzen der Autonomie müssen reflexiv in das Streben nach Autonomie hineingenommen werden; und das erfordert, dass wir uns Gedanken machen, wann wir autonom handeln, obwohl wir Begrenzungen unterliegen. Man mag mit Kant davon ausgehen, dass Menschen zumindest dann stets heteronom handeln, wenn sie bestimmte Handlungen vollziehen (solche nämlich, die einem allgemeinen Gesetz der Vernunft widersprechen) oder dies als rigiden Moralismus verwerfen. In keinem Fall hilft uns dieser Moral-Check zu erkennen, wie wir autonom leben, also eine Lebensweise (Hegel: ‚Sittlichkeit‘) praktizieren können, die Autonomie als Ganze verkörpert. Würde hat etwas mit der Befähigung des Strebens nach dem Guten aus eigener Einsicht zu tun. Dies lässt die Möglichkeit offen, dass Menschen aus eigenem Antrieb lauter unbedeutende Dinge tun. Es ist ebenso fragwürdig zu behaupten, man wisse besser als die Betroffenen selbst, welche Lebensweise wirklich bedeutungsvoll sei, wie zu behaupten, man dürfte derartige Aussagen nicht treffen. Eine Gesellschaft, in der alle Menschen ihre Fähigkeiten bloß dafür nutzen, möglichst viel Geld anzuhäufen (wobei sie sich dabei aber an die Gesetze halten und im Rahmen moralischer Normen bleiben), wäre keine Gesellschaft, in der Menschen eine würdevolle Lebensweise erstreben. In ihr würden Anlagen guten menschlichen Lebens schlicht verkümmern. Autonomie und damit Würde hängt also daran, dass weder über den Menschen verfügt wird noch der Mensch sich alles verfügbar macht. Autonomie hängt an der eigenmotivierten Anerkennung von etwas Unverfügbarem. Das Konzept der Autonomie setzt zudem irgendeine Form der praktischen Strukturierung voraus, wonach Menschen im Rahmen ihrer Begrenzungen (allen voran der Endlichkeit und Gefährdetheit des Lebens) eine Vorstellung davon entwickeln, was für sie wichtig ist, und dass sie sich selbst daran halten (es also auch verfehlen können). Diese Vorstellung muss zugleich die ganz eigene sein, und sie muss verbunden sein mit den Vorstellungen anderer Menschen. Charles Taylor spricht bekanntlich davon, dass unser Leben durch starke Wertungen Sinn erhält, weil diese uns helfen, den Strom kommender und gehender Wünsche und

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Stimmungen innerlich auf Distanz zu halten.¹⁴ Aber starke Wertungen führen uns in die Isolation, wenn sie nicht darauf angelegt sind, das eigene Leben mit dem Leben anderer zu verweben. Autonomie, die Würde verkörpert, richtet sich auf bedeutungsvolle Ziele, und diese überschreiten stets den Horizont der eigenen Person. Damit deutet sich an, dass Autonomie nicht ins Belieben der Individuen gestellt werden kann, auch wenn nur sie es sind, die Würde verkörpern können. Autonomie und Würde können nur im Horizont gemeinsamer Güter und damit verbundener Erfahrungen thematisiert werden. Erst in diesem Horizont wird unser Leben erzählbar und von Sinn erfüllt.¹⁵ Insofern ist ein weltlicher Staat ein solcher, der eine ernsthafte Suche nach dem, was Autonomie bedeutungsvoll macht, respektiert, schützt und ermöglicht. Das Austragen dieser Kontroversen muss insofern säkular sein, als es auf die gemeinsam bewohnte Welt abzielt, die von niemandem vereinnahmt werden darf. Es muss darauf zielen, allen eine würdevolle Beteiligung zu ermöglichen, indem ihr Verständnis davon, was das Leben bedeutungsvoll macht, darin einen Platz finden kann. Säkular wäre dann nicht im Sinne von antireligiös zu verstehen, sondern im Sinne einer vollen Weltlichkeit, zu der alle mit ihren kulturellen Traditionen und gemeinschaftlich geteilten Sichtweisen Zugang haben.

4 Der christliche Glaube und das Projekt des säkularen Staates Gibt es so etwas wie ein spezifisches Potenzial des christlichen Glaubens mit Blick auf diese Bestimmungen von Weltlichkeit, Autonomie und Würde? Man kommt an dieser Stelle nicht um eine Deutung dessen herum, was das Christentum ausmacht. Das ist heikel, gerade in diesem Rahmen. Jenseits einzelner spezifischer Glaubenssätze würde ich den christlichen Glauben als durch ein Paradox der Säkularität gekennzeichnet sehen: In ihm verbindet sich höchstdenkbare Weltlichkeit (Gott wird ein Teil der Welt, ein Ausstieg aus der Welt wird ausgeschlossen, stattdessen eine radikale solidarische Verbundenheit mit ihr verkündet) mit höchster Säkularitätsverweigerung (Gott als der ‚ganz Andere‘; Mahnung, sich nicht der Welt anzupassen; Zusage der Überwindung der Welt etc.). Deshalb

 Vgl. Charles Taylor, „Was ist menschliches Handeln?“, in: Ders., Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, 9 – 51.  Zu ‚Narrativität‘ als Grundbedingung sinnvollen menschlichen Lebens vgl. Alasdair MacIntyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt a. M./New York: Campus 1987.

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sind die Geschichten, die uns das Christentum zum Erzählbarmachen unseres Lebens anbietet, Geschichten der Verwobenheit von menschlicher (Welt) und göttlicher Sphäre (Reich Gottes). Es sind Geschichten der Inkarnation.¹⁶ Sie gipfeln in den überlieferten Erzählungen von Jesus von Nazareth als dem Fleisch gewordenen Wort Gottes und damit dem Sich-Ausliefern Gottes an die Welt in ihrer Ambivalenz. Wenn ich mich frage, was ein solches Grundverständnis des christlichen Glaubens mit dem oben beschriebenen Staatsverständnis zu tun haben könnte, sehe ich drei Anknüpfungspunkte: (1.) in Bezug auf die Ausdeutung von Menschenwürde und Autonomie: eine spezifische Erzählbarkeit dessen, was dem menschlichen Leben Tiefe verleiht – Autonomie unter Annahme von Autonomiegrenzen; (2.) in Bezug auf das Ideal der Gleichheit: ein spezifisches Ethos der Gleichheit, das sich als Durch-Kreuzen gesellschaftlicher Hierarchien, verstanden als Formen der Fetischisierung gesellschaftlicher Ordnung, manifestiert und auf der Erfahrung einer radikalen Besitzlosigkeit beruht – Gleichheit der Besitzlosen; (3.) in Bezug auf die Zukunft als Horizont menschlichen Hoffens: eine spezifische Erzählbarkeit der Geschichte, die Erfahrungen des Scheiterns und Hoffnung auf Befreiung zur Artikulation verhilft – Hoffnung im Scheitern. Ich kann diese drei Punkte im Folgenden nur anreißen und hoffen, dass damit die jeweilige Intuition deutlich wird.¹⁷ Angedeutet werden können an dieser Stelle auch nur die Verbindungen mit drei spezifischen Funktionsproblemen des demokratischen Verfassungsstaates: (1.) dem Zwang ständigen Wachstums und der Vermehrung von Optionen, gründend in der Unfähigkeit, Begrenztheit einen Sinn abzugewinnen; (2.) der Produktion und Verfestigung von Ungleichheit im Namen von Autonomie, Rechtsansprüchen und Leistung; (3.) dem Verlust eines Horizonts der gemeinsamen Bewährung und Transformation. Ad (1): Für ein Leben in Würde als Autonomie sind nicht nur Freiräume, verbürgt durch Rechte, sondern auch Reflexionsfähigkeiten und praktische Optionen eines bedeutungsvollen Lebens entscheidend.¹⁸ Das Eintreten für Freiheiten im-

 Vgl. die Darstellung bei Gianni Vattimo, Jenseits des Christentums. Gibt es eine Welt ohne Gott?, München: Hanser 2004.  Für ausführlichere Überlegungen bzw. Vorüberlegungen vgl. Haus 2003; ders., „Wie viel Religion braucht der Kommunitarismus?“, in Kommunitarismus und Religion, hg. von Michael Kühnlein, Berlin/New York: De Gruyter 2010, 39 – 56; ders., „No Freedom without Exodus – no Exodus without Spirituality? Reflections on Michael Walzer’s Politics of Exodus“, in Exodus, Exilpolitik und Revolution. Zur politischen Theologie Michael Walzers, hg. von Michael Kühnlein, Tübingen: Mohr Siebeck 2017, 305 – 327.  Joseph Raz, The Morality of Freedom, Oxford [Oxfordshire]/New York: Clarendon Press/Oxford University Press 1986.

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pliziert sinnlogisch, dass die Formen sozialer Praxis, welche durch die Freiheiten geschützt werden (also etwa eine Gewissensentscheidung zu treffen, ein religiöses Bekenntnis anzunehmen oder nicht, an Demokratie teilzuhaben), bedeutsam für alle Menschen sind.¹⁹ Religiöse Traditionen bieten spezifische Verständnishorizonte, die dem Leben Tiefe verleihen können, die also einzelne Handlungssituationen und Rollen übergreifende qualitative Wertungen von Handlungsweisen und damit zusammenhängenden Wünschen ermöglichen.²⁰ Da Tiefe immer etwas Gefährliches hat und jeweils durch den Handelnden und Reflektierenden auszuloten ist, gehört zum Schutz der Religionsfreiheit auch die Sicherheit, sich herausziehen zu können, wenn religiöse Praktiken und Überzeugungen als Gefährdung der eigenen Autonomie empfunden werden. Was bedeutet Tiefe? Ich würde sagen: Es handelt sich um Optionen, welche sich im Lichte von Narrationen auftun, die dem Leben einen Horizont über bloße Anpassung, Dahintreiben und Selbstsucht hinaus erschließen. Ich sagte oben, dass die Grenzen der Autonomie reflexiv in das Streben nach Autonomie hineingenommen werden müssen. Begrenzungen müssen insofern Annahme finden. Die Würde des Menschen hat etwas damit zu tun, dass er ein zutiefst materielles und damit fragiles, vergängliches, begrenztes Wesen ist, das im Wissen um diese Hinfälligkeit sein Leben bewusst gestaltet und dadurch seinem Leben etwas einschreiben kann, was diese Hinfälligkeit transzendiert, mit anderen Worten: ihr Bedeutung verleiht. Damit ist nicht gesagt, dass nur Wesen, die vergänglich sind, Würde haben können (vielleicht ja, vielleicht nein) – sondern nur, dass den Menschen diese spezifische Art von Würde als Auf-sich-nehmen-und-Überschreiten-von-Endlichkeit auszeichnet. Es gibt unzählige Ausdrucksformen des Verlangens nach Bedeutsamkeit-in-Endlichkeit: das Streben nach dem Kontakt mit einer Quelle des Seins, die jenseits der uns bekannten Dimensionen liegt; der Kampf für gemeinsame Ideale; das Ausbrechen aus erstarrten Routinen und Erwartungen; das Sich-Entleeren-in-die-Fülle-des-Nichtunterschiedenen, die Identifikation mit etwas, das die eigene Person umfängt und trägt. All dies kann selbstverständlich auch pathologische Formen annehmen. Tiefe und Abgründigkeit gehören, wie gesagt, zusammen. Aber Flachheit ist nicht die Lösung. Der christliche Glaube hat diese Begrenztheit des Menschen und die Möglichkeit, sie in Würde anzunehmen, statt in Selbstüberhebung dagegen zu rebellieren, schon immer ins Zentrum des guten Lebens gestellt. Erfahrungen von Leiden, Enttäuschung und Scheitern als Schicksal auch der ‚Gerechten‘ sind

 Charles Taylor, „Der Irrtum der negativen Freiheit“, in: Ders. 1988, 118 – 144.  Vgl. Taylor 1988b, 21– 25.

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ihm eigen. Die Ideologieanfälligkeit (gewissermaßen die Verflachung qua interessierter Inbesitznahme) dieser Sichtweise ist durch die Religionskritik erbarmungslos (und damit gerade der Barmherzigkeit zu Diensten) vorangetrieben worden und sollte, wie oben bereits angedeutet, den Stand markieren, hinter den christliche Konzeptionen von Autonomie und Würde nicht zurückfallen sollten. Im Anschluss an Marx lässt sich dann formulieren: Der säkulare Staat muss dafür Sorge tragen, dass gesellschaftlich verantwortetes menschliches Elend überwunden wird. Gerade dafür sollten Christen eintreten. Denn dann und nur dann ist Religion nicht mehr nur das Ergebnis und die letztliche Bekräftigung dieses Elends. Man kann dies auch als eine Neufassung von Thomas von Aquins Diktum verstehen, dass die Gnade die Natur nicht zerstört, sondern auf dieser aufbaut und sie vollendet. Wenn man solcherart die aufklärerische Religionskritik ernst nimmt, eröffnet sich die Einsicht, dass die Befreiung aus gesellschaftlich verantwortetem oder zumindest überwindbarem Elend Begrenztheit nicht einfach aufhebt, sondern transformiert. Es kann dann deutlicher hervortreten, wie stark wir voneinander und von der Welt um uns abhängig sind, paradoxerweise gerade in unserer Autonomie. Unser Verständnis von Autonomie und Leben in Würde muss eine gute Art der „Anerkennung der Abhängigkeit“²¹ beinhalten. Dazu gehört zunächst einmal die Anerkennung der fundamentalen Angewiesenheit auf Beziehungen zu anderen Menschen für jedes autonome Leben, insofern es auf Bedeutungsvolles ausgerichtet ist. Gerade wenn wir davon ausgehen, dass das, was bedeutungsvoll ist, nicht durch den Staat dekretiert werden kann und darf, sondern Ergebnis einer je eigenen Suche ist, sind wir ja umso stärker davon abhängig, dass andere Menschen sich darauf einlassen, gemeinsam mit uns nach dem zu suchen, für was es sich wirklich zu leben (und möglicherweise zu sterben) lohnt. Gemeinsam mit anderen brauchen wir also um unserer eigenen Autonomie willen eine Praxis der Anerkennung dessen, was unserem Leben Bedeutung gibt, weil dieses Leben mehr ist als unsere konkrete einzelne Existenz und doch gerade in dieser begrenzten Existenz und möglicherweise nur in ihr Ausdruck finden kann. In diesem Sinne setzt unsere Autonomie die Anerkennung von Gemeinschaften als konstitutiv für ein bedeutungsvolles Leben voraus. Hinzu kommt die Anerkennung der Verwobenheit mit der animalischen und pflanzlichen Umwelt, nicht zuletzt in der Gemeinsamkeit von Verletzlichkeit. Der demokratische Verfassungsstaat kann mit solchen Begrenztheiten aus sich heraus wenig anfangen. Er

 Vgl. Alasdair MacIntyre, Die Anerkennung der Abhängigkeit. Über menschliche Tugenden, Hamburg: Rotbuch 2001.

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ist auf die in der Gesellschaft zirkulierenden Autonomieverständnisse angewiesen. Ad (2): Der säkulare Staat ist, sofern er sich von der Würde aller herleitet, ein Staat, der allen Menschen gleichen Wert zumisst. Er ist auf den Glauben an die Gleichheit angewiesen. Wie ist aber dieser Glaube möglich? In diesem Zusammenhang hat mich der intellektuelle Werdegang des 2009 verstorbenen Gleichheitsphilosophen Gerald A. Cohen beeindruckt. Er schildert ihn in seinem Buch Gleichheit ohne Gleichgültigkeit (im Englischen nachdenklich stimmender: If You’re an Egalitarian, How Come You’re So Rich?). Cohen war lange Zeit seines Lebens Marxist, zunächst mit strikt bolschewistischer Ausrichtung, und hat ein viel beachtetes Buch zur Rehabilitierung des Historischen Materialismus nach Marx geschrieben. Sein Glaube an die Gleichheit beruhte zunächst, wie er schreibt, auf „meinem marxistischen Glauben an die Unvermeidbarkeit von Gleichheit“²². Doch diesen Glauben verlor er, als ihm nach und nach dämmerte, dass Gleichheit nicht das unvermeidbare Ergebnis historischer Prozesse ist. Das Narrativ der Kommunisten als ‚Geburtshelfern‘ eines aus sich selbst hervordrängenden Zeitalters der Gleichheit aller Menschen bewertet Cohen nicht zuletzt im Lichte der Geschichte des 20. Jahrhunderts als hinfällig. Auch der mainstream des philosophisch-liberalen Egalitarismus nach Rawls schien Cohen keine Heimat für seinen Glauben an die Gleichheit zu bieten. Der liberale Egalitarismus verortet das Gleichheitsideal in der gerechten Gestaltung der gesellschaftlichen Grundstruktur, in einem Anspruch auf real gleiche Chancen. Ungleichheiten seien so zu regeln, dass sie nur zugelassen werden, wenn sie den am schlechtesten Gestellten am meisten nutzen.²³ Dabei hat Rawls vor allem im Blick, dass Leistungsanreize in Form höherer Einkommen und statusträchtiger Positionen erforderlich sein können, damit besonders Begabte und Leistungsfähige zur Vermehrung gesellschaftlichen Wohlstands beitragen, der dann wieder zu einem gewissen Teil umverteilt werden kann. Das Problem liegt nach Cohen darin, dass damit eine Argumentationsweise legitimiert wird, die einer Ungleichheitslogik den Weg bahnt.²⁴ Da es kein Kriterium für die Angemessenheit einer Entlohnung gibt, kann seitens der ‚Leistungsträger‘ immer darauf hingewiesen werden, dass ihre Motivation bei geringeren Vorteilen fraglich werde. In einer konkurrenzbasierten und globalisierten Ökonomie sind dieser Argumentationslogik offensichtlich noch ausgreifendere Möglichkeiten gegeben. Woran es mangelt, ist eine innere Haltung der Gleichheit, die das Anreiz-Argument unan Gerald A. Cohen, Gleichheit ohne Gleichgültigkeit. Politische Philosophie und individuelles Verhalten, Hamburg: Rotbuch 2001, 13.  John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1975.  Cohen 2001, Kap. VIII.

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gemessen werden lässt. Cohen beschreibt den von ihm gezogenen Schluss: „Ich glaube nun, daß es, um Gleichheit zu verwirklichen, einer Veränderung im gesellschaftlichen Ethos, einer Veränderung in den Einstellungen, die Menschen im Alltagsleben zueinander haben, bedarf, und diese Annahme rückt mich der einst so geringgeschätzten christlichen Sichtweise näher, als ich jemals erwartet habe.“²⁵ Cohen schreibt nicht viel zu spezifischen Manifestationen eines christlich inspirierten Gleichheitsethos. Mir erscheint an dieser Stelle ein Zitat des 1968 verstorbenen Mystikers Thomas Merton passend, der sich in seinem Buch Christliche Kontemplation. Ein radikaler Weg der Gottessuche über den Unterschied zwischen Einsamkeit (für das Selbst-Sein unerlässlich) und Getrenntsein (Quelle des Mehr-als-andere-Sein-Wollens) Gedanken macht: „Für den Menschen, der sich immer noch vorstellt, irgendein durch Talent, Gnade oder Tugend bedingter Zufall trenne ihn von den anderen Menschen und stelle ihn höher als diese, ist kein wahrer Friede möglich. Einsamkeit ist nicht Getrenntsein.“²⁶ Karl Rahners Diktum, dass das Christentum heute nur noch als Mystik lebbar ist,²⁷ lässt sich vor diesem Hintergrund politisch, nämlich radikal-egalitär verstehen. Mystik würde ich (christlich) verstehen als ein bewusstes, vertrauendes und liebendes SichAussetzen nach dem Vorbild Christi: sich der Unbegreiflichkeit Gottes aussetzen, der Unverfügbarkeit und Unverdientheit des eigenen Daseins, der grundlosen und gerade deshalb unhintergehbaren Verbundenheit mit der Welt und den Menschen, die ebenfalls in der Welt sind, einschließlich der menschlichen Abgründe und Leiden. Mystik würde dann solidarische Verbundenheit im Bewusstsein der Besitzlosigkeit in und gegenüber der Welt bedeuten. In konkreten Gestalten wie der von Thomas Merton, welcher Partei für die schwarze Bürgerrechtsbewegung nahm, zeigt sich die Inkarnation solcher politisch-egalitär verstandener Mystik. Es sind diese Gestalten (wie etwa auch Madeleine Delbrêl, die ‚Mystikerin der Straße‘), von denen die Welt (also wir alle) heute am meisten vom christlichen Glauben lernen könnte. Ad (3): Der säkulare demokratische Verfassungsstaat ist verbunden mit einer Vorstellung von politisch-gesellschaftlicher Zeit, die kulturgeschichtlich keine Selbstverständlichkeit darstellt: Ein Volk gründet einen Staat, gibt sich eine Verfassung, beginnt ein politisches Projekt und macht sich auf den Weg. Etwas

 Ebd., 13 f.  Thomas Merton, Christliche Kontemplation. Ein radikaler Weg der Gottessuche, München: Claudius 2010, 95.  „Der Fromme der Zukunft wird ein ‚Mystiker‘ sein, einer, der etwas ‚erfahren‘ hat, oder er wird nicht mehr sein.“ (Karl Rahner, „Frömmigkeit heute und morgen“, Geist und Leben, Bd. 39, 1966, 326 – 342, 335)

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Neues kommt in die Welt, die Zukunft ist offen, sie bietet die Möglichkeit, eine neue Gesellschaft hervorzubringen; die Gesellschaft versteht sich als politisches Projekt – mit oft sehr kontroversen Deutungen dieses Projektes. Die Spur von Völkern und Nationen verliert sich in den Tiefen der Geschichte. Durch mythisierende Narrationen wird sie aus einer Gemengelage herauspräpariert, um zu plausibilisieren, wieso die Forderung nach nationaler Selbstbestimmung historische Legitimität hat. Wie auch immer man diese mehr oder weniger romantisierende Rekonstruktion nationaler Identitäten einschätzen mag;²⁸ es bleibt dabei, dass der säkulare Staat aufs Engste verbunden ist mit der Idee eines sich politisch selbst bestimmenden, Gründungsmacht beanspruchenden Volkes. Autonomie ist nicht nur der Anspruch auf individuelle Freiheiten (verbunden mit bedeutungsvollen Optionen), sie richtet sich auch auf kollektive Subjekte.²⁹ Nationen beanspruchen, sich selbst zu bestimmen und darin anerkannt zu werden, aber auch Gemeinschaften und Gruppen innerhalb von Nationen beanspruchen, als autonom anerkannt, wahrgenommen und berücksichtigt zu werden. Auch darin zeigt sich ein spezifischer Aspekt von Würde. In der Moderne stellt politische Teilhabe eine entscheidende Voraussetzung für die Selbstbehauptung kultureller Identitäten dar, weil diese Identitäten nicht mehr durch eine der politischen Auseinandersetzung entzogene Instanz geschützt werden, sondern im Zusammenleben freier und gleicher Gesellschaftsmitglieder und einer auf kollektiver Selbstbestimmung basierenden Gemeinschaft der Völker zu praktizieren sind.³⁰ Die Vorstellung, dass die Zukunft offen ist und damit eine neue Gesellschaft möglich, die besser ist als die vergangene und die bestehende, ist grundlegend für eine Politik der Veränderung. Nach Michael Walzer wurzelt sie kulturgeschichtlich in der Exodus-Erzählung der hebräischen Bibel, die in immer neuen Kämpfen um eine andere Gesellschaft rezipiert und reinterpretiert worden ist.³¹ Auch die Exodus-Geschichte ist, wie gerade Walzer zeigt, eine Geschichte mit Tiefe und

 Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London/New York: Verso 1991.  Basil Bornemann/Michael Haus, „Politische Autonomie. Semantiken, Entwicklungslinien, Theoriekontexte“, in Autonomie revisited. Beiträge zu einem umstrittenen Grundbegriff in Wissenschaft, Kunst und Politik, hg. von Martina Franzen, Arlena Jung, David Kaldewey und Jasper Korte, Weinheim: Beltz Juventa 2014, 260 – 283.  Vgl. im Anschluss an Taylor: Michael Haus, „Zwischen Bewährung und Abwärtsspirale. Taylor über Demokratie, Bürgerbeteiligung und Zivilgesellschaft“, in Wie wollen wir leben? Das politische Denken und Staatsverständnis von Charles Taylor, hg. von Ulf Bohmann, Baden-Baden: Nomos 2014, 221– 245, 231.  Michael Walzer, Exodus und Revolution, Berlin: Rotbuch 1988; vgl. auch die Beiträge in Exodus, Exilpolitik und Revolution.

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damit auch Abgründen. Sie hat dementsprechend unzähligen emanzipatorischen Befreiungsbewegungen als Inspiration gedient, aber auch zur Legitimation radikal-avantgardistischer Politikkonzepte mit geringem Empfindlichkeitsgrad gegenüber Abweichlern beigetragen oder wurde als Legitimation von Vernichtungskriegen verwendet. Ist sie deshalb (wie wohl alles Religiöse) mit Vorsicht zu genießen, so scheint mir doch die von ihr ausgehende erzählerische Kraft unverzichtbar und ein Verlust an ‚Exodus-Narrativität‘ für unsere Demokratie ein Problem darzustellen.³² Die Exodus-Erzählung handelt im Kern davon, dass der Weg zur Freiheit über eine Erneuerung der politischen Gemeinschaft im Einklang mit der Gerechtigkeit führt, wobei sich Gerechtigkeit in erster Linie mit der allgemeinen Geltung von Regeln und dem Schutz der Schwächeren verbindet. Gewiss ist der Auszug ‚aus dem Sklavenhaus Ägypten’ notwendig, damit sich das Volk Israel (im Bundesschluss) überhaupt als solches konstituieren kann. Aber der Bundesschluss, bei dem ‚das ganze Volk‘ zustimmt, ist eben erst der Beginn einer langwierigen kollektiven Anstrengung voller Anfechtungen, die ‚innere Sklaverei‘, also die Anhänglichkeit an eine doch auch bequeme Knechtschaft (mag diese auch nur in einer verklärten Erinnerung existieren), zu überwinden. Die Bewährungsprobe der ‚Exodus-Politik‘ liegt in der Erfahrung des Scheiterns; und damit gelangen wir wieder zum Motiv der Begrenztheit und Fragilität menschlichen Autonomiestrebens. Auch das kollektive Streben nach einem Leben, in dem die Knechtschaft keinen Platz mehr hat, die Waisen und Witwen zu ihrem Recht kommen und die Mächtigen die Wahrheit nicht unterdrücken, unterliegt immer wieder der Enttäuschung. Der Scheideweg führt die einen zur Verdrängung des Scheiterns, zur Gleichsetzung des Status quo mit dem ursprünglich Verheißenen und zur Selbstzufriedenheit; andere führt er in die politische Wut und zum Streben nach umfassender Kontrolle durch eine politische Avantgarde, die für sich beansprucht, den Rest der Menschheit (auch gegen deren Willen) zu befreien; wieder andere schließlich, und das macht die ‚Exodus-Politik‘ im Sinne Walzers aus, üben sich in politischer Demut, Beharrlichkeit im Eintreten für eine bessere Welt und der Tugend der Geduld – was nicht gleichzusetzen ist mit Zynismus, Indifferenz oder Verzweiflung. Erst wenn wir eine derartige Erzählfähigkeit politischer Befreiung jenseits avantgardistischer Allmachtsphantasien (wieder) erreichen, kann die demokratische Verheißung eines Lebens in Gleichheit und Gerechtigkeit neue Hoffnung bekommen. Dem säkularen Humanismus wohnt, wie Taylor hervorhebt, insofern eine tragische Ironie inne, als er in der beständigen Gefahr steht, die Menschen als der neuen Gesellschaft unwürdige Masse zu verachten und so in die Avantgarde-

 Vgl. Haus 2017.

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Falle zu laufen – „the higher the sense of potential, the more grievously do real people fall short and the more severe the turnaround that is inspired by the disappointment“³³. Wie ist es möglich, nach radikalem Wandel zu streben, ohne der Versuchung des weltanschaulichen Avantgardismus zu verfallen? Christlich inspirierte Menschen wie Martin Luther King haben es uns vorgemacht. Dass sie sich dabei von nichtchristlichen Menschen wie Mahatma Gandhi inspirieren ließen, spricht erneut für die Angewiesenheit des Christentums auf die Welt. In der Ethik der Gewaltlosigkeit gilt, dass „the attack is directed against forces of evil rather than against persons who are caught in those forces“ – wobei es letztlich um das Ziel geht, gemeinsam in einer neuen Welt leben zu können: „nonviolent resistance does not seek to defeat or humiliate the opponent, but to win his friendship and understanding“.³⁴ Allein diese Haltung, so King, bewahrt davor, dass die Unterdrückten „become bitter or indulge in hate campaigns“³⁵. Was nützte es auch dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?

Literatur Anderson, Benedict (1991): Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London/New York: Verso. Arendt, Hannah (1970): Macht und Gewalt, München: Piper. Arendt, Hannah (2003): Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass, München: Piper. Berggren, Henrik/Trägårdh, Lars (2016): Ist der Schwede ein Mensch? Was wir von unseren nordischen Nachbarn lernen können und wo wir uns in ihnen täuschen, München: btb. Bornemann, Basil/Haus, Michael (2014): „Politische Autonomie. Semantiken, Entwicklungslinien, Theoriekontexte“, in Autonomie revisited. Beiträge zu einem umstrittenen Grundbegriff in Wissenschaft, Kunst und Politik (Zeitschrift für Theoretische Soziologie, Sdbd. 2), hg. von Martina Franzen, Arlena Jung, David Kaldewey und Jasper Korte, Weinheim: Beltz Juventa, 260 – 283. Cohen, Gerald A. (2001): Gleichheit ohne Gleichgültigkeit. Politische Philosophie und individuelles Verhalten (Rotbuch Rationen), Hamburg: Rotbuch. Exodus, Exilpolitik und Revolution. Zur politischen Theologie Michael Walzers, hg. von Michael Kühnlein, Tübingen: Mohr Siebeck 2017. Habermas, Jürgen (1996): Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

 Taylor 1999, 33.  Martin Luther King, „Nonviolence and Radical Justice“, Christian Century, 1957, 118 – 122, 120.  Ebd., 121.

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Michael Haus

Taylor, Charles (1999): „A Catholic Modernity?“, in A Catholic Modernity? Charles Taylor’s Marianist Award Lecture, hg. von James Heft, New York/Oxford: Oxford University Press, 13 – 37. Taylor, Charles (2010): „Für einen neuen Säkularismus. Zur Einführung“, Transit. Europäische Revue, Bd. 39, 5 – 28. Vattimo, Gianni (2004): Jenseits des Christentums. Gibt es eine Welt ohne Gott?, München: Hanser. Walzer, Michael (1988): Exodus und Revolution (Rotbuch Rationen), Berlin: Rotbuch. Walzer, Michael (1996): „On Negative Politics“, in Liberalism without Illusions. Essays on Liberal Theory and the Political Vision of Judith N. Shklar, hg. von Bernard Yack, Chicago: University of Chicago Press, 17 – 24.

Christian Albrecht und Reiner Anselm

Öffentlicher Protestantismus Grundzüge eines Programms der gesellschaftlichen Präsenz und der politischen Aufgaben des evangelischen Christentums

Nicht zuletzt als Reaktion auf die Katastrophe des Nationalsozialismus und im Zusammenhang der kirchlichen Beteiligung am staatlich-politischen Neuaufbau nach 1945 haben das christliche Bewusstsein der Verantwortung für das Gemeinwesen und die Bereitschaft, Verantwortung im Politischen zu übernehmen, diejenige Evidenz gewonnen, mit der sie seitdem zum selbstverständlichen Charakteristikum des Protestantismus geworden sind. Zwar ist der christliche Glaube niemals nur eine Sache des Einzelnen und seiner Innerlichkeit gewesen. Schon im biblischen Zeugnis entfaltet er seine Kraft nur, weil er sich mit einer politischen Metaphorik verbindet. Und je stärker in der Reformation und der Aufklärung der Einzelne, seine Innerlichkeit und sein Gottesverhältnis, in den Blick rückten, umso mehr wuchs zugleich das Bewusstsein der politischen Dimension des christlichen Glaubens. In der Bonner Republik aber wurde das politische Bewusstsein zum Bestandteil jenes Kerngeschäfts, auf das sich zu konzentrieren dem Protestantismus immer wieder einmal geraten wurde. Umso strittiger ist aber die Frage, wie diese Verantwortung für das demokratisch verfasste Gemeinwesen in der Gegenwart angemessen wahrgenommen werden soll und welche Ziele sich damit verbinden. Zumeist verläuft diese Kontroverse in lang eingespielten Bahnen und mit erwartbaren Argumenten. Etwas schematisierend lässt sich sagen: Auf der einen Seite steht die Sorge, dass einer Kirche, die sich allzu detailliert und meinungsfreudig in tagesaktuelle politische Fragen einmischt, ihr geistlicher Kern abhanden zu kommen droht. Denn mehr als das Pochen auf institutionalisierten rechtsstaatlichen Verfahren der politischen Meinungsbildung sei ihr nicht möglich. Daran halten insbesondere die Vertreter fest, die sich Programmen liberaler Theologie verpflichtet fühlen. Auf der anderen Seite steht, nicht zuletzt als Lernerfahrung aus dem Nationalsozialismus, der entschlossene Wille, sich als Kirche an den ethisch-politischen Gegenwartsdiskussionen durchaus positionsfreudig, ja in der Beanspruchung einer besonderen Autorität und erforderlichenfalls auch im Gestus prophetisch beschwörender Rede zu beteiligen – dies sei man dem eigenen Glauben und der Geschichte der evangelisch-kirchlichen Verstrickung in politisches Unrecht schuldig. So lautet die Begründung beispielsweise der Anhänger der ‚Öffentlichen Theologie‘.

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In dieser Frontstellung stehen sich Enthaltsamkeit in der politischen Positionierung hier und normativ-autoritativer Verkündigungsgestus dort recht grundsätzlich gegenüber. Derzeit scheint aber ein Drittes nötig. Wie kann der Protestantismus sein politisches Engagement angemessen wahrnehmen in einer Gegenwartssituation, in der zunehmend eingesehen werden muss, wie fragil die liberale Rechtstaatlichkeit und wie gefährdet die Anerkennung gesellschaftlicher Pluralität ist? Wie kann man evangelisch argumentieren in einer gesellschaftlichen Situation, in der an die Stelle einer Sehnsucht nach einem Konsens immer mehr die Einsicht in die Unauflöslichkeit bestimmter Konflikte tritt? Das evangelische Christentum tut gut daran, in diesen Entwicklungen weder resignativ aufzutreten noch mit abschottendem autoritativen Pochen auf eigene Gewissheiten, sondern sich selbst als Motor und Modus der diskursiven Austragung von gesellschaftlichen und politischen Differenzen zu präsentieren. Doch in welchen Formen geschieht dies, welche Orientierungspunkte werden aufgerufen – und: Wo tritt ein solches evangelisches Christentum in Erscheinung? Der Protestantismus ist immer auch ‚Öffentlicher Protestantismus‘, ein Protestantismus, der die Öffentlichkeit sucht, sie befördert, sich an ihr beteiligt. Mit dem Stichwort eines ‚Öffentlichen Protestantismus‘¹ verbindet sich ein evangelisches Christentumsprogramm, das dem Rückzug aus der Gesellschaft entschieden entgegentritt – sei es einem Rückzug in eine falsch verstandene Innerlichkeit, sei es einem Auftritt, der sich als Anspruch auf eine überweltlich legitimierte Amtsautorität maskiert, faktisch aber ebenfalls einen Rückzug aus der Gesellschaft bedeutet. Der ‚Öffentliche Protestantismus‘ ist derjenige Modus des evangelischen Christentums, in dem die Voraussetzungen des gesellschaftlichen Zusammenhalts und Hintergrundüberzeugungen, die für ein liberales Gemeinwesen unabdingbar sind, bedacht und kultiviert werden. Dabei geht es um die Suche nach gemeinsamen Grundlagen, die als Korridor einen pluralen, an den Rechten des Einzelnen orientierten politischen Diskurs ermöglichen. Er bildet so einen orientierenden Rahmen für eine Willensbildung im demokratischen Gemeinwesen, die dem Respekt vor dem Individuum und der Suche nach Kompromissen verpflichtet ist – und trägt darüber hinaus zu seiner Verbreitung und Erhaltung bei.

 Das Programm eines solchen ‚Öffentlichen Protestantismus‘ haben die Vf. skizziert in: Christian Albrecht und Reiner Anselm, Öffentlicher Protestantismus. Zur aktuellen Debatte um gesellschaftliche Präsenz und politische Aufgaben des evangelischen Christentums (Theologische Studien, NF 4), Zürich: Theologischer Verlag 2017. Die nachfolgenden Ausführungen verstehen sich als Zusammenfassung der dort vorgetragenen Überlegungen.

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1 Leitgedanken des ‚Öffentlichen Protestantismus‘ An welchen unhintergehbaren, den Freiheitssinn des Evangeliums umreißenden Vorgaben ist ein solcher Korridor orientiert? Welche Leitgedanken sind zentral, die gleichermaßen den Raum für die Debatte eröffnen wie sie Grenzen für die politischen Auseinandersetzungen markieren? In Aufnahme der drei Artikel des Glaubensbekenntnisses und der dort festgehaltenen Trias des Glaubens an Gott den Schöpfer, an Jesus Christus den Versöhner und den Heiligen Geist als den Erlöser der Welt lassen sich drei Grundsätze formulieren. Sie markieren den Richtungssinn, dem die Praxis politischer Stellungnahmen des Protestantismus zu genügen hat, wenn sie diskursive Rahmenbedingungen reklamiert. Solche Stellungnahmen werden stets darauf dringen, (1) die Weltlichkeit der Welt zu respektieren als Konsequenz aus dem Glauben an Gott den Schöpfer; (2) Freiheit in der Gemeinschaft zu ermöglichen als Konsequenz aus dem Glauben an Gott den Versöhner; (3) die Zukunftsfähigkeit menschlichen Lebens zu gewährleisten als Konsequenz aus dem Glauben an Gott den Erlöser. Damit sind Orientierungspunkte benannt, die leicht als Konkretionen des dreigliedrigen christlichen Gottesbegriffes zu erkennen sind. Nur am Rande sei erwähnt, dass die Dreidimensionalität des individuellen, kirchlichen und öffentlichen Protestantismus selbst ebenfalls als ein weiterer Ausdruck des als schöpferisch, versöhnend und erlösend tätigen Gottes begriffen werden muss: Die Individualität des Glaubens – ganz im Sinne von Luthers Auslegung des ersten Glaubensartikels im Katechismus – als Ausdruck des Schöpfungsgedankens, der Kirchenbezug als Ausdruck der gemeinschaftsbildenden Kraft der Versöhnung durch Christus und die öffentliche Dimension des Protestantismus als Ausdruck der im Geist die räumlichen und zeitlichen Grenzen traditioneller Gemeinschaftsbildung überschreitenden Erlösung. In ethischer Perspektive sind die oben zuerst genannten Orientierungspunkte – die Weltlichkeit der Welt zu respektieren, Freiheit in der Gemeinschaft zu ermöglichen und die Zukunftsfähigkeit menschlichen Lebens zu gewährleisten – überdies leicht als Konkretisierungen des christlichen Freiheitsgedankens zu erkennen, mit dessen Wiederentdeckung die Reformation ihren Ausgang nahm. Sie betonen die Freiheit gegenüber der Orientierung an einem als normativ verstandenen Naturzustand, die Freiheit gegenüber der den Einzelnen umgebenden Gemeinschaft und die Freiheit gegenüber allen Vorstellungen geschichtlicher Determination. Sie verbinden die Anerkennung des in den jeweiligen Bereichen Gegebenen mit der Ablehnung jedweder Sakralisierung des Gegebenen. Das Gegebene ist zu gestalten, nicht als unveränderlich hinzunehmen. Das be-

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deutet aber auch, dass sich die Konkretionen dieser drei Grundsätze nur in einiger Vorläufigkeit und in dem Bewusstsein bestimmen lassen, dass sie ihrerseits geschichtlichen Wandlungen unterliegen. Der Freiheitssinn, der in ihnen zum Ausdruck gebracht ist, gilt auch für diese Grundsätze selbst. Sie unterliegen dem klassisch protestantischen Einspruch gegen jedwede religiöse oder religionsäquivalente Absolutheitsansprüche – auch im Bereich des Politischen. Dies vorweggeschickt, lässt sich dreierlei entfalten. Zunächst: Das Agieren des ‚Öffentlichen Protestantismus‘ wird sich stets gegen alle Versuche wenden, politisches Handeln durch den bloßen Verweis auf naturgegebene Normen zu legitimieren. Gleichwohl schließt diese Anerkennung der Weltlichkeit die Einsicht ein, dass sich politisches Handeln nur im Horizont der natürlichen Rahmenbedingungen vollziehen kann. Der evangelische Freiheitssinn konkretisiert sich in der permanenten Ausmittlung von Realitätssinn einerseits und Möglichkeitssinn andererseits. Die evangelische Befreiung der Welt zu ihrer Weltlichkeit bedeutet, die Struktur der Welt nicht als Heilsordnung zu überhöhen, sondern als denjenigen Rahmen zu begreifen, der den Ort der Realisierung individueller und kollektiver Freiheit der Lebensführung markiert. Sodann: Versöhnung als Freiheit in der Gemeinschaft zu begreifen bedeutet, als erstes anzuerkennen, dass jeder Mensch sich von anderen unterscheidet – dass er, in traditioneller Sprache formuliert, ein unverwechselbares Kind Gottes ist. Die Unterschiedlichkeit der Menschen bildet den Ausgangspunkt für jede Gemeinschaftsbildung. Alle Menschen sind gleich, weil sie alle verschieden sind – und als solchen Einzelnen, Gleichen, Verschiedenen gilt ihnen die bedingungslose Zuwendung Gottes. Jede Form von Gemeinschaft, ob in Staat oder Kirche, bemisst sich daran, ob es ihr gelingt, die unverzichtbare soziale Einbettung des Einzelnen so zu gestalten, dass sie die Individualität nicht infrage stellt. Eine solche Freiheit in der Gemeinschaft entspricht der ethischen Fassung des Versöhnungsgedankens, nämlich die konstitutive Sozialität des Menschseins in Einklang zu bringen mit dem Ziel der individuellen Lebensführung in Freiheit und der Sorge dafür, einen solchen eigenen Lebensentwurf auch verfolgen zu können. Dazu gehören nicht allein materielle Ressourcen, sondern auch eine Kultur des Umgangs mit den eigenen Grenzen und den Anforderungen, die andere an das eigene Handeln stellen. Versöhnung bedeutet, darauf hinzuarbeiten, dass Revisionen möglich bleiben. Sie bedeutet zudem die Überwindung des Zwangs, das eigene Leben nur an den Idealen der Gemeinschaft auszurichten – ohne deswegen die Bedeutung der Gemeinschaft für das eigene Leben negieren zu müssen. Der Versöhnungsgedanke gibt dem Agieren des ‚Öffentlichen Protestantismus‘ noch in einer zweiten Hinsicht einen Richtungssinn. So sehr die Botschaft des Evangeliums dazu anleitet, sich mit dem Bestehenden nicht abzufinden, sondern auf dessen Verbesserung hinzuarbeiten, so sehr entspringt dem Ver-

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söhnungsgedanken zugleich das Vertrauen in die Grenzen des selbst empfundenen und aus dem Glauben entspringenden Handlungsdrucks. Der Versöhnungsgedanke weist damit der Motivation zur Veränderung, die aus der Anerkennung der Weltlichkeit der Welt und dem Impuls zur Sicherstellung der Zukunftsfähigkeit des menschlichen Lebens entspringt, das richtige Maß zu: Die Weltlichkeit der Welt in der Perspektive der Versöhnung in den Blick zu nehmen bedeutet, auch dem Gewordenen ein relatives Eigenrecht zuzugestehen. Die Welt, in der wir uns vorfinden, ist die durch Jesus Christus versöhnte Welt. Aller Unvollkommenheit zum Trotz geht dabei gerade von der bereits geschehenen Versöhntheit der Welt der Impuls aus, Fragen der Verbesserung nicht auf das Niveau von Heilsfragen zu heben. Das relativiert auf heilsame Weise jenen permanenten, steril auf Dauer gestellten Veränderungsdruck, wie er mitunter in Programmen des politischen Protestantismus und der ‚Öffentlichen Theologie‘ zum Ausdruck kommt. In ihnen treten Menschen der Welt stets als Handelnde, als Weltverbesserer entgegen, die eine andere Welt erstreben. Zur Tiefengrammatik dieses Veränderungsdrucks gehört die Vorannahme, dass die Welt unvollkommen sei und es zur Aufgabe des frommen Menschen gehöre, sie zum Guten zu wenden. Die Aussage der christlichen Tradition, dass die Welt der Ort ist, an dem sich die Versöhnung bereits ereignet hat, wird dabei unmittelbar in die Aufforderung an die Glaubenden umgemünzt, diese Versöhnung ins Werk zu setzen. Damit gewinnt aber einseitig das ‚Noch-Nicht‘ der Erlösung das Übergewicht gegenüber dem ‚Schon‘ der Versöhnung. So droht Erfolg im transformierenden Handeln unversehens zur entscheidenden Kategorie für die Stellung des Menschen vor Gott zu werden. Umgekehrt muss Erfolglosigkeit zum Merkmal für die Schuld des Menschen werden, der seine Aufgabe und seine Stellung vor Gott verfehlt hat. Schließlich: Das Agieren des ‚Öffentlichen Protestantismus‘ wird sich stets für das Ziel einsetzen, dem Einzelnen eine Zukunft in einer selbst gewählten Lebensform zu ermöglichen und ihn nicht auf das Vorgegebene festzulegen. Zukunftsfähigkeit zu betonen bedeutet, die das individuelle Leben prägenden Traditionen als gewordene und damit als gestaltbare zu verstehen. Im Blick etwa auf die politische Praxis konkretisiert sich das darin, dass die Vorläufigkeit politischen Handelns eingeschärft wird. Zukunftsfähigkeit bedeutet aber nicht nur, auf Absolutheitsansprüche in einzelnen kontroversen Fragen zu verzichten und dadurch Freiheitsspielräume für die Entfaltung des eigenen Lebensentwurfs zu schaffen. Zur Zukunftsfähigkeit gehört es auch, die Strukturen bereitzustellen und weiterzuentwickeln, die es dem Einzelnen ermöglichen, seinen eigenen Lebensentwurf zu verfolgen. Der Sozialstaat folgt hier dem Geist des Christentums. Dementsprechend wäre das Freiheitsverständnis des evangelischen Christentums unvollständig, wenn es nur an der Freiheit von Bevormundung orientiert wäre. Denn ergänzend dazu pflegt das Christentum immer auch ein Freiheits-

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verständnis, das auf Unterstützung und Befähigung des Einzelnen zielt. Eine einseitige Betonung negativer Freiheit läuft Gefahr, den Blick für Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten zu verlieren und damit, willentlich oder nicht, bestehende Verhältnisse und Machtstrukturen zu affirmieren. Die christliche Parteinahme für die Schwachen und Rechtlosen nimmt diesen Gedanken auf. Dabei ist eine solche Parteinahme in Aufnahme der neutestamentlichen Erzählungen von Jesu Zuwendung zu den Ausgegrenzten sensibel dafür, dass diejenigen, denen es eine Stimme zu geben gilt, keineswegs stets auf den ersten Blick erkennbar sind – ein Gesichtspunkt, der gerade vor dem Hintergrund des dem Rechtspopulismus zugrundeliegenden Repräsentationsproblems an Bedeutung gewinnen wird.

2 ‚Öffentlicher Protestantismus‘ im Horizont gesellschaftlicher Pluralität Mit den hier skizzierten Leitlinien tritt der Protestantismus in seiner Dimension als ‚Öffentlicher Protestantismus‘ für das Verbindende ein, ohne das freiheitliche Gesellschaften und mit ihnen die Pluralität der Lebensformen nicht existieren können. Darin hat er kein grundsätzliches Alleinstellungsmerkmal. Es gibt andere, vergleichbare Akteure. Der ‚Öffentliche Protestantismus‘ verkörpert nicht, im Sinne einer societas perfecta, den Gemeinsinn, sondern trägt, gerade in Rücksicht auf die eigene, innere Pluralität, zu ihm bei. Allerdings wird man für den deutschen Kontext festhalten müssen, dass es ein enges und in dieser Weise besonderes Verhältnis zwischen dem Protestantismus und der gesellschaftlichen Öffentlichkeit gibt. Das Verbindende, dem dieses Agieren des ‚Öffentlichen Protestantismus‘ gilt, ist einerseits deutlich mehr und gehaltvoller als die häufig in pluralen Gesellschaften vertretene liberale Forderung, dass es um der Sicherstellung der Freiheit willen genügen müsse, äußerliche Rechtstreue einzufordern. Es ist aber, eingedenk der aus dem Glauben heraus entwickelten Überzeugung von der Vorläufigkeit aller inhaltlichen Füllungen des guten Lebens, zugleich auch weniger, als dies in manchen wertsubstanzialistischen, exklusivistischen oder moralistischen Positionen vertreten wird. Die Ausrichtung des Protestantismus auf das Gemeinwohl zielt nach dem hier Ausgeführten gerade nicht darauf, einen festen Kanon konkreter politischer Forderungen mit der Autorität des Glaubens zu unterfüttern. Sie orientiert sich vielmehr an der in den letzten Jahren unter dem Eindruck einer forcierten Pluralisierung der westlichen Gesellschaften gewachsenen Einsicht, dass es im Sinne einer liberalen, freiheitssichernden Ordnung des Zusammenlebens notwendig ist, die Rahmenbedingungen zu stabilisieren, ohne

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die ein solcher Pluralismus seine eigenen, freiheitsgarantierenden Grundlagen zu zerstören droht. Seinem Selbstverständnis nach liegt in dieser Zielsetzung die besondere Bedeutung des ‚Öffentlichen Protestantismus‘ für das Zusammenleben in der Gesellschaft. Die gesellschaftliche Präsenz und die politischen Aufgaben des ‚Öffentlichen Protestantismus‘ umfassen somit mehr als ein prophetisches Wächteramt gegenüber dem Staat oder als die lobbyistische Artikulation kirchlicher Interessen, mehr auch als die bloße Stellungnahme zu strittigen politischen Themen oder die religiöse Zurüstung und Gewissensschärfung des einzelnen politischen Akteurs oder Staatsbürgers. Zwar haben all diese Handlungsformen ihr relatives Recht, bilden aber nicht – weder je für sich noch zusammengenommen – hinreichend ab, worin der besondere Beitrag des ‚Öffentlichen Protestantismus‘ zur politischen Kultur besteht: nämlich in der aus dem Glauben an Gott den Schöpfer, Erlöser und Versöhner resultierenden Pflege des Verbindenden, das politischen Streit sowie politische Entscheidungen ermöglicht und zugleich auch begrenzt. Der ‚Öffentliche Protestantismus‘ will diejenigen Überzeugungsressourcen bereitstellen, die die Voraussetzung dafür bilden, strittige Fragen unter dem Verzicht auf Absolutheitsansprüche und unter der Anerkennung aller Beteiligten als Gleichberechtigten auszutragen. Die Anerkennung von Gleichwertigkeit als Anerkennung von Verschiedenheit ist dabei eine Perspektive, die ebenso eng mit der Tradition des christlichen Glaubens verbunden ist, wie sie mit den Hintergrundüberzeugungen und fundamentalen Prinzipien einer liberalen, rechts- und sozialstaatlichen Demokratie zusammenhängt.

3 Träger des ‚Öffentlichen Protestantismus‘ Wo und in welchen Formen zeigt sich dieser ‚Öffentliche Protestantismus‘? Gerade in seinem Bezug auf das Öffentliche partizipiert der Protestantismus als ‚Öffentlicher Protestantismus‘ an den gegenwärtig wahrnehmbaren Wandlungen der Sphäre des Öffentlichen, insbesondere an der rapiden Personalisierung des öffentlichen Diskurses. Organisatorisch und strukturell ist der Protestantismus auf diese Herausforderungen bislang nur unzureichend eingestellt. Der alte Gedanke, dass die Wahrnehmbarkeit des Protestantismus das Resultat einer Verzahnung unterschiedlicher Institutionen und Akteure ist, gilt unter den gegenwärtigen Bedingungen beschleunigter, medial vermittelter Aufmerksamkeitszuspitzung nicht mehr. Welche Schwierigkeiten hier bestehen, wird bei nahezu jeder politischen Stellungnahme kirchenleitender Personen deutlich: Es sprechen kirchliche Amtsträger – aber es bleibt im Dunklen, ob sie ihre persön-

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liche Position als Christen vertreten oder als Sachwalter eines ‚Öffentlichen Protestantismus‘ auftreten. Es fehlt der gemeinwohlorientierten Dimension des Protestantismus eine eigene Instanz, eine institutionelle Repräsentanz. In den Zeiten einer Mediengesellschaft, in den Zeiten aber auch, in denen die Präsenz leitender Überzeugungen des Christentums nicht mehr selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, stellt dies ein unübersehbares Problem dar. Möglicherweise steht diese Wahrnehmung im Hintergrund, wenn bei den Kritikern einer Kirche, die sich zu sehr als Interessensverband oder politischer Akteur profiliere, von einer spirituellen Auszehrung die Rede ist. Das Gegenmittel besteht aber nicht in einer Konzentration auf das vermeintlich genuin Religiöse, sondern in einer Herausstellung der am gesellschaftlichen Zusammenleben orientierten Kräfte des Protestantismus. Allen Gesetzen der Mediengesellschaft zum Trotz: Eine solche Stärkung kann nicht darin bestehen, ein neues Amt, gleichsam einen Bischof der Zivilreligion zu schaffen. Es bedeutet vielmehr, diese Kräfte als eine genuine Aktionsform des Protestantismus zu begreifen, die als öffentliche Dimension des Protestantismus mit dessen individueller und kirchlicher Dimension untrennbar verbunden ist. Vor dem Hintergrund dieser Verschränkung der drei Ebenen des Protestantismus lässt sich die Verantwortung der Kirche für das Gemeinwesen nicht mehr an bestimmte Gruppen oder Funktionsträger delegieren. Sie wahrzunehmen ist bei aller Verschiedenheit der Verantwortungsebenen jedem einzelnen Protestanten ebenso wie der Kirche als ganzer aufgetragen. Politische Stellungnahme im Sinne des ‚Öffentlichen Protestantismus‘ ist weder das alleinige Privileg noch die alleinige Pflicht der Inhaber eines besonderen kirchlichen Amtes. Die Formel vom Öffentlichkeitsauftrag der Kirche ist unter modernen, rechtsstaatlichen Bedingungen vielmehr in dem oben genannten, umfassenden Sinne als Aufgabe aller Christen zu begreifen. Sie bedarf der institutionellen Stützung und Rahmung, um sicherzustellen, dass die Einzelnen gemeinsinnermöglichend agieren und nicht nur als Individuen. Das bedeutet keine amtskirchliche Stillstellung von Pluralität, sondern zielt auf die verstärkte Aufmerksamkeit auf diejenigen Orte des Allgemeinen, an denen Grundsätze des Christentums – im Sinne des ‚Öffentlichen Protestantismus‘ – als Sensibilität für das Gemeinsame zum Tragen kommen. Ein besonders eindrückliches Beispiel stellen Gottesdienste dar, die immer auch das Zusammentreffen mit Menschen und Überzeugungen bedeuten, die man ansonsten nicht treffen würde. Unter volkskirchlichen Bedingungen bestand darin eine nicht zu unterschätzende Funktion des Gottesdienstes. Dieses Erbe gilt es zu aktualisieren und auf andere Modi des Agierens des Protestantismus als eines ‚Öffentlichen Protestantismus‘ zu übertragen. Notwendig könnte es darum sein, politische Stellungnahmen des Protestantismus, wie sie hier im Sinne einer öffentlichen Dimension des Protestantismus

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insgesamt, als ‚Öffentlicher Protestantismus‘, skizziert wurden, dezidiert als eine Weiterentwicklung von Volkskirchlichkeit zu profilieren. Unter den Bedingungen einer weitgehenden Deckungsgleichheit von Bürgern und Kirchenmitgliedern konnte noch einfacher davon ausgegangen werden, dass die Dimension des ‚Öffentlichen Protestantismus‘ auch durch die politischen Akteure gleichsam mitrepräsentiert werden konnte und so ganz selbstverständlich in die Ordnung des Zusammenlebens eingehen würde. Diese Annahme ist im Moment der quantitativen Verflüchtigung der Volkskirche nicht mehr aufrechtzuerhalten. Volkskirchlichkeit wird zunehmend als ein qualitatives Strukturmerkmal des Protestantismus herausgestellt werden müssen, das unabhängig von dessen quantitativer Stärke ist. Prononciert formuliert: Unter gegenwärtigen Bedingungen realisiert sich die Volkskirchlichkeit des Protestantismus darin, dass er sich als ‚Öffentlicher Protestantismus‘ am Gemeinwohl orientiert und nicht nur partikulare Interessen in den Blick nimmt, seien es die der eigenen Organisation, seien es die einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe. Volkskirchlichkeit markiert darum eine Ausrichtung, nicht aber eine bestimmte Mitgliederstruktur oder eine besondere Organisationsform. Vieles spricht dafür, in diesem Zusammenhang den Gedanken der Repräsentation des Protestantismus durch Laien wieder stärker in den Mittelpunkt zu rücken und diesen Artikulationsformen mehr innerprotestantische, vor allem auch innerkirchliche Aufmerksamkeit zu schenken. Dabei gilt es auch die entsprechenden symbolischen Ausdrucksformen zu entwickeln, die das Agieren des ‚Öffentlichen Protestantismus‘ als ein protestantisches sichtbar machen, ohne es ununterscheidbar zu dem Handeln des kirchlichen Protestantismus werden zu lassen. Mit der Akademiearbeit, dem Kirchentag und der christlichen Publizistik verfügte der Protestantismus über entsprechende Formen, die allerdings immer stärker zu Orten des Kirchlichen geworden sind. Neue Formen sind identifizierbar wie zum Beispiel die sozialpolitische Diakonie, überkonfessionelle Kasualien nach Großkatastrophen oder auch bestimmte Formen der protestantischen Präsenz in Kranken- und Pflegekontexten, wie etwa Spiritual Care. Nicht zu unterschätzen ist daneben aber die Aufgabe der Pfarrpersonen sowie der Religionslehrer und Religionslehrerinnen, sich ihrer unterstützenden Verantwortung für alle Dimensionen des Protestantismus – der öffentlichen in gleichem Maße wie der individuellen und der kirchlichen Dimension – bewusst zu sein. Evangelische Spiritualität zeigt sich nicht nur in der Pflege der Innerlichkeit, sondern auch im Bewusstsein der Zuständigkeit für das Öffentliche und Gemeinsame.

Georg Essen

Das Verhältnis der römisch-katholischen Kirche zum liberal-demokratischen Verfassungsstaat Eine ungeklärte Beziehung ohne Zukunftsperspektive Bei der Frage nach dem Verhältnis der katholischen Theologie zum demokratischen Rechtsstaat, wie er sich in der Moderne etabliert hat, folgt der mainstream der theologischen Forschung nahezu ausschließlich dem Narrativ von der ‚nachholenden Selbstmodernisierung‘. Es basiert auf einer Hermeneutik, die das Zweite Vatikanische Konzil (1962– 1965) als eine Öffnung der Kirche zur modernen Welt begreifen will. Gemeint ist jener grundlegende Positionswandel, den das Konzil in Dignitatis humanae, die ‚Erklärung über die religiöse Freiheit‘, vollzogen hat. Gegenläufig zu der Entzweiung von katholischer Kirche und Moderne wird in diesem Dokument, flankiert durch Nostra aetate, die ‚Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen‘, sowie durch Gaudium et spes, die ‚Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt dieser Zeit‘, der Schritt vollzogen, die Religionsfreiheit sowie die Menschenrechte anzuerkennen.¹ Selbstredend hat diese modernitätstheoretische Deutungsperspektive ihre Berechtigung. Wer die einschlägigen Texte insbesondere des päpstlichen Lehramtes des 19. Jahrhunderts liest, stößt in der Tat auf entschiedene, in der Regel sehr polemische, teils auch hochaggressive Verurteilungen der modernen Freiheitsrechte. Doch bereits von der Gewichtung her steht in den lehramtlichen Texten des 19. Jahrhunderts, in denen die katholische Staatslehre an Konturen gewinnt, nicht die Zurückweisung moderner Freiheitsrechte im Mittelpunkt. Die Kritik an ihnen ist vielmehr in einen systematischen Argumentationszusammenhang eingefügt, der sich mit den Legitimations- und Ordnungsideen der politischen Moderne beschäftigt. Im Zentrum steht, bei aller wüsten Polemik, eine durchaus differenziert vorgetragene Auseinandersetzung mit dem im Begriff der Volkssouveränität begründeten Verfassungskonstitutionalismus. Wer nach dem Verhältnis der katholischen Kirche zu Demokratie und Rechtsstaat fragt, darf meines Erachtens diesen Lehramtsdiskurs keineswegs vernachlässigen, wie dies, soweit ersichtlich, in der Forschung weithin geschieht. Kann auch im Blick auf

 Vgl. pars pro toto Wie fand der Katholizismus zur Religionsfreiheit? Faktoren der Erneuerung der katholischen Kirche, hg. von Karl Gabriel, Christian Spieß und Katja Winkler, Paderborn: Schöningh 2016. https://doi.org/10.1515/9783110623406-015

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dieses Themengeflecht von einer Neuausrichtung der römisch-katholischen Kirche gesprochen werden, die sich auf dem Zweiten Vatikanum vollzogen habe? Folgt der Hinwendung zur Religionsfreiheit und zu den Menschenrechten eine ebenso vehemente Öffnung zur Demokratie? Und wie positioniert sich der Katholizismus nach dem Konzil zum Begriff der Volkssouveränität? Auf Fragen wie diese will dieser Beitrag Antworten geben. Dem ersten Kapitel fällt die Aufgabe zu, das Verfassungsprinzip der Volkssouveränität in seinen Grundzügen so zu rekonstruieren, dass die Sollbruchstellen im Verhältnis zur vormodernen katholischen Staatslehre sichtbar werden (1.). Diese wird im zweiten Kapitel mit der Zielsetzung rekonstruiert, die Gründe für die Zurückweisung der Volkssouveränität freizulegen (2.). Im Mittelpunkt des dritten Kapitels stehen Interpretationen zu den thematisch einschlägigen Texten aus Gaudium et spes, in denen das Konzil zu Fragen der modernen politischen Ordnung Stellung bezieht (3.). In einem vierten Kapitel wird die nachkonziliare Lehrentwicklung zur katholischen Staatslehre rekonstruiert und diskutiert (4.). Die Textreferenzen meiner Interpretation der konziliaren wie auch der nachkonziliaren Staatslehre beschränken sich mithin auf Verlautbarungen des römischen Lehramts.² Es schließt sich ein Schlusskapitel an, das in der Form eines Ausblicks die m. E. zentralen Problemkonstellationen zu diesem Thema benennt (5.).

 Diese lehramtszentrierte Selbstbegrenzung geschieht zwar bereits im Blick auf die Materialfülle, folgt damit aber auch der römisch-katholischen Eigenlogik des kirchlichen Lehramtes, in dessen Doktrinalgewalt die authentische Interpretation der verbindlichen Glaubenslehren fällt. Da sich diese Zuständigkeit auf das Normengefüge der Individual- und Sozialmoral erstreckt, gehört auch die Ausgestaltung der Staatslehre zum Gegenstand des Lehramtes, das sich in gestuften Verbindlichkeitsformen hierzu äußert. Hingegen stellen sowohl die politische Praxis katholischer Verbände und Organisationen beziehungsweise christlicher Parteien als auch die themeneinschlägige Theoriearbeit der wissenschaftlichen Theologie Paralleldiskurse dar, die im Artikulationsraum des Katholizismus stattfinden. Es handelt sich bei ihnen jedoch um kirchlich unverbindliche Beiträge, die allenfalls und auch nur dann, wenn das Lehramt diese aufgreift, durch Rezeption auf die Lehrentwicklung zurückwirken könnten.Was die theologische Forschung zur katholischen Staatslehre betrifft, ist überdies der Hinweis wichtig, dass für die Zeit nach dem Konzil Entzweiungsprozesse und wechselseitige Entfremdungen zu diagnostizieren sind; vgl. hierzu, wenn auch zeitlich begrenzt, die methodisch durchaus paradigmatische Studie von Rudolf Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht. Das katholische Staatsdenken in Deutschland von der Französischen Revolution bis zum II. Vatikanischen Konzil (1789 – 1965), Paderborn: Schöningh 2005.

Römisch-katholische Kirche und moderner Verfassungsstaat

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1 Das Verfassungsprinzip der Volkssouveränität. Eine Begriffsklärung in politisch-theologischer Absicht Wer in politischen Zusammenhängen von Herrschaft, Gewalt oder Macht spricht, ist sich, so er historisch informiert und ethisch sensibilisiert ist, der Ambivalenz dieser Semantiken bewusst. Da es um die Herrschaft von Menschen über Menschen geht, wurde ihr politischer Gebrauch von jeher von dem Bewusstsein flankiert, dass sie begründungspflichtig ist und der Legitimation bedarf. Als legitimiert kann eine Herrschaft gelten, wenn sie dazu ermächtigt wurde und darum zur Ausübung von Macht autorisiert ist. Damit ist die Frage nach dem Ursprung der politischen Herrschaft gestellt. Die Metapher vom Ursprung vereint wiederum mehrere Begriffe auf sich, mit deren Hilfe auf die Grundlegung einer politischen Ordnung reflektiert wird. Das Wissen um die Eigenlogik von Macht führt zu der Erkenntnis, dass die Bindungskraft, mit der sie Treue, Loyalität und Gehorsam einfordern darf, wesentlich auf Rechtfertigung angewiesen ist. Erst ein solcher Aufweis ihrer Rechtmäßigkeit entfaltet für die politische Herrschaft eine Bindungswirkung, die darin besteht, dass sie für die der Ordnung Unterworfenen anerkennungswürdig ist und akzeptiert werden kann. Es muss folglich nach Ressourcen von Legitimität gefragt werden, weil in ihnen Vorstellungen und Überzeugungen aufzufinden sind, die die Anerkennung politischer Herrschaft seitens der Herrschaftsunterworfenen begründen. Es lag nahe, dass in religiös gebundenen Gesellschaften der Ursprung einer politischen Ordnung in Gott verankert wurde. Hier war die Bindungskraft jener Überzeugung maßgeblich, dass die Welt nach Gottes Willen geordnet sei und deshalb alle Menschen sich in ihrem Verhalten nach Gottes Willen zu richten haben. Zu den wirkmächtigsten Legitimationsquellen für eine solche Begründungsfigur gehören zweifelsohne die berühmten Verse aus dem Römerbrief: „Jeder ordne sich den Trägern der staatlichen Gewalt unter. Denn es gibt keine staatliche Gewalt außer von Gott.“ (Röm 13,1) In der Neuzeit geriet diese religiöse Legitimationsquelle zur Begründung politischer Herrschaft jedoch selbst unter Legitimationsdruck. Denn die konfessionellen Auseinandersetzungen vom 16. bis 18. Jahrhundert waren der unmittelbare Anlass für die Entstehung moderner Souveränitätskonzeptionen – von Jean Bodin über Thomas Hobbes bis hin zu Jean-Jacques Rousseau. Die blutig ausgetragenen Konflikte um die autoritative Auslegung dessen, was der Wille Gottes sei, brachten theonome Herrschaftsbegründungen in einem Maße in Misskredit, dass Suchbewegungen mit dem Ziel auf den Weg gebracht wurden, die Frage nach dem normativen Geltungsgrund einer politisch-rechtlichen Ord-

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nung ohne Rekurs auf göttliche Legitimationsquellen wie Offenbarung oder Gottesrecht beantworten zu können. Das verfassungsrechtliche Vehikel, das diesen Schritt möglich machte, war eine vertragstheoretische Grundlegung des Staates. Damit wurde, maßgeblich etabliert durch die Amerikanische und die Französische Revolution, eine verfassungsrechtliche Tradition begründet, die zu einem historischen Novum führen sollte.³ Die Konstitutionalisierung politischer Herrschaft beruht auf dem von Rousseau wirkmächtig begründeten Begriff der Volkssouveränität. Er besagt, dass das Volk als die gesetzgebende Gewalt, als pouvoir constituant, über eine Verfassung entscheidet, mit der die normativen Bedingungen allererst konstruiert werden, auf deren Basis die legitime Herrschaft begründet wird.⁴ Entscheidend ist, dass das Volk die „volle Verfügungsmacht über die Gestaltung der politisch-sozialen Ordnung“ innehat und darum auch „ihr Urheber im eigentlichen Sinne“ genannt werden kann.⁵ Weil im Begriff der Volkssouveränität somit Ursprung und Geltungsgrund der Verfassungsordnung zusammenfallen, gehört es zur unableitbaren Autonomie des Volkes, die Staatsgewalt zu inaugurieren und ihr die damit verbundenen Machtbefugnisse zu übertragen. Damit erhält, was in seiner theologisch-politischen Brisanz unmittelbar einleuchtet, der von Max Weber geprägte Begriff des Legitimitätsglaubens einen spezifischen Geltungssinn.⁶ Der Glaube an rechtfertigende Gründe, die der politischen Herrschaft Legitimität verleihen, ist im Begriff der Volkssouveränität einer inversen Strukturlogik unterstellt. Er wird zum Glauben des Volkes an sich selbst. Deshalb hat die Einführung der Volkssouveränität als Grundlegungsbegriff von Verfassungen gegenüber traditionellen Legitimitätskonzeptionen epistemisch grundstürzende Umstellungen zur Folge. Erstens gründet die politisch-rechtliche Ordnung nicht in Gott, sondern entspringt voluntaristisch der souveränen Entscheidung des Volkes. An die Stelle der Autorität Gottes tritt die Selbstautorisierung des Volkes. Zweitens ist die Normativität einer solchen Verfassungs- und

 Vgl. Dieter Grimm, „Entstehungs- und Wirkungsbedingungen des modernen Konstitutionalismus“, in: Ders., Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, 31– 66. Zum Souveränitätsbegriff vgl. darüber hinaus Hent Kalmo/Quentin Skinner, Sovereignty in Fragments. The Past, Present and Future of a Contested Concept, Cambridge: University Press 2013.  Vgl. Grimm 1991, 31 f.  Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Die verfassunggebende Gewalt des Volkes – Ein Grenzbegriff des Verfassungsrechts“ (1986), in: Ders., Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, 90 – 112, 95.  Max Weber, „Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft“, in Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlass, Teilband 4: Herrschaft. Studienausgabe der Max Weber-Gesamtausgabe, Bd. I/22– 4, hg. von Edith Hanke in Zusammenarbeit mit Thomas Kroll, Tübingen: Mohr Siebeck 2009, 217– 225, 217.

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Staatsordnung nicht mit dem Geltungssinn ewig gültiger Objektivität ausgestattet, sondern kontingenten Ursprungs. Auch fällt ihre Ausgestaltung in die freie Verfügungsmacht des Souveräns. Die Ausübung politischer Herrschaft wird nicht metaphysisch, das heißt durch Berufung auf ein Natur- oder Gottesrecht gerechtfertigt. Von ‚außen‘ können der verfassunggebenden Gewalt keinerlei Bindungen auferlegt und Schranken gezogen werden. In der Konsequenz der Volkssouveränität ist eine Rechtsbindung nur als Selbstbindung, eben als Selbstgesetzgebung denkbar: Autonomie. Drittens vollzieht sich mit diesem Schritt folglich die Umstellung von einem religiösen zu einem säkularen Verständnis der politischen Ordnung und damit von der Theonomie zur Autonomie. Im Begriff der Volkssouveränität ist deshalb, viertens, begründet, dass ein Staat, in dem alle Gewalt vom Volk ausgeht, ein „Staat ohne Gott“⁷ ist. Insofern lässt sich sagen, dass der säkulare Charakter des Staates im Verfassungsprinzip der Volkssouveränität grundgelegt wird. Verfassungsnormen, in denen die Trennung von Staat und Kirche und die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates kodifiziert werden, sind folglich kohärente Ausgestaltungen des Volkssouveränitätsbegriffs.

2 Epistemische Sollbruchstellen. Die traditionelle katholische Kritik am Verfassungskonstitutionalismus der Moderne Die vorstehenden vier für die Volkssouveränität grundlegenden Aspekte weisen bereits darauf hin, warum dieses Verfassungsprinzip von der katholischen Kirche, ihrer antimodernen Eigenlogik folgend, zurückgewiesen werden musste. Denn dessen geltungstheoretische Voraussetzungen von Autonomie und Säkularität zerstörten die metaphysisch-politische Einheitswelt und mit ihr die traditionelle Ordnungs- und Rechtsbegründung. Die Legitimationsfigur von Röm 13,1, mit der die politisch-weltliche Herrschaft in Gott selbst begründet werden konnte, war das theonome Fundament, das das Zueinander von Kirche und Staat, Religion und Politik trug. Die katholische Kirche hatte traditionell nie die Trennung der beiden Gewalten gelehrt, sondern lediglich deren Unterscheidung. Diese aber gründet in einer metaphysisch vorgängigen Einheit beider. Der revolutionäre Konstitutionalismus dagegen brachte, was die Begründung der staatlichen Herrschaft betrifft, den weltlichen Eckpfeiler zum Einsturz, auf dem die gottgewollte und hei-

 Vgl. Horst Dreier, Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne, München: C.H. Beck 2018.

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lige Ordnung aufruhte. Noch vorgängig zu strategischen Allianzen, an denen die katholische Kirche im 19. Jahrhundert aus Gründen der Machterhaltung interessiert war, stand ihr Festhalten an der Monarchie in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dieser Ordo-Theorie, da diese Herrschaftsform mit der Legitimationsfigur des Gottesgnadentums begründet wurde. Für die katholische Kirche war bis zum Zweiten Vatikanum undenkbar, dass freiheitsrechtlich basierte Ordnungsbegründungen die Freiheit der Kirche wirksam schützen könnten. Moderne Freiheitsrechte, so die Kritik, unterminieren ja, da sie die Geltung von Recht und Ordnung autonom begründen, jene metaphysischen Absicherungen, auf denen das koordinierte Zueinander von Staat und Kirche beruhte. Darum stand für die Kirche im Rahmen ihrer traditionellen Staatslehre auch kein anderer Weg offen, als die Fundamentalprinzipien jener Legitimationsfigur, wie sie in modernen Verfassungen geltend gemacht wurden, zu verwerfen. Aus katholischer Perspektive erscheint somit die Volkssouveränität als ein Oppositionsbegriff zur kirchlichen Lehre, dass allein Gott Ursprung aller Gewalten ist. Denn von Gottes Souveränität und Macht leiten sich alle innerweltlichen Herrschaftsbefugnisse ab, die wiederum in dessen Ordnung eingefügt sind. Wer einem solchen legitimistischen Ordo-Denken anhängt, dem können die revolutionären Auftrittsbedingungen des pouvoir constituant nur suspekt sein. Weil dieser die Verfassung und mit ihr die politische Ordnung durch einen Freiheitsakt allererst hervorbringt, geht er ihr voraus und unterliegt insofern auch keiner vorgegebenen Verfassungs- und Rechtsbindung. Nun war es freilich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts zur Etablierung republikanischer und demokratischer Verfassungsstaaten gekommen. Dem Eindruck, dass ihnen die Zukunft gehören sollte, konnte sich selbst das römische Lehramt auf Dauer nicht entziehen. Spätestens im Pontifikat von Leo XIII. reagierte die Kirche auf diese Entwicklungen durch drei Strategien.⁸ Erstens fand sie zu einer Haltung des Pragmatismus, mit der man sich, was insbesondere durch das Völkerrechtsinstrument des Konkordats geschah, mit der Existenz von Demokratien abfand und arrangierte. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass römisch-katholische Ortsbischöfe vor ihrem Amtsantritt gemäß dem sog. Reichskonkordat von 1933 einen Eid leisten müssen, die verfassungsmäßig gebildete Regierung zu achten und von ihrem Klerus achten zu lassen. Zweitens folgte

 Für die leonische Staatslehre sind vor allem die Enzykliken Diuturnum illud von 1881 und Immortale Dei von 1885 einschlägig; vgl. Leo XIII., „Enzyklika Diuturnum illud über den Ursprung der Staatsgewalt“, 29.06.1881, in Päpstliche Verlautbarungen zu Staat und Gesellschaft. Originaldokumente mit deutscher Übersetzung, hg. u. eingel. von Helmut Schnatz, Darmstadt: WBG 1973, 69 – 95; ders., „Enzyklika Immortale Dei über die christliche Staatsordnung“, 01.11.1885, in: Ebd., 97– 139.

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die Kirche dem Prinzip der asymmetrischen Äquidistanz allen Regierungsformen gegenüber. Unter Beibehaltung einer Privilegierung monarchistischer Ordnungsvorstellungen gestand Leo XIII. zu, dass die politische Herrschergewalt nicht mit Notwendigkeit an eine bestimmte Staatsform gebunden sei. Gleichwohl formulierte er die klassische Legitimitätsfigur des katholischen Staatsverständnisses, die die Gültigkeit von Rechts- und Verfassungsordnungen an ihrer materialen Übereinstimmung mit dem Normativitätsgefüge eines Naturrechts bemisst, das von der Kirche letztverbindlich ausgelegt wird. Drittens beließ es Leo XIII. nicht bei einem bloßen Pragmatismus. Sehr entschieden lehnte er das Prinzip der Volkssouveränität ab. Aber er trug die Distinktion von Designation und Translation in die souveränitätstheoretische Begriffsbildung ein. Demokratisch legitimierte Herrschaftsgewalt ‚bezeichnet‘, so der gewählte Begriff, den Gewaltinhaber. In einer Demokratie werde in diesem Sinne lediglich ‚bestimmt‘, wer sie auszuüben habe. Doch werde durch das Volk als verfassunggebende Gewalt die Herrschaft nicht ‚übertragen‘ und nicht ‚verliehen‘. Damit blieb freilich der Weg verstellt, das Prinzip der Volkssouveränität als Ursprungstheorie, der zufolge die gesetzgebende Gewalt dem Staat Herrschaftsbefugnisse überträgt, kirchlich anzuerkennen.

3 Zwischen Neuaufbruch und Traditionsverhaftung. Die Staatslehre des Zweiten Vatikanums Es leuchtet unmittelbar ein, dass sich diese Strategien auf Dauer nicht durchhalten ließen. Bereits die Verfassungsdiskussionen in der Weimarer Republik und erst recht jene zum Grundgesetz zeigten deutlich, dass der Spagat für katholische Politiker immer größer wurde, in Übereinstimmung mit ihren Glaubensüberzeugungen die Fundamentalprinzipien des liberalen und demokratischen Verfassungsstaates zu affirmieren. Die Praxis lag mit der Theorie im Widerstreit. „Es ist nur zu verständlich“, so Rudolf Uertz, „daß sich die neuscholastischen Staatsund Sozialethiker angesichts der veränderten kirchlichen, politischen und kulturellen Bedingungen nach 1945 mit ihrer Staats- und Sozialmetaphysik selbst mehr und mehr ins Abseits manövrierten. Das Manko der katholischen Staatslehre in der Nachkriegszeit war, daß sie als vormoderne Ordnungstheorie nur

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bedingt auf die Anforderungen des weltanschaulich neutralen Staates und der pluralistischen Gesellschaft Antworten zu geben vermochte.“⁹ Die Überwindung einer bloßen Duldung demokratischer Rechtsstaaten deutete sich bei Papst Pius XII. an.¹⁰ Hier findet sich auch erstmals der Versuch, die Demokratie anthropologisch als eine Regierungsform zu begreifen, die mit der Würde und der Freiheit des Menschen im Einklang steht. Aber durch diesen Schritt wurden auf theoretischer Ebene die Widersprüche faktisch immer größer, weil die positive Hinwendung zur Demokratie mit einer schroffen Abweisung des Prinzips der Volkssouveränität verbunden wurde. Die theonome Begründungsfunktion von Röm 13,1 wurde beibehalten, sodass Pius XII. zufolge die Legitimation der Demokratie von ihrer Übereinstimmung mit den „unveränderlichen Grundsätze[n] des Naturgesetzes und der geoffenbarten Wahrheiten“ abhängig sein muss; es geht um die „wahre und echte“, um die „gesunde“ Demokratie.¹¹ Pius XII. ordnet die Demokratie dem Naturrecht unter, indem er die Grenzen des Mehrheitsprinzips durch den Geltungsbereich des Naturrechts markiert, das ab ovo gültig ist und keiner Mehrheitsentscheidung unterworfen werden darf. Nur begrenzt, so wird man urteilen müssen, ist es dem Zweiten Vatikanischen Konzil mit der Pastoralkonstitution Gaudium et spes gelungen, diese Widersprüche aufzulösen.¹² Auch muss konstatiert werden, dass das Konzil zu einer Weiterentwicklung oder gar Korrektur an der römisch-katholischen Haltung zum Prinzip der Volkssouveränität nichts beigetragen hat. Stattdessen laufen im entscheidenden vierten Kapitel, das mit dem Titel Das Leben der politischen Ge-

 Uertz 2005, 433 (Herv. i.O.). Zum Verhältnis der römisch-katholischen Kirche zu Demokratie und Rechtsstaat vgl. Hermann-Josef Große Kracht, Kirche in ziviler Gesellschaft. Studien zur Konfliktgeschichte von katholischer Kirche und demokratischer Öffentlichkeit, Paderborn: Schöningh 1997; ders., „Deutliche Kontinuitäten und eine klare Neubestimmung. Eine Sichtung lehramtlicher Dokumente zur modernen Demokratie“, in Theologische Quartalschrift, Bd. 193, 2013, 64– 80; Das Kreuz der Kirche mit der Demokratie. Das Verhältnis von katholischer Kirche und Rechtsstaat, hg. von Adrian Loretan-Saladin und Toni Bernet-Strahm, Zürich: TVZ 2006; Kirche und Staat. Geschichte und Gegenwart eines spannungsreichen Verhältnisses, hg. von Josef Rist, Münster: Aschendorff 2015; Martin Rhonheimer, Christentum und säkularer Staat. Geschichte – Gegenwart – Zukunft. Mit einem Vorwort von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Freiburg i. Br. Herder 2012.  Vgl. Rundfunkansprache Pius’ XII. an Weihnachten 1944 „Über die wahre Demokratie“, in Päpstliche Verlautbarungen zu Staat und Gesellschaft, 337– 367.  Ebd., 353; 343.  Vgl. „Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt dieser Zeit Gaudium et spes“, in Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. 1, 592– 749 (im Folgenden GS, unter Hinzufügung der Kapitelnummerierung); vgl. dazu Hans-Joachim Sander, „Theologischer Kommentar zur Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt dieser Zeit Gaudium et spes“, in Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. 4, 581– 869.

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meinschaft überschrieben ist (GS 73 – 76), mehrere Argumentationsstränge nebeneinander her, die jedoch nicht kohärent miteinander verfugt werden. Erstens arbeitet das Konzil die anthropologische Verankerung des gesamten Bereichs von Gesellschaft, Staat, Regierungsform und Rechtsstaat heraus, indem es, dem Gesamtduktus von Gaudium et spes entsprechend, die unhintergehbare Bedeutung der Personalität des Menschen in Erinnerung ruft. Die menschliche Würde ist der Maßstab, der die Ausgestaltung der politischen Ordnung normativ zu zentrieren hat. Das gilt sowohl für die Grund- und Freiheitsrechte, die in ihrer Schutzfunktion erwähnt werden (GS 73,2), als auch für die Etablierung von Partizipations- und Deliberationsmöglichkeiten der politischen Gemeinschaft. Darum auch stimme es [m]it der menschlichen Natur […] voll überein, dass politisch-rechtliche Strukturen gefunden werden, die allen Bürgern stets besser und ohne jeden Unterschied die wirksame Möglichkeit bieten, frei und tätig teilzuhaben sowohl an der Festlegung der rechtlichen Grundlagen der politischen Gemeinschaft als auch an der Leitung des Gemeinwesens und der Bestimmung der Felder und Zielsetzungen der verschiedenen Einrichtungen als auch an der Wahl der Lenker (GS 75,1).

Auch wenn erstaunlicherweise der Begriff der Demokratie keine Erwähnung findet, wird gefordert, dass alle Bürger „zugleich des Rechtes und der Pflicht eingedenk sein [sollen], ihre freie Stimme zu gebrauchen, um das Gemeinwohl zu fördern“ (GS 75,1). Zweitens aber fällt nun doch auf, dass das Konzil im Blick auf die infrage stehende Souveränitätsproblematik von der traditionellen Lehre nicht abweicht. Es sei „offenkundig, dass die politische Gemeinschaft und die öffentliche Autorität in der menschlichen Natur gründen und sich deshalb auf die von Gott vorherbestimmte [praefinitum] Ordnung beziehen“ (GS 74,3). Der theonome Geltungssinn, der eine politische Ordnung zu begründen hat, wird – unter Berufung auf Röm 13,1– 5 – unterstrichen. Dies ist übrigens die einzige Stelle im Gesamttext von Gaudium et spes, in der überhaupt das Prinzip der Souveränität angesprochen wird. Zu der Problematik, dass der moderne Souveränitätsbegriff auf eine Ursprungstheorie zuläuft, die kraft ihres Autonomieanspruchs in Opposition zur katholischen Staatslehre steht, äußert sich das Konzil hingegen nicht. Nun finden sich, drittens, in diesem Kapitel allerdings Passagen, die den Staatsbürgern eine rechtsschöpferische und ordnungsbegründende Freiheit einräumen. Zugestanden wird ihnen, „an der Festlegung der rechtlichen Grundlagen der politischen Gemeinschaft“ mitzuwirken (GS 75,1). Desgleichen wird positiv konnotiert, dass „die Festlegung der Regierungsform und die Bestimmung der Lenker dem freien Willen der Bürger überlassen werden“ (GS 74,3). Auch wird erwähnt, dass die „konkreten Weisen […], mit deren Hilfe die politische Gemeinschaft ihr eigenes

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Gefüge und das rechte Maß der öffentlichen Autorität ordnet, […] entsprechend dem verschiedenen Charakter der Völker und dem Fortschritt der Geschichte vielfältig sein [können]“ (GS 74,6). In begründungslogischer Hinsicht ist jedoch, viertens, entscheidend, dass diese Beschreibungen mitnichten den bereits erwähnten konstitutionalistischen Geltungssinn der Volkssouveränität einholen, der gerade darin besteht, sich kraft autonomer Freiheit eine Verfassung nach Maßgabe eigener Vorstellungen über das Zusammenleben zu geben und eine Staatsordnung allererst zu begründen. Denn in normativer Hinsicht ist grundlegend, dass die Kirche eine autoritative Antwort zu geben weiß zur „wahren Beschaffenheit der politischen Gemeinschaft sowie hinsichtlich des Zweckes, der rechten Ausübung und der Grenzen der öffentlichen Autorität“ (GS 74,1). Von Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die anthropologischen Grundlegungen, die das zweite Kapitel von Gaudium et spes entfaltet (GS 23 – 32). Die „christliche Offenbarung“, heißt es dort, führe „zu einem tieferen Verständnis der Gesetze des gesellschaftlichen Lebens, die der Schöpfer in die geistliche und sittliche Natur des Menschen eingeschrieben hat“ (GS 23,1). Das Naturrecht wird an dieser Stelle, der katholischen Tradition folgend, somit von seiner schöpfungstheologischen Fundierung her begriffen. Obwohl in diesem Text sachontologische Beschreibungen, wie sie der traditionellen Staatslehre eigentümlich waren, zugunsten von personalistischen Reflexionskategorien – die „Ordnung der Dinge“ sei der „Ordnung der Personen“ zu unterwerfen (GS 26,3) – zurücktreten, geht das Konzil von der naturrechtlich begründeten objektiven Gültigkeit von Moral, Recht und Politik aus. Ausdrücklich heißt es, dass „[v]on den gesellschaftlichen Bindungen, die für die Ausbildung des Menschen notwendig sind, […] die einen, wie die Familie und die politische Gemeinschaft, unmittelbarer seiner innersten Natur [entsprechen]“. Hinzugefügt wird, nun aber ohne weitere Spezifizierung: „andere gehen eher aus seinem freien Willen hervor“ (GS 25,1). Damit aber ist bereits, was in diesem Abschnitt noch nicht das Thema ist, begründungslogisch die Möglichkeit verstellt, den für den Begriff der Volkssouveränität konstitutiven voluntaristischen Aspekt zur Begründung einer politischen Ordnung positiv aufzugreifen; hier geht es ja gerade darum, dass eine Verfassung im freien Willen der Staatsbürger ihren normativen Ursprung hat. Zwar kennt das Konzil eine „Autonomie der irdischen Dinge“ (GS 36,1). Damit ist jedoch nicht mehr als eine Eigengesetzlichkeit gemeint, die auch für die Gestaltung der Gesellschaften gelten darf; sie erfreuten sich „eigener Gesetze und Werte“ und seien „mit eigenen Gesetzen und (einer eigenen) Ordnung ausgestattet“; doch heißt es von den „profanen Dingen“ ausdrücklich, dass sie „von demselben Gott ihren Ursprung herleiten“ (GS 36,2). Diese Aussage fundiert, ins Grundsätzliche gewendet, die wenigen Zeilen, die das Konzil der Souveränitäts-

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thematik widmet. Als „falsch“ wird folgerichtig ein Verständnis von Autonomie verworfen, demzufolge „die geschaffenen Dinge nicht von Gott abhängen und der Mensch sie ohne Bezug auf den Schöpfer gebrauchen könne“ (GS 36,3). Genau darin aber besteht, wie gesehen, der Anspruch des modernen Verfassungsstaates, die ihn bindende Rechtsordnung etsi Deus non daretur zu begründen.

4 Das Verhältnis von Demokratie und Kirche in der nachkonziliaren Lehrentwicklung Die nachkonziliaren Lehrschreiben und Dokumente folgen dem Argumentationsgefälle des Konzils, setzen aber in theoretischer Hinsicht keine innovativen Akzente und erreichen nicht mehr die Komplexität der einst von Papst Leo XIII. vorgetragenen Staatslehre. Es wird sich, dies vorweg, zeigen, dass ein theologisch durchreflektiertes Konzept zum Souveränitätsbegriff ein Desiderat ist. Dies ist dafür verantwortlich, dass das Verhältnis der katholischen Kirche zur Demokratie prekär bleibt. (1) Der Katechismus der Katholischen Kirche von 1992 fasst die lehrmäßigen Äußerungen des Zweiten Vatikanums zu politischen Herrschaftsordnungen zusammen (KKK 1897– 1904).¹³ Die „Autorität“, so der für die Staatsgewalt gewählte Begriff, habe ihre „Grundlage in der menschlichen Natur“ und bezeichne die „Eigenschaft von Personen oder Institutionen, aufgrund derer sie den Menschen Gesetze und Befehle geben und von ihnen Gehorsam erwarten können“ (KKK 1898, 1897). Mit Bezug auf Röm 13,1 f. heißt es lapidar und ohne weitere Differenzierung, dass „die von der sittlichen Ordnung geforderte Autorität […] von Gott“ ausgehe (KKK 1899). Damit soll ausgesagt werden, dass die Autorität „auf eine von Gott vorgebildete Ordnung verweist“¹⁴. An diesem Verweisungscharakter aber hängt wiederum die Legitimation der Staats- und Rechtsordnung.¹⁵ Für die

 Der Katechismus der katholischen Kirche wurde 1992 von Papst Johannes Paul II. approbiert und erschien im selben Jahr. Als authentische Vorlage für alle landessprachlichen Ausgaben dient der 1997 veröffentlichte Catechismus Catholicae Ecclesiae, in den eventuelle Änderungen fortlaufend eingearbeitet werden [http://www.vatican.va/archive/DEU0035] (Zugriff: 05.08. 2018) (im Folgenden KKK, unter Hinzufügung der Randnummern).  KKK 1901 unter Verweis auf GS 74,3.  Gegenüber dieser Urbild-Abbild-Theorie, die aus Röm 13,1 f. abgeleitet wird, ist für den Katechismus die konkrete Ausgestaltung der Regierungsformen von sekundärer Bedeutung. „Sittlich zulässig“ seien alle, „sofern sie zum rechtmäßigen Wohl der Gemeinschaft, die sie annimmt, beitragen“ (KKK 1902). Die traditionelle Äquidistanzhaltung wird, ohne Verwendung des Demokratiebegriffs, lediglich in einer Sentenz überwunden: „Die Bürger sollen soweit möglich am

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Argumentation entscheidend ist, dass das theonom begründete Naturrecht, das „sittliche Gesetz“, die normativ bindende Instanz ist, die auch das staatliche Gesetz legitimiert (KKK 1950 – 1986). Denn „das sittliche Gesetz setzt die vernunftmäßige Ordnung unter den Geschöpfen voraus, die durch die Macht, Weisheit und Güte des Schöpfers zu ihrem Wohl und im Blick auf ihr Ziel festgelegt worden ist“ (KKK 1951). An anderer Stelle heißt es folgerichtig: „Das natürliche Sittengesetz“ sei, „als sehr gutes Werk des Schöpfers“, „die unerlässliche sittliche Grundlage für den Aufbau der menschlichen Gemeinschaft. Es bietet schließlich den notwendigen Boden für das staatliche Gesetz, das an es gebunden bleibt, sei es durch Schlussfolgerungen aus seinen Grundsätzen, sei es durch Zusätze positiv-rechtlicher Art.“ (KKK 1959) Dieser Fundierungskonnex wird mit dem Letztbegründungsanspruch versehen, es gebe ein „ewiges Gesetz“, das der „göttliche Ursprung aller Gesetze“ sei (KKK 1952). (2) Quer zu diesen Ausführungen des Katechismus steht dann jedoch, völlig überraschend, das Kompendium der Soziallehre der Kirche ¹⁶. In ihm findet sich, auch wenn der Begriff selbst nicht genannt wird, explizit eine positive Bezugnahme auf das Prinzip der Volkssouveränität: „Subjekt der politischen Autorität ist das Volk, das in seiner Gesamtheit als Souverän betrachtet wird.“ (KSK 395; Herv. i.O.) Dann folgt, in einem klaren Bruch mit der bisherigen Tradition, ein Bekenntnis zum bisher abgelehnten Motiv der ‚Übertragung‘ der Herrschaftsgewalt durch das Volk: Das Volk überträgt die Ausübung seiner Souveränität in verschiedenen Formen auf diejenigen, die es in freier Wahl zu seinen Vertretern bestimmt, aber es behält die Zuständigkeit, die Regierenden zu kontrollieren und auszuwechseln, wenn diese ihre Funktionen nicht in befriedigender Weise erfüllen. Auch wenn dieses Recht in jedem Staat und in jedem politischen Regime Gültigkeit hat, bietet das demokratische System mit seinen Kontrollverfahren die besten Möglichkeiten und Garantien für seine Umsetzung. (KSK 395; Herv. G.E.)

Doch werden die geltungstheoretischen Konsequenzen, die mit der Volkssouveränität verbunden sind, sofort wieder unterlaufen: „Der Konsens eines Volkes allein ist jedoch nicht ausreichend, um die Art und Weise, in der die politische Autorität ausgeübt wird, für rechtens zu erklären.“ (KSK 395) Somit bleibt es auch

öffentlichen Leben aktiv teilnehmen. Die Art und Weise dieser Teilnahme kann von Land zu Land, von Kultur zu Kultur verschieden sein. ‚Lobenswert ist aber die Handlungsweise jener Nationen, in denen ein möglichst großer Teil der Bürger in wahrer Freiheit am Gemeinwesen beteiligt wird.‘ (GS 31,3).“ (KKK 1915)  Vgl. Kompendium der Soziallehre der Kirche, hg. vom Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Freiburg i.Br.: Herder 2006 (im Folgenden KSK, unter Hinzufügung der Kapitelnummerierung).

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hier eindeutig bei der legitimationsspezifischen Unterwerfung der staatlichen Ordnung unter das Naturrecht. Eine Autorität „muss“ sich, wie es ausdrücklich heißt, vom Sittengesetz leiten lassen: Ihre ganze Würde beruht darauf, dass sie sich innerhalb der moralischen Ordnung entfaltet, ‚die ihrerseits Gott als Ursprung und Ziel hat‘. Aufgrund ihres notwendigen Bezogenseins auf diese Ordnung, die ihr vorausgeht und sie begründet, und aufgrund ihrer Zielsetzungen und ihrer Adressaten darf die Autorität nicht als eine von rein soziologischen und historischen Kriterien bestimmte Kraft verstanden werden. […] Diese Ordnung ‚hat nur in Gott Bestand. Wird sie von Gott gelöst, löst sie sich selbst auf‘. Aus ebendieser Ordnung – und nicht aus der Willkür und dem Willen zur Macht – gewinnt die Autorität ihre Verbindlichkeit und ihre eigene moralische Berechtigung, und sie hat die Pflicht, diese Ordnung in konkrete Taten umzusetzen, die der Verwirklichung des Gemeinwohls dienen. (KSK 396)¹⁷

In welchem Maße die Berufung auf das Naturrecht unter Einschluss seiner lehramtszentrierten Hermeneutik den verfassungsrechtlichen Geltungssinn des souveränitätstheoretischen Übertragungsbegriffs in sein Gegenteil verkehrt, wird auch daran deutlich, dass sich „die wesentlichen menschlichen und sittlichen Werte“, die der Staat anzuerkennen, zu achten und zu fördern hat, „als Elemente eines objektiven Sittengesetzes“ Geltung verschaffen (KSK 397, 400). Es ist folglich das Naturrecht, das das positive Recht begründet und begrenzt. Diese metaphysische Hintergrundannahme lenkt, den vorherigen Gebrauch des Übertragungsbegriffs konterkarierend, zurück zu der traditionellen Auffassung, dass die „öffentliche Autorität“ ihre „Grundlage in der menschlichen Natur“ habe und folglich „der von Gott festgelegten Ordnung angehört“ (KSK 398). Einerseits findet sich, erstmals in einem lehramtlich approbierten Text, eine positive Bezugnahme auf die Volkssouveränität. Andererseits aber steht diese Referenz völlig isoliert und kontextlos da, weil alle Implikationen, die mit diesem Prinzip geltungstheoretisch verbunden sind, abgewehrt werden. (3) Für das Demokratieverständnis der römisch-katholischen Kirche ist die Enzyklika Centesimus annus, die Papst Johannes Paul II. 1991 veröffentlichte, von besonderer Bedeutung.¹⁸ Dieses Lehrschreiben tritt mit einer Entschiedenheit für das „System der Demokratie“ (CA 46) ein, wie dies zuvor, jedenfalls in dieser Klarheit, nicht der Fall war. Die Kirche wisse es „zu schätzen, insoweit es die Beteiligung der Bürger an den politischen Entscheidungen sicherstellt und den

 Die eingeschlossenen Zitate beziehen sich jeweils auf die Enzykliken Pacem in terris und Mater et magistra von Papst Johannes XXIII.; Belegstellen ebd.  Vgl. Johannes Paul II., Centesimus annus. Enzyklika zum hundertsten Jahrestag von Rerum Novarum, 01.05.1991, Bonn: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 1991 (im Folgenden CA, unter Hinzufügung der Kapitelnummerierung).

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Regierten die Möglichkeit garantiert, sowohl ihre Regierungen zu wählen und zu kontrollieren als auch dort, wo es sich als notwendig erweist, sie auf friedliche Weise zu ersetzen“ (CA 46). Eine „wahre Demokratie“ (CA 46) ist dem Papst zufolge dort verwirklicht, wo das Mehrheitsprinzip an die Selbstbindung des Staates an menschenrechtsbasierte Grundrechte normativ zurückgebunden ist. Dabei wird ausdrücklich geltend gemacht, dass die Kirche „die berechtigte Autonomie der demokratischen Ordnung“ achte. Insofern stehe es ihr auch nicht zu, „sich zu Gunsten der einen oder anderen institutionellen oder verfassungsmäßigen Lösung zu äußern“ (CA 47; Herv. i.O.). Der Sinn dieses zuletzt zitierten Satzes erschließt sich erst aus dem Gesamtzusammenhang des Argumentationsbogens, der auf ihn hinzielt. Als „Krise der demokratischen Systeme“ wird die zunehmende Unfähigkeit bezeichnet, Recht und Gesetz auf die „umfassende Sicht des Gemeinwohles“ hin auszurichten (CA 47). Denn zu den glaubwürdigen und soliden Grundlagen der politischen Organisationsform der Demokratie gehöre die Anerkennung von Rechten, die den moralischen Maßstäben von Gerechtigkeit und Sittlichkeit standhalten müssen. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang freilich, dass der Papst diese Kritik auf der Basis einer Unterscheidung von Staat und Gesellschaft übt. Beides, die Wertschätzung der Demokratie wie die Kritik an ihr, wird in die Zivilgesellschaft hineingesprochen. In einem an die Christen gerichteten Appell heißt es ausdrücklich, dass der Christ „im Dialog mit den anderen Menschen […] jedem Beitrag an Wahrheit, dem er in der Lebensgeschichte und in der Kultur des einzelnen und der Nationen begegnet, Achtung zollen [wird]; er wird aber nicht darauf verzichten, all das zu vertreten, was ihn sein Glaube und der rechte Gebrauch der Vernunft gelehrt haben“ (CA 46). Und entschiedener noch kann es gar heißen, dass der christliche Glaube keine Ideologie sei und sich nicht anmaße, „die bunte sozio-politische Wirklichkeit in ein strenges Schema einzuzwängen. Er anerkennt, dass sich das Leben des Menschen in der Geschichte unter verschiedenen und nicht immer vollkommenen Bedingungen verwirklicht. Darum gehört zum Vorgehen der Kirche, die stets die transzendente Würde der Person beteuert, die Achtung der Freiheit.“ (CA 46) Hier wird deutlich, so kann man diese Aussage durchaus begreifen, dass das kirchliche Lehramt das Ordnungsmodell der pluralistischen Demokratie gutheißt. (4) Mit der 1996 erschienenen Enzyklika Evangelium vitae hat hingegen eine sehr akzentuierte Aufmerksamkeitsverschiebung stattgefunden.¹⁹ Dieses Rund-

 Vgl. Johannes Paul II., Evangelium vitae. Enzyklika über den Wert und die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens, 25.03.1995, Bonn: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 1995 (im Folgenden EV, unter Hinzufügung der Kapitelnummerierung).

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schreiben argumentiert deutlich demokratieskeptischer und beschränkt sich nicht allein darauf, konkrete Schwächen und mögliche Fehlentwicklungen der Demokratie aufzudecken und zu thematisieren.Vielmehr umreißt Papst Johannes Paul II. die Legitimitätsbedingungen des demokratischen Rechtsstaates hier in der entschiedenen Absicht, der traditionellen naturrechtlichen Legitimationsfigur Geltung zu verschaffen, mit der die Legitimität einer Rechtsordnung an ihrer materialen Übereinstimmung mit dem katholisch verstandenen Sittengesetz bemessen wird. In Evangelium vitae knüpft Johannes Paul II. zunächst an seine Ausführungen zur Demokratie an, wie er sie in Centesimus annus dargelegt hatte. Er reflektiert auf das moralgebundene Bewusstsein der Freiheit, mit der die vergesellschafteten Staatsbürger an demokratisch strukturierten Beratungs- und Entscheidungsprozessen partizipieren. Näherhin kritisiert er eine „individualistische Freiheitsauffassung“, die das freiheitsbegabte Individuum selbst zum „Absoluten“ erhebe, denn auf diese Weise verliere die Freiheit nicht nur die ihr „wesentliche Beziehungsdimension“, sondern negiere zugleich „ihre grundlegende Verbindung mit der Wahrheit“ (EV 19). Damit aber werde das soziale Zusammenleben tiefgreifend „entstellt“ und ein „Relativismus“ gefördert, der den Schutz der Würde einer jeden Person preisgebe (EV 20). Die demokratie- und rechtsstaatstheoretische Argumentationsebene ist dem Papst zufolge dort erreicht, wo „breite Schichten der öffentlichen Meinung […] manche Verbrechen gegen das Leben im Namen der Rechte der individuellen Freiheit [rechtfertigen] und […] unter diesem Vorwand nicht nur Straffreiheit für derartige Verbrechen, sondern sogar die Genehmigung des Staates [beanspruchen], sie in absoluter Freiheit und unter kostenloser Beteiligung des staatlichen Gesundheitswesens durchzuführen“ (EV 4). Dass der Papst hier liberale Gesetze zu Abtreibung und Euthanasie vor Augen hat, muss an dieser Stelle nicht weiter interessieren. Wichtig ist jedoch der Hinweis, dass sie für ihn eine „Bedrohung“ darstellen, „die letzten Endes imstande ist, selbst die Bedeutung des demokratischen Zusammenlebens aufs Spiel zu setzen“ (EV 18). Zwei Argumentationsstränge, ein rechtsstaatlicher und ein demokratietheoretischer, verfugen sich für den Papst an dieser Stelle miteinander. Auf der einen Seite kritisiert er, dass „im eigentlich politisch-staatlichen Bereich […] das ursprüngliche, unveräußerliche Recht auf Leben […] auf Grund einer Parlamentsabstimmung oder des Willens eines – sei es auch mehrheitlichen – Teiles der Bevölkerung in Frage gestellt oder verneint [wird]“. Diesen Umstand deutet der Papst so, dass hier die Konsequenzen eines moralisch korrumpierten Freiheitsbewusstseins greifbar werden; er sei „das unheilvolle Ergebnis eines unangefochten herrschenden Relativismus“ (EV 20). Auf der anderen Seite aber konzentriert er seine Kritik nicht nur, wie bereits angedeutet, auf das demokratische

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Mehrheitsprinzip, sondern er hinterfragt die Stabilität seiner rechtsstaatlichen Einhegung. Denn wenn „über die Gesetze zur Freigabe der Abtreibung und der Euthanasie nach den sogenannten demokratischen Regeln abgestimmt wird“, dann soll dies „scheinbar ganz auf dem Boden der Legalität“ stehen (EV 19, Herv. G.E.). Bereits die eingefügten Invektiven ‚sogenannt‘ und ‚scheinbar‘ machen zumindest hellhörig. Doch der Papst wird noch deutlicher: „In Wahrheit stehen wir lediglich einem tragischen Schein von Legalität gegenüber, und das demokratische Ideal, das es tatsächlich ist, wenn es denn die Würde jeder menschlichen Person anerkennt und schützt, wird in seinen Grundlagen selbst verraten.“ (EV 20; Herv. G.E.) Worin aber soll, folgen wir dem Papst, eine derartige Scheinlegalität bestehen? Die Argumentation, die er vorträgt, ist komplex und vielschichtig. Erstens weist er die Auffassung zurück, die „einzelnen Individuen“ müssten sich auch in demokratisch strukturierten Mehrheitsbeschlüssen auf ihre „vollständigste sittliche Entscheidungsautonomie“ berufen dürfen (EV 69). Kritisiert wird nämlich die Meinung, die Achtung vor der Freiheit der Bürger würde es erfordern, „dass man auf Gesetzgebungsebene die Autonomie der einzelnen Gewissen anerkennt und daher bei der Festlegung jener Normen, die auf jeden Fall für das soziale Zusammenleben notwendig sind, ausschließlich dem Willen der Mehrheit, welcher Art immer sie sein mag, gerecht wird“ (EV 69). Diese vom Papst kritisierte Behauptung verweist dann auch auf jene, die unterstellt, dass der Staat sich, weil er sich keine ethische Auffassung zu eigen machen und diese vorschreiben dürfe, darauf zu beschränken habe, „der Freiheit jedes einzelnen weitestmöglichen Raum zu garantieren mit der einzigen äußeren Einschränkung, den Raum von Autonomie nicht zu verletzen, auf den auch jeder andere Bürger ein Recht hat“ (EV 69). Damit aber lenkt der Papst, zweitens, bereits hinüber zu einem Demokratieund Rechtsstaatsdiskurs. Zum einen wird die Legitimität der Demokratie daran gemessen, ob ihre Rechtsordnung mit dem Sittengesetz übereinstimmt, dem sie „unterstehen muss“ (EV 70). Die „Würde jeder menschlichen Person, die Achtung ihrer unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte sowie die Übernahme des ‚Gemeinwohls‘“ seien „Ziel und regelndes Kriterium für das politische Leben“. Das aber bedeute nun auch, dass „Grundlage dieser Werte […] nicht vorläufige und wechselnde Meinungs‚mehrheiten‘“ [sc.!] sein können. Als solche fungiere vielmehr „die Anerkennung eines objektiven Sittengesetzes, das als dem Menschen ins Herz geschriebenes ‚Naturgesetz‘ normgebender Bezugspunkt eben dieses staatlichen Gesetzes ist“ (EV 70). Zunächst lesen sich diese Überlegungen noch als die Problematisierung eines demokratischen Selbstverständnisses, das die Geltung fundamentaler Menschenrechte vom bloßen Mehrheitsprinzip abhängig machen wollte. Dann aber

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hätte doch eine eindringliche Paränese gereicht, die auf eine Wiederentdeckung wesentlicher sittlicher Werte ausgerichtet wäre. Denkbar wäre auch ein einschärfender Hinweis auf den Primat von Verfassungs- und Rechtsordnungen, in denen Grundrechtskataloge kodifiziert sind und deren Geltungskraft das Demokratieprinzip normativ zentriert und einhegt. Aber der Papst geht, drittens, noch einen entscheidenden Schritt weiter und erörtert das verfassungsrechtlich hochkomplexe Verhältnis von Legalität und Legitimität. Zunächst thematisiert er jedoch das Verhältnis von Moralität und Legalität. Zwar konzediert er, dass die Aufgabe eines staatlichen Gesetzes im Vergleich zum Sittengesetz „anders und von begrenzterem Umfang“ sei (EV 71); zugleich aber bekräftigt er „[i]n Kontinuität mit der gesamten Tradition der Kirche“ die „Lehre über die notwendige Übereinstimmung des staatlichen Gesetzes mit dem Sittengesetz“ (EV 72). Zuvor hatte der Papst, wie bereits zitiert, die These aufgestellt, dass das Recht aufhöre Recht zu sein, „weil [sc.!] es sich nicht mehr fest auf die unantastbare Würde der Person gründet, sondern dem Willen des Stärkeren unterworfen wird“ (EV 20). Es soll, mit anderen Worten, die Moralität sein, die einem Gesetz Rechtsgeltung verleiht. Das geht auch aus einer Sentenz des Thomas von Aquin hervor, die der Papst zustimmend referiert: Das menschliche Gesetz hat nur insoweit den Charakter eines Gesetzes, insoweit es der rechten Vernunft gemäß ist; und insofern ist es offensichtlich, dass es vom ewigen Gesetz her abgeleitet wird.Wenn es aber von der Vernunft abweicht, wird es ungerechtes Gesetz genannt und hat nicht den Charakter eines Gesetzes, sondern vielmehr den einer Gewalttätigkeit. […] Jedes von Menschen erlassene Gesetz hat insoweit den Charakter eines Gesetzes, insoweit es vom Naturgesetz abgeleitet wird. Wenn es aber in irgend etwas von dem Naturgesetz abweicht, dann wird es nicht mehr Gesetz, sondern die Zersetzung des Gesetzes sein.²⁰

Zudem kann es an anderer Stelle heißen: „Die Gesetze, die Abtreibung und Euthanasie zulassen und begünstigen, stellen sich also nicht nur radikal gegen das Gut des einzelnen, sondern auch gegen das Gemeinwohl und sind daher ganz und gar ohne glaubwürdige Rechtsgültigkeit.“ (EV 72; Herv. G.E.) Auch diese Aussage, nunmehr appellativ gesteigert durch die Verwendung der ersten Person Singular, findet sich in der weiteren Argumentation: „Ich wiederhole noch einmal, dass eine Vorschrift, die das natürliche Recht auf das Leben eines Unschuldigen verletzt, unrecht ist und als solche keinen Gesetzeswert haben kann.“ (EV 90; Herv. i.O.) Ein vierter Hinweis gilt der geltungstheoretischen Auffassung des Papstes, für den nicht die gesetzgebende Gewalt die eigentliche Legitimitätsquelle eines

 EV 72, unter Bezug auf STh I-II, q.93, a.3, ad 2; q.95, a.2.

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Gesetzes ist, sondern das Sittengesetz. Denn das Lehrschreiben äußert sich zur souveränitätstheoretischen Thematik in der Weise, dass es die Legitimitätsgrundlage von demokratisch konstituierten Verfassungs- und Rechtsordnungen unter einen Vorbehalt stellt. Der Papst nimmt Bezug auf eine Textpassage, die der Enzyklika Pacem in terris von Papst Johannes XXIII. entnommen ist. In ihr heißt es nach einem Hinweis auf die Gemeinwohlverpflichtung des Staates: „‚Wenn deshalb Behörden die Rechte des Menschen entweder nicht anerkennen oder verletzen, so weichen sie nicht nur selbst von ihrer Pflicht ab, sondern es entbehrt auch das, was von ihnen befohlen wurde, jeder Verbindlichkeit‘.“²¹ Und weiter heißt es bei Johannes Paul II., ebenfalls unter Bezugnahme auf Johannes XXIII.: Die Befehlsgewalt wird von der sittlichen Ordnung erfordert und geht von Gott aus. Falls daher Staatslenker entgegen dieser Ordnung und insofern entgegen dem Willen Gottes Gesetze erlassen oder etwas gebieten, dann können weder die erlassenen Gesetze noch die gewährten Vollmachten das Gewissen der Bürger verpflichten. […] Vielmehr bricht dann die Autorität selbst völlig zusammen, und es folgt scheußliches Unrecht‘.²²

Diese Argumentationskette deutet nun aber doch, so meine ich, darauf hin, dass Papst Johannes Paul II. eine demokratietheoretisch fundamentale Unterscheidung zu unterlaufen scheint. Er weist ja nicht lediglich demokratisch beschlossene Gesetze zurück, die die Kirche für moralisch falsch hält. Auch begnügt er sich nicht damit, verfassungsrechtsdogmatische Probleme des demokratischen Mehrheitsprinzips zu benennen, um von dort beispielsweise die verfassungsrechtliche Frage nach einer grundrechtsgebundenen Souveränitätsbeschränkung zu erörtern. Vielmehr hat es den Anschein, als ob der Papst die Legitimität von demokratisch-prozeduralen Entscheidungsstrukturen von der Anerkennung des Sittengesetzes abhängig machen will, das mit dem Anspruch unbedingter Letztgültigkeit zu achten, anzuerkennen und zu fördern sei. Damit stellt sich Johannes Paul II. in die Tradition der vorkonziliaren Staatslehre, wie sie in elaborierter Form von Papst Leo XIII. ausgearbeitet wurde. (5) Anlässlich seines Deutschlandbesuchs im Jahr 2011 hat Papst Benedikt XVI. eine Rede vor dem Deutschen Bundestag gehalten.²³ Auch in ihr wird das

 EV 71 unter Bezug auf Papst Johannes XXIII., Enzyklika Pacem in terris, 11. 04. 1963, Nr. 61. Diese Stelle bezieht sich wiederum auf Aussagen der Päpste Pius XI. und Pius XII. [https://t1p.de/ y9jy] (Zugriff: 05.08. 2018) (Herv. G.E.).  EV 72; unter Bezug auf Pacem in terris 51.  Benedikt XVI., „Ansprache seiner Heiligkeit Papst Benedikts XVI. im Deutschen Bundestag“, in Apostolische Reise seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. nach Berlin, Erfurt und Freiburg 22. – 25. September 2011. Predigten, Ansprachen und Grußworte, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2011, 30 – 38; vgl. dazu

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Verhältnis von Moralität und Legalität thematisiert, aber Benedikt XVI. setzt andere Akzente als sein Amtsvorgänger. So fragt er vor allem nach dem Recht des geltenden Rechts und dessen Verankerung in vorstaatlichen Legitimitätsquellen. Das von Johannes Paul II. mit scharfen Worten kritisierte Dilemma der Demokratie wird von seinem Nachfolger zwar genannt, steht jedoch nicht im Mittelpunkt seiner Ausführungen. Die Reflexion darauf, dass das Mehrheitsprinzip in den „Grundfragen des Rechts, in denen es um die Würde des Menschen und der Menschheit geht, […] nicht ausreicht“²⁴, führt nicht zu demokratietheoretischen, sondern allein zu rechtstheoretischen Erörterungen. Benedikt XVI. geht es um die „grundlegenden anthropologischen Fragen“ des Rechts und mit ihnen um die Frage, „was nun dem Gesetz der Wahrheit entspreche“, dem also, was „wahrhaft recht sei und Gesetz werden könne“. Auch hier steht, wie bereits bei Johannes Paul II., die Frage nach dem Verhältnis von Wahrheit und Recht im Mittelpunkt. Sie wird dadurch beantwortet, dass Papst Benedikt XVI. in einem Rekurs auf Natur und Vernunft als die „wahren“, „für alle gültige[n] Rechtsquellen“ und auf deren „Zueinander“ verweist. Sie aber drohen, um im Bilde zu bleiben, aufgrund positivistischer Weltbildverengungen, wie sie in der Moderne in den Naturwissenschaften und in der Philosophie beobachtet werden können, zu versiegen. Dadurch jedoch würden, was der Papst am Beispiel des Staatsrechtlers Hans Kelsen meint erläutern zu können, „die klassischen Erkenntnisquellen für Ethos und Recht außer Kraft gesetzt“ – mit weitreichenden Folgen für den Vollzug einer Rechtsbildung, die dadurch normativ entkernt werde. Zwar stellt Papst Benedikt XVI. das demokratische Mehrheitsprinzip nicht infrage, aber er konnotiert den Mehrheitsbegriff mit einem deutlichen Unbehagen an der Liberalität, wie sie für rechtstaatliche Demokratien identitätskonstitutiv ist. Das verfassungsrechtliche Problem der päpstlichen Ausführungen besteht m. E. nicht bereits darin, dass er die Frage nach Kriterien der Rechtsbildung aufwirft, die ihrerseits Willens- und Entscheidungsprozesse in einem demokratischen Rechtsstaat orientieren und normieren. Es besteht vielmehr darin, dass auch Papst Benedikt XVI. wie sein Amtsvorgänger auf einer materiellen Übereinstimmung von Verfassungsordnung und Naturrecht insistiert. Es hat den Anschein, als ob die Verfassungsordnung ein abgeleiteter Artikulationsmodus des Naturrechts zu sein habe.

Verfassung ohne Grund? Die Rede des Papstes im Bundestag, hg. von Georg Essen, Freiburg i. Br.: Herder 2012.  Benedikt XVI. 2011, 32. Die folgenden Zitate ebd., 32 f.; 33 f.; 35.

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5 Liberal-demokratischer Verfassungsstaat und katholische Kirche. Eine ungeklärte Beziehung ohne Zukunftsperspektive Seit der behutsamen Annäherung an die Demokratie durch Papst Pius XII. finden sich in thematisch einschlägigen Lehramtsschreiben Ausdrücke wie ‚wahre‘, ‚echte‘ und ‚gesunde‘ Demokratie. Die Definitionskompetenz für den Unterschied von wahrer und falscher Demokratie liegt dabei erklärtermaßen beim kirchlichen Lehramt, das sich hierbei auf eine theonom begründete Staatszwecklehre beruft. Sie ist, wie gesehen, sozialmetaphysisch im göttlichen und natürlichen Sittengesetz verankert und wird vom Lehramt in letztverbindlicher und autoritativer Weise als objektiv gültige Norm in Anspruch genommen, um gesellschaftliche Moral- und staatliche Rechtsordnungen an ihr zu messen. Dieser normative Kern der katholischen Staatslehre führt jedoch zu folgenreichen Anschlussproblemen, die sich auf das infrage stehende Verhältnis der römisch-katholischen Kirche zur modernen Regierungsform des demokratischen Rechtsstaats verhängnisvoll auswirken. Es ist, erstens, zu fragen, welche Bilder und Vorstellungen von modernen Gesellschaften der katholischen Staatslehre zugrunde liegen. Denn anders als noch in der Enzyklika Centesimus annus, die eine gewisse Aufgeschlossenheit für die „bunte sozio-politische Wirklichkeit“ (CA 46) moderner Gesellschaften erkennen lässt, verdüstert sich in den darauffolgenden Lehramtstexten die Wahrnehmung des gesellschaftlichen Pluralismus sehr deutlich. Dabei lässt sich das Lehramt offenkundig von Homogenitätsvorstellungen leiten, die der gesellschaftlichen Realität der Moderne nicht mehr gerecht werden. Es fehlt weithin ein analytischer Zugang zu jenen soziokulturellen und politischen Folgewirkungen, die für fragmentierte und heterogene Gesellschaften konstitutiv geworden sind. Modernitätstheoretische Gesellschaftsdiagnosen, die von einem Zerfall metaphysischer Weltbilder sprechen oder zumindest von deren Pluralisierung, deuten darauf hin, dass Deliberations- und Entscheidungsprozesse in pluralistischen politischen Gemeinwesen hochkomplexe Verständigungsdiskurse sind, die sich nicht durch die Bindungskraft eines theonom fundierten Sittengesetzes normativ zentrieren lassen. Auch gibt dieser soziologische Befund Anlass zu der Frage, ob die katholische Staatslehre der Leistungskraft liberaler Demokratien gerecht wird, in Gesellschaften, die unhintergehbar pluralistisch und heterogen sind, eine pazifizierende und integrierende Wirkung zu entfalten. Einsetzend mit der Enzyklika Evangelium vitae sind erhebliche Schwierigkeiten seitens des römischen Lehramts

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wahrzunehmen, sich mit Ambivalenz und Pluralität, Heterogenität und Antagonismus zu arrangieren, die für moderne und sich modernisierende Gesellschaften geradezu identitätskonstitutiv geworden sind. Bereits in ihren Beschreibungen der prozeduralen Wirkmechanismen demokratisch organisierter Institutionenordnungen unterlaufen lehramtliche Texte die gesellschaftliche Herausforderung, die Demokratie als die ‚politische Form des sozialen Friedens‘ (Hans Kelsen) wertzuschätzen, die auf den Ausgleich von Gegensätzen und auf die gegenseitige kompromissfähige Verständigung bedacht ist. In lehramtlichen Texten finden sich darüber hinaus unzureichende Beschreibungen von Rechtsgestaltungsprozessen in modernen Gesellschaften. Welche Funktionen kann realistischerweise das Recht für die soziale Integration einer ausdifferenzierten Gesellschaft übernehmen? Wie lässt sich in heterogenen und fragmentierten Gesellschaften eine Verständigung über Grundlagen politischer Gemeinsamkeiten erzielen, die die individuelle Gewissensmoral von prinzipiell gleichberechtigten Grundrechtsträgern nicht übergeht? Vor allem aber: Was soll die Alternative zu einem demokratischen Verfahren sein, das unter den Bedingungen eines weltanschaulichen gesellschaftlichen Pluralismus dem Prozess der Rechtsetzung eine legitimitätserzeugende Kraft verleiht? Das Lehramt verkennt beziehungsweise verzeichnet den für liberale Verfassungsordnungen konstitutiven normativen Kern demokratischer Rechtsstaatlichkeit. Es gehört zum Herzstück liberaler Verfassungen, die gleichen subjektiven Freiheiten für jede und jeden zu gewährleisten und die gleichmäßige private Autonomie aller Bürgerinnen und Bürger sicherzustellen. Aus diesem Grunde übt sich der Staat – um der Freiheit willen – in dem Verzicht, sich auf substanzielle Vorstellungen über eine für alle maßgebende Lebensführung festzulegen. Der liberale Verfassungsstaat ist nicht wahrheitsvergessen und fördert erst recht nicht die Regierungsform einer ‚Diktatur des Relativismus‘ (Papst Benedikt XVI.). Doch ist der Ort der Wahrheit die Gesellschaft; beziehungsweise – denn darin besteht in pluralen Gesellschaften zunehmend die Herausforderung – das Ringen um sie findet in der Gesellschaft statt und beruht auf deliberativen Meinungsund Willensbildungsprozessen. Der Anspruch des liberalen Rechtsstaates kann infolgedessen nur ein begrenzter sein. Er reagiert auf die gesellschaftliche Herausforderung des faktischen Pluralismus mit dem Prinzip eines normativen Pluralismus. Denn die Gewährleistung grundrechtsgeschützter Freiheitsrechte will Freiräume für die vitale Entfaltung pluraler Lebensformen schaffen. Wenn, zweitens, das Lehramt in diesem Zusammenhang glaubt, das demokratische Mehrheitsprinzip als normativ nicht gebundenes und darum tendenziell relativismusanfälliges Entscheidungsverfahren kritisieren zu sollen, verkennt es die mit historischen Erfahrungen imprägnierte Leistungskraft demokratischer Verfassungsordnungen. Gerade das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutsch-

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land – mithin der Verfassungskontext, in den hinein Benedikt XVI. seine Bundestagsrede zu verorten hatte – kennt eine Reihe von Verfassungsnormen, mit denen der gesetzgebenden Gewalt grundrechtsgebundene Beschränkungen auferlegt werden. Der demokratische Rechtsstaat ist durch das Prinzip der Gewaltenteilung, die Prärogative von Recht und Gesetz sowie qualifizierte Mehrheiten für eventuelle Verfassungsänderungen die institutionalisierte Form der Machtbegrenzung. Darüber hinaus ist nicht nur die Gesetzgebung selbst an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden (Art. 20 II GG), sondern dieser Verfassungsgrundsatz ist seinerseits durch eine Unabänderlichkeitsklausel festgeschrieben (Art. 79 III GG). Mit einer solchen ‚Ewigkeitsklausel‘ ist ausdrücklich auch Art. 1 GG versehen, der die staatliche Gewalt auf die letztverbindliche Achtung und den unbedingten Schutz der „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ verpflichtet (Art. 1 II GG). Die in Art. 1 bis 19 GG kodifizierten Grundrechte binden alle drei Gewalten als „unmittelbar geltendes Recht“ (Art. 1 III GG). Der Staat des Grundgesetzes lässt also, anders als Benedikt XVI. dies in seiner Bundestagsrede zu unterstellen scheint, die prekäre Frage nach dem Recht des in ihm gesprochenen Rechts ausdrücklich nicht unbeantwortet. Die infrage stehende Legitimationsgrundlage der Verfassung wird durch den Rückbezug auf ein Wertefundament beantwortet, das für die Bundesrepublik bindend ist und Recht und Ordnung normiert. Dass Benedikt XVI. in seiner Bundestagsrede auf dieses verfassungsrechtliche Normengefüge nicht eingeht, hängt vermutlich damit zusammen, dass er, diesen voreilig mit Positivismus verwechselnd, den Formalismus-Charakter des Rechts außen vorlässt. Auffallend ist jedenfalls, dass nicht nur bei ihm, sondern durchgängig in lehramtlichen Äußerungen zu Verfassungsordnungen die Eigentümlichkeit eines verfassunggebenden Aktes verkannt wird. Auch die Geltungskraft von Grundrechten beruht darauf, dass diese als Teil der Verfassung kodifiziert sind und so zu positivem Recht werden. Die von mir herangezogenen Lehramtsäußerungen legen hingegen die Interpretation nahe, dass einer Verfassungs- und Rechtsordnung die normative Verbindlichkeit allererst durch das vorrechtliche Sittengesetz verliehen wird. Zwar gilt für das Grundgesetz, dass die Grundrechte als dem Staat vorausliegende Rechte des Individuums begriffen werden. Vorstaatlich sind die Grundrechte in dem Sinne, dass ihre Inanspruchnahme dem Staat gegenüber nicht gerechtfertigt werden muss. Von einem vorstaatlichen Geltungsgrund der Grundrechte kann insofern gesprochen werden, als es sich bei ihnen um unveräußerliche, natürliche Rechte handelt, die dem Menschen kraft seines Menschseins zukommen. Dass ein Individuum Grundrechtsträger ist, ist kein Recht, das der Staat seinen Untertanen verleiht!

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Es ist, drittens, die Frage aufzuwerfen, ob die katholische Staatslehre die Grundidee der liberalen Demokratie anerkennt, im Rahmen der Rechtsordnung die Pluralität von individuellen oder gemeinschaftlich geteilten Weltdeutungen und die Vielfalt der Lebensstile zu ermöglichen und zu schützen. Im modernen Staats- und Verfassungsrecht hat sich nicht nur die Einsicht durchgesetzt, dass der Staat seine pazifizierende Funktion in religiös und weltanschaulich pluralistischen Gesellschaften nur unter der Voraussetzung ausüben kann, dass er selbst religiös und weltanschaulich neutral ist.²⁵ Ebenso entscheidend ist die Einsicht, dass die Befriedung pluraler Gesellschaften von der unabdingbaren Voraussetzung abhängt, dass die Prämissen des modernen Verfassungsstaates und mit ihm die Prämissen von Recht und Ethos durch die Idee der auf Autonomie beruhenden politischen Selbstbestimmung normiert werden. Wäre nämlich eine für alle verbindliche Moral- und Rechtsordnung nicht autonom, sondern theonom begründet, würde deren Geltungssinn von einer Begründungsprämisse abhängig sein, die unter den Bedingungen eines religiösen und weltanschaulichen Pluralismus nicht von allen Staatsbürgerinnen und -bürgern geteilt wird – und übrigens auch nicht geteilt werden muss: dem Glauben an Gott. Unter Berufung auf das Naturrecht bestreitet das kirchliche Lehramt hingegen das Autonomieprinzip ausdrücklich; eine Auffassung, die sich auch, wie gesehen, durch das Zweite Vatikanum nicht grundlegend geändert hat. Dass in Gaudium et spes und in der nachkonziliaren Lehrentwicklung ein naturrechtlicher Personalismus diesbezügliche Affirmationsleistungen verunmöglicht, hat allerdings Folgen für das Verhältnis der römisch-katholischen Kirche zur Demokratie. Der partizipative Modus von Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen gehört zwar zu den notwendigen Definitionsmerkmalen der Demokratie, aber sie ist durch ihn noch keineswegs hinreichend bestimmt.²⁶ Denn die politische Praxis der Selbstregierung – government of the people, by the people, for the people (Abraham Lincoln) – hat ihr Regulativ in der Idee der freien Selbstbestimmung aller Bürgerinnen und Bürger. Der Begriff der Selbstbestimmung, wie er für die Demokratie konstitutiv ist, gründet in der als Autonomie verstandenen Freiheit. Das Lehramt hingegen verkennt die für die Moderne eigentümliche Verklammerung von Demokratie und Rechtsstaat: Die Demokratie gibt Auskunft über das Volk als Träger der staatlichen Herrschaft und begründet zugleich deren Orga-

 Vgl. Dreier 2018.  Doch es ist allein dieser Aspekt, der kirchlicherseits anerkannt wird, sofern und weil sich sein Geltungssinn naturrechtlich begrenzen lässt. Denn die demokratische Mitwirkungspraxis bezieht sich ja nach kirchlichem Verständnis auf eine politische Ordnung, die ihrerseits sakral-religiös begründet ist. Der demokratische Gestaltungswille, wie die Kirche ihn begreift, erstreckt sich folglich nicht auf diese Ordnung selbst.

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nisationsform. Die gesetzgebende Gewalt wiederum begründet den Rechtsstaat, und zwar sowohl seinen Inhalt wie seinen Umfang. Dass die Demokratie dem Autonomiegedanken entspringt, findet sein Korrelat in einer Staatsordnung, deren Zweck darin besteht, Recht zu vermitteln und Freiheit zu ermöglichen.²⁷ Anders hingegen die katholische Kirche! Während sie die ‚Autonomie der zivilen und politischen Sphäre gegenüber der religiösen und kirchlichen‘ anerkennt, negiert sie jedwede Form einer Autonomie der Verfassungsordnung gegenüber der ‚moralischen Sphäre‘. Folglich besteht, dieser Logik folgend, das Lehramt darauf, dass der Materialgehalt des Naturrechts, wie es die Kirche versteht und autoritativ interpretiert, dem demokratischen Mehrheitsprinzip schlechthin entzogen ist; das Sittengesetz sei nicht „verhandelbar“²⁸. Autonomiefreiheit als normativer Kern der liberalen Demokratie, der sich im Prinzip der Volkssouveränität verdichtet, wird von der römisch-katholischen Kirche zurückgewiesen, da sie an dem traditionellen Konzept einer sakral-religiösen Letztbegründung bis in die Gegenwart hinein festhält. Die Auffassung, dass der Staat zu der „von Gott vorherbestimmte[n] Ordnung“ gehöre (GS 74,3), verweist auf sakrale Legitimationsquellen und lässt sich mit dem Grundverständnis der Demokratie nicht verbinden. Die Souveränitätstheorie der nachkonziliaren Staatslehre steht bruchlos in der Tradition des 19. Jahrhunderts. Es gilt nach wie vor das Axiom, dass die göttliche Welt- und Naturordnung den Grund der politischen Ordnung bestimmt und den Grundcharakter der politischen Ordnung des Zusammenlebens festlegt. Und noch immer ist die Doktrin in Geltung, dass die Legitimität des liberal-demokratischen Verfassungsstaates unter den Vorbehalt gestellt wird, mit dem Sittengesetz, wie es die Kirche versteht, übereinstimmen zu müssen. Zu würdigen und ausdrücklich hervorzuheben ist aber, viertens, der heutige globale Einsatz der römisch-katholischen Kirche für Demokratie und Menschenrechte. An dieser Wahrnehmung haben namentlich und insbesondere die Pastoralreisen von Johannes Paul II. wesentlichen Anteil. Dass dieses Engagement der römisch-katholischen Kirche authentisch ist, dürfte außer Frage stehen. Unbestritten ist darüber hinaus die Rolle, die sie in den Demokratisierungsprozessen der 1980er und 1990er Jahre des vorigen Jahrhunderts gespielt hat. Aber es ist ein irritierendes Paradox, dass diese Praxis der Kirche in einem eklatanten Widerspruch steht zu ihrer Staatslehre. In ihrer Lehrentwicklung hat sie die demokratietheoretischen Spannungen, die das gesamte 20. Jahrhundert durchziehen,  Vgl. Hermann Krings, „Staat und Freiheit“, in: Ders., System und Freiheit. Gesammelte Aufsätze, Freiburg i.Br.: Alber 1980, 185 – 208.  Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben, 24.11. 2002, Bonn: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2002, Nr. 6.

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nicht produktiv auflösen können. Die Sicht des römischen Lehramts auf moderne Gesellschaften ist sichtlich von kognitiven Dissonanzen geprägt. Seine Pluralismusfähigkeit ist ganz offensichtlich nachhaltig blockiert. Es ist also die Frage zu stellen, was die römisch-katholische Kirche zu der Gestaltung jenes weltanschaulichen Pluralismus wird beitragen können, der zu den gegenwärtig zentralen politischen und rechtlichen Herausforderungen gehört. Hierzu ist es nötig, dass sie ihren theoretisch verengten Blick auf die Konfliktlösungsstrategien aufgibt, mit denen liberale Verfassungsstaaten um Lösungen ringen. Dazu ist freilich erforderlich, den massiven Dissens zwischen dem sakral-religiösen Staatsbegriff und dem modernen Staatsverständnis endlich zu überwinden; und dies muss die theologische Anerkennung des Autonomieprinzips unbedingt mit einschließen.²⁹ Dazu gehört dann allerdings auch, dass das nachhaltig gestörte Verhältnis der Kirche zum demokratischen Prinzip des Liberalismus dringlich ein auch theoretisch begründetes Ende finden muss. Die lehramtlich gepflegte Skandalisierungsrhetorik, die bisweilen die Grenze der Gegenwartsverachtung erreicht, kann diese theoretische Deckungslücke nicht verbergen. Beredter Ausdruck hierfür dürfte nicht nur die inzwischen vielfach kolportierte Redeweise von der ‚Diktatur des Relativismus‘ sein, die Joseph Kardinal Ratzinger einst prägte, sondern auch die barsche Polemik, mit der Johannes Paul II. in der Enzyklika Evangelium vitae glaubte, seine Demokratieskepsis untermauern zu müssen.³⁰ Hier wird die anstehende Aufgabe verkannt, sich kirchlicherseits in der gebotenen und der Sache angemessenen Differenzierungsbereitschaft mit den Dilemmasituationen der modernen Demokratie auseinanderzusetzen, die sich, um der Freiheit willen, nur als eine hochgradig fragile

 Dieses Thema weist auf die noch stets nicht ausgestandene Debatte um die ‚Politische Theologie‘ zurück, wie Carl Schmitt sie konzipiert hatte. Er bestritt bekanntlich die Möglichkeit und wohl auch politische Sinnhaftigkeit einer säkularen Grundlegung des Staates; vgl. Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (1932), 10. Aufl., Berlin: Duncker & Humblot 2015. Die Gegenauffassung – dass nämlich eine vernunftautonome Begründung von Moral- und Rechtsordnungen theoretisch möglich und theologisch zu rekonstruieren ist – findet sich etwa bei Thomas Pröpper, Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg i. Br.: Herder 2011 sowie bei Krings 1980; vgl. ferner Georg Essen, Sinnstiftende Unruhe im System des Rechts. Religion im Beziehungsgeflecht von modernem Verfassungsstaat und säkularer Zivilgesellschaft, Göttingen: Wallstein 2004.  Eine Demokratie, die Gesetze verabschiede, die gegen das Sittengesetz verstoßen, beschreite „den Weg eines substantiellen Totalitarismus“; der Staat, in dem dies geschehe, verwandle sich in einen „tyrannischen Staat“ (EV 20). Der erstmalige, später dann gelegentlich wiederholte Gebrauch der Rede von der ‚Diktatur des Relativismus‘ findet sich bei Joseph Ratzinger, Papstmesse Missa Pro Eligendo Romano Pontifice am 18. April 2005 [http://www.vatican.va/gpII/documents/ homily-pro-eligendo-pontifice_20050418_ge.html] (Zugriff: 05.08. 2018).

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Ordnung begründen kann.³¹ Wenn aber bereits diese Dilemmata als ‚Diktatur‘ oder ‚Totalitarismus‘ bezeichnet werden, welche Worte stehen dann eigentlich noch zur Verfügung, um autoritäre Regime zu verurteilen? In Europa, aber auch weltweit sind demokratische Freiheitsordnungen inzwischen zu gefährdeten Ordnungen geworden. Im Gegenzug sind autoritäre Demokratien auf dem Vormarsch, in denen Freiheitsrechte eingeschränkt werden. Die Rede von der ‚illiberalen Demokratie‘ ist inzwischen zu einer Selbstbeschreibung autokratischer Regime geworden, die vor allem in Osteuropa verwendet wird. Sie steht für einen Missbrauch politischer Freiheiten und verkehrt die Demokratie in ihr Gegenteil. Dies geschieht dadurch, dass der Demokratie das Herz herausgerissen werden soll: Liberalität. Spätestens seitdem der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán das Ende des Zeitalters der liberalen Demokratie ausgerufen und stattdessen die Schaffung einer ‚christlichen Demokratie‘ eingefordert hat,³² ist vollends deutlich, dass der Konflikt um den politischen Liberalismus unausweichlich zu einem politisch-theologischen Thema auch für die römisch-katholische Kirche geworden ist, dem sie nicht ausweichen sollte. Ihr noch stets ungeklärtes Verhältnis zum liberal-demokratischen Verfassungsstaat eröffnet deshalb für den Bestand offener Gesellschaften keine Zukunftsperspektiven, weil sie keine konstruktive Antwort zu geben weiß auf hochkomplexe demokratietheoretische Grundlagen unserer Gegenwart und deren Krisenerscheinungen. Auch sollte nicht übersehen werden, dass das Lehramt Katholikinnen und Katholiken, die die Demokratie als Idee der freien Selbstbestimmung wertschätzen und zu ihrer Sicherung beitragen wollen, in einen Spagat hineinzwingt. Die lehramtliche Verwerfung demokratischer Liberalität konfrontiert vielmehr die römisch-katholische Kirche mit dem Dilemma, dass ihre noch stets vormoderne Staatslehre die Glaubwürdigkeit ihrer politischen Praxis, mit der sie sich für Freiheitsrechte weltweit einsetzen will, untergräbt.

 Zur laufenden Debatte vgl. Die Zukunft der Demokratie. Kritik und Plädoyer, hg. von Friedrich Wilhelm Graf und Heinrich Meier, München: C.H. Beck 2018; Christoph Möllers, Demokratie – Zumutungen und Versprechen, 2. Aufl., Berlin: Klaus Wagenbach 2012.  Vgl. den Bericht der Deutschen Welle, „Orbán sieht ‚Ende der liberalen Demokratie‘“ vom 10.05. 2018 [https://www.dw.com/de/orban-sieht-ende-der-liberalen-demokratie/a-43732805] (Zugriff: 01.09. 2018).

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Literatur Benedikt XVI. (2011): „Ansprache seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. im Deutschen Bundestag“ in Apostolische Reise seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. nach Berlin, Erfurt und Freiburg 22. – 25. September 2011. Predigten, Ansprachen und Grußworte (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, 189), hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz Bonn: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 30 – 38. Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1986/1991): „Die verfassunggebende Gewalt des Volkes – Ein Grenzbegriff des Verfassungsrechts“ (1986), in: Ders., Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 90 – 112. Dreier, Horst (2018): Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne, München: C.H. Beck. Essen, Georg (2004): Sinnstiftende Unruhe im System des Rechts. Religion im Beziehungsgeflecht von modernem Verfassungsstaat und säkularer Zivilgesellschaft (Essener Kulturwissenschaftliche Vorträge, Bd. 14), Göttingen: Wallstein. Grimm, Dieter (1991): „Entstehungs- und Wirkungsbedingungen des modernen Konstitutionalismus“, in: Ders., Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 31 – 66. Große Kracht, Hermann-Josef (1997): Kirche in ziviler Gesellschaft. Studien zur Konfliktgeschichte von katholischer Kirche und demokratischer Öffentlichkeit, Paderborn: Schöningh. Große Kracht, Hermann-Josef (2013): „Deutliche Kontinuitäten und eine klare Neubestimmung. Eine Sichtung lehramtlicher Dokumente zur modernen Demokratie“, Theologische Quartalschrift, Bd. 193, 64 – 80. Johannes XXIII. (1963): Enzyklika Pacem in terris, 11. 04. 1963 [http://w2.vatican.va/content/ john-xxiii/de/encyclicals/documents/hf_j-xxiii_enc_11041963_pacem.html]. Johannes Paul II. (1995): Evangelium vitae. Enzyklika über den Wert und die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens, 25. 03. 1995 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, 120), Bonn: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Johannes Paul II. (1991): Centesimus annus. Enzyklika zum hundertsten Jahrestag von Rerum Novarum, 01. 05. 1991 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, 101), Bonn: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Kalmo, Hent/Skinner, Quentin (2013): Sovereignty in Fragments. The Past, Present and Future of a Contested Concept, Cambridge: University Press. Katechismus der katholischen Kirche [http://www.vatican.va/archive/DEU0035] (Zugriff: 05. 08. 2018). Kirche und Staat. Geschichte und Gegenwart eines spannungsreichen Verhältnisses (Theologie im Kontakt, NF 2), hg. von Josef Rist, Münster i. W.: Aschendorff 2015. Kongregation für die Glaubenslehre (2002): Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben, 24. 11. 2002 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, 158), Bonn: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Das Kreuz der Kirche mit der Demokratie. Das Verhältnis von katholischer Kirche und Rechtsstaat, hg. von Adrian Loretan-Saladin und Toni Bernet-Strahm, Zürich: TVZ: 2006. Krings, Hermann (1980): „Staat und Freiheit“, in: Ders., System und Freiheit. Gesammelte Aufsätze (Reihe Praktische Philosophie, Bd. 12), Freiburg i. Br.: Alber, 185 – 208.

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Religion im Grundgesetz – Integrationsfaktor oder Konfliktherd? Wenn man über die Rolle der Religion in der Verfassung spricht, dann kann es nicht allein um das individuelle Grundrecht der Religionsfreiheit gehen. Vielmehr will immer auch die institutionelle Seite einbezogen sein, die man in Deutschland herkömmlich als Staatskirchenrecht bezeichnet. Heutzutage wählt man eher den Terminus Religionsverfassungsrecht, um einer Engführung auf christlich-kirchliche Gestaltungsformen religiöser Vergemeinschaftung oder gar möglichen Missverständnissen entgegenzuwirken und die grundrechtliche Verankerung zu betonen.¹ Diese „Doppelspurigkeit“² der verfassungsrechtlichen Koordinaten steht am Anfang dieser Abhandlung (1.), gefolgt von einer knappen Darstellung der Veränderungsprozesse, die sich im Verständnis dieses Normenprogramms in der rechtswissenschaftlichen Literatur und vor allem der bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur der letzten siebzig Jahre beobachten lassen (2.). Auf dieser Grundlage gelangen wir in das Zentrum der Fragestellung (3.): Erweist sich die im Grundgesetz so umfassend und intensiv geschützte Freiheit der Religion und ihrer institutionellen Verwirklichungschancen als Integrationsfaktor oder als Konfliktherd? Hier sind massive Wandlungsprozesse bei den

 Programmatisch insoweit schon der Titel der Habilitationsschrift von Christian Walter, Religionsverfassungsrecht in vergleichender und internationaler Perspektive, Tübingen: Mohr Siebeck 2006 sowie des Lehrbuches von Peter Unruh, Religionsverfassungsrecht, 4. Aufl., Baden-Baden: Nomos 2018 (mit Begründung der Titelwahl in § 1 Rn. 1 ff.). Breite Erörterung der terminologischen Streitfragen bei Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht? Ein begriffspolitischer Grundsatzstreit, hg. von Hans Michael Heinig und Christian Walter, Tübingen: Mohr Siebeck 2007. Für Beibehaltung der Terminologie ‚Staatskirchenrecht‘ etwa Stefan Mückl, „Grundlagen des Staatskirchenrechts“, in Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 3. Aufl., hg. von Josef Isensee und Paul Kirchhof, Heidelberg: C.F. Müller 2009, § 159 Rn. 1 ff. Knappe Darstellung bei Christian Waldhoff, Art. „Religionsrecht/Religionsverfassungsrecht“, in 100 Begriffe aus dem Staatskirchenrecht, hg. von Hans Michael Heinig und Hendrik Munsonius, Tübingen: Mohr Siebeck 2012, 203 – 206. Die möglichen Missverständnisse betreffen den Umstand, dass es sich beim Staatskirchenrecht weder um das Recht einer Staatskirche noch um kirchliches Recht handelt, es vielmehr säkulares staatliches Recht darstellt.  Stefan Korioth, „Deutsches Staatskirchenrecht im langen Schatten des deutschen Bikonfessionalismus“, Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, Bd. 63, 2018, 14– 29, 26. Ähnlich Christian Hillgruber, „Hat das deutsche Staatskirchenrecht Bestand?“, Kirche und Recht, Bd. 24, 2018, 1– 20, 3: „zwei Pfeiler“. https://doi.org/10.1515/9783110623406-016

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realen gesellschaftlichen Verhältnissen, also der „Religionsempirie“³, zu beobachten. Daher stellt sich am Schluss die Frage, was das für die zukünftige Ausrichtung der religionsverfassungsrechtlichen Programmatik bedeutet (4.).

1 Verfassungsrechtliche Koordinaten 1.1 Individuelle Seite: Das Grundrecht der Religionsfreiheit Bei unbefangener Lektüre des einschlägigen Art. 4 GG stellt man zunächst möglicherweise erstaunt fest, dass dort von ‚Religionsfreiheit‘ – im Unterschied zu Art. 136 Abs. 1 WRV – gar nichts steht. Vielmehr lautet der erste Absatz: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“⁴ In der Grundrechtsvorlesung ist das jedes Mal der Beginn einer interessanten Debatte darüber, wie viele Grundrechte hier nun eigentlich garantiert werden. Und die Verwirrung steigert sich, wenn es in Art. 4 Abs. 2 GG heißt: „Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“ Denn merkwürdigerweise wird das weltanschauliche Bekenntnis nun gar nicht mehr erwähnt, von dem Art. 4 Abs. 1 GG ausdrücklich spricht, und die Gewissensfreiheit auch nicht. Reduziert sich hier der Schutz etwa auf das bloße Bekennen?⁵ Das Bundesverfassungsgericht hat uns schon sehr früh all dieser Fragen in gewisser Weise enthoben, indem es Art. 4 Abs. 1 und 2 GG als ein einheitliches Grundrecht deutet: es umfasse sowohl die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, als auch die äußere Freiheit, den Glauben zu mani-

 Hans Michael Heinig, „Staat und Religion in Deutschland. Historische und aktuelle Dynamiken im Religionsrecht“, Aus Politik und Zeitgeschichte, Jg. 68, 2018, Heft 28 – 29, 16 – 21, 17.  Im Parlamentarischen Rat hat man um die beste Formulierung lange und intensiv gerungen; dabei ist weder die Redundanz zwischen der Glaubensfreiheit und der Freiheit des religiösen Bekenntnisses unbemerkt geblieben noch hat man es unerörtert gelassen, ob die religiöse Vereinigungsfreiheit ausdrücklich Erwähnung finden sollte. Besonders instruktiv gestaltete sich die Debatte im Grundsatzausschuss (24. Sitzung vom 23.11.1948), abgedruckt in Der Parlamentarische Rat 1948 – 49. Akten und Protokolle, Bd. V/2: Ausschuß für Grundsatzfragen, hg. vom Deutschen Bundestag und vom Bundesarchiv, bearb. von Eberhard Pikart und Wolfram Werner, Boppard/ Rh.: Boldt 1993, 621 ff.  Natürlich sind die Fragen negativ zu beantworten. Dazu sogleich im Folgenden und aus der Standardliteratur Thorsten Kingreen/Ralf Poscher, Grundrechte – Staatsrecht II, 34. Aufl., Heidelberg: C.F. Müller 2018, § 12 Rn. 604 ff.; Lothar Michael/Martin Morlok, Grundrechte, 6. Aufl., Baden-Baden: Nomos 2017, Rn. 183 ff.; Friedhelm Hufen, Staatsrecht II – Grundrechte, 7. Aufl., München: C.H. Beck 2018, § 22 Rn. 4 f. u. 10.

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festieren, zu bekennen und zu verbreiten.⁶ Und was für die ungestörte Religionsausübung gilt, kommt natürlich auch den Weltanschauungsgemeinschaften zugute.⁷ Darüber hinaus wird aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sogleich auch noch die religiöse Vereinigungsfreiheit abgeleitet, also die Freiheit, sich aus gemeinsamem Glauben zu einer Religionsgesellschaft zusammenzuschließen.⁸ Diese einheitliche Sichtweise erscheint uns heute absolut plausibel. Freilich gerät dabei etwas aus dem Blick, dass sich in den Garantien des Glaubens und Sich-Bekennens, der ungestörten Religionsausübung und der religiösen Vereinigungsfreiheit jeweils zentrale historische Entwicklungsschritte hin zur umfassenden Gewährleistung der Religionsfreiheit widerspiegeln: sozusagen als Erinnerung daran, dass frühere Verfassungsepochen durchaus abgestufte Formen der Religionsfreiheit kannten.⁹ Speziell zur ungestörten Religionsausübung hat man zutreffend ausgeführt: Dieses Grundrecht verweist religionsgeschichtlich auf das exercitium religionis publicum, die Kultusfreiheit des Religionsrechts des Deutschen Reichs. Nur den drei durch den Westfälischen Frieden reichsrechtlich anerkannten Religionsparteien konnte vom Landesherrn dieses Recht der öffentlichen Religionsausübung zugestanden werden. In der Regel war in den einzelnen Territorien nur die Hauptreligion des Landes öffentlich anerkannt. […] Durch Art. 135 Abs. 2 WeimRV wurde die Kultusfreiheit […] erstmals unterschiedslos allen Religionsund Weltanschauungsgemeinschaften gewährleistet. Spätestens seit dem Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung geht damit […] die Freiheit der Religionsausübung inhaltlich in der Bekenntnisfreiheit auf. Die ungestörte öffentliche Religionsausübung, die Kultusfreiheit,

 Vgl. nur BVerfGE 24, 236 (244 ff.); 83, 341 (354 f.).  Von daher müsste man eigentlich immer von ‚Religions- und Weltanschauungsfreiheit‘ sprechen, was aber ebenso unpraktisch wie ungebräuchlich ist. Auch der Vorschlag, als Oberbegriff für beide die ‚Glaubensfreiheit‘ zu verwenden (so Hans D. Jarass, „Art. 4“, Rn. 2 ff., in Grundgesetzkommentar, hg. von Hans D. Jarass und Bodo Pieroth, 15. Aufl., München: C.H. Beck 2018), ist nicht ohne sachliche Berechtigung. Doch hat diese Idee bislang wenig Anklang gefunden. Ohnehin würden viele Menschen vermutlich ‚Glauben‘ sogleich mit Religion und weniger mit Weltanschauung verbinden.  Zusammenfassend BVerfGE 123, 148 (177). Die Lehre sieht dies teils sehr viel differenzierter; vgl. nur Martin Heckel, „Religionsfreiheit. Eine sä kulare Verfassungsgarantie“, in: Ders., Gesammelte Schriften. Staat, Kirche, Recht, Geschichte, Bd. IV, hg. von Klaus Schlaich, Tübingen: Mohr Siebeck 1997, 647– 859, 698.  Axel Freiherr von Campenhausen, „Die Kirchen unter dem Grundgesetz 1949 – 1989“, in Christen und Grundgesetz, hg. von Rudolf Morsey und Konrad Repgen, Paderborn: Schöningh 1989, 71– 93, 78; ders., „Religionsfreiheit“, in Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 3. Aufl., hg. von Josef Isensee und Paul Kirchhof, Heidelberg: C.F. Müller 2009, § 157 Rn. 51: „In der etwas umständlichen Aufzählung der von der Religionsfreiheit umfaßten Rechte in Art. 4 GG hat sich die Erinnerung an die früheren Verfassungszustände erhalten, die ein gestuftes und nicht allen gleichermaßen zustehendes exercitium religionis kannten.“

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ist somit heute nur noch ein Bestandteil der dem einzelnen ebenso wie jeder religiösen oder weltanschaulichen Gemeinschaft zustehenden Bekenntnisfreiheit.¹⁰

Darauf wird noch einmal kurz zurückzukommen sein. Wenn wir nun eine explizite Garantie der religiösen Vereinigungsfreiheit suchen, werden wir weiter hinten im Grundgesetz fündig: bei Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung.

1.2 Institutionelle Seite: Staatskirchenrecht als ‚doppelter Kompromiss‘ Etwas überraschend finden sich im letzten Abschnitt des Grundgesetzes, den „Übergangs- und Schlußbestimmungen“, in Gestalt von Art. 140 GG weitere einschlägige staatskirchenrechtliche Regelungen, die sachlich eng mit der Religionsfreiheit zusammenhängen. Diese „Verzettelung“¹¹ erleichtert nicht gerade die Orientierung¹² und verdunkelt zudem den Umstand, dass „die räumlich in Artikel 140 so weit abgeschlagenen Kirchenartikel in die Nähe der Grundrechte“¹³ gehören. Freilich liegt mit Art. 140 GG ein wirklich ungewöhnlicher Artikel vor, der seinesgleichen sucht: eine Bestimmung, die Normen einer anderen, nämlich der Weimarer Verfassung, wortgetreu übernimmt und sie in den Textkorpus des Grundgesetzes einfügt. Deswegen spricht man auch von einer Inkorporationsnorm bzw. der Inkorporation staatskirchenrechtlicher Artikel der Weimarer Reichsverfas-

 Joseph Listl, „Glaubens-, Gewissens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit“, in Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 1. Aufl., hg. von Ernst Friesenhahn und Ulrich Scheuner, Berlin: Duncker & Humblot 1974, 363 – 406, 384.  von Campenhausen 1989, 71.  Der Grund dafür liegt im eigentümlichen Gang der Beratungen im Parlamentarischen Rat; vgl. dazu Alexander Hollerbach, „Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Staatskirchenrechts“, in Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 1. Aufl., 214– 265, 218 ff.; Peter Badura, „Das Staatskirchenrecht als Gegenstand des Verfassungsrechts. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Staatskirchenrechts“, in Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl., hg. von Josef Listl und Dietrich Pierson, Berlin: Duncker & Humblot 1994, 211– 251, 236 ff. Kompakte Übersicht: Jahrbuch des öffentlichen Rechts, Bd. 1, 1951, 73 ff. u. 899 ff.  Axel Freiherr von Campenhausen, „Der heutige Verfassungsstaat und die Religion“, in Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl., 47– 84, 53, der fortfährt: „Dieser Zusammenhang ist bei der Redaktion des Grundgesetzes verloren gegangen. […] Der Sache nach gehört Art. 140 in den Grundrechtsteil. Dementsprechend ist das Grundgesetz heute so zu lesen, als stünde Art. 140 zwischen Art. 4 und 5 GG.“

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sung.¹⁴ Ein wichtiges Stück jener Verfassung lebt sozusagen im Grundgesetz weiter – als vollgültiges Verfassungsrecht, nicht etwa als solches minderen Ranges.¹⁵ Inhaltlich bezeichnet man die Regelungen als einen „doppelten Kompromiß“¹⁶. Doppelt deswegen, weil die hier in Rede stehenden Bestimmungen schon in der Weimarer Nationalversammlung das Resultat eines zähen Ringens zwischen weit auseinanderliegenden Positionen gewesen waren und der Parlamentarische Rat das Ergebnis nach einigem Hin und Her am Ende schlicht übernahm.¹⁷ Um einen Kompromiss handelt es sich, weil 1919 weder die sozialistische Linke ihre radikalen Vorstellungen einer Trennung von Staat und Kirche nach französischem Muster verwirklichen konnte noch sich die Vertreter des Zentrums und anderer, dem kirchlichen Standpunkt zuneigenden Parteien durchzusetzen vermochten, die möglichst viel vom tradierten Besitzstand retten wollten. Es entstand etwas Hybrides und zugleich sehr Demokratisches: Ein Kompromiss, der mit einer sprachlich vielleicht nicht besonders schönen, aber sehr verbreiteten Wendung als „hinkende Trennung“ bezeichnet wird.¹⁸ Traditionswahrung und Innovation hielten sich ungefähr die Waage. So verkündete einerseits Art. 137 Abs. 1 WRV kategorisch: „Es besteht keine Staatskirche.“ Damit war das landesherrliche Kirchenregiment beseitigt.¹⁹ Andererseits behaupteten die Großkirchen gemäß Art. 137 Abs. 5 Satz 1 WRV ihren Status als Körperschaften des öffentlichen

 Zu diesem Vorgang und den Hintergründen vgl. Alexander Hollerbach, „Grundlagen des Staatskirchenrechts“, in Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, hg. von Josef Isensee und Paul Kirchhof, Heidelberg: C.F. Müller 1989, § 138 Rn. 22 ff.; Martin Morlok, „Art. 140 GG“, Rn. 28, in Grundgesetz-Kommentar, Bd. III, 3. Aufl., hg. von Horst Dreier, Tübingen: Mohr Siebeck 2018; Christian Waldhoff, „Die Kirchen und das Grundgesetz nach 60 Jahren“, in 60 Jahre Bonner Grundgesetz – eine geglückte Verfassung?, hg. von Christian Hillgruber und Christian Waldhoff, Göttingen: V&R unipress 2010, 151– 172, 164 ff.  Wiederholt klargestellt: BVerfGE 19, 206 (219); 53, 366 (400); 70, 138 (167); 137, 273 (303). Die Literatur sieht das genauso; vgl. nur Karl-Hermann Kästner, „Art. 140“ (Drittbearb. 2010), Rn. 145, in Bonner Kommentar zum Grundgesetz, hg. von Wolfgang Kahl, Christian Waldhoff und Christian Walter, Heidelberg: C.F. Müller 2010; Michael Morlok 2017, Rn. 188, beide m.w.N.  Die Wendung geht zurück auf Alexander Hollerbach, „Die Kirchen unter dem Grundgesetz“, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Bd. 26, 1968, 57– 106, 57 u. 59; wiederaufgegriffen in: Ders. 1974, 228. Ausführlich dazu Walter 2006, 120 ff.  Christoph Link, Staat und Kirche in der neueren deutschen Geschichte. Fünf Abhandlungen, Frankfurt a. M.: Lang 2000, 161 spricht von einer „Verlegenheitslösung“: Man war verlegen um eine bessere Lösung.  Terminus: Ulrich Stutz, Die päpstliche Diplomatie unter Leo XIII. nach den Denkwürdigkeiten des Kardinals Domenico Ferrata, Berlin:Verlag der Akademie der Wissenschaften 1926, 54, Anm. 2.  Statt vieler Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, 14. Aufl., Berlin: Stillke 1933, Art. 137, Anm. 1 (630 ff.).

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Rechts.²⁰ Doch war dieser Körperschaftsstatus nun nicht länger ihr exklusives Privileg, sondern stand anderen Religionsgemeinschaften (Art. 137 Abs. 5 Satz 2) und – das war gleichfalls neu – explizit auch den Weltanschauungsgemeinschaften offen (Art. 137 Abs. 7 WRV), die sich bekanntlich durch eine dezidiert areligiöse, irreligiöse oder auch antireligiöse Programmatik auszeichnen können. Mit Händen greifen ließ sich der Kompromisscharakter beim Religionsunterricht, der für die Kirchen von hoher Bedeutung war. Er wurde (wie im Grundgesetz auch) als ordentliches Schulfach beibehalten (Art. 149 Abs. 1 WRV), doch nun als „Pflichtfach mit verfassungsverbürgter Befreiungsmöglichkeit“²¹ ausgestaltet – der Religionsunterricht war „Pflichtfach für die Schule […], aber nicht für die einzelnen Lehrer und Schüler“²². Neu war auch, dass Eidesleistungen fortan ohne den Zusatz „so wahr mir Gott helfe“ erbracht werden konnten (Art. 136 Abs. 4, 177 WRV). Zu den traditionellen Elementen zählte wiederum die Beibehaltung des kirchlichen Besteuerungsrechts (Art. 137 Abs. 6 WRV) sowie die Garantie der Staatsleistungen und des Religionsgutes (Art. 138, 173 WRV). Angesichts dieser ausgewogenen Balance könnte man geradezu von einer „Religionsverfassung der Mitte“²³ sprechen.

 Zur zentralen Bedeutung dieser beiden Absätze vgl. nur Link 2000, 173: Sie stehen „in unauflösbarer Wechselbeziehung“; zwischen diesen „beiden Polen spannt sich das Gefüge des deutschen Staatskirchenrechts“.  Link 2000, 113, Anm. 69.  Anschütz 1933, Art. 149; vgl. Anm. 1 (689); nochmals ebd., Anm. 2 (690): „Nach Abs. 2 ist der Religionsunterricht weder für Lehrer noch für Schüler obligatorisch.“ Link 2000, 113: „Damit hatte sich namentlich der Streit um die Teilnahme von Dissidentenkindern erledigt – was wiederum zur Begradigung einer kulturpolitischen Frontlinie führte.“ Zur harten, aber gesetzlich gestützten preußischen Verwaltungspraxis gegenüber den Dissidentenkindern vor 1918 vgl. Gerhard Anschütz, Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis. Erster [und einziger] Band, Berlin: O. Häring 1912, 233 ff.  In Anspielung auf Andreas Voßkuhle, Die Verfassung der Mitte, München: Carl Friedrich von Siemens Stiftung 2016, der in der Tat (und naheliegenderweise) die „offene Neutralität“ des Staates in Religionsfragen in seine Bestandsaufnahme einreiht (ebd., 33 ff.); vgl. auch Dirk Ehlers, „Der Bedeutungswandel im Staatskirchenrecht“, in Verfassungsrecht und soziale Wirklichkeit in Wechselwirkung, hg. von Bodo Pieroth, Berlin: Duncker & Humblot 2000, 85 – 112, 111: „Konzeption der Mitte“.

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1.3 Zeitgeschichtlicher Kontext: Kirchen nach dem 2. Weltkrieg So unbestritten es nun „frappierende Parallelen“²⁴ zwischen den Debatten von 1919 und denen von 1949 gibt, so unterschiedlich war doch der jeweilige historische Kontext. „Weder Staat noch Kirchen waren dieselben.“²⁵ 1919 stand tatsächlich schon wegen der einschlägigen Programmatik der sozialistischen Parteien eine strikte Trennung nach laizistischem Muster im Raum. Die Kirchen befanden sich eher in einer Defensivposition, aus der heraus sie im Verein mit anderen Parteien um den schließlich erlangten Kompromiss hart und lange ringen mussten. Ganz anders 1948/49.²⁶ Aus Kirchenkampf und dem Untergang des NS-Regimes gingen die Kirchen „erheblich gestärkt und selbstbewußt“²⁷ hervor. Sie galten „als praktisch einzige intakte, politisch-moralisch nicht diskreditierte Großorganisationen“²⁸ und zählten für manche zu den „Siegern von 1945“²⁹. „Die Kirchen firmierten nicht als diskreditierte Stützen des gerade überwundenen Regimes, sondern als seine prominentesten Gegner.“³⁰ Daher wuchs ihnen eine zentrale Position beim Wiederaufbau des Landes zu, die sich auch in einem be-

 Morlok 2018, Rn. 12. Fabian Wittreck, „Bonn ist doch Weimar. Die Religionsfreiheit im Grundgesetz als Resultat von Konflikt und Kontroverse“, in Religionskonflikte im Verfassungsstaat, hg. von Astrid Reuter und Hans G. Kippenberg, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 66 – 92, 80 spricht davon, dass der „Bonner Verfassunggebungsprozess in Sachen Religionsfreiheit nach der Zuordnung von strittigen bzw. unstrittigen Themen, Ablauf und Ergebnis dem Weimarer wie ein Ei dem anderen gleicht“.  von Campenhausen 1989, 72.  Zu diesem Kontrast vor allem Hans Maier, „Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland. Die politischen und gesellschaftlichen Grundlagen“, in Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl., 85 – 110, 86 ff. sowie Wittreck 2010, 70 f. u. 79 f.  Hartmut Maurer, „Religionsfreiheit in der multikulturellen Gesellschaft“, in Der Wandel des Staates vor den Herausforderungen der Gegenwart. Festschrift für Winfried Brohm zum 70. Geburtstag, hg. von Carl-Eugen Eberle u. a., München: C.H. Beck 2002, 455 – 474, 463.  Waldhoff 2010a, 152 m.w.N.; ferner ders., „Die Zukunft des Staatskirchenrechts“, in Die Verfassungsordnung für Religion und Kirche in Anfechtung und Bewährung, hg. von Burkhard Kämper und Hans-Werner Thönnes, Münster: Aschendorff 2008, 55 – 106, 63; vgl. auch Heinrich de Wall/ Stefan Muckel, Kirchenrecht. Ein Studienbuch, 5. Aufl., München: C.H. Beck 2017, § 7 Rn. 10 f.  Wendung bei Rudolf Smend, „Staat und Kirche nach dem Bonner Grundgesetz“, Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, Bd. 1, 1951, 4– 14, 10, der diese Einschätzung freilich nicht teilt.  Wittreck 2010, 79. Maier 1994 spricht von einer „Art von politisch-moralischer Stellvertretung“ (86) und einer öffentlichen „Sprecher- und Vorsteherrolle in einem neuen Selbstbewußtsein“ (87). Nota bene: das war die seinerzeit verbreitete Sichtweise, nicht die historische Wahrheit.

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trächtlichen Selbstbewusstsein spiegelte.³¹ Gewichtige Einflussnahme auf einige vorgrundgesetzliche Landesverfassungen sowie auf die Beratungen des Parlamentarischen Rates waren die Folge.³²

2 Konstanz und Wandel in 70 Jahren Grundgesetz Soviel also zum Normenbestand, wie er dem Grundgesetz – übrigens seit 1949 normtextlich völlig unverändert – zugrunde liegt. Was hat sich nun in den vergangenen siebzig Jahren getan, wie haben Wissenschaft und Praxis, Literatur und Judikatur die einschlägigen Bestimmungen ausgelegt? Sind Veränderungen zu verzeichnen? Die Antwort lautet kurz und knapp: Es herrscht bemerkenswerte Konstanz beim Verständnis der Individualgarantie der Religionsfreiheit (2.1), während sich auf dem Felde des Staatskirchenrechts nicht unbedeutende Wandlungsprozesse beobachten lassen (2.2).

2.1 Konstanz: Weites Verständnis der Religionsfreiheit Das Bundesverfassungsgericht hatte sich relativ früh auf ein sehr weites Verständnis der Religionsfreiheit festgelegt. ‚Weit‘ soll heißen: Umfasst sind nicht nur die im engeren Sinne religiös gebotenen Handlungen, nicht lediglich Kultus und Dogma.³³ Der Schutzbereich erstreckt sich vielmehr auch auf andere Lebensbereiche, wenn und soweit hier ein (noch so lockerer) Bezug zu den Überzeugungen des Grundrechtsträgers besteht. Locus classicus ist die sog. Lumpen-

 Das klingt deutlich an bei Arnold Köttgen, „Kirche im Spiegel deutscher Staatsverfassung der Nachkriegszeit“, Deutsches Verwaltungsblatt, Bd. 67, 1952, 485 – 488, 485 f.: „Erschütterung deutschen Staatsbewußtseins vielleicht nirgends so fühlbar wie hier [scil.: im Bereich des Staatskirchenrechts], wo sich daher die Repräsentanten des Staates gegenüber der auf kirchlicher Seite spürbaren Selbstgewissenheit [sic!] in die Defensive gedrängt sahen.“ Vgl. auch von Campenhausen 1989, 72 ff.; Jörn Ipsen, Der Staat der Mitte. Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, München: C.H. Beck 2009, 193 ff.; insb. zur katholischen Seite Waldhoff 2010a, 153 ff. u. 161 ff.  Vgl. Paul Mikat, „Verfassungsziele der Kirchen unter besonderer Berücksichtigung des Grundgesetzes“, in Christen und Grundgesetz, 33 – 69, 33 ff.; ferner Waldhoff 2010a, 158 ff. u 164 ff.  Liebevolle Aufzählung in BVerfGE 24, 236 (246): „Zur Religionsausübung gehören danach nicht nur kultische Handlungen und Ausübung sowie Beachtung religiöser Gebräuche wie Gottesdienst, Sammlung kirchlicher Kollekten, Gebete, Empfang der Sakramente, Prozession, Zeigen von Kirchenfahnen, Glockengeläute, sondern auch religiöse Erziehung, freireligiöse und atheistische Feiern sowie andere Äußerungen des religiösen und weltanschaulichen Lebens.“

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sammler-Entscheidung aus dem Jahr 1968.³⁴ Hier ging es um eine katholische Jugendorganisation, die für karikative Zwecke Geld sammelte und zur Spende von Altkleidern aufrief, wogegen sich gewerbliche Altkleiderhändler erfolglos zur Wehr setzten. Denn die Sammlung fiel unter den Schutz der Religionsfreiheit. Ganz ähnlich hieß es Jahrzehnte später in der Entscheidung zur Schächtgenehmigung für einen muslimischen Metzger, „auch wenn das Schächten selbst nicht als Akt der Religionsausübung verstanden“ werde, komme dem Metzger zusätzlicher Grundrechtsschutz aus Art. 4 GG zu.³⁵ Das Grundrecht auf Religionsfreiheit wurde also gewissermaßen zu einem Grundrecht auf umfassende religiöse Handlungsfreiheit erweitert.³⁶ Das ist vor allem deswegen von Belang, weil dieses Grundrecht – wie manche andere auch – nicht unter einem expliziten Gesetzesvorbehalt steht, es sich um ein sog. vorbehaltloses Grundrecht handelt.³⁷ Nun heißt vorbehaltlos nicht grenzenlos. Aber die Schranken, die dem vorbehaltlosen Grundrecht gesetzt werden, müssen von besonders hohem Gewicht sein. Für diese ausdehnende Interpretation gab bzw. gibt es Kennern der Materie zufolge „historisch und wohl auch rechtsvergleichend keine Vorbilder“³⁸. Beides, das einheitlich-extensive Verständnis von Religionsfreiheit wie auch die These vom vorbehaltlosen Grundrecht, sieht sich zwar von Seiten der Wis-

 BVerfGE 24, 236 (247). Eingehend dazu Klaus Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, Tübingen: Mohr Siebeck 1972, 203 ff. Knapp Michael Stolleis, „Kirchliches Sammlungswesen“, in Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 1. Aufl., hg. von Ernst Friesenhahn und Ulrich Scheuner, Berlin: Duncker & Humblot 1975, 437– 451, 442 f.; Hufen 2018, § 22 Rn. 12.  BVerfGE 104, 337 (346). Zu dieser Entscheidung eingehend Fabian Wittreck, „Religionsfreiheit als Rationalisierungsverbot“, Der Staat, Bd. 42, 2003, 519 – 555, insb. 550 ff.; knapp Katharina Pabel, „Gewährleistungsumfang der Religionsfreiheit“, in Verfassungsrechtsprechung, hg. von Jörg Menzel, Ralf Müller-Terpitz und Thomas Ackermann, 2. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck 2017, 688 – 691. Da der Beschwerdeführer nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besaß, kam das sachlich naheliegende Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 GG) nicht in Betracht.  Friedrich Schoch, „Die Grundrechtsdogmatik vor den Herausforderungen einer multikonfessionellen Gesellschaft“, in Verfassung – Philosophie – Kirche. Festschrift für Alexander Hollerbach zum 70. Geburtstag, hg. von Joachim Bohnert u. a., Berlin: Duncker & Humblot 2001, 150 – 167, 155. Ähnlich Hillgruber 2018, 5: Religionsfreiheit hat „den Charakter eines umfassenden religiösen Selbstbestimmungsrechts“ und schützt „jedes religiös motivierte Verhalten des Einzelnen“.  Vgl. zu dieser Kategorie Horst Dreier, „Vorbemerkungen vor Artikel 1 GG“, in GrundgesetzKommentar, Bd. 1, 3. Aufl., hg. von Horst Dreier, Tübingen: Mohr Siebeck 2013, Rn. 139 ff.  Christian Waldhoff, „Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität. Erfordern weltanschauliche und religiöse Entwicklungen Antworten des Staates?“, in Verhandlungen des 68. Deutschen Juristentages, Bd. I, München: C.H. Beck 2010, D 1-D 176 (D 29 f.).

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senschaft in den letzten anderthalb Jahrzehnten zunehmender Kritik ausgesetzt.³⁹ Doch gibt es nicht wenige Stimmen, die die Position des Verfassungsgerichts verteidigen.⁴⁰ Dieses lässt bislang wenig Neigung zu einer Änderung seiner Judikatur erkennen.⁴¹

2.2 Wandel: Staatskirchenrechtliche Entwicklungen Durchaus beachtliche Wandlungsprozesse sind hingegen beim institutionellen Staatskirchenrecht zu verzeichnen.

a) Wegfall des Kulturvorbehalts In seiner frühen Judikatur hatte das Bundesverfassungsgericht eine bemerkenswerte Engführung bei der Frage vorgenommen, welche Religionen eigentlich verfassungsrechtlich geschützt sind. Das Grundgesetz, so hieß es, schütze nicht jeden Glauben, sondern nur denjenigen, der „sich bei den heutigen Kulturvölkern auf dem Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet“⁴² habe. Diesen sog. Kulturvorbehalt formulierte das Gericht im Jahre 1961 und verwandte ihn noch im Jahre 1968.⁴³ Doch Mitte der 1970er Jahre wurde das diskret korrigiert. Nach

 Siehe etwa Karl-Hermann Kästner, Hypertrophie des Grundrechts auf Religionsfreiheit? Über das Verhältnis von Religions- und Weltanschauungsfreiheit zum Geltungsanspruch des allgemeinen Rechts, Tübingen: Mohr Siebeck 1999; Ehlers 2000, 109 ff.; Schoch 2001, 153 ff. u. 159 ff.; Stefan Mückl, „Art. 4 (Viertbearb. 2008)“, Rn. 53 ff., in Bonner Kommentar zum Grundgesetz; Hillgruber 2018, 12: „Kurskorrektur“; Markus Ogorek, „Religionsfreiheit – eine absolute Größe?“, Kirche und Recht, Bd. 23, 2017, 117– 127, 125 ff.Vorsichtig Maurer 2002, 456: Die Differenzierung in Art. 4 I, II GG sei „nicht belanglos, da sie die unterschiedliche Nähe zum Kern der Religionsfreiheit indiziert und deshalb bei der Abwägung im Konfliktsfall durchaus relevant werden kann“.  Vgl. Walter 2006, 496 ff.; Antje von Ungern-Sternberg, Religionsfreiheit in Europa, Tübingen: Mohr Siebeck 2008, 222 ff.; gegen Schrankenvorbehalt auch Hufen 2018, § 22 Rn. 27 f.; § 23 Rn. 9. Eher vermittelnd Michael/Morlok 2017, Rn. 192 ff.: Die Handlung muss nicht nur vom Glauben motiviert, sondern zwingend vorgegeben oder doch zumindest Ausdruck eines bestimmten religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses sein, um von Art. 4 GG erfasst zu werden. Ähnliche Einschränkungsversuche bei Kingreen/Poscher 2018, Rn. 611 ff.  Siehe etwa BVerfGE 137, 273 (309 ff.).  BVerfGE 12, 1 (4). Der der Entscheidung zugrundeliegende Sachverhalt war freilich etwas skurril.  BVerfGE 24, 236 (246): Schutz der Religionsfreiheit, „soweit sie sich im Rahmen gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen der heutigen Kulturvölker hält“. Auch Listl

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ausdrücklicher Zurückweisung des Kulturvorbehalts hieß es nun: „Der ethische Standard des Grundgesetzes ist vielmehr die Offenheit gegenüber dem Pluralismus weltanschaulich-religiöser Anschauungen […]. In dieser Offenheit bewährt der freiheitliche Staat des Grundgesetzes seine religiöse und weltanschauliche Neutralität.“⁴⁴ Das fand und findet die nahezu ungeteilte Zustimmung der Wissenschaft.⁴⁵

b) Überwindung der Koordinationslehre Überwunden wurde auch die sog. Koordinationslehre, die in der jungen Bundesrepublik zu erstaunlicher Blüte gelangt war⁴⁶ und auch in der Judikatur ihren Niederschlag fand.⁴⁷ Christian Waldhoff hat insofern von einer „situative[n] Übersteigerung des Überkommenen“⁴⁸ gesprochen. Die Koordinationslehre ging „von einer Gleichordnung zwischen Staat und Kirche als zweier je souveräner Gewalten mit abgegrenzten Zuständigkeitsbereichen“ aus⁴⁹ und setzte sie so in ein

1974, 384 legt diese einschränkende Klausel noch ganz selbstverständlich zugrunde; desgleichen Link 2000, 170 (in einem zuerst 1987 erschienenen Beitrag).  BVerfGE 41, 29 (50). „Diskret“ deshalb, weil die Wendung aus BVerfGE 12, 1 (4) zwar zitiert, die Entscheidung selbst aber nicht genannt wurde.  Vgl. nur Claus Dieter Classen, Religionsrecht, 2. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck 2015, Rn. 81, 119, 128; Unruh 2018, Rn. 98. Zu diesem Punkt vgl. noch unten 5.1.  Nach dem Urteil von Martin Heckel, „Staat und Kirchen in der Bundesrepublik. Staatskirchenrechtliche Aufsätze 1950 – 1967“ (1973), in: Ders., Gesammelte Schriften. Staat, Kirche, Recht, Geschichte, Bd. I, hg. von Klaus Schlaich, Tü bingen: Mohr Siebeck 1989, 501– 538, 506 ff., hat diese Theorie des Staatskirchenrechts im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik die Praxis so stark beeinflusst wie keine andere auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts; vgl. auch Hans Michael Heinig, Prekäre Ordnungen. Historische Prägungen des Religionsrechts in Deutschland, Tübingen: Mohr Siebeck 2018, 63, der die Lehre als „enorm einflußreich“ bezeichnet. Distanzierend spricht von Campenhausen 1989, 74 vom „koordinationsrechtlichen Überschwang“.  Siehe BGHZ 22, 383 (387); 34, 372 (373); 46, 96 (99).  Waldhoff 2010a, 165.  Zitat: Hendrik Munsonius, Öffentliche Religion im säkularen Staat, Tübingen: Mohr Siebeck 2016, 80. Etwas ausführlicher Heinig 2018, 61 ff. Staatskirchenrechtlich deutlich ausbuchstabiert bei Hans Peters, „Die Gegenwartslage des Staatskirchenrechts“, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Bd. 11, 1954, 177– 214; umsichtige, bereits rückblickende Schilderung bei Paul Mikat, „Die religionsrechtliche Ordnungsproblematik in der Bundesrepublik Deutschland“, in Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 1. Aufl., 107– 141, 109 ff.

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„dyarchisches Verhältnis“⁵⁰. Diese in gewisser Weise an den mittelalterlichen Dualismus von Kaisertum und Papsttum erinnernde Vorstellung betrachtete Kirchen und Staat irrigerweise als Institutionen gleichen rechtlichen Ranges und gleicher legitimatorischer Dignität. Sie verkannte den zwingenden Suprematieanspruch auch und gerade des freiheitlichen Verfassungsstaates, der die Existenz gleichsam exterritorialer Gebilde oder Institutionen nicht akzeptieren kann und darf.⁵¹ Die Koordinationslehre wurde denn auch in den 1960er Jahren ad acta gelegt.⁵² Programmatisch steht dafür das Thema der Staatsrechtslehrertagung von 1967: „Die Kirchen unter dem Grundgesetz“ (ohne Fragezeichen!) mit den beiden Referaten von Martin Heckel und Alexander Hollerbach.⁵³ Vorangegangen war ein wirkmächtiger Beitrag von Konrad Hesse mit dem nicht minder programmatischen Titel: „Freie Kirche im demokratischen Gemeinwesen“⁵⁴. Hier wurde klar, dass die Kirchen freiheitsberechtigte Akteure innerhalb der Verfassungsordnung, nicht neben oder gar über ihr sind.⁵⁵ In einem weltanschaulich-religiös neutralen

 Ulrich Scheuner, „Das System der Beziehungen von Staat und Kirchen im Grundgesetz. Zur Entwicklung des Staatskirchenrechts“, in Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 1. Aufl., 5 – 86, 37.  Unüberboten scharfe und im Kern treffende Analysen bei Helmut Quaritsch, „Kirchen und Staat. Verfassungs- und staatstheoretische Probleme der staatskirchenrechtlichen Lehre der Gegenwart“, Der Staat, Bd. 1, 1962, 175 – 197, 289 – 320. Deutlich auch Ehlers 2000, 94: „klare Mißachtung der Verfassung“. Nach einer Aufzählung der für die Koordinationslehre vorgetragenen Erwägungen (veränderte Verfassungswirklichkeit, Naturrecht, Staatskirchenverträge, derogierendes Verfassungsgewohnheitsrecht) schreibt er ebd., 94 f.: „Es bedarf keiner weiteren Begründung, daß alle diese Erwägungen entweder nicht zutrafen oder einen so weitgehenden Bedeutungswandel wie angenommen nicht zu rechtfertigen vermochten.“  Vgl. etwa Heckel 1973/1989, 507. Nun betonte man die Rolle der Verfassung als der entscheidenden Grundlage des Staatskirchenrechts. Resümierend von Campenhausen 1989, 74 f.; Ehlers 2000, 86 f.; Waldhoff 2010, 170 f.; Classen 2015, Rn. 107 f.; Heinig 2018a, 63 f.  Martin Heckel/Alexander Hollerbach, „Die Kirchen unter dem Grundgesetz. Führung und Organisation der Streitkräfte im demokratisch-parlamentarischen Staat“, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Bd. 26, 1968, 5 – 56, 57– 106. Alexander Hollerbach, Religion und Kirche im freiheitlichen Verfassungsstaat. Bemerkungen zur Situation des deutschen Staatskirchenrechts im europäischen Kontext, Berlin/New York: De Gruyter 1998, 5 spricht insofern mit vornehmer Zurückhaltung davon, dass hier „ein Mißverständnis […] zurückgewiesen“ und „gegenüber gewissen Einseitigkeiten die Dinge wieder ins Lot gebracht“ wurden. Bei Waldhoff 2010a, 170 ist von „teilweise verloren gegangenen juristischen Standards“ die Rede.  Konrad Hesse, „Freie Kirche im demokratischen Gemeinwesen“, Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, Bd. 11, 1964/65, 337– 362. Hollerbach 1998, 6 nennt diesen Beitrag einen „kritischen Impuls“.  Aus heutiger Sicht erscheinen „Überlegungen zu korporierten Religionsgemeinschaften als staatsanaloge oder auch nur dem Staat in besonderer Weise zugeordnete Institutionen als nostalgische Träumereien“, so Stefan Muckel, „Körperschaftsstatus im 21. Jahrhundert – Anachro-

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Staat, der sich auf das Prinzip der Volkssouveränität stützt, „kann auch der Mehrheitsreligion kein außerrechtlicher Sonderstatus eingeräumt werden“⁵⁶. Der Wandlungsprozess lässt sich daher wie folgt beschreiben: Von der Koordinationslehre zu den freien Kirchen unter dem Grundgesetz⁵⁷ – wobei sich vielleicht ‚Kirchen‘ noch ersetzen ließen durch: ‚Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften‘⁵⁸. Deren Gleichstellung ist von zentraler Bedeutung für den nächsten Punkt: die Öffnung des Körperschaftsstatus.

c) Öffnung des Körperschaftsstatus Die Beibehaltung ihres Status als Körperschaften des öffentlichen Rechts war den Kirchen 1919 besonders wichtig gewesen, zumal es Tendenzen gegeben hatte, sie ganz auf das allgemeine Vereinsrecht herabzudrücken und damit auf eine Stufe mit den immer wieder genannten Kaninchenzüchtervereinen zu stellen. Doch die neue Regelung beließ es nicht dabei, den Kirchen ihren tradierten Status zu erhalten, sondern eröffnete den Zugang für andere Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Der Körperschaftsstatus war somit normativ kein Privileg der christlichen Kirchen mehr: „Die WRV nivellierte insofern also nicht nach unten, sondern nach oben und erweiterte die Parität auf Korporationsbasis über den bisher begrenzten Kreis von Kirchen hinaus.“⁵⁹

nismus oder Zukunftsmodell?“, Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, Bd. 63, 2018, 30 – 56, 44 f.  Waldhoff 2010a, 170. Desgleichen Muckel 2018, 45: „Der Staat ist den Religionsgemeinschaften rechtlich über- oder vorgeordnet, die als Teil der Gesellschaft dem demokratisch zustandegekommenen Recht unterworfen sind wie alle anderen Verbände auch.“  So der Untertitel eines einschlägigen Beitrages: Hans Michael Heinig, „Die ‚Göttinger‘ Wissenschaft vom Staatskirchenrecht 1945 – 1969. Von der Koordinationslehre zu den freien Kirchen unter dem Grundgesetz“, in: Ders., Die Verfassung der Religion. Beiträge zum Religionsverfassung, Tübingen: Mohr Siebeck 2014, 425 – 455.  Als Ergebnis und längst „etablierte Lesart des Grundgesetzes“ hält Heinig 2018a, 64 fest, dass die Kirchen „wie alle Bürger und ihre Vereinigungen selbstredend der durch das Grundgesetz aufgerichteten demokratisch legitimierten öffentlichen Gewalt unterworfen, zugleich aber durch diese Verfassungsordnung in ihrer Freiheit (auch zum öffentlichen Wirken), ihrer Unabhängigkeit (im Sinne organisatorischer Trennung) und ihrer Gleichberechtigung geschützt“ sind.  Link 2000, 109. Allseits vermerkt wurde aber, dass dieser Körperschaftsstatus ein „seltsamer Ehrentitel“ (Rudolf Smend) blieb, weil von den typischen Eigenschaften, die Körperschaften des öffentlichen Rechts im Sinne der sog. mittelbaren Staatsverwaltung sonst auszeichnet, keines vorlag und schon wegen des Verbots der Staatskirche nicht vorliegen konnte. Das bereitete und bereitet bis heute gewisse Mühen bei der rechtsdogmatisch klaren Erfassung und ist immer wieder Gegenstand von Forderungen nach Abschaffung dieses Status; vgl. dazu aus jüngerer Zeit

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Der praktische Effekt dieser normativen Öffnung war in den Weimarer Jahren und den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik gewiss sehr überschaubar – zumal etwa die jüdischen Gemeinden in der Weimarer Republik zu den altkorporierten Gemeinschaften gezählt wurden.⁶⁰ Mittlerweile hat sich aber der Kreis derjenigen Religionsgemeinschaften, die den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts innehaben, deutlich erweitert – und wenn nicht alles täuscht, geschieht das in den letzten Jahren mit forcierter Geschwindigkeit. In den Genuss des Körperschaftsstatus kommen längst nicht mehr allein die etablierten christlichen Großkirchen, sondern desgleichen Freikirchen oder die Zeugen Jehovas und natürlich auch nichtchristliche Religionsgemeinschaften – und noch weitergehend, keineswegs allein religiöse, sondern desgleichen weltanschauliche Gemeinschaften. Die Gesamtliste bietet „ein veritables Kompendium religiöser Pluralität in Deutschland“⁶¹. So haben, um einige wenige Beispiele aus Baden-Württemberg herauszugreifen, nicht nur die Evangelischen Landeskirchen oder die evangelisch-reformierte Gemeinde Stuttgart sowie die Herrnhuter Brüdergemeine oder jene in Korntal diesen Status inne, sondern auch die evangelischen Freikirchen wie die evangelisch-methodistischen Kirchen, die Mennonitengemeinde und die Heilsarmee; nicht allein die Römisch-Katholische Kirche in Freiburg oder RottenburgStuttgart und die griechisch-orthodoxe Metropolie und die Altkatholische Kirche, sondern auch die Zeugen Jehovas, Die Humanisten Baden-Württemberg sowie die israelitische Religionsgemeinschaft Baden und Württemberg. Und wenn wir den Blick etwas weiter schweifen lassen, so sehen wir, dass mittlerweile erste muslimische Organisationen den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts

sehr gründlich in der Behandlung der kritischen Punkte, aber mit einem positiven Gesamtfazit, Muckel 2018, 38 ff.; 45 ff.; 55 f.; präzise auch Unruh 2018, Rn. 275 ff.  Die Rechtslage vor 1919 war in den einzelnen deutschen Staaten durchaus unterschiedlich, doch trifft die Aussage auf viele Gemeinden zu. Zu Details vgl. Michael Demel, Gebrochene Normalität. Die staatskirchenrechtliche Stellung der jüdischen Gemeinden in Deutschland, Tübingen: Mohr Siebeck 2011, 96 ff. Speziell zum Rechtsstatus der jüdischen Synagogengemeinden in Altpreußen als Körperschaften des öffentlichen Rechts i. S.d. Art. 137 Abs. 5 WRV (bejahend) vgl. Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen 133, 192 (195 ff.) mit eingehender historischer Herleitung.  Hans Michael Heinig, „Der Körperschaftsstatus nach Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV – ein Gleichheitsversprechen“, in Religionskonflikte im Verfassungsstaat, 93 – 118, 97. Eine umfassende Übersicht findet sich auf der Homepage des BMI unter dem Stichwort ‚Personenstandsrecht‘ online unter: https://www.personenstandsrecht.de/Webs/PERS/DE/informationen/religionsgemein schaften/religionsgemeinschaften-node.html (Zugriff: 31.03. 2019).

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erlangt haben, nämlich in Hessen die Bahá‘ì-Gemeinde in Deutschland (2013)⁶² und der Ahmadiyya Muslim Jamaat in der Bundesrepublik Deutschland (2013; seit 2014 auch in Hamburg).⁶³ In Nordrhein-Westfalen gilt das für die Hinduistische Gemeinde in Deutschland (2017).⁶⁴ Die Aleviten, in mehreren Ländern als Religionsgemeinschaft im Sinne des Art. 7 Abs. 3 GG anerkannt, streben ebenfalls den Körperschaftsstatus an. Diese Vielfalt ist zugleich klares Indiz für die Tendenz in Judikatur wie Literatur, die früher recht hohen Hürden für den Erwerb des Körperschaftsstatus abzubauen. So wird keine spezifische Staatsloyalität als Verleihungsvoraussetzung mehr verlangt⁶⁵ – Rechtstreue, also Rechtsgehorsam muss genügen.⁶⁶ Das

 Vgl. „Urkunde über die Verleihung der Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts an die Bahá’í -Gemeinde in Deutschland“ mit Sitz in Hofheim am Taunus vom 31.01. 2013, bekanntgemacht im Staatsanzeiger für das Land Hessen am 18.03. 2013 (HessStAnz. 14/2013, 473). Die Verfassung der Bahá’í-Gemeinde in Deutschland findet sich in deren Amtsblatt, Jahrgang 2013, Nr. 1.  Vgl. für Hessen „Urkunde über die Verleihung der Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts an Ahmadyya Muslim Jamaat in der Bundesrepublik Deutschland e.V.“ mit Sitz in Frankfurt am Main vom 25.04. 2013, bekanntgemacht im Staatsanzeiger für das Land Hessen am 30.04. 2013 (HessStAnz. 20/2013, 634). Für Hamburg vgl. §§ 1, 3 des Gesetzes über die Verleihung der Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts an Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen vom 15.10.1973 (HmbGVBl. 1973, 434) in Verbindung mit der „Verordnung über die Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen des öffentlichen Rechts in Hamburg“ vom 21.01. 2003 (HmbGVBl. 2003, 5 ff.), zuletzt mit Bezug auf die Verleihung des Körperschaftsstatus an die muslimische Religionsgemeinschaft geändert durch die siebte Änderungsverordnung vom 09.04. 2014 (HmbGVBl. 2014, 137).  Vgl. „Verordnung zur Verleihung der Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts an den Hindu Shankarar Sri Kamadchi Ampal Tempel e.V. (Europa) mit Sitz in Hamm-Uentrop vom 14.02. 2017“ (GVBl. Nordrhein-Westfalen Nr. 9 vom 28.02. 2017, 287). Die Gemeinde hat sich danach in „Hinduistische Gemeinde in Deutschland KdÖR“ umbenannt (Amtsblatt der Hinduistischen Gemeinde in Deutschland, K. d. ö. R., Jg. 2017, Nr. 1). Hiervon zu unterscheiden ist das Verfahren zur Erlangung des Körperschaftsstatus durch die ‚Hinduistische Tempelgemeinschaft‘; das VG Arnsberg hat in seinem Urteil vom 07.06. 2013 – 12 K 2195/12 dem entsprechenden Antrag stattgegeben, doch ist das Berufungsverfahren offenkundig noch nicht abgeschlossen.  Das war der wesentliche Dissenspunkt in dem langwierigen Verfahren der Anerkennung der Zeugen Jehovas als Körperschaft des öffentlichen Rechts. Noch das Bundesverwaltungsgericht hatte (durchaus mit Zustimmung des Schrifttums) die Anerkennung verweigert mit Hinweis darauf, dass diese religiöse Gruppe ihren Mitgliedern die Beteiligung an demokratischen Wahlen untersagt: BVerwGE 105, 117 (125 ff.). Zum Meinungsstand in der Literatur Nachweise bei Morlok 2018, Rn. 104 mit Anm. 358; eingehend zu den Argumenten pro und contra Unruh, 2018, Rn. 288 ff. Schon früh hatte Hermann Weber, Die Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts im System des Grundgesetzes, Berlin: Duncker & Humblot 1966, 95 f. u. 159 f. darauf aufmerksam gemacht, dass die Legitimation des Körperschaftsstatus nur in der absoluten inhaltli-

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Bundesverwaltungsgericht selbst war es dann, das einige Zeit später eine weitere Hürde abbaute, nämlich die Anforderung an die Mitgliederzahl (vgl. Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV).⁶⁷ Lange Zeit hatte man hier als Faustformel ein Tausendstel der Gesamtbevölkerung angesetzt, was kleinere Religionsgemeinschaften praktisch ausschloss. Davon ging das Gericht in einer Entscheidung aus dem Jahre 2012 ab und sah das Land Hessen als verpflichtet an, der Religionsgemeinschaft der Bahá‘ì die Körperschaftsrechte zu verleihen, obwohl diese nur knapp 1.000 Mitglieder hat.⁶⁸ Wiederum war wesentlicher Grund die Auffassung, dass es nicht auf die tatsächliche Bedeutung der Religionsgemeinschaft für das öffentliche Leben ankomme, sondern der Status der Entfaltung der Religionsfreiheit diene.⁶⁹

2.3 Auswechslung des verfassungsrechtlichen Hintergrundes? Diese Neujustierungen im interpretativen Bereich stellen letztlich auch Reaktionen auf Verschiebungen im Realbereich dar. Denn die Normen selbst sind ja erstaunlicherweise absolut unverändert geblieben, jedenfalls: ihr Text. Massiv geändert hat sich der soziale Kontext, der „Hintergrund der tatsächlichen Verhältnisse“⁷⁰. Das ist ein oft ausgesprochener Befund.⁷¹ Möglicherweise kommt es erneut zu einer „Auswechselung des verfassungsrechtlichen Hintergrundes“, der Anfang der 1950er Jahre schon einmal konstatiert worden war – damals freilich

chen Neutralität seiner Verleihung ohne jegliche staatliche Bewertung des Inhalts und der ‚Qualität‘ des Bekenntnisses liegen könne.  So die (insofern) streitbeendende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: BVerfGE 102, 370 (392, Rn. 83 f.). Die Entscheidung hat überwiegend Zustimmung gefunden; vgl. nochmals Morlok 2018, Rn. 104 m. Anm. 361; des weiteren Munsonius 2016, 147 f. sowie vor allem Muckel 2018, 39 ff., der – unter Aufgabe der anderslautenden eigenen früheren Auffassung – mit Blick auf die Entscheidung konstatiert, dass der Körperschaftsstatus „nicht die Grundlage für eine besondere Zuordnung der – korporierten – Religionsgemeinschaften zum Staat“ (ebd., 39), sondern in erster Linie grundrechtlich radiziert sei.  BVerwG, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht, 2013, 943 – 946, 944, Rn. 14 ff.  Positive Bewertung bei Muckel 2018, 51 f.  BVerwG, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht, 2013, 943 – 946, 944, Rn. 16.  Maurer 2002, 463. Ähnlich spricht Schoch 2001 von der „Veränderung des religionssoziologischen Umfeldes“ (ebd., 150) und vom „tatsächlichen gesellschaftlichen Wandel“ (ebd., 152).  Bernd Grzeszick, „Islamischer Religionsunterricht an öffentlichen Schulen. Ein paradigmatischer Testfall für die Zukunftsfähigkeit des organisatorischen Staatskirchenrechts“, Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, Bd. 62, 2017, 362– 388, 364: „Herausforderung: Verfassungsrechtliche Kontinuität – Wandel der Realität“; Heinig 2018, 17: „unveränderter Textbestand, veränderte Gesellschaft“; Hillgruber 2018, 7 ff.: „neue religionssoziologische Lage“. Der Sache nach desgleichen Hollerbach 1998, 8.

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mit Blick auf die im Verhältnis zu Weimar enorm gesteigerte positive Rolle der Kirchen.⁷² Jetzt müssen wir ganz andere Auswechslungsprozesse in den Blick nehmen: Einerseits die Auszehrung der Großkirchen und den Verlust volkskirchlicher Substanz, andererseits das Anwachsen nichtchristlicher religiöser Gruppen, namentlich des Islams, der Recht und Gesellschaft vor vielfältige und oft ganz neue Probleme stellt.⁷³ Daraus ergibt sich zwanglos die Frage, welche Bedeutung diese Entwicklungen für die Rolle der Religion als eines Integrationsfaktors oder eines Konfliktherdes haben.

3 Religion: Integrationsfaktor oder Konfliktherd? Diese zentrale Frage lässt sich nur dann einigermaßen verlässlich beantworten, wenn man sich vorab in etwas allgemeinerer Weise der soziokulturellen Funktion von Religion vergewissert. Was bewirkt sie in der Gesellschaft: Gutes oder Schlechtes? Führt sie die Menschen zusammen oder wirkt sie spaltend? Vermeidet sie Konflikte oder befeuert sie sie eher? Nochmals mit dem Titel dieses Beitrages gesprochen: Ist Religion Integrationsfaktor oder Konfliktherd? Nun wird niemand an dieser Stelle eine erschöpfende politische, gesamtgesellschaftliche und religionssoziologische Analyse erwarten, die umfassend Auskunft über die positiven Effekte von Religion wie über ihre Risiken und Nebenwirkungen erteilt. Stattdessen müssen einige zentrale Diagnosen genügen. In diesem Sinne erscheint eine kurze Klarstellung ebenso unerlässlich wie zwei schlaglichtartige historische Rückblicke.

3.1 Allgemeines: Die Ambivalenz des Religiösen Die zweifelsohne zugespitzte Frage nach der Religion als Integrationsfaktor oder Konfliktherd aufzuwerfen, zwingt zu einer wichtigen Klarstellung. Jede einseitige pauschale Bejahung oder Verneinung in dem Sinne, dass entweder alle Religionen immer und überall zur gesellschaftlichen Integration beitragen oder dass sie umgekehrt immer und überall Konflikte schüren oder verstärken, wäre absolut verfehlt. Keine Religion ist per se und in ihrer Praxis immer nur friedlich und integrativ, keine befördert per se und immer nur Streit und Kontroversen. Wir

 Köttgen 1952, 486.  Breite Bestandsaufnahme bei Waldhoff 2010b, D 13 ff.; D 23 ff.; D 39 ff. – Siehe noch unten 3.4b und 3.4c.

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müssen stets die Ambivalenz des Religiösen in Rechnung stellen.⁷⁴ Friedrich Wilhelm Graf hat den entscheidenden Befund klar und deutlich formuliert: Religiöse Bildsprachen haben immer auch dem sozialen Protest gegen ungerechte Verhältnisse und tyrannische Herrschaft gedient. Sie haben hier zugleich eine oft kontrafaktische Hoffnung auf Emanzipation, Freiheit und besseres Leben gestärkt. […] In ihren Symbolen kann sie [die Religion; H.D.] jenseits der üblichen sozialen Grenzlinien von Stand, Klasse, Geschlecht und Nation Nächstenliebe stärken und Solidarität stiften. […] Religiöser Glaube kann aber auch ganz anders, genau gegenläufig wirken. Er kann im Haß auf Andersdenkende und Andersgläubige Gestalt gewinnen, Menschenverachtung und Intoleranz stimulieren, äußerst starre, dogmatistisch harte Weltbilder erzeugen und in fromme Arroganz münden. Die Tendenz zum Unbedingten, die emotional stark bindende Orientierung an Gott, die für religiöses Bewußtsein mindestens in monotheistischen Religionssystemen konstitutiv ist, ist ambivalent und bleibend gefährlich. Sosehr Religion den Menschen humanisieren kann, so sehr kann sie ihn auch barbarisieren, und die eine religiöse Bewußtseinsgestalt kann sehr schnell in die andere umschlagen; auch sind die Übergänge fließend. Gewaltbereiter oder gewalttätiger Gottesglaube ist dabei kein Spezifikum einer bestimmten Religion, etwa ‚des Islam‘ im Unterschied zum Judentum und Christentum.⁷⁵

Kurz gesagt: Religionen können Toleranz, Mitmenschlichkeit und Humanität fördern, waren und sind aber nicht selten Ursache von Intoleranz und Unterdrückung, von Konflikt und Krieg. Religionen können Friedensstifter ebenso sein wie Gewalterzeuger,⁷⁶ können konstruktives wie destruktives Potenzial entfalten, können wie Brandbeschleuniger wirken oder zur Entspannung von Konflik Vgl. Scott R. Appleby, The Ambivalence of the Sacred. Religion, Violence, and Reconciliation, Lanham M.D.: Rowman & Littlefield 2000.  Friedrich Wilhelm Graf, „Einleitung“, in Politik und Religion. Zur Diagnose der Gegenwart, hg. von Friedrich Wilhelm Graf und Heinrich Meier, München: C.H. Beck 2013, 7– 45, 14. Ähnlich Ingolf U. Dalferth, Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie, Tübingen: Mohr Siebeck 2003, 1: „Höchste kulturelle Leistungen verdanken sich den Religionen ebenso wie grausamste Unmenschlichkeiten, selbstloser Einsatz für das Wohl anderer ebenso wie erbarmungslose Gewalt gegen Ungläubige und Andersdenkende. Die Religionen sind ein Panoptikum des Menschseins, im Guten wie im Bösen.“  Vgl. etwa die Beiträge in Die Ambivalenz des Religiösen. Religionen als Friedensstifter und Gewalterzeuger, hg. von Bernd Oberhofer und Peter Waldmann, Freiburg i. Br.: Rombach 2008. Ferner Andreas Hasenclever/Alexander de Juan, „Kriegstreiber und Friedensengel. Die ambivalente Rolle von Religionen in politischen Konflikten“, in Das Friedenspotenzial von Religion, hg. von Irene Dingel und Christiane Tietz, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, 101– 118; vgl. auch Johannes Müller, „Religionen – Quelle von Gewalt oder Anwalt der Menschen? Überlegungen zu den Ursachen der Ambivalenz von Religionen“, in Religionen und Globalisierung, hg. von Johannes Müller, Stuttgart: Kohlhammer 2007, 120 – 138, der u. a. die Interpretationsoffenheit religiöser Quellen, Divergenzen zwischen Theorie und Praxis, den Wahrheitsanspruch der Religionen, die enge Verflechtung von Religion und Kultur sowie die Instrumentalisierbarkeit von Religionen als Faktoren der Politik ausmacht.

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ten beitragen, an deren Zähmung säkulare Akteure gescheitert sind.⁷⁷ Christentum und Islam haben, um nur diese zwei zu nennen, auch eine Gewaltgeschichte.⁷⁸ Und selbst der scheinbar so friedliche Buddhismus macht hier keine Ausnahme, wie man derzeit in Myanmar (dem früheren Birma) studieren kann.⁷⁹ Ein solches Ambivalenzphänomen stellt die Religion nun auch in Bezug auf unser spezifisches Thema dar, was mit zwei historischen Schlaglichtern verdeutlicht sei.

3.2 Historisches Schlaglicht I: Religion als Integrationsfaktor Religion war, um einen ganz großen historischen Bogen zu schlagen, jahrtausendelang nicht nur ein wesentlicher Integrationsfaktor, sondern mehr noch die ausschlaggebende Legitimationsbasis politischer Herrschaft.⁸⁰ Man machte, wenn die Wendung erlaubt ist, mit Gott Staat: nicht Staat ohne Gott, sondern Staat mit Gott. Diese enge Verwobenheit von weltlich und geistlich, von Staat und Kirche, von Herrschaft und Heil hat viele Gesichter und viele Facetten. So wurden

 Appleby 2000, 207 ff.; ferner Christiane Tietz, „Das Friedenspotenzial des Christentums“, in Das Friedenspotenzial von Religion, 35 – 51.  Vgl. etwa die (tendenziell etwas beschönigenden) Passagen bei Arnold Angenendt, Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, Münster: Aschendorff 2007, insb. Dritter Teil (‚Religionstoleranz und Religionsgewalt‘, 232 ff.) und Vierter Teil (‚Heiliger Krieg und Heiliger Frieden‘, 372 ff.); pointiert und informiert für die christliche Religion Helmut Zander, „Europäische“ Religionsgeschichte. Religiöse Zugehörigkeit durch Entscheidung – Konsequenzen im interkulturellen Vergleich, Berlin/Boston: De Gruyter Oldenbourg 2016 (‚Antike‘, 272 ff.; ‚Mittelalter‘ 290 ff.). Sehr materialreich Krieg und Christentum. Religiöse Gewalttheorien in der Kriegserfahrung des Westens, hg. von Andreas Holzem, Paderborn: Schöningh 2009 (mit Beiträgen zu biblischen Grundlagen, Heiligen Kriegen und Heidenkriegen im Mittelalter, den Religionskriegen des konfessionellen Zeitalters bis hin zur Französischen Revolution und den beiden Weltkriegen); vgl. ferner die Beiträge in Glaube und Gewalt, hg. von Martin Sabrow, Leipzig: Akademische Verlagsanstalt 2018.  Dort wird die muslimische Minderheit der Rohingya von der buddhistischen Mehrheitsbevölkerung verfolgt und vertrieben. Allgemein zum Gewaltpotenzial östlicher Religionen Michael Bergunder, „‚Östliche‘ Religionen und Gewalt“, in Religion, Politik und Gewalt, hg. von Friedrich Schweitzer, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2006, 136 – 157. Das „Friedenspotenzial der östlichen Religionen“ behandelt unter diesem Titel Klaus von Stosch, in Das Friedenspotenzial von Religion, 21– 34.  Vgl. die Beiträge in Legitimation und Funktion des Herrschers. Vom ägyptischen Pharao zum neuzeitlichen Diktator, hg. von Rolf Gundlach und Hermann Weber, Stuttgart: Steiner 1992 (darin u. a. Beiträge zum Sakralkönigtum des frühen und hohen Mittelalters sowie des byzantinischen Kaisertums; einleitende Problemübersicht von Rolf Gundlach, „Der Sakralherrscher als historisches und phänomenologisches Problem“, ebd., 1– 22).

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die Pharaonen Altägyptens selbst als Götter verehrt und bildeten – wie die Sonnenkönige der Azteken und Inkas – den Musterfall sakral legitimierter Herrschaft. Der Cäsaropapismus Ostroms bietet ein weiteres Beispiel für die Verschmelzung (‚Symphonie‘) von weltlicher und geistlicher Gewalt.⁸¹ Aber auch das im Westen ausgebildete Reichskirchensystem des frühen und hohen Mittelalters verschmolz göttliche und weltliche Herrschaft zur Einheit; hier vermittelte die päpstliche Salbung „dem Königtum eine ins Sakramentale entrückte Herrschaftslegitimation“⁸². Und auch der Absolutismus war noch zutiefst von „Sakralität durchdrungen“, war hier doch die „Sakralisierung von Herrscher und Herrschaftssphäre […] der noch lange unentbehrliche Stützpfeiler“ der Herrschaftsordnung.⁸³ In welcher Gestalt auch immer: Weltliche Herrschaft ohne religiöse Legitimation war bis in die frühe Neuzeit praktisch undenkbar.⁸⁴ Ein schwacher Abglanz davon ruht noch auf dem Gottesgnadentum der konstitutionellen Monarchien des 19. Jahrhunderts. Aber, und das ist vielleicht noch interessanter: Auch dort, wo diese sakrale Legitimation ersetzt wird durch rationale Modelle der Legitimation staatlicher Herrschaft, bleibt die Frage nach der Religion virulent. Und mehr noch: bemerkenswerterweise halten die neuzeitlichen Vertreter des Vernunftnaturrechts mit ihrer das Individuum ins Zentrum rückenden Vorstellung vom Herrschafts- oder Gesellschaftsvertrag⁸⁵ durchweg an der absoluten Notwendigkeit der Religion für den Zusammenhang und die Stabilität politischer Ordnung fest.⁸⁶ Nicht nur für Thomas Hobbes war evident, dass in einem Staat zwingend nur ein Glaube

 Knapp Christoph Link, Kirchliche Rechtsgeschichte. Kirche, Staat und Recht in der europäischen Geschichte von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert, 2. Aufl., München: C.H. Beck 2010, § 3 Rn. 7.  Ebd., § 5 Rn. 6.  Heinz Schilling, Die neue Zeit. Vom Christenheitseuropa zum Europa der Staaten. 1250 bis 1750, Berlin: Siedler 1999, 389.  Vgl. zur Vertiefung die materialreichen Beiträge in Die Sakralität von Herrschaft. Herrschaftslegitimierung im Wechsel der Zeiten und Räume. Fünfzehn interdisziplinäre Beiträge zu einem weltweiten und epochenübergreifenden Phänomen, hg. von Franz-Reiner Erkens, Berlin: Akademie-Verlag 2002; besonders lesenswert die Einleitung des Herausgebers mit dem Untertitel ‚Versuch eines Überblicks‘, ebd., 7– 32.  Vgl. dazu Wolfgang Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, Darmstadt: WBG 1994.  Vgl. zum Folgenden die zusammenfassende Darstellung von Ludwig Siep, Der Staat als irdischer Gott. Genese und Relevanz einer Hegelschen Idee, Tübingen: Mohr Siebeck 2015, 139 ff., insb. zu Hobbes, Locke, Rousseau, Kant und Hegel. Charakteristisch auch, wie selbstverständlich Christian Wolff, Vernünftige Gedancken von dem gesellschafftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen / „Deutsche Politik“ (4. Aufl. 1736), §§ 366 ff. (in der von Hasso Hofmann hg. und eingel. Ausgabe: München: C.H. Beck 2004, 274 ff.) von der Notwendigkeit der Religion ausgeht sowie davon, deren Verächter zu strafen.

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herrschen konnte. Auch John Locke nahm in seinem berühmten Toleranzbrief wie selbstverständlich die Katholiken aus, da diese ja aufgrund ihres Glaubens einem anderen Souverän als dem britischen, nämlich dem in Rom, verpflichtet waren. Und Jean-Jacques Rousseau sah für seinen dezidiert demokratischen contrat social eine für alle Bürger dieses Staatswesens verpflichtende Zivilreligion vor: wer diese nicht annehme, sei im Grunde insociable, also: asozial im Sinne einer politisch nicht integrierbaren Person.⁸⁷ Auffällig oft wird die entscheidende Funktion dieser Zivilreligion bei Rousseau in der Sekundärliteratur als ‚sozialer Kitt‘ umschrieben, als eine integrative und kohäsive Kraft. Im Grunde ging die gesamte Sozialphilosophie der Aufklärung von der zwingenden Notwendigkeit der Religion für den Bestand, die Einheit und das Gedeihen von Staat und Gesellschaft aus. Religion erschien als unverzichtbare Grundlage von Moral und Recht, Atheismus hingegen als Staatszersetzung; ein Staat ohne Religion war schlicht unvorstellbar. Mit einem Wort: Es entsprach der von Herrschern wie Staatstheoretikern geteilten Überzeugung, dass ein Land bei Zulassung verschiedener Glaubensrichtungen alsbald aufgrund innerer Zwistigkeiten dem Verfall preisgegeben sein würde.⁸⁸ Stabilität versprach einzig das strikte Festhalten am Grundsatz des un roi, une loi, une foi – ein König, ein Gesetz, ein Glaube.⁸⁹ Der Erfolg gab den führenden europäischen Staaten des 16. bis 18. Jahrhunderts recht, die durchweg streng auf konfessionelle Homogenität achteten.⁹⁰ Für Spanien und England liegt das auf der Hand, in Frankreich blieb die Tolerierung der Hugenotten ein Zwischenspiel, das mit dem Revokationsedikt Ludwigs XIV. von Fontainebleau aus dem Jahre 1685 endete.  Näher Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität. Zum Selbstverständnis des modernen Verfassungsstaates, Tübingen: Mohr Siebeck 2013, 90 ff.; zur Kennzeichnung als ‚Kitt‘ vgl. die Nachweise ebd. 91.  Dahinter stand die feste Überzeugung, dass gemeinsame religiöse Weltbilder gemeinschaftsförderliche Orientierungsgewissheiten schaffen. Wenn alle die gleiche Antwort auf die fundamentalen letzten Sinnfragen geben, wenn also religiöse Homogenität herrscht, dann lebt es sich leichter miteinander, weil jedenfalls dieses heikle und explosive Feld befriedet ist: Pluralität zerstört nicht nur diese Gewissheiten, sondern gefährdet auch die Autorität der Herrschaft (so die Annahme). Das ist heute vor dem Hintergrund pluraler Demokratien oft nur noch schwer nachzuvollziehen, wie Zander 2016, 298 feststellt, um dann mit Recht zu betonen: „Aber wir unterschätzen wohl zu sehr, in welchem Ausmaß die politischen Aspekte religiöser Homogenität als Conditio sine qua non für politische Einheit und Eintracht und damit für Sicherheit und Wohlergehen angesehen wurden.“  Ähnlich die Empfehlung des niederländischen Staatstheoretikers Justus Lipsius (1547– 1606) an die Herrscher, der Maxime ‚unam religionem in uno regno‘ zu folgen; vgl. Schilling 1999, 520.  Näher und m.w. N. Horst Dreier, „Kanonistik und Konfessionalisierung. Marksteine auf dem Weg zum Staat“, JuristenZeitung, Bd. 57, 2002, 1– 13, 6 ff.

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3.3 Historisches Schlaglicht II: Religion als Konfliktherd Das Stichwort der Hugenotten führt uns direkt zum zweiten Schlaglicht: der Kriegsführung aus religiösen Motiven. An Beispielen für Religionskriege⁹¹ herrscht kein Mangel: dass Menschen für ihre jeweilige Religion Krieg führen, setzt Cicero für nahezu alle Völker der Alten Welt als selbstverständlich voraus. Heilige Kriege⁹² kennt das Alte Testament wie der Koran. Eroberungsfeldzüge, Kreuzzüge und Ketzerverfolgungen prägen das Bild des Mittelalters. Als gleichsam paradigmatischer Fall für das in der Religion liegende Streit-, Spalt- und Sprengpotenzial müssen aber die konfessionellen Bürgerkriege der Frühen Neuzeit gelten, wie sie in England, in Frankreich und in Deutschland tobten.⁹³ Besonders erbittert und äußerst blutrünstig wurden die Hugenottenkriege geführt, von denen man nicht weniger als acht zählt und die ihren im wahrsten Sinne des Wortes mörderischen Höhepunkt in der Bartholomäusnacht von 1572 fanden. Der Dreißigjährige Krieg wiederum, sicher nicht nur, aber gewiss auch religiös motiviert, bescherte dem gänzlich verwüsteten Deutschland ein lange nachwirkendes Trauma.⁹⁴

 Zur begrifflichen Erfassung und Eingrenzung siehe Konrad Repgen, „Was ist ein Religionskrieg?“, Zeitschrift für Kirchengeschichte, Bd. 97, 1986, 334– 349; Johannes Burkhardt, Art. „Religionskrieg (Begriff)“, in Theologische Realenzyklopädie, Bd. XXVIII, 1997, 681– 687. Knapp, aber informativ Bernhard Maier, Art. „Religionskriege“, in Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Bd. 6, 334– 337 (dort der Hinweis auf Cicero).  Vgl. die (eher historisch ausgerichteten) Beiträge in Heilige Kriege. Religiöse Begründungen militärischer Gewaltanwendungen. Judentum, Christentum und Islam im Vergleich, hg. von Klaus Schreiner, München: Oldenbourg 2008. Zu entsprechenden Konflikten in der Zeit seit 1950 vgl. Hans G. Kippenberg, Gewalt als Gottesdienst. Religionskriege im Zeitalter der Globalisierung, München: C.H. Beck 2008. Eingehend zum Verhältnis von Religion und Krieg (religiöse und heilige Kriege, Lehre vom gerechten Krieg, Kreuzzüge etc.) auch Heinz-Günter Stobbe, Religion, Gewalt und Krieg. Eine Einführung, Stuttgart: Kohlhammer 2010, 87– 324.  Aus der uferlosen Literatur die Beiträge in Religionskriege im Alten Reich und in Alteuropa, hg. von Franz Brendle und Anton Schindling, Münster: Aschendorff 2006, darin insb. Franz Brendle/ Anton Schindling, „Religionskriege in der Frühen Neuzeit. Begriff, Wahrnehmung, Wirkmächtigkeit“, 15 – 52.  So schon im Untertitel (und in der Einleitung) Herfried Münkler, Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, Deutsches Trauma 1618 – 1648, Berlin: Rowohlt 2017, 11 ff. Heinig 2018, 68 spricht vom „Trauma des konfessionellen Bürgerkrieges […], der das Gewaltpotential der Religion in das kollektive Gedächtnis unseres Kulturkreises schrieb“. Hellsichtig dazu Schilling 1999, 13: „Es ist diese traumatische Erfahrung mit dem großen Glaubenskrieg, der die Europäer heute erschrecken läßt, wenn ihnen im religiösen Fundamentalismus erneut jene verderbliche Verkoppelung von Glaube und Politik, von reiner Lehre und Gewalt begegnet.“

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Wenn man sich die Heftigkeit und Langwierigkeit der Konfessionskriege einmal vor Augen führt, fragt man sich unweigerlich, wie es eigentlich jemals zu einer „Zivilisierung der Religionen“⁹⁵, zur Anerkennung individueller Glaubensfreiheit und zur Pluralität von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften kommen konnte. Jedenfalls müssen wir das wohl, mit Niklas Luhmann gesprochen, als einen evolutionär unwahrscheinlichen Vorgang einstufen.⁹⁶ Wie verlief dieser langwierige Entwicklungsprozess im föderal gegliederten Deutschland, dem man bescheinigt hat, es sei „vom 16. zum 20. Jahrhundert erfolgreich den Weg von der weltanschaulichen Spaltung hin zum geregelten pluralen Nebeneinander verschiedener Konfessionskulturen und Konfessionsmentalitäten gegangen“⁹⁷?

3.4 Zur Entwicklung in Deutschland a) Vom konfessionellen zum säkularen Staat Auch in Deutschland konstituierten sich die Territorien nach der Reformation zunächst als konfessionell strikt geschlossene Einheiten.⁹⁸ Der Augsburger Religionsfrieden von 1555 brachte keineswegs Glaubensfreiheit, sondern lediglich „Glaubenszweiheit“⁹⁹: neben die katholische trat die evangelische Konfession. Und diese Zweiheit gab es nur auf der Ebene des Reiches, das allein dadurch vor dem Zerfall bewahrt werden konnte. Dem Landesherrn hingegen stand gemäß dem Grundsatz des cuius regio, eius religio das Recht zu, den Glaubensstand für  Terminus u. a. bei Friedrich Wilhelm Graf, Götter global. Wie die Welt zum Supermarkt der Religionen wird, München: C.H. Beck 2014, 246 ff.; Rochus Leonhardt, Religion und Politik im Christentum, Baden-Baden: Nomos 2017, 9 ff. (16 u. 19).  Wendung bei Niklas Luhmann, „Verfassung als evolutionäre Errungenschaft“, Rechtshistorisches Journal, Bd. 9, 1990, 176 – 220, 176, 183 f., 208 ff. Im Übrigen gehören Konfessionskonflikte der geschilderten Art mitten in Europa nicht einer fernen Vergangenheit an, wie die bürgerkriegsähnlichen Zustände zeigen, die in Nordirland in den 1970er und 1980er Jahren herrschten und an die wir durch den Brexit in diesen Tagen wieder schmerzhaft erinnert werden.  Schilling 1999, 133.  Zur folgenden historischen Rückschau ausführlicher und m.w.N. Horst Dreier, Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne, München: C.H. Beck 2018, 64 ff.; ich greife im Folgenden auf einige Formulierungen wörtlich zurück. Knappe historische Rückblicke bieten auch Christoph Schönberger, „Etappen des deutschen Religionsrechts von der Reformation bis heute“, Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, Bd. 62, 2017, 333 – 347 und Heinig 2018, 4 ff. u. 17 ff.  So die bekannte Wendung von Gerhard Anschütz, „Die Religionsfreiheit“, in Handbuch des Deutschen Staatsrechts, hg. von Gerhard Anschütz und Richard Thoma, Bd. 2, Tübingen: Mohr Siebeck 1932, § 106, 675 – 689, 676. Daran anknüpfend Munsonius 2016, 11 ff., 18.

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alle Untertanen verbindlich und einheitlich zu bestimmen und Andersgläubige zu vertreiben. Insofern fehlt also von Religionsfreiheit jede Spur. Und doch brachte der Frieden von 1555 etwas, was als bescheidener Anfang wenn nicht religiöser Freiheit, so doch religiöser Freizügigkeit¹⁰⁰ angesehen werden kann: die ausdrücklich als subjektives Recht ausgestaltete Auswanderungsfreiheit. Ihre Bedeutung war im föderal strukturierten Reich mit seiner Vielzahl an Territorien und Herrschaftsverbänden nicht zu unterschätzen. Einen entscheidenden Schritt fort vom geschlossenen Konfessionsstaat hin zur Anerkennung verschiedener Glaubensbekenntnisse ging dann der Westfälische Frieden von 1648. Er schränkte zum einen das ius reformandi des Landesherrn empfindlich durch die sog. Normaljahrsregelung ein, die den im Jahre 1624 praktizierten Glaubensstand in den Territorien konservierte und seinem verändernden Zugriff entzog.Vor allem gewährte der Friedensschluss allen Untertanen, also auch jenen, die nicht unter dem Schutz der Normaljahrsregelung standen, das Recht zur Hausandacht. In den einschlägigen Regelungen taucht zum ersten Mal der Begriff der Gewissensfreiheit (libertas conscientiae) auf – wird doch mit dieser Regelung der Gewissensnot des Andersgläubigen abgeholfen, der nun in privater Abgeschiedenheit mit Familie und Gesinde gemäß den Regeln seiner Konfession beten und eine Andacht halten kann. Eine öffentliche Bekundung, also ungestörte Religionsausübung, war freilich ausgeschlossen. Die Möglichkeit öffentlicher Präsenz Andersgläubiger mit demonstrativer Zurschaustellung ihrer Andersartigkeit sah man als Gefährdung der staatlichen Sicherheit und Ordnung an. Sie wurden nur, aber immerhin, geduldet.¹⁰¹ Man erkennt also sogleich, dass die Religionsfreiheit hier noch eine gestufte ist: über der Hausandacht als unterster Stufe stehen das exercitium privatum und das exercitium publicum.¹⁰² Und sie ist eine in der thematischen Reichweite beschränkte, da die schützenden Normen des Westfälischen Friedens für Katholiken, Lutheraner und Reformierte gelten, aber nicht etwa für sog. Sekten.¹⁰³

 Prägung: Martin Heckel, Deutschland im konfessionellen Zeitalter, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1983, 48; daran angelehnt von Campenhausen 1989, § 157, Rn. 15; Munsonius 2016, 18. „Erste Ansätze“ der Religionsfreiheit sieht hier Maurer 2002, 455 u. 462. Eingehende Diskussion dieses Punktes bei Axel Gotthard, Der Augsburger Religionsfrieden, Münster: Aschendorff 2004, 527 ff.  Zander 2016, 293: „Eine solche Duldung […] war für den frühneuzeitlichen Okzident ein Schritt hin zu einer internen Pluralisierung.“  Vgl. zu dieser dreifachen Stufung näher Dreier 2018, 74 ff.  Der Islam spielte keine Rolle, und die Juden wurden bis zur im 19. Jahrhundert einsetzenden Emanzipation nicht als Anhänger einer anderen Religion, sondern als Mitglieder eines anderen Volkes betrachtet und unter Fremdenrecht gestellt; vgl. dazu u. a. Hermann Fürstenau, Das

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Diese drei christlichen Konfessionen waren es auch, die im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten (PrALR) von 1794 ausdrücklich gleichgestellt wurden, womit es zu einer – wohlgemerkt immer noch innerchristlichen – Pluralisierung kam. Sie hatten den Status von öffentlich-rechtlichen Korporationen inne, und ihnen stand gleichermaßen die öffentliche Religionsausübung mit „Turm und Glocken“ zu. Ganz entgegen landläufigen Vorstellungen von Preußen als ewigem Hort der Reaktion sind hier als Frucht der Aufklärung bemerkenswert liberale Grundsätze niedergelegt, finden sich kräftige „Wurzeln der Religionsfreiheit“¹⁰⁴. Die Begriffe „von Gott und den göttlichen Dingen, der Glaube und der innere Gottesdienst können kein Gegenstand von Zwangsgesetzen sein“, heißt es da etwa, und ferner: „Jedem Einwohner im Staate muß eine vollkommene Glaubens- und Gewissensfreiheit gestattet werden.“¹⁰⁵ Damit war das reichsrechtliche Verbot von Sekten für die preußische Monarchie für unwirksam erklärt.¹⁰⁶ Für die Ausbildung der Religionsfreiheit als einem subjektiven Recht des Individuums spielt Preußen also eine echte Vorreiterrolle.¹⁰⁷ All das hinderte den spätabsolutistischen preußischen Staat freilich nicht daran, ein strenges Aufsichtsrecht über die Kirchen zu führen, sie ganz offen in den Dienst staatlichen Untertanengeistes zu stellen¹⁰⁸ und ein landesherrliches Kirchenregiment zu etablieren. An eine Trennung von Staat und Kirche war mithin noch nicht gedacht. Das geschieht erst in der Paulskirchenverfassung von 1848, die in ihrer geradezu spektakulären Modernität auch diesen Schritt ging und im Übrigen ein

Grundrecht der Religionsfreiheit nach seiner geschichtlichen Entwickelung und heutigen Geltung in Deutschland, Leipzig: Duncker & Humblot 1891, 163 und Anschütz 1932, 678 mit Anm. 6.  Anschütz 1932, 677. Zur Modernität des Preußischen Allgemeinen Landrechts (PrALR) in Religionssachen auch Fürstenau 1891, 77 ff.; Martin Friedrich, „Die Anfänge des neuzeitlichen Staatskirchenrechts: Vom preußischen Allgemeinen Landrecht (1794) bis zur Paulskirchenverfassung (1848/49)“, in Auf dem Weg zum Grundgesetz. Beiträge zum Verfassungsverständnis des neuzeitlichen Protestantismus, hg. von Günter Brakelmann, Norbert Friedrich und Traugott Jähnichen, Münster: LIT 1999, 13 – 29, 17 ff. u. 20 f.; Walter 2006, 102 ff.  Zitate: PrALR II. Theil, 11. Titel, §§ 1 u. 2.  Vgl. näher Fürstenau 1891, 77 f.  So Stefan Korioth, „Vom institutionellen Staatskirchenrecht zum grundrechtlichen Religionsverfassungsrecht? Chancen und Gefahren eines Bedeutungswandels des Art. 140 GG“, in Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität und Wandel. Festschrift für Peter Badura zum 70. Geburtstag, hg. von Michael Brenner, Peter M. Huber und Markus Möstl, Tübingen: Mohr Siebeck 2004, 727– 747, 735; vgl. auch Waldhoff 2008, 62: „weitreichende Musternormierung – kaum zufällig in einem schon polykonfessionellen Staat des aufgeklärten Absolutismus“.  Einschlägig PrALR II. Theil, 11. Titel, § 13: „Jede Kirchengesellschaft ist verpflichtet, ihren Mitgliedern Ehrfurcht gegen die Gottheit, Gehorsam gegen die Gesetze, Treue gegen den Staat, und sittlich gute Gesinnungen gegen ihre Mitglieder einzuflößen.“

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klares und konsequent liberales Religionsprogramm ausformulierte.¹⁰⁹ Sie gewährte volle Glaubens- und Gewissensfreiheit für jedermann (§ 144), unbeschränkte häusliche und öffentliche Übung der Religion (§ 145) und freie Bildung neuer Religionsgemeinschaften ohne Anerkennung durch den Staat (§ 147 Abs. 3). Damit war die eingangs angesprochene Trias der Religionsfreiheit artikuliert und verfassungsrechtlich etabliert: (1) Bekenntnisfreiheit, (2) Kultusfreiheit und (3) Vereinigungsfreiheit. Zur Abrundung auch der institutionellen Seite heißt es dann, wie angedeutet, in § 147 Abs. 2: „Keine Religionsgemeinschaft genießt vor andern Vorrechte durch den Staat; es besteht fernerhin keine Staatskirche.“ Nun trat die Paulskirchenverfassung niemals in Kraft, sondern fiel den wiedererstarkenden restaurativen politischen Kräften zum Opfer. Aber sie strahlte weit und wirkmächtig aus. Endgültig zum positiven Verfassungsrecht wurde ihr Religionsprogramm in der Weimarer Reichsverfassung 1919, von der das Grundgesetz wiederum 1949 zentrale Bausteine übernahm. Am Ende der hier nur in groben Strichen skizzierten Entwicklung steht ein strikt säkulares Religionsrecht: Jetzt gibt es keine Stufungen der Religionsfreiheit mehr, und diese erstreckt sich auch nicht mehr allein auf christliche Konfessionen, sondern auf alle Religionen¹¹⁰ – und sogar auf Weltanschauungen, die bekanntlich betont a- oder anti-religiös ausfallen können. Damit ist klar: „Die Glaubens- bzw. Religionsfreiheit ist heute gewährleistet in gleicher Weise für Gläubige, für Atheisten und für Gleichgültige. Die Religionsfreiheit privilegiert also nicht den Glauben; sie ist ein Recht in säkularem Gewand, das der Erfüllung im religiösen Geist ebenso offensteht wie dem Gegenteil.“¹¹¹

 Näher dazu Fürstenau 1891, 181 ff.; Friedrich 1999, 25 ff.; Walter 2006, 107 ff.  Schon relativ früh hat das Bundesverfassungsgericht festgehalten, dass die Glaubensfreiheit „nicht nur Mitgliedern anerkannter Kirchen und Religionsgemeinschaften, sondern auch den Angehörigen anderer religiöser Vereinigungen“ zusteht (BVerfGE 24, 236 (246)) und auch „Außenseitern und Sektierern die ungestörte Entfaltung ihrer Persönlichkeit gemäß ihren subjektiven Glaubensüberzeugungen“ (BVerfGE 33, 23 (29)) gestattet. Das steht heute vollständig außer Zweifel und bedarf im Grunde keiner Erwähnung mehr.  So die kompakte Bilanz bei Klaus Schlaich, „Konfessionalität – Säkularität – Offenheit. Der christliche Glaube und der freiheitlich-demokratische Verfassungsstaat“ (1985), in: Ders., Gesammelte Aufsätze. Kirche und Staat von der Reformation bis zum Grundgesetz, hg. von Martin Heckel und Werner Heun, Tübingen: Mohr Siebeck 1997, 423 – 447, 430 f. Ähnlich Heckel 1997, 859: Religionsfreiheit gewährleiste „rechtlich jedermann den gleichen Schutz für seinen Glauben, Unglauben, Irrglauben, Aberglauben einschließlich der Glaubenslosigkeit, ja Glaubensfeindschaft, ohne etatistische Bestimmung und Bewertung der religiösen Sinngehalte“. In diesem Sinne schon Anschütz 1932, 681.

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b) Von der Bi-Konfessionalität zur Multireligiosität Alle Religionen und Weltanschauungen genießen seit Weimar aufgrund der umfassenden verfassungsrechtlichen Gewährleistungen gleichen Schutz. Es herrscht vollständige Pluralität bei strikter Egalität. Doch obwohl die Weimarer Reichsverfassung in normativer Hinsicht „den Weg von der Bikonfessionalität zur Multireligiosität schon vorgespurt“¹¹² hatte, korrespondierte der unbegrenzten Offenheit der Rechtsgarantien lange Zeit keine reale religiöse Vielfalt.¹¹³ Vielmehr waren es religionsempirisch fast ausschließlich Protestanten und Katholiken, die unter dem weiten Dach der Religionsfreiheit wohnten. Alexander Hollerbach konnte bei seinem Staatsrechtslehrervortrag 1967 noch mitteilen, dass 94,6 % der bundesrepublikanischen Bevölkerung den beiden Großkirchen angehörten.¹¹⁴ Religiöse Pluralität meinte in der Bundesrepublik lange Zeit kaum mehr als Bi-Konfessionalität. Das hat sich geändert.¹¹⁵ Deutschland hat sich von einem bi-konfessionellen zu einem multi-religiösen Staat entwickelt. Es gibt Buddhisten und Hindus, Bhagwan-Jünger und Aleviten, es gibt vor allem wieder jüdische Gemeinden. Den gravierendsten Faktor aber bildet zweifelsohne der Umstand, dass mittlerweile rund fünf Millionen zum Teil sehr religiöse Muslime in Deutschland leben.¹¹⁶ Und die religiösen Unterschiede werden nicht selten noch durch die ethnischen verstärkt.¹¹⁷

 Hans Michael Heinig, Säkularer Staat – viele Religionen. Religionspolitische Herausforderungen der Gegenwart, Hamburg: Kreuz 2018, 31.  Das „Vielfaltspotential war […] der Religionsfreiheitsgarantie von Anfang an inhärent“ (Hillgruber 2018, 10), wurde aber erst in den letzten Jahrzehnten wirklich aktuell.  Hollerbach 1968, 65.  Natürlich nicht schlagartig, sondern schon in den 1960er, spätestens den 1970er Jahren, verschärft und beschleunigt dann allerdings durch Wiedervereinigung und Einwanderung. Dazu einfühlsam und prägnant Maier 1994 (92 ff.: ‚Bewegungen in der Gesellschaft – Veränderungen in den Kirchen‘), (103 ff.: ‚Die Kirchen im Zeichen der Wiedervereinigung‘). Zur Phase nach der Wiedervereinigung vgl. auch Hollerbach 1998, 11 ff.  Präzise Zahlen existieren nicht, es gibt nur Schätzungen und Hochrechnungen. Für den hiesigen Befund ist aber gleichgültig, ob es eher vier oder eher fünf Millionen sind. Auf jeden Fall bilden Muslime eindeutig die nach den Christen größte religiöse Gruppe. Im Übrigen leben in Deutschland mehr Anhänger des Buddhismus (280.000) als Menschen jüdischen Glaubens (200.000).  Wichtiger Hinweis bei Maurer 2002, 464.

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c) Von der Volkskirche zur Minderheitsreligion Ein weiterer wichtiger Entwicklungsprozess kommt noch hinzu. Wir beobachten nämlich nicht eine neue Multireligiosität in dem Sinne, dass die ursprünglich 95 % Protestanten und Katholiken sich lediglich auf eine größere Anzahl von Glaubensrichtungen verteilen würden. Wir beobachten vor allem eine deutliche und andauernde Zunahme der Konfessionslosen, also derjenigen Gruppe, die sich keiner Religion und auch keiner Weltanschauung zugehörig fühlt.¹¹⁸ Deren Anteil an der Gesamtbevölkerung steigt seit Langem kontinuierlich an. Mittlerweile sind rund 35 % der Menschen in Deutschland konfessionslos – oder konfessionsfrei, wie manche von ihnen sagen. Der Anteil der Katholiken hingegen beträgt rund 28 %, der der Protestanten nur noch rund 26 %.¹¹⁹ Das spiegelt den jedenfalls in Westeuropa zu verzeichnenden Rückzug der Religion im Sinne der sinkenden Bindung der Bürger an eine bestimmte Religionsgesellschaft wider.¹²⁰ Speziell im Falle der Bundesrepublik tritt hinzu, dass sich der Anteil religiös vollständig ungebundener, nur zum geringeren Teil dezidiert atheistischer Bürger nach der Wiedervereinigung ruckartig erhöht hat. Das bedeutet zweifellos einen dramatischen Verlust an volkskirchlicher Substanz.¹²¹ Man prognostiziert, dass im Jahre 2025 weniger als die Hälfte der Gesamtbevölkerung Deutschlands einer der beiden christlichen Großkirchen angehören wird. Im Klartext: Das Christentum wird hier zur Minderheitsreligion. Weiter wachsen wird hingegen aller Voraussicht nach die Gruppe jener Konfessionslosen, denen Fragen der Religion und Weltanschauung gewissermaßen

 Klar und deutlich Hillgruber 2018, 8: „Größer aber noch als die neue Vielfalt des Religiösen ist der Rückgang von Religiosität und religiöser Prägung insgesamt, d. h. die Säkularisierung der Gesellschaft. Die relativ größte Gruppe innerhalb der Bevölkerung, größer als die Gruppe der evangelischen oder katholischen Christen, bildet mittlerweile die Gruppe der Konfessionslosen. Es ist absehbar, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis die Christen insgesamt in Deutschland zur Minderheit werden.“  Diese Zahlen nach der Statistik der EKD „Christen in Deutschland“, online abrufbar unter: archiv.ekd.de (Zugriff: 31.03. 2019).  Zu diesem Säkularisierungsprozess im sozialwissenschaftlichen Sinne mit seinen wesentlichen Komponenten der Zugehörigkeit (Kirchenbindung), der Praxis (Gottesdienstbesuch) und der Überzeugungen (Gottesglaube) vgl. Dreier 2018, 47 ff. Detaillierte soziologische Untersuchungen bei Detlef Pollack, Religion und gesellschaftliche Differenzierung. Studien zum religiösen Wandel in Europa und den USA III, Tübingen: Mohr Siebeck 2016 und bei Detlef Pollack/Gergely Rosta, Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich, Frankfurt a. M./New York: Campus 2015.  Schon klar konstatiert bei Waldhoff 2010a, 16 ff.

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gleichgültig sind – aus welchen Gründen auch immer.¹²² Zur Andersgläubigkeit tritt die Gleichgültigkeit – partiell vielleicht auch die Unduldsamkeit gegenüber der Religion allgemein. Und manche sehen hier – und nicht in der Multireligiosität – die größere Gefahr.¹²³

d) Von der Integration zum Konflikt? Was heißt das nun alles für unsere zentrale Frage? Läuft die Entwicklung schlicht und geradlinig von der Integration zum Konflikt? Das wäre wohl etwas zu einfach und zu monokausal, vor allem auch zu deterministisch gedacht. Vielleicht sieht die frühe Bundesrepublik in der Rückschau harmonischer und konfliktfreier aus als sie war. Jedenfalls sind ja die notorischen Auseinandersetzungen um die Bekenntnisschule nicht vergessen.¹²⁴ Doch waren die Gesamtumstände einem harmonischen Miteinander ohne Zweifel sehr zuträglich. Auf der Basis relativ großer Konformität christlicher Kultur und eines hohen Organisationsgrades der kirchlichen Akteure konnten hier lange Zeit recht auskömmliche und befriedende Regelungen gefunden und wirklich existenzielle Konflikte weitestgehend vermieden werden.¹²⁵ Das Staatskirchenrecht entwickelte sich „in bemerkenswerter

 Damit sind natürlich nicht jene weltanschaulichen Gruppierungen gemeint wie der bayerische ‚Bund für Geistesfreiheit‘ oder der ‚Humanistische Verband Deutschlands‘ mit seinen Landesverbänden, sondern die große Gruppe derer, die sich weder von Religion noch von Weltanschauung in irgendeiner Weise affizieren, attrahieren oder irritieren lassen.  Z. B. Korioth 2018, 27 ff.; knapp auch ders., „Kommentar zu Christoph Schönberger“, Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, Bd. 62, 2017, 348 – 353, 353: „Nicht etwa Multireligiosität ist eine tiefgreifende Infragestellung dieser Ordnung [des deutschen Staatskirchenrechts, H.D.], sondern Desinteresse, religiöse Gleichgültigkeit gegenüber den Angeboten.“ Ähnlich Hillgruber 2018, 17: „religiöse Indifferenz“; christliche Prägung sieht sich „durch eine immer stärker um sich greifende religiöse Teilnahmslosigkeit und auch einen wachsenden, sich zunehmend aggressiv gebärdenden Atheismus herausgefordert“.  Vgl. für Beispiele, die im Jahre 1972 rückblickend als „wichtige Konfliktzonen und Problembereiche“ genannt werden, Christoph Link, „Neuere Entwicklungen und Probleme des Staatskirchenrechts in Deutschland“, in Deutsches und österreichisches Staatskirchenrecht in der Diskussion, hg. von Inge Gampl und Christoph Link, Paderborn: Schöningh 1973, 25 – 65, 31 ff.; etwa Kirchensteuergesetze, Rechtswegfragen, Baulasten, Schule. Insgesamt fehlt es aber an der Wucht grundsätzlicher Umbrüche, wie sie die letzten Jahrzehnte kennzeichnen.  Vgl. im Rück- und Überblick Maier 1994, 85 ff. und Hollerbach 1998, 6 ff. sowie Martin Heckel, „Religionsfreiheit und Staatskirchenrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“, in Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, hg. von Peter Badura und Horst Dreier, Tübingen: Mohr Siebeck 2001, 379 – 420, 379 ff.

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Ruhe“¹²⁶: Es war auf die Großkirchen zugeschnitten und fußte auf einem hohem Maß an kultureller Homogenität. Das religionspolitische Konfliktpotenzial war überschaubar, weil es eine gewisse „Grundkompatibilität mit der deutschen Rechts- und Verfassungsordnung“¹²⁷ gab. Anders gesagt: Die christliche Religion konnte über Jahrzehnte ein hohes Maß an stabilisierender und integrativer Kraft entfalten. „Der religiös-weltanschauliche Frieden war gesichert. Die allen Religionen eigenen destruktiven Potentiale wurden eingehegt, ihre sozialproduktiven Kräfte stimuliert.“¹²⁸ Ein so sensibler Zeitzeuge wie Hans Maier spricht retrospektiv nicht nur ganz allgemein davon, dass die Kirchen in Deutschland „seit Jahrhunderten […] ein maßgebliches Element der öffentlichen Ordnung“¹²⁹ gebildet haben; mit Blick auf die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg ist von den Kirchen auch als „Kräfte[n] vorpolitischer Integration“ und von „einer ‚neuen Nähe‘ von Staat und Kirche“¹³⁰ die Rede: Glaube und Gesellschaft standen sich „stützend und fundierend“¹³¹ gegenüber. Durch die Entwicklung Deutschlands von einem bi-konfessionellen zu einem multireligiösen und vor allem auch multikulturellen Gemeinwesen haben sich die Rahmenbedingungen stark verändert, sind vermeintliche kulturelle und religionspolitische Selbstverständlichkeiten weggebrochen und stillschweigende Einverständnisse entfallen. Jetzt wird eine ungleich größere Vielfalt mit ungleich höherem Konfliktpotenzial gelebt. Das verändert Quantität wie Qualität der latenten wie manifesten Spannungslagen. Aus Homogenität wird nun „Pluralität, gelegentlich Diffusität“¹³²; der vormals intrakulturelle Konflikt wird vom interkulturellen abgelöst;¹³³ die einstige „kulturelle Homogenität in Glaubensdingen“¹³⁴ scheint endgültig verloren.

 Peter Unruh, Reformation – Staat – Religion. Zu Grundlegung und Aktualität der reformatorischen Unterscheidung von Geistlichem und Weltlichem, Tübingen: Mohr Siebeck 2017, 210. Auch die „zahlreichen streitigen Einzelfragen des Staatskirchenrechts“ (Michael Kloepfer, „Der Islam in Deutschland als Verfassungsfrage“, Die Öffentliche Verwaltung, Bd. 59, 2006, 45 – 55, 48) änderten daran nichts und stellten den Grundkonsens nicht in Frage.  Waldhoff 2008, 65; dort ist 66 auch von einer gewissen „kulturelle[n] Abgestimmtheit“ die Rede.  Heinig 2018a, 21.  Maier 1994, 85.  Ebd., 87 u. 89.  Ebd., 96.  Waldhoff 2008, 65.  Dieter Grimm, „Multikulturalität und Grundrechte“, in Das Recht des Menschen in der Welt. Kolloquium aus Anlaß des 70. Geburtstages von Ernst-Wolfgang Böckenförde, hg. von Rainer Wahl und Joachim Wieland, Berlin: Duncker & Humblot 2002, 135– 149, 140.  Waldhoff 2010a, 24.

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Wie ein „Seismograph“¹³⁵ für solche Spannungen fungieren Rechtskonflikte. Der Wandlungsprozess hin zu einem multireligiösen Staat mit neuen Konfliktzonen lässt sich plastisch anhand der Schlagworte illustrieren, mit denen wichtige Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts bezeichnet werden. In den 1960er bis 1980er Jahren lauteten die Schlagworte wie folgt (in chronologischer Reihenfolge der Entscheidungsbände): ‒ Kirchenbausteuer (19, 206) – 1965 ‒ Unterricht in biblischer Geschichte (30, 112) – 1971 ‒ Eidesverweigerung aus Gewissensgründen (33, 23) – 1972 ‒ Kreuz im Gerichtssaal (35, 366) – 1973 ‒ Simultan- und Gemeinschaftsschule (41, 29; 41, 65; 41, 88) – 1975 ‒ Kirchenaustritt (44, 37) – 1977 ‒ Schulgebet (52, 223) – 1979.

‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒

Ab den späten 1980er Jahren lauten die Bezeichnungen so: Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft (76, 143) – 1988 Bahá‘ì (83, 341) – 1991 Kruzifix (93, 1) – 1995 Körperschaftsstatus der Zeugen Jehovas (102, 370) – 2000 Schächten (104, 337) – 2002 Osho (105, 279) – 2002 Kopftuch I (108, 282) – 2003 Landeszuschüsse für jüdische Gemeinden (123, 148) – 2009 Kopftuch II (138, 296) – 2015.

Auf der Hand liegt, dass mit alledem das Konfliktpotenzial steigt, wie die notorischen Streitfälle exemplarisch zeigen.¹³⁶ Entsprechend scharf schälen sich Streitpunkte zwischen den Anhängern verschiedener Glaubensrichtungen sowie zwischen ihnen und der Staatsgewalt heraus. Friedrich Wilhelm Graf konstatiert nüchtern: „Mehr Verschiedenheit bedeutet potentiell mehr Konflikt. Die weiter wachsende Zahl miteinander konkurrierender religiöser Akteure macht es für den parlamentarisch-demokratischen Rechtsstaat jedenfalls nicht leichter,

 Friedrich Wilhelm Graf, Moses Vermächtnis. Über göttliche und menschliche Gesetze, München: C.H. Beck 2006, 11.  Die Stichworte sind bekannt: Schächten, Kopftuch der Lehrerin, Burka in der Öffentlichkeit, Sportunterricht für muslimische Mädchen, Gebetsräume in Schulen und Universitäten etc. Ein Überblick zu den verschiedenen Konfliktfeldern etwa bei Maurer 2002, 465 ff.; Kloepfer 2006, 48 ff.; Waldhoff 2010b, D 51 ff., D 108 ff., D 115 ff.; Hans Markus Heimann, Deutschland als multireligiöser Staat. Eine Herausforderung, Frankfurt a. M.: Fischer 2016, 91 ff.

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den schnell entzündlichen Mentalstoff ‚Gottesglaube‘ unter bürokratisch-rationaler Kontrolle zu halten.“¹³⁷ Diese Feststellung Grafs wirft die Frage auf, was die Rechtsordnung tun kann oder tun müsste, um den geschilderten Problemen zu begegnen.

4 Religionsverfassungsrechtliche Perspektiven Die Bedeutung des Religionsverfassungsrechts darf man angesichts der Größe und Vielfalt der Veränderungen gewiss nicht überschätzen. Keinesfalls sollte man sich der Illusion hingeben, gewissermaßen auf Knopfdruck mit einigen Rechtsnormen eine neue, bessere und womöglich konfliktfreie Realität in Religionssachen schaffen zu können. Hier spielen gesellschaftliche, kulturelle, wirtschaftliche, soziale und integrationspolitische Faktoren sicher eine weit größere Rolle. Umgekehrt stellt das Recht aber auch keine zu vernachlässigende Marginalie dar. Weichen wir der drängenden Frage nach etwaigen Konsequenzen also nicht aus. Wie muss das Religionsverfassungsrecht reagieren? Müssen wir umsteuern, neue Grundlagen schaffen, einen Systemwechsel vollziehen – oder kann alles beim Alten bleiben? Ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit seien zu den religionspolitischen Perspektiven fünf zentrale Orientierungspunkte benannt und jeweils kurz erläutert.

4.1 Bekräftigung des Gleichheitsversprechens für alle Religionen Ohne Zweifel stellt uns der Wandel von der Bi-Konfessionalität zur Multireligiosität vor große Herausforderungen. Er sollte aber nicht dazu führen, dass wir das Gleichheitsversprechen, das schon die Weimarer Reichsverfassung allen Religionen und Weltanschauungen gegeben und welches das Grundgesetz erneuert hat,¹³⁸ zurücknehmen oder in Frage stellen. Genau das aber geschieht, wenn Glaubensgemeinschaften danach sortiert werden, ob sie dem Bestand und der Entwicklung des freiheitlichen Verfassungsstaates zuträglich sind oder ob sie ihm fremd oder gar ablehnend gegenüberstehen.¹³⁹ Auf dieser Linie hat etwa Paul  Graf 2013, 18. Deutlich auch Hillgruber 2018, 11.  Zur egalitären Seite Dreier 2018, 99 f.; speziell für den Körperschaftsstatus betont Heinig 2010, 114 ff., 114: „Das Gleichheitsversprechen des Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV ist fundamental für die Tektonik des gesamten grundgesetzlichen Staatskirchen- und Religionsverfassungsrechts.“  Zum folgenden näher und m.w.N. Dreier 2018, 125 ff.

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Kirchhof¹⁴⁰ argumentiert, es sei wesentlich für die Behandlung der Religionen, ob diese zu den tragenden Kräften der Verfassungsprinzipien zählten und aktiv für Demokratie und Freiheitsrechte einträten oder eben nicht. Das soll vor allem konkrete Folgen für die Förderung haben: „Der Staat darf für die Förderung […] unterscheiden, welche kirchlichen Lehren und Lebensformen seine Kultur historisch entfaltet haben und gegenwärtig stützen, welche Religionen ihn anregen und bereichern, aber auch welche Lehren ihn in seiner Verfaßtheit ändern wollen.“¹⁴¹ So plausibel das in manchen Ohren klingen mag, so ahistorisch und systematisch verfehlt ist es doch. Ahistorisch, weil offenbar vergessen wird, dass die katholische Kirche wie alle anderen Religionsgemeinschaften spätestens seit 1919 von den durch Autonomie und Parität geprägten religionsverfassungsrechtlichen Regelungen profitierte, obwohl sie ihren Frieden mit der modernen Grundrechtsdemokratie erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gemacht hat. Wenn sie seinerzeit den zentralen Verfassungsprinzipien (liberale und politische Grundrechte einschließlich der Religionsfreiheit, Demokratie und Pluralismus etc.) ablehnend und distanziert gegenüberstand, hätte man sie deswegen anders und schlechter behandeln sollen als Religionsgemeinschaften, die diesem modernen Gedankengut näherstanden? Die Weimarer Republik tat das nicht, und wir sollten das heute mit anderen Religionen auch nicht tun. Und: Schon das 19. Jahrhundert hatte in erheblichem Umfang Religionsfreiheit gewährt, die die katholische Kirche nach der Maxime „Keine Freiheit für den Irrtum“¹⁴² strikt ablehnte. Wenn dieses Spannungsverhältnis damals ausgehalten wurde, warum sollten wir das heute nicht mehr können? Vor allem aber ist das Argument systematisch verfehlt, weil es einer rechtlich folgenreichen Differenzierung zwischen kulturadäquaten und kulturfremden, zwischen verfassungsfernen und verfassungsnahen Religionen das Wort redet

 Paul Kirchhof, „Die Freiheit der Religionen und ihr unterschiedlicher Beitrag zu einem freien Gemeinwesen“, in Religionen in Deutschland und das Staatskirchenrecht, hg. von Burkhard Kämper und Hans-Werner Thönnes, Münster: Aschendorff 2005, 105 – 118, 110 ff.; vgl. auch schon frühere Beiträge mit gleicher Stoßrichtung: Ders., „Die Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts“, in Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl., 650 – 687, 666 ff.; ders., „Der Beitrag der Kirchen zur Verfassungskultur der Freiheit“, in Festschrift für Martin Heckel zum siebzigsten Geburtstag, hg. von Karl-Hermann Kästner, Knut Wolfgang Nörr und Klaus Schlaich, Tübingen: Mohr Siebeck 1999, 775 – 797, 786 ff.; einige weitere Autoren wie Arnd Uhle und Karl H. Ladeur/Ino Augsberg sehen das ähnlich (Nachweise bei Dreier 2018, 128).  Kirchhof 2005, 116.  Eingehend Josef Isensee, „Keine Freiheit für den Irrtum. Die Kritik der katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts an den Menschenrechten als staatsphilosophisches Paradigma“, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung, Bd. 73, 1987, 296 – 336.

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und so in gewisser Weise zum für überwunden geglaubten Kulturvorbehalt zurückkehrt.¹⁴³ Denn mit einem solchen Programm würde die Axt an das Neutralitätsgebot gelegt, weil Religionen einer Ungleichbehandlung unterworfen werden je nachdem, ob man sie als gemeinschaftszuträglich oder -abträglich einstuft.¹⁴⁴ Es geschieht mithin genau das, was das Gleichheitsversprechen ausschließen soll: Religionen sehen sich einer Bewertung durch den Staat ausgesetzt. Und indem man sozusagen nach der Dividende fragt, die eine Religion für die freiheitliche Gesellschaft abwirft, wird ferner verkannt, dass Religionsfreiheit und Neutralität des Staates gerade auf dem Ausschluss irgendwelcher Nützlichkeitserwägungen gründen.¹⁴⁵ Der Staat hat hier keine Noten zu vergeben und keine buchhalterischen Bilanzen aufzumachen, sondern muss die verschiedenartige und selbstzweckhafte Entfaltung des Sinnsystems ‚Religion‘ hinnehmen – dies im Übrigen im eigenen Interesse wie in dem der Religionsgesellschaften selbst.¹⁴⁶ ErnstWolfgang Böckenförde hat immer wieder mit einer gewissen Vehemenz auf den Eigensinn und die Eigenlogik der Religion hingewiesen und noch vehementer gegen jegliche Art von Nützlichkeitskalkülen votiert.¹⁴⁷ Das ist der erste wichtige

 Dazu oben unter 2.2a.  Vgl. näher Dreier 2018, 128 ff. mit Nachweis weiterer kritischer Stimmen; zu ergänzen insofern Kästner 2010, Rn. 141: keine „Wohlverhaltensprämie“.  Stark betont von Klaus Ferdinand Gärditz, „Säkularität der Verfassung“, in Verfassungstheorie, hg. von Otto Depenheuer und Christoph Grabenwarter, Tübingen: Mohr Siebeck 2010, § 5 (153 – 198), Rn. 52; Unruh 2017, 219; vgl. auch Anm. 147.  Werner Heun, „Diskussionsbemerkung“, in Religionen in Deutschland und das Staatskirchenrecht, 133 f., 134.  Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Stellung und Bedeutung der Religion in einer ‚Civil Society‘“ (1989), in: Ders., Staat, Nation, Europa. Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999, 256 – 275, 268: die „eigentliche Aufgabe“ der Religion könne und dürfe es gerade nicht sein, „zur Integration der pluralistischen Gesellschaft durch entsprechende Konsensbildung beizutragen. Dies kann sich zwar als Folge ergeben, muß es aber nicht. Vielmehr kann gerade die Treue zu ihrem eigenen Auftrag Religionsgemeinschaften dazu zwingen, im Hinblick auf die bestehende Gesellschaft desintegrierend zu sprechen und zu handeln. Sie ist womöglich um ihrer eigenen Identität und Glaubwürdigkeit willen gehalten, nicht zu einer Integration beizutragen, die zwar noch auf der Grundlage freiheitlicher und demokratischer Auffassungen, aber nicht mehr auf der Grundlage dessen aufbaut, was ihr unabdingbar erscheint. […] Dieser Anspruch hindert jedenfalls Christen und Juden daran, ihre Religion als gesellschaftlichen Integrationsfaktor auf der Basis und in den Grenzen eines mehrheitsfähigen Fundamentalkonsenses zu verstehen und sich an diesem auszurichten. Sie gäben sich damit einer Anpassungsstrategie anheim. […] Die Wirksamkeit einer Religion im politischen Gemeinwesen und für es läßt sich nicht auf Legitimation oder Integration festlegen, sie kann ebenso auch Legitimation entziehen oder desintegrierend wirken, indem etwa die Unvereinbarkeit eines bestimmten Handelns oder gar bestimmter Strukturen in Staat oder Gesellschaft mit religiösen Grundforderungen aufgedeckt wird.“ Gleichsinnig ders., Der säkularisierte Staat. Sein Charakter,

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Punkt: keine Hierarchisierung¹⁴⁸ guter und schlechter, verfassungsrechtlich zuträglicher oder unzuträglicher Religionen.

4.2 Flexibilisierung des rechtlichen Instrumentariums Der zweite Punkt betrifft das staatskirchenrechtliche Instrumentarium. Auch wenn das überkommene Staatskirchenrecht primär auf die traditionellen christlichen Großkirchen zugeschnitten ist, zeichnet es sich doch durch eine gewisse Flexibilität und Anpassungsfähigkeit aus. Ihm wird daher gemeinhin die Fähigkeit attestiert, die neuen Herausforderungen meistern zu können.¹⁴⁹ Die Beseitigung mancher Hürden bei der Erlangung des Körperschaftsstatus war bereits Thema.¹⁵⁰ Freilich liegt bei der größten Glaubensgemeinschaft nach Katholiken und Protestanten, nämlich den Muslimen, das Hauptproblem darin, dass „der Islam generell keine kirchenanaloge institutionelle Verfaßtheit und Mitgliedschaftsstruktur kennt“¹⁵¹. Wo der Zugang demgemäß versperrt ist,¹⁵² wäre

seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, München: Carl Friedrich von Siemens Stiftung 2006, 29 f.; gegen eine Instrumentalisierung der Religion für bestimmte Zwecke des weiteren Rolf Schieder, Wieviel Religion verträgt Deutschland?, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, 13 u. 53. Auf einem anderen Blatt steht, ob etwa einzelnen staatskirchenrechtlichen Bestimmungen des Grundgesetzes „die soziale Nützlichkeit von organisierter Religion“ als „Hintergrundannahme“ zugrunde liegt: so Morlok 2018, Rn. 78, freilich sogleich einschränkend Rn. 80: „auch um ihrer Freiheitlichkeit selbst willen“.  Als „Hierarchisierungsmodell“ oder „Hierarchisierungsansatz“ wird der von Paul Kirchhof und anderen unterbreitete Vorschlag zur wertenden Differenzierung bezeichnet von Heinig 2018a, 67; vgl. auch Munsonius 2016, 94, 138 sowie Unruh 2017, 213 f. Andere sehen hierin eine Rückkehr des ‚Kulturvorbehaltes‘; dazu Nachweise bei Dreier 2018, 127 f.  Knapp Waldhoff 2010a, 171; andeutungsweise auch Heinig 2018a, 70. Eingehend Waldhoff 2008, 90 ff.; Hillgruber 2018, 10 ff.; Munsonius 2016, 153 ff. Von einer „Bewährungsprobe“ spricht Kloepfer 2006, 53.  Vgl. oben unter 2.2c.  Ahmet Cavuldak, „Wie passt der Islam ins Staatskirchenrecht?“, Herder Korrespondenz, Heft 5/2017, 40 – 44, 43. Früh zum Problem Alfred Albrecht, „Die Verleihung der Körperschaftsrechte an islamische Vereinigungen“, Kirche und Recht, Bd. 1, 1995, 25 – 30; aktuelle Bestandsaufnahme etwa bei Stefan Muckel, „Muslimische Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts“, in Muslime in Deutschland. Historische Bestandsaufnahme, aktuelle Entwicklungen und zukünftige Forschungsfragen, hg. von Peter Antes und Rauf Ceylan,Wiesbaden: Springer 2017, 77– 113.  Die hier relevant werdende Frage, ob Dachverbände eine ‚Religionsgemeinschaft‘ i. S.v. Art. 7 Abs. 3 GG bzw. (juristisch nichts anderes bedeutend) ‚Religionsgesellschaft‘ i. S.v. Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV i.V. m. Art. 140 GG sein können, ist vom Bundesverwaltungsgericht prinzipiell bejaht worden (BVerwGE 123, 49); in einem konkreten Fall hat das OVG Münster freilich einen ent-

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durchaus über die Einführung eigenständiger Organisationsformen unterhalb des Körperschaftsstatus nachzudenken. Christian Waldhoff hat 2010 einen entsprechenden Vorschlag beim Deutschen Juristentag unterbreitet,¹⁵³ der seinerzeit keine Mehrheit fand, aber vielleicht noch einmal aufgerufen werden sollte. Die Einführung islamischen Religionsunterrichts gilt geradezu als „paradigmatischer Testfall für die Zukunftsfähigkeit“¹⁵⁴ des Religionsverfassungsrechts. Hier stoßen wir erneut auf das Problem, dass es an einer klaren mitgliedschaftlichen Struktur, an repräsentativen Vertretungsorganen und verbindlichen Lehrinhalten oft fehlt.¹⁵⁵ Die bisherige Linie, islamischen Religionsunterricht in Gestalt von Übergangslösungen mit Hilfe von Beirätemodellen zu etablieren, mag alles andere als perfekt sein.¹⁵⁶ Dennoch sind hier wie beim Aufbau von Studiengängen in islamischer Theologie an Universitäten grundsätzlich alle Versuche zu begrüßen,¹⁵⁷ das überkommene und in manchen Punkten vielleicht auch etwas starre Format zu flexibilisieren und die muslimischen Glaubensgemeinschaften nicht im

sprechenden Antrag abgewiesen (Urteil vom 09.11. 2017, BeckRS 2017, 137643), woraufhin die Antragsteller erfolgreich Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht einlegten, das das Urteil aufhob und zur anderweitigen Entscheidung und Verhandlung zurückverwies (BVerwG, Beschluss vom 20.12. 2018 – BVerwG 6 B 94.18, NVwZ 2019, 236 – 239). Zum Problem aus der Literatur Muckel 2017, 85 ff.; Unruh 2018, Rn. 253, 292 f. u. 459.  Waldhoff 2010b, D 74 ff., D 89. Kritisch dazu Christian Walter, „Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität – Erfordern weltanschauliche und religiöse Entwicklungen Antworten des Staates?“, Deutsches Verwaltungsblatt, Bd. 125, 2010, 993 – 1000, 994 ff.; Hermann Weber, „Änderungsbedarf im deutschen Religionsrecht?“, Neue Juristische Wochenschrift, 2010, 2475 – 2480, 2480.  Grzeszick 2017, 362.  Zum Fehlen einer Anstaltskirche mit festgelegter Lehrautorität etwa Gudrun Krämer, „Zum Verhältnis von Religion, Recht und Politik: Säkularisierung im Islam“, in Säkularisierung und die Weltreligionen, hg. von Hans Joas und Klaus Wiegandt, Frankfurt a. M.: Fischer 2007, 172– 193, 179 ff.  Vgl. umfassend zu den Problemen und Lösungsansätzen Islamischer Religionsunterricht? Rechtsfragen, Länderberichte, Hintergründe, hg. von Wolfgang Bock, 2., durchges. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck 2007; Grzeszick 2017, 366 ff. Eine Religionsgemeinschaft i. S.v. Art. 7 Abs. 3 GG muss nach ganz überwiegender Auffassung nicht zwingend den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts i. S.v. Art. 137 Abs. 5 WRV/Art. 140 GG innehaben.  Zum derzeitigen tatsächlichen Stand islamischer Theologie an staatlichen Hochschulen (bisher vier von der Bundesregierung geförderte Zentren für islamische Theologie: Münster/Osnabrück, Tübingen, Erlangen/Nürnberg, Frankfurt a. M./Gießen, hinzukommen soll demnächst die Humboldt-Universität zu Berlin) sowie den vielfältigen religionsverfassungsrechtlichen Problemen vorzüglich der Überblick bei Christian Waldhoff, „Theologie an staatlichen Hochschulen“, in Handbuch des Staatskirchenrechts, 3. Aufl., hg. von Michael Germann und Stefan Muckel, Berlin: Duncker & Humblot 2019, § 46 Rn. 62 ff. (Bestandsaufnahme), 66 ff. (rechtlicher Rahmen, insb. die Beirats-Problematik).

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religionsverfassungsrechtlichen Wartestand versauern zu lassen.¹⁵⁸ Es gilt, klug zu navigieren: Einerseits nicht die tradierten Strukturen und Vorgaben einfach über Bord zu werfen und schon gar nicht, zu einem System mit streng laizistischer Trennung zu wechseln; andererseits aber als Forderung der Stunde die Flexibilisierung und Dynamisierung der Formate zu erkennen, ohne in Beliebigkeit zu verfallen.¹⁵⁹ Man hat das auf den treffenden Begriff einer „flexiblen Kontinuität“¹⁶⁰ gebracht. Eine vollständige Verkirchlichung des Islams kann und sollte nicht zur Vorbedingung gemacht werden, völliger Verzicht auf Organisation, Verbindlichkeit und Repräsentativität freilich ebenso wenig.¹⁶¹ Da ist auf beiden Seiten viel guter Wille und Veränderungs- sowie Kompromissbereitschaft gefragt. Aber das Religionsverfassungsrecht muss sich auch und gerade dem Neuen und Fremden gegenüber bewähren.

4.3 Bereithaltung gefahrenabwehrrechtlicher Mittel Das Religionsverfassungsrecht muss sich freilich nicht minder entschieden den Herausforderungen stellen, die mit den bereits genannten Stichworten der Ambivalenz des Religiösen und des damit verknüpften Konfliktpotenzials verbunden sind.¹⁶² Ganz generell gilt es zunächst festzuhalten, dass bei aller grundgesetzlichen Wertschätzung der Religionsfreiheit, ihres weiten Schutzbereiches und ihres hohen Schutzniveaus daraus nicht folgt, jeglicher Ausgestaltung dieser Freiheitsgarantie einen unbegrenzten und unkontrollierten Betätigungsraum zuzugestehen. Eine deutliche Grenze wird zum Beispiel gezogen, wenn es um die Erlangung des Körperschaftsstatus bzw. den einer Religionsgemeinschaft i. S. d. Art. 7 Abs. 3 GG geht. Denn für die entsprechende Zuerkennung bildet nach ganz

 Mit Emphase für die integrative Funktion speziell des Körperschaftsstatus (Wertschätzung, Anerkennung, positives Verhältnis zum Grundgesetz) Muckel 2018, 51 f.; ähnlich Kloepfer 2006, 53: „Integrationsschub“, Beschleunigung des Anpassungsprozesses, freilich mit dem Zusatz, eine solche Prognose sei nicht sicher.  Warnung davor bei Karl-Hermann Kästner, „Das Grundrecht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit in der neueren höchstrichterlichen Rechtsprechung“, Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. 123, 1998, 408 – 443, 409; Ralf Poscher, „Totalität – Homogenität – Zentralität – Konsistenz“, Der Staat, Bd. 39, 2000, 49 – 67, 51.  Ansgar Hense, „Flexible Kontinuität. Neuere Veröffentlichungen zum deutschen Staatskirchenrecht“, Herder-Korrespondenz, Bd. 51, 1997, 136 – 141; ähnlich Kloepfer 2006, 53: „behutsame Öffnung“.  Siehe für Mindestanforderungen etwa Poscher 2000, 57 ff. Etwas zu leicht scheint mir das sich für die Muslime stellende Problem bei Hillgruber 2018 genommen.  Vgl. oben unter 3.1, 3.3 und 3.4d.

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herrschender Auffassung in Literatur wie Judikatur die Erfüllung der sog. ungeschriebenen Voraussetzungen eine unaufgebbare Bedingung: (1) die Gewähr der Rechtstreue; (2) keine Gefährdung zentraler Verfassungsprinzipien wie Rechtsstaat, Demokratie und Grundrechte.¹⁶³ Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner einschlägigen Grundsatzentscheidung mit unverkennbarer Stoßrichtung (auch) in Richtung bestimmter islamischer resp. islamistischer Richtungen verdeutlichend hinzugefügt, dass eine derartige Beeinträchtigung des verfassungsrechtlichen Ordnungsrahmens etwa dann anzunehmen sei, wenn die Religionsgemeinschaft „auf die Verwirklichung einer theokratischen Herrschaftsordnung“¹⁶⁴ hinwirke. Das ist zu begrüßen. Denn sowenig es angeht, die Weltreligion des Islams pauschal als gewaltsam, friedens- und freiheitsgefährdend zu charakterisieren und ihr die Kompatibilität mit freiheitlichen westlichen Demokratien rundweg abzusprechen, so blauäugig und unverantwortlich wäre es, die Existenz fundamentalistischer Strömungen und Gruppen (nicht nur, aber eben auch) im Islam zu negieren, zu ignorieren oder zu bagatellisieren, die den Prinzipien und Prämissen liberaler Verfassungsstaaten fremd, ablehnend oder gar feindlich gegenüberstehen.¹⁶⁵ Zwar ist richtig, dass Religionsgemeinschaften weder binnenorganisatorisch so verfasst sein müssen wie freiheitliche Verfassungsstaaten¹⁶⁶ noch in ihren Glaubensinhalten Deckungsgleichheit mit dessen Prinzipien und Postulaten (etwa: Gleichberechtigung der Geschlechter, Idee der Volkssouveränität) aufzuweisen hätten. Insofern ist die oft zu hörende Frage, ob ‚der‘ Islam mit dem Grundgesetz vereinbar sei, schon falsch gestellt: Keine Religion muss ihre Glaubenswahrheiten nach dem Muster der Grundsätze freiheitlicher Verfassungsstaaten zuschneiden.¹⁶⁷  Judikatur: BVerfGE 102, 370 (390 ff. u. 392 ff.); 139, 321 (351 f.); BVerwGE 123, 49 (74). Aus der zustimmenden Literatur: Classen 2015, Rn. 310 f., 483; Muckel 2017, 96 ff.; Grzeszick 2017, 379 f.; Unruh 2018, Rn. 288 ff., 463.  BVerfGE 102, 370 (395); vgl. auch kurz zuvor (394): „Das Grundgesetz verbietet die Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts an eine Religionsgemeinschaft, die nicht die Gewähr dafür bietet, dass das Verbot einer Staatskirche sowie die Prinzipien von Neutralität und Parität unangetastet bleiben.“  Ausdrücklicher Hinweis auf diese religionspolitische Problematik bei Leonhardt 2017, 11 ff. u. 403 ff.  Die katholische Kirche ist es mit einem nur von einem kleinen Kreis von Männern auf Lebenszeit gewählten Oberhaupt und mit dem Ausschluss der Frauen vom Priesteramt zweifelsohne auch nicht und muss es nicht sein. Das gilt für andere Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ebenso.  Vertiefend Ralf Poscher, „Religion und Verfassungstreue. Konstitutionalisierung der Religion – Sakralisierung der Verfassung?“, in Islam und Verfassungsschutz. Dokumentation einer Tagung am 06.12.206 an der Universität Münster, hg. von Janbernd Oebbecke, Bodo Pieroth und Emanuel Towfigh, Frankfurt a. M.: Lang 2007, 11– 34.

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Doch daraus, dass eine Religionsgemeinschaft Glaubenssätze kennt, die mit freiheitlichen Verfassungsprinzipien nicht übereinstimmen, folgt nicht, dass es der Religionsgemeinschaft gestattet wäre, diese Glaubenssätze auch in der politischen Wirklichkeit zu realisieren. Religionsfreiheit ist kein Freibrief für die Untergrabung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder den offenen Kampf gegen sie. Sie bietet keine Deckung für Bestrebungen oder Handlungen, die deren Existenz gefährden – auch nicht für religiös motivierte. Wo Glaube und Gewalt, wo Heil und Hass eine brisante und die plurale Grundrechtsdemokratie negierende oder diese gar gefährdende Mischung eingehen, ist der Staat des Grundgesetzes zum entschiedenen Selbstschutz aufgefordert. Dabei geht es nicht allein darum, einer die ungeschriebenen Verleihungsvoraussetzungen nicht erfüllenden Religionsgemeinschaft den mit mancherlei Vorteilen und Vergünstigungen verbundenen Status einer Körperschaft zu versagen, sondern auch sonst von geeigneten und – was angesichts des sensiblen Rechtsgutes der Religionsfreiheit zu unterstreichen ist – verhältnismäßigen Mitteln Gebrauch zu machen, wenn religiöse Gruppen sich als Gefahr für die freiheitliche Ordnung erweisen. Ganz allgemein ist der religiös-weltanschaulich neutrale Staat von Verfassungs wegen nicht gehindert, „sich mit dem gesellschaftlichen Wirken einer Religionsgemeinschaft zu beschäftigen“¹⁶⁸. Das reicht von der Thematisierung und Einschätzung bestimmter neuer Phänomene wie im Falle der Enquete-Kommission ‚Sogenannte Sekten und Psychogruppen‘ in den 1990er Jahren¹⁶⁹ über die soeben erwähnte Möglichkeit der Ablehnung des Körperschaftsstatus wegen fehlender Rechtstreue¹⁷⁰ und der Beobachtung durch den Verfassungsschutz bis hin zum Gebrauch der Instrumente der ‚streitbaren‘ oder ‚wehrhaften‘ Demokratie.¹⁷¹ Denn die grundgesetzlich eingeräumte Möglichkeit eines Vereinigungsverbots gemäß Art. 9 Abs. 2 GG macht vor religiösen Gemeinschaften nicht Halt. Genauer muss man hier freilich sagen: macht nicht länger

 Hans Michael Heinig, „Das Religionsrecht zwischen der Sicherung freiheitlicher Vielfalt und der Abwehr fundamentalistischer Bedrohungen“, in Politische Religion und Religionspolitik. Zwischen Totalitarismus und Bürgerfreiheit, hg. von Gerhard Besier und Hermann Lübbe, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 197– 216, 210. So auch klar und deutlich BVerfGE 102, 370 (394).  Zwischenbericht 1997 (BT-Drs. 13/8170), Endbericht 1998 (BT-Drs. 13/10950). Beide Berichte haben sehr zur Versachlichung der Debatte beigetragen; vgl. in diesem Kontext auch die Entscheidung zu staatlichen Warnungen vor sog. Sekten: BVerfGE 105, 279 (293 ff.).  Vgl. dazu Anm. 163ff.  Aus der vielgestaltigen Literatur vgl. Wehrhafte Demokratie. Beiträge über die Regelungen zum Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, hg. von Markus Thiel, Tübingen: Mohr Siebeck 2003.

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Halt.¹⁷² Denn bis zum Jahre 2001 galt das sog. vereinsrechtliche Religionsprivileg: Religionsgemeinschaften fielen gemäß § 2 Abs. 2 VereinsG nicht in den Regelungsbereich des Vereinsgesetzes, womit auch die Möglichkeit eines Vereinigungsverbots gemäß Art. 9 Abs. 2 GG entfiel. Drei Monate nach dem Anschlag auf das New Yorker World Trade Center im September 2001 wurde dieses Religionsprivileg ersatzlos gestrichen.¹⁷³ Der enge zeitliche Zusammenhang ist natürlich kein Zufall; kurz danach verbot der Bundesinnenminister die als ‚Kalifatstaat‘ bekannte islamistische Vereinigung des sog. Kalifen von Köln, Metin Kaplan.¹⁷⁴ Mit Blick auf das hier nur skizzenhaft umrissene Gesamtfeld hat man eingängig vom „Religionsrecht als Gefahrenabwehrrecht“¹⁷⁵ gesprochen.

4.4 Bewahrung der freiheitlichen Verfassungskultur Kompromisse sollten wir auch dort auf keinen Fall zulassen, wo es um die Verteidigung und Bewahrung der demokratischen und liberalen Verfassungskultur geht. Zum genetischen Code von Grundrechtsgarantien zählt insbesondere die Freiheit der Meinung und der Presse,¹⁷⁶ des offenen Wortes, auch der Kritik und der Satire. Und zu deren ersten Objekten gehörte die Kirche und die christliche Religion. Natürlich war ‚Christus mit der Gasmaske‘ in der Weimarer Republik eine ungeheuerliche Provokation, die womöglich dem Empfinden vieler gläubiger Muslime angesichts der Mohammed-Karikaturen kaum nachsteht.¹⁷⁷ Aber beides

 Zum folgenden eingehend Kathrin Groh, „Das Religionsprivileg des Vereinsgesetzes“, Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Bd. 85, 2002, 39 – 62.  Gesetz vom 01.12. 2001 (BGBl. I, 3319).  Die Entscheidung wurde bestätigt durch BVerwG, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2003, 986 – 990; die dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht, 2004, 47); vgl. dazu Michael Sachs, „Verbot einer Religionsgemeinschaft (‚Kalifatstaat‘), BVerwG, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2003, 986“, Juristische Schulung, 2004, 12– 16.  Heinig 2005, 210 ff.  „Freedom of the press“ wurde nicht von ungefähr in der Virginia Bill of Rights von 1776 als „one of the great bulwarks of liberty“ bezeichnet.  Speziell zum Konflikt, der um die in einer dänischen Zeitschrift erschienenen Karikaturen entbrannte, Lars Reuter, „Hintergründe zum dänischen Karikaturenstreit“, Stimmen der Zeit, Bd. 224, 2006, 239 – 252 (Hinweise zum spezifischen dänischen Kontext der Auseinandersetzung). Tiefergreifende verfassungstheoretische Überlegungen zum Konflikt bei Helge Rossen-Stadtfeld, „Darf der Islam verspottet werden?“, Merkur, Bd. 60, 2006, 1173 – 1178 und Dieter Grimm, „Nach dem Karikaturenstreit: Brauchen wir eine neue Balance zwischen Pressefreiheit und Religionsschutz? Vortrag vom 12.03. 2007“, in Juristische Studiengesellschaft, Jahresband 2007/2008, Heidelberg: C.F. Müller 2008, 21– 36.

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ist eben in einer freiheitlichen, pluralen Gesellschaft auszuhalten. Denn sie ist per se eine Gesellschaft der Zumutungen: sie mutet uns zu mitanzusehen, wie Mitbürger anders leben, anders denken, anders reden, anders handeln, anders wählen – und anders glauben als wir. Jahrhundertelang haben Gesellschaften insbesondere den Glaubenspluralismus nicht ausgehalten. Der freiheitliche Verfassungsstaat aber geht gerade von der Möglichkeit einer solchen Gesellschaft der Zumutungen aus. Es gibt kein Recht für bestimmte Personen, Gruppen oder Glaubensgemeinschaften, von den Ansichten, Haltungen und Lebensstilen anderer Personen, Gruppen und Glaubensgemeinschaften verschont zu bleiben. Es gibt keinen Konfrontationsschutz in dem Sinne, dass die Grundrechte des einen Bürgers ihm einen Anspruch darauf vermitteln würden, die Grundrechtsausübung eines anderen Bürgers zu unterbinden.¹⁷⁸ Die Akzeptanz dieses Umstandes scheint insbesondere dort schwierig zu sein, wo geschlossene kulturelle Milieus mit geringer Toleranzfähigkeit und ausgeprägtem Hang zu Kränkungsgefühlen existieren.¹⁷⁹ Natürlich kann es verstörend sein, ein multireligiöses Gemeinwesen zu erleben, in dem auch die Glaubenssätze der jeweiligen Gemeinschaft zum Gegenstand inhaltlicher Kritik, ätzender Satire oder frecher Kommentare gemacht werden – gerade wenn man aus Ländern kommt, in denen umfassende Religionsfreiheit unbekannt ist und eine religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates unvorstellbar wäre. Der freiheitliche Verfassungsstaat des Grundgesetzes aber lebt davon, dass derartige Zumutungen ertragen und ausgehalten werden – und er wird nur fortbestehen, solange das geschieht. Das ist der Preis für die gleiche Freiheit aller in einer pluralen Lebenswelt. Um es konkret zu sagen: Wenn Muslime sich im Fall einer umstrittenen Operninszenierung über die angebliche Verhöhnung ihrer Religion empören, so ist das ihr gutes Recht.¹⁸⁰ Aber klar muss sein, dass deswegen die

 Anders gewendet: Die negative Religionsfreiheit entfaltet „zwar Abwehransprüche gegen religiöse Symbole und Handlungen in der staatlichen Sphäre, nicht aber Schutzpflichten gegen die Ausübung der Religion durch Private“ (Michael/Morlok 2017, Rn. 197; vgl. auch ebd., Rn. 48). Zur Vertiefung Barbara Rox, Schutz religiöser Gefühle im freiheitlichen Verfassungsstaat?, Tübingen: Mohr Siebeck 2013, 134 ff. u. 282 ff.; zur Terminologie auch Sarah Röhrig, Religiöse Symbole in staatlichen Einrichtungen als Grundrechtseingriffe, Tübingen: Mohr Siebeck 2017, 6 ff.  Zum folgenden Horst Dreier, „Religion und Verfassungsstaat im Kampf der Kulturen“, in Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, hg. von Horst Dreier und Eric Hilgendorf, Stuttgart: Steiner 2008, 11– 28, 22 ff.; ders., „Der freiheitliche Verfassungsstaat als riskante Ordnung“ (2010), in: Ders., Idee und Gestalt des freiheitlichen Verfassungsstaates, Tübingen: Mohr Siebeck 2014, 459 – 492, 491 f., jeweils m.w. N.  Damit ist auf die vorübergehende Absetzung von Mozarts Oper Idomeneo in der Inszenierung von Hans Neuenfels an der Deutschen Oper Berlin im September 2006 angespielt, in deren Schlussszene die Köpfe der vier enthaupteten Religonsführer (Poseidon, Buddha, Jesus, Mo-

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Oper nicht verboten oder abgesetzt werden darf. Nicht die empörten Mitglieder der Religionsgemeinschaft sind vor deren Aufführung zu schützen (niemand zwingt sie ja zum Besuch), sondern die Opernaufführung vor etwaigen Störern. Der offene, kritische und plurale Meinungsbildungsprozess macht vor den Religionen nicht halt und findet in Deutschland derzeit seine definitive Grenze erst im Straftatbestand des § 166 des Strafgesetzbuches (friedensstörende Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen). Die Definitionsmacht über die Grenzen der Freiheitsausübung liegt dabei nicht bei den besonders empfindlichen Betroffenen: ihr Kränkungseifer hätte es sonst in der Hand, die Freiheitsausübungen Dritter ins Unrecht zu setzen. Niemand hat in einem pluralistischen freiheitlichen Gemeinwesen einen Anspruch darauf, bestimmte ihm lästige oder widerwärtige Dinge nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen oder mit noch so abwegigen und das Grundgesetz in Frage stellendenden Meinungen nicht konfrontiert zu werden.¹⁸¹ Ja mehr noch: Verfassungsstaatliche Freiheit schließt den Schutz der geistigen Provokation ein. Von diesen Maximen sollten wir nicht abrücken.¹⁸²

hammed) gezeigt wurden. Befürchtet wurden Proteste und Ausschreitungen von islamischer Seite; das Landeskriminalamt sprach von einer „Gefährdungslage mit schwer abzuschätzenden Folgen für die öffentliche Sicherheit und Ordnung“. Eingehende Darstellung von Vor- und Verlaufsgeschichte bei Hannes Langbein, „Vom Karikaturenstreit zur Idomeneo-Kontroverse“, in Religionskonflikte im Verfassungsstaat, 290 – 312.  Dazu sehr deutlich BVerfGE 124, 300 (334): „Nicht tragfähig für die Rechtfertigung von Eingriffen in die Meinungsfreiheit ist ein Verständnis des öffentlichen Friedens, das auf den Schutz vor subjektiver Beunruhigung der Bürger durch die Konfrontation mit provokanten Meinungen und Ideologien oder auf die Wahrung von als grundlegend angesehenen sozialen oder ethischen Anschauungen zielt. Eine Beunruhigung, die die geistige Auseinandersetzung im Meinungskampf mit sich bringt und allein aus dem Inhalt der Ideen und deren gedanklichen Konsequenzen folgt, ist notwendige Kehrseite der Meinungsfreiheit und kann für deren Einschränkung kein legitimer Zweck sein. Die mögliche Konfrontation mit beunruhigenden Meinungen, auch wenn sie in ihrer gedanklichen Konsequenz gefährlich und selbst wenn sie auf eine prinzipielle Umwälzung der geltenden Ordnung gerichtet sind, gehört zum freiheitlichen Staat. Der Schutz vor einer Beeinträchtigung des ‚allgemeinen Freiheitsgefühls‘ oder der ‚Vergiftung des geistigen Klimas‘ sind ebenso wenig ein Eingriffsgrund wie der Schutz der Bevölkerung vor einer Kränkung ihres Rechtsbewusstseins durch totalitäre Ideologien oder eine offenkundig falsche Interpretation der Geschichte. Auch das Ziel, die Menschenrechte im Rechtsbewusstsein der Bevölkerung zu festigen, erlaubt es nicht, zuwiderlaufende Ansichten zu unterdrücken. Die Verfassung setzt vielmehr darauf, dass auch diesbezügliche Kritik und selbst Polemik gesellschaftlich ertragen, ihr mit bürgerschaftlichem Engagement begegnet und letztlich in Freiheit die Gefolgschaft verweigert wird.“  Wie hier Rupert von Plottnitz, „Die angstvolle Neutralität. Grundgesetz und Rechtsprechung in der Bundesrepublik“, in Politik ohne Gott: Wie viel Religion verträgt unsere Demokratie?, hg. von Stefana Sabin und Helmut Ortner, Springe: Klampen 2014, 34– 38, 37 f.

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4.5 Stärkung des religiös-weltanschaulichen Neutralitätsgebotes Schließlich gilt es, streng am Gebot religiös-weltanschaulicher Neutralität¹⁸³ festzuhalten, ja dieses vielleicht sogar noch etwas schärfer zu profilieren und stärker zu aktivieren. Dieses Gebot wird an Bedeutung gewinnen, weil es der zunehmenden Pluralität und Diversität religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen am besten Rechnung trägt.¹⁸⁴ Es „ermöglicht dem Staat, gegenüber und in einer religiös und weltanschaulich geprägten Gesellschaft seine spezifischen Aufgaben wahrzunehmen, ohne Spannungen unter den Anhängern verschiedener Bekenntnisse hervorzurufen“¹⁸⁵. Daher wird das Gebot umso wichtiger, je mehr sich das religiöse Feld pluralisiert und zerklüftet, je heterogener und mannigfaltiger die Gemeinschaften werden, je unterschiedlicher und konfliktreicher sie sich gebärden. Staatliche Neutralität „wirkt integrativ und ist angesichts einer weitgehenden Pluralisierung in den Überzeugungen der Bürger eine funktionale Voraussetzung dafür geworden, daß der Staat Heimstatt aller Bürger sein kann“¹⁸⁶. Ganz ähnlich sagt das Bundesverfassungsgericht: „In einem Staat, in dem Anhänger unterschiedlicher religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen zusammenleben, kann die friedliche Koexistenz nur gelingen, wenn der Staat selbst in Glaubens- und Weltanschauungsfragen Neutralität bewahrt.“¹⁸⁷ Es wäre zu wünschen, dass aus dieser grundsätzlichen Einsicht Konsequenzen für die konkrete Spruchpraxis des Gerichts folgen. Das Neutralitätsgebot

 Zu dessen verfassungsrechtlicher Herleitung und seinen verschiedenen Elementen ausführlich Dreier 2018, 95 ff.  Zutreffend Morlok 2018, Rn. 36. Dort heißt es weiter: „Die Neutralität des Staats gegenüber religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen und die Neutralität der Rechte und Pflichten der Bürger ohne Ansehen ihrer Überzeugung dienen der Ausdifferenzierung einer eigenen staatlichen Sphäre, die damit Unterschiede in den Überzeugungen ‚neutralisiert‘ und so über diese gesellschaftlichen Unterschiede hinweg die Rolle des Staatsbürgers konstituiert.“  Stefan Muckel, „Schutz von Religion und Weltanschauung“, in Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. IV, hg. von Detlef Merten und Hans-Jürgen Papier, Heidelberg: C.F. Müller 2011, § 96 Rn. 29.  Martin Morlok, „Art. 4“ Rn. 161, in Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl., hg. von Horst Dreier, Tübingen: Mohr Siebeck 2013.  BVerfGE 105, 279 (295) mit Hinweis auf BVerfGE 93, 1 (16 f.); wieder aufgegriffen in BVerfGE 137, 273 (304). In diesem Sinne begreift Matthias Mahlmann, „Religionsfreiheit und Grundrechtsordnung“, in Menschenrechte und Religion: Kongruenz oder Konflikt?, hg. von Logi Gunnarsson und Norman Weiß, Berlin: BWV 2016, 59 – 73, 63 die Säkularität der Verfassung als eine Bedingung dafür, Zustimmung bei den Bürgern „über religiöse und weltanschauliche Grenzen hinweg zu gewinnen“.

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verfügt durchaus über ein nicht immer voll ausgeschöpftes regulatives Potenzial.¹⁸⁸ Denn wer ist der Staat, von dem das Bundesverfassungsgericht spricht, wenn nicht seine Amtswalter? Man möchte doch, vor einem staatlichen Richter stehend, weder sehen, ob dieser Mitglied einer politischen Partei ist, noch welchen Fußballverein er favorisiert und auch und schon gar nicht, welcher Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft er angehört.¹⁸⁹ Daher hat das Parteiabzeichen, der Fan-Schal oder das Kreuz hier nichts zu suchen – und das Kopftuch genauso wenig. Das in den Religionen schlummernde Eskalationspotenzial¹⁹⁰ wird ja geradezu mutwillig herbeigerufen, wenn man etwa in Überbewertung subjektiver Grundrechtsausübung meinen würde, jeder Amtswalter solle einfach offen seine partikulare religiöse oder sonstige Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen zur Schau tragen dürfen. Das verkennt erstens die Differenz zwischen den Grundrechten der Bürger und der Grundrechtsbindung des Staates und seiner Amtsträger. Und zweitens scheitert ein solches Konzept pluraler Religiositätsdemonstration schon daran, dass es für bestimmte Religionen gar keine eindeutigen Symbole gibt. Das Wichtigste aber: Staatliche Neutralität besteht eben nicht in der beliebigen Zulassung und additiven Auffächerung religiös-weltanschaulicher Verschiedenheit, sondern im bewussten und konsequenten Absehen von dieser Art Verschiedenheit. Deshalb tragen Richter Roben. Zusammengefasst: Gleichheit für alle Religionen – Flexibilisierung des rechtlichen Instrumentariums – Gebrauch gefahrenabwehrrechtlicher Mittel – Freiheit des gesamtgesellschaftlichen Diskurses – strikte Neutralität des Staates: Diese fünf Orientierungspunkte dürften zentral für den religionsverfassungsrechtlichen Weg in die Zukunft zu sein. Nur wenn wir ihm folgen, werden wir die religionspolitischen Herausforderungen verfassungsrechtlich bestehen und bewältigen können – und nur so werden wir die Freiheitlichkeit des Grundgesetzes,

 Für eine vertiefte Begründung der folgenden knappen Ausführungen sowie die kritische Auseinandersetzung mit dem Bundesverfassungsgericht sei verwiesen auf Dreier 2018, 135 ff. Ähnliche Stoßrichtung wie hier bei Uwe Volkmann, „Die Ordnung religiös-weltanschaulicher Vielfalt“, in 70 Jahre Grundgesetz. In welcher Verfassung ist die Bundesrepublik?. hg. von Hans Michael Heinig und Frank Schorkopf, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019, 111– 130, 121 mit Anm. 31.  Zu Recht betont im Sondervotum von Schluckebier und Hermanns in der zweiten Kopftuchentscheidung: BVerfGE 138, 296 (367); vgl. auch Maurer 2002, 469: „Selbstverständlich darf sich die Lehrerin im außerschulischen Bereich nach ihren Vorstellungen und Geboten kleiden, im schulischen Bereich tritt sie jedoch nicht als Privatperson, sondern als Inhaberin eines staatlichen Amtes auf und repräsentiert den Staat; sie ist – wie der Staat – zur religiösen Neutralität verpflichtet, was auch in der Kleidung zum Ausdruck kommen sollte.“  Vgl. oben unter 3.3.

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dessen 70-jähriges Jubiläum wir mit Stolz und Freude begehen, bewahren können.

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Horst Dreier

Wolff, Christian (1736/2004): Vernünftige Gedancken von dem gesellschafftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen / „Deutsche Politik“ (4. Aufl. 1736), bearb., eingel. und hg. von Hasso Hofmann, München: C.H. Beck. Zander, Helmut (2016): „Europäische“ Religionsgeschichte. Religiöse Zugehörigkeit durch Entscheidung – Konsequenzen im interkulturellen Vergleich, Berlin: De Gruyter Oldenbourg.

Personenregister Ackermann, Thomas 345 Adenauer, Konrad 23, 25 – 27, 43, 48, 50 – 52, 65, 79, 85 f., 94, 125, 144, 168, 178, 214 Albert, Marcel 9 Albrecht, Alfred 371 Albrecht, Christian 60, 299 f. Améry, Jean 153 Anderson, Benedict 294 Angenendt, Arnold 355 Anschütz, Gerhard 190, 341 f., 359, 361 f. Anselm, Reiner 4, 21, 23 – 25, 37, 44, 57, 60, 69, 74 f., 139, 146, 152, 299 f. Antes, Peter 371 Appleby, Scott R. 354 f. Arendt, Hannah 282 Aretz, Jürgen 89, 120, 246 Arnold, Franz X. 42 Aschoff, Hans-Georg 98 Asmussen, Hans 6, 10, 33 Augsberg, Ino 204, 369 Baadte, Günter 3, 113, 166 Badura, Peter 340, 361, 365 Bafile, Corrado 95, 98, 103 Barth, Karl 6, 18, 37 f., 58 f., 144, 154 Barzel, Rainer 115, 119 – 122, 124, 126 Bauer, Thomas 151 Baumgarten, Otto 16 Becker, Ernst W. 25 Becker, Manuel 150 Beckmann, Joachim 6 Beckmann, Johannes 6 Bedford-Strohm, Heinrich 146 Benedikt XVI. 248 f., 326 f., 329 f. Berggren, Henrik 279 Bergsträsser, Ludwig 24 Bergunder, Michael 355 Bernet-Strahm, Toni 316 Bernhardt, Walter 138 Berning, Hermann Wilhelm 91, 93, 95 Besier, Gerhard 35, 375 Bethge, Eberhard 5 https://doi.org/10.1515/9783110623406-017

Beutler, Bengt 115 Beutler, Johannes 122 f. Beyme, Klaus von 267 f. Binder, Heinz-Georg 138 Bingener, Reinhard 151 Blessing, Werner K. 11, 82 Blomeyer, Adolf 23, 41 Bochinger, Christoph 240 Bock, Wolfgang 372 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 24, 128 f., 143, 163, 168 – 170, 172 f., 211, 246 – 248, 258, 267, 312, 316, 366, 370 Bockermann, Dirk 138 Bodin, Jean 311 Böhler, Wilhelm 21 – 24, 41, 46, 84 – 89, 92 – 94, 105, 116 – 119, 126 Bohmann, Ulf 294 Bohnert, Joachim 345 Bojunga, Helmut 95 Bonhoeffer, Dietrich 5, 7, 13, 16 Bornemann, Basil 294 Boyens, Armin 16, 19 Brakelmann, Günter 65, 361 Brecher, August 91 Brendle, Franz 358 Brenner, Michael 238, 361 Brocker, Manfred 279 Brohm, Winfried 343 Broszat, Martin 7, 82 Brügger, Jürgen 117 Brugger, Winfried 225 Bruns, Katja 69 Buchhaas-Birkholz, Dorothee 33, 42 Buchholz, Christine 162 Buchna, Kristian 33, 37, 39, 45, 50, 79 f., 82 – 89, 93, 116 Burkhard, Johannes 358 Calliess, Rolf-Peter 136 Campenhausen, Axel von 97, 191, 198, 339 f., 343 f., 347 f., 360 Casanova, José 245 Cavert, Samuel McCrea 35

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Personenregister

Cavuldak, Ahmet 371 Ceylan, Rauf 371 Cicero 358 Classen, Claus Dieter 188, 191, 200, 216 f., 347 f., 374 Cohen, Gerald A. 292 f. Czermak, Gerhard 192, 209, 212, 214, 216 f., 221 – 232 Dalferth, Ingolf U. 354 Damberg, Wilhelm 79, 82, 85, 89, 91, 95 de Juan, Alexander 354 de Wall, Heinrich 198, 343 Delbrêl, Madeleine 293 Delp, Alfred 9 Demel, Michael 350 den Hertog, Gerald C. 64 Depenheuer, Otto 370 di Fabio, Udo 204 Dibelius, Otto 6, 10, 15 – 17, 33, 37, 44 f., 61 – 63 Diederichs, Georg 100 f., 103 Dierken, Jörg 138, 143 Dietzel, Stefan 69 Dingel, Irene 354 Dinzelbacher, Peter 79 Dirks, Walter 27 Doering-Manteuffel, Anselm 4, 57, 119 Döhnert, Albrecht x Dombois, Hans 42, 60, 136 Dreier, Horst 192, 202, 211, 224, 226 f., 245 f., 253, 313, 331, 337, 341, 345, 357, 359 f., 364 f., 368 – 371, 377, 379 f. Drobinski, Matthias 249 Droege, Michael 192, 223 Dülffer, Jost 117 Dutzmann, Martin 45 Eberle, Carl-Eugen 343 Ehlers, Dirk 342, 346, 348 Eilers, Rolf 120, 122 Eilfort, Michael 246, 249 Elert, Werner 64 Ellwein, Thomas 51, 214 Engelbrecht, Martin 240 Engi, Lorenz 188 Epping, Volker 237, 243

Erkens, Franz-Reiner 356 Esche, Falk 90 Essen, Georg 272, 327, 333 Faulhaber, Michael von 26 Feise, Monika 104 Feldkamp, Michael F. 21, 23, 25 Fendt, Franz 26 Fischer, Fritz 9 Fischer, Martin 64 Forster, Karl 42 Fraenkel, Ernst 126 Franzen, Martina 294 Frei, Norbert 19, 69, 103, 348 Frerk, Carsten 221, 223, 229 Frese, Matthias 85 Friedrich, Martin 361 Friedrich, Norbert 361 Friesenhahn, Ernst 87, 169, 340, 345 Frings, Joseph 11, 19, 21 f., 24, 27, 41, 85 f., 94, 114, 116 Fürstenau, Hermann 360 – 362 Gabriel, Karl 165, 175, 185, 309 Gaertner, Joachim 248 Gailus, Manfred 34 Gampl, Inge 365 Gandhi, Mahatma 296 Ganslmeier, Florian 87, 89 Gärditz, Klaus Ferdinand 370 Gatz, Erwin 91 Gauly, Thomas 79 f., 83, 86 Gebhardt, Winfried 240 Geiss, Immanuel 9 Gerdes, Christian 91 Germann, Michael 237, 243, 372 Gerster, Daniel 161, 230, 263 Gockeln, Josef 126 Gollwitzer, Helmut 69 Gorschenek, Günter 172 Gosewinkel, Dieter 267 Gotthard, Axel 360 Gotto, Klaus 21, 107, 139 Grabenwarter, Christoph 370 Graf, Friedrich Wilhelm 4, 8, 14, 42, 87, 143, 149, 185, 245, 247, 334, 354, 359, 367 f.

Personenregister

Gregor XVI. 164 Greschat, Martin 4, 14, 19, 38, 82, 84, 138 Greszick, Bernd 194 f. Greve, Holger 196 Grimm, Dieter 312, 366, 376 Groner, Joseph-Fulko 13 Großbölting, Thomas 4, 9, 11, 79 f., 95 Gröschner, Rolf 143 Große Kracht, Hermann-Josef 14, 128, 143, 162, 170, 173 f., 247, 316 Große Kracht, Klaus 7, 36, 86, 89, 116 – 118, 120, 124, 126 f., 247 Großmann, Thomas 89, 125 f. Grundmann, Siegried 48 Grzeszick, Bernd 352, 372, 374 Gundlach, Gustav 13 f. Gundlach, Rolf 355 Gunnarsson, Logi 379 Gusy, Christoph 187 Gutmann, Thomas 230 Häberle, Lothar 251 Habermas, Jürgen 140, 176, 185, 245, 285 Hachmöller, Bernhard 89 Hanke, Edith 312 Hannig, Nicolai 9 Hanssler, Bernhard 38 Happe, K. 122 Harbsmeier, Götz 9 Harnack, Adolf von 16, 57 Hartmann, Jürgen 90 Hasenclever, Andreas 354 Haus, Michael 279, 286, 289, 294 f. Hauschild, Eberhard 41, 241 Heckel, Martin 140, 210, 214, 224 f., 339, 347 f., 360, 362, 365, 369 Heclo, Hugh 245 Hedergott, Winfried 100 Heft, James 283 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 287, 356 Hehl, Christoph von 85 Hehl, Ulrich von 43, 88 Heidemeyer, Wilhelm 104 Heimann, Hans Markus 226, 367 Heinemann, Gustav 18, 43, 48 Heinig, Hans Michael 44, 71, 136, 139 f., 150, 188, 238, 246, 250, 252, 260,

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337 f., 347 – 350, 352, 358 f., 363, 366, 368, 371, 375 f., 380 Held, Heinrich 21 – 23, 40 f. Henke, Klaus-Dietmar 7, 82 Hennig, Wiebke 194 Hense, Ansgar 92, 94 f., 97, 373 Hermans, Hubert 98, 107, 144 Herms, Eilert 140 Herzog, Roman 48 Hesse, Konrad 17, 95, 348, 351 f. Heun, Werner 140, 362, 370 Heuss, Theodor 22, 24 – 26, 47 f., 50 f., 84 f. Hildebrandt, Dieter 101 Hilfrich, Antonius 17 Hilgendorf, Eric 212, 214, 216 f., 221 – 223, 226 f., 231 f., 377 Hillgruber, Christian 139, 141, 204, 237, 240, 242 f., 250, 252 f., 337, 341, 345 f., 352, 363 – 365, 368, 371, 373 Hilpert, Konrad 271 Hinsch, Wilfried 285 Hipp, Otto 26 Hirsch, Emanuel 58 f. Hirschfeld, Michael 83, 88 Hirschmann, Johannes B. 119, 122 – 124 Hobbes, Thomas 311, 356 Hoegner, Wilhelm 26 Höffe, Otfried 211 Höffner, Joseph 91 Hofmann, Hasso 211, 356 Höhler, Joachim 80 Höllen, Martin 87 Hollerbach, Alexander 92, 214, 259, 261 f., 340 f., 345, 348, 352, 363, 365 Hölscher, Lucian 4, 79 Holzapfel, Friedrich 26 Holzem, Andreas 355 Holzner, Thomas 248 Homeyer, Josef 144 Honecker, Martin 140 Huber, Ernst-Rudolf 164 Huber, Peter M. 238, 361 Huber, Wolfgang 15, 37 f., 57, 142, 144, 148 – 150 Hübinger, Gangolf 4, 16, 57 f. Hübner, Jörg 150 Hufen, Friedhelm 338, 345 f.

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Personenregister

Hummel, Karl-Joseph 81, 120 Hundhammer, Alois 26 Hürten, Heinz 88 Huster, Stefan 188, 225 f., 231 Illgner, Rainer 92 Inacker, Michael J. 39, 44 Isensee, Josef 151, 211, 337, 339, 341, 369 Iwand, Hans Joachim 8, 64 f. Jaeger, Lorenz 91, 93, 119 Jähnichen, Traugott 48, 65, 361 Janssen, Achim 217 f., 220 Janssen, Heinrich Maria 91 Jarass, Hans D. 339 Jasper, Gotthard 44 Jeand′Heur, Bernd 215, 229 Jedin, Hubert 42 Joas, Hans 258, 372 Jochmann, Werner 9 f. Johannes Paul II. 319, 321 – 323, 326 f., 332 f. Johannes XXIII. 321, 326 Jung, Arlena 294 Jung, Martin H. 44 Jüngel, Eberhard 145 Kafka, Gustav E. 124, 126 – 128 Kahl, Wolfgang 341 Kaiser, Jochen Christoph 4, 119, 138 Kaldewey, David 294 Kalmo, Hent 312 Kämper, Burkhard 185, 194, 204, 343, 369 Kant, Immanuel 286 f., 356 Karrenberg, Friedrich 48 Kästner, Karl-Hermann 188, 341, 346, 369 f., 373 Kaufmann, Franz-Xaver 250 Keller, Michael 23, 85, 89, 91, 93 f., 128 f. Kelsen, Hans 327, 329 Kersting, Franz-Werner 36, 120 Kersting, Wolfgang 356 Ketteler, Wilhelm Emmanuel von 81 Khorchide, Mouhanad 232 Kierkegaard, Søren 154 Kieseritzky, Wolther von 34 King, Martin Luther 296

Kingreen, Thorsten 338, 346 Kippenberg, Hans G. 273, 343, 358 Kirchhof, Paul 204, 337, 339, 341, 369, 371 Klein, Michael 6, 45, 59 Kleßmann, Christoph 82 Kloepfer, Michael 366 f., 371, 373 Knewitz, Johannes 95 Knoll, Manuel 286 Knopp, Lothar 193 Koch, Diether 18, 23 Kogon, Eugen 27 Köhler, Joachim 80, 119 Kopf, Hinrich W. 93, 97, 224 Korioth, Stefan 194, 215, 229, 237 f., 240, 242 – 244, 251 f., 337, 361, 365 Korte, Jasper 294 Kortländer, Paul 196 Kösters, Christoph 79, 81 – 83, 87 Köttgen, Arnold 344, 353 Kottmann, Max 8, 26 Krech, Volkhard 4, 79 Kreß, Hartmut 224 Kretschmann, Winfried 154 Krings, Hermann 332 f. Krips, Katharina 122 Kroll, Thomas 312 Kronabel, Christoph 92, 114 Kruse, Helmut 8, 26 Kühnlein, Michael 289 Kühr, Herbert 44 Kuip, Gudrun 25 Künneth, Walter 7, 10, 37 Kunst, Hermann 45 – 48, 84, 87 f., 98, 115, 124, 221, 248, 294 Kupisch, Karl 61 Kuropka, Joachim 92, 94, 114, 118 Ladeur, Karl-Heinz 204, 369 Ladwig-Winters, Simone 126 Landau, Peter 98 Langbein, Hannes 378 Langendörfer, Hans 178 Laube, Martin 69 Lehmann, Hartmut 34 Lehmann, Karl 172 f., 177 f. Lehnert, Uwe 232 Lehr, Robert 26, 44

Personenregister

Leo XIII. 13, 127, 259, 262, 314 f., 319, 326, 341 Leonhardt, Rochus 57, 138, 359, 374 Lepp, Claudia 39, 44 Liedhegener, Antonius 4, 9 f., 79, 82, 84, 86, 94 Lilje, Hanns 12, 21, 41, 47, 101 f. Lincoln, Abraham 331 Lingen, Markus 94, 96, 102 Link, Christoph 60, 83, 85 f., 113, 161, 341 f., 347, 349, 356, 365 Lipsius, Justus 357 Listl, Joseph 90, 98, 261, 340, 346 Locke, John 356 f. Löhr, Wolfgang 3, 113, 119, 166 Loretan-Saladin, Adrian 316 Lübbe, Hermann 375 Ludyga, Hannes 248 Luhmann, Niklas 359 Luther, Martin 73, 138, 301 Machens, Godehard 91, 93, 279 MacIntyre, Alasdair 288, 290 Mahlmann, Matthias 379 Mahrenholz, Ernst Gottfried 98 Maier, Bernhard 358, 363 Maier, Hans 139, 211, 279, 343, 366 Mandry, Christof 75 Marx, Karl 284, 291 f. Marx, Reinhard 249, März, Peter 23, 35, 90, 117 f., 138 Maurer, Hartmut 343, 346, 352, 360, 363, 367, 380 Mayer, Tilman 50 McClay, Wilfried M. 245 Mehnert, Gottfried 138 Meier, Heinrich 245 f., 334, 354 Meireis, Torsten 37, 57 Meiser, Hans 37 Melis, Damian van 80, 119 Melis, Viola van 161, 230 Menzel, Jörg 144, 345 Menzel, Manfred 101 Merritt, Anna J. 16 Merritt, Richard 16 Merten, Detlef 379 Mertens, Annette 84, 93, 167

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Merton, Thomas 293 Merzyn, Friedrich 12, 36 Metz, Johann Baptist 153 Meyer-Mintel, Günter x Meyer-Sevenich, Maria 101 Meyer-Teschendorf, Klaus G. 141 Michael, Lothar 338 Mieth, Dietmar 282 Mikat, Paul 84 f., 96, 344, 347 Mill, John Stuart 283 f. Minkenberg, Michael 279 Mittmann, Katrin x Möllers, Christoph 246, 334 Morlok, Martin 192, 202, 226, 260, 264, 270 – 272, 338, 341, 343, 346, 351 f., 371, 377, 379 Morsey, Rudolf 84, 89, 120, 339 Morus, Thomas 117 Möstl, Markus 238, 361 Mouffe, Chantal 285 Mückl, Stefan 201, 337, 346 Mühlenfeld, Hans 99 Müller, Eberhard 38 Müller, Jan-Werner 61 Müller, Johannes 354 Müller, Konrad 96 f., 102 Müller, Ludolf Hermann 97 Müller-Terpitz, Ralf 144, 345 Münkler, Herfried 358 Munsonius, Hendrik 337, 347, 352, 359 f., 371 Nagel, Anne C. 95, 230 Naumann, Friedrich 57 Neddens, Iwand Christian Johannes 64 Nell-Breuning, Oswald von 124 Neuenfels, Hans 377 Niemeyer, Johannes 89, 95 – 97, 99, 102, 104, 106 Niemöller, Martin 3, 6, 8, 11, 17, 25, 36, 38, 43, 48, 61 Niemöller, Wilhelm 3 Nolte, Paul 153 Noormann, Harry 10 Nörr, Knut Wolfgang 369 Nowak, Kurt 4, 14 f., 34, 43 f., 57 f., 138

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Personenregister

Oberhofer, Bernd 354 Oebbecke, Janbernd 194, 374 Oexle, Otto Gerhard 57 Ogorek, Markus 346 Ohlemacher, Jörg 90, 97 Oppelland, Torsten 43 Orbán, Viktor 334 Ortner, Helmut 378 Otto, Rudolf 57 Ourghi, Abdel-Hakim 232 Pabel, Katharina 345 Pannenberg, Wolfhart 145 Papier, Hans-Jürgen 379 Peine, Franz-Joseph 193 Peiter, Hermann 150 Pesch, Rudolf 164 Pfeffer, Klaus 194 Pfleiderer, Georg 74 Pickel, Gert 240 f. Pieroth, Bodo 339, 342, 374 Pikart, Eberhard 22, 51, 338 Pilvousek, Josef 87 Pirson, Dietrich 261, 265 Pius XI. 11, 326 Pius XII. 10, 13 f., 19, 83, 316, 326, 328 Plottnitz, Rupert von 378 Pohlschneider, Johannes 91 Pollack, Detlef 240, 364 Pöpping, Dagmar 46 Poscher, Ralf 338, 346, 373 f. Poseidon 377 Preysing, Konrad von 87 Prinz, Michael 85 Pröpper, Thomas 333 Püttmann, Andreas 137 f., 151 Pütz, Helmuth 27 Quaritsch, Helmut

348

Rackl, Michael 20 Rade, Martin 16 Rahner, Karl 293 Raphael, Lutz 4 Ratzinger, Joseph 333 Rauscher, Anton 3, 14, 21, 89, 104, 113, 115, 120, 139, 166

Rawls, John 284 f., 292 Raz, Joseph 289 Recker, Klemens-August 95 Reckwitz, Andreas 185 Reisgies, Jens 197 Renck, Ludwig 222, 228 Rendtorff, Trutz 27, 57, 69, 151 Renz, Horst 42 Repgen, Konrad 84, 88, 90, 94, 339, 358 Reulecke, Jürgen 36, 120 Reuter, Astrid 263, 269 f., 273, 343 Reuter, Hans-Richard 37, 57 Reuter, Lars 376 Rhonheimer, Martin 316 Richardi, Reinhard 265 f. Riemeck, Renate 9 Rist, Josef 316 Ritter, Gerhard 12 Roegele, Otto B. 120, 122 Roesen, Anton 118, 126 Röhrig, Sarah 377 Rommelspacher, Birgit 145 Rösch, Henriette 149 Rosenkötter, Maren 200 Rossen-Stadtfeld, Helge 376 Rosta, Gergely 364 Rousseau, Jean-Jacques 311 f., 356 f. Rox, Barbara 377 Ruff, Mark Edward 81, 96, 114 Rüfner, Wolfgang 265 f. Sabin, Stefana 378 Sabrow, Martin 355 Sachs, Michael 97, 376 Sander, Hans-Joachim 316 Sauer, Thomas 48 Schäffers, Fritz 35 Schäuble, Wolfgang 250 Scheit, Gerhard 153 Scheliha, Arnulf von 15, 57 f., 72, 74 f., 139, 143, 150 Scheuer, Ulrich 169 Scheuner, Ulrich 87, 340, 345, 348 Schewick, Burkhard van 11, 21 – 24, 41, 115, 118 Schieder, Rolf 371 Schieren, Stefan 162

Personenregister

Schildt, Axel 50 Schilling, Heinz 356 – 359 Schindling, Anton 358 Schlaich, Klaus 140, 169, 339, 345, 347, 362, 369 Schlink, Bernhard 216 Schlink, Edmund 7, 15 Schluckebier, Wilhelm 380 Schmauch, Werner 136 Schmidchen, Gerhard 104 Schmidt, Helmut 172 f. Schmidt-Rost, Reinhard 150 Schmidt-Salomon, Michael 227, 231 Schmitt, Carl 333 Schnädelbach, Herbert 145 Schnatz, Helmut 127, 314 Schneemelcher, Wilhelm 48 Schneider, Johannes 25 Schneider, Ute 4 Scholl, Norbert 240 Scholz, Bastian 137, 139 Scholz, Matthias 83, 91, 95, 98, 100 Schönberger, Christoph 359, 365 Schreiner, Klaus 358 Schrooten, Jost-Benjamin 219, 223 Schulte, Beate 144 Schulz, Claudia 241 Schuppert, Gunnar Folke 262 f., 268, 270 Schütz, Oliver M. 117 Schwarz, Michael 105, 196 Seeber, David 82 Selge, Kurt-Victor 57 Shklar, Judith N. 284 Sick, Klaus-Peter 34 Siedentop, Larry 280 Siep, Ludwig 356 Simon, Helmut 214 Şimsek, Nurdane 286 Skinner, Quentin 312 Slenczka, Notger 58 Smend, Rudolf 5, 51 f., 97 f., 140, 260 f., 343, 349 Snyder, Stephen 286 Söder, Markus 249 Sölle, Dorothee 151 Spieß, Christian 165, 175, 309 Spital, Hermann-Josef 168

397

Sproll, Johannes Baptista 20 Stählin, Wilhelm 10 Stapel, Wilhelm 25 Stein, Tine 36, 120, 154, 279 f., 355, 377 Steltzer, Theodor 12 Stern, Klaus 95, 187 Sternberger, Dolf 61 Stobbe, Heinz-Günter 358 Stolleis, Michael 345 Stosch, Klaus von 355 Streinz, Rudolf 270 f. Strohm, Theodor 68 f., 136 Stupperich, Robert 62 Stutz, Ulrich 341 Stüwe, Klaus 246 f., 249 Stuyvesant, Peter 101 Süsterhenn, Adolf 22, 85, 87, 126 Tanner, Klaus 14 Taylor, Charles 283, 285, 287 f., 290, 294 – 296 Tenhumberg, Heinrich 89, 105 Thadden, Rudolf von 16, 42 Thamer, Hans-Ulrich 36, 120 Thiel, Markus 375 Thielicke, Helmut 16, 65 – 67 Thielking, Kai Oliver 40 Thielmann, Wolfgang 34 Thoma, Richard 117, 359 Thomas von Aquin 291, 325 Thönnes, Hans-Werner 185, 204, 343, 369 Tietz, Christiane 354 f. Tischner, Wolfgang 87 Tödt, Heinz Eduard 69 Töniges, Sven 140 Towfigh, Emanuel 374 Trädgårdh, Lars 279 Triebel, Matthias 201 f. Trillhaas, Wolfgang 42, 60, 67, 136 Trippen, Norbert 116 Troeltsch, Ernst 16, 57 Truman, Harry S. 35 Uertz, Rudolf 38, 82, 310, 315 f. Uhle, Arnd 204, 252, 369 Ummenhofer, Stefan 93 Ungern-Sternberg, Antje von 346

398

Personenregister

Unruh, Peter 185 f., 188 f., 191 – 196, 198, 204, 244, 263, 333, 337, 347, 350 f., 366, 370 – 372, 374 Utz, Arthur-Fridolin 13 Varwick, Johannes 162 Vattimo, Gianni 289 Vogel, Bernhard 178 Vögele, Wolfgang 143 Voigt, Friedemann 4, 97 Volkmann, Uwe 380 Volk, Ludwig 8, 114 Vollnhals, Clemens 7, 9, 15, 18, 21, 33, 82 vom Bruch, Rüdiger 57 Voßkuhle, Andreas 342 Wachholtz, Karl 138 Wahl, Rainer 366 Waldhoff, Christian 141, 143, 145, 149 f., 337, 341, 343 – 345, 347 – 349, 353, 361, 364, 366 f., 371 f. Waldmann, Peter 354 Walter, Christian 195, 238, 246 f., 250, 252, 260, 337, 341, 346, 361 f., 372 Walzer, Michael 284, 289, 294 f. Weber, Helene 22 Weber, Hermann 215, 229, 351, 355, 372 Weber, Max 312 Wegner, Gerhard 240 f. Weiß, Norman 105, 379

Wendland, Heinz Dietrich 69 – 71, 136 Wendt, Bernd-Jürgen 9 Werner, Wolfram 22, 25, 51, 204, 338 Wetzel, Jakob 249 Wiegandt, Klaus 372 Wieland, Joachim 366 Wienken, Heinrich 87 Wilkens, Erwin 42, 60, 136 Willems, Ulrich 161, 230, 232, 263, 279 Winkler, Katja 165, 175, 309 Winterhager, Jürgen W. 17 Wirsching, Andreas 34 Wissing, Wilhelm 89, 105 Wittler, Hermann 91 Wittreck, Fabian 263, 273, 343, 345 Wohlgemuth, Anton 123 Wolf, Ernst 41, 68 f., 136, 154 Wolff, Christian 356 Wolff, Heinrich Amadeus 193 Woller, Hans 7, 82 Wöste, Wilhelm 89 Wurm, Theophil 6, 8, 22, 33, 35 Yack, Bernard

284

Zander, Helmut 355, 357, 360 Zeiger, Ivo 9, 19 Ziemann, Benjamin 17 Zinser, Hartmut 149 Zumholz, Maria Anna 88

Liste der Beitragenden Albrecht, Christian; Prof. Dr., Lehrstuhl für Praktische Theologie mit Schwerpunkt Homiletik und Theorie medialer Kommunikation an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der LudwigMaximilians-Universität München. Anselm, Reiner; Prof. Dr., Lehrstuhl für Systematische Theologie und Ethik an der EvangelischTheologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. Buchna, Kristian; Dr., Wiss. Mitarbeiter der Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, Stuttgart. Czermak, Gerhard; Dr., Verwaltungsrichter i. R., Direktorium des ‚Instituts für Weltanschauungsrecht‘ (ifw). Dipper, Christof; Prof. Dr., Professor em. für Neuere und Neueste Geschichte am Fachbereich Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften der Technischen Universität Darmstadt. Dreier, Horst; Prof. Dr., Lehrstuhl für Rechtsphilosophie, Staats- und Verwaltungsrecht der Juristischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Essen, Georg; Prof. Dr., Lehrstuhl für Dogmatik und Dogmengeschichte an der KatholischTheologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Große Kracht, Hermann-Josef; apl. Prof. Dr., Akademischer Oberrat am Institut für Theologie und Sozialethik (iths) der Technischen Universität Darmstadt. Große Kracht, Klaus; PD Dr., Wiss. Mitarbeiter am Exzellenzcluster ‚Religion und Politik. Dynamiken von Tradition und Innovation‘ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Hahn, Judith; Prof. Dr., Lehrstuhl für Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Haus, Michael; Prof. Dr., Professor für Moderne Politische Theorie am Institut für Politische Wissenschaft der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Kösters, Christoph; Dr., Wiss. Mitarbeiter der Forschungsstelle der Kommission für Zeitgeschichte, Bonn. Korioth, Stefan; Prof. Dr., Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Kirchenrecht sowie Deutsches Staats- und Verwaltungsrecht an der Juristischen Fakultät der Ludwig-MaximiliansUniversität München. von Scheliha, Arnulf; Prof. Dr., Professor für Theologische Ethik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Direktor des dortigen Instituts für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften (IfES).

400

Liste der Beitragenden

Schreiber, Gerhard; Dr., Akademischer Rat am Institut für Theologie und Sozialethik (iths) der Technischen Universität Darmstadt. Unruh, Peter; Prof. Dr., Präsident des Landeskirchenamtes der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, Kiel.