Wissen und Wirtschaft: Expertenkulturen und Märkte vom 13. bis 18. Jahrhundert [1 ed.] 9783666301223, 9783525301227


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Wissen und Wirtschaft: Expertenkulturen und Märkte vom 13. bis 18. Jahrhundert [1 ed.]
 9783666301223, 9783525301227

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Marian Füssel / Philip Knäble / Nina Elsemann (Hg.)

Wissen und Wirtschaft Expertenkulturen und Märkte vom 13. bis 18. Jahrhundert

Wissen und Wirtschaft Expertenkulturen und Märkte vom 13. bis 18. Jahrhundert

Herausgegeben von Marian Füssel, Philip Knäble und Nina Elsemann

Vandenhoeck & Ruprecht

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Mit 6 Abbildungen und einer Tabelle Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-30122-3 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de. Umschlagabbildung: Cornelis Norbertus Gijsbrechts: Trompe-l’Œil eines geöffneten Wandschranks, 1653 © SØR Rusche Sammlung Oelde/Berlin © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Philip Knäble Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 I . Vertrauen und Risiko Tim Neu Der Experte, der keiner sein durfte. Sidney Godolphin, public credit und die Kreditkrise von 1710 . . . . . . . 33 Benjamin Scheller Experten des Risikos. Informationsmanagement und Wissensproduktion bei den Akteuren der spätmittelalterlichen Seeversicherung . . . . . . . . . . 55 Eva Brugger Die Produktivität des Scheiterns. Das Projektemachen als ökonomische Praktik der Frühen Neuzeit . . . . 79 Harold Cook Early Modern Science and Monetized Economies. The Co-Production of Commensurable Materials . . . . . . . . . . . . . . 97 Philip Knäble Wucher, Seelenheil, Gemeinwohl. Der Scholastiker als Wirtschaftsexperte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 II . Produktion und Transfer Heinrich Lang Wissensdiskurse in der ökonomischen Praxis. Kaufmannbankiers als Experten der Märkte im 16. Jahrhundert . . . . . 141 Tanja Skambraks Expertise im Dienste der Caritas. Die Monti di Pietà zwischen gelehrtem Wissen und Erfahrungswissen . . 169

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Inhalt

Kolja Lichy Die Kompetenz des Kommerzienrates. Karl von Zinzendorf und ökonomisches Wissen als administrative Karriereoption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Marian Füssel Wissen, Märkte und Kanonen. Europäische Militärexperten im Südasien der Frühen Neuzeit . . . . . . 217 Rainald Becker Überseewissen in Süddeutschland. Gelehrte Publizistik und visuelle Praxis im 17. und 18. Jahrhundert . . . 243 III . Angebot und Nachfrage Gion Wallmeyer Wie der Kreuzzug marktfähig wurde. Überlegungen zur Anwendung des Marktbegriffs auf das höfische Ratgeberwesen des 13. und 14. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Colin Arnaud Lohnverhältnisse, ›Arbeitgeben‹ und Armenfürsorge im Wirtschaftsdiskurs der Textilunternehmer in Italien (13.–16. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Mark Häberlein Der Wissensmarkt für Fremdsprachen im frühneuzeitlichen Mitteleuropa 335 Ian Maclean Die Publikation gelehrter Bücher vor und nach dem Dreißigjährigen Krieg. Die humanistische Jurisprudenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Miriam Müller Sammelnde Professoren. Die Ökonomie der Objektakkumulation an den Universitäten Helmstedt und Göttingen im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417

Vorwort Die im Band vereinten Aufsätze basieren auf Beiträgen aus der Ringvorlesung »Wissensmärkte in der Vormoderne« aus dem Sommersemester 2014 und der Tagung »Experten des Ökonomischen  – Ökonomie der Experten« aus dem Sommersemester 2016, die vom Göttinger Graduiertenkolleg 1507 »Expertenkulturen des 12. bis 18. Jahrhunderts« organisiert wurden. Am Graduiertenkolleg erforschen seit 2009 (Nachwuchs-)Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen die symbolischen Formen und die Träger von Expertenkulturen, wie sie die okzidentalen Gesellschaften seit der Vormoderne geprägt haben. Die beiden Veranstaltungen widmeten sich der Interaktion von Experten auf Wissensmärkten sowie der Etablierung und Inszenierung von ökonomischen Experten, um die Potentiale einer kulturwissenschaftlich orientierten Wirtschaftsgeschichte auszuloten. Für die Organisation der Ringvorlesung 2014 geht ein großer Dank an Frank Rexroth, ebenso an Lukas Wolfinger, der die Tagung 2016 gemeinsam mit Philip Knäble konzipiert und organisiert hat. Beide Ver­ anstaltungen wurden freundlicherweise von der DFG unterstützt, die auch die Finanzierung des Sammelbandes übernommen hat. Wir bedanken uns bei allen Autorinnen und Autoren, die durch ihre Beiträge den vorliegenden Band ermöglicht haben. Bei der Korrektur der Beiträge haben die studentischen Hilfskräfte des Graduiertenkollegs Miriam R ­ istau, Philipp Heil und Anne-Lara Wulff tatkräftige Unterstützung geleistet. A ­ nnika Goldenbaum war so freundlich, den Beitrag von Ian Maclean ins Deutsche zu übersetzen. Unser besonderer Dank gilt dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht und hier insbesondere Kai Pätzke für die angenehme und unkomplizierte Zusammenarbeit. 

Göttingen, im März 2017



Die Herausgeber

Philip Knäble

Einleitung Im November jeden Jahres übermittelt der »Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung«, besser bekannt als die fünf »Wirtschaftsweisen«, sein Jahresgutachten an die deutsche Bundesregierung. Darin bezieht er Stellung zur aktuellen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklung und spricht makroökonomische Empfehlungen für das kommende Jahr aus. Der Sachverständigenrat, der 1963 nach dem Vorbild des amerikanischen »Council of Economic Advisors« ins Leben gerufen wurde,1 besteht laut Gesetz »aus fünf Mitgliedern, die über besondere wirtschaftswissenschaftliche Kenntnisse und volkswirtschaftliche Erfahrungen verfügen müssen.«2 Kurz: Sie sollen Wirtschaftsexperten sein. Nur wie erwerben Wirtschaftsexperten wie die Mitglieder des Sachverständigenrates die oben genannten Fertigkeiten und Kenntnisse? Spätestens seit den 1980er Jahren scheint die Qualifikation dafür recht eindeutig: Es sind Studium, Promotion und Habilitation in Volkswirtschaftslehre mit Forschungsaufenthalten an englischen und US -amerikanischen Eliteuniversitäten, ein renommierter wirtschaftswissenschaftlicher Lehrstuhl, Berufserfahrung in Bundesministerien, internationalen Großbanken und Wirtschaftsforschungsinstituten sowie Mitgliedschaften in wirtschaftsliberalen Think-Tanks und Verbänden, die es ermöglichen, Gutachten zu erstellen und Problemlösungen anzubieten, die als gesellschaftlich nützliches Wissen geschätzt und nachgefragt werden.3 Durch die Finanz- und Wirtschaftskrise sowie die steigende soziale Ungleichheit sind in den letzten Jahren jedoch Zweifel an bisher gesellschaftlich legitimierten ökonomischen Experten aufgekommen. Bekannt geworden ist vor allem der Fall der englischen Königin Elisabeth II., die 2008 anlässlich eines Besuches bei der London School of Economics die Frage stellte, warum die Öko1 Vgl. Alexander Nützenadel, Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949–1974. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 166) Göttingen 2005, S. 152–174. 2 Gesetz über die Bildung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vom 14. August 1963 in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 700–2, veröffentlichten bereinigten Fassung, zuletzt geändert durch Artikel 128 der Verordnung vom 31.  Oktober 2006 (BGBl. I S.  2407), § 1: https://www. sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/fileadmin/dateiablage/Sonstiges/Gesetz_SRW.pdf (zuletzt abgerufen am 23.02.2017). 3 Vgl. Jens Maeße, Eliteökonomen. Wissenschaft im Wandel der Gesellschaft. Wiesbaden 2015, S. 1–8, 104–114.

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Philip Knäble

nomen die Krise nicht hatten vorhersehen können. In einem Antwortbrief, der die Queen im Juli 2009 erreichte, konstatierten die führenden Ökonomen und Wirtschaftshistoriker »ein Versagen der kollektiven Vorstellungskraft vieler kluger Menschen sowohl in diesem Land als auch weltweit, die Risiken des Systems als Ganzes richtig abschätzen zu können.«4 Das Wissen der Experten, das jahrzehntelang wirtschaftliche und politische Entscheidungen legitimierte, wurde nicht mehr grundsätzlich als nützliches Sonderwissen anerkannt. Damit wurden auch ihre zentralen Definitionen von Wirtschaft oder Markt, ihr Verständnis ökonomischer Prozesse und Gesetzmäßigkeiten sowie ökonomische Institutionen und Praktiken zur Disposition gestellt. Eine seitdem häufig vorgebrachte Forderung lautet deshalb, die Ökonomie nicht allein den Ökonomen zu überlassen. Unter Ökonomen wird die alleinige Deutungshoheit ihrer Disziplin für wirtschaftliche Fragen zunehmend in Frage gestellt und für eine interdisziplinäre Öffnung zu den Sozialwissenschaften und insbesondere auch zur Geschichtswissenschaft geworben.5 So formulierte der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty in seinem 2013 erschienenen Buch »Le Capital au XXIe siècle«, das weit über seine Disziplin hinaus rezipiert wurde, eine deutliche Kritik an dem geschichtlichen Desinteresse der Ökonomie: »Sagen wir es klipp und klar: Die wirtschaftswissenschaftliche Disziplin hat ihre kindliche Vorliebe für die Mathematik und für theoretische und oftmals sehr ideologische Spekulationen nicht abgelegt, was zu Lasten der historischen Forschung und der Kooperation mit den anderen Sozialwissenschaften geht.«6

Piketty ist nicht der einzige prominente Wirtschaftswissenschaftler, der für eine stärkere Öffnung seiner Disziplin an die Geschichtswissenschaften wirbt. Neben ihm haben etwa Ha-Joon Chang und Giacomo Corneo ähnliche Forderungen erhoben. Changs Einführung in die Wirtschaftswissenschaften »Economics: The User’s Guide« enthält ein immerhin 50 Seiten zählendes Kapitel zur Wirtschaftsgeschichte und er betont immer wieder, wie wichtig es sei, wirtschaftliche Entscheidungen in ihrem jeweiligen historischen Kontext zu betrachten.7 4 Ha-Joon Chang, 23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen. München 2010, S. 325. 5 Das Beispiel für einen gegenteiligen Trend stellt die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände dar, die 2015 zeitweise den von der Bielefelder Soziologin Bettina Zurstrassen herausgegebenen Sammelband »Ökonomie und Gesellschaft« in einer Reihe der Bundeszentrale für politische Bildung stoppte, da ihr die heterodoxe Ausrichtung des Bandes und die kritische Würdigung des Lobbyismus als zu wenig wissenschaftlich erschien. Vgl. Jens Maeße/Hanno Pahl/Jan Sparsam, Die Innenwelt der Ökonomie. Zur Einführung, in: Dies. (Hg.), Die Innenwelt der Ökonomie. Wissen, Macht und Performativität in der Wirtschaftswissenschaft. Wiesbaden 2017, S. 1–30, hier 4.  6 Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert. München 2014, S. 53. 7 Vgl. Ha-Joon Chang, Economics. The User’s Guide. London 2014, S. 45–107; für eine interdisziplinäre Öffnung siehe auch Robert Skidelsky/Edward Skidelsky, How much is enough? Money and the Good Life. London 2013, S. 6, Georg Fülberth, G Strich – Kleine Geschichte

Einleitung

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Während Piketty und Chang den Schwerpunkt auf das 18. bis 20. Jahrhundert legen, begibt sich der Berliner Volkswirt Giacomo Corneo in seinem Buch »Bessere Welt. Hat der Kapitalismus ausgedient?« sogar auf eine Gedankenreise durch bisher konzipierte oder in Ansätzen erprobte Wirtschaftssysteme von Platon bis in die Gegenwart.8 Vor diesem Hintergrund möchte dieser Sammelband deshalb die Dialog­ bereitschaft der Wirtschaftswissenschaften und Wirtschaftsgeschichte aus (kultur)historischer Perspektive aufgreifen. Seine Autorinnen und Autoren nahmen den wissenssoziologischen Ansatz des Göttinger Graduiertenkollegs »Expertenkulturen des 12.  bis 18.  Jahrhunderts« als Ausgangspunkt, sich mit dem Verhältnis von Wissen und Wirtschaft in Spätmittelalter und Früher Neuzeit auseinanderzusetzen. Das Göttinger Kolleg versteht im Anschluss an die konstruktivistische Wissenssoziologie unter Experten einen sozialen Rollentypus, der mit dem Versprechen von adäquatem Wissen in Kommunikationsakten auftritt. Entscheidend für die Etablierung als Experte ist nicht in erster Linie die Frage, ob Experten tatsächlich dieses Wissen besitzen. Stattdessen stehen vielmehr die Prozesse ihrer Inszenierung als Wissensträger und die gleichzeitige soziale Anerkennung ihres Sonderwissens durch Nichtexperten im Fokus. Dabei erschöpft sich die Kompetenz von Expertenwissen nicht auf konkrete Einzelfälle, sondern wird durch die Anrufung als Experte für ähnliche Fälle des Wissensbereichs sozial verstetigt und institutionalisiert.9 Von Laien werden Experten als Repräsentanten der Institution, als das »kommunikative Außen des Institutionellen«10, wahrgenommen, die im Spannungsverhältnis von Systemvertrauen und Expertenskepsis stehen. Einerseits erleichtert das Vertrauen in Experten die Auswahl von Handlungsmodi bei den Laien, indem sie auf legitimierte und typisierte Wissensbestände und Praktiken zurückgreifen und so

des Kapitalismus. Überarbeite und erweiterte 5. Auflage Köln 2014, S. 7 f.; grundlegend dazu bereits: Geoffrey Hodgson, How Economics forgot History. The Problem of Historical Specificity in Social Science. London 2001. 8 Giacomo Corneo, Bessere Welt. Hat der Kapitalismus ausgedient? Berlin 2014. 9 Vgl. Ronald Hitzler, Wissen und Wesen der Experten. Ein Annäherungsversuch zur Einleitung, in: Ders./Anne Honer/Christoph Maeder (Hg.), Expertenwissen. Die institutionalisierte Kompetenz zur Konstruktion von Wirklichkeit. Opladen 1994, S.  13–30, hier 19; Rainer Schützeichel, Laien, Experten, Professionen, in: Ders. (Hg.), Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung. Konstanz 2007, S.  546–578, hier 549; Frank Rexroth, Systemvertrauen und Expertenskepsis. Die Utopie vom maßgeschneiderten Wissen in den Kulturen des 12.  bis 16.  Jahrhunderts, in: Björn Reich/Ders./Matthias Roick (Hg.), Wissen, maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne. (Historische Zeitschrift, Beihefte N. F. 57) München 2012, S. 12–44, hier 22; Jens Maeße, Ökonomisches Expertentum. Für eine Diskursive Politische Ökonomie der Wirtschaftswissenschaft, in: Ders./Pahl/Sparsam (Hg.), Innenwelt (wie Anm. 5), S. 251–286, hier 252. Ausführlicher zu dem Konzept des Experten auch die Beiträge von Harald Cook, Philip Knäble, Kolja Lichy, Tim Neu und Tanja Skambraks in diesem Band. 10 Sebastian Dümling, Träume der Einfachheit. Gesellschaftsbeobachtungen in den Reformschriften des 15. Jahrhunderts. (Historische Studien, 511) Husum 2017, S. 41.

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Philip Knäble

mit Kontingenz abmildern können. Da bestimmte Fähigkeiten, Denkstile und Wissensbereiche von der Alltagswelt des Einzelnen entkoppelt und an Experten delegiert werden, wächst zugleich der Bedarf an Orientierungswissen, welche Expertengruppe für welche Bereiche zuständig ist. Andererseits führt die Abhängigkeit vom Sonderwissen der Experten auf Seiten der Laien zu Unbehagen und Ängsten vor Handlungs- und Deutungsverlust, die in Kritik an einzelnen Experten und Expertengruppen als Repräsentanten der Institution bis hin zu Utopien einer Welt ohne Experten münden können.11 Gesellschaften, in denen eine Ausdifferenzierung der Wissensbestände institutionalisierte Kommunikationssituationen zwischen Laien und Experten und den damit verbundenen produktiven Antagonismus zwischen Systemvertrauen und Expertenskepsis hervorgebracht haben, können als Expertenkulturen bezeichnet werden. In Europa lässt sich die Herausbildung von Expertenkulturen seit dem 12. Jahrhundert durch die Wissensdifferenzierung in der Klerikerkirche, die Entstehung von höfischem Sonderwissen, dem Aufkommen von handwerklichen, merkantilen und technischen Wissensbereichen in den Städten und die Gründung von Universitäten beobachten, deren Dynamiken das Graduiertenkolleg vom 12. Jahrhundert bis zum Ende der Frühen Neuzeit untersucht.12

Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte Als Hartmut Berghoff und Jakob Vogel 2004 den Sammelband »Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte«13 vorlegten, bedauerten sie ein weitgehendes Desinteresse der Kulturgeschichte an ökonomischen Fragestellungen. Die lange Vernachlässigung von wirtschaftlichen Themen in der Kulturgeschichte lag unter anderem an der Abgrenzung von der bis dahin dominierenden Sozialgeschichte, welche die Wirtschaftsstruktur als ein wesentliches Kriterium von Gesellschaftsbildung ansah. So gelang es der Kulturgeschichte bisher vernachlässigte Themenbereiche, etwa in den Bereichen der Geschlechtergeschichte, der Alltagsgeschichte oder der Historischen Anthropologie, zu erschließen und neue Methoden aufzuzeigen, allerdings auf Kosten einer partiellen Ausblendung ökonomischer Faktoren.14 Mittlerweile scheint die »Entökonomisierung« 11 Vgl. ebd. S. 41 f. 12 Vgl. Rexroth, Systemvertrauen (wie Anm. 9), S. 26–33. 13 Zu dem Band als Referenzwerk für die heutige Forschung vgl. Inga Klein/Sonja Windmüller, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Kultur der Ökonomie. Zur Materialität und Performanz des Wirtschaftlichen. Bielefeld 2014, S. 7–16, hier 9 f. 14 Vgl. Hartmut Berghoff/Jakob Vogel, Einleitung. Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Ansätze zur Bergung transdisziplinärer Synergiepotentiale, in: Dies. (Hg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels. Frankfurt am Main 2004, S. 9–42, hier 11–14; Susanne Hilger/Achim Landwehr, Zur Einführung. Wirtschaft – Kultur – Geschichte. Stationen einer Annäherung, in: Dies. (Hg.), Wirtschaft – Kultur – Geschichte. Positionen und Perspektiven. Stuttgart 2011, S. 7–26, hier 8 f.

Einleitung

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der Kulturgeschichte allerdings gestoppt, zeichnet sich von kulturgeschichtlicher Seite in den letzten Jahren doch ein verstärktes Interesse an ökonomischen Fragestellungen ab,15 so dass aktuell sogar von einer »Renaissance der Wirtschaftsgeschichte«16 oder gar einem »economic turn«17 gesprochen wird. Auch in der Spätmittelalter- und Frühneuzeitforschung wird  – auch jenseits der wenigen Lehrstühle für Wirtschaftsgeschichte – zu Themen wie Kredit und Konsum, Ressourcenverteilung und Schulden oder Affekten, Begehren und Hoffnungen als Bestandteilen von wirtschaftlichen Entscheidungen geforscht.18 Gerade die zuvor von Berghoff und Vogel konstatierten Forschungslücken in den Bereichen »Ökonomisierung« und »Globalisierung«19 sind in den letzten Jahren vermehrt zum Gegenstand kulturgeschichtlicher Arbeiten geworden.20 Dennoch bleibt die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Kulturgeschichte und Wirtschaftsgeschichte beziehungsweise Wirtschaftswissenschaften weiter von offenen Fragen über Methoden und Gegenstandsbereiche geprägt. Chris15 Für eine kritische Reflexion der kulturgeschichtlichen Forschung vgl. Berghoff/Vogel, Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 14), S. 9–18; Hilger/Landwehr, Wirtschaft (wie Anm. 14), S. 7–10; Tim Neu, Symbolische Kommunikation und wirtschaftliches Handeln. Theoretische Perspektiven, in: Barbara Stollberg-Rilinger/Ders./Christina Brauner (Hg.), ­A lles nur symbolisch? Bilanz und Perspektiven der Erforschung symbolischer Kommunikation. (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne) Köln 2013, S. 401–418, hier 401 f.; Christoph Dejung/Monika Dommann/Daniel Speich Chassé, Einleitung: Vom Suchen und Finden, in: Dies. (Hg.), Auf der Suche nach der Ökonomie. Historische Annäherungen, Tübingen 2014, S. 1–15, hier 6–10. 16 Thomas David/Tobias Straumann/Simon Teuscher, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Neue Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte. (Schweizerisches Jahrbuch für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 30) Zürich 2015, S. 7–12, hier 7. 17 Vgl. Margareth Lanzinger/Sandra Maß/Claudia Opitz-Belakhal, Ökonomien. Editorial, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 27,1, 2016, S. 9–14, hier 9–11. 18 Vgl. nur die deutschsprachigen Sammelbände aus den letzten Jahren: Gabriela Signori (Hg.), Prekäre Ökonomien. Konstanz 2014; Mark Häberlein/Michaela Schmölz-Häberlein (Hg.), Handel, Händler und Märkte in Bamberg, Akteure, Strukturen und Entwicklungen in einer vormodernen Residenzstadt (1300–1800). Würzburg 2015; Gabriele Jancke/ Daniel Schläppi (Hg.), Die Ökonomie sozialer Beziehungen. Ressourcenbewirtschaftung als Geben, Nehmen, Investieren, Verschwenden, Haushalten, Horten, Vererben, Schulden. Stuttgart 2015; P ­ etra Schulte (Hg.), Reichtum im späten Mittelalter. Politische Theorie, ethische Norm, soziale Akzeptanz. Stuttgart 2015; Kurt Andermann/Gerhard Fouquet (Hg.), Zins und Gült. Strukturen des ländlichen Kreditwesens in Spätmittelalter und Frühneuzeit. Epfen­dorf 2016; Elizabeth Harding (Hg.), Kalkulierte Gelehrsamkeit. Zur Ökonomisierung der Universitäten im 18. Jahrhundert. Wiesbaden 2016; Sandra Richter/ Guillaume Garner (Hg.), ›Eigennutz‹ und ›gute Ordnung‹. Ökonomisierungen der Welt im 17. Jahrhundert. (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, 54) Wiesbaden 2016. 19 Vgl. Berghoff/Vogel, Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 14), S. 12. 20 Vgl. Richter/Garner, Eigennutz (wie Anm.  18); Harding, Gelehrsamkeit (wie Anm.  18); Michael Borgolte/Nikolas Jaspert (Hg.), Maritimes Mittelalter. Meere als Kommunika­ tionsräume. Ostfildern 2016; Eberhard Crailsheim, The Spanish Connection. French and Flemish Merchant Networks in Seville (1570–1650). Köln 2016.

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Philip Knäble

toph Dejung, Monika Dommann und Daniel Speich Chassé benennen in der Einleitung des Bandes »Auf der Suche nach der Ökonomie« die beiden Pole, zwischen denen sich kulturwissenschaftliche Analysen der Wirtschaft beziehungsweise ökonomische Herangehensweisen, die Kultur nicht als exogenen Faktor ausklammern, bewegen. Orientiere man sich zu stark an der ökonomischen Theorie, drohe man, unreflektiert dem ökonomischen Mainstream zu folgen und Kultur damit lediglich zum Anhängsel zu degradieren. Ein zu umfassender Kulturbegriff berge auf der anderen Seite die Gefahr, das Spezifische der Wirtschaft zu verwischen.21 Einen Ansatz, der beiden Seiten Rechnung zu tragen versucht, hat der Frankfurter Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe in den letzten Jahren vorgelegt. Er schlägt vor, Wirtschaft als einen »koevolutive[n] Komplex aus Semantiken, Institutionen und Praktiken« zu fassen, »die erst gemeinsam das ermöglichen, was wir abstrahierend als Wirtschaft ansehen.«22 Er beanstandet, dass wirtschaftlicher Wandel bisher weitgehend durch externe Schocks, technologischen Wandel oder die Beschränkung auf eine oder zwei der drei Ebenen erklärt worden sei, ohne aber ihr Zusammenspiel genauer zu betrachten. So kritisiert er zum einen wirtschaftswissenschaftliche Ansätze, die Institutionen allein mit ökonomischer Theorie erklären wollen, zum anderen aber auch kulturwissenschaftliche Klassiker wie Max Weber, der zwar die semantische und zum Teil auch die institutionelle Ebene in den Blick nahm, aber die Alltagspraktiken durch die Auswahl seines Quellenkorpus ausblendete.23 Erst die Wechselwirkungen von Semantiken, Institutionen und Praktiken erlauben es aber, historische Figurationen von Ökonomie und ihre Veränderungen zu beschreiben. Der Göttinger Frühneuzeithistoriker Tim Neu hat vorgeschlagen, »Plumpes Modell wirtschaftlichen Wandels durch einen symboltheoretischen Ansatz zu erweitern.«24 Er sieht deutliche Parallelen zwischen dem wirtschaftshistorischen Ansatz und den Forschungen zur symbolischen Kommunikation, die sich mit den Berührungspunkten von rituellen Praktiken und Semantiken sowie ihren Verdichtungen in Institutionen befassen. Da wirtschaftliches Handeln zugleich auch immer an die Wahrnehmungen, Bedeutungszuschreibungen und sinnhaften Einordnungen in die Kosmologie der Akteure gebunden ist, stellen die kul21 Vgl. Dejung/Dommann/Speich Chassé, Einleitung (wie Anm. 15) S. 9 f.; vgl. zu ähnlichen Überlegungen in den Bereichen der Wirtschaftsethnologie und Religionsökonomie Hans Hahn, Notizen zur Umwertung der Werte. Perspektiven auf ökonomische Konzepte im interdisziplinären Diskurs, in: Klein/Windmüller (Hg.), Kultur (wie Anm. 13), S. 17–36, hier 23–26; Anne Koch, Religionsökonomie. Eine Einführung. Stuttgart 2014, S. 16–59. 22 Werner Plumpe, Ökonomisches Denken und wirtschaftliche Entwicklung. Zum Zusammenhang von Wirtschaftsgeschichte und historischer Semantik von Ökonomie, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 50,1, 2009, S. 27–51, hier 29. 23 Vgl. ebd., S. 39. Zur Kritik an Weber siehe: Hartmut Lehmann, Max Webers »Protestantische Ethik«. Beiträge aus der Sicht eines Historikers. Göttingen 1996, S. 14–21. 24 Neu, Symbolische Kommunikation (wie Anm. 15), S. 417.

Einleitung

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turwissenschaftlichen Forschungen Ansätze bereit, Schwachstellen der ökonomischen Theoriebildung auszugleichen und wirtschaftlichen Wandel auch über Sinngenerierung und Symbolisierungen zu erklären.25 Insofern erscheint es vielversprechend, Knappheit und Sinnstiftung als Grundkonzepte von Ökonomie und Kulturgeschichte produktiv aufeinander zu beziehen, um die soziale Konstruktion von Knappheit wie auch die materiellen Bedingungen sozialer Praktiken in ihren Arrangements zu analysieren.26 Derartige Ansätze ermöglichen es, die Diskussionen um das Verhältnis von Materialität und Kultur sowie Praxis und Struktur einer praxeologisch ausgerichteten Soziologie und Geschichtswissenschaft aufzunehmen.27 Die in diesem Band versammelten Aufsätze greifen diese Neuausrichtung der Wirtschaftskulturgeschichte insofern auf, als sie wissens- und kulturhistorische Ansätze auf die spezifischen spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Figurationen von Angebot und Nachfrage, Produktion und Transfer, Vertrauen und Risiko am Beispiel der Expertenkulturen anwenden.28 Der Schwerpunkt liegt auf empirischen Fallstudien, welche die vielfältigen Verbindungen von praktischem und theoretischem Wissen nachzeichnen und auch Akteursgruppen beleuchten, die bisher wenig von der wirtschaftsgeschichtlichen Forschung betrachtet wurden. Unser Anliegen ist damit beizutragen, Heuristiken einer vielfach eingeforderten kulturwissenschaftlichen Wirtschaftsgeschichte auszuloten, um Begriffe wie Wirtschaft und Markt zu historisieren und eine bessere Modellierung vormoderner Ökonomien zu erreichen.29 Durch die Perspektive der longue durée ermöglicht der Band Einblicke in die Genese wirtschaftswis25 Vgl. ebd., S. 414–418; dazu bereits Berghoff/Vogel, Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 14), S. 18–24. 26 Vgl. dazu auch die Programmatik des Frankfurter SFBs 1095 »Schwächediskurse und Ressourcenregime«: http://www.geschichte.uni-frankfurt.de/53831812/SFB1095 (letzter Zugriff am 22.02.2017). 27 Vgl. Andreas Reckwitz, Die Materialisierung der Kultur, in: Friederike Elias u. a. (Hg.), Praxeologie. Beiträge zur interdisziplinären Reichweite praxistheoretischer Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften. (Materiale Textkulturen. Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 933) Berlin 2014, S. 13–25; Tim Neu, Koordination und Kalkül. Die Économie des conventions und die Geschichtswissenschaft, in: Historische Anthropologie 23, 2015, S. 129–147; Marian Füssel, Praktiken historisieren. Geschichtswissenschaft und Praxistheorie im Dialog, in: Anna Daniel/Frank Hillebrandt/Franka Schäfer (Hg.), Methoden einer Soziologie der Praxis. Bielefeld 2015, S. 267–287. 28 Die Historische Schule der Nationalökonomie spricht hierbei von »Wirtschaftssystemen« oder »Wirtschaftsstilen«, für ein Fruchtbarmachen dieser Begriffe in der Wirtschafts­ geschichte vgl. Plumpe, Ökonomisches Denken (wie Anm. 22), S. 29, 51, Bertram ­Schefold (Hg.), Wirtschaftssysteme im historischen Vergleich. Stuttgart 2004, Peter ­Hersche, Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter, Bd. 1. Freiburg 2006, S. 442–455. 29 Vgl. dazu die Programmatik der von der DFG 2015 bzw. 2016 bewilligten Netzwerke »Kalkulieren, Handeln, Wahrnehmen. Für eine neue Methodik der spätmittelalterlichen Wirtschaftsgeschichte« und »Das Versprechen der Märkte. Neue Perspektiven auf die Wirtschaftskulturgeschichte der Frühen Neuzeit«.

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Philip Knäble

senschaftlicher Semantiken und ökonomischer Praktiken einer ­Umbruchszeit, in der wesentliche Weichen gestellt wurden für die Ausdifferenzierung von Wirtschaft als eigenständigem System, die für die moderne kapitalistische Wirtschaft als charakteristisch betrachtet wird. Dadurch soll zum einen die in den letzten Jahren allzu oft verlorengegangene Anschlussfähigkeit einer ökonomisch »unmusikalisch« gewordenen Geschichtswissenschaft an aktuelle wirtschaftliche Themen und Diskurse zurückgewonnen werden. Zum anderen sollen auch weitere Möglichkeiten der interdisziplinären Zusammenarbeit mit anderen Geistes- und Sozialwissenschaften wie Wirtschaftsgeschichte, Religionswissenschaft, Soziologie oder Kritischer Ökonomie erprobt und aufgezeigt werden.

Wissensmärkte & Wirtschaftsexperten Die Bedeutung von Wissen scheint in der post-industriellen »Wissensgesellschaft« ungebrochen zu wachsen. Gerade für die Wirtschaft ist die Wichtigkeit des Produktionsfaktors Wissen mit Begriffen wie »Wissensökonomie«, »Innovationsökonomie« oder »kognitiver Kapitalismus« etikettiert worden. Wissen und Nichtwissen zählen in einer Wirtschaftsform, bei der nicht mehr Rohstoffe und Fertigwaren, sondern wissensintensive und kreative Tätigkeiten wie Beratung und Benchmarking, IT- und Finanzdienstleistungen die größten Gewinne versprechen, zu den entscheidenden Garanten für Erfolg und Misserfolg. So hat der »Wettbewerb um die besten Köpfe«, den Unternehmen, Massenmedien und Wissenschaft ausgerufen haben, einen eigenen Berufszweig von »Headhuntern« für einen Markt gut ausgebildeter Beschäftigter hervorgebracht, die Branchen oder ganze Volkswirtschaften vor einem »Brain-Drain« bewahren sollen.30 »Wissen im Allgemeinen und Expertise als systematisiertes und organisiertes Wissen im Besonderen«31, so Helmut Willke, seien die Triebfeder der Gegenwartsgesellschaft und – so könnte man ergänzen – ihrer Wirtschaft. Der Begriff der Wissensgesellschaft und die Verbindung von Wissen und Markt ist verstärkt nicht nur für die Gegenwart, sondern auch für frühere Epochen reklamiert worden, prominent etwa von Peter Burke für die Frühe Neuzeit

30 Vgl. Hanno Pahl/Lars Meyer, Kognitiver Kapitalismus. Forschungsfelder und theoretische Zugänge, in: Dies. (Hg.), Kognitiver Kapitalismus. Soziologische Beiträge zur Theorie der Wissensökonomie. Marburg 2007, S. 7–24, hier 8–12; Manfred Moldaschl/Nico Stehr, Eine kurze Geschichte der Wissensökonomie, in: Dies. (Hg.), Wissensökonomie und Innovation. Beiträge zur Ökonomie der Wissensgesellschaft. Marburg 2010, S. 9–74, hier 9–25; Marian Füssel, Die Ökonomie der Gelehrtenrepublik. Moral – Markt – Wissen, in:­ Richter/Garner (Hg.), Eigennutz (wie Anm. 18), S. 301–322, hier 302. 31 Helmut Willke, Wissensgesellschaft. Kollektive Intelligenz und die Konturen eines kognitiven Kapitalismus, in: Pahl/Meyer (Hg.), Kognitiver Kapitalismus (wie Anm.  30), S. 195–221, hier 195.

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als »Geburt der Wissensgesellschaft.«32 Die häufig vorgebrachten Protagonisten der neuen Wissensgesellschaft, die bahnbrechenden Erfinder, Künstler und Wissenschaftler – darauf hat Frank Rexroth aufmerksam gemacht – bilden jedoch nur einen Teil einer veränderten Wissenskultur, die sich seit dem Spätmittelalter durchsetzt. Die zu dieser Zeit einsetzenden Transformationsprozesse in Kirche, Hof, Stadt und Universität gingen mit einer Spezialisierung von Wissen einher, bei der bestimmten Institutionen und ihren Repräsentanten, den Experten, spezifische Aufgabenbereiche von der Gesellschaft zugesprochen wurden.33 Experten stellten somit auch eine der wichtigsten Figuren auf Wissensmärkten dar, die beispielsweise Wissen über die Meisterung konkreter Lebensaufgaben und die Bewältigung von Krisen und Gefahren dem potentiellen Patienten, Klienten oder schlicht dem Laien anboten.34 Der Markt, auf dem die Verfügbarkeit spezialisierter Wissensbestände verhandelt wird, ist daher der Ort, an dem Laien und Experten die jeweiligen Rollen des Käufers und Verkäufers einnehmen und um das angebotene Wissen werben, konkurrieren und feilschen. Die Angebote reichen von gelehrter Beratung, die sich mit dem Anstieg der Universitätsbesucher und der konkurrenzverschärften Graduierungspraxis seit etwa 1400 einstellt, bis hin zu medizinischen Heilungsverheißungen, die durch die Konkurrenz zwischen gelehrten und ungelehrten Ärzten beflügelt werden.35 Die von Polanyi unterstellte starre Trennung einer eingebetteten Wirtschaft der Vormoderne und einer entbetteten Moderne ist mittlerweile von der Forschung widerlegt worden. Stattdessen sind sowohl die Einbettung von Märkten in soziokulturelle Praktiken für die Moderne als auch Bereiche weitgehend selbstregulierter Märkte, bei denen Gewinnerwartungen den Austausch knapper Ressourcen koordinierten, für das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit herausgestellt worden.36 Die Ökonomisierungstendenzen im 17.  und 18.  Jahr32 So vor allem in der deutschen Übersetzung von Peter Burkes »A Social History of Knowledge« als Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft. Berlin 2001; in ähnlicher Stoßrichtung: Richard van Dülmen/Sina Rauschenbach (Hg.), Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Köln 2004; für das 18. Jahrhundert Margaret C. Jacob, The First Knowledge Economy. Human Capital and the European Economy, 1750–1850. Los Angeles 2014. 33 Vgl. Rexroth, Systemvertrauen (wie Anm. 9), S. 18–20. 34 Vgl. Eric Ash, Introduction. Expertise and the Early Modern State, in: Osiris 25,1 (2010), S. 1–24, hier: 6–15; für die Gegenwartsgesellschaft Ruben Pfizenmaier u. a. (Hg.), Auf dem Markt der Experten. Zwischen Überforderung und Vielfalt. Frankfurt am Main 2016. 35 Vgl. Antrag auf Fortsetzung des Graduiertenkollegs Expertenkulturen des 12. bis 18. Jahrhunderts, Göttingen 2012, S. 19 f.; zum medizinischen Markt siehe Jana Schütte, Medizin im Konflikt. Fakultäten, Märkte und Experten in deutschen Universitätsstädten des 14. bis 16. Jahrhunderts. (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance, 53) Leiden 2017. 36 Vgl. Craig Muldrew, Zur Anthropologie des Kapitalismus. Kredit, Vertrauen, Tausch und die Geschichte des Marktes in England 1500–1750, in: Historische Anthropologie 6, 1998, S. 167–199; Josef Ehmer/Reinhold Reith, Märkte im vorindustriellen Europa, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 2004,2, S. 9–25, hier 12–14.

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hundert haben so nicht zu einem Verdrängen bisheriger Austausch- und Bewertungsarten von Wissen geführt, sondern, wie etwa das Beispiel der Universitäten zeigt, zu einer Koexistenz verschiedener Formen.37 Die Koexistenz und Überschneidungen von Diskursen und Praktiken gelten nicht nur für den Wissensmarkt, sondern auch für Wirtschaftsexperten. Für den Soziologen Jens Maeße lassen sich gegenwärtige Wirtschaftsexperten nämlich nicht auf ihre Position im ökonomischen Feld reduzieren, sondern vielmehr »als hybride Existenzen an der Schnittstelle von Wissenschaft, Wirtschaft, Medien und Politik«38 beschreiben. Auch für das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit scheint eine Verengung auf einen ökonomischen Kernbereich wenig sinnvoll, zumal ein ausdifferenziertes Subsystem Wirtschaft noch nicht existierte. Der Handel von Waren und Dienstleistungen auf Märkten stellte nur eine Form des Austausches unter anderen dar, denn vielfach sorgten Geschenke und Tribute, gewaltsame Enteignung und Sklaverei, Lotterien und Versteigerungen in Anbindung an und jenseits von Märkte(n) für Ressourcenflüsse, Wissensdistribution und die (De)Stabilisierung sozialer Beziehungen. Insofern gewannen vormoderne Wirtschaftsexperten ihre Stellung in sozialen Interaktionen; ihr Expertenstatus war eng mit ihrer gesellschaftlichen Anerkennung verbunden. Ökonomischer Erfolg oder Misserfolg war nur ein Kriterium unter vielen für die Bestimmung der sozialen Stellung, die durch Ständeordnungen, Patronagebeziehungen, Ehrkonzepte, Geschlechterhierarchien oder die Orientierung an religiösen Normen beeinflusst wurde. Die Wechselwirkungen von religiösen Normvorstellungen und wirtschaftlicher Entwicklung etwa gehören dabei durch die Forschungen von Max ­Weber zu den bekanntesten, aber auch umstrittensten Beispielen der vormodernen Wirtschaftsgeschichte.39 Das Themenfeld faszinierte zu Beginn des 20.  Jahrhunderts aber nicht nur Weber, sondern spielte auch bei seinen Kollegen Ernst Troeltsch und Werner Sombart40 sowie den »Gründervätern« der Wirtschaftsethnologie, Marcel Mauss (1872–1950) und Bernhard Laum (1884–1974), eine wichtige Rolle.41 In der Mediävistik ist für das Stiftungswesen und die Verwaltung von Kirchen und Klöstern der enge Kontakt zwischen Klerikern und Kaufleuten beleuchtet worden. Ebenso sind auch in der Frühneuzeitforschung die 37 Vgl. Füssel, Ökonomie (wie Anm. 30), S. 321. 38 Maeße, Ökonomisches Expertentum (wie Anm. 9), S. 252. 39 Vgl. Max Weber, Die Protestantische Ethik und der »Geist« des Kapitalismus, in: Wolfgang Schluchter (Hg.), Asketischer Protestantismus und Kapitalismus. Schriften und Reden 1904–1911. Tübingen 2014, S. 97–425. 40 Vgl. dazu Philip Knäble, Caritas vs. Askese. Die scholastische Wirtschaftslehre als Retter des »wahren echten Kapitalismus«, in: Trajectoires 10, 2016, https://trajectoires.revues. org/2059 (letzter Zugriff am 20.02.2017). 41 Vgl. Hahn, Notizen (wie Anm. 21), S. 24, beide Werke sind durch Neuauflagen verstärkt rezipiert worden: Bernhard Laum, Heiliges Geld. Eine historische Untersuchung über den sakralen Ursprung des Geldes. Berlin ²2006; Marcel Mauss, Schriften zum Geld, hrsg. von Hans Peter Hahn/Mario Schmidt/Emanuel Seitz. Berlin 2015.

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wirtschaftlichen Implikationen der Reformation und das wirtschaftliche Wissen der Reformatoren betont worden.42 Dennoch bleiben geistliche Wirtschaftsexperten in der Forschung in erster Linie Teil  »›gescheiterter‹ ökonomischer Vorstellungen und Modelle«43. Sie scheinen in der Selbstbeschreibung der westlichen Moderne als Erfolgsgeschichte eines sich von kirchlichen und obrigkeitlichen Zwängen befreienden kaufmännischen Bürgertums, nur schwer einen Platz zu finden. Von kirchlicher Seite gab es ebenso wenig Anlass, die wirtschaftliche Verflechtung herauszustreichen, stellt die Leugnung von ökonomischen Interessen – wie Bourdieu gezeigt hat – doch eine wesentliche Strategie im religiösen Feld dar.44 Die Autorinnen und Autoren des Bandes widmen sich deshalb auch der Frage, in welchen Kontexten und unter welchen Bedingungen ökonomische Experten sich vorrangig gerierten oder definierten. Schlossen dominante Positionen im religiösen oder höfischen Feld eine Selbstdarstellung oder soziale Anerkennung als Wirtschaftsexperte aus? Inwiefern und mit welchen Strategien inszenierten sich Wirtschaftsexperten als Träger eines gesellschaftlich relevanten Sonderwissens? Benötigten Wirtschaftsexperten eher theoretisches oder praktisches Wissen, eher explizites oder implizites Wissen über Wirtschaftsabläufe? Die Beiträge befassen sich mit den Fragen in den drei Themenblöcken Vertrauen & Risiko, Produktion & Transfer und Angebot & Nachfrage, die wirtschaftswissenschaftliche Grundbegriffe aufgreifen. Anstatt aber eine kurze, scheinbar zeitlose, Definition der Begriffe vorauszusetzen, werben die Aufsätze für ihre Historisierung und zeigen Aneignungsformen in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften auf.45

42 Vgl. etwa Antjekathrin Graßmann (Hg.), Der Kaufmann und der liebe Gott. Zu Kommerz und Kirche in Mittelalter und Früher Neuzeit. (Hansische Studien, 58) Trier 2009;­ Laurence Fontaine, Le marché. Paris 2014, S.  15–47; Thomas Kaufmann, Wirtschaftsund sozialethische Vorstellungen und Praktiken in der Frühzeit der Reformation, in: Dorothea Wendebourg/Alec Ryrie(Hg.), Sister Reformations II /Schwesterreformationen II . Reformation and Ethics in Germany and in England/Reformation und Ethik in Deutschland und in England. Tübingen 2014, S. 325–355; Philipp Rössner, Luther – ein tüchtiger Ökonom? Über die monetären Ursprünge der Deutschen Reformation, in: Zeitschrift für historische Forschung 42, 2015, S. 37–74. 43 Klein/Windmüller, Einleitung (wie Anm. 13), S. 9. 44 Pierre Bourdieu, Religion. Schriften zur Kultursoziologie Bd. 5, hrsg. von Franz Schultheis/ Stephan Egger. Konstanz 2009, S.  231–242; die Zusammenhänge aufzeigend: Albrecht Burkardt (Hg.), L’Économie des dévotions. Commerce, croyances et objets de piété à l’époque moderne. Rennes 2016. 45 Vgl. dazu Martha Howell, Commerce before Capitalism in Europe, 1300–1600. Cambridge 2010, S. 1–18.

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Vertrauen & Risiko Das Spannungsverhältnis von Vertrauen und Risiko kann als Grundkonstante wirtschaftlicher oder allgemeiner sozialer Beziehungen betrachtet werden. Wem oder was aber Vertrauen geschenkt wurde, ob Risiko als Gefahr oder Chance angesehen und wie damit umgegangen wurde, das zeigen die Beiträge, war historisch variabel.46 Der produktive Antagonismus von Systemvertrauen und Expertenskepsis ist der theoretische Referenzrahmen für den Beitrag von Tim Neu, der sich mit der Abdankung des englischen Schatzmeisters Sidney Godolphin 1710 im Rahmen der Debatten um den »public credit« befasst.47 Während die Godolphin nahen Whigs den Erfolg des Finanzierungssystems an die Person des Schatzmeisters banden, Vertrauen in den Experten setzten und das System des Kredits als fragil ansahen, propagierten die oppositionellen Tories, dass die Expertise des Schatzmeisters unerheblich sei, da allein das politische System als Verhältnis von Königen und Regierung den Erfolg des »public credit« ausmachte. Die Tories stellten also Vertrauen in das System her und übten Kritik an dem Experten. Die Hinwendung zum Systemvertrauen im Fall des »public credit« sei jedoch nicht in erster Linie durch Ausdifferenzierungsprozesse einer beginnenden Moderne zu erklären, sondern, wie Neu mit Bezug auf die Économie des Conventions argumentiert, als »Assoziation verschiedener Elemente« durch Effekte von Diskursen und Praktiken. Ein Vertrauensvorschub durch das Fehlen von vollständigen und transparenten Informationen bildet den Auftakt für den Aufsatz von Benjamin ­Scheller, in dem er den Fall eines italienischen Kaufmanns schildert, der sich unwissender Weise an der Versicherung eines bereits gesunkenen Schiffes beteiligt. In seinem Beitrag zeichnet er die Praktiken der wichtigsten Akteure der spätmittelalterlichen Seeversicherung, der Kaufleute und Makler, bei dem Versuch, Risiken kalkulierbar zu machen, nach. Grundlage dafür war ein die wichtigsten Handelsplätze umspannendes Boten- und Kommunikationssystem, das über mündliche Mitteilungen und vor allem Briefe, Informationen über Unwetter, Piraterie und Kriege bereitstellte. Das möglichst genaue Wissen über potentielle Gefahren setzten die Akteure ein, um auf dem Markt für Seeversicherungen Preise für Versicherungsprämien zu bestimmen und bereits ausgelaufene Schiffe nachzu46 Vgl. Tina Asmussen/Stefano Condorelli/Daniel Krämer, Risiko! Editorial, in: Traverse 3, 2014, S. 14–19. 47 Für die Zusammenfassungen der Beiträge von Tim Neu, Heinrich Lang, Tanja Skambraks, Kolja Lichy, Gion Wallmeyer, Colin Arnaud und Miriam Müller wird auf den Tagungs­ bericht von Inga Schürmann und Alexander Winnefeld zurückgegriffen: http://www.hsoz kult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6863?title=experten-des-oekonomischenoekonomie-der-experten-wirtschaftliche-praktiken-und-expertenkulturen-in-dervormoderne-12-bis-18-jahrhundert&recno=35&page=2&q=&sort=&fq=&total=6653 (letzter Zugriff am 20.02.2017).

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versichern. Insbesondere das praktische Wissen, das sie durch neue Techniken der Buchführung erwarben, ermöglichte den Kaufleuten, eine spezifische Risikoexpertise zu entwickeln. Gegenüber der genauen Kalkulierbarkeit von Risiken zeichnete sich die Praxis des Projektemachens gerade durch ihre Risikobereitschaft in der Offenheit von technischer Machbarkeit und Finanzierung aus. Im Zentrum der Projekte steht, wie Eva Brugger mit Bezug auf Werner Sombart in ihrem Beitrag vorstellt, das Versprechen von etwas Neuem, noch nie dagewesenen. Am Beispiel der nordamerikanischen Kolonie New Netherland zeigt sie, dass sich die frühneuzeitlichen Expansionsbestrebungen der europäischen Mächte insofern auch als Projekte untersuchen lassen. Für die Besiedlung der Kolonie und ihre Finanzierung lockte das Versprechen unvorstellbar großer Pelzvorkommen, das das Begehren der Siedler und Investoren weckte und mit einem Vertrauensvorschub die Gewinnerwartung zunächst in die Ferne rücken ließ. Die Frage nach Vertrauensgewinnen durch Praktiken des Bewertens auf frühneuzeitlichen Märkten und Messen ist das Thema von Harald Cooks Beitrag. Das Überprüfen von Waren durch Maße und Gewichte und der Umgang mit standardisierten Münzen wie dem Gulden im europäischen Wirtschaftszentrum Amsterdam im 17. Jahrhundert, so seine These, hätten Praktiken hervorgebracht, die auch in der zeitgleich entstehenden Naturwissenschaft Anwendung fanden. An die Stelle von persönlichen Kreditbeziehungen traten nun neue Verfahren der Wertmessung, die in Münzen objektiviert und durch Institutionen wie Börsen und Münzmeister kontrolliert und legitimiert wurden. Diese Formen von Messbarkeit und Standardisierung kennzeichneten auch die Praktiken in den Naturwissenschaften, die durch das Gewinnen und die Demonstration von Wissen mit und an Objekten sowie Berichten und genauen Zeugendokumentationen eine neue Wissenschaftlichkeit beanspruchten. Bei der Bewertung von kaufmännischen Praktiken durch die spätmittelalterlichen Scholastiker stellte die Frage nach dem Risiko der Geschäfte ein zen­ trales Kriterium dar. Während Wucher als risikoloser Gewinn ohne eigene Arbeit verdammt wurde, konnte der Fernhandel wegen der Anstrengungen der Kaufleute und ihren Verlustrisiken als gemeinnützig etikettiert werden. Für die Bewertung von Handelspraktiken in Predigt und Seelsorge entwickelten gerade die Bettelorden ein umfangreiches ökonomisches Wissen, wie der Beitrag von Philip Knäble anhand der Franziskaner Petrus Olivi und Bernardin von Siena sowie des Dominikaners Antoninus von Florenz zeigt. In strittigen Fällen komplexer Kredit- und Wechselgeschäfte griffen etwa die spanischen Kaufleute in Antwerpen bei ihrer Anfrage an die Theologen der Pariser Sorbonne auf das Wissen der Geistlichen zurück. Sie nahmen bei der Begründung ihrer Gewinne die Argumentation vom 5. Laterankonzil (1512–1517) auf, indem sie auf die Gemeinnützigkeit des Handels und das große Risiko ihrer Geschäfte hinwiesen.

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Produktion & Transfer Das Begriffspaar Produktion und Transfer verweist auf die Tatsache, dass Wissensbestände ebenso wie Wissensakteure Gegenstand von zahlreichen Praktiken der Zirkulation wie der produktiven Aneignung waren. ­Expertenkulturen waren weder statisch noch einfach gegeben, sondern das Produkt sozialer Praxis. Wissen, Expertise und Kompetenzen überwanden soziale wie räumliche Grenzen und konnten im gleichen Moment neue soziale wie epistemische Grenzziehungen vornehmen. Mit dem Fokus auf süddeutsche und Florentiner Kaufmannbankiers des 15. und 16. Jahrhunderts widmet sich Heinrich Lang der Frage, wie ökonomisches Wissen in den merkantilen Praktikengemeinschaften (communities of practice) hervorgebracht und transferiert wird. Die Ausbildung von Kaufleuten erfolgte in den Kontoren der wichtigsten Handelszentren, wo sie Buchführung und Fremdsprachenkenntnisse erlernten und sich so auch einen »ökonomischen Habitus« aneigneten. Beide Formen, der Wissenserwerb und die Gemeinschaftsbildung, blieben auch nach der Ausbildung über das Kommunikationsmedium des Geschäftsbriefs bestehen, in dem aktuelle Informationen sowie Vertrauensbekundungen in reziproken Abhängigkeitsverhältnissen weitergegeben wurden. Die soziale Anerkennung als wirtschaftliche Experten erhielten die Kaufleute vor allem durch den Transfer von Wissen des merkantilen Milieus in den Bereich der Herrscherfinanzen, wo sie als Träger dieses Wissens im 16.  Jahrhundert eingesetzt wurden. Allerdings zeigten sich hierbei auch Grenzen der Übertragbarkeit von Wissen in andere Praktikengemeinschaften, die in andere Kommunikationsformen und epistemische Ordnungen eingebettet waren. Bei der Gründung der Monti di Pietà im spätmittelalterlichen Italien spielte der Wissenstransfer zwischen gelehrtem und praktischem Wissen, wie Tanja Skambraks in ihrem Aufsatz erhellt, eine wichtige Rolle. Die Monti di Pietà, christliche Pfandleihhäuser, die der unteren Mittelschicht Zugang zu Kleinkrediten ermöglichten, waren seit dem 15.  Jahrhundert insbesondere durch den Franziskanerorden als Mittel gegen den Wucher propagiert worden. Ihre Verfechter wie Bernardino da Feltre warben bei Predigten und Streitgesprächen für ein verändertes Verständnis von Wucher und legitimierten Formen von bisher verbotener Zinsnahme, indem sie etwa die Aufwandsentschädigung für Arbeit, das »stipendium laboris«, mit der allgemeinen Caritas gleichsetzen. Gerade in den italienischen Städten als »Cluster von Expertisen« offenbart sich ein Wissenstransfer zwischen dem universitären Gelehrtendiskurs, der Predigt als Legitimationsform und Werbung sowie den Statuten, die den alltäglichen Ablauf in den Monti di Pietà steuerten. Neben den franziskanischen Predigern stellten so gerade auch Handwerker, Geldwechsler und Kaufleute, die ihr Wissen durch die Berufspraxis erworben hatten, das Funktionieren der Monti sicher. Wie sich Wissensproduktion und ökonomische Expertise mit der Entstehung  der Kameralwissenschaften im 18.  Jahrhundert veränderten, zeigt der

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Aufsatz von Kolja Lichy über den Kommerzienrat Karl von Zinzendorf. An sei­ nem Aufstieg in der Finanzverwaltung im Habsburgerreich lässt sich demonstrieren, wie eng ökonomisches Wissen und höfische Patronage miteinander verbunden waren. Neben den Studien der kameralistischen Verwaltungsschriften waren die Konversion des Pietisten zum katholischen Glauben und seine höfische Bildung in Etikette und Tanz von entscheidender Bedeutung, um sich als höfischer Rat vom pedantischen Gelehrten abzugrenzen. Insofern lassen sich nur bedingt funktionale Differenzierungsprozesse eines genuin ökonomischen Feldes ablesen, bleibt das Spezialwissen doch eng mit politischen und gesellschaftlichen Semantiken, Institutionen und Praktiken verbunden. Der Wirtschaftsexperte Karl von Zinzendorf changierte so zwischen dem Träger eines »Sonderwissens« und dem weitgereisten, höfischen »Weltweisen.« Wissenstransfer fand aber nicht nur zwischen dem höfischen und administrativen Feld innerhalb Europas, sondern auch auf transkultureller Ebene statt, wie der Aufsatz von Marian Füssel für die frühneuzeitlichen europäischen Militärexperten in Südasien aufzeigt. Gerade für Experten der Artillerie als einer als höherwertig erachteten Waffentechnologie gab es auf dortigen militärischen Wissensmärkten eine große Nachfrage, dessen Angebot von Deserteuren und Soldaten, die in Friedenszeiten in Europa nur geringe Karrierechancen sahen, bedient wurde. Dabei war militärische Erfahrung nicht Voraussetzung, vielfach qualifizierte allein die Herkunft aus ›Europa‹ für die Inszenierung und Anerkennung als Artillerieexperte. Obwohl gerade die Handelsgesellschaften als »broker« für Militärexperten auftraten, äußerten ihre Agenten auch Kritik an den allein auf hohe Besoldung zielenden Soldaten. Trotz der Anstellung westlicher Soldaten blieb eine breite Aneignung militärischen Wissens eher gering, da die Fokussierung auf die Kavallerie und die Geringschätzung von Infanterie und Artillerie auf dem indischen Subkontinent den Wissenstransfer erschwerten. Zeitgleich mit dem Transfer und der Aneignung von ›europäischem‹ Wissen erfolgte auch in Europa eine Auseinandersetzung mit Wissen aus und über neue Herrschaftsbereiche. Das Wissen über die neuen Welten zirkulierte dabei aber nicht nur in den Hafenstädten der großen Kolonialmächte, sondern – wie Reinhard Becker zeigt  – auch in dem den Küsten eher fernen, süddeutschen Raum. In dieser Region, aus der sich im späten 17. und 18. Jahrhundert ein beträchtlicher Teil der Jesuitenmissionare mit dem Ziel Amerika rekrutierte, entstand in der Publizistik eine vielseitige Auseinandersetzung mit dem »Überseewissen«. Becker deutet den süddeutschen Buchmarkt als »transkulturelle Kontaktzone«, in der Wissen über Asien, Afrika und Amerika produziert und popularisiert wurde. Mit Fokus auf die Jesuitenuniversität Dillingen zeigt er, dass die Publikationen der Jesuiten nicht nur ein ordensinternes Interesse, sondern auch die Nachfrage anderer Orden und der Eliten der multikonfessionellen Reichsstädte wie Nürnberg oder Augsburg bedienten. Gerade Heinrich Scherers (1628–1704) »Atlas Novus« demonstriert, wie in der »gelehrten Publizistik« Texte und Bild verbunden wurden, um die Vorstellung der Welt als einer globalen, hierarchischen Gemeinschaft zu festigen. Dabei stellten Bücher nur einen

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Teil der multimedialen Aneignungsformen dar, denn auch die barocke Sakralarchitektur oder das Jesuitentheater inszenierten Wissen über das jesuitische Bild von Amerika.

Angebot & Nachfrage Zu den Märkte konstituierenden Faktoren gehört landläufig die Dynamik von Angebot und Nachfrage, die es jedoch zu historisieren gilt, will man der spezifischen historischen Eingebettetheit von Märkten nachgehen und diese nicht als transhistorische Figuration begreifen. Angebot und Nachfrage werden damit zu kulturell konstruierten Faktoren, die unterschiedlich gedeutet, wahrgenommen oder handelnd beeinflusst werden konnten. Angebot und Nachfrage auf dem höfischen Wissensmarkt für Kreuzzugstraktate behandelt Gion Wallmeyer. Er lotet in seinem Beitrag die Poten­ tiale und Grenzen eines institutionenorientierten Marktbegriffs der modernen Marktsoziologie aus, den er in Form eines kontrollierten Anachronismus auf die lateinischen Herrscherhöfe des späten Mittelalters zu übertragen versucht. Im Fokus stehen Rückeroberungstraktate des ›Heiligen Landes‹, deren Verfasser auf einem Wissensmarkt für kreuzzugsbezogene Expertise die Nachfrage nach neuem geographischen, merkantilen und universitären Wissen zu befriedigen versuchten. Im frühen 14.  Jahrhundert verfestigte sich auf diese Weise eine marktförmige Berater- beziehungsweise Gutachterkultur mitsamt entsprechenden Bewertungsgremien, die bis zum Beginn des 100-jährigen Krieges währte. Gleichzeitig zeigt Wallmeyer aber auch die Grenzen zwischen dem inhärent egalitären und ahistorischen Marktkonzept und dem hierarchisch stratifizierten, durch Patronagebeziehungen geprägten System Hof des Spätmittelalters auf. Inwiefern Angebot und Nachfrage auf dem spätmittelalterlichen Arbeitsmarkt für TextilarbeiterInnen mit Vorstellungen von Caritas verbunden waren, verdeutlicht der Aufsatz von Colin Arnaud. Anhand der Statuten der italienischen Textilunternehmer zeigt er die Umdeutung des Arbeit-Gebens zur caritativen Praxis auf: So sei es in erster Linie das Arbeit-Geben der Unternehmer und nicht die Tätigkeit der Lohnarbeiter, die diesen ein Auskommen beschere, wodurch das bisherige Konzept vom »Ordo laboratorum« als Nährstand umgedreht worden sei. Die Unterstützung von Armenhäusern und Mädchenheimen, die zum einen die Nachfrage der Textilunternehmer nach Arbeitskräften be­ friedigten, zum anderen Waisen und Armen ein lebenserhaltenes Einkommen garantieren sollten, wurde dadurch als Akt der Nächstenliebe diskursiviert. Die Lohnarbeit entwickelte sich so zum Normalarbeitsverhältnis der städtischen Unterschichten, deren Arbeitsbedingungen und niedrige Löhne zwar kritisiert, insgesamt aber nicht in Frage gestellt wurden. Der Aufsatz von Mark Häberlein beleuchtet Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt für Fremdsprachenlehrer als auch den Buchmarkt für Sprach-

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lehrwerke im Heiligen Römischen Reich. Die Nachfrage nach Fremdsprachenkenntnissen zeichnete vor allem Adelige, Fernhandelskaufleute sowie M ­ ilitärund Universitätsangehörige aus. Fand bei Adeligen durch die Kavalierstour und den Akademiebesuch und bei Kaufleuten durch die Lehrzeit in den euro­ päischen Handelsmetropolen der Spracherwerb vor allem im Ausland statt, boten in den größeren Städten des Reiches Sprachmeister ihre Dienste für weniger mobile Bevölkerungsgruppen an. Aus der bezüglich der sozialen und geographischen Herkunft sehr heterogenen Gruppe der SprachlehrerInnen, die zunächst als wenig ehrenhaft galten, besaßen nur wenige das Bürgerrecht in den Städten, noch weniger hatten eine feste Anstellung an den Universitäten oder Adelshöfen. Folglich versuchten viele Sprachmeister ihr Einkommen durch das Verfassen von Sprachlehrbüchern zu verbessern. Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts entstand so ein Buchmarkt von Lehrwerken und Grammatiken, der bis zum Ende des 18. Jahrhunderts mit Spezialisierungen auf alters-, geschlechtsoder berufsspezifische Lehrwerke immer weiter expandierte. Den Veränderungen auf dem Buchmarkt vom frühen 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts widmet sich auch der Beitrag von Ian Maclean am Beispiel der humanistischen Jurisprudenz, als Verbindung von Römischem Recht und antiker Philosophie und Sprache. Bis zum Dreißigjährigen Krieg stellte die Frankfurter Buchmesse den dominierenden Markt für Literatur dar, an dem Bücher als Währung dienten, indem Verleger ihre Werke gegen die anderer ­Verleger tauschten, um sie dann an ihren Heimatorten zu verkaufen. Ab der zweiten Hälfte des 17.  Jahrhunderts übernahmen die Druckereien in den Niederlanden das Geschäftsfeld. Die dortigen günstigen Verkehrsanbindungen und ein gut ausgebauter Finanz- und Kreditmarkt ermöglichten ein Druckgewerbe wie auch einen Second-Hand Markt für Bücher. Gerade die mehrbändigen und kostenintensiven Buchprojekte des 18. Jahrhunderts wie Enzyklopädien brachten hierfür die neue Finanzierungsform der Subskription hervor. Auf Käuferseite entwickelte sich zeitgleich die Figur des bibliophilen Sammlers, dessen eigenes oder über Agenten betriebenes massenhaftes Ankaufen von Büchern sowie künstlerischen und wissenschaftlichen Objekten selbst im gelehrten Feld umstritten war. Das Begehren von Büchern und Sammlungsgegenständen ist auch Gegenstand des Beitrags von Miriam Müller, der das universitäre Sammlungswesen im 18. Jahrhundert beleuchtet. Zu dieser Zeit mussten Anschauungsobjekte und wissenschaftliche Geräte für den Lehrbetrieb von den Professoren erworben und unterhalten werden, da die Universitäten nur selten über eigene Sammlungen verfügten. Müller argumentiert, dass Sammlungen die Konversion des finanziellen Vermögens der Professoren in kulturelles, soziales und symbolisches Kapital ermöglichten, die wiederum positive Auswirkungen auf das Einkommen haben konnten. So zeigt sie anhand des Helmstedter Professors Gottfried Christoph Beireis sowie des Göttinger und späteren Jenaer Professors Christian Wilhelm Büttner auf, dass gut aufgestellte Sammlungen ökonomische Faktoren waren, die für Berufungen auf dem universitären Arbeitsmarkt entscheidend

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sein konnten. Gleichzeitig konnte der laufende Unterhalt von Sammlungen zu großen finanziellen Lasten werden, was um 1800 bewirkte, dass immer mehr Professoren den Universitäten ihre Sammlungen zum Kauf anboten. Die hier versammelten Beiträge zeichnen sich durch eine inhaltliche Breite aus, die nicht nur räumlich und zeitlich breit gefächert ist  – vom Mittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, europäische wie außereuropäische Felder behandelnd  – sondern auch ganz unterschiedliche Akteure und Ressourcen in den Blick rücken. Geeint werden sie durch die Frage nach der produktiven Spannung von Ökonomie und Wissen, von Expertenkulturen und einer Kulturgeschichte des Ökonomischen. Das heuristische Ziel ist dabei weniger eine vielbeschworene Kulturalisierung der Wirtschaftsgeschichte noch eine Ökonomisierung der Wissensgeschichte, sondern eine symmetrische Betrachtung von Wandlungsprozessen der Relationen von Wissen und Ökonomie in vormodernen Gesellschaften. Nimmt man die Arbeit an der Rekonstruktion der Historizität von Expertenkulturen und Märkten ernst, ergeben sich nicht nur neue Einsichten in deren jeweiliges Wechselspiel, sondern auch in langfristige Tendenzen, die zeigen, dass die Ökonomisierung von Wissenskulturen und die Wissensbasiertheit des Ökonomischen weder besonders junge noch gradlinige Entwicklungen darstellen.

Literatur Andermann, Kurt/Fouquet, Gerhard (Hg.), Zins und Gült. Strukturen des ländlichen Kreditwesens in Spätmittelalter und Frühneuzeit. Epfendorf 2016. Antrag auf Fortsetzung des Graduiertenkollegs Expertenkulturen des 12. bis 18. Jahrhunderts. Göttingen 2012. Ash, Eric, Introduction. Expertise and the Early Modern State, in: Osiris 25,1, 2010, S. 1–24. Asmussen, Tina/Condorelli, Stefano/Krämer, Daniel, Risiko! Editorial, in: Traverse 21,3, 2014, S. 14–19. Berghoff, Hartmut/Vogel, Jakob, Einleitung. Wirtschaftsgeschichte als Kultur­ geschichte. Ansätze zur Bergung transdisziplinärer Synergiepotentiale, in: Dies. (Hg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels. Frankfurt am Main 2004, S. 9–42. Borgolte, Michael/Jaspert, Nikolas (Hg.), Maritimes Mittelalter. Meere als Kommunikationsräume. Ostfildern 2016. Bourdieu, Pierre, Religion. Schriften zur Kultursoziologie, Bd 5, hrsg. von Franz Schultheis/Stephan Egger. Konstanz 2009. Burkardt, Albrecht (Hg.), L’Économie des dévotions. Commerce, croyances et objets de piété à l’époque moderne. Rennes 2016. Burke, Peter, Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft. Berlin 2001. Chang, Ha-Joon, 23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen. München 2010.

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I. Vertrauen und Risiko

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Der Experte, der keiner sein durfte Sidney Godolphin, public credit und die Kreditkrise von 1710

Am 17.  August des Jahres 1710 berichtete James Brydges, der für gewöhnlich sehr gut unterrichtete Zahlmeister der britischen Truppen im Ausland, einem seiner Agenten in Rotterdam von einem unerhörten Ereignis: Zehn Tage zuvor, an einem Montagnachmittag, habe Sidney Godolphin, Lord High ­Treasurer und eines der wichtigsten Regierungsmitglieder, Königin Anne eine Nachricht überbracht, »upon which tho’ She exprest no great dislike at that time, the next morning She wrote to him to break his staff himself to save her the t­ rouble of taking it away«.1 Gemeint war ein weißer Stab, den die Lordschatzmeister als Amtsinsignie verwendeten und der daher auch für das Amt als solches stand, was die Symbolik des zerbrochenen Stabes umso eindeutiger machte: G ­ odolphin war am 8. August entlassen worden. Ersetzt wurde er zwei Tag später zunächst durch eine fünfköpfige Kommission, zu deren Mitgliedern unter anderem auch R ­ obert Harley gehörte, der dann ein Dreivierteljahr später – inzwischen zum Graf (Earl) von Oxford avanciert – selbst zum Lordschatzmeister ernannt wurde.2 Herrschafts- und Regierungswechsel waren in der Vormoderne fast immer höchst problematische Angelegenheiten. Und auch in diesem Fall war die Ersetzung Godolphins durch Harley an der Spitze der Treasury, des Schatzamtes, Teil einer grundlegenden Krise, die Großbritannien im Jahre 1710 erschütterte.3 Diese Krise ist zwar umfassend erforscht, gibt aber in Teilbereichen immer noch Rätsel auf; Rätsel, die sich jedoch lösen lassen, so die These, wenn man das analytische Instrumentarium zum Einsatz bringt, das im Rahmen der Erforschung 1 James Brydges an James Sencerf, 1710 August 17, in: Clara Buck/Godfrey Davies, Letters on Godolphin’s Dismissal in 1710, in: Huntington Library Quarterly 3,2, 1940, S. 225–242, hier 232 f. 2 Zur Chronologie der Ereignisse vgl. Geoffrey Holmes, Robert Harley and the Ministerial Revolution of 1710 (edited by W. A. Speck), in: Parliamentary History 29,3, 2010, S. 275–307 und Clayton Roberts, The Fall of the Godolphin Ministry, in: Journal of British Studies 22,1, 1982, S. 71–93. 3 Vgl. Geoffrey Holmes, British Politics in the Age of Anne. Überarb. Aufl. London 1987, S. 208; Julian Hoppit, Financial Crises in Eighteenth-Century England, in: Economic History Review 39,1, 1986, S. 39–58, hier 45; James Macdonald, The Importance of Not Defaulting. The Significance of the Election of 1710, in: D’Maris Coffman/Adrian Leonard/Larry Neal (Hg.), Questioning Credible Commitment. Perspectives on the Rise of Financial Capitalism. (Macroeconomic Policy Making) Cambridge 2013, S. 125–146, hier 127.

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vormoderner ›Expertenkulturen‹ entwickelt wurde. Um diese These plausibel zu machen, wird zunächst die Krise noch einmal etwas ausführlicher dargestellt (I.). Im Anschluss an eine kurze Rekapitulierung der Idee komplementärer Antagonismen (II.) wird dieses Theorem dann genutzt, um die diskursiven Strategien der Konfliktparteien einer Neubetrachtung zu unterziehen (III. und IV.). Nach einer kurzen Überlegung zum spezifisch frühneuzeitlichen Charakter dieser Vorgänge (V.) wird abschließend argumentiert, dass die erzielten Ergebnisse auch die Möglichkeit bieten, das analytische Instrumentarium weiter zu entwickeln (VI.). I . Die Krise von 1710 Den größeren Kontext bildet der sogenannte Spanische Erbfolgekrieg. 1700 verstarb der kinderlose Habsburger Karl II. von Spanien, der zuvor Herzog Philipp von Anjou, den ältesten Enkel Ludwig XIV., zu seinem Nachfolger bestimmt hatte. Aus englischer Sicht drohte damit langfristig eine Verbindung der mächtigsten europäischen Militärmacht mit dem weltumspannenden spanischen­ Imperium. Eine solche musste aber unbedingt abgewendet werden, um eine dauerhafte französische Hegemonie zu verhindern. Folgerichtig schloss sich England mit den Vereinigten Niederlanden und Österreich zu einer Allianz zusammen, die, später verstärkt durch Portugal, Savoyen und verschiedene Reichsstände, seit 1702 Krieg führte, um statt des Herzogs von Anjou den habsburgischen Kandidaten, Erzherzog Karl, auf den spanischen Thron zu bringen.4 Kurz vor Ausbruch des Krieges war zudem ein weiterer König verstorben, Wilhelm III. von England. Dessen strikt antifranzösische Politik wurde jedoch von seiner Schwägerin und Nachfolgerin Anne beibehalten, die sich zu diesem Zweck lange Zeit vor allem auf zwei maßgebliche Amtsträger stützte: den schon erwähnten Sidney Godolphin, seit 1706 Graf von Godolphin, und John­ Churchill, Graf und seit 1702 Herzog von Marlborough. Unter der Regierung der beiden führte England beziehungsweise ab 1707 Großbritannien über viele Jahre einen effektiven und erfolgreichen Krieg.5 Dies war selbstverständlich 4 Vgl. einführend Matthias Schnettger, Der Spanische Erbfolgekrieg. 1701–1713/14. München 2014; John A. Lynn, The Wars of Louis XIV, 1667–1714. (Modern Wars in Perspective) London 1999, S. 266–360; und immer noch die Beiträge in John S. Bromley (Hg.), The New Cambridge Modern History, Bd. 6: The Rise of Great Britain and Russia, 1688–1715/25. Cambridge 1970, vor allem Augustus J. Veenendaal, Sr., The War of the Spanish Succession in Europe, in: Ebd., S. 410–445; und zuletzt Matthias Pohlig, Marlboroughs Geheimnis. Strukturen und Funktionen der Informationsgewinnung im Spanischen Erbfolgekrieg. (Externa, 10) Köln 2016. 5 Vgl. grundlegend John B. Hattendorf, England in the War of the Spanish Succession. A Study of the English View and Conduct of Grand Strategy, 1702–1712. New York 1987; und zuletzt Jamel Ostwald, Creating the British Way of War. English Strategy in the War of the Spanish Succession, in: Williamson Murray/Richard Hart Sinnreich (Hg.), Successful Strategies.

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nicht allein das Werk der beiden Minister, aber gleichwohl steht die enge Verbindung von Schatzmeister und General geradezu sinnbildlich für den neu­arti­ gen fiscal-military state, der dafür sorgte, dass das englisch-britische Gemeinwesen endgültig zum »military Wunderkind of the age«6 wurde. Um nämlich im erforderlichen Maße nach außen hin Kriegsstaat sein zu können, musste die Inselmonarchie gleichzeitig nach innen zum Steuerstaat und zum Schuldenstaat werden.7 Marlboroughs glänzende militärische Erfolge waren nur möglich, weil Godolphin Jahr für Jahr die dafür notwendigen und immer umfangreicheren finanziellen Mittel zur Verfügung stellen konnte.8 Das war aber wiederum nur möglich, weil der britische Staat seit 1688 ein neuartiges System langfristiger öffentlicher Verschuldung entwickelt hatte, in dem jedem staatlichen Schuldtitel eine konkrete fiskalische Einnahmequelle zugeordnet war, aus der die Zinszahlungen bestritten wurden, und die Schuldtitel selbst auf sekundären Märkten gehandelt werden konnten.9 Die auf diesem System fußende financial revolution hatte die Kreditwürdigkeit des Staates, den public credit, signifikant erhöht, was wiederum die Aufnahme immer neuer Schulden möglich machte.10

Triumphing in War and Peace from Antiquity to the Present. Cambridge 2014, S. 100–129. Robert Harley, der – wie einleitend erwähnt – 1710 maßgeblich am Sturz der Godolphin-­ Marlborough-Regierung beteiligt war und kurze Zeit später selber die Regierung anführte, arbeitete gleichwohl bis 1708 sehr eng mit Godolphin und Marlborough zusammen: »So close were the three men that they were referred to as ›the triumvirate‹.« (William A. Speck, Harley, Robert, First Earl of Oxford and Mortimer (1661–1724), in: Oxford Dictionary of National Biography 2004, Online-Ausg. Oktober 2007, http://www.oxforddnb. com/view/article/12344, letzter Zugriff am 04.09.2016). 6 John Brewer, The Sinews of Power. War, Money and the English State, 1688–1783. London 1989, S. XIII (Hervorhebung im Original). Vgl. neben diesem »Klassiker« der Forschung zum fiscal-military state auch die etwa zeitgleich erschienene Studie von Dwyryd W. Jones, War and Economy in the Age of William III and Marlborough. Oxford 1988; und die Beiträge in Christopher Storrs (Hg.), The Fiscal-Military State in Eighteenth-Century Europe. Essays in Honour of P. G. M. Dickson. Farnham, Surrey 2009. 7 Vgl. Brewer, Sinews of Power (wie Anm. 6), S. XVII und Patrick K. O’Brien, Finance and Taxation, in: Harry T. Dickinson (Hg.), A Companion to Eighteenth-Century Britain. (Blackwell Companions to British History) Malden, MA 2002, S. 30–39, hier 31. 8 Zu Marlborough vgl. zuletzt und mit weiterer Literatur Pohlig, Marlboroughs Geheimnis (wie Anm. 4), und James R. Jones, Marlborough. (British lives) Cambridge 1993; John B. Hattendorf, Churchill, John, in: Dictionary of National Biography, Bd. 11. Oxford 2004, S. 607–633; zu Godolphin vgl. William C. Dickinson, Sidney Godolphin, Lord Treasurer, 1702–1710. (Studies in the British History, 18) Lampeter 1990; Roy A. Sundstrom, Sidney Godolphin. Servant of the State, Newark 1992; zur Zusammenarbeit der beiden Minister vgl. Henry L. Snyder (Hg.), The Marlborough-Godolphin Correspondence. 3 Bde. Oxford 1975. 9 Vgl. Patrick K. O’Brien, The Political Economy of British Taxation, 1660–1815, in: Economic History Review 41,1, 1988, S. 1–32, hier 2–4; Anne L. Murphy, The Financial Revolution in England, in: Gerard Caprio Jr. u. a. (Hg.), Handbook of Key Global Financial­ Markets, Institutions and Infrastructure. Boston, MA u. a. 2013, S. 85–94, hier 93. 10 Vgl. immer noch grundlegend Philip G. M. Dickson, The Financial Revolution in England. A Study of the Development of Public Credit, 1688–1756. London 1967; vgl. auch Henry

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Diese schuldenfinanzierte Kriegsführung war nun zwar unabdingbar, barg aber gleichzeitig erhebliches Krisenpotential: So erreichte beispielsweise die kurzfristige Verschuldung 1709 eine Höhe, die schon einmal zu einer erheblichen Krise geführt hatte.11 Nimmt man hinzu, dass im selben Jahr nicht nur empfindliche militärische Niederlagen hingenommen werden mussten, sondern auch Friedensverhandlungen in Den Haag scheiterten12, erstaunt es nicht, dass die auf Fortsetzung des Krieges beharrende Regierung unter Druck geriet und ihre Gegner nun die Chance gekommen sahen, das ebenfalls wachsende Misstrauen der Königin zu ihren Gunsten zu nutzen. Diese Gegner standen im sogenannten »first age of party«13 überwiegend im Lager der Tories, angeführt von Robert Harley, während die Partei der Whigs die Regierung teils gestellt, teils gestützt hatte, obwohl Godolphin und Marlborough selbst eher moderate Tories waren. Als nun die Königin, beraten von Harley, am 14. Juni 1710 Lord Sunderland, einen überzeugten Whig und Schwiegersohn Marlboroughs, von seinem Amt als Staatsekretär, einer Art Außenminister, entband, konnte das als Auftakt für einen Sturz der Regierung gewertet werden – die Krise war da.14 Die Reaktion der regierungstreuen Personen und Institutionen lässt sich mit dem berühmten CDU-Wahlslogan von 1957 zusammenfassen: »Keine ExperiRoseveare, The Financial Revolution 1660–1760. Harlow 1991; Bruce C. Carruthers, City of Capital. Politics and Markets in the English Financial Revolution. Princeton, NJ 1996; Anne L. Murphy, The Origins of English Financial Markets. Investment and Speculation before the South Sea Bubble. (Studies in Economic History) Cambridge 2009; Carl­ Wennerlind, Casualties of Credit. The English Financial Revolution 1620–1720. Cambridge, MA 2011. 11 Vgl. Macdonald, Importance (wie Anm. 3), S. 130. 12 Vgl. Wennerlind, Casualties of Credit (wie Anm. 10), S. 166. 13 Der Begriff geht auf Geoffrey Holmes zurück, vgl. etwa Ders., The Electorate and the National Will in the First Age of Party. Lancaster 1976; gemeint ist die im europäischen­ Kontext der Zeit außergewöhnliche Entwicklung eines Parteiensystems; vgl. auch Tim Harris, Politics under the Later Stuarts. Party Conflict in a Divided Society, 1660–1715. (Studies in Modern History) London 1993. 14 Da sich der Sturz der Godolphin-Marlborough-Regierung der Verkettung einer Vielzahl von Ereignissen und Entwicklungen verdankt, ist jede Festlegung seines Beginns abhängig davon, welche Elemente für besonders bedeutsam gehalten werden. In politischer Hinsicht gingen der Entlassung Sunderlands noch zwei weitere personelle Entscheidungen der Königin voraus: »Most historians have taken a similar view, beginning their accounts of the fall of the ministry either with the nomination of Lord Rivers as Lieutenant of the Tower in January 1710 or the appointment of Shrewsbury as Lord Chamberlain in April or the dismissal of Sunderland as Secretary of State in June.« (Roberts, Godolphin Ministry (wie Anm.  2), S.  72). Zu den wesentlichen Ursachen gehören die im November 1709 ausbrechende innenpolitische »Sacheverell affair« (Wennerlind, Casualties of Credit (wie Anm.  10), S.  166) und eine grundlegende Kreditkrise, die sich in England schon seit Jahren angedeutet hatte (vgl. Macdonald, Importance (wie Anm. 3), S. 129) und sich vor allem im Gefolge des »collapse of French fiscal-military remittance networks in 1709« (Aaron Graham, Corruption, Party, and Government in Britain, 1702–1713. Oxford 2015, S. 187) zusätzlich verschärfte.

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mente«.15 So hieß es etwa in einem Pamphlet des Whigs Benjamin Hoadley: »Is this the Season for an entire change of Hands, when publick Credit must be sunk into nothing, before the Rest of Europe can have time to know whom they are to depend on, and the people at home whom they are to trust?«16 In der Folgezeit nahm der ohnehin schon angegriffene public credit tatsächlich weiter Schaden:17 Nach der Entlassung Sunderlands im Juni wurde es zunehmend schwieriger, Kredite von der Bank von England zu bekommen; die Geldströme an die Armee in Flandern gerieten ins Stocken; die staatlichen Schuldtitel verloren immer mehr an Wert.18 Als die Regierungsumbildung zugunsten der Tories mit der Entlassung Godolphins im August dennoch weiter vorangetrieben und mit der Auflösung des Whig-dominierten Parlaments im September vollendet wurde, war es entsprechend fraglich, ob die neue Regierung überhaupt neue Kredite würde aufnehmen können – selbst eine Annullierung der Schulden und damit ein faktischer Staatsbankrott wurden jetzt für möglich gehalten.19 Keine sechs Monate später jedoch war die Krise vorbei: Die Tory-Regierung, nunmehr ausgestattet mit einer komfortablen parlamentarischen Mehrheit, hatte den public credit stabilisiert und auch die notwendigen Mittel aufgebracht, um militärisch handlungsfähig zu bleiben.20 Wie aber war das Harley und seinen Mitstreitern gelungen? Zu den Gründen zählt sicherlich, dass Harleys Verständnis fiskalischer Zusammenhänge und seine organisatorischen Fähigkeiten denen Godolphins nicht nachstanden. Zudem war er kein Radikaler und 15 Vgl. Günter Buchstab, Keine Experimente. Zur Geschichte eines Wahlslogans, in: Johannes Mötsch (Hg.), Ein Eifler für Rheinland-Pfalz. Festschrift für Franz-Josef Heyen zum 75. Geburtstag. (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, 105) Mainz 2003, S. 689–698. 16 [Benjamin Hoadley], The Thoughts of an Honest Tory upon the Present Proceedings of that Party. In a Letter to a Friend in Town. London 1710, S. 8 (Hervorhebungen im­ Original); zum Autor vgl. William Gibson, Enlightenment Prelate. Benjamin Hoadly, 1676–1761. Cambridge 2004. 17 Auch vor der Entlassung Sunderlands war es für Godolphin immer schwieriger geworden, die notwendigen Mittel durch Ausgabe von staatlichen Schuldtiteln aufzubringen, da die akkumulierte öffentliche Schuld von Kriegsjahr zu Kriegsjahr immer weiter anwuchs: So wurden etwa navy bills, also direkt vom Flottenamt ausgegebene Anleihen, im Dezember 1709 schon 20 %, im April 1710 dann sogar 26 % unter ihrem Nennwert gehandelt (vgl. Brian W. Hill, The Change of Government and the »Loss of the City«, 1­ 710–1711, in: Economic History Review 24,3, 1971, S. 395–343, hier 398). Ab September 1709 ergaben sich zudem Probleme mit den Exchequer bills, zentral von der Treasury unter Godolphin ausgegebenen Anleihen (vgl. Richard A. Kleer, »A new species of mony«. British Exchequer Bills, 1701–1711, in: Financial History Review 22,2, 2015, S. 179–203, hier 1­ 95–198); vgl. auch Dickson, Financial Revolution (wie Anm. 10), S. 62. 18 Vgl. Wennerlind, Casualties of Credit (wie Anm. 10), S. 167; Hill, The Change of Government and the »Loss of the City« (wie Anm. 17), S. 401; Kleer, A new species (wie Anm. 17), S. 198. 19 Vgl. Macdonald, Importance (wie Anm. 3), S. 127 f. 20 Vgl. Hill, Change of Government (wie Anm. 17), S. 411; Roberts, Godolphin Ministry (wie Anm. 2), S. 92.

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sah kein Problem darin, die Zusammenarbeit mit den Londoner Großhändlern und Finanziers weiterzuführen, die zwar eher den Whigs zuneigten, aber letztlich zu großen Teilen ihren wirtschaftlichen Interessen den Vorzug gaben.21 Der public credit hing jedoch nicht allein von den politisch oder wirtschaftlich einflussreichen Personen ab, wie noch im 17. Jahrhundert, sondern inzwischen auch und vor allem von der anonymen öffentlichen Meinung.22 Und auf diesem Feld geben die Strategien der Tories nach wie vor Rätsel auf. Die Whigs setzten darauf, den soliden public credit als von der amtierenden Regierung abhängig zu definieren, und dann folgerichtig davor zu warnen, dass eine Ablösung der Regierung eine Schwächung der Kreditwürdigkeit zur Folge haben würde.23 Diese Strategie der Identifikation versuchten die Tories auf ganz unterschiedliche Weise zu kontern: So wurde etwa versucht, den herausragenden public credit als Fassade zu entlarven, hinter der sich in Wirklichkeit erhebliche finanzielle Miss- und Vetternwirtschaft verbarg.24 Gleichzeitig wurde er21 Zu Harley vgl. grundlegend Speck, Harley (wie Anm. 5), und Brian W. Hill, Robert Harley. Speaker, Secretary of State and Premier Minister. New Haven 1988; zu seinen finanziellen und organisatorischen Fähigkeiten und Kenntnissen vgl. ebd., S. 25; zur Zusammenarbeit mit den Financiers der ›City‹ vgl. Hill, Change of Government (wie Anm. 17), S. 402 f. 22 Vgl. vor allem das Kapitel »Public Credit and Public Sphere« in Wennerlind, Casualties of Credit (wie Anm. 10), S. 161–196 und Natalie Roxburgh, Representing Public Credit. Credible Commitment, Fiction, and the Rise of the Financial Subject. (Routledge Frontiers of Political Economy) Abingdon 2016, S. 1: »Early public credit required a feedback loop in order to function: As long as there was commitment from the public, it worked; and as long as it worked, there was commitment.« Eine umfassende Analyse des Phänomens public credit wurde bisher vor allem dadurch gehemmt, dass es zwei maßgebliche Forschungszusammenhänge gibt, die sich bisher jedoch kaum zur Kenntnis nahmen: Einerseits findet sich eine politik-, sozial- und wirtschaftshistorische Richtung, die sich vor allem für instrumentelle Aspekte interessiert, die aufgebrachten Mittel und ihre Verwendung, die beteiligten Institutionen wie die 1694 gegründete Bank von England und den Beitrag zur europäischen Staats- und Imperienbildung (vgl. etwa klassisch das Kapitel »Public Credit« in Brewer, Sinews of Power (wie Anm. 6), S. 114–126); andererseits interessieren sich Forschende aus einem im weiteren Sinne kulturwissenschaftlichen Kontext vor allem für symbolische Aspekte, etwa die literarische und/oder journalistische Herstellung von public credit (vgl. etwa das nur wenige Jahre nach Brewers Studie erschienene Buch von­ Patrick Brantlinger, Fictions of State. Culture and Credit in Britain, 1694–1994. Ithaca 1996). Die zitierten Studien von Wennerlind und Roxburgh zeigen jedoch, dass diese Trennung fruchtbar überwunden werden kann; vgl. für die damit verbundenen methodischen Fragen auch Tim Neu, Symbolische Kommunikation und wirtschaftliches Handeln. Theoretische Perspektiven, in: Barbara Stollberg-Rilinger/Ders./Christina Brauner (Hg.), Alles nur symbolisch? Bilanz und Perspektiven der Erforschung symbolischer Kommunikation. (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne) Köln 2013, S. 401–418. 23 Vgl. Roberts, Godolphin Ministry (wie Anm. 2), S. 83, und unten Abschnitt III . 24 Vgl. Wennerlind, Casualties of Credit (wie Anm. 10), S. 167, und als Beispiel: [Simon Clement], Faults on both Sides: or, an Essay upon The Original Cause, Progress, and Mischievous Consequences of the Factions in this Nation […]. London 1710, S. 18 f.: »the Coin of the Kingdom spoil’d through the supine neglect (if not connivance in some) of those who had the Direction of the publick Receipts; private Advantages made of the publick Money«.

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heblicher Aufwand getrieben, um die Befürchtungen zu zerstreuen, die Tories würden in der Regierung die Staatsschulden annullieren und damit den schon gesunkenen public credit endgültig zerstören.25 Diese Strategien offensiver wie defensiver Art lagen nahe und zielten erkennbar darauf, die Whigs als Hüter des public credits zu diskreditieren und die Tories als kompetentere Alternative aufzubauen. Ein weiteres Argument lässt sich jedoch nicht so leicht verstehen. Daniel­ Defoe, der zuvor für die Whigs geschrieben hatte, sich dann aber von Harley als Propagandaschreiber anheuern ließ, formulierte es in seinem noch im August 1710 erschienenen »Essay upon Publick Credit« folgendermaßen: »The Publick Credit therefore depends upon the Queen and Parliament entirely, and not at all upon the well or ill Management of the Officers, of what kind soever.«26 Das irri­ tiert, fällt der Schwachpunkt dieses Arguments doch sofort ins Auge: Wenn es nicht nur irrelevant ist, wer die Regierung stellt, sondern sogar, ob sie gut oder schlecht geführt wird – dann können auch die Tories keinen Vorzug gegenüber den Whigs geltend machen. Beim nächsten politischen Stimmungsumschwung würde dieses Argument dann genauso gut gegen sie selbst gerichtet werden können, denn schließlich habe Defoe damit vermeintlich gezeigt, »that ’tis not  a farthing matter who are imploy’d in any Office«27, wie die Whig-Zeitung »The Medley« in ihrer Erstausgabe sarkastisch kommentierte. Dennoch wurde dieses Argument verwendet und nicht nur von Defoe.28 Bei der Suche nach den Gründen für seine Verwendung scheint es geraten, einen Schritt zurückzutreten und nach Interpretamenten zu suchen, die geeignet sind, das empirische Material neu zu ordnen und nach anderen Zusammenhängen zu fragen. 25 Vgl. Anne L. Murphy, Demanding »Credible Commitment«. Public Reactions to the Failures of the Early Financial Revolution, in: Economic History Review 66,1, 2013, S. 178–197, hier 194, und [Clement], Faults (wie Anm. 24), S. 41: »But what if our new Ministry shoud do better for us than they have done, and find ways and means to raise the needful Supplies with the Year? This surely would heighten our publick Credit, and put us into a Condition to live of ourselves, without having so much occasion to borrow, and to M ­ ortgage the Nation to future Generations«. 26 [Daniel Defoe], An Essay upon Publick Credit: Being an Enquiry How the Publick Credit comes to depend upon the Change of the Ministry, or the Dissolutions of Parliaments; and whether it does so or no. With an Argument, Proving that the Publick Credit may be upheld and maintain’d in this Nation; and perhaps brought to a greater Height than it ever yet arriv’d at; Tho’ all the Changes or Dissolutions already Made, Pretended to; and now Discours’d of, shou’d come to pass in the World. London 1710, S. 21 (Hervorhebung im Original). Die Literatur zu Defoe ist unüberschaubar, vgl. statt vieler anderer nur die jüngste Biographie von John Richetti, The Life of Daniel Defoe. A Critical Biogaphy. (Blackwell Critical Biographies) Chichester, West Sussex 2015, und für einen themen­orientierten Einstieg Ders. (Hg.), The Cambridge Companion to Daniel Defoe. Cambridge 2008. 27 [Arthur Maynwaring], The Medley, 1710 Okt. 5. 28 Vgl. etwa [Abel Boyer], An Essay towards the History of the last Ministry and Parliament: Containing Seasonable Reflections on I. Favourites II . Ministers of State. III . Parties. IV. Parliaments. and V. Publick Credit. London 1710, S. 64.

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II . Komplementäre Antagonismen Weiterführend sind hier Überlegungen, die vor allem Frank Rexroth im Kontext der Erforschung von Expertenkulturen zum Zusammenhang von Systemvertrauen und Expertenskepsis angestellt hat: »Anzunehmen ist, dass gerade weil dem Einzelnen in der Wissensgesellschaft gar nichts anderes übrig bleibt, als den Wissenssystemen zu vertrauen, auf die er angewiesen ist, die Bereitschaft zur Expertenskepsis, ja Expertenkritik so hoch ist. Es scheint daher geraten, von einer dialogischen Beziehung von Systemvertrauen und Expertenskepsis auszugehen.«29

›Dialogische Beziehung‹ steht hier als terminus technicus, verweist Rexroth in der entsprechenden Anmerkung doch auf das ›dialogische Prinzip‹ von Edgar Morin.30 Der französische Philosoph und Soziologe versteht darunter das »productive play, sometimes vital, of complementary antagonisms«.31 Konkret: Vertrauen und Skepsis sind an sich und in logischer Hinsicht Antagonismen, sie schließen einander vollständig aus; da, wo Vertrauen herrscht, ist kein Raum für Skepsis und umgekehrt. Und dennoch, so Morin, sind Antagonismen in der Realität häufig produktiv aufeinander bezogen, insofern ihr komplementäres Zusammenspiel für bestimmte Phänomene konstitutiv ist. Dies gilt etwa, folgt man Rexroth, für Wissenssysteme: In ihnen sind Vertrauen und Skepsis, obwohl Antagonismen, gleichzeitig präsent, aber eben auf verschiedenen Ebenen, Vertrauen zum System, Skepsis gegenüber seinen Elementen, den einzelnen Experten. Und diese Komplementarität wirkt nun gerade nicht zerstörerisch, wie man bei Antagonismen zunächst vermuten könnte, sondern produktiv. Einen konkreten Zusammenhang konturiert Rexroth an der zitierten Stelle, nämlich eine positive Wechselbestimmung: Je größer das Vertrauen zum System, desto größer die Skepsis gegenüber seinen Elementen, den Experten.32 Da dieser Zusammenhang empirisch gut belegt ist, und es im hier 29 Frank Rexroth, Systemvertrauen und Expertenskepsis. Die Utopie vom maßgeschneiderten Wissen in den Kulturen des 12. bis 16. Jahrhunderts, in: Björn Reich/Ders./Matthias Roick (Hg.), Wissen, maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne. (Historische Zeitschrift, Beihefte N. F. 57) München 2012, S. 12–44, hier 21 (Hervorhebung im Original). 30 Konkret verweist er auf Edgar Morin, Europa denken. Erw. Neuaufl. Frankfurt am Main 1991, S. 126, 128. 31 Ders., Restricted Complexity, General Complexity, in: Carlos Gershenson/Diederik Aerts/ Bruce Edmonds (Hg.), Worldviews, Science and Us. Philosophy and Complexity. University of Liverpool, UK 11–14 September 2005. New Jersey 2007, S. 5–29, hier 20. 32 Zum Forschungskontext vgl. neben den Beiträgen in Reich/Rexroth/Roick (Hg.), Wissen, maßgeschneidert (wie Anm. 29), auch Hedwig Röckelein/Udo Friedrich (Hg.), Experten der Vormoderne zwischen Wissen und Erfahrung. (Das Mittelalter, Perspektiven mediävistischer Forschung, 17,2) Berlin 2012; Marian Füssel, Vormoderne Politikberatung? Gelehrte Räte zwischen Standes- und Expertenkultur, in: Eva Schlotheuber u. a. (Hg.),

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geschilderten Fall ebenfalls um zugeschriebene Expertise im Hinblick auf den public credit geht, könnte es in der Tat weiterführend sein, auch für die Krise von 1710 nach dem komplementären Zusammenspiel von Vertrauen und Skepsis in Wissens- und Expertensystemen zu fragen. III. Regierungspresse: Expertenvertrauen und Systemskepsis Zunächst zu den Whigs: Wie schon erwähnt, bestand die zentrale diskursive Strategie darin, die herausragende Qualität des public credit der amtierenden Regierung zuzuschreiben. Dies lässt sich noch genauer fassen: Am 15. Juli 1710, einen Tag nach der Entlassung Sunderlands hieß es im »Review of the State of the British Nation« über Godolphin, der öffentliche Kredit sei »AT PRESENT (without Flattery) absolutely Dependant upon the Person of the said Treasurer«.33 Und noch Anfang August, nur einige Tage vor seiner eigenen Entlassung, wurde der Lordschatzmeister im selben Blatt als »Guardian Angel«34 der Treasury und, an die Nation gesprochen, als »Soul of your credit«35 bezeichnet. Diese extreme Personalisierung war dabei keine Besonderheit des »Review«, sondern eine so allgegenwärtige Strategie, dass selbst die Gegner nicht umhinkonnten, sie zu thematisieren. Abel Boyer etwa, der auch zu Harleys Propagandateam gehörte, kam in einem ebenfalls 1710 publizierten Essay darauf zu sprechen: Die Whigs hätten die – aus seiner Sicht natürlich falsche – Vorstellung aufgebracht, »[t]hat the PUBLICK CREDIT was nearly concern’d in the Continuance of the late Lord Treasurer, and in a manner must stand or fall with him«.36 Insgesamt lässt sich das Vorgehen der regierungsfreundlichen Whig-Presse damit verstehen als eine auf Godolphin zentrierte Strategie der Stärkung von personifizierHerzogin Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg (1510–1558). Herrschaft – Konfession – Kultur. (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens, 132) Hannover 2011, S. 222–223; Frank Rexroth, Expertenweisheit. Die Kritik an den Studierten und die Utopie einer geheilten Gesellschaft im späten Mittelalter. (Freiburger mediävistische Vorträge, 1) Basel 2008; Eric J. Engstrom/Volker Hess/Ulrike Thoms (Hg.), Figurationen des Experten. Ambivalenzen der wissenschaftlichen Expertise im ausgehenden 18. und frühen 19.  Jahrhundert. (Berliner Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte, 7) Frankfurt am Main 2005. 33 [Daniel Defoe], A Review of the State of the British Nation, 1710 Juli 15. Zur Zeitschrift vgl. das Kapitel »Harley’s Man: The Review« in Richetti, Daniel Defoe (wie Anm.  26), S. 83–103; zu Defoes Verständnis von public credit vgl. zuletzt das Kapitel »The Public Good, Credible Framing, and Daniel Defoe’s Fictions« in Roxburgh, Representing Public Credit (wie Anm. 22), S. 49–83 und James E. Hartley, The Chameleon Daniel Defoe. Public Writing in the Age before Economic Theory, in: Charles Ivar McGrath/Chris Fauske (Hg.), Money, Power, and Print. Interdisciplinary Studies on the Financial Revolution in the British Isles. Newark 2008, S. 26–50. 34 [Daniel Defoe], A Review of the State of the British Nation, 1710 Aug. 3. 35 Ebd. 36 [Boyer], Ministry and Parliament (wie Anm. 28), S. 58 (Hervorhebung im Original).

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tem Expertenvertrauen. Und auch der heutigen Forschung gilt Godolphin als »efficiency expert«37, und wird für seine Zeit unter die Gruppe der »greatest fiscal experts«38 gezählt. Geht man nun von einer dialogischen Beziehung von Skepsis und Vertrauen innerhalb von Expertensystemen aus, dann folgt aus dem Befund, dass hier extremes Expertenvertrauen propagiert wird, zumindest die Hypothese, dass das System des public credit im Ganzen daher skeptisch betrachtet werden müsste. Das war nun tatsächlich der Fall, wie etwa ein weiteres Zitat des schon erwähnten Benjamin Hoadley zeigt: »To say, what need People be concerned? and why can’t others be supposed equally able to keep up this National Credit? is only to argue against Experience and Fact. There will be a suspicion, do all that is in the power of Man; there cannot but be a suspicion in Men’s minds, and an ugly fear, when a happy course of things is broken into.«39

Der Whig-Publizist sieht in systemischer Hinsicht, also in Bezug auf die Abhängigkeit des öffentlichen Kredits von der öffentlichen Meinung, vor allem ›Befürchtung‹ und ›üble Angst‹ am Werk, die nur von Godolphin als Garant des ›glücklichen Gangs der Dinge‹ in Schach gehalten werden können.40 Auch diese Aussage ist repräsentativ für die Vorstellungswelt des frühen 18. Jahrhunderts.41 Die noch sehr junge öffentliche Meinung war in den Augen der meisten Zeitgenossen eben dies – eine Meinung, opinion, und damit vor allem für die Gelehrten unter ihnen gerade kein auf Wahrheit gegründetes Wissen, sondern fehleranfällig und in fast unerträglichem Maße abhängig von den launischen Passionen der Menschen.42 In dieser Situation war daher in Bezug auf den public 37 Sundstrom, Sidney Godolphin (wie Anm. 8), S. 123. 38 Michael Fry, The Union. England, Scotland and the Treaty of 1707. Edinburgh 2006, S. 34. 39 [Benjamin Hoadley], The Fears and Sentiments of all True Britains; with respect to National Credit, Interest and Religion. London 1710, S. 5 (Hervorhebungen im Original); vgl. auch Roxburgh, Representing Public Credit (wie Anm. 22), S. 49: »When one pores over texts that explicitly discuss finance in the late seventeenth and eighteenth centuries, one discovers an underlying cultural anxiety.« 40 Die grundsätzliche Skepsis gilt auch für die Tories, vgl. [Boyer], Ministry and Parliament (wie Anm. 28), S. 63. 41 Vgl. Wennerlind, Casualties of Credit (wie Anm. 10), S. 161: »The recognition that an intractable public opinion now dictated public credit was deeply unsettling to traditional elites.« Zur Entstehung der ›öffentlichen Meinung‹ in England vgl. David Zaret, Petitions and the »Invention« of Public Opinion in the English Revolution, in: American Journal of Sociology 101,6, 1996, S. 1497–1555. 42 Das gilt selbst für Vertreter der neuen Naturphilosophie des 17.  Jahrhunderts, darunter John Locke, die Wissen und Meinung grundsätzlich einander anzunähern versuchten und darauf abzielten, letztere »epistomological respectable« zu machen (­Wennerlind, Casualties of Credit (wie Anm. 10), S. 92). Gleichwohl argumentierte etwa Locke, »that the collective opinion was notoriously inaccurate« (Ebd., S.  86); vgl. auch John G.  A.­ Pocock, The Mobility of Property and the Rise of Eighteenth-Century Sociology, in: Ders.,­ Virtue, Commerce, and History. Essays on Political Thought and History, Chiefly in the Eighteenth Century. (Ideas in Context) Cambridge 1985, S. 103–124, hier 111–113.

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credit die Kombination von Systemskepsis und Expertenvertrauen eine durchaus ›rationale‹, weil folgerichtige Position. IV. Radikale Kritik: Expertenskepsis und Systemvertrauen Wie reagierten nun die Tories auf diese Strategie? Zunächst war nichts naheliegender, als diese Situationsrahmung zu übernehmen, umso mehr, da die­ Tories dem System des öffentlichen Schuldenwesens noch skeptischer genüberstanden als die Whigs.43 Dann würde man es bei Systemskepsis belassen und nicht die Notwendigkeit der Expertenposition des Lordschatzmeisters bestreiten, sondern ›nur‹ einen personellen Wechsel auf dieser Position fordern. Wie schon erwähnt, wurde eine solche Strategie auch durchaus eingesetzt, indem man ­Godolphin Misswirtschaft beziehungsweise Korruption unterstellte und­ Harley als kompetentere und integrere Alternative aufbaute.44 Ob aber solche Argumente auch verfangen würden, war alles andere als sicher, da Godolphin ja fast zehn Jahre lang tatsächlich sehr erfolgreich als Lordschatzmeister amtiert hatte.45 So entwickelte Harleys Propagandateam unter anderem auch die ebenfalls schon erwähnte radikalere Kritik, vorgetragen vor allem von Defoe: »This Lord Treasurer or another Lord Treasurer, or no Lord Treasurer, it is the same thing to me.«46 Das von den Whigs ostentativ zur Schau gestellte Vertrauen zum Experten Godolphin sollte damit durch Kritik an der Expertenposition als solcher, durch verallgemeinerte Expertenskepsis gekontert und entwertet werden. Und das hatte argumentativ durchaus Vorteile, denn damit entfiel die Notwendigkeit nachzuweisen, dass Godolphin sein Amt schlecht geführt hatte. Man musste sich mit dem Lordschatzmeister einfach gar nicht beschäftigen, konnte ihn sogar loben, da er im Rahmen der neuen Strategie und im Hinblick auf den public credit gar keine wesentliche Rolle mehr spielte. Personalisiertes Expertenvertrauen sollte also durch verallgemeinerte Expertenskepsis ersetzt werden. Wie aber wurde das System des public credit als Ganzes im Rahmen dieser neuen Strategie beurteilt? Auch hier fand Defoe eine der pointiertesten Formulierungen, stand aber damit wiederum keineswegs allein: »Thus the Honour, the Probity, the exact, punctual Management, which has raised our Credit to the pitch it is now arriv’d at, has not been merely the Great Wheel in the Nations Clockwork, that turn’d about the Treasure, but the Great Spring that turn’d 43 Vgl. Steve Pincus, Rethinking Mercantilism. Political Economy, the British Empire, and the Atlantic World in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, in: William and Mary Quartely 69,1, 2012, S. 3–34, hier 24. 44 Vgl. oben Anm. 24 und 25. 45 Vgl. William C. Dickinson, The Sword of Gold. Sidney Godolphin and War Finance, 1702–1710, in: Albion 6,1, 1974, S. 12–25. 46 [Defoe], Publick Credit (wie Anm. 26), S. 13 f.

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about that Wheel, and this is the QUEEN and PARLIAMENT. The one, the Spring (still keeping to the Allegory) that gives Motion or Live to the whole; the other, the ­Balance or Pendulum, that regulates that Motion, keeps it true to, and exact in the performance of the General Work, (viz.) the equal and punctual dividing the smallest measures of Time.«47

Das ›exakte und pünktliche Management‹, gemeint ist das der Treasury durch den Lordschatzmeister, so viel wird zugegeben, habe den öffentlichen Kredit erhöht und sei ein ›großes Rad im Getriebe der Nation‹. Aber es ist gleichzeitig, wenn man so will, eben doch nur ein ›Rädchen‹, insofern es sich nicht selbst bewegt, sondern angetrieben wird von der ›großen Sprungfeder‹, vom Zusammenspiel von Königin und Parlament. Public credit, so Defoe und andere, hängt nicht von der persönlichen Expertise des Lordschatzmeisters ab, sondern von der Qualität des politischen Systems, in dem monarchische und parlamentarische Akteure miteinander verbunden sind. Und um diesen abstrakten Zusammenhang anschaulich zu machen, bedient sich Defoe der Metapher des Uhrwerks, der Leitmetapher des neuen, mechanistischen-empirischen »experimental life«.48 Dass im Rahmen der Tory-Strategie nun auch Systemskepsis in Systemvertrauen umschlägt, ist dabei keineswegs überraschend, da diese zweite Inversion in Bezug auf das Gesamtsystem des public credit sich komplementär verhält zum Übergang von Vertrauen zu Skepsis im Hinblick auf den einzelnen Experten – ganz im Einklang mit der Idee komplementärer Antagonismen. An dieser Stelle ist die Versuchung groß, die Analyse zu beenden und die geschilderte Entwicklung der diskursiven Strategien in ein übergreifendes Moderni47 Ebd., S.  16 (Hervorhebungen im Original); zu dieser mechanistischen Metapher vgl.­ Roxburgh, Representing Public Credit (wie Anm. 22), S. 58–61. Es handelt sich jedoch bei weitem nicht um Defoes einzige Metapher, auf die er in seinen »Essay upon Publick Credit« zurückgreift; vielmehr zeichnet sich dieser Text geradezu durch »a kind of riot of figurative language« in Form einer »seemingly endless chain of similar natural metaphors« aus (John F. O’Brien, The Character of Credit. Defoe’s »Lady Credit«, »The Fortunate Mistress«, and the Resources of Inconsistency in Early Eighteenth-Century Britain, in: English Literary History 63,3, 1996, S. 603–631, hier 612); zum Metapherngebrauch vgl. allgemein George Lakoff/Mark Johnson, Metaphors We Live By. With a New Afterword. Chicago 2003. Wie Hartley, Chameleon Daniel Defoe (wie Anm. 33), S. 45 f. argumentiert, liegt Defoes finanziellen Schriften keine konsistente ökonomische Theorie zu Grunde; gerade darin aber zeige er sich als »the best representative of the age in which he lived« (Ebd., S. 41 f.), weil es eine solche eben noch nicht gegeben habe; vgl. dazu­ Pincus, Rethinking Mercantilism (wie Anm. 43), S. 32; gegen diese Auffassung zuletzt und mit weiterer Literatur Jonathan Barth, Reconstructing Mercantilism. Consensus and­ Conflict in British Imperial Economy in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, in: William and Mary Quartely 73,2, 2016, S. 257–290. 48 Steven Shapin/Simon Schaffer, Leviathan and the Air-Pump. Hobbes, Boyle, and the Experimental Life. With a New Introduction by the Authors. Princeton, NJ 2011; vgl. auch Simon Schaffer, Defoe’s Natural Philosophy and the Worlds of Credit, in: John Christie/ Sally Shuttleworth (Hg.), Nature Transfigured. Science and Literature, 1700–1900. Manchester 1989, S. 13–44.

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sierungsnarrativ einzuordnen – weg vom vormodern-konkreten Personalprinzip und hin zum modern-abstrakten Systemdenken. So einfach ist es aber nicht, denn das Uhrwerk war nicht die einzige Metapher, die in diesem Zusammenhang genutzt wurde. V. Frühneuzeitliche Signaturen: Lady Credit Es war bezeichnenderweise der Schöpfer der mechanistischen Metapher selbst, nämlich Daniel Defoe, der fast zeitgleich noch ein anderes Sprachbild für das abstrakte System des public credit reaktivierte, das er schon einige Jahre vorher erfunden hatte – Lady Credit.49 In der ersten August-Ausgabe des »Review« von 1710, also kurz vor der Entlassung Godolphins, kam Defoe nach einer Rekapitulation der unverzichtbaren und hilfreichen Wirkung des öffentlichen Kredits während des Krieges auf einmal auf Folgendes zu sprechen: Er wolle nun unter anderem »the Original, the Genealogy, Birth, Education, Nature, Operations, and the Effects of this Wonderful Phoenomenon of Mannagement, call’d CREDIT«50 untersuchen; und er fuhr fort: »Prudence and Vertue, were two S ­ isters, and had each of them Husbands; Prudence was married to Probity, […] and the Daughter of Prudence was called Credit.«51 Ein Jahr später jedoch ist von der noblen Herkunft von Lady Credit nichts mehr zu spüren. Jetzt in Diensten­ Harleys, wendet sich Defoe gegen seine eigene Beschreibung: »that in spight of all Mr. Defoe’s Allegories of a beautiful Coy Virgin Lady, called CREDIT, his virgin prov’d a Whore, a meer Common Strumpet, will lie with any Body that has but Money to supply her insatiable Cravings.«52 Die Sprache ist drastisch und hat nichts von der scheinbaren ›Modernität‹ der Uhrwerk-Metapher. Dennoch verfolgte Defoe mit beiden Metaphern dasselbe Ziel, nämlich plausibel zu machen, dass der öffentliche Kredit eben nicht von einzelnen Personen oder Regierungen abhänge. Lady Credit sei eben allen zu Diensten, die das entsprechende Geld hätten, was Defoe dann zu der Maxime führt, »That they that have the Management will have the Money«.53 Und wäh49 Vgl. neben O’Brien, Character of Credit (wie Anm.  47), auch Paula R. Backscheider,­ Defoe’s Lady Credit, in: Huntington Library Quarterly 44,2, 1981, S.  89–100; Terry­ Mulcaire, Public Credit; Or, The Feminization of Virtue in the Marketplace, in: Publication of the Modern Language Association of America 114,5, 1999, S. 1029–1042; Sandra Sherman, Finance and Fictionality in the Early Eighteenth Century. Accounting for­ Defoe. Cambridge 1996, S. 40–55. Zuerst erscheint Lady Credit in [Defoe], A Review of the State of the British Nation, 1706 Jan. 10. 50 [Defoe], A Review of the State of the British Nation, 1710 Aug. 1. 51 Ebd. (Hervorhebungen im Original). 52 [Daniel Defoe], Eleven Opinions About Mr. H------y [Harley]; with Observations. London 1711, S. 41; zu der Stelle vgl. auch Sherman, Finance and Fictionality (wie Anm. 49), S. 51 f.; Backscheider, Defoe’s Lady Credit (wie Anm. 49), S. 95. 53 [Defoe], Eleven Opinions (wie Anm. 52), S. 43 (Hervorhebung im Original).

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rend die Uhrwerksmetapher im Rahmen der weiteren Auseinandersetzungen gar nicht mehr aufgenommen oder allenfalls lächerlich gemacht wurde54, erfuhr die Figur der Lady Credit eine deutlich breitere Rezeption.55 Dies scheint nun kein Zufall, sondern geradezu spezifisch für die Frühe Neuzeit, vielleicht sogar die Vormoderne insgesamt zu sein. Viele frühneuzeitlichen Zeitgenossen hatten offenbar grundsätzlich Probleme damit, abstrakten strukturellen oder systemischen Zusammenhängen kausale Wirksamkeit zuzuschreiben.56 Erklärungen, die bestimmte Wirkungen auf konkret benennbare Akteure oder Akteursgruppen zurückführten, waren meist plausibler als solche, die auf Strukturen und Systeme abhoben:57 Politische Krisen wie die exclusion crisis 1679–1681 wurden angeblich von katholischen Verschwörern ausgelöst, nicht von Spannungen innerhalb der Verfassungsordnung;58 an Finanzkrisen wie der South Sea Bubble 1720 waren angeblich Spekulanten schuld, nicht das abstrakte System marktförmiger Beziehungen.59 Und damit war es auch einfacher, die Unabhängigkeit des public credit zu sichern, indem man ihn als Lady Credit personifizierte, als wenn man ihn auf ein abstraktes System des Zusammenspiels von Königin und Parlament gründete.60 Auf diese Weise ergab sich die eigentümliche Situation, dass das personifizierte Expertenvertrauen der Whigs zwar letztendlich durch Systemvertrauen abgelöst wurde, dies aber in Teilen dadurch geschah, dass erneut eine personifizierende Zuschreibung vorgenommen wurde, nur eben jetzt auf der Ebene des Systems als Ganzem. 54 Vgl. [Maynwaring], The Medley (wie Anm. 27). 55 Vgl. Backscheider, Defoe’s Lady Credit (wie Anm. 49), S. 94: »From this time [d. h. seit­ Defoes finanziellen Schriften von 1710], Lady Credit is a familiar figure in the political satires of the eighteenth century.« 56 Oder das Problem lag schon darin, überhaupt zu erkennen, dass systemische Zusammenhänge überhaupt vorlagen; so, mit Bezug auf die financial revolution, etwa H ­ artley,­ Chameleon Daniel Defoe (wie Anm. 33), S. 45 f.: »If Defoe is a window on the contemporary public mind, then it is apparent that the public was neither for nor against the financial revolution. It simply did not understand what was going on.« 57 In modernen Gesellschaften ist das wahrscheinlich nicht grundsätzlich anders, der Unterschied liegt eher darin begründet, dass in der Moderne nur noch indirekte und nichtanthropomorphe Personifikationen im öffentlichen Diskurs legitim sind (oder sein sollten): Wenn ›der Markt‹ etwas ›tut‹ oder ›sagt‹, dann wird damit zwar eine personifizierende Zuschreibung von Handlungsmacht vorgenommen, ohne aber eine konkrete menschliche Person zu beschreiben, wie etwa bei Lady Credit. vgl. Campbell Jones, Can the Market Speak? Winchester 2013. 58 Vgl. Harris, Politics (wie Anm. 13), S. 80–82. 59 Vgl. Wennerlind, Casualties of Credit (wie Anm. 10), S. 235–237. 60 Vgl. in der Tendenz ähnlich O’Brien, Character of Credit (wie Anm. 47), S. 614 f. Hier wird nur festgestellt, dass die Zeitgenossen es einfacher/naheliegender/überzeugender fanden, auf Akteure statt auf Strukturen und Systeme abzustellen. Warum das der Fall war, kann hier nicht diskutiert werden. O’Brien (Ebd.) verweist für den Fall von Lady Credit auf psychoanalytische Konzepte; überzeugender scheinen mir Ansätze, die davon ausgehen, dass Personifizierungen metaphorische Komplexitätsreduktion ermöglichen, vgl. Lakoff/ Johnson, Metaphors (wie Anm. 47), S. 34.

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VI . Zusammenfassung und Ausblick Die Ausgangsfrage war, warum im Rahmen der Krise von 1710 auf einmal von Seiten der Tories das Argument verwendet wurde, der public credit sei von der Regierung beziehungsweise der Person des Lordschatzmeisters unabhängig, was nicht recht einleuchtet, da es langfristig genauso gut gegen eine Tory-Regierung eingesetzt werden könnte. Die Antwort ist zweistufig: Die Krise war so intensiv, dass beide Parteien im Meinungskampf alle Register zogen; was zählte, war nur der unmittelbare argumentative Effekt, nicht die langfristige Wirkung. Die Tories waren daher erstens disponiert, ein solches Argument einzusetzen, zumal es den Vorteil bot, die zweifellos erfolgreiche Amtsführung Godolphins nicht weiter thematisieren zu müssen. Zweitens war das Argument jetzt überhaupt erst im wahrsten Sinne des Wortes ›machbar‹, was sich jedoch erst zeigt, wenn man nach dem Zusammenspiel der Antagonismen Vertrauen und Skepsis fragt. Eine gegen Godolphin gerichtete Strategie verallgemeinerter Expertenskepsis setzte voraus, dass gleichzeitig und komplementär dazu das Vertrauen in das über-individuelle System des public credits gestärkt wurde. Das setzte nun wiederum voraus, dass ein solches System überhaupt hinreichend ausdifferenziert war, um Ziel der Zuschreibung von Vertrauen sein zu können. Eine solche Situation lag in Großbritannien aber tatsächlich erst um 1710 vor. Kurz: Die ­Tories konnten das Argument vorbringen, weil sie sich nicht um die langfristigen Konsequenzen scherten. Und sie konnten es, weil sie gleichzeitig das Systemvertrauen stärkten, was jedoch nur möglich war, weil der public credit seit der Glorious Revolution tatsächlich zu einem abstrakten System geworden war – was die Krise von 1710 vor allem zeigte.61 Darüber hinaus gibt der hier behandelte Fall auch Anlass zu einigen allgemeineren Anmerkungen. Erstens zeigt er ganz allgemein die Wirkmächtigkeit diskursiver Prozesse und damit den grundlegend sozio-kulturellen Charakter ökonomischer Phänomene62: Das System des public credit ist eine, zu diesem Zeitpunkt sehr fragile, Assoziation heterogener Elemente, zu denen eben nicht nur Steuereinnahmen, Kreditgewährung und Gewinnmotive gehören, sondern ebenso Ängste, Argumente und Metaphern.63 Vertrauen auf einen systemischen 61 Vgl. John Carswell, The South Sea Bubble. Stanford, CA 1960, S. 43: »The changes of 1710 were the political expression of the first fully-fledged crisis in the commercial and financial revolution through which the nation was still passing.« 62 Vgl. Christof Dejung/Monika Dommann/Daniel Speich Chassé, Einleitung. Vom Suchen und Finden, in: Dies. (Hg.), Auf der Suche nach der Ökonomie. Historische Annäherungen, Tübingen 2014, S. 1–15; mit weiterer Literatur auch Neu, Symbolische Kommunikation (wie Anm. 22). 63 Vgl. Tim Neu, Accounting Things Together. Die Globalisierung von Kaufkraft im British Empire um 1700, in: Debora Gerstenberger/Joël Glasman (Hg.), Techniken der Globalisierung. Globalgeschichte meets Akteur-Netzwerk-Theorie. (Histoire)  Bielefeld 2016, S. 41–66; vgl. zum sozialtheoretischen Hintergrund John Law, Notizen zur Akteur-

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Zusammenhang ist nie von Fakten allein erzwungen, sondern immer auch Effekt diskursiver Praktiken. Zweitens wird auch die Bedeutsamkeit nicht-intendierter Nebenwirkungen deutlich: Die Tories standen dem System öffentlicher Verschuldung mehrheitlich skeptisch bis feindlich gegenüber. Dennoch trug ihre eigene Propaganda unbeabsichtigt dazu bei, das Vertrauen in dieses System zu stärken. Damit ist drittens die Frage nach der langfristigen Entwicklung von Expertensystemen verbunden: Um nicht einem technologischen oder soziologischen Determinismus zu verfallen, ist es angezeigt, Systemvertrauen weniger als notwendige Folge der Ausdifferenzierung von Systemen, sondern verstärkt als Effekt von Praktiken zu begreifen und mehr als bisher nach seiner Her- und Auf-Dauerstellung zu fragen; die Tories setzten ja gerade nicht auf Systemvertrauen, weil das System es erzwang, sondern weil sie sich davon einen Vorteil im politischen Meinungskampf versprachen.64 Jenseits von großen Makroerzählungen lässt sich viertens auch die historische Spezifik des Zusammenspiels von Vertrauen und Skepsis in Expertensystemen besser erfassen, wenn etwa deutlich wird, dass es unter frühneuzeitlichen Bedingungen effektiver war, Systemen Vertrauen zuzuschreiben, wenn man sie personifizierte. Und dann konnte Sidney Godolphin, der Experte, der keiner sein durfte, tatsächlich zu ­jemand ganz anderem werden – je nach Lesart zum Vormund oder Verehrer von Lady Credit: »My Lord T--------r has bought her new Cloaths, dress’d her up like a Princess – And now she is Gay and as Bright as ever she was, and is become the whole Nation’s Mistress. Long may she be so; for inestimable have been the Blessings of her stay here.«65

Netzwerk-Theorie. Ordnung, Strategie und Heterogenität, in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. (Science Studies) Bielefeld 2006, S. 429–446; Ders., Aircraft Stories. Decentering the­ Object in Technoscience. (Science and Cultural Theory) Durham 2002. 64 Vgl. für ähnliche Effekte Tim Neu, Die Ambivalenz der Aneignung. Möglichkeiten und Grenzen diskursiven Handelns in vormodernen Verfassungskonflikten, in: Lucas­ Haasis/Constantin Rieske (Hg.), Historische Praxeologie. Dimensionen vergangenen Handelns. Paderborn 2015, S. 55–72; Marian Füssel/Ders., Doing Discourse. Diskursiver Wandel aus praxeologischer Pespektive, in: Achim Landwehr (Hg.), Diskursiver Wandel. (Interdisziplinäre Diskursforschung) Wiesbaden 2010, S. 213–235. 65 [Defoe], A Review of the State of the British Nation, 1706 Aug. 8.

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Experten des Risikos Informationsmanagement und Wissensproduktion bei den Akteuren der spätmittelalterlichen Seeversicherung

In der Nacht vom 29. auf den 30. Januar 1437 hatte der venezianische Kaufmann Feo del Biondo eine Begegnung, die er bereits am Tag darauf bereuen sollte. Auf dem Heimweg kam er gegen Mitternacht an der Bottega eines anderen Kaufmanns mit Namen Nani de Charlone vorbei. Dieser fragte ihn, ob er sich nicht mit hundert Dukaten an der Versicherung eines Transports aus Rimini auf einer Marsiliana, einem leichten Schiff, beteiligen wolle. Feo del Biondo verlangte dafür eine Prämie von drei Prozent, und da ihm Nani de Charlone die drei Dukaten sofort aushändigte, kam das Geschäft zustande. Am nächsten Tag jedoch erfuhr Feo del Biondo nicht nur, dass diese Marsiliana bereits am 27. Januar vor Sonnenaufgang Schiffbruch erlitten hatte, sondern auch, dass die Nachricht darüber Venedig bereits am Morgen des 28. Januars erreicht hatte. Das Unglück war zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses also bereits seit anderthalb Tagen bekannt. Feo del Biondo entschloss sich daher, seinen Vertragspartner wegen fraude e ingano auf Annullierung des Vertrags zu verklagen.1 Die geschilderte Begebenheit gibt einen interessanten Einblick in die spätmittelalterliche Seeversicherungspraxis und führt ins Zentrum der Thematik: dem Verhältnis von Wissen und Markt. Zwar war weder das Geschäft noch die Art und Weise, wie es zustande kam, im eigentlichen Sinne typisch. Denn zum einen handelte es sich aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich um ein betrügerisches Geschäft. Zum anderen fehlte ein Akteur, der in der Geschäftspraxis der spätmittelalterlichen Seeversicherung in der Regel eine wichtige Rolle spielte: der Makler.2 Doch lässt gerade die betrügerische Abweichung von der Norm den Kern der spätmittelalterlichen Seeversicherungspraxis deutlich werden, nämlich den Versuch, durch Wissen Risiken kalkulierbar zu machen beziehungsweise Risiken, die mangels Wissen unkalkulierbar waren, als Gewinnchance zu nut-

1 Vgl. Archivio di Stato di Venezia, Giudici di Petizion, SaG 74, 32r–33r (8. Febr. 1437); hier nach Karin Nehlsen-von Stryk, Die venezianische Seeversicherung im 15.  Jahrhundert. Ebelsbach 1986, S. 59; vgl. Dies., Kalkül und Hasard in der spätmittelalterlichen Seeversicherungspraxis, in: Rechtshistorisches Journal 8, 1989, S. 195–208, hier 205. 2 Zu diesem s. u. S. 58 f., 67 f.

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zen.3 Das Wissen um die Höhe der Risiken wiederum wurde den Akteuren der Seeversicherung über den Markt vermittelt, und zwar in der für Märkte typischen Form der Information: durch Preise.4 Denn in der geschilderten Begebenheit ist es die Höhe der Prämie, die zeigt, dass Feo del Biondo nicht befürchtete, dass das von ihm übernommene Risiko bereits eingetreten sein könnte. Andernfalls hätte er nicht eine Prämie von nur drei Prozent verlangt, sondern eine wesentlich höhere, wie es üblich war, wenn zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses am Versicherungsplatz bereits Gerüchte über Schiffbruch oder Kaperung umgingen.5 Die Forschung hat die spätmittelalterliche Seeversicherung bisher fast ausschließlich unter rechts- und wirtschaftshistorischen Gesichtspunkten untersucht.6 Eine wissensgeschichtliche Perspektive ist ansatzweise erst in jüngerer Zeit erprobt worden.7 Dabei wurden jedoch weder dem Informationsmanage­ ment besonderes Interesse geschenkt noch der Frage, wie die Akteure der Seeversicherung Informationen über Ereignisse, die für ihre Geschäftspraxis relevant waren, in Wissen über Risiken transformierten, wie sie also ihre spezifische Risiko-Expertise ausbildeten. Um beides soll es im Folgenden gehen. Doch zuvor bedarf es noch einiger kurzer Worte zur Geschichte der Seeversicherung im Mittelalter und zu ihren Akteuren. I . Die spätmittelalterliche Seeversicherung und ihre Akteure Seit dem 12. Jahrhundert ist belegt, dass italienische Seehandelskaufleute Risiken ihrer Geschäftspartner gegen Entgelt übernahmen, indem sie Verträge wie das Seedarlehen, Kauf oder Wechsel beziehungsweise Schuldversprechen umfunktionierten.8 Ab dem 14. Jahrhundert werden die Verträge darüber als Versicherung (securitas, assecuratio, sicurtà) bezeichnet.9 Ende des 14. Jahrhunderts 3 Zur Entstehung des Konzepts des Risikos im Mittelalter vgl. Benjamin Scheller, Die Geburt des Risikos. Kontingenz und kaufmännische Praxis im mediterranen Seehandel des Hochund Spätmittelalters, in: Historische Zeitschrift 304, 2017, S. 305–331. 4 Vgl. Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1988, S. 18. 5 Hierzu s. u., S. 65 f. 6 Einen guten Überblick gibt immer noch Nehlsen-von Stryk, Venezianische Seeversicherung (wie Anm. 1), S. 6–16. 7 Vgl. Giovanni Ceccarelli, Un mercato del rischio. Assicurare e farsi assicurare nella Firenze rinascimentale. Venezia 2012, S. 258–271; Ders., Stime senza probabilità. Assicurazione e rischio nella Firenze rinascimentale, in: Quaderni Storici 45, 2010, S. 651–703; Ders., The Price for Risk-Taking. Marine Insurance and Probability Calculus in the Late Middle Ages, in: Electronic Journal for History of Probability and Statistics 3, 2007, S. 1–26. 8 Hierzu ausführlich Panayotis Perdikas, Die Entstehung der Versicherung im Mittelalter. Geschichtliche Grundlagen im Verhältnis zu Seedarlehen, Überseekauf, commenda und Bodmerei, in: Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft 55, 1966, S. 425–509. 9 Vgl. Federigo Melis, Origini e sviluppi delle assicurazioni in Italia (secoli XIV–XVI). Rom 1975, Appendice I, 1, 3, 4.

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schließlich entstand dann als neue, eigenständige Vertragsform die Schadensversicherung auf Prämienbasis.10 Vermittelt über die italienischen Kaufmannskolonien verbreitete sich die Seeversicherung im Laufe des Spätmittelalters nach Frankreich, Spanien, England und in die Niederlande, im 16. Jahrhundert schließlich auch nach Deutschland.11 Zur Seeversicherung trat bereits Ende des 14. Jahrhunderts die Versicherung des Transports von Waren über Land (1384) und über Flüsse (1397). Ebenfalls seit dem Übergang vom 14. zum 15. Jahrhundert sind erstmals Versicherungen des Transports von Sklaven und verschiedene Varianten von Lebensversicherungen belegt: des Lebens von Sklaven (vor allem von schwangeren Sklavinnen) sowie allgemeine und die Todesart spezifizierende Lebensversicherungen, meist bei einer Reise eines Kaufmanns, aber auch als Spiel- und Wettversicherung auf den Tod wichtiger Personen.12 Im Spätmittelalter wurden Verträge, die die Auszahlung einer Geldsumme versprachen, wenn ein unvorhersehbares Ereignis eintrat, lange Zeit als Versicherungen bezeichnet, unabhängig davon, ob diese dazu dienten, einen möglichen Schaden abzusichern oder nicht. Versicherung und Wette wurden also beide als assecuratio bezeichnet. Ende des 15.  Jahrhunderts unterschied der­ portugiesische Jurist Pedro de Santarém in seinem »Tractatus de assecurationibus et sponsionibus mercatorum« (1488, erstmals gedruckt 1552) allerdings die Versicherung definitorisch von der Wette.13 In italienischen Rechnungsdoku10 Vgl. Enrico Bensa, Il contratto di assicurazione nel medio evo. Studi e Ricerche. ­Genua 1885; Florence Edler de Roover, Early Examples of Marine Insurance, in: The Journal of Economic History 5, 1945, S.  172–200; Perdikas, Entstehung der Versicherung (wie Anm. 8); Ders., Die Palermoverträge und die Entstehung der Versicherung, in: Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft 59, 1970, S. 151–161; Melis, Origini e sviluppi (wie Anm. 9); Hannelore Groneur, Die Seeversicherung in Genua am Ausgang des 14. Jahrhunderts, in: Knut Schulz (Hg.), Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters. Festschrift für Herbert Helbig zum 65. Geburtstag. Köln 1976, S.  218–260; Riccardo Cocchetti Almasio, Prestito cambiario marittimo e assicurazione nelle carte liguri fino alla metà del XIV secolo, in: Rivista del Notariato. Rassegna di diritto e practica notarile 36, 1982, S. 1017–1028 und 37, 1983, S. 641–668; Nehlsen-von Stryk, Venezianische Seeversicherung (wie Anm. 1). 11 Vgl. Markus A. Denzel, Die Seeversicherung als kommerzielle Innovation im Mittelmeerraum und in Nordwesteuropa vom Mittelalter bis zum 18.  Jahrhundert, in: Simonetta Cavaciocchi (Hg.), Ricchezza del mare, ricchezza dal mare, secc. XIII–XVIII . Atti della trentasettesima Settimana di studi, 11–15 aprile 2005. (Pubblicazioni del’Istituto internazionale di storia economica F. Datini: Atti delle settimane di studi e altri convegni, 37) Florenz 2006; vgl. auch Ceccarelli, Mercato del Rischio (wie Anm. 7), S. 157–160. 12 Vgl. Melis, Origini e sviluppi (wie Anm. 9), Appendice I, S. 18–29; Robert Sidney Smith, Life Insurance in Fifteenth-Century Barcelona, in: Journal of Economic History 1, 1941, S.  57–59; Geoffrey Clark, Slave Insurance in Late Medieval Catalonia, in: Christoph Kampmann/Ulrich Niggemann (Hg.), Sicherheit in der Frühen Neuzeit. Norm, Praxis, Repräsentation. (Frühneuzeit-Impulse, 2) Köln 2013, S. 418–429. 13 Vgl. Pedro de Santarem (Petrus Santerna), Tractatus de assecurationibus et sponsionibus mercatorum. Antwerpen 1554; Nehlsen-von Stryk, Kalkül und Hasard (wie Anm. 1), S. 196.

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menten des 16. Jahrhunderts werden Wettgeschäfte dann nicht mehr als sicurtà, sondern als scomesse, also Wetten, verbucht.14 Die Praxis der spätmittelalterlichen Seeversicherung wurde im Wesentlichen durch Versicherer, Versicherungsnehmer und Makler geprägt. Die politischen Obrigkeiten spielten dagegen eine eher zurückhaltende Rolle.15 Wer sich versichern lassen wollte, ging zu einem der Versicherungsmakler, der ihm eine P ­ olice aufsetzte und diese dann anderen Kaufleuten zur Unterzeichnung als Versicherer vorlegte. Wer wollte, unterschrieb für einen bestimmten Betrag, für den er das Risiko übernahm, und erhielt im Gegenzug die Prämie ausgezahlt oder gutgeschrieben. Hatte der Makler durch eine entsprechende Anzahl von Unterschriften die gewünschte Gesamtversicherungssumme erreicht, übergab er die Police dem Versicherungsnehmer und erhielt von diesem die Prämie.16 Seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts sind vor allem aus Genua erste Statuten und Ordinamenta überliefert, die die Praxis des Versicherungsgeschäfts normieren sollten. Bekannt ist das Dekret Contra allegantes quod cambia et assecuramenta sint illecita vel usuraria von 1369. Es legte fest, dass Versicherer sich bei Eintritt des Schadensfalles nicht mit dem Argument, das Geschäft sei illegitim und wucherisch, ihrer Zahlungspflicht entziehen und sich diesbezüglich auch nicht an geistliche oder weltliche Gerichte wenden durften.17 Zwar waren die zeitgenössischen Kanonisten und Moraltheologen fast einhellig der Ansicht, dass Versicherungsgeschäfte nicht als Wucher zu klassifizieren seien,18 doch gab es offenkundig noch Kaufleute, die versuchten, sich mit diesem Argument ihren Zahlungspflichten im Schadensfall zu entziehen. Spätestens seit 1349 erhob Genua eine Steuer auf Seeversicherungen und legte 1401 fest, dass diese Gabella Securitatis von den Versicherten und nicht von den Versicherern gezahlt werden musste.19 Erwähnt werden muss an dieser 14 Vgl. Melis, Origini e sviluppi (wie Anm. 9), Nr. 174 f. 15 Hierzu zuletzt Ceccarelli, Mercato del Rischio (wie Anm. 7), S. 28 f.; Melis, Origini e sviluppi (wie Anm. 9), S. 165–179. 16 Vgl. Nehlsen-von Stryck, Kalkül und Hasard (wie Anm. 1), S. 201. 17 Vgl. Melis, Origini e sviluppi (wie Anm. 9), Appendice, Nr. 36; Giulio Giacchero, Storia delle assicurazioni marittime. L’esperienza genovese dal Medioevo all’età contemporanea. Genua 1984, S. 27; Groneur, Die Seeversicherung in Genua (wie Anm. 10), S. 221. 18 Vgl. Pier Giuseppe Pesce, La dottrina degli antichi moralisti circa la liceità del contratto di assicurazione, in: Assicurazioni 33, 1966, S. 36–66; Giovanni Ceccarelli, Risky Business. Theological and Canonical Thought on Insurance from the Thirteenth to the Seventeenth Century, in: Journal of Medieval and Early Modern Studies 31, 2001, S. 607–658; Ders., Quando rischiare è lecito. Il credito finalizzato al commercio marittimo nella riflessione scolastica tardomedievale, in: Simonetta Cavaciocchi (Hg.), Ricchezza del mare (wie Anm.  11), S.  1187–1200; zur Diskussion in der ersten Hälfte des 16.  Jahrhunderts vgl. Christoph Bergfeld, Die Stellungnahme der spanischen Spätscholastiker zum Versicherungsvertrag, in: Paolo Grossi (Hg.), La Seconda scolastica nella formazione del diritto privato moderno: incontro di studio, Firenze 16–19 ottobre 1972. Mailand 1973, S. 457–­471. 19 Vgl. Groneur, Die Seeversicherung in Genua (wie. Anm. 10), S. 222, 243; Bensa, Contratto di assicurazione (wie Anm. 10), S. 86 f.; Melis, Origini e sviluppi (wie Anm. 9), S. 152–159.

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Stelle auch noch die Legislation des Consolat del Mar von Barcelona, das 1436, 1458, 1461 und 1486 die Seeversicherung mit zahlreichen Statuten normierte.20 Die große Zeit der versicherungsrechtlichen Kodifikationen ist jedoch erst das 16. Jahrhundert, in dem sich auch erste Gerichtshöfe aus den Handelsgerichten herausdifferenzierten, die sich ausschließlich mit Versicherungsfällen befassten, als erstes die Ufficiali alle Sicurtà von Florenz 1524.21 Die Unterscheidung zwischen Versicherern und Versicherungsnehmern ist zunächst einmal eine analytische beziehungsweise situative. Im 14. und 15. Jahrhundert ist die Seeversicherung ein Geschäft, das die Fernhandelskaufleute der kommerziellen Zentren des Mittelmeerraums neben dem Waren- und dem Geldhandel betreiben. Viele von ihnen agieren dabei mal als Versicherer, mal als Versicherungsnehmer. Dies gilt jedoch nicht für alle Kaufleute, die sich im Versicherungsgeschäft engagieren, zu allen Zeiten in gleichem Maße. Prosopographische Studien haben gezeigt, dass schon zu Beginn des 15. Jahrhunderts immer mehr Kaufleute überwiegend oder fast ausschließlich als Versicherer agierten. So sind etwa in genuesischen Versicherungsverträgen aus den Jahren 1427 bis 1431 206 Kaufleute belegt, die als Versicherer wie auch als Versicherungsnehmer auftreten. Ihnen stehen 541 Kaufleute gegenüber, die ausschließlich als Versicherungsnehmer sowie 226, die lediglich als Versicherer belegt sind.22 Der Genueser Jurist Bartolomeo Bosco berichtet denn auch von einem Kaufmann aus der Zeit zwischen 1390 und 1435, der »um des Gewinns willen viele Versicherungen unterzeichnete, wie es die meisten Kaufleute aus Genua tun, von denen einige von nichts anderem leben als von jenem Geschäft«.23 Zu dieser 20 Die einzelnen Bestimmungen sind dargestellt bei Bensa, Contratto di assicurazione (wie Anm. 10), S. 91–109; Ernest Moliné y Brasés (Hg.), Les costums marítimes de Barcelona universalment conegudes per Llibre del Consolat de mar ara de nou publicades en sa forma original, ilustrades ab noticies bibliogràfiques, històriques y llingüístiques y ab un apèndix de notes y documents inèdits relatius a la Historia del Consolat y de la Llotja de Barcelona. Barcelona 1914 (http://www.cervantesvirtual.com/obra-visor/les-costumsmaritimes-de-barcelona-universalment-conegudes-per-llibre-del-consolat-de-mar--0/ html/ff398bb2-82b1-11df-acc7-002185ce6064_322.html [letzter Zugriff am 30.09.2015]). 21 Vgl. Ceccarelli, Mercato del Rischio (wie Anm. 7), S. 38–40; Ders., Dalla Compagnia medievale alle Compagnie assicuratrici. Famiglie mercantili e mercati assicurativi in una prospettiva europea (secc. XV–XVIII), in: Simonetta Cavaciocchi (Hg.), La famiglia nell’economia europea, secc. XIII–XVIII . The economic role of the family in the European Economy from the 13th to the 18th Centuries: atti della »Quarantesima settimana di studi« 6–10 aprile 2008. Florenz 2009, S. 389–408, hier 399; Melis, Origini e sviluppi (wie Anm. 9), Appendice, Nr. 38. 22 Vgl. Giacchero, Storia delle assicurazioni (wie Anm. 17), S. 68 f. 23 »[P]ropter lucrari fecit plures assecurationes sicut faciunt plurimi mercatores de Janua quorum aliqui de nullo alio vivunt quam de huiusmodi quaestu« (zit. nach Bensa, Contratto di assicurazione (wie Anm. 10), S. 79); vgl. Groneur, Die Seeversicherung in Genua (wie. Anm. 10), S. 238; Karin Nehlsen-von Stryck, Aspetti dell’assicurazione marittima nella vita economica veneziana del Quattrocento, in: Assicurazioni: Rivista di diritto, economia e finanza delle assicurazioni private 48, 1981, S. 353–371, hier 356.

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Zeit sind dann auch die ersten societates de faciendis assecurationibus belegt, als Gelegenheitsgesellschaften für ein oder zwei Jahre.24 Diese Spezialisierung auf das Versicherungsgeschäft ging augenscheinlich mit einer zunehmenden Konzentration und sozialen Differenzierung einher. Für die wichtigsten Versicherungsplätze des spätmittelalterlichen Mittelmeerraums lassen sich relativ klar umrissene Netzwerke von Kaufleuten identifizieren, die über Jahrzehnte hinweg regelmäßig als Versicherer auftraten und dabei einen erheblichen Teil des Marktes innehatten. In Genua etwa zeichneten in den Jahren zwischen 1427 und 1431 sechzehn Versicherer ein Drittel der Gesamtversicherungssumme für diese Jahre. Die Kaufleute, die regelmäßig als Versicherer belegt sind, gehörten fast ausnahmslos zu den führenden handeltreibenden Familien der Stadt. Ähnliches gilt für Venedig, wo im 15. Jahrhundert 90 Prozent der Kaufleute, die Versicherungspolicen unterzeichneten, den Familien des Patriziats angehörten.25 Dabei sind Angehörige dieser Familien teilweise über sehr lange Zeiträume hinweg immer wieder als Versicherer belegt. In den Versicherungen, die die Gesellschaften Francesco Datinis zwischen 1392 und 1400 in Florenz abschlossen, wurden 60 Prozent der Gesamtversicherungssumme von gerade einmal 19 Kaufleuten und ihren Gesellschaften übernommen. Sie stammten größtenteils aus dem Patriziat der Stadt. Vergleichbares gilt für die Versicherungen, die die Datini-Gesellschaft zwischen 1383 und 1401 in Pisa abschloss.26 Wie bei den Versicherern lässt sich auch bei den Maklern eine Tendenz zur Spezialisierung beobachten. Makler, lateinisch censarii, im Volgare sensali beziehungsweise mezzani, sind in Italien seit dem 12. Jahrhundert belegt.27 Von Versicherungsmaklern (censarii securitatum) ist erstmals 1434 in Genua die Rede.28 Doch spricht einiges dafür, dass es spätestens Ende des 14.  Jahrhunderts Makler gab, die sich auf die Vermittlung von Seeversicherungen spezialisiert hatten.29

24 Vgl. Giacchero, Storia delle assicurazioni (wie Anm.  17), S.  81; Ceccarelli, Dalla Com­ pagnia (wie Anm. 21), S. 402. 25 Vgl. Giacchero, Storia delle assicurazioni (wie Anm.  17), S.  68–72; Nehlsen-von Stryck, Aspetti dell’assicurazione marittima (wie Anm. 23), S. 361 f. 26 Vgl. Ceccarelli, Mercato del Rischio (wie Anm. 7), S. 216. 27 Vgl. Claudio L. Daveggia, L’intermediazione assicurativa nel Medioevo, in: Assicurazioni. Rivista di diritto, economia e finanza delle assicurazioni private 52, 1985, S. 326–372, hier 327. 28 Vgl. ebd., S. 354. 29 Vgl. Ceccarelli, Mercato del Rischio (wie Anm. 7), S. 257 f.; Giacchero, Storia delle assi­ curazioni (wie Anm. 17), S. 117–136.

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II . Das Meer beobachten: Informationsmanagement

und Risikokalkül bei Kaufleuten und Maklern Wollten die Makler Versicherer finden, die bereit waren, gegen die Zahlung einer Prämie Risiken zu übernehmen, dann mussten sie mit diesen und auch mit den Versicherten über den angemessenen Preis für die übernommenen Risiken übereinkommen. »Piui rixego e piui prexio«, so heißt es in einem Versicherungsprozess aus Venedig von 1457.30 Makler, Versicherer und Versicherte mussten also die Höhe des Risikos einschätzen. Hierfür bedurfte es möglichst umfassender und kontinuierlicher Informationen über aktuelle und strukturelle Gefahren. In seinem Handbuch »Della mercatura e del mercante perfetto« aus dem Jahr 1458 rät Benedetto Cotrugli dem Versicherer (sicuratore) zuallererst, gut die Augen für die Neuigkeiten des Meeres zu öffnen und sich ununterbrochen nach Korsaren und ›schlechten Leuten‹, Kriegen, Friedensschlüssen, Repressalien und allen Dingen, die das Meer behelligen können, zu erkundigen und nachzuforschen.31 Dass die Versicherer ihre Augen offenhalten sollten, war dabei metaphorisch gemeint. Denn beobachten konnten die Akteure der Seeversicherung das Geschehen auf dem Meer freilich nicht direkt, sondern nur mithilfe von schriftlichen oder mündlichen Nachrichten, also durch Gerüchte und Briefe. Wie intensiv der Informationsfluss war, zeigen zahlreiche Briefe aus dem Archiv des berühmten Kaufmanns von Prato, Francesco di Marco Datini (um 1335–1410). Bei dem Archiv handelt es sich bekanntlich um das umfangreichste Kaufmannsarchiv des Mittelalters, das mehr als 125.000 Geschäftsbriefe enthält. Diese sind zwar nur teilweise untersucht beziehungsweise ediert,32 doch ist bereits diese Quellengrundlage breit genug, um grundsätzliche Einsichten zu ermöglichen.

30 Archivio di Stato di Venezia (wie Anm. 1), S. 77; hier nach Nehlsen-von Stryck, Venezianische Seeversicherung (wie Anm. 1), S. 239. 31 Vgl. Benedetto Cotrugli, Il libro dell’arte di mercatura. (Techné, 9), hrsg. von Ugo Tucci. Venedig 1990, S. 176: »Et per dire delli sicuratori, li ricordiamo che gli è di bisgno d’avere et aprire molto l’occhio alle novella del mare, et al continuo domandare et inquirere de corsali et male genti, Guerra, triegue, ripresaglie et tucte quelle cosec he possono perturbare lo mare.« 32 Vgl. Angela Orlandi, Mercaderies i diners. La correspondència datiniana entre ­València i Mallorca, 1395–1398. (Fonts Històriques Valencianes, 29) Valencia 2008; Giampiero­ Nigro, Mercanti in Maiorca. Il carteggio datiniano dall’Isola, 1387–1396. Florenz 2003; Angela Orlandi (Hg.), Mercanzie  e denaro: la corrispondenza datiniana tra Valenza  e Maiorca (1395–1398). Valencia 2008; Virgínia Rau, Cartas de Lisboa no Arquivo Datini de Prato, in: Estudos Italianos em Portugal do Istituto Italiano di Cultura in Portogallo 21/22, 1957/1958, S. 3–13; Helen Bradley, The Datini Factors in London, 1380–1410, in: Dorothy J. Clayton u. a. (Hg.), Trade, Devotion and Governance. Papers in Later Medi­ eval History. Phoenis Mill 1994, S. 55–79; Melis, Origini e sviluppi (wie Anm. 9), passim.

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Sobald ein Schiff den Hafen verlassen hatte, wurde kontinuierlich über seine Position auf allen Etappen der Fahrt berichtet. Dabei flossen die Informationen innerhalb eines engmaschigen Netzwerks italienischer Kaufleute, die in den verschiedenen europäischen Häfen ansässig waren und zu dessen wichtigsten Knotenpunkten die Angehörigen der verschiedenen Datini-Gesellschaften gehörten. In einem Brief vom 5. Oktober 1407 fordert der Vertreter der Datini-­ Gesellschaft in Genua die Filiale in Barcelona explizit auf, ihn über jedes Schiff zu informieren, das in der katalanischen Hafenstadt anlegt, »denn wir versichern andere und jene versichern uns, und daher ist es nötig das zu wissen«.33 Außerdem übermittelten sich die einzelnen Gesellschaften Nachrichten über Schiffbrüche. Wie etwa in einem Brief vom 11. Dezember 1390 aus Genua nach Florenz, in dem es heißt, ein Schiff, beladen mit Weizen und anderen Dingen, das von Caffa aus unterwegs war, habe vor der Peloponnes (»ne le boche di Romania«) Schiffbruch erlitten. Zudem habe man in Pera keine Neuigkeiten bezüglich einer Galeere, die man aus Venedig erwarte. Dies mündet in die Klage: »So viele große Gefahren laufen wir heute und machen so wenig Gewinn«.34 Vor allem interessiert waren Datini und seine Gesellschafter und Agenten jedoch an Nachrichten über Kriege und die Aktivitäten von Piraten und Korsaren. Als man im April 1403 einen neuen Ausbruch der Feindseligkeiten zwischen Frankreich und England befürchtet, schreibt ein Agent Datinis in London nach Florenz, dass Schiffe auf dem Weg nach England oder Flandern ein erhöhtes Risiko liefen und dass dies bei Versicherungen berücksichtigt werden müsse.35 Aus dem Jahr 1395 stammt ein Brief des Vertreters Datinis in Montpellier namens Naddo Covoni, der berichtet, sechzehn Galeeren aus Granada hätten in der Straße von Gibraltar Schiffe von Christen gekapert und deren Mannschaften getötet.36 In der Korrespondenz zwischen den Agenten Datinis in Valencia und Mallorca aus den Jahren 1395 bis 1398 ist im Durchschnitt einmal im Monat, in 29 von insgesamt 304 Briefen, von der Bedrohung des Schiffsverkehrs durch Korsaren die Rede, oftmals mit dem Zusatz: »Gott möge sie versenken (che Dio profondi loro)«.37 Francesco Datini selbst sah in Piraten und Korsaren geradezu ein strukturelles Risiko des zeitgenössischen Seehandels, das sich entsprechend in den Prämienhöhen niederschlug. Am 8. November 1397 schreibt er an seinen Agenten in Valencia, die besten Versicherungen (er meint die mit dem geringsten Risiko) könne man in Valencia für Transporte nach Genua und auch nach Vene33 »[P]erché sichurtà facimao per altri e asì alchune per noi, e nicistà ci è di saperllo« (Melis, Origini e sviluppi (wie Anm. 9), Nr. 36). 34 »tutti grandi pericholi si chore al dì oggi e pochi guadagni« (Ebd., Nr. 26). 35 Vgl. ebd., Nr. 51; Bradley, The Datini Factors (wie Anm. 32), S. 62 f. 36 Vgl. Melis, Origini e sviluppi (wie Anm. 9), Nr. 57. 37 Orlandi, Mercaderies i diners (wie Anm. 32), S. 155, 157, 165, 179, 182, 185, 204 f., 212 f., 238, 251, 253, 255, 257, 259, 261, 368, 380, 384, 387, 397, 407, 447, 457, 560, 582, 585 f., 594, 634, 643.

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dig abschließen. Versicherungen auf Fahrten in die Levante erschienen ihm weniger gefährlich, als für solche nach Flandern, denn in den spanischen Meeren scheine es ihm, gebe es immer Räuber.38 Mit dieser Einschätzung stand Datini nicht allein. Die Forschung hat zeigen können, dass die Höhe der Prämien für Seeversicherungen im Spätmittelalter signifikant mit einem Faktor korrelierte: der Art des Schiffes. Die Prämie war deutlich niedriger, wenn Waren auf Galeeren transportiert wurden.39 Galeeren waren Kriegsschiffe, ein Teil ihrer Besatzung war bewaffnet, und sie konnten potentiellen Angreifern sogar selbst gefährlich werden. Sie waren daher deutlich schwerer zu kapern als andere Schiffe. In einem Brief vom 3. Oktober 1398 bittet ein Angestellter der Alberti-Gesell­ schaft in Brügge einen Kollegen in Florenz, für ihn eine Versicherung für einen Transport nach Lissabon abzuschließen. Bei dieser Gelegenheit stellt er den Zusammenhang zwischen der Wehrhaftigkeit des Schiffes und seiner Besatzung und einer niedrigen Prämienhöhe explizit her: Es sei dorthin eine kurze Fahrt und ohne zu große Gefahren, das Schiff sei groß, neu und gut bewaffnet. Es werde daher gut beschützt sein. In Florenz solle sich eine Versicherung daher schnell und zu einem guten Preis finden lassen.40 Die kontinuierliche Übermittlung von Nachrichten über das Geschehen auf See beruhte auf einem System regelmäßiger Botenverbindungen, das sich im 14. Jahrhundert ausdifferenziert hatte und in der Lage war, Briefe mit hoher Frequenz und Geschwindigkeit zu transportieren.41 Ab der zweiten Hälfte des 13.  Jahrhunderts hatten Zünfte und Handels­ gesellschaften toskanischer Städte regelmäßige Botenverbindungen zwischen ihrer Stadt und den Champagne-Messen beziehungsweise ihren Dependancen in Frankreich eingerichtet. Im Jahr 1357 schlossen sich dann Florentiner Kaufmannsgesellschaften zu den Kaufleuten von der scarsela zusammen, benannt nach der Botentasche, italienisch noch heute scarsella. Ab der Zeit um 1400 sind solche Briefbeförderungsgesellschaften, derer sich auch Kaufleute bedienen konnten, die ihnen nicht angehörten, auch für Lucca, Genua, Mailand und Barcelona belegt. Außerdem ließen Fernkaufleute wie Datini, deren Gesellschaften 38 Vgl. Melis, Origini e sviluppi (wie Anm. 9), Nr. 47. 39 Vgl. Nehlsen-von Stryck, Kalkül und Hasard (wie Anm. 1); Ceccarelli, Risk-Taking (wie Anm. 7); Jacques Heers, Le prix de l’assurance maritime à la fin du moyen âge, in: Revue d’histoire économique et sociale 36, 1959, S. 7–19. 40 Vgl. Melis, Origini e sviluppi (wie Anm. 9), Nr. 23. 41 Zum Folgenden vgl. Luciana Frangioni, Organizzazione e costi del servizio postale alla fine del Trecento. Un contributo dell’Archivio Datini di Prato. Prato 1983; Federigo ­Melis, Intensità e regolarità nella diffusione dell’informazione economica generale nel Mediterraneo e in Occidente alle fine del Medioevo, in: Ders., I Trasporti e le Communicazioni nel Medioevo. (Opere Sparse di Federigo Melis, 6) Florenz 1984, S.  179–223, hier v. a. 186–193; Thomas Szabo, Art. Botenwesen, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 2. München 1983, Sp. 484–487; Ders., Art. Nachrichtenvermittlung, in: Ebd., Bd. 6. München 1993, Sp. 997 f.

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Niederlassungen und Vertreter im ganzen Mittelmeerraum und darüber hinaus hatten, geschäftliche Korrespondenz durch ihre eigenen Agenten beziehungsweise Gesellschafter befördern. Diese regelmäßigen kaufmännischen Botenverbindungen umspannten spätestens im 15. Jahrhundert das gesamte Mittelmeerbecken und reichten im Norden bis Brügge und London. Federigo Melis hat auf der Grundlage von über 125.000 Kaufmannsbriefen aus dem späten 14.  und dem 15.  Jahrhundert gezeigt, dass dieses System in der Lage war, Nachrichten zwischen den wichtigsten Handelszentren mit einer hohen Frequenz und Geschwindigkeit zu verbreiten. So brauchte ein Brief von Brügge nach Mallorca im Durchschnitt 29 Tage. Wenn er auf einer venezianischen Staatsgaleere transportiert wurde, konnte sich die Zustellung auf acht Tage reduzieren. Dabei kamen im Durschnitt alle drei Tage Briefe aus der Handelsmetropole Flanderns auf der Balearen-Insel an.42 Man muss davon ausgehen, dass das System von Botenverbindungen, das seit der Zeit um 1300 im Mittelmeerraum entstand, eine wesentliche Voraussetzung für die zeitgleiche Entstehung und Verbreitung der Seeversicherung auf Prämienbasis war. Denn die Akteure der Seeversicherung bedurften ständiger aktueller Informationen über das Geschehen auf dem Meer, um die Höhe der von ihnen übernommenen Risiken einschätzen und deren Preis, die Prämien, bestimmen zu können. Außerdem wurden viele Versicherungen erst abgeschlossen, nachdem das Schiff, das die versicherten Waren transportierte, die Anker gelichtet und den Hafen verlassen hatte. Nur selten übernahmen Versicherer das gesamte Risiko eines Transports. Vor allem bei größeren Versicherungssummen unterzeichneten sie die Police nur für einen Teilbetrag. Eine Versicherungspolice aus Pisa von 1385 listet 13 Unter­ zeichner auf, die einen Schiffstransport mit individuellen Beträgen zwischen 50 und 350 fl. für insgesamt 1700 fl. versicherten.43 Eine solche Versicherungssumme aufzubringen, konnte erhebliche Zeit in Anspruch nehmen. Bei einer Police aus Florenz aus dem Jahr 1369 dauerte es einen Monat, bis der Makler den letzten Unterzeichner für die insgesamt 1250 fl. aufgebracht hatte.44 Zu diesem Zeitpunkt hatte das Schiff längst abgelegt. Dennoch gingen die Unterzeichner davon aus, dass das von ihnen übernommene Risiko noch nicht eingetreten war, das Schiff zum Zeitpunkt ihrer Unterschrift also weder Schiffbruch erlitten hatte, noch gekapert worden war oder einen anderen Schaden erlitten hatte. Offensichtlich erwarteten sie also, dass sie andernfalls bereits entsprechende Nachrichten erhalten hätten. Diese Erwartung war angesichts der Geschwindigkeit, mit der Nachrichten im spätmittelalterlichen Mittelmeerraum übermittelt wurden, nicht unberechtigt, was nicht heißt, dass sie nicht hin und wieder enttäuscht wurde, und zwar nicht nur aufgrund von arglistiger­ 42 Vgl. Melis, Intensità e regolarità (wie Anm. 41), S. 196–198. 43 Vgl. Melis, Origini e sviluppi (wie Anm. 9), Appendice I, S. 8; allgemein hierzu Ceccarelli, Mercato del Rischio (wie Anm. 7), S. 206 f. 44 Nach Edler de Roover, Early Examples (wie Anm. 10), S. 187 f.

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Täuschung, wie sie dem Venezianer Feo del Biondo in der eingangs referierten Begebenheit widerfuhr. Bei ihren Berichten über das Geschehen auf dem Meer beziehen sich die Verfasser der Briefe immer wieder auf Nachrichten, die in den Orten, in denen sie ansässig waren, mündlich verbreitet wurden, also auf Gerüchte. Unmittelbar zur Grundlage der Risikobestimmung wurden solche Gerüchte, wenn sie Schadensfälle durch Schiffbruch oder Kaperung betrafen und die betroffenen Kaufleute zu den Maklern eilten, um doch noch eine Versicherung abzuschließen beziehungsweise den Versicherungsschutz auszuweiten. So lässt etwa am 14. Oktober 1389 ein venezianischer Kaufmann namens Antonio de Barba in Candia (heute Irkalio) auf Kreta für 200 Dukaten einen Transport auf einem Schiff Richtung Romania versichern. Anlass hierfür war, dass am gleichen Tag ein Schiff in Candia angelangt war, dessen Kapitän berichtete, er habe im Meer Schiffsteile gesehen und sich gefragt, ob etwa das Schiff des Antonio de Barba, das vor kurzem von Candia für die Fahrt durch die Romania abgelegt habe, Schiffbruch erlitten habe. Die Versicherung ist befristet vom Zeitpunkt, an dem das Schiff den Hafen verlassen hatte, bis zum Ende des Tages des Vertrags­ abschlusses. Sollte der Versicherer bis dahin sicher wissen, dass das Schiff Schiffbruch erlitten hat, sei die Versicherungssumme fällig.45 In Barcelona unterzeichnet der Kaufmann Andreu Creixells am 14. Juni 1463 eine Versicherung eines Transports einer Ladung Wolle von Barcelona nach Neapel auf drei florentinischen Galeeren für 200 Pfund. Knapp zwei Wochen später, am 14. Juni 1463, unterzeichnen außerdem die Kaufleute Galceran Sunyer und Battista Buondelmonte für je 25 Pfund, obwohl zu diesem Zeitpunkt in Barcelona das Gerücht umgeht (»es deia«), dass die genannten Galeeren durch Galeeren des Grafen von Ischia, Joan de Torelles, gekapert und die Waren der Katalanen dabei geraubt worden seien.46 Bei solchen Vertragsabschlüssen unter Unsicherheit  – propter dubium  – so heißt es in der Versicherungspolice aus Candia von 1389 – verlangten die Versicherer einen wesentlich höheren Preis für die Risiken, die sie übernahmen. Im erwähnten Fall aus Candia war die Prämie zwar nur moderat erhöht und betrug 12,5 Prozent, doch muss man hier in Rechnung stellen, dass der Versicherungsschutz auf gerade einmal einen Tag befristet wurde. Im Fall aus Barcelona kassierten die beiden späteren Unterzeichner der Police eine Prämie von 50 Prozent und damit mehr als das Achtfache des Erstunterzeichners, der für das von ihm übernommene Risiko sechs Prozent der Versicherungssumme erhalten hatte. Für solche Versicherungen unter Unsicherheit sind Prämien bis zu 70 Prozent belegt.47 Die Regel waren allem Anschein nach jedoch 20 bis 50 Pro45 Vgl. Giuseppe Stefani, L’Assicurazione a Venezia dale origini alla fine della Serenissima, Bd. 1. Triest 1956, Nr. 1. 46 Vgl. Arcadi Garcia i Sanz/Maria Teresa Ferrer i Mallol, Assegurances i canvis maritims medievals a Barcelona, Bd. 1. Barcelona 1984, Nr. 253. 47 Vgl. Melis, Origini e sviluppi (wie Anm. 9), S. 64 mit Nr. 66.

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zent.48 Zwar waren Versicherungen unter Unsicherheit spekulative Geschäfte, Wetten darauf, ob sich Gerüchte bewahrheiten würden oder nicht, doch gab es offensichtlich Gerüchte über Schiffbruch oder Kaperung, die für unterschiedlich wahrscheinlich gehalten wurden. Außerdem waren die spätmittelalterlichen Versicherer durchaus in der Lage, auch spekulative Geschäfte berechenbar zu machen. Darauf wird noch zurückzukommen sein. In den Informationsfluss über Schiffsbewegungen, Unglücke und die Aktivität von Korsaren und Piraten waren die verschiedenen Akteure unterschiedlich eingebunden. Briefe kursierten allem Anschein nach ausschließlich unter den Kaufleuten. Allerdings beruhten diese vielfach auf Gerüchten, die zunächst vor allem am Hafen umgingen. Die Makler hatten daher möglicherweise einen strukturellen Informationsvorsprung vor Versicherern und Versicherten. Denn sie hatten ihre Stände am Hafen, wo gerade angekommene Kapitäne und andere Mitglieder von Schiffsbesatzungen als erstes über das berichteten, was sie auf See gesehen und unterwegs gehört hatten. In Venedig etwa war dies am ­R ialto, wo es noch heute die Calle de la Sicurtà gibt. Es ist wiederholt belegt, dass es die Makler waren, die den Versicherern die Nachricht überbrachten, ob ein Schiff sicher angekommen war oder eben nicht.49 Doch verschafften sich auch die Kaufleute immer wieder direkten Zugang zu den Neuigkeiten, die am Hafen umliefen. In den Akten eines Versicherungsprozesses aus dem Jahr 1462 aus Venedig heißt es, der Kaufmann Polo Morosini habe sich extra zum Rialto begeben, um sich umzuhören, bevor er eine Police für ein Schiff unterschrieben habe, über das dort das Gerücht umging, es sei möglicherweise untergegangen. Die Besatzung eines am Morgen angekommenen Schiffes hatte berichtet, sie hätte bei Kreta Schiffstrümmer gesichtet.50 Auf der Basis der Informationen, über die sie verfügten, mündlichen wie schriftlichen, bildeten Versicherer, Versicherungsnehmer und Makler Erwartungen über die Zahlungen, die sie für die Übernahme des Risikos leisten mussten beziehungsweise empfangen konnten. Daraus entstand der Preis des Risi­ kos. Oft, aber nicht immer, stimmten diese Erwartungen überein. Im April 1405 etwa, so steht es in einem Brief der Datini-Gesellschaft in Valencia, erwartete ihr dortiger Agent, den Transport einer Ladung Seide nach Piombino an der toskanischen Küste für eine Prämie von fünf bis fünfeinhalb Prozent versichern zu können. Doch verlangten die Versicherer in Valencia acht bis achteinhalb Prozent. Dieser Preis erschien ihm zu hoch, und so überlegte er, zunächst einmal keine Seide in die Toskana zu versenden.51 48 Vgl. Nehlsen-von Stryck, Kalkül und Hazard (wie Anm. 1), S. 204; Mario del Treppo, I mercanti catalani e l’espansione della Corona d’Aragona nel secolo XV. Neapel 1972, S. 376; Garcia I Sanz/Ferrer I Mallol, Assegurances (wie Anm. 46), S. 176. 49 Vgl. Daveggia, Intermediazione (wie Anm.  27), S.  335; Melis, Origini  e sviluppi (wie Anm. 9), Nr. 104. 50 Vgl. Archivio di Stato di Venezia, Giudici di Petizion, SaG 137, 123r–124r (12. März 1463); hier nach Nehlsen-von Stryck, Kalkül und Hazard (wie Anm. 1.), S. 205 f. 51 Vgl. Melis, Origini e sviluppi (wie Anm. 9), Nr. 62.

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III. Von Informationen zum Wissen. Buchführung über Risiken Die Risikoexpertise von Versicherern, Versicherten und Maklern basierte jedoch nicht nur auf Informationen über aktuelle, sondern auch über vergangene Ereignisse. In seinem erwähnten Handbuch von 1458 riet Benedetto Cotrugli den Kaufleuten, die sich im Versicherungsgeschäft engagierten, nicht nur dazu, sich ständig über das Geschehen auf See zu informieren. Er gab ihnen auch einen Rat, wie sie dieses Geschäft betreiben sollten: Der Versicherer sollte kontinu­ ierlich jedes Schiff versichern, weil eines das andere ersetze, und er aus vielen Versicherungen nichts als Gewinn machen könne. Keinesfalls dürfte er die Versicherung zögerlich betreiben, denn dann habe er bei Eintritt eines Schadensfalls nichts, womit er den Verlust ausgleichen könne.52 Dem lag offenkundig die Beobachtung zugrunde, dass erfolgreiche Handelsfahrten wesentlich häufiger waren als Schadensfälle. Die Einnahmen aus den Prämien mussten daher die Ausgaben für fällige Versicherungssummen übertreffen, wenn man nur ausreichend viele Risiken gegen Bezahlung übernahm. Beobachten lassen sich solche relativen Frequenzen allerdings nur indirekt als Beobachtung zweiter Ordnung auf der Basis schriftlicher Aufzeichnungen über längere Zeiträume hinweg. Solche schriftlichen Aufzeichnungen fertigten sowohl die Makler an als auch die Kaufleute, die versicherten und sich versichern ließen. Die Niederschrift des Versicherungsvertrags oblag an manchen Versicherungsplätzen einem Notar, so in Genua, Neapel und Barcelona. In der Toskana und in Venedig bedurfte ein Versicherungsvertrag nicht der Form eines Notariatsinstruments, sondern nur der Niederschrift der Police durch den Makler.53 Doch auch dort, wo die Verträge in notarieller Form abgeschlossen werden mussten, fertigten die Makler Notizen über die von ihnen vermittelten Versicherungen an und fassten diese in bestimmten zeitlichen Abständen zu Aufstellungen der von ihnen vermittelten Geschäfte zusammen. Diese dienten der Buchführung über ihre Einnahmen aus Provisionen oder der Abrechnung mit den Kaufleuten, die sie beauftragt hatten.54 Die erwähnte Versicherungssteuer aus Genua basierte regelrecht auf der Buchführung der Versicherungsmakler. Die erhaltenen Register aus dem Spätmittelalter enthalten alle wichtigen Angaben zu den Verträgen: Kontrahenten, Schiff, Ladung, Ziel der Fahrt, Versicherungssumme und Prämienhöhe. Die 52 Vgl. Cotrugli, Il libro dell’arte di mercatura (wie Anm. 31), S. 176: »Et debbe assicurare al continuo et sopra ogni legno, perché l’uno ristora l’altro et di molti non si può che guadagnare. Et debbelo fare arditamente, che se lo fa timidamente, lo fa sopra uno legno et non sopra l’altro et venendoli quello uno a fallo non ha con che ristorare le perdite.« 53 Vgl. Nehlsen-von Stryck, Venezianische Seeversicherung (wie Anm. 1), S. 59 f.; Daveggia, Intermediazione (wie Anm. 27), S. 330 f. 54 Vgl. Melis, Origini e sviluppi (wie Anm. 9), S. 147 f. mit Nr. 184 f., S. 187; Daveggia, Intermediazione (wie Anm. 27), S. 243, 359–372; Ceccarelli, Mercato del Rischio (wie Anm. 7), S. 260.

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Genueser Versicherungsmakler mussten die Versicherungssteuer bei Vertrags­ abschluss einziehen und an die Steuereinnehmer abführen, auf Verlangen mussten sie ihnen außerdem ihre Konten offenlegen.55 Im Jahr 1524 wurde auch in Florenz eine Versicherungssteuer eingeführt. Gleichzeitig wurde die Vermittlung von Versicherungsverträgen bei einem öffentlichen Makler zentralisiert, der jedes Jahr neu gewählt werden musste und der verpflichtet war, gründlich Buch über die von ihm eingenommenen Provisionen zu führen und ein Drittel davon an die Kommune abzuführen.56 Die Makler hatten nicht nur eine Vermittlungsfunktion. Sie aggregierten in ihren schriftlichen Aufzeichnungen über längere Zeiträume hinweg Informationen über Versicherungssummen, Prämien und Schadensfälle und ließen sie Versicherern und Versicherten zukommen. Auf diese Weise trugen sie zur Ausbildung eines institutionellen Gedächtnisses der spätmittelalterlichen Seeversicherungspraxis bei. Giovanni Ceccarelli hat den schriftlichen Aufzeichnungen der Makler eine große Bedeutung für die Ausbildung von Risiko-Expertise in der spätmittelalterlichen Seeversicherungspraxis zugemessen, vor allem für ein protostatistisches Wahrscheinlichkeitskalkül. Zwar wissen wir nicht, ob die Versicherungsmakler sich der Daten in ihren Aufzeichnungen bedienten, um zu einer Einschätzung von Risiken zu gelangen. Dennoch hat man bei Betrachtung ihrer Konten und Register den Eindruck, hier die größtmögliche Annäherung an statistische Einsichten vor sich zu haben, zu der die vormoderne Versicherungspraxis in der Lage gewesen ist.57 Allerdings ist in keiner der erhaltenen Aufstellungen von der Hand von Maklern vermerkt, ob sich ein versichertes Risiko realisiert hat oder nicht.58 Die relative Häufigkeit von Schadensfällen zur Gesamtzahl der vermittelten Versicherungen konnten die Benutzer der überlieferten Aufzeichnungen von Versicherungsmaklern des 14., 15. und frühen 16. Jahrhunderts aus ihnen nicht ersehen. Dies kann ein Überlieferungszufall sein. Schließlich liegt die Zahl der bisher bekannten erhaltenen Dokumente im einstelligen Bereich. Es kann aber auch Ursachen haben, die in der Natur der Sache liegen. Für die Makler war es völlig irrelevant, ob die Risiken, deren Versicherung sie vermittelten, eintraten oder nicht. Denn ihre Provision hing zwar von der Versicherungssumme ab, dies jedoch unabhängig davon, ob diese jemals entrichtet werden musste oder nicht. Anders sah es für die Kaufleute aus, die als Versicherer auftraten. Für sie war dies, wie Cotrugli bemerkte, eine Frage von Gewinn und Verlust. 55 Vgl. Melis, Origini e sviluppi (wie Anm. 9), S. 152–159; Groneur, Die Seeversicherung in Genua (wie. Anm. 10), S. 229. 56 Vgl. Ceccarelli, Mercato del Rischio (wie Anm. 7), S. 40. 57 Vgl. ebd., S. 261. 58 Vgl. Daveggia, Intermediazione (wie Anm. 27), S. 359–372; Melis, Origini e sviluppi (wie Anm. 9), Nr. 187; Ceccarelli, Mercato del Rischio (wie Anm. 7), S. 260.

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Es erstaunt daher, dass die Forschung bisher nicht danach gefragt hat, welche Rolle die kaufmännische Buchführung für die Ausbildung von Risikoexpertise in der spätmittelalterlichen Seeversicherungspraxis spielte. Zwar hat F ­ ederigo Melis zahlreiche Rechnungsbücher des 14., 15.  und frühen 16.  Jahrhunderts daraufhin durchgesehen, inwieweit sie Versicherungsgeschäfte dokumentieren, und auch gezeigt, wie in ihnen Versicherungsgeschäfte, bei denen das übernommene Risiko eintrat, und jene, bei denen dies nicht geschah, als Ausgaben und Einnahmen gebucht wurden.59 Er hat jedoch nicht verfolgt, wie dabei Informationen über diese beiden Typen von Zahlungsereignissen in Wissen über Risiken transformiert wurde. Die italienischen Kaufleute des Spätmittelalters führten zahlreiche Bücher, die gemeinsam ein komplexes Verweissystem bildeten.60 Da sich die Informationen über Zahlungsereignisse und andere Geschäftsvorgänge beim ersten Aufschreiben allem Anschein nach nicht hinreichend ordnen ließen, wurden sie mehrfach von einem Buch in ein anderes übertragen und dabei immer stärker systematisiert und homogenisiert. Franz Arlinghaus hat am Beispiel der Datini/ di Berto-Gesellschaft in Avignon (1367–1373) gezeigt, wie dieses mehrstufige System der Informationsverarbeitung funktionierte und in welchem Typ von Rechnungsbuch die Informationen aufgenommen und verarbeitet wurden.61 Von den fünf Stufen der Informationsverarbeitung, die er herausgearbeitet hat, sind in unserem Zusammenhang allerdings nur die ersten drei von Interesse. Auf der ersten Stufe hielten die Kaufleute die Informationen fest, die für sie speicherungswürdig waren, und nahmen dabei eine erste Gliederung derselben vor. Das wichtigste Buch war hier die sogenannte Ricordanza. In dieses wurden tagtäglich Verkäufe aber auch unspezifische Vermerke über verschiedenste Geschäftsvorgänge eingetragen. Es war daher ein Speichermedium für ganz unterschiedliche Informationen. Auf der zweiten und dritten Verarbeitungsstufe, im Memoriale und dann im Libro Grande beziehungsweise Libro Mastro wurden ausschließlich Informationen über Zahlungen eingetragen. Im Memoriale wurden dabei in un­regel­ mä­ßigen Abständen gleichförmige Einträge aus der Ricordanza zu Konten zusammengefasst, die in Soll und Haben gegliedert waren.62 Diese wurden aus 59 Vgl. Melis, Origini e sviluppi (wie Anm. 9), S. 80–147. 60 Vgl. Franz-Josef Arlinghaus, Zwischen Notiz und Bilanz. Zur Eigendynamik des Schriftgebrauchs in der kaufmännischen Buchführung am Beispiel der Datini/di Berto Handelsgesellschaft in Avignon (1367–1373). (Gesellschaft, Kultur und Schrift. Medävistische Beiträge, 8) Frankfurt am Main 2000, S.  113–119; Raymond de Roover, The Development of Accounting Prior to Luca Pacioli According to the Account Books of Medieval Merchants, in: Ders./Julius Kirshner (Hg.), Business, Banking, and Economic Thought in Late Medieval and Early Modern Europe. Selected Studies of Raymond de Roover.­ Chicago Ill. u. a. 1974, S. 119–180, hier 127; Bruno Dini, Art. Buchhaltung II .: Italien, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 2. München 1983, Sp. 830–833. 61 Vgl. Arlinghaus, Zwischen Notiz und Bilanz (wie Anm. 60), S. 181. 62 Vgl. ebd., S. 229–232.

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buchungspraktischen Gründen immer wieder saldiert, nämlich dann, wenn der für ein Konto vorgesehene Platz mit Einträgen gefüllt war und das entsprechende Konto vorgetragen wurde.63 Damit bildeten die Konten im Memoriale eine Vorstufe für die Konten des Libro Grande beziehungsweise Mastro, die den Zweck der Zwischenrechnung hatten, nämlich zu einem bestimmten Zeitpunkt das Soll und Haben der Gesellschaft auf einem bestimmten Konto zu ermitteln.64 Seit Ende des 14. Jahrhunderts setzte sich dabei die Praxis durch, dare und avere als sogenannte sezioni contrapposte auf zwei Seiten oder in zwei Spalten auf einer Seite gegenüberzustellen. Die Gliederung der Bücher in einen vorderen Soll- und einen hinteren Haben-Teil, wie sie etwa für die Gesellschaften Datinis bis in die 80er Jahre des 14. Jahrhunderts belegt sind, wurde nun unüblich.65 Die Konten waren vor allem Personenkonten. Sie verbuchten Soll und Haben der Gesellschaft bei Geschäftspartnern, Maklern, Lieferanten, Kunden etc. In den Ricordanze gibt es jedoch auch Sachkonten, etwa Warenverkaufskonten. Darüber hinaus existierten auch Ricordanze, in denen ausschließlich Vorgänge verzeichnet wurden, die mit einem spezifischen Geschäft verbunden waren. Versicherungsgeschäfte wurden weitestgehend mit denselben Techniken verbucht wie andere geschäftliche Vorgänge. Doch gibt es einige Besonderheiten, die aus der Spezifik des Geschäfts resultierten. In den Ricordanze und den­ Memoriali sind Einnahmen und Ausgaben für Prämien, Maklergebühren und Versicherungssummen vor allem in Personenkonten verbucht.66 Sie stehen dort gemeinsam mit anderen Einnahmen oder Ausgaben. Einnahmen aus Versicherungsprämien wurden jedoch nicht nur in Personenkonten, sondern auch in spezifischen Versicherungskonten vermerkt, und zwar auf allen drei Stufen der kaufmännischen Buchführung. Für eine der Gesellschaften Francesco Datinis ist eine Ricordanza aus dem späten 14. Jahrhundert überliefert, die nur Prämieneinnahmen verzeichnet. Sie hat die Form eines Heftes, in das alle Versicherungen eingetragen wurden, die die Gesellschaft zwischen dem 3. August und dem 23. September 1383 vergab.67 Wie Einträge über Schulden, die durchgestrichen wurden, wenn die entsprechende Schuld bezahlt wurde, so wurden Einträge über Prämieneinnahmen kanzelliert, sobald der Versicherer die Nachricht erhalten hatte, dass das Schiff sicher den Hafen erreicht hatte oder dass eine Person, deren Leben er für eine bestimmte Zeit versichert hatte, nach Ablauf der Zeit noch lebte. Dabei wurde der Eintrag um eine entsprechende Bemerkung ergänzt.68 Damit war klar, dass 63 Vgl. ebd., S. 248. 64 Vgl. ebd. 65 Vgl. ebd., S. 143 f. 66 Vgl. Melis, Origini e sviluppi (wie Anm. 9), Nr. 96 f., S. 103–106. 67 Vgl. Enrico Bensa, Francesco di Marco da Prato, notizie e documenti sulla mercatura italiana del secolo XIV. Mailand 1928, S. 397–399; Melis, Origini e sviluppi (wie Anm. 9), S. 85 f. mit Nr. 108. 68 Vgl. Melis, Origini e sviluppi (wie Anm. 9), Nr. 97, S. 101–105.

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bei der Weiterverarbeitung der Information im Memoriale nur Zahlungen auf der Haben-Seite, für die eingenommene Prämie, und nicht auch auf der SollSeite für die Zahlung der Versicherungssumme, verbucht werden mussten.69 Auch bei den Einträgen der erwähnten Ricordanza der Pisaner Datini-Gesell­ schaft von 1383 wurde vermerkt, wenn das Schiff das Ziel sicher erreicht hatte und die Versicherer »vom Risiko befreit (liberi del rischio)« waren. Geht man davon aus, dass Kaufleute, die als Versicherer agierten, solche Aufstellungen regelmäßig anfertigten, dann ermöglichte ihnen bereits die erste Stufe der Informationsverarbeitungen in ihrer Buchführung einen groben Überblick darüber, wie oft die Risiken, die sie übernommen hatten, tatsächlich eingetreten waren. Mehr noch als einen groben Überblick ermöglichten ihnen jedoch die Konten in den Büchern, in denen diese Informationen weiterverarbeitet wurden. Dies gilt vor allem für Konten im Libro Grande beziehungsweise Mastro, die den Zweck hatten, das Verhältnis von Soll und Haben auf einem bestimmten Konto zu einem bestimmten Zeitpunkt zu saldieren. Dies zeigen zwei Konten aus den Büchern zweier Gesellschaften Florentiner Kaufleute aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, der Gesellschaft von Francesco und Bernardo Cambini und der persönlichen Gesellschaft des Bernardo Cambi in Brügge. Beide sind spezifische Konten für Versicherungsgeschäfte (Conto sicurthà), die dare und avere für den Zeitraum von knapp beziehungsweise gut einem Jahr verbuchen.70 In beiden Konten bestand das Soll aus exakt einem Posten und das Haben aus 16 (Cambini) beziehungsweise 18 (Cambi) Buchungen von Einnahmen aus Prämien. In beiden Konten sind Soll (links oben) und Haben (rechts oben) dabei als sezioni contrapposte auf zwei Seiten einander gegenübergestellt. Die Benutzer der Rechnungsbücher konnten daher gewissermaßen auf einem Blick sehen, wie häufig Schadensfälle im Verhältnis zur Gesamtzahl der von ihnen vergebenen Versicherungen im abgerechneten Zeitraum aufgetreten waren. Sowohl die Cambini als auch Cambi schlossen im saldierten Zeitraum mit Gewinn ab. Bei ersteren waren es 27.3.4 fl. Bei letzterem betrug das Saldo aus Einnahmen von 100.11.9 fl. und Ausgaben von 15.15.6 fl. sogar 84.25.3 fl. Im abgerechneten Zeitraum von gut einem Jahr machte Cambi mit den von ihm vergebenen Versicherungen einen Gewinn von 80 Prozent. Als Benedetto Cotrugli den Versicherern 1458 in seinem erwähnten Kaufmannshandbuch riet, möglichst häufig zu versichern, weil dann die Einnahmen (aus Prämien) die Ausgaben für Versicherungssummen bei Schadensfällen überträfen, so dass sie auf jeden Fall Gewinn machen würden, formulierte er also nur jenes Wissen über Risiken und Gewinnchancen im Versicherungs69 Vgl. ebd., Nr. 102. 70 Vgl. Melis, Origini e sviluppi (wie Anm. 9), Nr. 155–158; zu Versicherungsgeschäften in den Rechnungsbüchern Cambis vgl. auch Edler de Roover, Early Examples (wie Anm. 10), S. 190–194. Die Zeiträume waren vom 10. April 1451 bis 5. April 1452 (Cambini) und vom 11. Dezember 1452 bis 16. Januar 1454 (Cambi).

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geschäft, welches die italienischen Fernhandelskaufleute seit langem durch ihre Buchführung erworben, ja produziert hatten.71 Möglicherweise verdankte­ Cotrugli selbst sein Wissen über die relative Frequenz, mit der Versicherer für die von ihnen übernommenen Risiken aufkommen mussten, der Buchung von Soll und Haben aus Versicherungsgeschäften. Denn sein Kaufmannsmanual von 1458 enthält nicht nur die erste historisch belegte Abhandlung über das Versicherungsgeschäft. In ihm thematisiert Cotrugli auch als erster Autor des Mittelalters die zeitgenössische Technik der kaufmännischen Buchführung.72 Man ist daher geradezu geneigt, von der Geburt eines protostatistischen Wahrscheinlichkeitskalküls aus der spätmittelalterlichen Buchführung über Versicherungsgeschäfte und damit letztlich aus der Seeversicherungspraxis zu sprechen. Allerdings bestand die Risikoexpertise, die die spätmittelalterlichen Kaufleute durch die Verarbeitung von Informationen über Zahlungen im Zusammenhang mit Versicherungsgeschäften in ihren Büchern gewannen, nicht nur im Wissen über relative Frequenzen. In den Konten der Cambini und Cambis aus den 50er Jahren des 15. Jahrhunderts sind Zahlungen verbucht, die aus sehr unterschiedlichen Formen von Versicherungen resultierten. Die überwiegende Zahl sind Transportversicherungen, zwölf von sechzehn (Cambini) und zehn von achtzehn (Cambi). Von diesen betreffen bei den Cambini elf Transporte zur See und eine einen Landtransport. Bei Cambi sind es drei Versicherungen von See- und sieben von Landtransporten. Bei den Cambini handelte es sich bei den übrigen vier Versicherungen allesamt um Lebensversicherungen, zwei davon für schwangere Frauen. Die anderen beiden sind Wettversicherungen auf das Leben von Fürsten. Am 16. Dezember 1451 hatten sie eine Prämie von drei Prozent auf eine Versicherungssumme von 100 fl. eingenommen, die sie dem Versicherungsnehmer auszahlen sollten, falls Papst Nikolaus V. bis zum folgenden März das Zeitliche segnen sollte. Ein ähnliches Geschäft schlossen sie am 11. März 1452 auf das Leben König Alfons V. von Aragón ab. Hier betrug die Prämie fünf Prozent. Auch das Konto Bernardo Cambis verbucht vier solcher Wettversicherungen auf das Leben von Fürsten, je eine auf das Leben des Dogen von Venedig und abermals Papst Nikolaus V. sowie zwei auf das Leben König Alfons V. von­ Aragón. Die Prämien betrugen dabei zwischen drei und acht Prozent. Die restlichen Versicherungen waren Wetten ganz unterschiedlichen Inhalts. Zwei betrafen politische Ereignisse. Am 12. Mai 1453 nahm Cambis Gesellschaft sieben Prozent des Wetteinsatzes von 100 fl. an, falls ein Frieden zwischen Venedig und dem König von Aragón binnen neun Monaten gebrochen werden sollte. Ebenfalls 100 fl. wurden fällig, falls es Venedig gelingen sollte, während zwölf Monaten nach dem Abschluss der Versicherung die vier Städte 71 S. o., S. 67. 72 Vgl. Cotrugli, Il libro (wie Anm. 31), S. 171–174; Basil Selig Yamey, Benedetto Cotrugli on Bookkeeping (1458), in: Accounting, Business and Financial History 4, 1994, S. 43–50.

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Padua, Verona, Brescia und Bergamo zu behaupten. Ein weiteres Geschäft betraf ein unvorhersehbares Ereignis, das nach wie vor zu den Klassikern des Wettgeschäfts gehört: den Ausgang eines Pferderennens. Der Versicherungsnehmer sollte 25 fl. bekommen, falls beim nächsten Palio von San Giovanni (24. Juni) in Florenz die ersten drei Pferde in einer bestimmten, von ihm benannten Reihenfolge einlaufen sollten.73 Die letzte Versicherung schließlich betraf das Geschlecht eines Kindes, dessen Geburt unmittelbar bevorstand. Hier versicherte sich der Vater dagegen, dass das Kind ein Mädchen werden könnte und er dann eine Mitgift von 500 fl. beim Monte delle doti ansparen müsste.74 Es war dieses Geschäft, das die Buchung auf der Soll-Seite des Kontos verursacht hatte. Die Ehefrau des Versicherungsnehmers hatte ein Mädchen zur Welt gebracht und Cambi musste am 4. September 1453 15.15.6 fl. an ihn auszahlen, was einem Viertel der Summe entsprach, die angelegt werden sollte. Offensichtlich hatte Cambi hier also nur einen Teil des versicherten Risikos getragen. Die Forschung hat sich immer wieder mit der Frage beschäftigt, wie spekulativ das spätmittelalterliche Versicherungsgeschäft war, und dabei diametral gegensätzliche Thesen formuliert. Vor allem die ältere wirtschaftshistorische Forschung hat dabei die spekulative Dimension hervorgehoben: »ungewöhnlicher Gewinn gegen ungewöhnliches Risiko«.75 Jüngere rechtshistorische Untersuchungen haben dagegen betont, dass die Kaufleute des spätmittelalterlichen Mittelmeerraums danach strebten, Versicherungen »als reguläres Investitionsobjekt zu gestalten«, indem sie versuchten, Risiken zu kalkulieren, zu reduzieren und zu beherrschen. Doch fiel es bis dato schwer, die Wettversicherungen beziehungsweise Wetten, die dem damaligen Sprachgebrauch zufolge als Versicherungen bezeichnet wurden, in dieses Bild der spätmittelalterlichen Versicherungspraxis als Teil der »seriösen Geschäftswelt« zu integrieren und das Verhältnis von »Kalkül und Hasard« zu bestimmen.76 Die hier betrachteten Rechnungsdokumente aus der Mitte des 15. Jahrhunderts legen nahe, dass Wettversicherungen nicht nur ein Randphänomen, sondern integraler Bestandteil des spätmittelalterlichen Versicherungsgeschäfts waren. Bei Cambi machen sie fast die Hälfte der Geschäfte des abgerechneten Zeitraums aus (acht von achtzehn). Damit war er wahrscheinlich kein Einzelfall.77 In beiden Büchern stehen die Wettversicherungen neben Versicherungen von gleichförmigen Transportrisiken, so dass man geradezu den Eindruck 73 Zu Wetten auf den Ausgang der Palio-Rennen in Florenz vgl. zuletzt: Christian Jaser, Agonale Ökonomien. Städtische Sportkulturen des 15. Jahrhunderts am Beispiel der Florentiner Palio-Pferderennen, in: Historische Zeitschrift 298, 2014, S. 593–624, hier 619–622. 74 Vgl. hierzu Anthony Molho, Investimenti nel Monte delle Doti di Firenze, in: Ders., Firenze nel Quattrocento. Bd. 2: Famiglia e società. (Storia e letteratura, 246) Rom 2008, S. 127–148. 75 Wilhelm Endemann, Das Wesen des Versicherungsgeschäfts, in: Zeitschrift für das gesammte Handelsrecht 9, 1866, S. 284–327, hier 309; Jean Halpérin, Le rôle des assurances dans les débuts du capitalisme moderne. Neuchâtel 1945. 76 Nehlsen-von Stryck, Kalkül und Hasard (wie Anm. 1), S. 199, 208. 77 Vgl. Melis, Origini e sviluppi (wie Anm. 9), S. 137–139 mit Nr. 174 f.

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einer Mischkalkulation von unbestimmbaren und gut einschätzbaren Risiken gewinnt. Weitere Forschungen auf der Basis von ungedruckten Abrechnungs­ dokumenten versprechen hier zusätzliche und tiefere Erkenntnisse. Doch wird bereits auf der Basis der hier untersuchten gedruckten Quellen deutlich, dass die Risiko-Expertise, die die Versicherer des Spätmittelalters durch die Verarbeitung von Informationen über die von ihnen getätigten Versicherungsgeschäfte in der Buchführung gewannen, nicht nur im Kalkül von relativen Frequenzen und der Gewinnträchtigkeit des Geschäfts bestand, sondern auch darin, unkalkulierbare Risiken berechenbar zu machen. Dass diese Rechnungen nicht immer aufgingen, steht auf einem anderen Blatt.78 IV. Schluss Kaufleute und Makler des spätmittelalterlichen Mittelmeerraums, vor allem der italienischen Handelsmetropolen, entwickelten seit dem 14.  Jahrhundert eine spezifische Risiko-Expertise. Ein Botensystem, das sich im 14. Jahrhundert ausdifferenzierte und Briefe im gesamten Mittelmeerraum und darüber hinaus mit hoher Geschwindigkeit und Frequenz transportierte, machte es möglich, kontinuierlich Nachrichten über das Geschehen auf See einzuholen und so aktuelle Gefahrenlagen zu beobachten und Erfahrungswissen über strukturelle Risiken des Seehandels auszubilden. Neue Techniken der Buchführung, die sich ebenfalls während des 14. Jahrhunderts in Italien entwickelten, ermöglichten außerdem die Transformation von Informationen über Zahlungen, die aus Versicherungsgeschäften resultierten, in Wissen über relative Häufigkeiten von Schadensfällen zur Gesamtzahl der abgeschlossenen Versicherungen und damit ein protostatistisches Wahrscheinlichkeitskalkül. Anders als bis dato angenommen, spielten dabei nicht die Aufzeichnungen der Makler die wichtigste Rolle, sondern die Rechnungsdokumente der Kaufleute. Nur hier wurden Ausgaben für Schadenssummen und Einnahmen aus Prämien gegenübergestellt, bilanziert und so die Relation von eingetretenen zu übernommenen Risiken beobachtbar. Gleichzeitig ließen sich schwer beziehungsweise gar nicht kalkulierbare Risiken, wie die Lebens­ erwartung von Fürsten, nun zumindest hinsichtlich ihrer Wirtschaftlichkeit berechenbar machen. Die Risiko-Expertise der spätmittelalterlichen Makler und vor allem der Kaufleute war zunächst ein praktisches Wissen. Es war ein knowing that, das aus verschiedenen Formen des knowing how hervorging.79 Aus dem Wissen, mit welchen Vertragsformen man Seegeschäfte tätigte, Informationen über das Ge78 Vgl. Edler de Roover, Early Examples (wie Anm. 10), S. 194. 79 Vgl. Andreas Reckwitz, Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32, 2003, S.  282–301, hier vor allem 285–290.

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schehen auf See sammelte und verarbeitete und vor allem, wie man Zahlungsereignisse verbuchte, entstand das Wissen über relative Häufigkeiten und damit über Wahrscheinlichkeiten. Diese Praktiken gehörten allesamt zu einem Feld, das als Markt strukturiert war. Sie waren verbunden mit Zahlungen und Zahlungserwartungen. Der Markt des Risikos war somit ein Wissensmarkt, der neues Wissen über Risiken hervorbrachte.

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Eva Brugger

Die Produktivität des Scheiterns Das Projektemachen als ökonomische Praktik der Frühen Neuzeit

Projekte haben Konjunktur, sie begegnen uns überall. Im 2004 von Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann und Thomas Lemke herausgegebenen Glossar der Gegenwart reiht sich das Projekt zwischen Einträge wie Beratung, Community, Erfolg, Gouvernance und Netzwerk ebenso ein, wie zwischen Risiko, Terror oder Virus, und erscheint damit als ein zentraler Bestandteil unserer Gesellschaft. Ausgeführt wird, heutzutage könne alles ein Projekt sein: »[E]ine Liebesbeziehung; ein Buch, das man zu schreiben vorhat; ein Engagement in gemeinnützigen oder karitativen Vereinen; ein künstlerisches Unterfangen (ein »Videoprojekt« oder ein »Filmprojekt«); etwas, das aus dem Rahmen fällt wie die Projektwochen in Schulen, in denen kein gewöhnlicher Unterricht stattfindet, sondern die Schülerinnen und Schüler die Pausenhofmauer bemalen, ein Biotop anlegen oder die Stadtgeschichte erforschen.«1

Allerdings, so schiebt der Autor des Beitrages, Felix Klopotek, hinterher, so alltäglich und inflationär der Projektbegriff auch sein mag, beliebig ist er nicht. Vielmehr vereinen alle Projektformen die folgenden Merkmale: Sie sind zielgerichtet und partizipativ, sie verfügen über eine eigene Zeitlichkeit und sind nicht auf Dauer angelegt. Das Projekt übersteigt damit den allgemeinen Sinn des deutschen Wortes »Vorhaben« und findet sich im privaten Bereich ebenso wie als Begriff wieder, der die Organisationsformen der modernen Arbeitswelt beschreibt und für »nicht-hierarchische, nicht-bürokratische Formen der Kooperation […] in den so genannten Kreativitätsindustrien, in den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen, [in] Wissenschaft und Technologie« steht.2 Die aktuelle Popularität des Projektbegriffes bildet den Ausgangspunkt mei­ nes Beitrages, der sich mit einer vormodernen Wirtschaftspraktik, der Praktik des Projektemachens im 17. und 18. Jahrhundert, befasst. Ausgehend von Daniel Defoes »An Essay Upon Projects« (1697) werde ich mich zunächst mit der Figur des Projektemachers im 17. Jahrhundert (Teil I) auseinandersetzen und damit eine Expertenfigur des Ökonomischen in den Blick nehmen, die sich in der Grauzone von explizitem und implizitem Wissen konstituierte. Denn 1 Felix Klopotek, Projekt, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.), Glossar der Gegenwart. Frankfurt am Main 2004, S. 216–220, hier 216. 2 Ebd.

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die Praktik des Projektemachens im 17. und 18. Jahrhundert (Teil  II) umfasste weit weniger den Austausch von Waren und Geld, als vielmehr den Handel mit Versprechen und Risiken. Abschließend werde ich vor dem Hintergrund dieser begriffsgeschichtlichen und konzeptionellen Überlegungen am Beispiel der Kolonie New Netherland zeigen, welche Neuakzentuierungen der Geschichte europäischer Expansionsvorhaben in der Vormoderne vor dem Hintergrund einer Projektgeschichte möglich werden (Teil III). I . »The Age Of Projecting« – Projektemacher in

der Frühen Neuzeit Die Geschichte des Projektbegriffes setzte zunächst etwas andere Akzente als es das heutige Verständnis vermuten lässt: Im Deutschen ist der Begriff des Projektes seit dem 17. Jahrhundert verbreitet. Das Projekt bezeichnet – so in Grimms Wörterbuch  – »ein vorhaben und de[n] plan dazu, de[n] anschlag, [den] entwurf«.3 Das Bedeutungsspektrum des Begriffes changierte zwischen »entwerfen« einerseits und »hinwerfen« andererseits – und somit war das Konzipieren und Durchführen im Projektbegriff ebenso angelegt wie die Unsicherheit der Realisierung und die permanente Möglichkeit des Scheiterns.4 Zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde der Projektbegriff zunächst vor allem als strategisch-militärischer Begriff verwendet. Gemeinsam mit weiteren Begriffen, wie »Entwurf«, »scheme« und »design«, fand er im Verlauf des Jahrhunderts im Englischen, Deutschen und Französischen zunehmend Einsatz, um politische und ökonomische Vorhaben als neuartig und innovativ auszuweisen. Charakteristisch für ein Projekt war dabei, dass es zunächst nur ein geplantes Vorhaben war. Dass also nicht klar war, ob sich ein Projekt realisieren ließ, ob genügend InvestorInnen und FörderInnen gefunden oder ob der prophezeite Gewinn erzielt werden konnte. Als einer der Ersten beobachtete Daniel Defoe die zeitgenössische Popularität von Projekten im 17. Jahrhundert. Der »Geschäftsmann, Spekulant, Ziegeleibesitzer, Journalist, Regierungsberater, Geheimagent, Zeitungsherausgeber, Historiker, Schriftsteller«5, der ohne weiteres selbst als Projektemacher beschrieben 3 Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Siebenter Band, N. O. P. Q. Leipzig 1889, Sp. 2163. 4 Markus Krajewski, Über Projektemacherei. Eine Einleitung, in: Ders. (Hg.), Projektemacher. Zur Produktion von Wissen in der Vorform des Scheiterns. Berlin 2004, S. 7–28, hier 11. 5 Defoe zeigte eine »ständige Bereitschaft, neu zu beginnen, in Parallelexistenzen zu leben, Beziehungsnetze auszunutzen, Generalistisches mit Spezialisierung in Balance zu halten. […] Als Bankrotteur, Schuldner und Autoritäten beleidigender Kritiker mehrmals in Haft, hat er die Risiken exponierter Lebensweisen drastisch zu spüren bekommen, sich aber stets wieder neue Wirkungsbereiche erschlossen, sich von Projekt zu Projekt retten können.« Christian Reeder, Daniel Defoe. Beginn des Projektezeitalters, in: Daniel Defoe, Ein Essay über Projekte, herausgegeben und kommentiert von Christian Reeder. Wien 2006, S. 7–86, hier 14 f.

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werden kann, rief 1697 in seiner Schrift »An Essay Upon Projects« die Zeit des Projektemachens – »the Age Of Projecting« – für die Jahrzehnte um 1680 aus.6 Eng verknüpft war das Projekt im 17. Jahrhundert – und damit im Gegensatz zu heute, wo Projekte meist selbst die Daseinsform darstellen, denen sich alle u ­ nterwerfen  – mit denjenigen, die die Pläne, Ideen und Vorhaben konzipierten und entwickelten. Das Englische, Spanische und Französische hielt unterschiedliche Begriffe für sie bereit: »projector«, »schemist«, »arbitrista«, »proyectista«, »faiseur de projets«, »donner d’avis«. Im Deutschen wurden sie »Projektenmacher«, »Projektmacher«, »Projectanten« oder »Projektemacher« genannt.7 Diejenigen, die neue Projekte lancierten, warben mit dem Versprechen auf eine bessere Zukunft.8 Projektemacher ließen sich durch ihr Vorhaben charakterisieren, etwas Neues, noch nie Dagewesenes, von dem bisweilen nur ein Entwurf oder eine Idee existierte, in ein ökonomisch gewinnbringendes Unterfangen zu transformieren. Der Projektemacher galt als innovativ und erfinderisch, gleichermaßen stand aber stets offen, ob sich seine Pläne realisieren ließen.9 In der kulturwissenschaftlichen wie wirtschaftshistorischen Forschung gilt der Projektemacher heute insbesondere als Phänomen des 17.  und 18.  Jahrhunderts. Allerdings wird stets betont, dass es sich nicht um eine neue Figur handle.10 Daniel Defoe lässt seine »History of Projects« gar mit dem Bau der Arche Noah und dem Turmbau zu Babel beginnen und bemerkt: »I allow – no Age has been altogether without something of this nature.«11 Die Londoner Wasserhäuser oder der New River seien Beispiele für »some very happy Projects« 6 Daniel Defoe, An Essay Upon Projects. The Stoke Newington Daniel Defoe Edition, hrsg. von Joyce D. Kennedy u. a. (AMS Studies in The Eigtheenth Century, 30) New York 1697/1999, S. 1. 7 Krajewski, Über Projektemacherei (wie Anm. 4), S. 11. 8 Um nur ein Beispiel zu nennen: John Law sammelte für eines der bekanntesten Projekte im 18.  Jahrhundert mit der Aussicht, auf dem Fuße des Mississippi Rivers Edelsteine zu finden, beträchtliche Summen in Frankreich ein, die das Königreich beinahe an den Rand des Staatsbankrotts brachten und als »Mississippi Bubble« in die Geschichtsbücher einging. Zur Spekulationsblasen und Finanzkrisen in der Vormoderne siehe stellvertretend Cihan Bilginsoy, A History of Financial Crises. Dreams and follies of expectations. London 2015. 9 Vor allem im 18. Jahrhundert wurde der Projektemacher zu einer Schwellenfigur, die die Aufrichtigkeit ihrer Vorhaben immer zuerst unter Beweis stellen musste und ihre Gestalt »als ein Produkt einer Paarung aus Ingenieur und Dilettant, aus Abenteurer und Karrierist, aus Reformer und Glückspieler« erhielt. Krajewski, Über Projektemacherei (wie Anm. 4), S. 22. 10 Schon der Ökonom und Soziologe Werner Sombart spürt in seiner grundlegenden Studie zum Bourgeois von 1913 erste Projektemacher am spanischen Hof des 16. Jahrhunderts auf. Siehe Werner Sombart, Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen. München 21920. 11 Defoe, Essay Upon Projects (wie Anm. 6), S. 17.

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jenseits des »Age Of Projecting«, die den »taste of their Success« hinterlassen hätten. Es seien, so fährt Defoe fort, »Perfect Projects, adventur’d on the risque of Success.«12 Im 17. Jahrhundert, so lässt sich festhalten, tritt der Projektemacher gehäuft auf. An den Literaturwissenschaftler Georg Stanitzek anschließend kann in dieser Zeit die hybride wie paradoxale Ausgestaltung einer Figur beobachtet werden, die sich gerade »in den Turbulenzen des westeuropäischen Übergangs von der ständischen zur funktional differenzierten Gesellschaft« entfaltete.13 Mathematische Errungenschaften, veränderte Zeitkonzepte und neue Ökonomien des globalen Handelns führten einerseits dazu, dass wirtschaftlicher Erfolg nicht länger an die Kontingenz der Fortuna gebunden wurde, dass neue Wirtschaftszentren und -orte entstanden, und neue Akteure die schillernde Welt der Finanzen und ihr Parkett der Investitionen betraten. Anderseits ließ sich der Zufall nie restlos herausrechnen und die Krisen und Spannungen, die die alte Welt als »gebeuteltes« Europa erscheinen ließen, konfrontierten die Welt der Projektemacher immer auch mit einer Realität, in der das Scheitern des Einzelnen existentielle und radikale Folgen mit sich zog. Die Figur, so Stanitzek daher weiter, »lebt[e] von diesen Turbulenzen, [begriff] sie als Chance« und trug durch ihr Handeln selbst zur Unstetigkeit und Unrast bei.14 Der Projektemacher war im 17. Jahrhundert, so lässt sich subsumieren, eine Figur, die Unruhe forderte und brauchte, um sich zu generieren, wie zu regenerieren. Die zentrale, wirtschaftshistorische Rolle der Projektemacher in der Frühen Neuzeit erkannte bereits Werner Sombart in seiner Studie zum Bourgeois: »Es gab geradezu einen Beruf, eine ›Zunft‹ der Projektenmacher, deren Aufgabe also darin bestand, Fürsten, Große, Reiche im Land für ihre Pläne zu gewinnen, sie zu ihrer Ausführung zu bewegen.«15 Und er fährt fort, man achte hier auf den Wechsel ins Präsens: »Überall, wo einflussreiche Personen sind: an den Höfen, bei den Parlamenten begegnen wir solchen Projektenmachern; aber auch auf der Straße, auf dem Markte stehen sie und halten ihre Ideen feil.«16 Gerade das 17.  Jahrhundert zeichnete sich als Projekte-Zeitalter aus, denn – so Sombart weiter – das Jahrhundert sei »meines Wissens [das Erste], in der die Sucht zu Neugründungen kapitalistischer Unternehmungen in dieser epidemischen Weise Völker ergriffen hat, wie damals namentlich die Engländer und Franzosen.«17 Anhand der französischen donneurs d’avis beschreibt Sombart ausführlich die Erscheinungsformen, Praktiken und Bühnen der Projektemacher: 12 Ebd. 13 Georg Stanitzek, Der Projektmacher. Projektionen auf eine »unmögliche« moderne Kategorie, in: Ästhetik und Kommunikation 65/66, 1987, S. 135–146, hier 135. 14 Ebd. 15 Sombart, Bourgeois (wie Anm. 10), S. 53. 16 Ebd. 17 Ebd., S. 117.

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»Man begegnet ihnen immer in dem Augenblick, in dem sie irgendeine glänzende Sache ausfindig gemacht haben. Sie schlüpfen in die Vorzimmer, treten die Schwellen der Staatsbeamten ab und pflegen mit den galanten Frauen geheimnisvolle Zwiesprache. Ihr Heute ist bejammernswert: ihr Morgen ist voll von Versprechungen und von Licht. Dieses Morgen wird ihnen die berühmte Million bringen. Sie haben Verstand, mehr Einbildungskraft als Urteilskraft. Oft genug kommen sie mit kindischen, bizarren, grotesken, ungeheuerlichen Ideen, deren Konsequenzen sie jedoch mit mathematischer Genauigkeit entwickeln. Ihr Rat, den sie erteilen (avis), ist die Idee von heute: für die Erteilung des Rates, für den Verkauf ihrer Idee bekommen sie eine Vergütung: den droit d’avis. […] Unter ihnen findet man die verkannten Erfinder, die Romantiker der Tat, die unruhigen und feinorganisierten Gehirne, Bankrotteurs, mit einem möglichst düstern Hute auf dem Kopfe, Bohemiens, die aus der Bourgeoisie entwischt sind und nun gerne wieder hinein möchten. Kühne und aussichtsreiche Leute, die ihr Brot im Rauch der Garküche verdienen, wenn der Gimpel, den man rupfen wollte, sich nicht eingestellt hat, schmutzige Abenteurer, die im Kot auf der Straße oder in der vergoldeten Haut eines großen Financiers endigen.«18

Anhand des Projektemachers ist es, so haben vor allem kulturwissenschaftliche Studien gezeigt, möglich, eine frühneuzeitliche Figur zu beschreiben, die sich gängigen Fortschrittsnarrativen verschließt.19 An ihr lässt sich – meist ausgehend von ihrer finanziellen Situation – ein Zustand des Vorläufigen beobachten, dessen Ausgang ungewiss bleibt, weil unklar war, ob ihr Projekt trägt, sich finanzieren und durchführen ließ. Dabei ist es bezeichnend, wie das Zitat von Sombart verdeutlicht, dass die Figur des Projektemachers immer auch von ihren äußeren Rändern aus beobachtet wird, und ihre Grenzen zu Figuren wie der des Hochstaplers oder Betrügers durchaus verwischen. Das trifft insbesondere auf die Figur des Projektemachers im 18.  Jahrhundert zu, die in kameralwissenschaftlichen Studien, wie bei Heinrich von Zincke20 oder Johann Heinrich Gottlob von Justi21, oder in populären Bühnenstücken, etwa in der Komödie »Der Projektmacher« (1766) von Christian Felix Weiße, sowie in dem Lustspiel »Die lächerlichen Projectanten« (1811) von Josef Richter, thematisiert wurden.22 18 Ebd., S. 56–58. 19 So etwa der bereits zitierte Sammelband von Krajewski, Über Projektemacherei (wie Anm. 4). 20 Georg Heinrich Zincke, Vorrede, worinnen von Projecten und Projecten-Machern gehandelt wird, in: Peter Krezschmers, Oeconomische Vorschläge, Wie das Holtz zu vermehren, Die Strassen mit schönen Alleen zu besetzen, in gerade Linien, wodurch selbige weit kürtzer und verbessert werden, von Ort zu Ort zu bringen, mehr Aecker dadurch fruchtbar zu machen, und die Maulbeer=Baum=Plantagen damit zu verknüpffen. Endlich aber auch die Obst=Bäume anzulegen, und die Sperrlinge nebst denen Maulwürffen zu vertilgen sind […]. Leipzig 1744, S. 5–48. 21 Johann Heinrich Gottlob von Justi, Gedanken von Projecten und Projectmachern. Leipzig 1761. 22 Projektemacher galten bereits im 17. Jahrhundert, so betont auch Daniel Defoe in seinem Essay, als zwielichtige Gestalten: »There are, and that too many, fair pretences of fine

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Auch aus einer sozialhistorischen Perspektive blieb die Figur des Projektemachers eine prekäre Angelegenheit. Die in der Forschung formulierte Grundvoraussetzung, Projektemacher seien »Anti-Akademiker«, scheint dezidiert auf die Schwellen- und Vorzimmergestalten, die Sombart und Defoe beschreiben, zuzutreffen.23 Auf die Projektemacher also, die mehr huschten, als in Erscheinung zu treten und sich dabei stets auf der Suche nach inoffiziellen Zugängen und verborgenen Kommunikationsstrukturen befanden. Die Wandelbarkeit der Figuren und die permanente Forderung nicht nur neue Ideen zu haben, sondern sich selbst dabei jeweils neu zu erfinden, steht dabei jedoch auch für den potentiellen Möglichkeitsraum, der sich hinsichtlich der Überwindung sozialer Statusgrenzen ergab. Allerdings beinhaltete die soziale Durchlässigkeit niemals nur das Versprechen auf Erfolg, Wohlstand und Ansehen, sondern barg immer auch die Gefahr des Abstieges, des Misserfolges und des Scheiterns. Die Biographien der Projektemacher waren von diesen extremen existentiellen Zuständen geprägt. Der Wechsel zwischen Armut, Gefängnis und Flucht einerseits und der Imagination unvorstellbaren Reichtums andererseits scheint daher nicht nur eng miteinander verknüpft, sondern sich vielmehr gegenseitig zu bedingen. II. Projektemachen – eine ökonomische Praktik

der Frühen Neuzeit Im Folgenden möchte ich den Fokus weniger auf die kuriosen, spannenden und mitunter widersprüchlichen Lebensgeschichten frühneuzeitlicher Projektemacher richten, sondern auf die Praktik des Projektemachens im 17. Jahrhundert lenken: Auf die wirtschaftlichen wie sozialen Möglichkeitsräume also, die dadurch entstanden, dass Projekte konzipiert, verkauft, gehandelt und realisiert wurden.24 Discoveries, new Inventions, Engines, and I know not what, which being advanc’d in ­Nothing, and talk’d up to great things to be perform’d when such and such Sums of Money shall be advanc’d, and such and such Engines are made, […] they have form’d Companies, chose Comittees, appointed Officers, Shares, and Books, rais’d great Stocks, and cri’d up an empty Notion to that degree, that People have been betray’d to part with their Money for Shares in a New Nothing; […] I might go on upon the Subject to expose the Frauds and Tricks of Stock-Jobbers, Engineers, Patentees, Committees, with those Exchange-Mountebanks we very properly call Brokers; but I have not Gaul enough for such a work […].« Defoe, Essay Upon Projects (wie Anm. 6), S. 11 ff. 23 Krajewski, Über Projektemacherei (wie Anm. 4), S. 23. 24 Praktiken werden hierbei als wissens- und emotionsbasierte, den Gebrauch von Artefakten einschließende, körperlich-sprachliche Vollzugsgesamtheiten verstanden. Siehe Andreas Reckwitz, Praktiken und ihre Affekte, in: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung 24,1–2, 2015, S.  27–45. Dass gerade eine Pro­jekt­ geschichte aus einer praxeologischen Perspektive lohnt, haben implizit Mark ­Häberlein und C ­ hristof Jeggle vorgeschlagen, denn mit dem Begriff Praktik wurden seit dem 16. Jahrhundert gerade auch »undurchsichtige Transfers und [politische] Manöver« be-

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Die Praktik des Projektemachens bezog sich im 17. Jahrhundert explizit nicht nur auf den ökonomischen Erfolg Einzelner. »Projects of the nature I Treat about,« erklärte Daniel Defoe in seiner Einleitung vielmehr, »are doubtless in general of publick Advantage, as they tend to Improvement of Trade, and Employment of the Poor, and the Circulation and Increase of the publick Stock of the Kingdom; but this is suppos’d of such as are built on the honest Basis of Ingenuity and Improvement; in which, tho‹ I’le allow the Author to aim primarily at his own Advantage, yet with the circumstances of Publick Benefit added.«25

Das Streben nach persönlichem Erfolg war beim Projektemachen mit dem Streben nach einer Verbesserung des Gemeinwohls untrennbar verknüpft. Konsequenterweise stellte Daniel Defoe in seinem Essay Projekte vor, die die Banken, die Landstraßen oder die Versicherungen, einen Vorschlag zu Gründung von Versorgungskassen, Abhandlungen über das Wetten, Irrenhäuser, Bankrottiers, Akademien und höhere Bildungsanstalten oder eine staatliche Versicherung für Seeleute betrafen und allesamt dazu dienen sollten, das Gemeinwohl zu verbessern und dabei die Staatsfinanzen zu sanieren.26 Die Geschichte des Projektemachens im 17. Jahrhundert kann nur unzureichend als Vorgeschichte des Kapitalismus beschrieben, oder als Beweis dafür angeführt werden, dass Frühformen des Kapitalismus bereits im 17. Jahrhundert oder früher auftauchten. Das Projektemachen verweigerte sich vielmehr per se einer solchen Linearität und der Konstruktion einer historischen Kontinuität.27 Ganz im Gegenteil, ausgehend von der Praktik des Projektemachens vermag es vielmehr zu gelingen, die etablierten Zäsuren der klassischen Wirtschaftsgeschichte zu hinterfragen und neue Formen einer integrierten Wirtschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit auszuloten. Hierfür bedarf es eines bewusst offenen Konzeptes frühneuzeitlicher Märkte, das neben konkreten Märkten und abstrakten Marktprinzipien des zeitgenössischen ökonomischen Denkens auch die Metaphern der Märkte und die von ihnen strukturierten Diskursfelder umfasst.28 Projekte

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zeichnet. Mark Häberlein/Christof Jeggle, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Praktiken des Handelns. Geschäfte und soziale Beziehungen europäischer Kaufleute in Mittelalter und früher Neuzeit. Konstanz 2010, S. 15–38, hier 15. Defoe, Essay Upon Projects (wie Anm. 6), S. 10 f. Ebd., bezogen auf die einzelnen Kapitelüberschriften. Dem steht nicht entgegen, dass Werner Sombart die Projektemacher des 17. und 18. Jahrhunderts als »Stammväter« des kapitalistischen Geistes beschrieb und damit auf moderne Handlungsweisen bezog. Sombart, Bourgeois (wie Anm. 10), S. 59. Wie die aktuelle Forschung zeigt, ist ein solch breit angelegtes Marktverständnis geeignet, die bisher in der Wirtschaftsgeschichte vorherrschende Fokussierung auf die Industrielle Revolution und die Entstehung der Konsumgesellschaft im 18.  Jahrhundert zu überwinden und nicht mehr lediglich die Vorgeschichte des modernen Kapitalismus zu erzählen, sondern die frühneuzeitlichen Ökonomien in ihren spezifischen Eigenlogiken zu fassen und zu untersuchen. Siehe etwa Martha Howell, Commerce Before Capitalism in Europe, 1300–1600. Cambridge 2010.

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sind unter dieser Perspektive fester Bestandteil frühneuzeitlicher Märkte und maßgeblich dafür verantwortlich, dass sich diese Märkte dynamisch und mitunter unkalkulierbar entwickelten. Meine Überlegungen sind an dieser Stelle von den Arbeiten des Ökonomen und Sozialwissenschaftlers Albert O. Hirschman inspiriert, der in seiner Studie »The Passions and the Interests. Political Arguments for Capitalism before its Triumph« von 1977, mittels eines ideen- und begriffsgeschichtlichen Exkurses ins 17. und 18. Jahrhundert das »Verhältnis von Politik und Wirtschaft anders denn als Determinationsverhältnis zu denken« versucht.29 In seiner Studie schreibt Hirschman dagegen an, dass alle wirtschaftstheoretischen Diskurse stets in Adam Smith kulminieren. Für Hirschman ist Smith weniger der erste moderne ökonomietheoretische Denker und Begründer des modernen Kapitalismus, als vielmehr derjenige, durch den »ältere Problemstellungen« verdrängt und auf diese Weise vorhandene Möglichkeitsräume geschlossen wurden. In seinem historischen Überblick, der im ausgehenden Mittelalter einsetzt und bis ins 18. Jahrhundert reicht, schiebt sich das englische »interest«, das mit »Interesse« ebenso wie mit »Zins« übersetzt werden kann, zwischen das ökonomische Konzept der Leidenschaften einerseits und das der Vernunft andererseits. Anhand von Autoren wie Montesquieu, La Rochefoucauld oder Stewart, weist Hirschman eine grundlegende Transformation nach, innerhalb derer die Leidenschaften Gier, Habsucht und Gewinnsucht erfolgreich umdefiniert und nutzbringend eingesetzt wurden, um andere wie Ehrgeiz, Macht oder sexuelle Begierde zu bekämpfen oder zu zügeln.30 Hirschmans Überlegungen richten sich gegen lineare Erzählungen der Wirtschaftsgeschichte ebenso wie gegen die Entwicklung ökonomischer Großtheorien. Vielmehr sind ökonomische Theorien für Hirschman stets ein Paradox, weil sie dem Funktionieren eines Planes letztlich immer widersprechen müssen. In seinen weiteren Werken und insbesondere während seiner Aufgabe als entwicklungspolitischer Berater südamerikanischer Regierungen ersetzt er deshalb den Planbegriff durch den Projektbegriff.31 Pläne geraten für Hirschman zu einem regelrechten Gegenbegriff des Projekts, denn sie wirken demobilisierend und kreativitätshemmend, eben weil sie Vorhersehbarkeit suggerieren. Mit dieser Aufwertung des Projektbegriffes bereitet Hirschman einerseits den Nährboden für aktuelle soziologische Untersuchungen.32 Der Gegensatz zwischen Plan und Projekt erhellt andererseits den Blick auf das 17. Jahrhundert. Gelten Projekte, die nicht in neuen Netzwerken und Vernetzungen emer29 Patrick Eiden-Offe, A man, a plan, a canal. Der Ökonom und Sozialwissenschaftler Albert O. Hirschman, in: Merkur 67,12, 2013, S. 1104–1115, hier 1107. 30 Albert O. Hirschman, The Passion and the Interests. Political Arguments for Capitalism before its Triumph. Princeton 1977, S. 49. 31 Zur Biographie Hirschmans siehe Jeremy Adelman, Worldly Philosopher. The Odyssey of Albert O. Hirschman. Princeton 2013. 32 Hirschman beeinflusst etwa Luc Boltanski und Ève Chiapello stark. In ihrer Studie »Le nouvel Esprit du Capitalisme« von 1999 schließen sie an seine Überlegungen an und rufen

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gieren, heutzutage durchaus als Sackgassen, eröffnete der Projektbegriff im 17. Jahrhundert zuallererst einen Möglichkeitsraum, der eben nicht vorhersehbar war, sondern mit dem vielmehr gehandelt wurde. Damit legt die Vorläufigkeit frühneuzeitlicher Projekte den Blick auf ein spezifisches Zeitkonzept frei, das an soziologische Überlegungen, wie sie Niklas Luhmann formulierte, anschließt. In seinem Kapitel »Die Beschreibung der Zukunft« in »Beobachtungen der Moderne« geht Luhmann der Frage nach, wie man eine Zukunft beschreiben kann, wenn in der Gegenwart das, was zu beschreiben ist, noch gar nicht sichtbar ist. »In welchen Formen,« fragt er daher, »präsentiert sich die Zukunft in der Gegenwart?«33 Auf der Suche nach Antworten entwirft Luhmann ein neuzeitliches Zeitmodell, das sich von der mittelalterlichen Vorstellung, dem Glück wie Unglück ausgeliefert zu sein, abgrenzt. Denn durch mathematische Entdeckungen, die ihren vorläufigen Höhepunkt in der Wahrscheinlichkeitsrechnung fanden, entstand »eine fiktional erzeugte, verdoppelte Realität«, mit der die Gegenwart eine Zukunft kalkulieren konnte, die immer auch anders ausfallen konnte.34 Die Aussicht auf Erfolg, Prestige und Reichtum in zukünftigen Gegenwarten kann als Grundkapital der Projektemacher bezeichnet werden, um ihr Versprechen auf eine bessere Zukunft zu untermauern. Die Projektemacher »paint[ed] up some Bauble […], as Players make some Puppets talk big«, wie Defoe formulierte, und riefen neue Erfindungen, Patente und Entdeckungen ebenso aus, wie gewinnversprechende und waghalsige Finanzierungsmodelle.35 Damit die Projektemacher ihre Faszination und ihre Gestalt entfalten konnten, brauchte es also nicht nur den Unterschied zwischen Gegenwart und Zukunft, sondern ebenso Zeittechniken und (ökonomische) Praktiken, die es erlaubten, zwischen diesen Zeiten Korrespondenzen zu stiften, zwischen ihnen zu vermitteln und Bezüge herzustellen.36 die »Kultur der Projekte« als Dispositiv aus, das im Zuge der Ausbildung des modernen Kapitalismus entsteht. Luc Boltanski/Ève Chiapello, Le nouvel Esprit du Capitalisme. Paris 1999. 33 Niklas Luhmann, Die Beschreibung der Zukunft, in: Ders., Beobachtungen der Moderne. Opladen 1992, S. 129–147, hier 129. 34 Ebd. Aktuell befasst sich das Graduiertenkolleg »Vorsorge, Voraussicht, Vorhersage. Kontingenzbewältigung durch Zukunftshandeln« mit der Frage, wie Zukunft historisch verhandelt wurde. Stellvertretend sei hier ein jüngst erschienener Sammelband genannt: Frank Becker/Benjamin Scheller/Ute Schneider (Hg.), Die Ungewissheit des Zukünftigen. Kontingenz in der Geschichte. Frankfurt am Main 2016. 35 Defoe, Essay Upon Projects (wie Anm. 6), S. 17. 36 Das spezifische Zeitmodell, das Niklas Luhmann für die Frühe Neuzeit entwickelt, setzt voraus, »daß man unterscheiden kann zwischen der Zukunft (oder: dem Zukunftshorizont) der Gegenwart als dem Reich des Wahrscheinlichen/Unwahrscheinlichen und den künftigen Gegenwarten, die immer genau so sein werden, und nie anders. Dieser Bruch zwischen der gegenwärtigen Zukunft und den künftigen Gegenwarten schließt Prognosen nicht unbedingt aus. Aber deren Wert liegt dann nur noch in der Schnelligkeit, mit der sie korrigiert werden können, und darin, daß man weiß, worauf es in diesem Zu-

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Die Vergegenwärtigung der Gegenwart vollzog sich durch Risiken, die zwischen der Gefahr zu scheitern und dem Begehren nach Gewinn vermeintlich berechenbar erschienen.37 Das Handeln mit Risiko kann damit als eines der zentralen Charakteristika von Projekten in der Frühen Neuzeit bezeichnet werden, das seinen Ausdruck nicht nur in den Investitionsbooms des 17. und 18. Jahrhunderts fand, sondern dessen Auswüchse sich bereits seit dem Beginn der Epoche, etwa mit der Entstehung des modernen Versicherungswesens, abzeichneten. Projektemacher – so lässt sich an Luhmann anschließen – gingen dabei sozusagen ein doppeltes Risiko ein, denn sie mussten einerseits Entscheidungen treffen und gleichermaßen andererseits mit diesen Entscheidungen handeln. Dieses doppelte Risiko zeigte sich, wie im nächsten Abschnitt aufgezeigt wird, insbesondere bei denjenigen Akteuren des 17. Jahrhunderts, die über die Grenzen des europäischen Kontinents hinausblickten, indem sie mit der neuen Welt handelten, vor Ort wie von Europa aus staatliche und private Projekte planten, nach Nordamerika reisten oder gar auswanderten.38 III . Globale Projekte – Handelskompanien und

Expansionsvorhaben in der Frühen Neuzeit Bereits Daniel Defoe verknüpfte die Praktik des Projektemachens mit Händlerfiguren, die mit ihren Waren verschiedene Welten und Räume miteinander verbanden und damit immer auch als Vermittler zwischen unterschiedlichen Zeiten, als intertemporale Akteure, auftraten. Sie fuhren mit ihren Schiffen resammenhang ankommt.« Es ist genau dieser Unterschied zwischen Zukunftshorizont­ einerseits und den zukünftigen Gegenwarten andererseits, welcher der Praktik des Projektemachens im 17. Jahrhundert zugrunde lag. Denn, so Luhmann weiter, Zukunft tritt auf diese Weise »in Form des Risikos von Entscheidungen [auf]. [Da Entscheidungen nur in der Gegenwart getroffen werden können], ist [Risiko] demnach eine Form für gegenwärtige Zukunftsbeschreibungen«. Luhmann, Beschreibung der Zukunft (wie Anm. 33), S. 140 ff. 37 Zum Risiko sind in den letzten Jahren zahlreiche Arbeiten erschienen. Einen guten Überblick über die Begriffsgeschichte und Forschungsliteratur liefern Tina Asmussen/Stefano Conderelli/Daniel Krämer, Risiko Editorial – Risque Editorial, in: Traverse. Zeitschrift für Geschichte – Revue d’histoire 3, 2014, S. 14–19. 38 Auf bestimmte Berufsgruppen scheinen diese Voraussetzungen zum Projektemachen in besonderem Maße zugetroffen zu haben. Werner Sombart etwa bezeichnet die englischen Shipping-merchants des 16.  und 17.  Jahrhunderts, die »abwechselnd als Entdecker, als Staatsbeamte, als Seeräuber, als Schiffsführer [oder] als Kaufleute« tätig waren, als Projektenmacher. Freibeuter und Feudalherren (insbesondere aus den Bereichen Bergbau, der Textil- und Getreideindustrie sowie der Porzellanerzeugung), die Betreiber von Getreide- und Papiermühlen zählt er ebenso dazu, wie Staatsbeamte und Spekulanten, die »mit dem Augenblick in die Erscheinung [treten], in dem ein Projektenmacher die nötigen Geldmittel auftreibt, um seine Idee in die Wirklichkeit umzusetzen; indem also […] das Projektenmachen sich mit der Unternehmung verbindet.« Sombart, Bourgeois (wie Anm. 10), S. 115.

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gelrecht zwischen diesen Zeiten und Welten umher und ließen Wissen und Kapital zirkulieren.39 Explizit verweist Defoe jedoch darauf, dass nicht die Gründung neuer Kolonien, sondern die Durchführung der Projekte mittels Aktiengesellschaften und Kompanien die wirklich neuen Charakteristika im »Age of Projecting« darstellten. Handelskompanien beurteilte Defoe als die ideale ökonomische wie verwaltungstechnische Form, um an der Realisierung von Projekten zu arbeiten und das Risiko dabei auf möglichst viele Schultern zu verteilen. Den Nährboden neuer Projekte sah er im Bereich des globalen und transatlantischen Handels: »Every new Voyage the Merchants contrives is a Project: and Ships are sent from Port to Port, as Markets and Merchandizes differ, by the help of strange and Universal Intelligence; wherein some are so exquisite, so swift, and so exact, that a Merchant sitting at home in his Counting-house, at once converses with all Parts of the known World. This, and Travel, makes a True-bred Merchant the most Intelligent Man in the World, and consequently the most capable, when urg’d by Necessity, to Contrive New Ways to live.«40

Ausgehend von Defoes Überlegungen lassen sich die Gründung frühneuzeitlicher Handelskompanien und die Expansionsvorhaben europäischer Staaten als Projekt-Geschichten neu akzentuieren. Am Beispiel der Kolonie New Netherland41 möchte ich abschließend aufzeigen, wie das Versprechen auf Wohlstand und Prestige, die Konstruktion von Vertrauen, ökonomische Konkurrenzen und die Kalkulation von Risiko in ein globales Projekt mit (zunächst) ungewissem Ausgang resultierten.42 Schon der Beginn der niederländischen Bemühungen, in Nordamerika einen Handelsstützpunkt aufzubauen, war in mehrfacher Hinsicht von der Produktivität des Scheiterns geprägt: Auf der Suche nach der Nordwestpassage entdeckte Henry Hudson 1609 mit dem heutigen New York einen natürlichen Hafen.43 39 Bezeichnenderweise fand gerade die Risikokalkulation in der Frühen Neuzeit ihre allegorische Ausgestaltung in der Figur der Fortuna. 40 Defoe, Essay Upon Projects (wie Anm. 6), S. 7 f. 41 In der Regel wird das Projektezeitalter auf England und Frankreich beschränkt. Die Niederlande werden zumeist ausgeklammert. So zuletzt in William N. Goetzmanns Studie zum Einfluss der Finanzen auf die Zivilisation. Siehe William N. Goetzmann, Money Changes Everything. How Finance Made Civilization Possible. Princeton 2016, S. 320–347. 42 Eine Vielzahl der europäischen Expansionsvorhaben lassen sich als Projektgeschichte nochmals unter neuen Voraussetzungen in den Blick nehmen, so etwa das schottische Darién-Projekt. Siehe Claudia Claridge, The Darién Scheme. Failure and its Treatment in the Press, in: Dies./Stefan Brakensiek (Hg.), Fiasko – Scheitern in der Frühen Neuzeit. Beiträge zur Kulturgeschichte des Misserfolges. Bielefeld 2015, S. 59–84. 43 Der Abschnitt zur Geschichte der Kolonie New Netherland entspricht dem Abschnitt eines bereits publizierten Aufsatzes und wurde für diesen Beitrag nur geringfügig überarbeitet und gekürzt, siehe Eva Brugger, Riskante Praktiken? Ökonomische Praktiken und Mobilität von Händlerinnen in der Kolonie New Netherland, in: FKW//Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur 60, 2016, S. 71–87, besonders 72–77.

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Allerdings führte ihn die Mündung des Flusses, der heute seine Namen trägt, nicht auf den erhofften Seeweg nach Asien, sondern endete vielmehr in einer Sackgasse, in der heute die Stadt Albany liegt.44 Es war nicht der erste Versuch­ Hudsons die Nordwestpassage zu entdecken, bereits 1608 segelte der Brite unter englischer Flagge für die Muscovy Company über den Atlantik. Überzeugt von der Existenz der Passage brach er ein Jahr später, dieses Mal unter niederländischer Flagge, finanziert von neuen Investoren und an Bord der Halve Maen, abermals Richtung Nordamerika auf. Dass er die erhoffte Passage auch bei seinem erneuten Versuch nicht finden konnte, spielt in den Berichten, die während und nach der Reise verfasst wurden, erstaunlicherweise keine Rolle. Ganz im Gegenteil, das vermeintliche Verfehlen des Expeditionsziels geriet in den Hintergrund und das Scheitern wurde in eine Erfolgsgeschichte umgedeutet. Auch wenn die Passage nicht gefunden werden konnte, so der Bericht, sei man nicht ohne Fortune geblieben: Denn Pelze gäbe es entlang des Flusses im Überfluss, sie seien von außerordentlicher Qualität und für einen geringen Tauschwert von äußerst freundlichen Indigenen zu erhalten.45 Diese Narrativierungsstrategie ging auf: Bereits kurz nach Hudsons Rückkehr machten sich die ersten Handelsschiffe in die nordamerikanischen Gebiete auf und versuchten ihr Glück im Pelzhandel. Die reichhaltigen Bibervorkommen weckten fortan das Begehren der NiederländerInnen. Da Biber in Europa beinahe ausgestorben und ihre Pelze in Russland nur unter großen Gefahren zu bekommen waren, versprach ihr massenhaftes Vorkommen entlang des heutigen Hudson Rivers ein scheinbar unerschöpfliches Rohstoffkontingent für europäische Luxusgegenstände, wie Hüte, Mäntel, Muffs und Applikationen. Der wirtschaftliche Konkurrenzdruck in Europa war enorm und die zeitgenössische Hoffnung vieler NiederländerInnen war es, mit England und Frankreich gleichzuziehen, die bereits vom Biberhandel in beziehungsweise mit Nordamerika profitierten und in ihren Heimatländern große Manufakturen, etwa zur Herstellung der begehrten Biberhüte, aufgebaut hatten.46 Die Versorgung des geplanten Handelsstützpunktes in Nordamerika gestaltete sich zunächst schwierig. In van Meterens Reisebericht wie auch in den Berichten, die für die gezielte Besiedlung Manhattans und des Hudson Valleys in den 1620er Jahren veröffentlicht wurden, wird deutlich, dass das Bedürfnis, sich in New Amsterdam und Umgebung anzusiedeln, erst geweckt werden musste: »[T]he principal and most powerful inducement,« so schrieb etwa ­William­ Usselincx zu Beginn der 1620er Jahre um weitere NiederländerInnen davon

44 Jaap Jacobs, New Netherland. A Dutch Colony in Seventeenth-Century America. Leiden 2005. 45 Emanuel van Meteren, On Hudson’s Voyage, in: Jameson, J. Franklin (Hg.), Narratives of New Netherland, 1609–1664. New York 1909. 46 Cleaf van Bachmann, Peltries or Plantations. The Economic Policies of the Dutch West India Company in New Netherland 1623–1639. Baltimore 1969.

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zu überzeugen, sich in New Netherland niederzulassen, »will be the profit each man can make for himself«.47 Die Bemühungen, mehr HändlerInnen in der jungen Kolonie anzusiedeln, resultierte in einer Vielzahl kleiner Vereinigungen, die in den Anfangsjahren ihr Glück in New Netherland suchten und dafür ein Handelsmonopol beim niederländischen Parlament beantragten. Allerdings führten die vielen unterschiedlichen Handelsnetzwerke zu unübersichtlichen Strukturen und Konkur­ renzen, die erst durch die Gründung der Westindischen Handelskompanie (WIC) in den 1620er Jahren aufgelöst und stabilisiert werden konnten.48 Ganz im Sinne von Defoes Forderungen bedurfte es also zunächst der Gründung einer Handelskompanie, um das Projekt New Netherland auf die Erfolgsspur zu lenken – nicht zuletzt deshalb, weil das Risiko des transatlantischen Handels künftig auf die vielen Schultern der Kompaniemitglieder verteilt wurde. Mit der Gründung der WIC 1621 wurde der Pelzhandel zentral organisiert und die Kolonie New Netherland sowie die Hafenstadt New Amsterdam wuchsen rasant. In der »Charter of Freedoms and Exemptions« von 1629 wurde New Amsterdam schließlich als strategischer Handelspunkt ausgerufen49: »Inasmuch as it is the intention of the Company to people the island of Manhattes first, this island shall provisionally also be the staple port for all products and wares that are found in the North River [heute Hudson River] and lands thereabouts«.50

47 So zitiert in Eric Jay Dolin, Fur, Fortune, and Empire: The Epic History of the Fur Trade in America. New York 2010, S. 33. 48 Wim Klooster, The Place of New Netherland in the West India Company’s Grand Scheme, in: Joyce D. Goodfriend (Hg.), Revisiting New Netherland. Perspectives on Early Dutch America, Leiden 2005, S. 57–70. 49 Zu den »staple ports« führen Todt/Dickinson Shattuck aus: »Like many nations, the Dutch designated  a specific port as  a ›staple port,‹ that is, the only place where enumerated goods could be exported or imported. New Amsterdam had the ideal geography to act as a staple port – a deep harbor and physical access to the Hudson River, the South River, and the exporting regions beyond. As a result, mercantile functions developed in New Amsterdam that enhanced the port’s development. As the colony’s staple port, New Amsterdam engaged in shipping to and from a variety of regions including New England, the Chesapeake, the West Indies, Africa, and Europe such commodities as bricks, lumber, agricultural products, and tobacco. Merchants shipped furs, an important aspect of the profitability of trade, from Beverwijck’s port down to New Amsterdam and from there they were shipped abroad.« Kim Todt/Martha Dickinson ­Shattuck, ­Capable Entrepreneurs. The Women Merchants and Traders of New Netherland, in: Douglas Catterall/Jodi Campbell (Hg.), Women in Port. Gendering Communities, Economies, and Social Networks in Atlantic Port Cities, 1500–1800. Leiden 2012, S. 183–214, hier 187. 50 Arnold Johan Ferdinand van Laer (Hrsg. und Übers.), The Van Rensselaer Bowier Manuscripts. Albany 1908, S. 143. Die unterschiedlichen Bemühungen zahlten sich aus: Zu Beginn der 1650er Jahre lebten in New Amsterdam etwa 2000 europäische Siedler. Die Stadt verfügte über ein Spital, eine Bäckerei, eine Getreidemühle, eine Hebamme, eine Kirche und 20 Tavernen. Das Stadtgebiet erstreckte sich bis zur Stadtmauer, der heuti-

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Die Bemühungen, die Kolonie New Netherland zu stabilisieren und auszubauen, gingen – als Projekt-Geschichte formuliert – mit der Konstruktion von Begehren und dem Handel mit Versprechen einher, die erst in der Zukunft eingelöst werden würden. Das Bedürfnis sich in den nordamerikanischen Gebieten niederzulassen wurde von Seiten der WIC zuallererst geschaffen und an das Versprechen auf Wohlstand und Freiheit geknüpft.51 Dieses Versprechen war in den Anfangsjahren der Kolonie einer regelrechten Ökonomisierung unterworfen, die InvestorInnen und FörderInnen, Männer und Frauen, HändlerInnen und Offiziere gleichermaßen umfasste. Gehandelt wurde mit riskanten Versprechen, die Rendite, Waren und Einfluss in Aussicht stellten. Die Versuche, die Kolonie New Netherland als Handelsstützpunkt aufzubauen, können mit dem zeitgenössischen Begriff »Projekt« daher ebenso beschrieben werden wie der Versuch, dauerhaft NiederländerInnen anzusiedeln. Fokussieren beide doch auf die Vorläufigkeit globaler Unternehmungen und­ damit auf eine Phase, in der Erfolg und Scheitern keine festgeschriebenen Kategorien bildeten, sondern vielmehr als Motoren die Produktivität der Projekte antrieben. Das geforderte ›Neue‹ des Projekts kündigte sich bei der Kolonie New Netherland mit seiner Hauptstadt New Amsterdam – ebenso wie in den umliegenden englischen, französischen und schwedischen Kolonien  – natürlich bereits im Namen an. Gerade global agierende HändlerInnen im 17. Jahrhundert machten sich darüber hinaus das skizzierte Zeitkonzept des Projektemachens zu eigen, wenn sie in Europa mit dem Versprechen auf Reichtum und Rendite um Investitionen und Geldgeber warben. Das Risiko zu scheitern, das sich etwa im Schiffbruch, schlechter Ware oder Wetterkapriolen äußern konnte, wurde im Kontext der Kolonie New Netherland mit dem Begehren nach Biberpelzen und der aus ihnen erwachsenden ökonomischen Prosperität aufgewogen.

gen Wall Street. Jan de Vries betont das Wachstum New Amsterdams als einer von 157 Überseesiedlungen, die die niederländische Westindische Handelskompanie (WIC) und Ost­indien Kompanie (VOC) zwischen 1600 und 1800 gründeten: »New Amsterdam in the years preceding ist first conquest was growing into the sort of city the rest of the New World did not yet know.« Jan de Vries/Ad Van der Woude, The First Modern Economy. Success, Failure, and Perserverance of the Dutch Economy, 1500­–1815. Cambridge 1997, S. 21. 51 Nach dem Entscheid der WIC , die dauerhafte Besiedelung der Kolonie New Netherland zu fördern, wurde 1624 zunächst eine Petition von 30 wallonischen Familien angenommen und ihnen erlaubt, in den niederländischen Gebieten Siedlungen zu errichten. Siehe Oliver Rink, Holland on the Hudson. An Economic and Social History of Dutch New York. New York 1986, S. 73 ff.

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IV. Fazit Ausgehend von einer Projekt-Geschichte wird es möglich, die Gründung frühneuzeitlicher Handelskompanien, sowie die Expansionsbestrebungen europäischer Staaten vor dem Hintergrund ihres zunächst offenen Ausgangs zu beschreiben. Damit lässt sich ein neuer Blick auf die frühneuzeitliche Wirtschaftsgeschichte entwickeln, der für HistorikerInnen, die den Ausgang der Geschichte ja immer schon kennen, ungewohnt sein mag. Denn als Geschichte verschiedener Projekte verstanden, rückt vor allem die Kontingenz der Vorhaben, in der die Chance auf Erfolg gegen die Gefahr des Scheiterns abgewogen werden muss, in den Fokus und es lassen sich der Zustand des Vorläufigen und Innovationen in der Vorform des Wissens beobachten. Die Risiken eines individuellen, institutionellen oder kollektiven Scheiterns können damit in ihrer Pro­duktivität gefasst werden. Sie brachten Projektemacher hervor, die als Experten des ­Ökonomischen gerade aus der Tatsache, dass ihre Vorhaben (noch) nicht realisiert waren, Kapital schlugen.

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Early Modern Science and Monetized Economies The Co-Production of Commensurable Materials1

The term Wissensmärkte suggests an analogy between economic exchanges and knowledge exchanges, but it might also mean something stronger, an intertwining of their processes. I will give reasons for the second possibility, arguing that during the early modern period there were methods of evaluation used in both economy and science that overlapped. For some kinds of knowledge and some kinds of economy, then, shared practices lay behind actual interconnection and interdependency. As  a linguistic indication of these relationships, words made their way into the experimental philosophy from activities concerned with checking and standardizing the production of coins and similar manufactured goods, words such as ‘proof.’ If we follow such clues we notice that procedures meant to establish common and accepted values for exchange relations were also used to establish what we call ‘facts’ in science, helping to make scientific information units as mobile as coins. The material things called coins and the material things indicated by facts held small bits of information steady, even when removed from the contexts in which they were created. A comparison between facts and coins therefore points to the significance of decontextualized and impersonal knowledge for both the new science and commerce in the period. From this intertwining of methods used in the production of knowledge in both science and commerce, then, it is possible to say that the early modern Wissensmärkte should be understood as more than a metaphor, although it properly applies to only one kind of Wissen. One of the initial problems with discussing topics such as Wissensmärkte is the flexibility of the terms used to discuss economies and knowledge. Similar terms currently common in English include ‘knowledge economy’ and its related ‘information economy.’ But in both English and German it is difficult to know exactly what such words mean. For instance, German Wissen has multiple connotations. It is usually translated into English using the general term ‘knowledge,’ but that word, too, has many meanings, with the etymologies and definitions given in the “Oxford English Dictionary (OED)” taking up several columns. Moreover, one of the odd things about the English word is how it has conflated two terms that Latin distinguished as cognoscere and scire: to know by 1 My thanks to the Koninklijke Bibliotheek and NIAS , who supported the KB fellowship in the autumn of 2012 that allowed me to begin to work out some of the ideas that have been further developed in this paper.

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the senses and to know by the mind (or, knowledge by acquaintance and knowledge by sign and symbol).2 Most other European languages have retained the Latin distinction between ways of knowing, as in the Germanic kennen and wissen (and the Romance-language connaissance, conoscere, conocer, as distinct from savoir, sapere, saber). If English-speakers attempt to specify the kind of knowledge that Germans call Wissen, then, they often use the word ‘science,’ but this inverts the problem, since here the German Wissen or even Wissenschaft is a broader term than English ‘science,’ which is usually specified as Naturwissenschaft. So even before we begin to think about the history of Wissensmärkte, we find that doing so in either English or German opens up many questions about how to specify the kind of knowledge to be investigated. The ‘market’ of Wissensmärkte draws attention to the processes of exchange. In medieval and early modern markets, people came to exchange goods with one another, face to face. According to the OED again, Teutonic languages such as Old English adopted the word from the Old French marchiet, meaning a public meeting of persons at  a fixed time and place for the purchase and sale of goods.3 Public markets had the advantage of the use of a common standard of weights and measures for transactions, being carefully overseen by magistrates and clerks, allowing all the parties to an exchange to agree on the quantitative properties of the goods being traded. The balance beam, which was often used to establish weights, therefore became a metaphor for equity and justice.4 If exchanges included money, either the local currency or a common international standard (such as the florin) could be used as the standard measure, so that even if a variety of monies were in use their different values could be compared to a common currency (which made the money-changers as important as the clerks of the market for enabling exchanges to occur). Put another way, public markets established commensurability of weights, measures, and value. Of course not everything about both sides of  a market exchange could be known according to weights and measures. Again, the English language is not especially helpful here, since it simply indicates that those who regularly attended a marchiet were ‘merchants.’ The continental languages are more pointed: because the activities of those who attended markets involved bargaining to get a good price, Kaufmann came to be the common German term, négociant for the French. For instance, some people might value some kinds of blue cloth more than others, which would make exchanges of different colored clothes — even if they were equally well made — subject to sometimes difficult negotiation. In some cases, differences in cultural value can even create differences in human perception, as 2 Vgl. The Compact Edition of the Oxford English Dictionary (hereafter OED), Art. Knowledge, Bd. 1, Oxford 1971, S. 744–749. 3 Vgl. ebd., Art. Market, S. 172–174. 4 See especially the works of Joel Kaye, Economy and Nature in the Fourteenth Century: Money, Market Exchange, and the Emergence of Scientific Thought. Cambridge 1998; Ders., A History of Balance 1250–1375. Cambridge 2014.

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when people who have different words for shades of blue can identify those colors more quickly than people who do not have the words.5 As we therefore know from decades of work in comparative literatures, ethnographies, and cultural studies, many kinds of knowledge — from eating and hygiene, to religion and love — are embedded in customs, practices, languages, and beliefs; these kinds of knowledge remain meaningful only within the contexts from which they emerge. Many powerful studies have consequently pointed to how at deep levels cultures are incommensurable: the problem of ‘culture shock’ or ‘lost in translation’ that occurs when someone familiar with one culture is placed among people of another. Cultural differences might not be a problem in a market that attracted only local people, but it might be a major difficulty in markets where people attended who were a long distance from home. Of course, despite difficulties of mutual understanding, however, traders carried on, exchanging not only goods but whatever knowledge was necessary to make the transactions possible and repeatable. If we follow the example of markets in attending to the mobility of knowledge, then, we need to examine the problem of how exchanges were performed, and what forms of knowledge moved. Put another way, because the term Wissensmärkte suggests exchange, it pulls the imagination not toward knowledge forms that are different from one another but toward knowledge forms that share much in common: toward commensurability rather than incommensurability.6 While cultural studies have drawn our attention to the incommensurable aspects of different knowledges and values, one can find a variety of other approaches to commensurability. Economic historians have long commented on the use of a materializable abstraction of value — money — as a means of making exchanges commensurable, just as sociolinguists have pointed to the importance of ‘weak’ social ties in systems of communication, and historians of science have commented on the phenomenon of ‘shallow’ or ‘thin’ information exchanges and the use of ‘pidgin’ languages when doing so.7 While some forms of knowledge 5 Debates about culture and biology are difficult and frequent, but for much light on the problems, see Geoffrey E. R. Lloyd, Cognitive Variations: Reflections on the Unity and Diversity of the Human Mind. Oxford 2007. 6 Vgl. Thomas Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions. Chicago 1962. The debate about the term was launched by Paul K. Feyerabend, Science in  a Free Society. London 1978, S.  65–70. Also see the section on “Incommensurability and the Indeterminacy of Translation” in Ian Hacking, Historical Ontology. Cambridge 2002, S. 168–172; S­ higehisa Kuriyama, The Expressiveness of the Body and the Divergence of Greek and Chinese­ Medicine. New York 1999; Mario Biagioli, The Anthropology of Incommensurability, in: Studies in History and Philosophy of Science 21,2, 1990, S. 183–209; Howard Sankey, The Incommensurability Thesis. Aldershot 1994. 7 Vgl. Mark S. Granovetter, The Strength of Weak Ties, in: American Journal of Sociology 78, 1973, S. 1360–1380; Ders., The Strength of Weak Ties: A Network Theory Revisited, in:­ Peter V. Marsden/Nan Lin (Hg.), Social Structure and Network Analysis. Beverly Hills 1982, S. 105–130. Also see Harold J. Cook/David S. Lux, Closed Circles or Open Networks? Communicating at a Distance during the Scientific Revolution, in: History of Science 36, 1998, S. 179–211. For the views of Galison and other historians of science, see notes 35 to 37 below.

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are sticky, then, others are slippery. The slippery kinds can move about because they are decontextualizable. In economic terms, slippery kinds of exchangeable knowledge establish ‘liquidity.’ Slippery knowledge is often thought to be capable of being packaged in ‘information units’ (to use the English expression), which units can be known in the same way in any time and place. Or, as the term implies by pointing to the use of common measures, commensurability in general depends on standardized descriptions of material things. Trade is about exchanging tangible things — Handel — but perhaps we can expand our scope slightly to consider exacting descriptions of tangible things to be the Wissen in the Märkte. Perhaps we can also say that science is mobile knowledge about nature. In some of my own previous work I have explored how, with the growth of longdistance trade, objects and careful descriptions of them could be (relatively) ­easily moved from place to place. The development of scientific knowledge in the early modern period depended partly on how exotic naturalia could be carefully collected, distributed, accumulated, and described, being stripped in the process of contexts and local meanings. While the people who interacted with natural things in situ endowed them with rich associations, Dutch investigators in the Indies and in the home country, who wrote for an international ­audience, focused their attention on carefully conveying the objects’ materialistic aspects, describing their substance and appearance, and medicinal and culinary benefits or other uses, and little else.8 Such knowledge was tangible and picturable.9 It was a form of ‘objectivity’ because it was about objects, allowing mobility.10 Bruno Latour is well known for using the term ‘immutable mobiles’ to refer to the specimens and inscriptions that could be fixed and transported back to his ‘centers of calculation’ for incorporation into the body of science.11 A recent project that studied how facts travel described them as “separable bits of knowledge that can be abstracted from their production context and shared with others.”12 Both science and commerce benefited from this factual objectiv8 Vgl. Harold J. Cook, Matters of Exchange: Commerce, Medicine and Science in the Dutch Golden Age. New Haven 2007. 9 On picturability and science, there is a long-standing argument about the importance of the development of perspective drawing; see, for instance, Samuel Y. Edgerton, Jr., The Heritage of Giotto’s Geometry: Art and Science on the Eve of the Scientific Revolution. Ithaca 1991; Judith V. Field, Mathematics and the Craft of Painting: Piero della Francesca and Perspective, in: Dies./Frank A. J. L. James (Hg.), Renaissance and Revolution: Humanists, Scholars, Craftsmen and Natural Philosophers in Early Modern Europe. Cambridge 1993, S. 73–95. The importance of picturability for the new science has been used with fresh interpretative force in Klaas van Berkel, Isaac Beeckman on Matter and Motion: Mechanical Philosophy in the Making. Baltimore 2013. 10 For a different argument, see Lorraine Daston/Peter Galison, Objectivity. New York 2007. 11 Vgl. Bruno Latour, Science in Action: How to Follow Scientists and Engineers through­ Society. Cambridge 1987, S. 227. 12 Peter Howlett/Mary S. Morgan (Hg.), How Well Do Facts Travel? The Dissemination of Reliable Knowledge. Cambridge 2011, S. xv.

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ity. In other words, the mobility of many forms of both commercial and scientific knowledge is widely acknowledged. They were co-produced.13 If, then, we examine the relationships implied by the term Wissensmärkte, the kinds of activities now ordinarily (in English) termed science were interwoven with the kinds of practices that made the production and exchange of money possible. Consequently, the practices involved in both the production and exchange of scientific facts and pieces of money share a great deal in common, and deserve investigation.14 In both cases, mobility of information was made possible due to material processes that certified commensurability. The co-production of science and commerce was not, then, simply a metaphor, nor simply  a historical coincidence or conjuncture, because both relied on common kinds of material practices, which created the possibility for commensurable exchange. The practices in turn encouraged the use of a language of ‘test’ and ‘proof.’ The advantage of a proof is that — like a business arrangement — it may involve a series of often difficult technical procedures, but these can be used to produce a set of repeatable steps leading to results that can be demonstrated to a community of experts and repeated again and again. From then on, the proof can simply be accepted by the experts without further checking, and spread more widely as a fact. To use the language of science studies, the procedures get ‘black-boxed’ and need not be opened again. The phenomenon of proof and demonstration is widely recognized in mathematics, and was imitated in philosophy via methods like the syllogism. The value of a proof is that it works impersonally, allowing distributed cognition; it is similar to a tool, which establishes physical relationships quickly and easily without all the thought that goes into its making (at least for those practiced in its use).15 But in the early modern period, methods of repeatable manipulation of material substances allowed proofs from worldly activities to be made matters of concern for philosophers. In making bits of the material world to be like coins, the facts, values, and numbers of each could be exchanged commensurably. An important move toward making late medieval and early modern markets more liquid, then, was the extension of commensurability from monies of account to material forms, as standardized coins. In a market, the value of any exchange might be registered in a money of account, such as florins or gilders, but that money might be made up of many kinds of coins, requiring the expertise of money-changers. For instance, in a major commercial entrepôt such as 13 Vgl. Harold J. Cook, Moving About and Finding Things Out: Economies and Sciences in the Period of the Scientific Revolution, in: Osiris 27, 2012, S. 101–132. 14 The most recent interpretations of the relationships between early modern science and economy include Carl Wennerlind, Casualties of Credit: The English Financial Revolution, 1620–1720. Cambridge 2011; Daniel Margócsy, Commercial Visions: Science, Trade, and Visual Culture in the Dutch Golden Age. Chicago 2014. 15 Vgl. Edwin Hutchins, Cognition in the Wild. Cambridge 1995; Chandra Mukerji, Impossible Engineering: Technology and Territoriality on the Canal du Midi. Princeton 2009.

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Amsterdam, up to  a thousand different kinds of coins might be in use, since hundreds of mints throughout Europe turned out coins and the amount of precious metal in each kind often varied from year to year. But in the early seventeenth century, Amsterdam established a trading bank where merchants were required to deposit their coins in return for gilders. The determination of the value in gilders assigned to the deposited coins was made by the assayers of the bank based on their evaluation of weight and metallic content (‘fineness’). Enrollment in the bank was later required for the pawn brokers who dealt in credit for more humble people, too, bringing most financial transactions under the umbrella of  a single currency. In other words, the bank became  a standardized moneychanger, giving regularized value in exchange for variable coins. The gilder was at first a money of account, allowing all debits and credits between the merchants to be paid by transferring money between their accounts, but within a few decades this kind of transactional money was materialized in the form of coins. These coins in turn were stabilized by always being produced at the same weight and quality. Stability of currency became a matter of state: in 1638, current gilders began to be minted in Amsterdam, and The States General followed with a national gilder in 1659, the metallic weight of each being lawfully set at the same rate as the gilder of account (about 10 grams of silver), which was maintained until 1799. Domestic payments occurred mainly in the lowerdenominated ‘standpenningen,’ which had  a stable relationship to the silver gilder and it to the related gold ‘rijder.’ Netherlands mints also produced three great coins for use in foreign trade, which also held their value because of standardization of size, form, and metallic content: from 1606, the ‘leeuwendaalder’ for trade with the Levant, and from 1659 the silver ‘dukaat’ for the Baltic trade (where it gradually assumed the name of ‘rijksdaalder’ or ‘rixdaalder’), and the silver ‘rijder’ or ‘ducation’ for the Asia trade. As Pit Dehing has noted, “The result was a wide-ranging international monetary system, in which Dutch institutions imposed control upon its liquidity.”16 It is worthwhile to pause a moment to note the ways in which the process of mass-producing standardized objects like coins could be accomplished, which was all the more remarkable for producing objects that held a stable value for almost two centuries. The value of Dutch coins depended on carefully regularized and closely inspected procedures carried out by expert civil servants, who were in turn checked by weighing, measuring, proof-sampling, and assaying all that came into and went out of the mint. M. S. Polak has written about these 16 Pit Dehing/Marjolein C. ’t Hart, Linking Fortunes: Currency and Banking, 1550–1800, in: Dies./Joost Jonker/Jan Luiten van Zanden (Hg.), A Financial History of The Netherlands. Cambridge 1997, S. 37–63; Pit Dehing, Geld in Amsterdam: Wisselbank en Wisselkoersen, 1650–1725. Hiversum 2012. For a recent review of finance, see Oscar Gelderblom/Joost Jonker, Completing a Financial Revolution: The Finance of the Dutch East India Trade and the Rise of the Amsterdam Capital Market, 1595–1612, in: Journal of Economic History 64, 2004, S. 641–672.

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means. Overseeing production was a muntmeester, who had underneath him a muntheer, who worked with the mint’s warden and assayer. The warden oversaw the production process, checking and accepting the metal to be worked as well as the stamps used to produce the coins (and returning the coins and stamps to their assigned places at the end of a production run). The assayer was responsible for checking the quality of the gold and silver being used at all stages of the process, from the raw noble metal to the worked coins, and for recording the inspections made at each stage. The smidmeester, who saw to the striking of exactly measured units of metal into coins, also recorded his work as a check on the others. Random samples of the struck coins (steekproefen), one for every certain number of coins produced, were deposited in a muntbus, a strongbox with a slit to receive the coins, becoming Buspenningen, evidence of the material result. The muntbus was occasionally opened to check the results, with various officials present to oversee the checking, including a person representing the government, the essayeur-general. These overseers checked the volume of production and the quality of the metal in the coins. The latter process could be carried out mainly by comparing volumes and weights, but with a few samples further checked by assaying (essayeren), in which the assayer checked a sample from a portion of a coin of average weight to examine the amount of silver or other noble metal in the coin. All the accounts were also gone over to see that the muntmeester was not overexploiting his business. The result, according to ­Polak, was the reduction of fraud and related problems to a very small amount.17 The methods for checking and verifying are reminiscent of the collective experimental activities of the new science. Such procedures also allowed political control via civil servants, while the distributed and competitive political nature of the States General meant that once a standard value for a coin was agreed on it was maintained without change for very long periods. Once monetary values could be materialized regularly in these ways — once any number representing a monetary value could be traded for a fixed amount of invariable coins — abstraction and materialization merged. Tangible money and abstract money became interchangeable, without the need for the personal assessments of moneychangers. In moving back and forth between number and measured units of metal, the new money allowed new forms of commensurability, such as selling stock for money of account that could be exchanged for coins, which could in turn be sent to a distance place to purchase goods, all of which could be valued according to the same numerical index. Agreed tests of metallic content provided a foundation for commensurability. At first sight the kinds of commercial commensurabilities highlighted by the development of standardized coinage seem far away from early modern science. Historians of science often speak of the problem to be explained by science is

17 Vgl. Menno S. Polak, Historiografie en Economie van de ‘Muntchaos’: De Muntproductie van de Republiek (1606–1795). Amsterdam 1998, S. 106–141.

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how ‘truth’ gets established, as in the well-known title of the important book by Stephen Shapin, “The Social History of Truth”.18 And indeed contemporary natural philosophers, such as Descartes, sometimes wrote about how truth (vérité) was their goal. Shapin, and others since then, have gone on to probe the problems of trust that lie behind such truth claims, which he and others associate with social status.19 But there was an alternative set of linguistic terms that got at something else, less controversial but equally important: assessment, proving, and testing. As we have just noted, these are words associated with coinage. In both English and Dutch, the word ‘test’ comes from an Old French word for a pot (which also gives rise to ‘tête’ for ‘head’). According to the OED, by the 14th century the word was associated with what is called a ‘cupel,’ which is “a small flat circular porous vessel, with  a shallow depression in the middle, made of pounded bone-ash pressed into shape by  a mold, and used in assaying gold or silver with lead.”20 The German word usually offered as the equivalent for test is Prüfung, which still has the connotation of guaranteeing the value of a noble metal, moving into the English word ‘proof’ as a sample coin struck with a new die to show its worth (or in the Dutch steekproef ), and then being used to indicate other kinds of striking, as in ‘page-proofs.’ But ‘proof’ can also be associated with taste, which is still possible in Dutch words for knowing what something is by tasting it — such as wijnproef — and which survives in older English expressions such as ‘the proof of the pudding is in the eating.’ (The more common English term ‘proof’ as a standardized measure of alcoholic content became common in the eighteenth century.)21 Proof as taste is clearly related bodily to one of the Latin words for knowledge, sapientia, which derives from sapio, to savor or taste. In Dutch, keuren can mean a ‘proof’ assessed by taste.22 But since at least the thirteenth century the Dutch word keur has also meant a stamp indicating  a public assessment of value — as in  a certain kind of cloth having been officially inspected and approved following production. By then, of course, formal seals were attached to important legal documents bearing the mark of the office that issued them, like coins. And to formally assess (or ‘assay’) the value of coins is from the French ‘essayer,’ as in the essayeurs-general of the Dutch mints. In other words, ‘testing’ by a ‘proof’ or ‘assay,’ with the resulting item formally marked according to its value by officials charged with over18 Vgl. Steven Shapin, A Social History of Truth: Civility and Science in Seventeenth-­ Century England. Chicago 1994. 19 But also see his more recent Steven Shapin, The Scientific Life: A Moral History of a Late Modern Vocation. Chicago 2008; and Mario Biagioli, Galileo’s Instruments of Credit:­ Telescopes, Images, Secrecy. Chicago 2006. 20 OED, Art. Test, Bd. 2, S. 219–221. 21 Vgl. OED, Art. Proof, Bd. 2, S. 1462–1464. 22 There is a fascinating philosophical literature on taste and truth, which arises more from Continental than Anglo-American outlooks, no doubt partly for linguistic reasons. For example, see Hans Gadamer, Truth and Method. New York 1989, S. 35–42; Michel Serres, The Five Senses: A Philosophy of Mingled Bodies (I). London 2008, S. 152–197.

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seeing the methods of assessment, is tied up with how common value was attributed to ‘noble’ metals. To be simple-minded, there is a strong similarity here with the common opinion that real science is rooted in agreed methods for assessing value, which is collectively certified and officially stamped by experts, the equivalent of essayeurs-general.23 The language of material value crept into moral discourse, too. The essayeurs themselves were marked by life-style, dress, and gesture as people above reproach. In Dutch, someone bearing the marks of personal honesty in all things could also be called keurig, in effect having their character stamped or molded by constant publicly assessed behavior; the English equivalent was ‘correct,’ now translated into Dutch using controleren (‘to check’). By the early modern period, too, a person of impeccable reputation such as Michel Montaigne could comment on truth emerging from personal experience in his Essais: proof from experience. The German word for honor, Kredit, was also linked to trustworthiness, which the 17th-century German projector, Johann Joachim Becher, in turn associated with the making of material goods. The association of a prince with merchants, including his borrowing of money from them, would in turn bring him ‘credit.’24 Here are some of the roots of the language of trust that Shapin and others have remarked on as so important for early modern science. The first definition of trust offered in the OED is “confidence in or reliance on some quality or attribute of a person or thing, or the truth of a statement.”25 Trust can give comfort or solace (Dutch troost, German Trost). It does not establish a proof, but is derived from it or other dependabilites. These kinds of entanglements between moral worthiness and material assessment also affected early modern views of ‘society.’ Much recent literature on late medieval and early modern markets has emphasized the importance of interpersonal credit, which entangled almost everyone. Social bonds were therefore tightened not by ‘love’ but by the mutual exchange of financial obligations. As Craig Muldrew put it in his “The Economy of Obligation”, “as market competition and disputes became common, ‘society’ came to be defined, not just as the positive expression of social unity through Christian love and ritual as had been the case in medieval England, but increasingly as the cumulative unity of the millions of interpersonal obligations which were continually being exchanged and renegotiated.”26 23 For more on minting and value in the Netherlands in the context of new knowledge claims, see Harold J. Cook, Assessing the Truth: Correspondence and Information at the End of the Golden Age. Leiden 2013. Paola Bertucci of Yale University is currently studying the process of minting coins in 18th-century France. 24 Vgl. Pamela Smith, The Business of Alchemy: Science and Culture in the Holy Roman Empire. Princeton 1994, S. 133–136. 25 OED, Art. Trust, Bd. 2, S. 432 f. 26 Craig Muldrew, The Economy of Obligation: The Culture of Credit and Social Relations in Early Modern England. Basingstoke 1998, S. 123.

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But a powerful feature of late medieval and early modern Europe was the extent to which people went to court to settle accounts when those whom they had trusted did not or could not pay their debts. Muldrew points to evidence from the commercial city of King’s Lynn,  a former Hansa town in East Anglia, to show that in the seventeenth century almost every family was involved in a financial lawsuit.27 The financial situation in England was so difficult in part because of the shortage of coins, forcing people to rely on personal credit to s­ ettle their obligations. But as Anne Goldgar also showed for the case of the Dutch tulip bubble — in a place where shortages of coins were not a problem — when ­people could not pay the debts they owed to friends and acquaintances the result was a landscape of broken social bonds, sowing personal divisions.28 Clearly, the early modern period was rife with the kinds of daily strife that highlighted the problems of economies of personal trust. And beyond a world described in economic terms, it might be asked whether the century that witnessed all the personal horrors of the Thirty Years War can be said to be a period in which trustworthiness was strengthening.29 Yet the economy was growing in early modern Europe. Something other than personal trust was apparently allowing exchange to multiply. What allowed ­people to enter into many kinds of relationships with one another, and to settle their accounts with one another even in a period of apparently proliferating ­distrust, were the stable marks of value stamped onto coins and accepted according to known methods of exchange backed by assays. Money was meant to be a suitable medium of exchange between strangers. While we have noted that most purchases were completed based on p ­ ersonal credit, whether signified by a handshake between merchants, or a mark being made on one’s chit at the local tavern, even these kinds of personal accounts were settled from time to time by exchanging money. Money also had to be paid to political and religious authorities in the form of taxes and tithes, encouraging people to sell goods or labor for hard cash. Equally importantly, people who were unknown to other parties could transact business with cash. For instance, in an important study of the business practices of a Renaissance Florentine pharmacy, the social basis for the economy of credit is highlighted. Most of the transactions came from known clients who did not haggle about prices when purchasing something and having it recorded in the account books; the negotiation came when the accounts were settled — sometimes only after the debt collectors were sent — and the settlements among the known customers 27 Vgl. ebd., S. 247. 28 Vgl. Anne Goldgar, Tulipmania: Money, Honor, and Knowledge in the Dutch Golden Age. Chicago 2007. 29 For further thoughts on the problem of trust and distrust, see Harold J. Cook, Sharing the Truth of Things: Mistrust, Commerce, and Scientific Information in the 17th Century, in: Guillaume Garner/Sandra Richter (Hg.), ‘Eigennutz’ und ‘gute Ordnung’. Ökonomisierungen der Welt im 17. Jahrhundert. (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, 54) Wiesbaden 2016, S. 273–291.

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might be made by accepting other goods or services in kind. But when someone not known to possess personal credit requested an item — humble people and strangers — t hey traded in cash money, despite the general shortage of coins.30 Money was an impersonal substitute for personal credit, being liquid. It could be used to settle debts, and it could be used to promote transactions among people of different classes and different cultures who lacked mutual confidence. And early modern Europe was seeing a move toward an economy of money. In other words, one of the bonds that linked people with one another was the acceptance of a collective agreement about monetary value that went further than personal reputation. Money in the form of coins was impersonal or supra-personal. It also left people free to negotiate with anyone who had access to money, whether they had access to personal credit or not. The “trust” that is often noted in many kinds of interpersonal relationships therefore depended on stable regularities. Credit, for instance, could be made visible by the amount of regularized cash money it could acquire, and cash could in turn allow for commensurable exchanges to occur between virtual strangers, providing  a material means for assessing and sharing trust. It may even be that the methods of ­political negotiation developed by medieval and early modern urban governments emerged from the practices of mercantile negotiation.31 It is notable, too, that one early modern phrase for what we now call the Republic of Letters was ‘commerce des lettres.’32 These processes of economic exchange are reminiscent of several important projects that have arisen between the fields of science studies and history of science. For example, in 1989 Susan Leigh Star and James Griesemer wrote about the exchange of ‘boundary objects:’ the specimens, notes, and maps passed between different kinds of actors in a museum. They noted that the administrators, curators, and collectors all had different aims and ascribed different meanings to the boundary objects, but the objects passed among the different groups and connected their various cultural worlds without necessarily integrating them.33 In 1995, Edwin Hutchins wrote about the power of navigational tools to substitute for the science of navigation. “The device is actually more powerful if the user does not have to know how or why it works, because it is thereby available to a much larger community of users. The computational abilities of the 30 Vgl. James E. Shaw/Evelyn Welch, Making and Marketing Medicine in Renaissance Florence. Amsterdam 2011, S. 123–156, hier 123. 31 For example, see the arguments of Avner Greif, Institutions and the Path to the Modern Economy: Lessons from Medieval Trade. Cambridge 2006; Arthur Weststeijn, Commercial Republicanism in the Dutch Golden Age: The Political Thought of Johan & Pieter De La Court. Leiden 2012. 32 Gisbert Cuper, Lettres de critique, d’Histoire, de Litterature, &c. Ecrites, ed. Justinus de Beyer. Amsterdam 1742, S. 189. 33 Vgl. Susan Leigh Star/James Griesemer, Institutional Ecology, ‘Translations’ and Boundary Objects: Amateurs and Professionals in Berkeley’s Museum of Vertibrate Zoology, 1907–39, in: Social Studies of Science 19, 1989, S. 387–420.

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mind of the navigator penetrate only the shallows of the computational problems of navigation. In the day-to-day practice of navigation, the deeper problems are either transformed by some representational artifice into shallow ones or not addressed at all.”34 A couple of years later, drawing on the work of Mary Louise Pratt, Peter Galison noticed that in the multiple fields and subcultures of microphysics exchanges among people with differing interests and views were possible even when they did not understand the people or even the procedures of the other fields with whom they were interacting: they only needed to agree about the units (such as measurements) being exchanged.35 These exchanges were in turn enabled by agreed methods of assessing the material substances which each kind of person was evaluating. To exchange and even accumulate knowledge of many kinds, then, you did not need to speak the language of another field, only to speak the words each field had in common. In other words, while the linguistic ‘pidgins’ of trading zones allow people to exchange certain kinds of knowledge with one another without having very much in common, Galison found that as far as trading went, the less necessary communication is between scientists in adjoining fields, the better. Ted Porter has also pointed to the power of what he calls ‘thin’ descriptions.36 As long as the various parties are coordinated in their activities around commensurable information, then, each thin exchange contributes to a kind of distributed intelligence. As in business, scientific thinness works best when it is supported by a common focus on evaluation of material things.37 So, too, the new science of early modern Europe employed something like depersonalized, distributed intelligence rooted in assessed facts. Chandra ­Mukerji’s analysis of the building of the Canal du Midi in the later seventeenth century shows this clearly.38 It was a collective effort led by a merchant (in fact, a tax-farmer) backed by the crown, in which many kinds of knowledge, possessed by many different kinds of people, interacted, but in which no single person had to be trusted by all the others. Their relationships were knitted together by interests, ideologies, and politico-moral stances, as well as by customary build34 Hutchins, Cognition (wie Anm. 15), S. 174. 35 Vgl. Mary Louise Pratt, Imperial Eyes: Travel Writing and Transculturation. 2. Aufl. London 1992; Peter Galison, Image and Logic: A Material Culture of Microphysics. Chicago 1997; also see his “Trading With the Enemy,” in: Michael Gorman (Hg.), Trading Z ­ ones and Interactional Expertise: Creating New Kinds of Collaboration. Cambridge 2010, S. 25–52. 36 Vgl. Theodore M. Porter, Thin Description: Surface and Depth in Science and Science Studies, in: Osiris 27, 2012, S. 209–226. 37 On the general move in science studies toward materialism, see, for example, Hans-Jörg Rheinberger, An Epistemology of the Concrete: Twentieth-Century Histories of Life. Durham 2010; Ursula Klein/Emma C. Spary (Hg.), Materials and Expertise in Early Modern Europe: Between Market and Laboratory. Chicago 2010; Donald MacKenzie, Material Markets: How Economic Agents Are Constructed. Oxford 2009. 38 Vgl. Mukerji, Impossible Engineering (wie Anm. 15).

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ing practices and exchanges of information about the nature of Languedoc, but all of the various people involved were not of the same class or culture, far from it. Mukerji frames the project as an aspect of Colbert’s ‘stewardship politics,’ which was in turn  a form of administrative reasoning. Information could be produced and reproduced, accumulated, and exchanged in processes that sustained wealth and power materially, allowing the Crown to step around other systems of power in the region that depended on personal status and patronage. Colbert — son of a merchant, chief of the navy, and founder of the Academie des sciences — has therefore been called “the information master.”39 In assessing information, scientific assessments also gave preference to materialistic methods. For instance, Herman Boerhaave set out to examine the claims of various alchemists about how to obtain the philosophical mercury. This required him to try out their methods in experiments that in some cases went on continuously over many years. When he could not get the claimed results, and reported his findings, he helped to put an end to transmutational alchemy in Europe.40 Carl Wennerlind has recently drawn attention to Isaac ­Newton’s work on behalf of the mint, overseeing the introduction of the new coinage in the wake of the Glorious Revolution that brought the Prince of Orange to the English throne. One of Newton’s tasks was to track down and prosecute counterfeiters, even to the point of witnessing their hangings.41 What is a counterfeit but an attempt to pass one thing off as another? And what is the answer but to investigate the thing carefully in order to determine its composition? Investigation into materials was a quite different method from the philosophical demonstrations of classical natural philosophy. In other words, when questions were asked about the truthfulness of claims, the answers could sometimes — depending on the matter being discussed — be given in materialistic ways. When a statement about objects was questioned, the object to which it referred could be examined. This is the origin of what is often called scientific objectivity: its statements refer to objects. One could check the claims by inspecting the materials, devices, and procedures that produced them. It is also worth emphasizing that there are active and bodily verbal properties at work here: testing, trying, proving, and assessing are not to be had by reading, thinking, or debating, but only by investigation. And for all of this, the ‘paper technologies’ of good record-keeping and the ‘virtual witnessing’ conveyed by reports, written in clear, matter-of-fact prose, could convey the facts to 39 As in the title of Jacob Soll, The Information Master: Jean-Baptiste Colbert’s Secret State Intelligence System. Ann Arbor 2009. 40 Vgl. John C. Powers, Inventing Chemistry: Herman Boerhaave and the Reform of the­ Chemical Arts. Chicago 2012, S. 170–191. 41 Vgl. Wennerlind, Casualties of Credit (wie Anm. 14); also see Edoardo Grendi, Counterfeit Coins and Monetary Exchange Structures in the Republic of Genoa During the Sixteenth and Seventeenth Centuries, in: Edward Muir/Guido Ruggiero (Hg.), History From Crime. Baltimore 1994, S. 170–205.

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others.42 Such methods stripped the objects and phenomena of their contextual meanings, reducing them to goods and information. These goods and information could be acquired from all kinds of people who were not the equivalent of European merchants: for instance, Michael Hunter has written about how John Aubrey and similar English gentlemen (and gentlewomen) collected information, especially recipes, from all kinds of ordinary people; Steven Shapin has written about the ways in which Robert Boyle acquired knowledge from laboratory assistants he did not name, or from sea divers; I have examined how Dutch medical and natural historical investigators acquired goods and information from interlocutors in the East and West Indies; Londa Schiebinger and Antonio Barrera-Osorio have examined similar activities in the Caribbean; and the literature on such exchanges and the intermediaries who made them possible has greatly expanded in recent years.43 The point, surely, is not that all such people involved in exchanges of information liked or understood one another, yet they could engage in thin exchanges based on commensurabilities of material goods. As they did so, the value of mobile impersonal facts threatened to replace the culture-bound values of personal character. Similarly, the early modern monetary system was being materialized, standardized, and verified. We might, then, say that the more materialistic the practice, the more ­easily it and its products moved. Because they called for proof rather than truth, certain impersonal kinds of knowledge-practice, now called science, are consequently relatively easily shared, at least among those expert enough to assess them. Giving attention to what kinds of knowledge were exchanged — not only the universal kinds we call science but some of the other kinds of Wissenschaft as well — may reveal more kinds of connected histories than we now imagine. Monetary economies and science require commensurability based on critically

42 Vgl. Steven Shapin/Simon Schaffer, Leviathan and the Air Pump: Hobbes, Boyle, and the Experimental Life. Princeton 1986. 43 Vgl. Michael Hunter, John Aubrey and the Realm of Learning. London 1975; Shapin, Social History of Truth (wie Anm. 18), S. 355–407; Harold J. Cook, Matters of Exchange (wie Anm. 8), S. 175–225; Londa L. Schiebinger, Plants and Empire: Colonial Bioprospecting in the Atlantic world. Cambridge 2004; Antonio Barrera-Osorio, Experiencing Nature: The Spanish American Empire and the Early Scientific Revolution. Austin 2006. For further examples, see for example: Richard Grove, Green Imperialism: Colonial Expansion, Tropical Island Edens and the Origins of Environmentalism, 1600–1860. Cambridge 1995; Richard Drayton, Nature’s Government: Science, Imperial Britain and the “Improvement” of the World. New Haven 2000; Londa Schiebinger/Claudia Swan (Hg.), Colonial Botany: Science, Commerce, and Politics in the Early Modern World. Philadelphia 2004; Lissa Roberts/Simon Schaffer/Peter Dear (Hg.), The Mindful Hand: Inquiry and Invention from the Late Renaissance to Early Industrialisation. Amsterdam 2007; Simon Schaffer u. a. (Hg.), The Brokered World: Go-Betweens and Global Intelligence, 1770–1820. Sagamore Beach 2009; James Delburgo/Nicholas Dew (Hg.), Science and Empire in the Atlantic World. New York 2008; Daniela Bleichmar, Visible Empire: Botanical Expeditions and Visual Culture in the Hispanic Enlightenment. Chicago 2012.

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assessed materials. Coins were made via carefully supervised and standardized procedures that included scientific assaying, and then circulated widely because of their regularized size, weight, and markings made exchanges commensurable; the rapid growth of early modern monetized economies, rooted in scientific methods of material assessment, in turn spread enthusiasm for fresh applications of de-personalized and materialistic goods and information. The new science and commercial economies were being co-produced.

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Philip Knäble

Wucher, Seelenheil, Gemeinwohl Der Scholastiker als Wirtschaftsexperte?

Über das Mittelalter sprechen – das ist kein Geheimnis – heißt immer auch über die Gegenwart reden. Denn die jeweiligen Vorstellungen vom Mittelalter bieten seit Beginn der Moderne ein prominentes Terrain, normative Aussagen und Identitätsentwürfe von Gruppen in der Gegenwart zu verhandeln. Zwei Meistererzählungen – das dunkle Mittelalter als Gegenbild einer durch die Aufklärung erreichten Moderne und das stabile, moralisch überlegende Mittelalter als Fluchtpunkt einer ›romantischen‹ Mittelalterimagination  – sind dabei besonders prägend, wenn auch mittlerweile eine Vielzahl von Mittelalterbildern als Kontrastfolien oder Parabeln in der Forschung diskutiert werden.1 Auch das Bild der Scholastik in der Wissenschaft oszilliert zwischen statischer, wissenschafts- und fortschrittsfeindlicher Pedanterie in der Meister­erzäh­ lung einer aufgeklärten, dynamischen Moderne und moralisch weitsichtiger ganzheitlicher Wissenschaft innerhalb der romantischen Mittelalterimagination gegenwartskritischer Positionen.2 In Bezug auf den sich in Europa im 19.  Jahrhundert durchsetzenden hochkapitalistischen Wirtschaftsstil wurde die scholastische Lehre dementsprechend als Kontrastfolie eingesetzt: entweder in Form einer statischen Wirtschaftslehre, die ein Wirtschaftswachstum durch rigide Zins- und Wucherverbote verhinderte, oder einer überlegenen Wirtschaftsethik, die Bodenschätze, Frieden und Sitten vor »Raubbau« und »Materialismus« bewahrte. Auch wenn die Bewertung unterschiedlich ausfiel – mal galten die Scholastiker als Ausbremser des Kapitalismus, mal als Bewahrer eines besseren Wirtschaftssystems – sahen beide Positionen die Lehren der Scholastiker mit der Entwicklung des modernen Wirtschaftssystems unvereinbar an.3 1 Grundlegend dazu Otto Gerhard Oexle, Das entzweite Mittelalter, in: Gerd Althoff (Hg.), Die Deutschen und ihr Mittelalter. Themen und Funktionen moderner Geschichtsbilder vom Mittelalter. Darmstadt 1992, S. 7–28; neuere Ideen dazu bei Otto Gerhard Oexle, »Das Mittelalter« – Bilder bedeuten Geschichte, in: János Bak u. a. (Hg.), Gebrauch und Mißbrauch des Mittelalters, 19.–21. Jahrhundert. München 2009, S. 21–43; eine gute Zusammenfassung bietet Frank Rexroth, Die scholastische Wissenschaft in den Meister­ erzählungen von der europäischen Geschichte, in: Klaus Ridder/Steffen Patzold (Hg.), Die Aktualität der Vormoderne. Berlin 2013, S. 111–134, hier 113–116. 2 Vgl. Rexroth, Wissenschaft (wie Anm. 1), S. 117–127. 3 Vgl. etwa die Publikationen der katholischen Sozialreformer um 1900, dazu ausführlicher: Philip Knäble, Caritas vs. Askese. Die scholastische Wirtschaftslehre als Retter des »wahren echten Kapitalismus«, in: Trajectoires 10 (2016), http://trajectoires.revues.org/2059

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Philip Knäble

Wegen dieser Unvereinbarkeit spielen die Scholastiker in den Einführungen in die Geschichte der Wirtschaftswissenschaften so gut wie keine Rolle. Werden sie erwähnt, dann werden sie meist auf wenigen Seiten abgehandelt, mit Fokus auf Thomas von Aquin und vielleicht einigen Andeutungen zur Geldlehre von Nicolas Oresme und Gabriel Biel.4 Zwar gab es immer wieder Versuche, die Scholastiker in die Wirtschaftstheorie einzuführen, sie blieben aber weitgehend erfolglos. Am Prominentesten vertreten wurden sie von Joseph Schumpeter in seiner 1954 posthum herausgebenden Theoriegeschichte, einige Jahre später durch den Wirtschaftshistoriker Raymond de Roover und in den letzten 30 Jahren durch den norwegischen Ökonomen Odd Langholm.5 Joseph Schumpeter stufte dabei die Scholastiker als wesentlich bedeutender für die Wirtschaftswissenschaften ein als die Merkantilisten oder Adam Smith und sah sie als ebenbürtig im Vergleich zu den Ökonomen des 19. Jahrhunderts.6 Entgegen der dominanten Sichtweise einer praxisfernen Scholastik attestieren die genannten Autoren einzelnen Scholastikern geradezu Detailwissen und Umsicht. Sie knüpfen damit an die Deutung des Nationalökonomen Werner Sombart an, der in seinem 1913 erschienenen »Der Bourgeois« nicht wie Max Weber die Morallehren des Calvinismus, sondern die des Katholizismus als Wegbereiter für den Kapitalismus ansah.7 Über den Florentiner Bischof Antoninus urteilte Sombart deshalb:

(letzter Zugriff am 20.02.2017). Eine Ausnahme darunter stellte Franz Keller dar, der gerade die scholastische Moraltheologie als Retter des »wahren echten Kapitalismus« ansah (Franz Keller, Unternehmung und Mehrwert. Eine sozial-ethische Studie zur Geschäftsmoral. Paderborn 1912, S. 30). 4 »Der einflussreichste mittelalterliche Theologe ist zweifelsohne Thomas von Aquin (1225–1274), dessen Stellungnahmen zu ökonomischen Fragen als repräsentativ für die scholastische Ökonomie gelten können.« (Fritz Söllner, Die Geschichte des Ökonomischen Denkens, 4. korrigierte Auflage. Berlin 2015, S. 6). Ähnlich argumentiert auch Toni­ Pierenkämper, Geschichte des modernen ökonomischen Denkens. Große Ökonomen und ihre Ideen. Göttingen 2012, S. 35, 40. Dort werden für Thomas von Aquin (1300–1358) [sic!] fälschlicherweise die Lebensdaten von Buridanus angegeben. Beide geben aber Literaturhinweise zur Spätscholastik. Kritisch zu dieser Beschränkung: Sylvain Piron, Avant-propos, présentation, in: Pierre de Jean Olivi, Traité des contrats, hrsg. von Sylvain Piron. Paris 2012, S. 11–71, hier 11. 5 Joseph Schumpeter, Geschichte der Ökonomischen Analyse, hrsg. von Elisabeth Schumpeter, Bd. 1. Göttingen 1965, S. 115–164; Raymond de Roover, Joseph A. Schumpeter and Scholastic Economics, in: Kykla 10, 1957, S. 115–146; Ders., San Bernardino of Siena and Sant’Antonio of Florence: The Two Great Economic Thinkers of the Middle Ages. Boston 1967; Odd Langholm, Economics in the Medieval Schools. Wealth, Exchange, Value, Money and Usury according to the Paris Theological Tradition 1200–1350. Leiden 1992; Ders., The Legacy of Scholasticism in Economic Thought. Antecedents of Choice and Power. Cambridge 1998; Bertram Schefold, Beiträge zur ökonomischen Dogmengeschichte. Düsseldorf 2004. 6 Vgl. Schumpeter, Geschichte (wie Anm. 5), S. 143, 153. 7 Vgl. Werner Sombart, Der Bourgeois. Leipzig² 1920, S. 312–316.

Wucher, Seelenheil, Gemeinwohl

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»Welch eine Fülle praktischen Wissens steckt in der Summa des Antoninus! Das ist das Werk eines der lebenskundigsten Männer seiner Zeit, der offenen Blicks durch die Straßen von Florenz ging, dem keiner von den Tausenden geschäftlicher Pfiffe und Kniffe seiner lieben Landsleute verborgen blieb, der im Transportversicherungs­ wesen ebenso zu Hause war wie im Wechselgeschäft, in der Seidenindustrie ebenso wie im Tuchhandel.«8

Handelt es sich bei den Scholastikern etwa doch um ausgewiesene Kenner der Ökonomie? Konnten sie gar als »spätmittelalterliche Finanzexperten«9, als »expertos en temas económicos«10 gelten, wie es Annette Kehnel und Chiara­ Mancinelli für die Franziskaner in Anlehnung an Giacomo Todeschini formuliert haben? Die Frage nach der Verbindung von scholastischer Lehre und ökonomischer Praxis und nach den Scholastikern als Wirtschaftsexperten soll Thema dieses Beitrags sein. Dazu wird in drei Schritten vorgegangen. Zunächst wird aufgezeigt, dass die Scholastiker über ein umfangreiches Wissen über die ökonomische Praxis verfügten, woran sich ein paar kurze Bemerkungen zum Konzept des Experten anschließen. Dann möchte ich im dritten Punkt am Beispiel einer Anfrage von Antwerpener Kaufleuten an die Theologen der Sorbonne zeigen, dass das Wissen der Scholastiker über wirtschaftliche Vorgänge auch für Kaufleute relevant sein konnte.

I . Das Wissen der Scholastiker über

die ökonomische Praxis Möchte man sich mit Wissen über die ökonomische Praxis auseinandersetzen, bleibt zu klären, was in der Vormoderne unter Ökonomie zu verstehen ist. Wirtschaft als den funktional ausdifferenzierten Bereich der Produktion, Distribution und Konsumption zu denken, dürfte für die Vormoderne kaum sinnvoll anzuwenden sein. Studien der letzten Jahre, etwa von Martha Howell oder Laurence Fontaine, haben mit der Ausweitung auf Eigentumsgesetze, Heirats8 Ebd., S. 315 f. Vgl. auch Iris Origo, die für Bernardino von Siena »eine bemerkenswert detaillierte Kenntnis der damaligen Handelsgepflogenheiten« konstatiert (Iris Origo, Der Heilige der Toskana. Leben und Zeit des Bernardino von Siena. München 1989, S. 79). 9 Annette Kehnel, Not macht erfinderisch. Denkanstöße zur franziskanischen Armut als Unternehmens- und Wirtschaftsbetrieb inspiriert von Georg Schwaiger, Alfred Kieser und Giacomo Todeschini, in: Heinz-Dieter Heimann u. a. (Hg.), Gelobte Armut. Armutskonzepte der franziskanischen Ordensfamilie vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Paderborn 2012, S. 233–240, hier 237. 10 Chiara Mancinelli, La influencia del »Tratado sobre contratos« de Olivi en el »Tractat de avaricia« de Eiximenis: un ejemplo de circulación de la moral económica en el mediterráneo, in: Luciano Gallinari (Hg.), Tra il Tirreno e Gibilterra un Mediterraneo Iberico?, Bd. 1. Cagliari 2015, S. 99–135, hier 100.

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und Schenkungsverhalten, Kleinkredite, Vertrauens- und Ehrbeziehungen aufgezeigt, inwiefern Wirtschaft in soziale Gebräuche, politische Gesetze und religiöse Vorstellungen eingebettet war.11 Das Konzept der Einbettung (embeddedness), von Karl Polanyi in der Mitte des 20. Jahrhunderts in Anlehnung an Marcel Mauss entworfen und von Wirtschaftsethnologen wie Mark Granovetter weiterentwickelt, bleibt, wenn man die Tendenz zu einer romantisierten Vormoderne nicht kritiklos übernimmt, weiterhin vielversprechend.12 Aktuell wird das Konzept etwa wieder in Verbindung mit dem von E. P. Thompson geprägten Begriff der Moralischen Ökonomie diskutiert.13 Die zentrale Frage für eine Analyse der Einbettung bleibt weiterhin, wo die Grenzen des Gegenstands gezogen werden sollen. Welche Bereiche neben den ›klassischen‹ Feldern der Ökonomie muss eine kulturwissenschaftlich orientierte Wirtschaftsgeschichte der Vormoderne abdecken? Die höfischen Ehrbeziehungen, die bäuerliche Festkultur, die monastischen Stundengebete? In diesem Aufsatz werde ich mich im Folgenden auf die Wechselwirkungen der ökonomischen Praxis von Kaufleuten und dem ökonomischen Wissen von scholastischen Autoren beschränken.14 Für die spätmittelalterlichen Kleriker, gerade auch für die Scholastiker, galt jede Handlung als religiöse Handlung und damit als moralische Handlung. Die Fragen nach Armut und Reichtum, Gewinn und Verlust waren deshalb stets mit der Sorge um das Seelenheil verknüpft, wirtschaftliche Praktiken damit in Semantiken von Gemeinwohl, Wucher und gerechtem Preis eingebettet, die der vormodernen Wirtschaft eine

11 Vgl. Martha Howell, Commerce before Capitalism in Europe, 1300–1600. Cambridge 2010, S. 10 f.; Laurence Fontaine, The Moral Economy. Poverty, Credit, and Trust in Early Modern Europe. Cambridge 2014, S.  2 f.; Dies., Le marché. Paris 2014, S.  15–47; auch­ Lawrin Armstrong, The Idea of a Moral Economy. Gerard of Siena on Usury, Restitution, and Prescription. Toronto 2016, S. 12. 12 Vgl. Hans-Peter Hahn, Notizen zur Umwertung der Werte. Perspektive auf ökonomische Konzepte im interdisziplinären Diskurs, in: Inga Klein/Sonja Windmöller (Hg.), Kultur der Ökonomie. Zur Materialität und Performanz des Wirtschaftlichen. Bielefeld 2014, S. 17–36; Christof Dejung, Einbettung, in: Ders./Monika Dommann/Daniel Speich Chassé (Hg.), Auf der Suche nach der Ökonomie. Historische Annäherungen. Tübingen 2014, S. 47–71. 13 Edward P. Thompson, The Moral Economy of the English Crowd in the Eighteenth Century, in: Past & Present 50, 1971, S. 76–136, hier 79, 94–98, 136; Kritiken und Weiterentwicklungen bei James Davis, Medieval Market Morality. Life, Law and Ethics in the English Marketplace, 1200–1500. Cambridge 2012, S.  410–412, 440–449; Fontaine, Moral Economy (wie Anm. 11), S. 312–314; Armstrong, Idea (wie Anm. 11), S. 25–30. Zur Semantik des Begriffs vor Thompson als Quellenbegriff des 18. Jahrhunderts vgl. Norbert Götz, »Moral economy«. Its Conceptual History and Analytical Prospects, in: Journal of ­Global Ethics 11, 2015, S. 147–162, hier 148–151. 14 Damit wird etwa der gesamte Bereich, den Braudel als »Materielle Kultur« bezeichnet hat, ausgeblendet, vgl. Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts, Bd. 1. Der Alltag. München 1985. Ebenso wenig wird auf die Wirtschaftspraxis religiöser Organisationen Bezug genommen.

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andere, keineswegs geringe, Komplexität verliehen.15 Gleichzeitig wirkte die ökonomische Praxis auf die Begriffsbildungen der Scholastik ein. Die neueren Forschungen zur Scholastik konzentrieren sich deshalb nicht mehr allein auf die Ideengeschichte sowie philosophische und theologische Verortungen, sondern sie versuchen die Scholastiker als historische Akteure innerhalb der mittelalterlichen Wissenskulturen zu verorten und aufzuzeigen, dass deren Wissen durch sozio-kulturelle Praktiken und damit eben auch wirtschaftliche Praktiken beeinflusst wurde und diese Praktiken mitprägte.16 Anhand von drei Beispielen vom späten 13. Jahrhundert bis zum 15. Jahrhundert, Petrus Olivi (um ­1248–1298) / Gerald Odonis (1290–1349), Bernardino von Siena (1380–1444) sowie Antoninus von Florenz (1389–1459), möchte ich im Folgenden die Auseinandersetzung der Scholastiker mit ökonomischen Praktiken nachzeichnen. Die Werke von Petrus Olivi und Gerald Odonis, der sich inhaltlich stark an Olivi orientiert, sind im Kontext der franziskanischen Ideen zu Armut und Seelsorge entstanden.17 Die Bettelorden, die seit der Mitte des 13. Jahrhundert als Beichtväter der städtischen Eliten und damit auch von vielen Kaufleuten fungierten, sahen sich im Zuge der kommerziellen Revolution mit immer komplexeren Fragen zu kaufmännischen Geschäftspraktiken konfrontiert. Petrus Olivi und Gerald Odonis betrieben beide zeitweise die theologische Ausbildung des Ordensnachwuchses an den Konventen in Südfrankreich, um ihre Mitbrüder zu kompetenten Beichtvätern auszubilden. Sie stellten in ihren Schriften deshalb in Anlehnung an die Summae confessorum eine Anleitung für die moralische Bewertung der kaufmännischen Praxis, insbesondere der unterschiedlichen Ver15 Vgl. Langholm, Economics (wie Anm. 5), S. 9 f., Armstrong, Idea (wie Anm. 11), S. 11–13. 16 Vgl. Catherine König-Pralong, Le bon usage de savoirs. Scolastique, philosophie et­ politique culturelle. Paris 2011, S.  23 f., 305–310; Sita Steckel, Wissensgeschichten. Zugänge, Probleme und Potentiale in der Erforschung mittelalterlicher Wissenskulturen, in: Dies./Martin Kintzinger (Hg.), Akademische Wissenskulturen. Praktiken des Lehrens und Forschens vom Mittelalter bis zur Moderne. Basel 2015, S. 9–58, hier 10 f.; Andreas­ Holzem, Die Wissensgesellschaft der Vormoderne. Die Transfer- und Transformationsdynamik des ›religiösen Wissens‹, in: Klaus Ridder/Steffen Patzold (Hg.), Die Aktualität der Vormoderne. Berlin 2013, S. 233–265, hier 247–262. 17 Zu Leben und Werk der beiden Franziskaner siehe: Langholm, Economics (wie Anm. 5), S. 345–373, 508–533; Giovanni Ceccarelli/Sylvain Piron, Gerald Odonis’ Economic Treatise, in: Viarium 47, 2009, S. 164–204; Piron, Avant-propos (wie Anm. 4), S. 11–71; Ders., Marchands et confesseurs. Le Traité des contrats d’Olivi dans son contexte (Narbonne, fin XIIIe – début XIVe siècle), in: Société des historiens médiévistes de l’enseignement supérieur public (Hg.), L’argent au Moyen Age. Paris 1998, S. 289–308; Julius Kirshner/­ Kimberley Lo Prete, Peter John Olivi’s treatises on contracts of sale, usury and restitution. Minorite economics or minor works?, in: Quaderni Fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno 13, 1984, S. 233–286; König-Pralong, Usage (wie Anm. 16), S. 165–215; Giacomo Todeschini, Olivi  e il mercator christiano, in: Alain Boureau/Sylvain Piron (Hg.), Pierre de Jean Olivi (1248–1298). Paris 1999, S. 217–238 ; Ders., Richesse franciscaine. De la pauvreté volontaire à la société de marché. Paris 2008.

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tragsformen, vor.18 Gerald Odonis thematisiert diesen Praxisbezug im Vorwort seines Traktates explizit. Er merkt an, dass er vor allem die Fälle aufgenommen habe, die den Beichtvätern am meisten Probleme bereiten.19 Petrus Olivi versammelt in seinem »Tractatus de Contractibus« seine Vorlesungen und die Inhalte der Quodlibet-Diskussionen an den Franziskanerkonventen in Mont­ pellier und Narbonne. Im Gegensatz zu den großen Universitätsstädten wie­ Paris standen bei diesen Debatten nicht in erster Linie spekulative Probleme, sondern praktisch-moralische Fragen, etwa zum Verhalten im Krieg, Eidbruch, Ordenseintritt von Verheirateten und eben auch Handelsverträgen, im Zentrum der Aufmerksamkeit.20 In beiden Traktaten spiegelt sich insofern die kaufmännische Praxis im Languedoc um 1300 wider, einer Region, die man zu dieser Zeit kaum zur ökonomischen Peripherie rechnen konnte. Montpellier galt bis in das 14. Jahrhundert als wichtigster Finanzplatz des westlichen Mittelmeerraums und in Narbonne, einer Stadt die um 1300 knapp 30.000 Einwohner zählte, bestand eine bedeutende Tuchproduktion mit großen Exporten in das Königreich Valencia.21 Die ökonomischen Traktate von Petrus Olivi und Gerald Odonis sind in der Forschung vor allem bekannt geworden, da Bernardino von Siena sie gut 100 Jahre später benutzte und mit Kommentaren versah.22 Bernardino zog­ daraus wesentliche Anregungen für seine Predigten und Schriften. In seinem Werk »De Evangelio aeterno«, in dem sich 13 Lehrsätze explizit mit Fragen des Handelsalltags befassen,23 sind große Teile inhaltlich oder wörtlich von Petrus Olivi übernommen.24 Aber Bernardino wiederholte nicht einfach nur Petrus Olivis’ Traktat, sondern glich es der veränderten ökonomischen Praxis seiner Zeit an. Auch er kannte den kaufmännischen Alltag, da er jahrelang in den großen italienischen Handelsmetropolen Florenz und Venedig und auch seiner Heimatstadt 18 Vgl. Piron, Marchands (wie Anm. 17), S. 293 f. Zur Thematik von wirtschaftlichen Praktiken in den Summae confessorum vgl. Jörg Oberste, Zwischen Heiligkeit und Häresie. Religiosität und sozialer Aufstieg in der Stadt des hohen Mittelalters«, Bd. 1. Köln 2003, S. 282–300. 19 »[…] sunt illa que maxime generant perplexitatem in scientia vel in conscientia confessorum.« (zitiert nach: Piron, Marchands (wie Anm. 17), S. 293). Vgl. auch Langholm, Economics (wie Anm. 5), S. 513 f. 20 Vgl. Piron, Marchands (wie Anm. 17), S. 293 f., Ders., Avant-propos (wie Anm. 4), S. 40–42. 21 Vgl. Piron, Avant-propos, (wie Anm. 4), S. 34 f. 22 Vgl. De Roover, San Bernardino (wie Anm. 5), S. 17; Langholm, Economics (wie Anm. 5), S. 513. Für eine frühere Rezeption von Petrus Olivi durch Frances Eiximenis in Aragon vgl. Mancinelli, Influencia (wie Anm. 10), S. 102 f. 23 Edition: San Bernardino of Siena, Opera Omnia, Bd.  4. Quadragesimale de Evangelio Aeterno. Sermones XXVII–LIII, Florenz 1956. Von »De Evangelio aeterno« existiert eine Reihe von Druckausgaben aus dem 15. Jahrhundert. Vgl. dazu: De Roover, San Bernardino (wie Anm. 5), S. 1. 24 Das bemerkt schon De Roover, San Bernardino (wie Anm. 5), S. 19.

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Siena gepredigt hatte.25 Die Predigt war ein zentrales Medium der spätmittelalterlichen Gesellschaft, in dem die Inklusion und Exklusion sozialer Gruppen, normative Erwartungen und Wissensinhalte vermittelt wurden und das vor allem die Bettelorden beherrschten.26 Als Aufführung mit der körperlichen Kopräsenz von Prediger und Gemeinde machte die Predigt anders als die Traktate eine situative Veränderung des Wortes möglich, ließ aber auch eine unmittelbare Kommentierung und Störung durch das Publikum zu. Der Franziskaner Bernardino zeigte sich als erfahrener Prediger, der gemäß der Artes Praedicandi den »statum auditorum«, die Zusammensetzung des Publikums, beachtete.27 Je nach sozialen Stand der Zuhörer, dem Ort und dem Zeitpunkt der Predigt, variierte er seine Sprache und Beispiele. Dass alltägliche Beispiele aus dem städtischen Wirtschaftsleben in seinen Predigten eine große Rolle spielten, lag zum einen an der Bedeutung von Kaufleuten in den großen Handelsstädten, zum anderen aber auch am Adressatenkreis der Predigt. In Siena hielt Bernardino seine Predigten auf einer Kanzel in der Nähe des Stadtbrunnens.28 Die dortigen KleinhändlerInnen gehörten zum Hauptpublikum seiner Predigten, deren Kniffe und alltägliche kleine Betrügereien er detailreich schilderte. Vor den Großkaufleuten variierte er seine Themen, sprach nun über die komplexen internationalen Waren- und Termingeschäfte, über Wechselverträge und die Anleihen, welche die italienischen Stadtrepubliken von ihren Bürgern verlangten, oder über die Aussteuerversicherungen. Dabei zeichnet er sich als Kenner der jeweiligen Tageskurse der Geldwechsler und die für den Handel relevante Gesetzgebung der Republiken aus.29 Etwa zeitgleich mit Bernardino von Siena hat auch der Dominikaner ­Antoninus von Florenz die Schriften von Petrus Olivi rezipiert. Antoninus war Prior in mehreren Klöstern gewesen, zuletzt in San Marco in Florenz, bevor er 1446 zum Erzbischof derselben Stadt ernannt wurde.30 Auch er entwickelte, wie P ­ fister formulierte, »die alten Lehren an den neuen wirtschaftlichen Verhältnissen«.31 Neben der Beobachtung der Geschäftspraktiken, wie sie der zu Beginn zitierte Sombart hervorhob, rezipierte er auch die Schriften nicht-geistlicher Eliten zur 25 Die 58 Predigten zum Fastenzyklus in Florenz von 1424 sind abgedruckt bei: Ciro­ Cannarozzi (Hg.), La prediche volgari. Pistoia 1934. Die Predigten aus Siena von 1427 bei Piero Bargellini (Hg.), San Bernardino da Siena. Le prediche volgari. Rom 1936. 26 Vgl. Johannes Schütz, Hüter der Wirklichkeit. Der Dominikanerorden in der mittelalterlichen Gesellschaft Skandinaviens. Göttingen 2014, S.  145; Siegfried Wenzel, Medieval »Artes Praedicandi«. A Synthesis of Scholastic Sermon Structure. Toronto 2015, S. 45–87. 27 Vgl. Peter Howard, Beyond the written word. Preaching and theology in the Florence of Archbishop Antoninus. Florenz 1995, S. 113. 28 Vgl. Origo, Heilige (wie Anm. 7), S. 17, 72 f. 29 Vgl. ebd., S. 79. 30 Zu Antoninus siehe: Raoul Morcay, Saint Antonin, Fondateur du Couvent de Saint-Marc, Archvêque de Florence, 1389–1459. Paris 1913; August Pfister, Die Wirtschaftsethik von Antoninus von Florenz. Fribourg 1949, S. 7–14; Howard, Word (wie Anm. 27), S. 11–13. 31 Pfister, Wirtschaftsethik (wie Anm. 30), S. 14.

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ökonomischen Praxis. Insbesondere das Traktat »De usuris« des Florentiner Juristen und Kaufmanns Lorenzo Ridolfi von 1404, der darin viele Geschäftsmodelle seiner Zeit als legitim erachtete, floss in die »Summa Theologica« von Antoninus ein.32 Zu ökonomischen Fragen äußerte sich Antoninus darin im zweiten Band, der die Todsünden behandelt, bei seinen Bemerkungen zur Habsucht (avaritia)  sowie im dritten Band zu den weltlichen Tätigkeiten im Kapitel »De statu mercatorum, & artificium«.33 Die Summa ist als schriftlicher Leit­faden für Prediger und die Predigt verfasst und basiert auf Predigten, die Antoninus selbst in Florenz gehalten hatte. Das oberste Ziel der Summa ist nicht, eine logische Argumentation über die Beziehung von ratio und auctoritas aufzubauen, wie sie an den scholastischen Universitäten dominierte, sondern das Seelenheil der durch die Predigten beeinflussten Laien zu erretten.34 Wie Bernardino sieht auch er dafür eine genaue Kenntnis der Lebenswelt der Adressaten als unerlässlich für den Erfolg an. Seine in der Summa verschriftlichten Predigten für die Kaufleute zeugen deshalb von einer vertieften Kenntnis über die wirtschaftlichen Abläufe in Florenz. Für die Florentiner Tuch­indus­trie, dem mit Abstand wichtigsten Produktionssektor, schildert Antoninus nämlich detailliert die einzelnen Schritte der arbeitsteiligen Tuchproduktion: Er unterscheidet Spinner, Weber, Wollreiniger, Walker, Färber, Wollwäscher und Wollzieher, ihre jeweiligen Werkzeuge und Tätigkeiten und berichtet – ähnlich wie Bernardino – über die unlauteren Einsparpotentiale im Produktionsprozess.35 Er kennt sich aber ebenso gut mit dem Handel von Galanteriewaren sowie der Buch- und Papierproduktion aus. In seiner Chronik nimmt er als einer der wenigen Zeitgenossen die wirtschaftliche Krise von 1456 wahr und sorgt sich, inwiefern die steigende Armut die soziale Ordnung gefährden könnte.36 Alle vier vorgestellten Scholastiker haben ihre Schriften in wirtschaftlich bedeutenden Zentren verfasst. Als Mendikanten verstehen sie die Seelsorge und die Predigt als wichtigste Aufgaben, weshalb sie den aktuellen und künftigen 32 Vgl. Christian Bec, Les marchands écrivains. Affaires et humanisme à Florence, 1375–1434. Paris 1967, S. 253 f.; Howard, Word (wie Anm. 27), S. 45–49. 33 Antoninus Florentinus, Summa theologica, IV partes, Bd. 3. Verona 1740, Sp. 291–323. 34 Vgl. Howard, Word (wie Anm. 27), S. 116 f. 35 Antoninus, Summa (wie Anm.  33), S.  310–314, zum italienischen Textilgewerbe siehe auch den Aufsatz von Colin Arnaud in diesem Band. 36 »Eodem anno per inundationem aquarum, in agris impedientem sationem agrorum et aliam intemperiem supervenientem tempore spicationis in agris satis, defectus magnus modicitatis in segetibus repertus est Florentie, et [in] territorio eius. Creatis autem officialibus habundantie, provisum est competenter de frumentis de diversis locis extra­ territorium adductis. Sed et pauperibus provisum est, quorum a diu in preteritum numquam tantus inventus est numerus; quod contigit, quia mercatores et artifices parum negotiantur vel artificia exercent, tum propter guerras impedientes discursum per mare et per terram, tum timore nove impositionis prestantiarum, ne nimis onerentur, tum eciam peste civitatem invadete, etsi lente, tamen in futurum magis de grassatione eius dubitatur.« (Raoul Morcay, Chroniques de Saint Antonin. Fragments Originaux du Titre XXII (1378–1459). Paris 1913, S. 97). Vgl. Howard, Word (wie Anm. 27), S. 12.

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Beichtvätern ein möglichst praxisnahes Verständnis der Tätigkeiten der wichtigsten Stände in den Stadtgesellschaften lehren möchten. In der Tradition der mendikantischen Artes Praedicandi ist ihnen bewusst, dass vor allem die Orientierung an der Lebenswelt der Adressaten und ein Verständnis für ihre alltäglichen Probleme den Erfolg der Seelsorge sichert und sich über Spenden und Unterstützung eine dominante Stellung im religiösen Feld erreichen lässt. In ihren Werken versammeln sie deshalb ein aktuelles detailreiches Wissen der wirtschaftlichen, vor allem kaufmännischen Praxis, das sie in Hinblick auf ethische Rechtmäßigkeit von wirtschaftlichen Handlungen zusammenstellten. Nur machte sie dieses Wissen allein bereits zu Wirtschaftsexperten? II . Vormoderne Wirtschaftsexperten Die Überlegungen zum Experten und zu Expertenkulturen, die in den letzten Jahren am Göttinger Graduiertenkolleg diskutiert wurden, basieren in erster Linie auf der konstruktivistischen Wissenssoziologie.37 Der Begriff des Experten ist insofern ein analytischer Begriff und kein Begriff der Quellensprache.38 Als Experten versteht Frank Rexroth einen »soziale[n] Rollentypus, der sich durch die Verheißung passgenauen Wissens in einer bestimmten Kommunikationssituation auszeichnet«39. Das heißt, dass es nicht allein das Wissen über ein Tätigkeitsfeld ist – was im ersten Teil für die Scholastiker aufgezeigt wurde –, das den Expertenstatus ausmacht, sondern die Anerkennung des Experten erfolgt vor allem in sozialer Interaktion. Der Expertenstatus wird durch die Relation der Selbstinszenierung durch den Experten und die Anrufung als Experte durch Laien performativ hervorgebracht.40 Außerdem beschränkt sich das Sonderwissen von Experten nicht auf einen konkreten Einzelfall, sondern auf alle ähnlichen Fälle, so dass der Experte als dauerhafter »Repräsentant einer sozialen Institution«41 fungiert. 37 Peter Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit Eine Theorie der Wissenssoziologie, 23.  Auflage. Frankfurt am Main 2010; Ronald­ Hitzler, Wissen und Wesen der Experten. Ein Annäherungsversuch zur Einleitung, in: Ders./Anne Honer/Christoph Maeder (Hg.), Expertenwissen. Die institutionalisierte Kompetenz zur Konstruktion von Wirklichkeit. Opladen 1994, S. 13–30. 38 Vgl. Frank Rexroth, Systemvertrauen und Expertenskepsis. Die Utopie vom maßgeschneiderten Wissen in den Kulturen des 12.  bis 16.  Jahrhunderts, in: Björn Reich/ Ders./Matthias Roick (Hg.), Wissen, maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne. (Historische Zeitschrift, Beihefte N. F. 57) München 2012, S. 12–44, hier 33–43. 39 Ebd., S. 22. 40 Vgl. Hitzler, Wissen (wie Anm. 37), S. 19; Rainer Schützeichel, Laien, Experten, Professionen, in: Ders. (Hg.), Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung. Konstanz 2007, S. 546–578, hier 549; Sebastian Dümling, Träume der Einfachheit. Gesellschaftsbeobachtungen in den Reformschriften des 15. Jahrhunderts. (Historische Studien, 511) Husum 2017, S. 38 f. 41 Rexroth, Systemvertrauen (wie Anm. 38), S. 24.

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Im Gegensatz zu Medizinern oder Juristen als häufiger untersuchte vormoderne Experten42 gab es keine spätmittelalterlichen Ökonomen, die an eigenen Fakultäten an den Universitäten ausgebildet wurden. Ökonomische Diskurse waren Teil  des kanonischen und weltlichen Rechts und vor allem der Moraltheologie. Der gelehrte Ökonom war also nicht so einfach auszumachen wie der gelehrte Mediziner oder Jurist, der etwa über Kleidung und den Verweis auf akademische Titel und Rituale seinen besonderen Status inszenieren konnte.43 Nun kannte das Mittelalter aber neben der gelehrten scientia noch eine andere Form des Wissens, die eher auf praktischen Erfahrungen basierte und als ars oder experientia bezeichnet wurde. Die praktisch ausgebildeten Chirurgen oder Rechtskundigen versprachen ein an der Lebenswelt der Adressaten orientiertes Wissen, das im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit zunehmend in Konkurrenz zum scheinbar praxisfernen Wissen der Gelehrten stehen konnte.44 Im medizinischen Bereich etwa gab es im Spätmittelalter zahlreiche Rangkonflikte zwischen dem gelehrten Wissen der universitär gebildeten Ärzte und dem praktischen Erfahrungswissen der Bader und Chirurgen,45 so dass man analog vom gelehrten Wissen der Moraltheologen und dem ­praktischen Wissen der Kaufleute und Geldverleiher sprechen könnte. Die Traktate der spätmittelalterlichen Scholastiker offenbaren jedoch, dass sie über ein auch praktisch orientiertes Sonderwissen im ökonomischen Bereich verfügten oder zumindest, um einen Begriff von Collins und Evans zu verwenden, über »interactional expertise«, genug Wissen also, um mit den Kaufleuten über ökonomische Belange sprechen zu können.46 Außerdem versuchten die Moraltheologen nicht primär, die Kaufleute als unliebsame Konkurrenten aus­zuschalten und ihnen ökonomisches Wissen abzusprechen, sondern vielmehr die Kaufleute 42 Vgl. Piotr Wittmann, »Der da sein Practic auß Teutschen Tractaten will lernen«. Rechtspraktiker in deutschsprachiger Praktikerliteratur des 16.  Jahrhunderts. Frankfurt am Main 2015; Jana Madlen Schütte, Konflikte und Konkurrenzen der Mediziner in den Fakultäts- und Rektoratsakten des 15. und 16. Jahrhunderts, in: Jan-Hendryk de Boer/ Marian Füssel/Dies. (Hg.), Zwischen Konflikt und Kooperation. Praktiken der europäischen Gelehrtenkultur (12.–17. Jahrhundert). (Historische Forschungen, 114) Berlin 2016, S. 175–190; zur Juristenkritik vgl. Frank Rexroth, Wenn Studieren blöde macht. Die Kritik an den Scholastikern und die Kritik an Experten während des späteren Mittel­ alters. Bern 2015, S. 28–34. 43 Vgl. Marian Füssel, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit. Darmstadt 2006, S. 73–108. 44 Vgl. Martin Kintzinger, Experientia lucrativa? Erfahrungswissen und Wissenserfahrung im europäischen Mittelalter, in: Hedwig Röckelein/Udo Friedrich (Hg.), Experten der Vormoderne zwischen Wissen und Erfahrung (Das Mittelalter, 17). Berlin 2012, S. 95–117, hier 98; Hedwig Röckelein, Einleitung. Experten zwischen scientia und experientia, in: Dies./Udo Friedrich (Hg.), Experten der Vormoderne zwischen Wissen und Erfahrung. (Das Mittelalter, 17) Berlin 2012, S. 3–7, hier 4. 45 Vgl. Schütte, Konflikte (wie Anm. 42), S. 176–185. 46 Harry Collins/Robert Evans, The Third Wave of Science Studies. Studies of Expertise and Experience, in: Social Studies of Science 32, 2002, S. 235–296, hier 254.

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in Form des gemeinwohlorientierten, christlichen Kaufmanns, dessen Werkzeug das Geld ist, zunehmend als legitimen Experten des Ökonomischen zu entwerfen.47 Erwartet wurde von den Kaufleuten dafür, dass sie sich im Gegenzug der kirchlichen Moral unterwarfen und für moralisch zweifelhafte Geschäftspraktiken, die ihr Seelenheil bedrohten, vor allem einer Expertengruppe im religiösen Feld vertrauten, den franziskanischen und dominikanischen Scholastikern. Damit bleibt aber die Frage, inwiefern die Kaufleute im Geschäftsalltag auf das Wissen der Scholastiker Bezug nahmen. Konkreter: Wurden die Traktate der Scholastiker von Kaufleuten rezipiert und wurden Scholastiker bei Unklarheiten und Problemen im Geschäftsalltag als Experten angerufen? III. Inszenierung und Anrufung von Geistlichen als ökonomische

Experten: Eine Anfrage an die Sorbonne 1530 Die Anerkennung als wirtschaftlicher Experte, so könnte man argumentieren, lässt sich bei Bernardino von Siena an der großen Menge von Zuhörern aus Handwerk sowie Klein- und Großhandel bei seinen Predigten ablesen. Und die Summa von Antoninus von Florenz kann man in Bibliotheken von Kaufleuten nachweisen. Vor allem der dritte Teil der Summa, der sich mit Fragen zum Geschäftsalltag befasst, wurde von Kaufleuten und ihren mendikantischen Beichtvätern rezipiert.48 Darüber hinaus wurden aber auch Geistliche von Kaufleuten um Gutachten gebeten, um Lösungen für Probleme im Handelsalltag zu erhalten. So erhielten die Theologen der Pariser Sorbonne 1530 eine Anfrage der­ spanischen Kaufleute aus Antwerpen, die darin eine Stellungnahme zu einigen Geschäftspraktiken erbaten.49 Antwerpen hatte sich zu diesem Zeitpunkt zum Drehpunkt des internationalen Handels entwickelt, oder – um mit Fernand Braudel zu sprechen – zum 47 Vgl. Todeschini, Richesses (wie Anm. 17), S. 156–159. 48 Vgl. Howard, Word (wie Anm. 27), S. 27 49 Die folgenden Ausführungen basieren auf: Staatsbibliothek München, Codex Hispanicus 30, Pareceres de los Doctores de la Universidad de Paris sobre ciertos articulos asi de cambios como de otros contratos mercantiles. Ex Lat. Vertit Alvaro Moscoso, 1r–11r. Der spanische Text wurde 1925 in der Dissertation von Jan-Albert Goris, Etude sur les colonies marchandes méridionales (portugais, espagnols, italiens) à Anvers de 1488 à 1567. Contribution à l’histoire des débuts du capitalisme moderne. Löwen 1925, veröffentlicht und in das Französische übertragen. 1952 veröffentlichte Marjorie Grice-Hutchinson dann im Anhang ihrer Monographie zur »Schule von Salamanca« eine englische Übersetzung der ersten Frage der Kaufleute: Marjorie Grice-Hutchinson, The School of Salamanca. Readings in Spanish Monetary Theory 1544–1605. Oxford 1952, S. 120–126. Ein Neuabdruck des spanischen Quellentextes, der auf einer Handschrift der Biblioteca de la Universidad de Sevilla (manuscritos de Miguel de Arcos, signatura 333–166, fol. 212–217) basiert, erfolgte 2006 im Rahmen der Edition von Francisco de Vitorias ökonomischen Schriften: Francisco de Vitoria, Contratos y usura, hrsg. von Maria Idoya Zorroza. Pamplona 2006, S. 282–300.

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»Zentrum einer Weltwirtschaft«: Portugiesische Karavellen brachten Gewürze aus Ostasien und luden Kupfer und Silber ein, das die Fugger aus Sachsen und Böhmen nach Antwerpen importierten.50 Als die portugiesischen Händler zu Beginn des 16. Jahrhunderts Brügge zu Gunsten von Antwerpen endgültig den Rücken gekehrt hatten, siedelten auch die Venezianer und Genuesen, die oberund niederdeutschen Händler und die spanischen Kaufleute in die Scheldestadt über.51 So berichtet Albrecht Dürer im Tagebuch seiner Reise in die Niederlande 1520/21 ausführlich über seine Kontakte zu den internationalen Kaufleuten in Antwerpen. Er bewundert das Haus vom Vertreter der Fugger, porträtiert den Faktor des portugiesischen Königs und speist mit Genueser Kaufleuten.52 Er ist fasziniert von den neuen Waren, exotischen Tieren und dem Reichtum der Stadt, der sich in großen sakralen Bauprojekten niederschlägt: »Und zu Antwerpen spart man keine Kosten zu solchen Dingen, denn da ist des Geldes genug!«53 In diesem Zentrum von Waren- und Finanztransaktionen, Wechselund Kreditgeschäften, veränderten sich die Geschäftspraktiken stetig. Gerade die Transformationen auf dem Geldmarkt durch den Import von Gold und Silber aus Neuspanien sowie der massiven Anleihen an die Habsburger und die Entwicklung neuer Finanzdienstleistungen, ließen bei den Kaufleuten die Frage nach der Rechtmäßigkeit ihrer Geschäfte aufkommen.54 Im Jahr 1530 schickten die spanischen Kaufleute aus Antwerpen deshalb ihren franziskanischen Beichtvater Juan Bautista an die Sorbonne, um zwei längere Fragen und zehn kurze Fälle zu Wechselgeschäften (cambios) und anderen Handelsverträgen zu besprechen.55 Ausschlaggebend für die Wahl der Sorbonne durch die Kaufleute, so gibt zumindest das Antwortschreiben der Theologen wieder, sei »die Erfahrung der ausgezeichneten Männer«56, die 50 Zur wirtschaftlichen Entwicklung Antwerpens im 16.  Jahrhundert vgl. Herman van der Wee, The Growth of the Antwerp Market and European Economy, Bd. 2. Den Haag 1963, S. 113–165; Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts, Bd. 3. Aufbruch zur Weltwirtschaft. München 1990, S. 147–166; Christine Göttler/Bart R ­ amakers/ Joanna Woodall, Trading Values in Early Modern Antwerpen. An Introduction, in: Dies. (Hg.), Trading Values in Early Modern Antwerpen. Leiden 2014, S.  8–37, hier 14–25. 51 Vgl. Hans Pohl, Die Portugiesen in Antwerpen (1567–1648). Die Geschichte einer Minderheit. Wiesbaden 1977, S. 25 f. 52 Vgl. Albrecht Dürer, Briefe, Tagebücher und Reime, hrsg. von Moriz Thausing. Osnabrück² 1970, S. 82–89. 53 Ebd., S. 85. 54 Zum Antwerpener Geldmarkt in der ersten Hälfte des 16.  Jahrhunderts siehe: Goris, Etude (wie Anm. 49), S. 338–428; Van der Wee, Growth (wie Anm. 50), S. 333–368; Ian Blanchard, The International Economy in the »Age of the Discoveries«, 1470–1570. Antwerp and the English Merchants’ World. Stuttgart 2009, S. 19–78, 99–146. 55 Vgl. Goris, Etude (wie Anm. 49), S. 504–545. 56 »El Reverendo Padre Fray Juan Bautista vino a esta universidad de Paris, conosciendo por esperiençia los insignes varones que en ella ay, para proponer les ciertos articulos assy de Cambios como de otros contratos.« (Codex hispanicus 30 (wie Anm. 49), fol. 1r).

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dort lehren. Ihre Erfahrung bezieht sich, das wird an weiteren Stellen der Anfrage deutlich, in erster Linie auf ihre Kompetenz als Theologen.57 Es ist ihr spezifisches Wissen über die Deutung der heiligen Schrift, das sie in Europa als theologische Experten auszeichnet. Den Kaufleuten geht es um die moralische Bewertung ihrer Geschäftspraktiken: »Deshalb legen wir«, so formulieren sie es, »unser Gewissen, gelehrte Herren, in Eure Hände.«58 Dies ist wenig ver­w underlich, gehörten Anfragen an Geistliche, gerade auch bei moralischen Unklarheiten im Wirtschaftsleben, im Spanien des 16. Jahrhunderts zur Alltagskultur.59 Es ist nicht das erste Mal, dass sich die Kaufleute an die Sorbonne wandten. Die Konsultationsregister der Pariser Theologen zeigen, dass bereits 1515 eine Sitzung angesetzt wurde, in der sich mit wucherverdächtigen Verträgen auseinandergesetzt werden sollte. Ein Jahr später werden schriftliche Anfragen, sehr wahrscheinlich aus Antwerpen, erwähnt, die eine Klärung strittiger Handelsfragen zum Wucher erbeten. 1517 war dann für die spanischen Kaufleute ein schriftliches Gutachten erstellt worden, das die Mehrzahl der kaufmännischen Praktiken legitimierte.60 Die Kaufleute scheinen auch dieses Mal eine Bestätigung ihrer Anfrage zu erwarten, zumal sie mit dem jüngst zum Doktor der Theologie ernannten Alvaro Moscoso61 einen Ansprechpartner an der Universität haben, der – wie er selbst schreibt – sich seinen Landsleuten verpflichtet fühlt.62 Bei der ersten Frage geht es um ein Kreditgeschäft, bei dem der Gewinn über örtlich unterschiedliche Wechselkurse erfolgt: Ein Kaufmann, Antonio, leiht sich bei der Fastenmesse in Antwerpen über einen Makler 1.000 Dukaten von einem anderen Kaufmann namens Fernando. Antonio oder sein Mittelsmann (»corredor«)63 erklärt sich bereit, ihm etwa sechs Wochen später zur Maimesse

57 »[…] cuyo pareçer a sido siempre y es en toda la Cristianidad entre varones dotos y virtuosos y en la sede Apostolica, muy estimado, y todos estos señores fueron de la diligençia que en su Reverencia conoçieron a querer os dar sana y evangelica doctrina […] los señores dottores que mas fama y dotrina tienen assy en vida esperiencia […]« (Codex hispanicus 30 (wie Anm. 49), fol. 1v). 58 »[…] varones dotos en cuyos manos ponemos nuestras conçiençias […]« (Codex hispanicus 30 (wie Anm. 49), fol. 5r). 59 Vgl. Thomas Duve, Salamanca in Amerika, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte. Germanische Abteilung 132, 2015, S. 116–150, hier 131 f. 60 Vgl. James Farge, Orthodoxy and Reform in Early Reformation France. The Faculty of Theology of Paris, 1500–1543. Leiden 1985, S. 121. 61 Zu Moscoso siehe James Farge, Biographical Register of Paris Doctors of Theology ­1500–1536. Toronto 1980, S. 342 ff. 62 »[…] conosciendo  a la deubda en que soy  a la naçion, por parte como soy della […]« (Codex hispanicus 30 (wie Anm. 49), fol. 1v). 63 Der Begriff »corredor« scheint den Kaufleuten für die Theologen erklärungsbedürftig, weshalb sie ihn genauer ausführen: »[…] que es aquel que entreviene entre los mercaderes […]« (Codex hispanicus 30 (wie Anm. 49), fol 3ar).

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im spanischen Medina del Campo das Geld zurückzuzahlen. Da dort ein anderer Wechselkurs herrscht, macht Fernando Gewinn. In Spanien verleiht Fernando das Geld wieder an einen anderen Kaufmann und erhält es zur Junimesse in Antwerpen durch einen für ihn günstigen Wechselkurs mit Gewinn zurück. Er macht also einen doppelten Gewinn, kann aber auch, darauf legen die Kaufleute Wert, verlieren, falls die Wechselkurse anders verlaufen.64 Die Kaufleute selbst erachten das Geschäft aus sechs Gründen für legitim, die sie am Schluss der Anfrage anführen. Zunächst heben sie hervor, dass es sich um einen echten Vertrag und kein Scheingeschäft handelt. Im zweiten und dritten Punkt betonen sie besonders das Gemeinwohl des Geschäftes, das gerade auch der »christlichen Republik«65 zum Wohlstand verhelfe. Im vierten und sechsten Argument machen sie zum einen auf das Risiko der Geschäfte aufmerksam, zum anderen verweisen sie darauf, dass sie auch ihre Faktoren und Dienstboten bezahlen müssten. Schließlich stellen sie noch einmal heraus, dass die Wechselgeschäfte zum Kernbereich der Kaufleute zählen, da »das Geld ein Werkzeug des Kaufmanns sei«66, mit dem sie ihren standesgemäßen Lebens­ unterhalt verdienen. Deshalb falle das Geschäft nach Meinung der Kaufleute nicht unter das Wucherverbot. Auffallend ist, dass die Argumentation der spanischen Kaufleute, vermittelt möglicherweise über ihren franziskanischen Beichtvater oder den Theologen Alvaro Moscoso, die Semantik der scholastischen Moraltraktate aufgreift. Im Spätmittelalter hatte sich gerade unter den Bettelorden eine differenzierte Bewertung für Wucher durchgesetzt. Zinsen für geliehenes Geld zu verlangen oder auch nur die Rückzahlung der geliehenen Summe zu verlangen, wurde für den Darlehensvertrag (mutuum) grundsätzlich als nicht legitim erachtet, für­ andere Vertragsformen dagegen sei eine Entschädigung nach Meinung der Scholastiker durchaus berechtigt.67 Mit den Termini stipendium laboris, eine Entschädigung für die kaufmännische Tätigkeit, periculum sortis, der drohende Verlust der Investition oder poena detentori, die verspäte Zurückzahlung von Geschäftskrediten, existierte für Vertragsformen jenseits des mutui ein vielfältiger Spielraum für eine legitime Zinsnahme,68 die dem Kaufmann allesamt ermöglichen sollten, weiterhin seine Geschäfte für das Gemeinwohl zu betreiben. 64 Vgl. Goris, Etude (wie Anm. 49), S. 514–521. 65 »[…] contrado muy neçessario a la Republica Cristiana […]« (Codex hispanicus 30 (wie Anm. 49), 5r). 66 »La quinta por que el dinero es un ynstrumento del mercader […]« (Codex hispanicus 30 (wie Anm. 49), 5v). 67 So etwa bei Bernardino: »[…] quia usura, sicut infra patebit, solum in contractu mutui veri vel interpretati locum habet.« (Bernardino Senensis, Opera Omnia, Bd. 4. Quadragesimale de Evangelio Aeterno. Sermones XXVII–LIII . Florenz 1956, S. 205). 68 Vgl. Roover, San Bernardino (wie Anm. 5), S. 27–33, dort auch Erläuterungen zu den hier nicht ausgeführten Termini lucrum cessans und damnum emergens. Roover bezieht sich vor allem auf Antoninus, Summa, Bd. 2 (wie Anm. 33), S. 85–124.

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Gemeinwohl, das haben Münkler und Bluhm aufgezeigt, war einer der zentralen Begriffe des 15. und 16. Jahrhunderts.69 Er findet sich bei den Scholastikern bereits seit Ende des 13. Jahrhunderts bei der moralischen Bewertung von Kaufleuten. Antoninus von Florenz etwa äußert sich in seiner Summa an mehreren Stellen dazu, unter anderem bei seinen Ausführungen zum Fernhandel: »Der Seehandel sucht alle Gestade, vermittelt Frieden und traulichen Verkehr mit fremden Völkern und macht die Güter des Einzelbesitzes zum Gemeingut der Welt.«70 Der christliche Kaufmann betätige sich dadurch als Förderer des Gemeinwohls, indem er durch seinen Fleiß und unter Gefahr Waren in die Städte schaffe, die ansonsten fehlen würden. Als dem Gemeinwohl abträglich wurden dagegen Kaufleute und Geldverleiher angesehen, die sich persönlich ohne Risiko bereicherten. Dass wesentliche Aussagen der Scholastiker des 15. Jahrhunderts auch in die kirchliche Gesetzgebung einflossen, zeigt der 10. Artikel des 5. Laterankonzils (1512–1517), bei dem im Kontext der Bewertung der Montes Pietatis71 einige Ausführungen zum Wucher verabschiedet wurden. Darin heißt es: »Was man unter Zinswucher versteht, besteht doch genau in folgendem: Aus der Nutzung eines Dings, das keine Frucht trägt, soll ohne Arbeit, Aufwand und Risiko ein Gewinn und Zuwachs erzielt werden.«72 Arbeit, Aufwand und Risiko dagegen, so argumentieren die Kaufleute in der Sprache der Bettelorden, würden aber­ gerade die neuen Geschäftspraktiken in Antwerpen auszeichnen. Allerdings wurde ihre Argumentation, die im Wesentlichen der franziskanischen Lehrmeinung des 15. Jahrhunderts entsprach, von den Theologen der Sorbonne weitgehend abgelehnt. Zwar greifen sie in den Antworten die Argumente der Kaufleute auf, etwa dass das Geld das Werkzeug des Kaufmanns sei, jedoch werfen sie in dem konkreten Fall eine unrechtmäßige Verwendung des Werkzeugs vor.73 Was das starke Argument des Gemeinwohls betrifft, so sei nach Meinung der Theologen niemand verpflichtet, dem Gemeinwohl mehr zu helfen, als er mit seinem Besitz könne.74 Ein Grund für den Widerspruch der Theologen ist nach Goris, dass sich an der Pariser Universität in Bezug auf die Lehre von Francisco de Vitoria (1483/1493–1546), der von 1507 bis 69 Herfried Münkler/Harald Bluhm, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn, Bd.  1. Historische Semantiken politischer Leitbegriffe. Berlin 2001, S.  9–30, hier 18–22 und die Aufsätze von Peter Blickle und Thomas Simon in dem Band. 70 »Haec [navigatio] universa littora adit, pacem & familiaritatem cum exteris nationibus componit, & privata bona communia facit.« (Antoninus, Summa, Bd. 1 (wie Anm. 33), S. 35). 71 Vgl. dazu den Aufsatz von Tanja Skambraks in diesem Band. 72 »Ea enim propria est usurarum interpretatio, quando videlicet ex usu res, quae non germinat, nullo labore, nullo sumptu, nullove periculo lucrum foetusque conquiri studetur.« (Josef Wolhmuth (Hg.), Dekrete der Ökumenischen Konzilien, Bd. 2. Konzilien des Mittelalters. Paderborn 2000, S. 626). 73 »porque el hombre ha de usar de manera liçita de su ynstrumento.« (Codex hispanicus 30 (wie Anm. 49), fol. 6v). 74 Vgl. ebd.

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1522 in Paris an der Sorbonne und dem dominikanischen Ordenskolleg Santiago wirkte, in den 1520er Jahren eine strengere Auslegung der Wucherrechtsprechung entwickelte.75 Die Antworten der Pariser Theologen sind knapp gehalten, sie weisen jedoch darauf hin, alle Fragen detailliert mit dem franziskanischen Beichtvater besprochen zu haben.76 Möglicherweise wollten sie keine zu ausführlichen Antworten geben, die Angriffspunkte für Kritik geboten hätten oder falsch ausgelegt hätten werden können, so wie es Francisco de Vitoria in seinem Vorwort über die Rechtmäßigkeit von Handelsbräuchen thematisierte: »Ich habe eigentlich keine Lust, auf diese Fälle der Wechsler zu antworten, ohne zu wissen, wer Auskunft haben will und weswegen. Denn viele fragen doch nur, um einen Vorteil zu haben, und sich zu freuen, wenn man ihnen eine Erlaubnis gibt. Und wenn man etwas sagt, dass gegen ihre Interessen geht, kümmern sie sich nicht darum und machen sich über die Lehre und seinen Autor lustig.«77

Die Theologen sahen ihre Aufgabe insofern in erster Linie darin, vertrauenswürdige Geistliche als kompetente Beichtväter zu schulen, die dann detaillierte Antworten für die ökonomische Praxis vor Ort geben konnten. IV. Ausblick Im Spätmittelalter etablierten sich die Bettelorden im religiösen Feld als Experten für Predigt und Beichte, für das sie über eine »interactional Expertise« mit Kaufleuten verfügen mussten. Sie mussten nicht im Detail wissen, wie man ein Schiff bestückt oder eine Transaktion per Wechsel aus Antwerpen mit Händlern in Sevilla ausführt, aber sie mussten wissen, dass diese Tätigkeiten zum Alltag der Kaufleute gehörten und für die Seelsorge relevant waren. Es waren also nicht nur die Kaufleute, welche die Sprache der Bettelorden sprachen, wie Todeschini ausführt,78 sondern auch die Bettelorden beherrschten die Sprache der Kaufleute. So lange die Tätigkeiten von Kaufleuten Teil der »Caritas-Öko75 Vgl. Goris, Etude (wie Anm. 49), S. 508–511; Ricardo Villoslada, La universidad de Paris durante los estudios de Francisco de Vitoria (1507–1522). Rom 1938, S. 158–160; zu seinen Ideen zu wirtschaftlichen Fragen vgl. Francisco de Vitoria, Contratos (wie Anm.  49), S. 45–60. Sein spanischer Ordensbruder Domingo de Soto (1490–1560) vertrat dagegen einige Jahre später eine deutlich wohlwollendere Haltung gegenüber länderübergreifenden Geldwechselgeschäften, vgl. Grice-Hutchington, School (wie Anm. 49), S. 52–58. 76 »[…] y tanbien por que el Reverendo padre que la presente lleva las a oydo y platicado con todos nos otros el qual podra satisfacer a los que tan curiosos fueren que con solo el dyr el sy o el no de su pregunta no se contentaren.« (Codex hispanicus 30 (wie Anm. 49), fol. 2r). 77 Deutsche Übersetzung zitiert nach Duve, Salamanca (wie Anm. 59), S. 131. 78 »Entre le XVe et le XVIe siècle, ce sont déormais les marchands eux-mêmes, les hommes d’affaires et les gouvernants des villes qui parlent le language de l’éthique économique franciscaine […]«. (Todeschini, Richesses (wie Anm. 17), S. 253).

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nomie«79 im Mittelalter und der beginnenden Frühen Neuzeit waren, blieb das Urteil von Geistlichen für ökonomische Entscheidungen, weil es eben noch keine genuin ökonomischen Entscheidungen gab, relevant. Häufig wurden Theologen den Juristen vorgezogen, da eine umfassende Verrechtlichung von Handelsgewohnheiten erst am Ende des 16.  Jahrhunderts einsetzte.80 So lässt sich erklären, dass die Kaufleute zu den Predigten gingen, die für den Handelsalltag relevanten Schriften der Scholastiker erwarben oder sich mit Anfragen an Geistliche wandten. Die ökonomischen Begriffe wurden so gerade auch durch die Semantiken von Wucher, Gemeinwohl und gerechten Preisen von den Scholastikern, insbesondere von Dominikanern und Franziskanern, geprägt.81 Folgenreich war deshalb die Entscheidung der Bettelorden, den Umgang mit Geld einzuschränken bis zur Weigerung, kein Geld anzunehmen oder gar in die Hand zu nehmen. Sie argumentieren vielmehr, dass Geld das Handwerkszeug der Kaufleute sei, ähnlich wie der Pflug für den Bauern oder der Bogen für den Jäger. Das Wissen und der Fleiß der Kaufleute mache – so argumentiert schon Petrus Olivi um 1300 – aus sterilem Geld produktives Kapital.82 Mit ihrer Differenzierung zwischen dem verdammungswürdigen Wucherer und dem christlichen Kaufmann sorgten die Scholastiker für eine soziale Legitimierung der Kaufleute83 und gleichzeitig eine Verdrängung anderer religiöser Akteure von wirtschaftlichen Tätigkeiten. Wenn Bernardino über ein totales Handelsverbot für Geistliche sinnierte, war dies nicht nur eine Selbstermahnung an die franziskanischen Ordensbrüder, sondern gleichzeitig eine Kritik am Kamaldulenserorden und Servitenorden, deren Mitglieder die Ämter des Kämmerers und Schatzmeisters in der Kommune von Siena bekleideten.84 79 Zur »Caritas-Ökonomie« siehe: Birger Priddat, Ökonomie und Religion. Vom Mittel­a lter bis Adam Smith, in: Harald Hagemann (Hg.), Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie XXI . Ökonomie und Religion. Berlin 2007, S. 79–96. 80 Vgl. Gerade für Neuspanien (Mexiko) sieht Duve im 16.  Jahrhundert Geistliche in einer »Expertenposition für Fragen des Handelsvertragsrechts«, Duve, Salamanca (wie Anm. 59), S. 130. 81 Vgl. Langholm, Economics (wie Anm. 5), S. 9 f. 82 »tum quia illud quod in firmo proposito domini sui est ordinatum ad aliquod probabile lucrum, non salum habet racionem simplicis pecunie seu rei, sed eciam ultra hoc quamdam racionem seminalem lucri quam communiter capitale vocamus […]« (Pierre de Jean Olivi, Traité des contrats, hrsg. von Sylvain Piron. Paris 2012, S. 232). Vgl. dazu­ Michael Wolff, Mehrwert und Impetus bei Petrus Johannis Olivi. Wissenschaftlicher Paradigmenwechsel im Kontext gesellschaftlicher Veränderungen im späten Mittelalter, in: Klaus Schreiner/Jürgen Miethke (Hg.), Sozialer Wandel. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen. Sigmaringen 1994, S. 413–423, hier 417–420;­ Todeschini, Richesses (wie Anm. 17), S. 170. 83 Dazu Benjamin Nelson, The Usurer and the Merchant Prince: Italian Businessmen and the Ecclesiastical Law of Restitution, 1100–1550, in: Journal of Economic History 7,2 Supplement, 1947, S. 104–122, hier 104, 121 f.; Todeschini, Richesses (wie Anm. 17), S. 156–169. 84 Vgl. Narazeno Orlandi/Helen Robins, Saint Bernardine of Siena. Sermons. Siena 1920, S. 194.

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Die Zurückdrängung von Geistlichen aus ökonomischen Tätigkeiten führte aber langfristig zur Entstehung eines eigenen ökonomischen Feldes mit Laien als ökonomischen Experten. Bereits von spätmittelalterlichen Kaufleuten wurde das ökonomische Sonderwissen reklamiert, das ihnen die Scholastiker zugesprochen hatten, wie es etwa der Ragusaner Kaufmann Benedetto Cotrugli Mitte des 15. Jahrhunderts einforderte: »Vertraut nicht Adeligen, Priestern und Mönchen, Scholaren, Doktoren oder Soldaten, die es nicht gewohnt sind, mit Geld zu hantieren […]«.85 Der Umgang mit Geld und Wechseln, so Benedetto, sei das Alleinstellungsmerkmal von Kaufleuten, das gerade nicht an den typischen Bildungseinrichtungen des Spätmittelalters, an der Universität oder am Hof, erlernt werden könne, sondern nur durch die kaufmännische Praxis. Ein Jahrhundert später moniert sich Martin Luther in seinen Tischreden über einen Nürnberger Kaufmann, der seine Deutungskompetenz in Wucherfragen anzweifelte. »Würde ich einen Kommentar zum Lukasevangelium verfassen«, so der Kaufmann, »würde ihn jeder als unbrauchbar einschätzen. Genauso Luther, wenn er über den Wucher schreibt, ist er niemals bedacht bei dieser Frage«.86 Hier deutet sich der Anspruch einer Separierung von theologischen und nichtgeistlichen ökonomischen Experten an, die den ökonomischen Diskurs in der Frühen Neuzeit entscheidend prägen sollte. Auch wenn Kaufleute und Proto­ industrielle zunehmend eine stärkere Berücksichtigung von Wissen aus der ökonomischen Praxis forderten, blieben Moraltheologie und Moralphilosophie für den wirtschaftlichen Diskurs weiter von Bedeutung. Bekanntlich basiert Adam Smith’ »The Wealth of Nations« ja nicht in erster Linie auf seinem praktischen Wissen als Händler oder Unternehmer, sondern auf seinen Vorlesungen als Lehrstuhlinhaber der Moralphilosophie, in denen er – vermittelt über John Locke und David Hume – gerade auch auf die Ideen der Spätscholastik zurückgriff.

85 »Guarda non credere a signori, preti et frati, scolari, doctori, genti d’arme, li quali per­ essere loro fuori d’ogni consuetudine di maneggiare danari […].« (Benedetto Cotrugli, Il libro dell’arte di mercatura, hrsg. von Ugo Tucci. Venedig 1990, S. 155) ; vgl. Todeschini, Richesses (wie Anm. 17), S. 257 f. 86 »Si ego scriberem commentarium in Lucam, omnibus viderer ineptus; sic etiam Lutherus, cum scribit de usura, eum is numquam versatus sit in eo quaestu.« (Martin Luther, De usura (1540), Weimarer Ausgabe, Tischreden, Bd. 4. Weimar 1916, S. 560). Vgl. ­Johannes Burkhardt/Otto Gerhard Oexle/Peter Spahn, Art. Wirtschaft, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd.  7. Stuttgart 1992, S. 511–590, hier 561.

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II. Produktion und Transfer

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Wissensdiskurse in der ökonomischen Praxis Kaufmannbankiers als Experten der Märkte im 16. Jahrhundert1

Der Florentiner Kaufmann und Patrizier Giovanni di Pagolo Morelli (1371–1444)2 notiert in seinen Ricordi vor dem Jahr 1406: »Dann, wenn es mit deinem Nutzen (utile) und deiner Ehre (onore) vereinbar ist, dann wäre es gut, wenn du in kaufmännischen Angelegenheiten unterwegs sein sollst, die Welt suchen willst und die Städte, die Lebensarten, die Führungen und die Verhältnisse der Orte sehen willst; und wenn es sich für dich lohnt, bleib drei oder vier Jahre dabei. Du wirst kenntnisreicher (più isperto) und erfahrener (più pratico) in jeder Sache werden und verständiger (più intendente), und du wirst lernen, mit anderen Menschen zu verhandeln (ragionare), du wirst bei genügend Menschen im guten Ansehen stehen (riputato) und du wirst unter besseren Bedingungen leben (migliore condizione).«3

Der Sohn eines sozialen Aufsteigers verfasste seine »Erinnerungen« als Familiengeschichte und Mahnschreiben an seine Nachkommen, da er selbst als Waise aufgewachsen war und daher auf eine Handreichung für seine eigenen Sprösslinge sann.4 Damit erfüllten die Ricordi eine der typischen Bedingungen dieser 1 Dieser Aufsatz entstand in seiner ursprünglichen Fassung bei der Konzeption des Kapitels »VI . Communities of Practices und Wissensgemeinschaften« meiner Habilitationsschrift »Wirtschaften als kulturelle Form. Die Florentiner Kaufmannbankiers Salviati und die Handelsgesellschaften der Augsburger Welser auf den Märkten des Messestandortes Lyon (1507–1559)«, unveröffentlichtes Manuskript, Bamberg 2016, S. 442–492. Daher tauchen Parallelitäten mit der künftigen Druckausgabe auf. Das genannte Projekt wurde durch ein Forschungsstipendium der Gerda Henkel Stiftung (Dezember 2012 bis November 2014) und durch Mittel für eine eigene Stelle der Fritz Thyssen Stiftung (Dezember 2014 bis Oktober 2016) gefördert. Der vorliegende Aufsatz war meine erste Aufgabe als Gastwissenschaftler am Deutschen Historischen Institut in Rom; hierbei danke ich insbesondere der Bibliothek für die unkomplizierte und schnelle Hilfe bei der Beschaffung der hierfür benötigten Literatur. 2 Leonida Pandimiglio, Art. Morelli, Giovanni, in: Dizionario biografico degli italiani, Bd. 76. Roma 2012, S. 615–619. 3 »Ancora, se puoi con tuo utile e onore, sia contento, andando in atto di mercantia, di cercare un poco del mondo e vedere e le città e’ modi e’ reggimenti e le condizioni de’ luoghi; e se t’attaglia, istà tre o quattro anni in questo: divenerai più isperto  e più pratico d’ogni cosa e più intendente, e saprai ragionare tra gli altri uomini, sarai riputato assai da più e arai migliore condizione.« (Giovanni di Pagolo Morelli, Ricordi, hrsg. von Vittoria Branca. Firenze 1969, S. 264). 4 Dazu jüngst: Giuliano Pinto, Cultura mercantile ed espansione economica di Firenze (secoli XIII–XVI), in: Ders./Leonardo Rombai/Claudia Tripodi (Hg.), Vespucci, Firenze e le Ame-

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Gattung: Nicht nur Daten aus dem eigenen Leben sowie der Haushaltung zusammenzutragen, sondern identitätsstiftende Erläuterungen in pädagogischer Absicht vorzutragen. Mit einem unverhohlen moralischen Unterton präsentierte er das konzeptuelle Leitmotiv der Verbindung von Nutzen (utile)  und Ehre (onore), um den Werdegang eines Kaufmannssohns der Florentiner Oberschicht darzustellen.5 In diesem Zusammenhang spielte die Ausbildungsphase in der Fremde eine entscheidende Rolle, um intellektuelle und praktische Begabungen zu schulen. Die beiden Attribute isperto, kenntnisreich, und pratico, erfahren, zielen auf zwei Seiten derselben Medaille: Zum einen mochte ein junger Kaufmann praxisorientiertes Wissen sammeln, zum anderen sollte er sich Kompetenzen im Tun aneignen – wobei intendente, verständig, ebenfalls auf Anwendungswissen hinauslief. Das Ergebnis dieser Laufbahn bestand in der Fähigkeit, mit Seinesgleichen verhandeln (ragionare) zu können und im Fall des Erfolges das nötige Ansehen (riputazione) zu erwerben. Bemerkenswert ist, dass das Wort ragionare sowohl praktische Verhandlungen als auch verbale, geübte Äußerungen und das Rechnen betraf.6 Damit fügt sich der semantische Gehalt des Attributs isperto in das von Frank Rexroth profilierte Konzept des lateinischen expertus ein, dass es sich »häufig nicht um Einzelerfahrungen, sondern um akkumuliertes Erfahrungswissen« handelt.7 Was in Giovanni Morellis moralisierenden Ausführungen bereits anklingt, ist Thema dieses Beitrages: Das in der Praxis erworbene Sonderwissen vorwiegend Süddeutscher und Florentiner Kaufmannbankiers, die vergemeinschaftetes Anwendungs- sowie Erfahrungswissen als Expertenwissen insbesondere auf den den Herrscherfinanzen angelagerten Kredit- und Wechselmärkten zur Geltung brachten und dieses Expertenwissen wiederum in die Abwicklungstechniken der Kronanleihen des französischen Königs Heinrich II. einfließen ließen. riche. Atti del convegno di studi: Firenze, 22–24 novembre 2012. (Biblioteca Storica Toscana, LXXI) Firenze 2014, S. 3–18; einführend: Christian Bec, Les marchands écrivains, Paris 1967, S.  53–75. Zu den Ricordi in der Historiographie: Pandimiglio, Morelli (wie Anm. 3), S. 617 f. Zu Morellis Aufstieg: Claudia Tripodi, ›Tieni sempre con chi tiene e possiede il palagio e la signoria‹: ›ricordi‹ e ascesa al reggimento. Il caso dei Morelli, in: Archivio Storico Italiano 165, 2007, S. 203–266. 5 Für diese Deutung und besonders mit Blick auf die Vater-Sohn-Beziehung von Giovanni Morelli: Richard C. Trexler, Public Life of Renaissance Florence. Ithaca 1980, S. 161–186. Einführend: Gene Brucker, Giovanni Morelli’s Florence, in: Ders. (Hg.), People and Communities in the Western World. Homewood, Ill. 1979, S. 219–255. 6 Richard Trexler interpretiert den Ratschlag Morellis: »Ancora sarai savio, acquistato gli amici e’ parenti cioè quelli vedi ca t’amano e ti servano e sono teneri dello istato tuo«, als »become ›expert‹ in aquiring’ friends and relatives […].« (Trexler, Public Life (wie Anm. 5), S. 169). 7 Frank Rexroth, Systemvertrauen und Expertenskepsis. Die Utopie vom maßgeschneiderten Wissen in den Kulturen des 12. bis 16. Jahrhunderts, in: Björn Reich/Ders./Matthias Roik (Hg.), Wissen maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vor­ moderne (Historische Zeitschrift, Beihefte N. F. 57) München 2012, S. 12–44, hier 34.

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Damit rücken die wichtigsten Träger ökonomischen Wissens vor der Akade­ misierung durch die Kameralwissenschaften als Experten in den Blick.8 Anders als die auf die Erfindungen von Transfertechniken stets nur reagierenden Theologen und Humanisten verfassten die Kaufmannbankiers selbst kaum Traktate, in denen sie ihre Kompetenzen darstellten.9 Die spärlich gesäten Werke zur Buchführung10 vor der Mitte des 16. Jahrhunderts bilden hierbei eher die Ausnahme. Wie zu schildern sein wird, markieren die zu gespeicherten Wissens­ beständen geronnenen Handelspraktiken ohnehin einen Sonderfall.11 Einerseits entsprachen die Kaufmannbankiers mit ihrem »passgenauen Wissen in einer bestimmten Kommunikationssituation« geradezu wörtlich der Experten-Definition des Göttinger Graduiertenkollegs »Expertenkulturen des 12. bis 18. Jahrhunderts«; auch die Entstehung des »Expertentypus« Kaufmannbankier fällt exakt in die hierfür diskutierte Epoche.12 Andererseits ist das Expertenwissen von Kaufmannbankiers keinesfalls als ein statischer oder anwachsender Wissensbestand zu begreifen, sondern es handelte sich um ein dynamisches und wandelbares Wissen, das situativ anpassungsfähig war und allein in der pragmatischen Anwendung seine Tauglichkeit erweisen musste. Denn das Expertenwissen der Kaufmannbankiers wurde in Praktikengemeinschaften (so mein Übersetzungsvorschlag für communities of practices) in einem Lern- und Anwendungsprozess generiert, vermittelt, verfeinert und revidiert. 8 Vgl. Martin Gierl, Art. Akademie, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 1. Stuttgart 2005, Sp.  150–156; Thomas Sokoll, Art.  Kameralismus, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd.  6. Stuttgart 2007, Sp. 290–299. 9 Vgl. Hans-Jörg Gilomen, Wucher und Wirtschaft im Mittelalter, in: Historische Zeitschrift 250, 1990, S. 265–302. 10 Die Begriffe »Buchhaltung« und »Buchführung« werden zwar weitgehend synonym gebraucht, doch gibt es wohl Unterschiede: Die »Buchhaltung« bezieht sich vor allem auf die Institution beziehungsweise den Ort, wo Rechnungsbücher durch einen Buchhalter geführt wurden; die »Buchführung« bezieht sich, grundsätzlicher, auf den Vorgang des Führens von Rechnungsbüchern; diese terminologische Trennung lehnt sich auch an das Englische Accounting an; im 16. Jahrhundert sprach man im Italienischen von chi tiene i libri di conti (tenere = »halten«). Vgl. Gottfried Bähr/Wolf F. Fischer-Winkelmann, Buchführung und Jahresabschluss. 8., überarb. Aufl. Wiesbaden 2003, S. 3: »Buchführung ist die planmäßige, lückenlose, zeitgerechte und geordnete Aufzeichnung aller Geschäftsvorfälle in einer Unternehmung.« 11 Einführend und mit einem Forschungsüberblick: Markus A. Denzel, Handelspraktiken als wirtschaftshistorische Quellengattung vom Mittelalter bis in das frühe 20. Jahrhundert. Eine Einführung, in: Ders./Jean Claude Hocquet/Harald Witthöft (Hg.), Kaufmanns­ bücher und Handelspraktiken vom Spätmittelalter bis zum beginnenden 20. Jahrhundert. Merchant’s Books and Mercantile Pratice from the Late Middle Ages to the Beginning of the 20th Century. (Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 163) Stuttgart 2002, S. 11–46. 12 »Unter einem Experten verstehen wir im Rahmen unserer Forschungen einen sozialen Rollentypus, der sich durch die Verheißung passgenauen Wissens in einer bestimmten Kommunikationssituation auszeichnet.« (Rexroth, Systemvertrauen (wie Anm.  7), S. 22).

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Überdies verlief der Prozess der Aneignung für die am wirtschaftlichen Geschehen beteiligten heterogenen Gruppen unterschiedlich.13 Der vorliegende Aufsatz leuchtet die verschiedenen Felder der Wissensentstehung aus: Erstens steht die Grundlage des merkantilen Expertenwissens im Fokus, die Ausbildungsphase der Kaufmannssöhne, zweitens die Entstehung von Wissensgemeinschaften im merkantilen Schriftverkehr, drittens die Bedeutung der Praktikengemeinschaften für den Verlauf geschäftlicher Aktivitäten unter den Bedingungen spezialisierten Wissens und schließlich, nur kurz angerissen, die Bedeutung des Expertenwissens der Kaufmannbankiers für ihre­ ökonomische Umgebung am Beispiel der französischen Herrscherfinanzen in der Mitte des 16. Jahrhunderts.14 Im Vordergrund stehen hierbei Florentiner Kaufmannbankiers aus zwei Gründen: Zum einen ist die Überlieferungssituation im Fall der Kaufmannbankiers aus der Toskana besonders reichhaltig und ermöglicht die Darstellung von Verweisungszusammenhängen, die zwischen verschiedenen ökonomischen Feldern und verschrifteten Ebenen bestanden, zum anderen spielten Experten aus Florenz eine prägende Rolle bei der Entstehung von an den französischen­ Herrscherfinanzen angelagerten Kredit- und Wechselmärkten und bei der Abwicklung von Kronanleihen.15 Mit dieser Ausrichtung wirft der vorliegende Beitrag ein Schlaglicht auf die Bedeutung ökonomischen Anwendungs- und Praxiswissens, das nur in prozessualen Abläufen generiert wird und zunächst auch ausschließlich in diesen Zusammenhängen Anwendung findet. Dabei handelt es sich um Sonderwissen, das nur eingeschränkt transferierbar ist – auch mit Blick auf aktuelle Entwicklungen an globalen Finanzmärkten sind Experten, die ihr Wissen über Verfahrensmöglichkeiten in die akademische oder gar eine veröffentlichte Welt der Schriften tragen, rar gesät. Die hier dargestellte Erzeugung ökonomischen Wissens zeigt paradigmatisch, wie bedeutend es für Marktregimes ist, die interfirm

13 Das Konzept, das hierbei zur Anwendung kommt, ist orientiert an: Etienne Wenger, Communities of Practice. Learning, meaning, and identity. Cambridge 1998. Vgl. M ­ arian­ Füssel, Die Praxis der Theorie. Soziologie und Geschichtswissenschaft im Dialog, in: Arndt Brendecke (Hg.), Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure – Handlungen – Artefakte. (Frühneuzeit-Impulse. Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit im Verband der Historikerinnen und Historiker Deutschlands e. V., 3) Köln 2015, S. 21–33. 14 Einführend: Heinrich Lang, Herrscherfinanzen der französischen Krone unter Franz I. aus Sicht italienischer und oberdeutscher Bankiers. Die Rolle der Florentiner Salviati als Financiers der französischen Regierung, in: Peter Rauscher/Andrea Serles/Thomas Winkelbauer (Hg.), Das Blut des Staatskörpers. Forschungen und Perspektiven zur Finanz­ geschichte der Frühen Neuzeit. (Historische Zeitschrift, Beihefte N. F. 56) München 2012, S. 457–508, hier bes. 475–481. 15 Vgl. Richard A. Goldthwaite, The Economy of Renaissance Florence. Baltimore 2009, S. 164–166. Heinrich Lang, Credito e insolvenza sovrana. I prestiti alla Corona francese di mercanti-banchieri toscani e tedeschi meridionali (1550–1559), in: Annali dell’ Istituto Storico Italiano-Germanico in Trento 41, 2015, S. 12–38.

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organisation, verschiedene Formen von Kooperation zwischen Unternehmen und ihren Netzwerken, und die ihnen inhärierenden spezialisierten Wissens­ bestände besser zu kennen.16 I . Wissensaneignung in der Ausbildung Während ihrer Ausbildung erwarben die Söhne von Kaufmannbankiers Schlüsselqualifikationen, die sie für ihre späteren Tätigkeitsfelder benötigten. In ihren jungen Jahren besuchten sie Elementarschulen, in denen sie das Lesen, Schreiben und Rechnen erlernten. Im Alter von zwölf Jahren begannen sie eine praktisch ausgerichtete Lernperiode, zumeist in den Betrieben ihrer Väter, von Verwandten oder zumindest von Mitgliedern der patrizischen Kaufmannsschicht. Nach nur kurzer Zeit sandte man die Jungen zu Geschäftspartnern an wichtige auswärtige Standorte: Süddeutsche Kaufmannssöhne machten sich auf den Weg über die Alpen nach Süden oder stiegen als Lehrlinge bevorzugt in die Handelsgesellschaften in Lyon ein. In den Reichsstädten Süddeutschlands schloss sich an die frühe merkantile Ausbildung eine höhere Schulbildung in den kommunalen Lateinschulen an.17 Die Schilderungen Lucas Rems (1481–1541)18, der im Alter von noch nicht einmal 14 Jahren zunächst nach Venedig zog, können als symptomatisch gelten. Im Hause des Ulrich Ehinger eignete er sich die grundlegenden Kenntnisse der Buchhaltung an, besuchte eine Rechenschule und ging dazu über, Journal und Schuldbuch zu halten. Als er vier Jahre später (1499) nach Lyon zu Anton W ­ elser, Konrad Vöhlin & Mitverwandte wechselte, sah er sich bereits in der Lage, selbständig Rechnung zu legen. Anschließend trat er für die Welser-­

16 Zu diesem Zusammenhang: Guido Möllering, Kartelle, Konsortien, Kooperationen und die Entstehung neuer Märkte, in: Schmalenbachs Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung 62, 2010, S. 770–796. Zum Begriff interfirm organisation: Almarin Philips, A theory of interfirm organization, in: Quarterly Journal of Economics 74, 1960, S. 602–613. Zum entsprechenden Expertenwissen und dem Marktregime: Joseph E. Stiglitz, Government Failure vs. Market Failure: Principles of Regulation, in: Edward J. Balleisen/David A. Moss (Hg.), Government and Markets. Toward a New Theory of Regulation. Cambridge 2010, S. 13–51. 17 Hanns-Peter Bruchhäuser, Kaufmannsbildung im Mittelalter. Determinanten des Curriculums deutscher Kaufleute im Spiegel der Formalisierung von Quantifizierungsprozessen. Köln 1989; Mathias Beer, Eltern und Kinder des späten Mittelalters in ihren Briefen. Familienleben in der Stadt des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit mit besonderer Berücksichtigung Nürnbergs (1440–1550). (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte, 44) Neustadt an der Aisch 1990; Robert Black, Teachers, Pupils and Schools, c. 1250–1500. (Education and Society in Florentine Tuscany, 1) Leiden 2007; Gherardo Ortalli, Scuole e maestri tra Medievo e Rinascimento. Il caso veneziano. Bologna 1996. 18 Rolf Kießling, Art. Rem, Lucas, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7. München 1995, Sp. 705.

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Vöhlin-­Gesellschaft Geschäftsreisen auf die iberische Halbinsel an, die ihn unter anderem auch nach Lissabon führten.19 Das Briefarchiv der Nürnberger Tucher20 gibt den Blick frei auf die Ausbildungswege der Söhne Linhart Tuchers. Der wohlhabende Unternehmer schickte seine Söhne nach Genf und in den Süden Frankreichs.21 Ähnlichen Schemata folgend fanden sich die Florentiner Kaufmannssöhne in Lyon ein und absolvierten Lehrjahre bei Florentiner Firmen am Zusammenfluss von Rhône und Saône wie der junge Giovanni Nettoli, der 1540 bei Averardo e Piero Salviati & Co in Lyon als giovane anfing.22 Der zentrale Handels- und Messestandort Lyon erschien aufgrund der starken Präsenz von Kaufmannsgemeinschaften verschiedener nationes als ein besonders geeigneter Ort für die Ausbildung der jungen Kaufleute, allerdings gab es auch andere Wege, bei denen nicht minder auf die Pflege der Kontakte zu den Geschäftspartnern geachtet wurde. Der aus Nürnberg stammende Paul Behaim (1519–1568) hielt sich zwischen April 1533 und Dezember 1534 beim Florentiner Guapare Gucci in K ­ rakau zur 19 Vgl. Benedikt Greiff (Hg.), Tagebuch des Lucas Rem aus den Jahren 1494–1541. (Historischer Kreisverein im Regierungsbezirk Schwaben und Neuburg. Jahresbericht, 26) Augsburg 1861; Heinrich Lang, Fremdsprachenkompetenz zwischen Handelsverbindungen und Familiennetzwerken. Augsburger Kaufmannssöhne aus dem Welser-Umfeld in der Ausbildung bei Florentiner Bankiers um 1500, in: Mark Häberlein/Christian Kuhn (Hg.), Fremde Sprachen in frühneuzeitlichen Städten. Lernende, Lehrende und Lehrwerke. (Fremdsprachen in Geschichte und Gegenwart, 7) Wiesbaden 2010, S. 75–91; Mark ­Häberlein, Commerce, formation et réseaux de compatriots. La ville de Lyon vue par des marchands de l’Allemagne du Sud au XVIe et au début du XVIIe siècle, in: JeanLouis Gaulin/Susanne Rau (Hg.), Lyon vu/e d’ailleurs (1245–1800) échanges, compétitons et perceptions. (Collection d’histoire et d’archéologie médiévales, 22) Lyon 2009, S. 141–159. 20 Jüngst: Walter Bauernfeind, Marktinformationen und Personalentwicklung einer Nürnberger Handelsgesellschaft im 16.  Jahrhundert  – Das Briefarchiv von Anthoni und­ Linhart Tucher in der Zeit von 1508 bis 1566, in: Angelika Westermann/Stefanie von Welser (Hg.), Beschaffungs- und Absatzmärkte oberdeutscher Firmen im Zeitalter der Welser und Fugger. Husum 2011, S. 23–60. 21 Michael Diefenbacher/Stefan Kley, Tucher-Briefe. Eine Nürnberger Patrizierfamilie im 16.  Jahrhundert. Eine Ausstellung des Museums für Kommunikation und des Stadt­ archivs Nürnberg im Museum für Kommunikation Nürnberg vom 28. November 2008 bis 1. Februar 2009. Nürnberg 2008; Michael Diefenbacher, »Je lenger, je unfleysiger«. Sebald X. Tucher und die Niederlassungen der Tucherschen Handelsgesellschaft in Genf und Lyon in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Axel Gotthard/Andreas Jakob/­ Thomas Nicklas (Hg.), Studien zur politischen Kultur Alteuropas. Festschrift für Helmut Neuhaus zum 65. Geburtstag. (Historische Forschungen, 91) Berlin 2009, S­ .  359–402; Christian Kuhn, Generation als Grundbegriff einer historischen Geschichtskultur. Die Nürnberger Tucher im langen 16.  Jahrhundert. (Formen der Erinnerung, 45) Göttingen 2010. 22 Archivio Salviati, Pisa, I, 500 (Lyon, Debitori  e creditori, K), c. 308/CCCVIII (1533.2– 1535.3). Zur Handels- und Bankgesellschaft der Salviati in Lyon während der 1540er Jahre: Nadia Matringe, La Banque en Renaissance. Les Salviati et la place de Lyon au milieu du XVIe siècle. (Collection ›Histoire‹) Rennes 2016.

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Lehre auf, wo er die nötigen Kenntnisse erwarb. Gucci war für die ebenfalls in Nürnberg ansässige Handels- und Bankgesellschaft der Antinori tätig.23 Diese Auslandsaufenthalte dienten vor allem zwei Ansinnen: Erstens sollten die Kaufmannssöhne die Praktiken des Handels durch eigene Aktivitäten in der Umgebung der Kontore erlernen. Dazu zählte als grundlegende Fähigkeit die Buchführung. Zweitens mussten sie sich die Fachsprache des Wirtschaftens und Buchhaltens aneignen, die entsprechenden Fremdsprachen der auswärtigen Umgebung und die Verkehrssprachen der Fernhandelskaufleute, sowie die Gepflogenheiten der Lebenswelt auswärtiger Stadtgesellschaften.24 Ein wichtiger Gesichtspunkt im Zusammenhang mit der Ausbildungsphase an auswärtigen Standorten war die Sozialisierung der jungen Menschen innerhalb einer Altersgruppe. Die künftigen Kaufmannbankiers verschiedener nationes verfügten über ein ihrer Kohorte gemeinsames Repertoire an lebensweltlichen Erfahrungen, welche sie im wechselseitigen Umgang in den Kontoren und bei gesellschaftlichen Aktivitäten außerhalb der eng gefassten Geschäftswelt erwarben. Überdies vertiefte die Entsendung der eigenen Söhne an die Firmenstandorte von Geschäftspartnern bestehende ökonomische Austauschbeziehungen. Durch diese Verflechtung von Geschäftspartnerschaften wurden die Ausbildung der Kaufleute und künftige Kooperationen miteinander verkoppelt.25 23 Germanisches Nationalmuseum, Behaim-Archiv, Nr. 29a: Briefe Paulus I. Behaim, 1533– 1568. Vgl. Mechthild Isenmann, Das »Handlungs- und Bilanzbuch« Paulus I. Behaims (1519–1568). Finanzgeschäfte und Klientel eines Nürnberger Financiers. Ein Werkstattbericht, in: Annales Mercaturae 1, 2015, S. 37–60, hier 38. 24 Lang, Fremdsprachenkompetenz (wie Anm. 19), S. 85–88. Mit einem starken Problembewusstsein für die Differenzen zwischen Fachsprachen und Verkehrssprachen: Jacques Bottin, La pratique des langues dans l’espace commercial de l’Europe de l’Ouest au­ début de l’époque moderne, in: Gilbert Buti/Michèle Janin-Thivos/Olivier Raveux (Hg.), Langues et langages du commerce en Méditerranée et en Europe à l’époque moderne. (Le temps de l’histoire) Aix-en-Provence 2013, S. 83–98; im selben Band zu den mehrsprachigen Sprachlehren: Jochen Hoock/Wolfgang Kaiser, Les manuels plurilingues à l’usage des marchands à l’époque moderne, in: Ebd., S. 71–79. Zum Sprachenlernen von Kaufleuten aus dem süddeutschen Kontext: Helmut Glück/Mark Häberlein/Konrad ­Schröder, Mehrsprachigkeit in der Frühen Neuzeit. Die Reichsstädte Augsburg und Nürnberg vom 15.  bis ins frühe 19.  Jahrhundert. (Fremdsprachen in Geschichte und Gegenwart, 10) Wiesbaden 2013, S. 55–72; Francesco Guidi Bruscoli, Creating Networks through Languages. Italian Merchants in Late Medieval and Early Modern Europe, in: Andrea Caracausi/ Christof Jeggle (Hg.), Commercial Networks and European Cities, 1400–1800. (Perspectives in Economic and Social History, 32) London 2014, S. 65–80. Zur Fachsprache der Buchführung: Ondina Gabrovec Mei, Il linguaggio contabile. Itinerario storico e metodologico. 2. Aufl. Torino 1999. Vgl. auch Jacques Bottin, La formazione dei mercantiimprenditori fra il libro e il banco (Europa nord-occidentale, secc. XVI–XVII), in: Annali di storia dell’impresa 18, 2007, S. 253–269. 25 Michael Gassert, Kulturtransfer durch Fernhandelskaufleute. Stadt, Region und Fernhandel in der europäischen Geschichte. Eine wirtschaftshistorische Untersuchung der Beziehungen zwischen wirtschaftlichen Vorgängen und kulturellen Entwicklungen anhand

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Im Zentrum der Ausbildungsphase als Schritt in die Welt ökonomischen Wissens stand das Erlernen von ökonomischen Transfers und deren Evaluierung. Dabei eigneten sich die künftigen Kaufmannbankiers nicht nur die Verschriftlichung von geschäftlichen Vorgängen in der Übertragung von materiellen Transfers in den Prozess der Datenverarbeitung im Rahmen der Buchführung und die dazugehörige Fachsprache an, sondern auch den Prozess des entsprechenden Wissenserwerbs. Im Zuge dieses Lernprozesses entstand ein ökonomischer Habitus, der durch die Abstraktions- und Organisationsleistung der Buchführung konfiguriert wurde und spezifische Kommunikationsformen sowie Formen des Wissenstransfers umfasste.26 II . Kommunikationsgemeinschaften und Wissenstransfer Die ebenso regelmäßige wie dichte Kommunikation bildete zunächst die Grundlage für koordiniertes ökonomisches Handeln.27 Allerdings zeigt das hierbei verwendete Kommunikationsmedium der schriftlichen Korrespondenz, dass bei der Erschaffung von Briefwelten ein Prozess der Vergemeinschaftung in Gang gesetzt wurde.28 Innerhalb von Geschäftsbeziehungen war es nämlich üblich, Konten (conti), Kontoauszüge (stratti) und Notizen (zeddel/zettel) zu verschicken. Dieses Verfahren betraf länger laufende Kontenbeziehungen, weniger ephemere Geschäftskontakte. Im Rahmen des bargeldlosen Zahlungsverkehrs waren Wechvon Karten. (Europäische Hochschulschriften, Reihe III, 915) Frankfurt am Main 2001, S. 79–84; Donatella Calabi/Derek Keene, Merchant’s lodgings and cultural exchange, in Dies./Stephen Turk Christensen (Hg.), Cultural Exchange in Early Modern Europe, Bd. 2. Cities and Cultural Exchange in Europe 1400–1700. Cambridge 2007, S.  315–348. Zur Phänomenologie und den Wirkungen von Alterskohorten während derer Ausbildungsphasen: Kuhn, Generation (wie Anm. 21), S. 109–124. 26 Vgl. Markus A. Denzel, »Wissensmanagement« und »Wissensnetzwerke« der Kaufleute. Aspekte kaufmännischer Kommunikation im späten Mittelalter, in: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 6, 2001, S. 73–90. 27 Federigo Melis, Intensità e regolarità nella diffusione dell’informazione economica generale nel Mediterraneo e in Occidente alla fine del Medioevo, in: Mélanges en l’honneur de Fernand Braudel, Bd. 1. Histoire économique du monde méditerranéen, 1450–1650. Paris 1973, S. 389–424b. Yves Renouard, Les hommes d’affaires italiens du moyen âge. Paris 1968. 28 Zur Entstehung von Briefwelten und zum Habitus des Briefeschreibens: Francesco Senatore, »Uno mundo de carta«. Forme e strutture della diplomazia sforzesca. (Mezzogiorno medievale e moderno, 2) Napoli 1998. Im Kontext der Kaufleute: Heinrich Lang, Power in Letters. Political Communication and Writing in the Medici Letters, in: Jan Marco Sawilla/ Rudolf Schlögl (Hg.), Medien der Macht und des Entscheidens. Schrift und Druck im politischen Raum der europäischen Vormoderne (14.–17. Jahrhundert). (The Formation of Europe. Historische Formationen Europas, 5) Hannover 2014, S. 83–102. Zum Verhältnis von brieflicher Kommunikation und der Entstehung von Netzwerken: Hans Bots, Exchange of Letters and Channels of Communication. The Epistolary Networks in the European Republic of Letters, in: Regina Dauser u. a. (Hg.), Wissen im Netz. Botanik und Pflanzentransfer in europäischen Korrespondenznetzen des 18. Jahrhunderts. Berlin 2008, S. 31–46.

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selbriefe, lettere di cambio oder wexl, als Sonderform der brieflichen Kommunikation und als spezielle Art des Transfers von Vermögenswerten unabdingbar.29 Der schriftliche Austausch zwischen Geschäftspartnern sowie die begleitende Korrespondenz verfolgten unterschiedliche Anliegen, die durch den strukturellen Aufbau der Briefe offengelegt werden.30 Man verwies auf eingegangene Schreiben, auf die man antwortete, und auf eigens verschickte schriftliche Informationsträger. Ferner sollten Paraphrasierungen sicherstellen, dass der Inhalt vorhergegangener Briefe rezipiert und entsprechende Geschäfte umgesetzt worden waren – und ferner werden konnten. Auf diese Weise verfügten die Korrespondenten über Kontrollmechanismen, die den Geschäftsablauf gewährleisten sollten.31 Ein weiteres Ansinnen bestand in der Mitteilung von geschäftsrelevanten Informationen, die man als Entscheidungshilfe für die Tätigung von nachfolgenden Geschäften benötigte. Diese schlossen sich in der Regel an den Austausch von Kontendaten an oder wurden in den fließenden Text eingestreut. Die Briefautoren formulierten dabei Nachrichten über Geschäftsverläufe an einem anderen Ort, die Entwicklungen von Messen oder politischen Rahmenbedingungen und bewerteten diese mit knapp gehaltenen Einschätzungen wie im Fall eines Briefes vom 28. April 1509, den die venezianische Faktorei von Anton Welser, Konrad Vöhlin & Mitverwandte32 an den Florentiner Geschäftspartner, den Investor und Politiker Lanfredino Lanfredini (1456–1520)33, richtete: 29 Einführend: Denzel, Wissensmanagement (wie Anm. 26), S. 84. Ausdrücklich zum Wechselbrief als »Sonderform« des Briefes: Markus A. Denzel, Art. Wechsel, -brief, Wechsler, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8. München 1997, Sp. 2086–2089; Ders., Art. Wechsel 1. Wirtschaft, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd 14. Stuttgart 2011, Sp. 729–732. Raymond de Roover unterschätzt die Bedeutung des Kommunikationsmediums Brief für den konkreten Ablauf von Wechselgeschäften, weil er nur die Wechselbriefe selbst als Quellentexte in seine wiewohl bahnbrechende Einführung einbezieht: Raymond de Roover, L’evolution de la lettre de change XIVe–XVIIIe siècles. (Affaires et Gens d’affaires, 4) Paris 1953, S. 43–64. 30 Einführend zu den Besonderheiten brieflichen Schriftgutes: Christian Kuhn, Letters, in: Albrecht Classen (Hg.), Handbook of Medieval Studies. Concepts, Methods, Historical Developments, and Current Trends in Medieval Studies, Bd. 1. Berlin 2010, S. 1881–1897. 31 Zu diesen performativen Bestandteilen von Briefen und zur entsprechenden Sicherungsfunktion: Christina Lutter, Politische Kommunikation an der Wende vom Mittel­ alter zur Neuzeit. Die diplomatischen Beziehungen zwischen der Republik Venedig und­ Maximilian I. (1495–1508). Wien 1998, S. 93–118. 32 Einführend: Peter Geffcken/Mark Häberlein, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Rechnungsfragmente der Augsburger Welser-Gesellschaft (1496–1551). Oberdeutscher Fernhandel am Beginn der neuzeitlichen Weltwirtschaft. (Deutsche Handelsakten des Mittelalters und der Neuzeit. Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 22) Stuttgart 2014, S. XV– CXXXV. 33 Vanna Arrighi, Art.  Lanfredini, Lanfredino, in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 63. Roma 2004, S. 602–605; Götz-Rüdiger Tewes, Kampf um Florenz. Die Medici im Exil (1494–1512). Köln 2011, S. 129 f. Während Lanfredino Lanfredini durchaus als politische Figur profiliert ist, hat erstmals Götz-Rüdiger Tewes die eminente Bedeutung Lanfredinis als Firmenchef herausgearbeitet.

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»Aufgrund der Scharmützel und Kriege sind die Pässe von hier nach Rom aufgehoben und geschlossen. Daher nimmt man von hier den Weg nach Mailand. Und dennoch, sollte sich die Lage verschlechtern, was wir bezweifeln, werden wir Euch nicht weiterhin schreiben können von hier über Ferrara und Bologna. Daher möge es Gott gefallen, guten Frieden zu schicken.«34

Zahlreiche Briefe endeten mit Kurs- oder Preislisten von schwierig zu kalkulierenden Leistungen oder Gütern und verschiedenen Geldsorten und Währungen. Diese Informationen wurden benötigt, um Wechselkursrelationen in den Zuschnitt von Wechseltransfers einzurechnen.35 Im Februar 1519 berichtete Lionardo Spina, der Leiter der Florentiner Salviati-Handelsgesellschaft in Lyon36, dem Faktor seiner Augsburger Geschäftspartner in Antwerpen folgenden Zusammenhang: »Und wir haben gehört, dass Eure Berges-Messe schlecht war für den Warenhandel, und ähnlich schlecht war das Preisniveau auf unserer (Messe in Lyon). Wie die Eurigen habt Ihr Nachricht, dass das Geld überall gut war, wie Ihr auch an den Wechseln sehen könnt. Wir glauben, dass dieser (Zustand) noch einige Zeit bleiben wird.«37

Im Anschluss an dieses Zitat listet der Briefautor noch einige Wechselkurse auf, um auszuführen, zu welchem Preis die Lyoner Messewährung, der scudo di­ marchi, an den angegebenen Orten in der jeweiligen Währungsbewertung zu haben sei. Solche Berichte eint eine gewisse Redundanz: Denn Lionardo Spina musste tatsächlich davon ausgehen, dass seine Adressaten über die referierten Informationen auch ohne sein Zutun verfügten. Die Kenntnisse von den Ant34 »[D]a quj a Roma[.] ci son[o] toltt(i) et serattj e’ passi p(er) questj garbugli et guerre / al si lo camino da qui a Milano / et tutta via voi pegiorando dj modo che dubitamo / non vi pote(re) scrive(re) più anchora a vuj da qui p(er) via dj Ferara e Bologna / che a Dio piazia mandar qualche bona paze /«. (Archivio Bartolini Salimbeni, Vicchio (Mugello, To­ scana), Lettere, busta 3: Anton Welser, Konrad Vöhlin & Mitverwandte an Lanfredino Lanfredini, Venedig, 28.4.1509). 35 Vgl. Margot Lindemann, Nachrichtenübermittlung durch Kaufmannsbriefe. Brief-»Zeitungen« in der Korrespondenz Hildebrand Veckinchusens (1398–1428). (Dortmunder Beiträge zur Zeitungsforschung, 26) München 1977; Denzel, Wissensmanagement (wie Anm. 26), S. 84 f; Zsuzsa Barbarics/Renate Pieper, Handwritten newsletters as a means of communication in early modern Europe, in: Francisco Bethencourt/Florike Egmond (Hg.), Cultural Exchange in Early Modern Europe III: Correspondence and Cultural­ Exchange in Europe, 1400–1700. Cambridge 2007, S. 53–79. 36 Zu den Salviati in Lyon einführend: Agnès Pallini-Martin, L’installation d’une famille de marchands-banquiers florentins à Lyon au début du XVIe siècle, les Salviati, in: G ­ aulin/ Rau (Hg.), Lyon (wie Anm.  19), S.  71–90; Lang, Herrscherfinanzen (wie Anm.  14), S. 475–481. 37 »Et s’è inteso che la f(ier)a v(ost)ra d(i) B(er)ges è statta chattiva p(er) m(er)canzie e il simile lo p(r)eggio è stata la n(ost)ra come d(i) q(uest)i v(ost)rj avete notizia li danarj sono suttj  e buonj p(er) t(ut)to p(ar)te come vedrette p(er) li cambj  e stimiano stia p(er) durare qualche tempo[.]« (Archivio Salviati, Pisa, I, 472 (Lyon, Copialettere, E), c. 56v). Mit­ »Berges-Messe« dürfte der Briefautor den Antwerpener Kaltenmarkt gemeint haben.

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werpenern und Lyoner Geschäftsverläufen musste der Antwerpener WelserFaktor aus eigener Anschauung vor Augen haben beziehungsweise der Vertreter der Welser in Lyon, der Augsburger Narziß Lauginger38, dürfte die entsprechenden Informationen seinerseits an seinen Kollegen an der Schelde geschrieben haben. Der Zweck dieser Rapporte galt zumindest nicht ausschließlich der Informationsvermittlung, sondern derartige Briefinhalte dienten der Integration des Gegenübers in eine Kommunikations- und Wissensgemeinschaft. Die Verständigung über die ablaufende Kommunikation verfolgte die analog gelagerte Absicht, die Persistenz der Kommunikation zu gewährleisten. Dabei wurde das Verständnis der vermittelten Daten vorausgesetzt: Die räumliche Zergliederung der Wirtschaftswelt in Währungsräume, das Verfahren bei Wechseltrans­ aktionen sowie die Kompetenz zur Beurteilung von Angaben über die allgemeine Geschäftsentwicklung (wenn, wie im Briefzitat, »Geld überall gut« war) wurden als praktisches Erfahrungswissen etabliert und waren somit ein abzurufender Wissensbestand.39 Das Kommunikationsmedium brieflicher Korrespondenzen erzeugte eine Gemeinschaft. Der Erhalt solcher Schreiben, die entsprechende Inhalte vermittelten, signalisierte die Zugehörigkeit zu einem Netzwerk, in dessen Bahnen Informationen ausgetauscht und Geschäfte getätigt wurden.40 Die Integration durch briefliche Informationen war Teil  der alltäglichen Geschäftspraktiken und bildete zugleich die Basis für vertieftes Wissen aus der Praxis heraus. Die Übermittlung von Nachrichten wie den hier avisierten Informationen verwies damit weniger auf ökonomisch-praktische Tatbestände als vielmehr auf ein Gruppenwissen, dessen Teilhabe – letztlich – Geschäftsfähigkeit vermittelte.41 38 Zu Narziß Lauginger und dessen Bedeutung für die Handelsgesellschaft der Welser-­ Vöhlin-Gesellschaft: Peter Geffcken, Die Welser und ihr Handel 1246–1496, in: Mark Häberlein/Johannes Burkhardt (Hg.), Die Welser. Neue Forschungen zur Geschichte und Kultur des oberdeutschen Handelshauses. (Colloquia Augustana. Institut für Europäische Kulturgeschichte der Universität Augsburg, 16) Berlin 2002, S. 27–167, hier 146–150. 39 Dazu einführend: Denzel, Wissensmanagement (wie Anm. 26), S. 83–87. 40 Vgl. Bots, Exchange of Letters (wie Anm.  28), S.  31–46; grundsätzlich: Jürgen Herold, Empfangsorientierung als Strukturprinzip. Zum Verhältnis von Zweck, Form und Funktion mittelalterlicher Briefe, in: Karl-Heinz Spieß (Hg.), Medien der Kommunikation im Mittelalter. (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte, 15) Stuttgart 2003, S. 265–287. 41 Vgl. Gassert, Kulturtransfer (wie Anm. 25), S. 69–79. Grundsätzlich setzt Michael Grassert an der »richtigen« Stelle an; allerdings verfügt er über ein linear denkendes (strukturiertes) Transfermodell, das von einer Innovationsphase über eine Akzeptanzphase zu einer Diffusionsphase abläuft. Die hier vorgestellte Prozessualisierung von Wissen in Praktikengemeinschaften ist komplexer angelegt, weil die Korrespondenzen auf wechselseitige Koordinierungsvorgänge verweisen. Hierbei ist weniger von einer Art Gefälle auszugehen als vielmehr von Entwicklungsschritten, die in enger Verzahnung ablaufen und ohne die ein wie auch immer generiertes Spezialwissen keinen Bestand haben könnte. Die von Gassert im Kapitel »Kommunikation der Kaufleute als notwendige Bedingung für Kulturtransfer« erklärten Voraussetzungen können dementsprechend als Substanz der brieflichen Kommunikation selbst begriffen werden (vgl. ebd., S. 246–254).

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III . Prozessualisiertes Wissen und Praktikengemeinschaften Neben dieser eher sozialisierenden Dimension des Schriftverkehrs verfolgte der schriftliche Austausch zwischen Handels- und Bankgesellschaften eigentlich geschäftspraktische Anliegen. Die Autoren der Briefe lieferten sich gegenseitig spezialisierte Informationen, die Geschäftsverläufe sichtbar machten und im Weiteren zu künftigen Transaktionen führen sollten. In den Netzwerken, innerhalb derer Wissensbestände diskursiv verarbeitet wurden, formulierten die Vertreter der Handels- und Bankgesellschaften Informationen, die handlungsmotivierend wirken mochten. Dabei steckten sie zugleich den Rahmen für die im konkreten Fall umzusetzenden Mengen ebenso wie die entsprechend justierten Vorgehensweisen ab. Dieses koordinative Verhalten basierte allerdings auf der bruchlosen Kommunikation, der durchgehenden Abrufbarkeit von Wissensbeständen und den Interpretationsfähigkeiten des beteiligten Personals hinsichtlich geschäftlicher Vorgänge.42 Die merkantilen Briefarchive illustrieren diese Zusammenhänge. Zum einen weisen die darin enthaltenen Schreiben ebenso stereotype wie voraussetzungsvolle Formulierungen auf. Nicht selten scheinen Selbstverständlichkeiten ausgetauscht worden zu sein, die (durch den und im Verlauf des Austausches) eine gemeinsame Handlungsbasis schaffen sollten. Zum anderen verarbeiteten die Briefautoren komplexe Datenbestände, die ein spezialisiertes Praxiswissen ihrerseits voraussetzten. In einem Brief vom 20. Februar 1527 erläuterte Lionardo Spina seinem Gegenüber in der Welser-Faktorei zu Antwerpen die Absichten, die er im Zuge gewinnträchtiger Wechseltransfers hegte: »Wir hätten gerne, dass Ihr uns dabei helft, einen Gewinn zu erzielen. Denn mit dem Erhalt des Wechsels für diese laufende Messe kann man einen gewissen Betrag realisieren, in der Höhe, wie Euch der Wert bei der Bezahlung des Rückgeldes dieser Messe gegeben wurde. Oder man müsste tatsächlich berechnen und in der Weise verfahren, dass wir im Fall des niedrigen Geldes dennoch keinen Verlust haben, sondern dass in der Höhe dieses Betrages jenes Geld dazu ausreicht, unseren Wechsel zu bezahlen und doch für uns einen Gewinn zu behalten. Es genügt bei jedem bisschen Geldbetrag, der nicht ausreicht, um Gewinn zu machen – wenn er nur genügt, um den Geldwert zu halten. Wenn es Euch bei einem Kurs von 80 grossi per scudo auf 42 Diese Konzeption ist verwandt mit der grundlegenden Überlegung von Franz-Josef­ Arlinghaus, der bei der »Neuverortung der Rechnungsbücher« im Zusammenhang von »Buchführung, Mentalität und literarischen Texten« den schriftlichen Datenverarbeitungsprozess der Buchführung als »Teil jener ›Lebenswelt‹« einordnet. Dabei sieht Arlinghaus das Problem der Operationalisierung. Franz-Josef Arlinghaus, Zwischen Notiz und Bilanz: Zur Eigendynamik des Schriftgebrauchs in der kaufmännischen Buchführung am Beispiel der Datini/di Berto-Handelsgesellschaft in Avignon (1367–1373). (Gesellschaft, Kultur und Schrift. Mediävistische Beiträge, 8) Frankfurt am Main 2000, S. 397–407.

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die kommende Messe richtig erscheint, dann tätigt das Geschäft. Denn in diesem Fall dient das Geld dazu, um unsere Wechsel zu bezahlen.«43

Im Wechseltransfer zwischen Lyon und Antwerpen machten sich die Wechselpartner das Kursgefälle zugunsten des Flämischen Pfundes zunutze. Hierfür war ein bestimmtes Währungsverhältnis zwischen dem Wert des ­Flämischen Pfundes gegenüber der Lyoner Messewährung, dem scudo di marchi, beim Wechsel auf Antwerpen und im Gegenzug beim Wechsel auf Lyon erforderlich, um einen Arbitragegewinn abzuschöpfen. Dementsprechend hatten die Bankhäuser abzupassen, wann sie einen Wechsel auf ihren Geschäftspartner am anderen Ort ausstellten und wann man die dazugehörige Rimesse bezahlen sollte.44 Spinas Sorge galt im konkreten Fall dem Umstand, dass bei der Bezahlung der Wechsel ein Ertrag zu eigenen Gunsten nur bei einem gefallenen Kurs möglich sein würde. Den hier vorgestellten Ausführungen unterlag das Denken in der Logik des Kontenausgleichs.45 Im konkreten Fall zog Spina einen Wechsel auf Antwerpen zu einem Betrag, der höher bewertet werden musste als diejenige Summe, die von Antwerpen nach Lyon zurückgezahlt werden sollte. Wenn die Verbindlichkeiten der Salviati-Gesellschaft in Lyon um einen bestimmten Betrag die Forderungen gegenüber den süddeutschen Geschäftspartnern in Antwerpen überwogen, folgte aus diesem Ungleichgewicht zugunsten der realisierten ­Einnahmen ein Gewinn. Das dazugehörige Konto konnte der Buchhalter der Salviati anschließend ausgleichen, indem er diesen Überschuss dem Vorteilskonto gutschrieb.46 Die briefliche Kommunikation stellte in diesem Sinn das Medium von in­ terfirm organisation dar. Das Handeln an den jeweiligen Märkten und Messe43 »[V]orremo che ci aiutassi ghuadagnare qualchosa però possendo all’avuta trarcj per questa prexente fiera qualche somma chon quanto che la valuta vi fussi data su paghamentj del ritorno di questa fiera o si veramente contassi et facessj in modo che quando bene le monete abassaino noj non avessimo a perdere ma che in somma chotesti danari servissino a paghare le nostre tratte e del ghuadagnio a noj basterà hogni pocho di chosa che non s’è fatto tanto per ghaudagniare quanto per mantenere li danari. quando vi paressi di pigliare per pasqua proxima avendo grossi 80 per scudo et che li danari servissino a paghare le nostre tratte.« (Archivio Salviati, Pisa, I, 492 (Lyon, Copialettere, H), c. 98r: Salviati in Lyon an Bartholomäus Welser & Mitverwandte in Antwerpen, 20.2.1527). 44 Einführend in diese Logiken: Markus A. Denzel: Das System des bargeldlosen Zahlungsverkehrs europäischer Prägung vom Mittelalter bis 1914. (Vierteljahrschrift für Sozialund Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 201) Stuttgart 2008, S. 48–54. 45 Vgl. Edward Peragallo, Origin and Evolution of Double Entry Bookkeeping. A Study of Italian Practice from the Fourteenth Century. (Selected Classics in the History of Bookkeeping, ser. I, 9) Osaka² 1974, S. 54 f. David Oldroyd/Alisdair Dobie, Bookkeeping, in: John Richard Edwards/Stephan P. Walker (Hg.), The Routledge Companion to Accounting History. London 2009, S. 95–119, hier 103–106. 46 Vgl. Geoffrey A. Lee, Development of Italian Bookkeeping: 1211–1300, in: Abacus 9,2, 1973, S. 137–155.

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standorten bedurfte der peniblen Abstimmung, damit sich die Transaktionen rechneten und beide Geschäftspartner, die zumeist in ein weiter gespanntes Beziehungsgefüge mit anderen Kaufmannbankiers eingebunden waren, eine laufende Transferbeziehung aufrechterhalten konnten. In zweiter Linie hingegen erschien der Schriftverkehr als Ferment in der Entwicklung und Moderation von Wissensbeständen. Das dazugehörige Wissen zeichnete sich durch einen hohen Grad an Wandelbarkeit aus und verwirklichte sich als prozessbezogenes Wissen. Das Prinzip des Kontenausgleichs gehörte dabei zum selbstverständlichen Wissensbestand der Praktikengemeinschaft der Kaufmannbankiers. In der Ausbildungsperiode hatten sie die Buchhaltung gelernt und die dafür erforderlichen Schritte der Verschriftlichung und der Rechnung verinnerlicht. Die Logik des ausgeglichenen Kontos konfigurierte den fortlaufenden Erwerb spezialisierten Wissens und bedingte damit die Expertise eines ökonomischen Alltagswissens, das zu fein abgestimmter Moderation von Handlungsabläufen befähigte.47 Im Verständnis der Kaufmannbankiers steuerte das Konzept des Kontenausgleichs geschäftliches Handeln. Diesen Zusammenhang exemplifiziert ein Schreiben Lionardo Spinas an die spanische Faktorei von Bartholomäus Welser & Mitverwandte vom Dezember 1533, als er anlässlich der Messe von Villalón folgendes Präskript formulierte: »Auf ein für uns geführtes Apartkonto haben wir nach Villalón zur kommenden Mittfastenmesse 3.496 ⅛ scudi zu einem Kurs von 354 maravedis per scudo und einem Aufschlag von sieben Promille von Lesmes d’Astudillo durch unseren Brief remittiert. Den Wert haben wir gegeben. Von Eurer hiesigen Faktorei stellen wir mit diesem Brief die Prima des Wechsels aus. Macht, dass Ihr die Zahlungszusage habt und die Bezahlung erhaltet, indem Ihr diesen Vorgang auf unser Appartkonto setzt und Nachricht gebt. Im Gegenzug haben wir auf die nämliche Messe 3.496 ⅛ scudi gezogen, von denen es Euch gefallen möge die Zahlungszusage zu machen und die Bezahlung zu tätigen, indem Ihr auf besagtes Apartkonto, welches wir eingerichtet haben, um Freunde zu akkommodieren, diese Beträge setzt. Und wie Ihr seht, haben wir das Konto gleichgesetzt.«48

Der Briefautor referiert seinen Augsburger Geschäftspartnern, welche Zahlungsanweisungen bereits getätigt wurden und welche im Rahmen der Transaktionsbeziehungen während der laufenden Messe noch zu tätigen seien. Die als 47 Vgl. Arlinghaus, Notiz und Bilanz (wie Anm. 42), S. 433 f. 48 »Per uno nostro conto apparte v’abbiamo rimesso a Villalón per ½ quaresima prossima scudi 3496 ⅛ a mrs 354 per scudo con 7 per M da Lesmes de Astudillo per nostra lettera, la valuta abiamo dato da questj vostri farà con questa prima di cambio. fate di avere promessa e paghamento ponendo a detto nostro conto aparte e avisate. Al incontro per detto conto v’abiamo tratto per detto tempo […] scudi 3496 ⅛ che vi piacerà farne promessa e pagamento ponendo a detto nostro conto aparte quale abiamo fatto per acchomodare amici e chome vedete lo abiamo pari.« (Archivio Salviati, Pisa, I, 514 (Lyon, Copialettere, L), c. 117v: Salviati in Lyon an Bartholomäus Welser & Mitverwandte in Villalón, 22.12.1533).

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Kreditinstrumente genutzten Wechselbriefe folgten den Prinzipien der Buchführung, bei deren Umsetzung durch Vorfinanzierung zunächst Forderungen erwuchsen, die mit der Refinanzierung im Verlauf einer Messe oder bei der Folgemesse durch zahlenmäßig geeignete Verbindlichkeiten ausgeglichen werden mussten. Diese Zeilen illustrieren überdies eine Art der ›Selbstartikulation‹ von Buchführung in den dazugehörigen schriftlichen Korrespondenzen. Denn die Handlungslogik des ausgeglichenen Kontos motivierte zu entsprechenden Dosierungen geschäftlicher Transfers.49 Ein weiteres Beispiel soll diese Form der prozessualen Wissensentwicklung unter buchhalterischen Prinzipien zwischenunternehmerischer Koordination verdeutlichen. Der Schreiber der in Lyon angesiedelten Handels- und Bankgesellschaft der Florentiner Lorenzo  e Piero Capponi, Tommaso Rinuccini & Co registrierte in seinen Unterlagen ein Schreiben, das die Lucchesen Redi di­ Lodovico Buonvisi & Co am 10. August 1556 an die Papstbankiers Redi di Luigi Rucellai & Co in Rom richteten – um die Ansprüche der gerade neu gegründeten Unternehmung zu sichern: »Ihr werdet zufrieden sein zu zahlen an Euch selbst zum nächsten 5.  September 150 Mark, 3 Unzen, 12 Denare, 20 Gran, das ist die Hälfte zu 63 ½ Denaren auf die Mark und die andere Hälfte zu 61 Denaren auf die Mark, hier angerechnet auf die Herren Tommaso Guadagni & Co. Und die setzt Ihr gegen das, was Euch von der ­Bisenzone-Messe remittiert wurde auf unsere Order hin, auf dass wir zur Zufriedenheit darüber einen Wechsel ziehen. Dies geschieht zu keinem anderen Ziel […].«50

Die beiden zuletzt zitierten Briefstellen belegen, dass die Kaufmannbankiers in reziproken und komplexen Abhängigkeiten dachten und dass in solchen Zusammenhängen bei der Prozessualisierung des geschäftlichen Handelns das für die spezialisierten Märkte des Wechselgeschäfts nötige Wissen verfeinert und vertieft wurde. Die erheblichen Koordinierungsleistungen setzten eine fortlaufende Kommunikation sowie die Integration in Wissensgemeinschaften voraus – Wissen, das aus permanenten und praktischen Lernvorgängen bestand. 49 Wenn man Rechnungsbücher als Artefakte ansieht und damit die Buchführung als einen Prozess der Datenverarbeitung wahrnimmt, dann ist die Korrespondenz als Medium der Kommunikation zwischen Unternehmen zugleich das Medium der Mitteilung von Verfahren unter der Logik der Buchführung: Vgl. Yannick Lemarchand/Cheryl McWatters/ Laure Pineau-Defois, The Current Account as Cognitive Artefact: Stories and Accounts of ›la Maison Chaurand‹, in: Pierre Gervais/Ders./Dominique Margairaz (Hg.), Merchants and Profit in the Age of Commerce, 1680–1830. (Perspectives in Economic and Social History, 30) London 2014, S. 13–32. 50 »Sarete contenti pagare a voi medesimi alli 5 di settembre proximo m. cento ciquanta sette o. 3, d. 12, g. 20, cioè la metà a di 63 ⅓ per mo e l’altra metà a di 61 per mo conti qui con questi sri Thommo Guadagni e comp. E li ponete per contra quello vi è stato rimesso da­ Bisanzone a nostro ordine che ce ne terremo per contenti. Nè sendo questa per altro effetto, faremo fine pregando Dio di mal vi guardi de’ quali ne seguirete la volontà de’ detti Guadagni.« (Roger Doucet, La banque Capponi à Lyon en 1556. Lyon 1939, 17 f., Nr. II).

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Auf diese Weise bedeutete die Geschäftstätigkeit einen Lernprozess, der sich in Gemeinschaften der ökonomischen Praktiken vollzog. Dieses hoch spezialisierte Praxiswissen sedimentierte sich bei den süddeutschen Kaufmannbankiers in Handelspraktiken, die wie im Fall des Kaufmannsnotizbuchs des Fugger-Hauptbuchhalters Matthäus Schwarz von 1548 aus Berichten und Erläuterungen der Faktoren und Geschäftspartner von verschiedenen Orten zusammengestellt wurden. Solche Werke verweisen in Schlagworten nach Währungsräumen gegliedert auf die Verfahrensweisen, derer sich die an den jeweiligen Handelsstandorten aktiven Kaufmannbankiers im jeweiligen Geschäftsleben bedienten.51 Die gedruckten Handelspraktiken, die verschieden angefertigt wurden und die gemessen an ihren Auflagen zum Teil in weiteren Kreisen zirkulierten, markierten ein verallgemeinerbares Grundwissen über Techniken und Gepflogenheiten. Auf diese Weise konnten sie wohl Bestandteil der merkantilen Ausbildung sein und charakterisieren damit einen spezialisierten Wissensbestand für Kaufmannbankiers. Dabei lässt sich einerseits zwischen den persönlich gehal­ tenen Zibaldoni (von Michael North übersetzt mit »Kaufmannsnotizbücher«), in denen ein Handelsmann aus eigener Anschauung Erfahrungen zusammentrug und sie für seine Nachkommen sowie Geschäftspartner zugänglich zu­ machen gedachte, und andererseits den für einen erweiterten Rezipientenkreis gedachten Manuali (von Markus A. Denzel mit »Kaufmannshandbücher« wiedergegeben), unterscheiden.52 Über den praktischen Nutzen dieser Wissensspeicher gehen die Meinungen auseinander. Aus den bisherigen Ausführungen folgt jedoch, dass das für geschäftliches Handeln spezialisierte Wissen prozessualisiert werden musste. Das prozessualisierte Wissen hatte einzig Bestand in seiner Vorgängigkeit als koordinierendes kommunikatives Handeln und war somit als Lernprozess wirklich.53 Während im Florentiner Kontext nur wenige Handelspraktiken entstanden, verfügten die toskanischen Kaufmannbankiers offenbar über gar keine Lehren zur Buchhaltung. Die künftigen Kaufleute lernten die Buchführung in der Praxis bei ihren Ausbildungsstationen oder bereits im elterlichen Haushalt. 51 Ekkehard Westermann/Markus A. Denzel (Hg.), Das Kaufmannsnotizbuch des Matthäus Schwarz von 1548. (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 215) Stuttgart 2011, S.  258 f. (»Das Reygister« führt die nach Standorten differenzierte Auffächerung der Handelstätigkeit ein). 52 So die Argumentation bei: Denzel, Handelspraktiken (wie Anm. 11), S. 17–22. 53 Die Analyse der Korrespondenzen der Handels- und Bankgesellschaft von Averardo e Piero Salviati & Co in Lyon zeigt insbesondere diese Dimension merkantiler Schreiben: Dass die Kaufmannbankiers sich gegenseitig erklärten, wie sie die Situation an den Märkten und die Vorgänge bewerteten – um zu entsprechenden Verfahrensweisen zu kommen: Matringe, La Banque (wie Anm. 22), S. 223–243. Leider gibt Nadia Matringe in der gedruckten Fassung ihrer Dissertation die ausführlicheren Briefzitate nicht wieder: ­Nadia Matringe, L’entreprise florentine et la place de Lyon: l’activité de la banque Salviati au­ milieu du XVIe siècle. Florenz 2014 (unveröffentlichte Dissertationsschrift), S. 221–228.

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Denn die Mehrheit der überlieferten toskanischen Rechnungsbücher waren Privatbücher und keine Geschäftsbücher.54 Vieles spricht dafür, dass die Handelspraktiken, deren Inhalte zügig veralteten, eher einen prinzipiellen Anwendungsnutzen hatten. Denn die in ihnen dargelegten Verfahrensweisen, wie man Wechselkurse, Währungsschwankungen oder Münzverhältnisse geschäftlich gewinnbringend einzusetzen vermochte, änderten sich allenfalls mittelfristig. Wenn man die Handelspraktiken, wie Kurt Weissen im toskanischen Fall annimmt, abschrieb und Briefe kopieren ließ, eignete sich der Schreiber praktisches Verfahrenswissen an.55 Weissen leitet in diesem Zusammenhang über zu der Frage, inwieweit die Kaufmann­ bankiers des Spätmittelalters nicht ohnehin eher auf der Ebene eines market sharing agierten, denn das für Märkte konstitutive Konkurrenzverhältnis bleibt in den Handelstraktaten ausgeblendet.56 Ohne in diese Debatte eingreifen zu wollen, sei aus der hier ausgearbeiteten Perspektive zu entgegnen: Die Korrespondenzen der auf interfirm organisation ausgelegten Koordinierungsleistungen geben auf diese Fragestellung keine Antwort. Stattdessen zeigt der überlieferte Schriftverkehr, dass die gewechselten Briefe auf die Vergemeinschaftung ökonomisch koordinierten Handelns hinausliefen. Aber während Grundsätzliches durchaus über die Abschrift solcher Werke, der Handelspraktiken, erworben werden konnte, durfte das prozessualisierte Wissen in den Praktikengemeinschaften zum Kern des verfeinerten und spezialisierten Wissens gehören, welches Geheimgut innerhalb einer Handels- und Bankgesellschaft war. Überdies generierte die durch den brieflichen Schriftverkehr vermittelte Praxis der Koordination zwischen den Firmen ein Wissen, das einzig im Vorgang selbst eingeübt und damit zu einem spezialisierten Expertenwissen werden konnte. Die erhaltenen Korrespondenzen von Augsburger oder Nürnberger Handels- und Bankhäusern pflegen einen davon abweichenden Ton. Dieser Umstand hängt mit der Organisationsstruktur der Unternehmungen zusammen: Die süddeutschen Gesellschaften waren im 15. und frühen 16. Jahrhundert zentralistisch aufgebaut. Von den jeweiligen Faktoreien lieferten die in der Aus­ 54 Ausführlich diskutiert in: Richard A. Goldthwaite, The Practice and Culture of Accounting in Renaissance Florence, in: Enterprise & Society 17, 2015, S. 1–37. 55 Kurt Weissen, Fortschrittsverweigerung? Die Haltung der deutschen Handelsherren gegenüber der italienischen Banktechnik bis 1475, in: Hans-Joachim Schmidt (Hg.), Tradition, Innovation, Invention. Fortschrittsverweigerung und Fortschrittsbewusstsein im Mittelalter. (Scrinium Friburgense. Veröffentlichungen des Mediävistischen Instituts der Universität Freiburg Schweiz, 18) Berlin 2005, S. 161–178, hier 161 f. 56 Kurt Weissen, Dove il Papa va, sempre è caro di danari. The Commercial Site Analysis in Italian Merchant Handbooks form the 14th and 15th Centuries, in: Denzel/Hocquet/ Witthöft (Hg.), Kaufmannsbücher (wie Anm. 11), S. 63–73, hier 72 f. Dabei verweist er auf die grundlegende Studie von: Paul D. McLean/John F. Padgett, Was Florence a perfectly competitive market? Transactional evidence from the Renaissance, in: Theory and Society 26, 1997, S. 209–244.

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bildung befindlichen Kaufmannssöhne, die dort aktiven Handelsdiener, Faktoren und Agenten Berichte, in denen sie getätigte Geschäfte darlegten. Diese Korrespondenzen fungierten als Kontrollinstanzen, nicht als Medium der Koordinierung.57 Sie gehorchten zudem eigenen Logiken wie dem intergenerationellen Diskurs zwischen Vater und Sohn.58 IV. Transfer von Expertenwissen Das hier geschilderte spezialisierte und prozessual generierte Praxiswissen gerann zu Expertenwissen, wenn die Kaufmannbankiers als Vertreter von Anwendungswissenschaften außerhalb der ›unmittelbaren‹ Geschäftswelt, um die sich ihre Aktivitäten auf verschiedenen Märkten spannten, ihr Wissen einbrachten. Die Kaufmannbankiers wurden selbst zu Experten, indem ihr Praxiswissen in andere Bereiche, in denen ökonomische Kompetenzen gefragt waren, transferiert wurde. Ein symptomatischer Zusammenhang bestand in fiskal- oder wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die die gekrönten Häupter und ihre Finanzverwaltungen inszenieren wollten. Denn über die Vermittler von Darlehen an die Kronen oder von Transferleistungen (etwa auf dem Feld der Kirchensteuer) wurden Märkte und Herrscherfinanzen miteinander verkoppelt. Netzwerke zwischen den Finanzadministrationen und den auf den Messen tätigen Kaufmannbankiers sorgten nicht nur für personelle Überlappungen und materielle Zirkulation, sondern auch für den Transfer von Informationen und Wissen.59 Ein markantes Fallbeispiel für solche Zusammenhänge war die Entwicklung des Mechanismus des Grand Parti im französischen Königreich des Jahres 1555. König Heinrich II. verlangte nach einem massiven Anstieg der finanziellen Mittel, die er für seine ambitionierte und kriegerisch vorgetragene Politik be­ nötigte. Als den Superintendeur générale der Schuldenaufnahme setzte er den Florentiner Albizzo del Bene ein, der diese Aufgabe von 1551 bis 1556 wahrnahm und in diesem Zusammenhang Aufzeichnungen hinterlassen hat.60 57 Vgl. Sven Schmidt, Einführung, in: Ders. (Hg.), Das Gewerbebuch der Augsburger Christoph-Welser-Gesellschaft (1554–1560). Edition und Kommentar. (Documenta Augustana, 22) Augsburg 2015, S. 11–96. 58 Vgl. Kuhn, Generation (wie Anm. 21), S. 116–124. 59 Für den französischen Fall: Philippe Hamon, L’argent du roi. Les finances sous François Ier. (Comité pour l’Histoire économique et financière de la France)  Paris 1994  ; Ders., »Messieurs des finances«. Les grands officiers de finance dans la France de la Renaissance. Paris 1999. Und zur Modifizierung des Ansatzes von Philippe Hamon: Lang, Herrscherfinanzen (wie Anm. 14), S. 498–508. 60 Marie-Noelle Baudouin-Matuszek/Pavel Ouvarov, Banque et pouvoir au XVIe siècle: La surintendance des finances d’Albisse del Bene, in: Bibliothèque de l’École des Chartes 149, 1991, S. 249–291, hier 251 f., 275–282. Zum Grand Parti zusammenfassend: Angela Orlandi, Le Grand Parti. Fiorentini a Lione e il debito pubblico francese nel XVI secolo.

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Allerdings drohte schon bald die Überschuldung. Im Februar 1554 richtete Albizzo del Bene eine Denkschrift an König und Kronrat, in der er einen Mechanismus zur auf 13 Jahre gestreckten Rückzahlung königlicher Anleihen entwarf. Hierbei schlug er dem König und seinem Rat vor, die um Neuaufnahmen ergänzten Kronanleihen in eine große Partie königlicher Schuld umzuwandeln und zu diesem Zweck einen neuartigen Rückzahlungsmodus einzuführen.61 In seinem – in französischer Sprache verfassten – Memorandum erläuterte er den zeitlich ausgedehnten Modus der Rückzahlung nach einem vertraglich fest­ geschriebenen Zinssatz: »[…] um jede Messe an die Kaufleute zu zahlen, jenseits des üblichen Zinssatzes von vier Prozent, ein Prozent Vorteil, welcher von Hauptgut abzuziehen ist, wohl wissend, soweit es das Hauptgut betrifft, ein Zinssatz zum Verhältnis von fünf Prozent auf die Messe und weiter, mit 1.500 scudi Vorteil auf jede Messe über zehn Jahre mit 600.000 scudi auf den Vorteil, Seine Majestät sollte das Hauptgut und den Zinssatz mit 1.500.000 scudi vorfinden, die man als Schulden aufnehmen und mit weiteren vorherigen Schulden befriedigen kann zum Vorteil des Aufeinanderfolgens […].«62

Mit dieser originellen Konstruktion griff Albizzo del Bene das Konzept der über Wechsel- und Kreditmärkte refinanzierten Anleihen auf und übertrug den Mechanismus in die Finanzadministration des Königs. Die auf den Lyoner Messen aktiven toskanischen Kaufmannbankiers trieben die Konstituierung der an die Herrscherfinanzen angelagerten Wechsel- und Kreditmärkte voran, um den unmittelbaren Zusammenhang von Finanzierung der königlichen Schuld und Rückzahlung der Krondarlehen aufzubrechen. Die Voraussetzung für dieses Geschäftsgebaren bildete das prozessualisierte Praxiswissen, wie Wechseltransfers von Messe zu Messe abzuwickeln seien. Die zitierten Schriftstücke lassen den Eindruck entstehen, die am Geschäft mit den Kronanleihen beteiligten Kaufmannbankiers hätten gemeinsam mit Albizzo del Bene die Wirkungsweise des Grand Parti entwickelt  – dass also eine spezialisierte Form des Wissens(Fondazione Carlo Marchi. Quaderni, 14) Firenze 2002. Vgl. zur surintendance: Philippe Hamon, Aux origines de la surintendence, in: Françoise Bayard/Joel Félix/Ders. (Hg.), Dictionnaire des surintendents et contrôleurs généraux des finances du XVIe siècle à la Révolution française de 1789. (Comité pour l’Histoire économique et financière de la France) Paris 2000, S. 3–5. 61 Zum Mechanismus des Grand Parti: Georges Gallais-Hamonno, The Stupendous Modernity of the 1555 ›Grand Parti de Lyon‹ Loan, in: Working Papers (Association Française de Cliometrie) 7, 2009 (ohne Seitenangabe). 62 »[D]e faire payer chacune foire aux marchans, oultre l’interet ordinaire de 4 p(er) c(ento), ung pour cent davantage deduict du principal, a savoir en tout, tant pour le principal que interestz, a raison de 5 p(er) c(ento) par foire et ainsi, avec quinze cent escuz davantage pour chacune foire a moien en dix ans avec six cent mil escuz a l’avantage, S. M. se trouveroit acquitee du principal et interestz de quinze cent mil escuz qui peuvent estre deubs et avec plusieurs autres commoditez at avantage de consequence[.]« (Baudoin-Matuszek/ Ouvarov, Albisse del Bene (wie Anm. 60), S. 277).

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transfers vom prozessualisierten Wissen der Praktikengemeinschaften der sich an Märkten koordinierenden Kaufmannbankiers zum übertragbaren Expertentum auftrat. Dabei ermöglichte dieses Expertenwissen der königlichen Finanzadministration, die Aufnahme königlicher Schuld zu fundieren und den Wechsel- und Kreditmärkten wesentlich anzupassen. Allerdings mahnte Albizzo del Bene vergeblich die Deckelung der aufgenommenen Darlehen an.63 Er sah eine Verbindung zwischen dem Funktionieren des gerade erst eingeführten Mechanismus’ und der Bereitschaft der Kaufmannbankiers, ihrerseits die entsprechenden Verträge einzuhalten. Der in Lyon ansässige Giambattista Botti bemerkte in einem Brief an den Florentiner Kaufmannbankier Pandolfo Attavanti in Venedig am 13. Mai 1560 resigniert: »Was den Grand Parti betrifft: Die [Sache] zieht sich hin aufgrund des geringen Willens zu zahlen. Die Interessierten haben dem Hof zu verstehen gegeben, dass sie sich anstrengen. Nun kann man nichts anderes tun als am Hauptgut ausbezahlt zu werden und fünf weitere Messen [zu warten]. Es wurde eine Verpflichtung erlassen für einen Zeitraum von drei Jahren, innerhalb dessen keine Zinsen [gezahlt werden]. Auf diese Anfrage haben sie nicht geantwortet und haben immer [nur] gesagt, dass sie nur mit dem Hof Einverständnis haben, innerhalb von zwei Jahren Rückzahlungen zu erhalten. [Aber] mit einer Laufzeit ab April 1561 und dann wird es eine Zahlungsanweisung geben, nicht vorher, auf den Zehnt der Kirche und von 470.000 scudi werden sie nur 400.000 scudi haben, den Rest werden sie verlieren und keine Zinsen bekommen.«64

Das Scheitern der Geschäfte mit den Kronanleihen mag eine Folge daraus sein, dass die erdachten Mechanismen zur Finanzierung einer Politik, die anderen Prioritäten folgte, ungeeignet waren. Jedenfalls war die Expertise Albizzo del Benes nicht mehr gefragt und die französische hohe Finanzverwaltung kehrte zu den angestammten Modellen der Aufnahme von Darlehen bei der Deckung mit Steuereinkünften zurück.

63 Ebd., S. 276–281. 64 »Quanto alla cosa del Gran Partito, si vede andare molto in lunga per la poco voluntà ànno di pagare; l’interessati ànno fatto intendere alla Corte si contenterebbono, poy non si può fare altro, essere pagati del principale e più le cinque fiere; n’è fatto l’obrigo in termine di tre anny sanza interesso nissuno e  a questa domanda anchora non ànno risposto  e sempre ànno detto accorderanno con lla Corte d’essere pagati in termine dy dua anny, cominciando a correre al tenpo a aprille de ’61 e alora aranno avere l’asegniamento, e non prima, sopra le decime de’ preti e di  470M ne aranno solo  400M; el resto perdono e non aranno avere interesso nissuno.« (Orlandi, Le Grand Parti (wie Anm. 60), S. 29).

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V. Schluss Das Wissen, das die Kaufmannbankiers benötigten, um ihre komplex angelegten Geschäfte durchführen zu können, war ein Praxiswissen. Dieses Anwendungswissen erwarben sie von Kindesbeinen an  – in Schulen, in der Ausbildungsphase, als junge Kaufmannbankiers – und vertieften es in der Ausübung ihrer Tätigkeiten. Die Spezialisierung auf die Aktivitäten in bestimmten ökonomischen Feldern gestaltete sich als Prozess eines lebenslangen Lernens und vollzog sich bei der Prozessualisierung in der dialogischen Koordination mit Geschäftspartnern. Dabei wurde nicht allein eine Art Grundwissen abgerufen, das als Ressource permanent zur Verfügung gestanden hätte, vielmehr brachten praktische Vorgänge, die von schriftlicher Kommunikation getragen wurden, die Verfeinerung operationalisierten Wissens hervor.65 Die Ausbildung der Kaufmannssöhne in den Netzwerken der Firmen ihrer Väter leistete den entscheidenden ersten Beitrag zur Sozialisierung der jungen Männer in einem merkantilen Milieu – im Zusammenhang des hier diskutierten hohen Grades der Spezialisierung von Wissen in Kohorten von Kaufmannbankiers, die künftig auf den Wechsel- und Kreditmärkten in Antwerpen, Lyon und auf den Kastilischen Messen agierten. Die schriftliche Kommunikation in Briefen führte zur Integration in eine Wissens- und Praktikengemeinschaft. Die merkantilen Korrespondenzen waren so angelegt, dass eine bruchlose Verständigung und Koordinierung geschäftlichen Handelns erzeugt werden sollte. Im Abstimmungsvorgang der Transfertätigkeiten unter der Handlungslogik ausgeglichener Kontenführung entstand ein prozessualisiertes Wissen, das im vorgängigen Vollzug ökonomischer Transaktionen erforderlich war und zugleich seine Bestimmung fand. Zu Experten wurden die an diesen spezialisierten Märkten beteiligten Kaufmannbankiers, wenn ihr Wissen über Märkte und Transfervorgänge außerhalb des Marktgeschehens gefragt war. Sofern ein Kaufmannbankier im Kontext der Herrscherfinanzen zum Finanzier königlicher Darlehen berufen wurde, ereignete sich ein Transfer hoch spezialisierten Wissens in den Bereich der königlichen Finanzadministration. Denn die Verkopplung von binären Schuldbeziehungen zwischen Krone und Bankiers mit den Wechsel- und Kreditmärkten erforderte die Expertise der daran Beteiligten. Dieser Wissenstransfer hatte zwei Seiten: Einerseits verstanden es die Kaufmannbankiers, ihre Fähigkeiten für sich einzusetzen, um nicht als wirtschaftliche Verlierer aus dem Geschäft mit den Kronanleihen hervorzugehen. Sie 65 Über den Zusammenhang von Kommunikation, Wissenstransfer und Netzwerke grundlegend: Christof Jeggle, Interactions, Networks, Discourses and Markets, in: Andrea­ Caracausi/Ders. (Hg.), Commercial Networks and European Cities, 1400–1800. (Perspectives in Economic and Social History, 32) London 2014, S. 45–64.

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selbst trieben die Konstituierung der an die Herrscherfinanzen angelagerten Wechsel- und Kreditmärkte voran, damit sie die Darlehen an die Kronen aufbringen und refinanzieren konnten. Andererseits vermittelten sie als Financiers das erforderliche Expertenwissen an die Finanzadministrationen. Die in Denkschriften an König Heinrich II. von Frankreich und seinen Rat formulierte Expertise Albizzo del Benes exemplifiziert einen solchen Transfer, der in den meisten anderen Fällen nicht belegbar ist.66 Symptomatisch dabei ist, dass die Krone die Expertise von Albizzo del Bene zunächst annahm, sich dann allerdings außerstande sah, die Ratschläge des Bankiers zu befolgen. Dieser Umstand mag auf grundsätzliches Missverstehen beider am Vorgehen beteiligter Personengruppen zurückzuführen sein. Das Expertenwissen der Kaufmannbankiers erscheint in der Konsequenz nicht auf eine andere Praktikengemeinschaft übertragbar, weil diese sich in anderen kommunikativen, praktischen und epistemischen Zusammenhängen konstituierte. Der eingangs zitierte Giovanni Morelli schlug seinen Nachkommen einen Weg zur Aneignung von Wissen vor, der seine Sprösslinge im Kontext des Florentiner Netzwerkes nach Auswärts führen sollte. Aber er intendierte eine selbstorientierte Nutzung des merkantilen Wissens. Für ihn vereinte wirtschaftliche Expertise Nutzen mit Ehrbarkeit.

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Expertise im Dienste der Caritas Die Monti di Pietà zwischen gelehrtem Wissen und Erfahrungswissen »Scoperto e il pio Monte ove scarcato Christian buon cortonese salir puoi A fugar Mammona e i complici suoi Dal perugin legista Fortunato. Costui di doppio sprito perlustrato Contracti quattro giusti mostra a noi Quai son chiamati, s’intender li vuoi: Di presto o pegno e labore e mandato. Prende uno exemplo del gran naturale Che in ver l’altro da l’un quattro elementi Divisi fanno in mortal quinta essentia; Cosi senza peccato veniale Farsi tal Monte et con divi augmenti Dover confesso, senza penitentia.«1

Dieses Sonett mit dem Titel »In montem pietatis F(rater) F(ranciscus) corinthinus« entstand in den 1470er Jahren in der italienischen Stadt Cortona und ist zusammen mit dem Gutachten des Juristen und Theologen Fortunato Coppoli2 aus Perugia (1430–1477), dem »Consilium de Monte Pietatis (Civitas Perusina)« 1 »Entdeckt wurde der heilige Berg vom Perusiner Rechtsgelehrten Fortunato. Dort wird der gute Christ Cortonas erleichtert und kann beginnen den Mammon und seine Komplizen zu vertreiben. Dieser (Fortunato), von zweifachem Geist beseelt, zeigt uns vier rechte Arten von Verträgen, von denen ihr erfahren sollt, wenn ihr wollt: vom Darlehen oder Pfand und Arbeit und Mandat. Nehmt das Beispiel der großen Natur, die aus vier Elementen besteht, welche eine fünfte Essenz bilden. So soll ohne lässliche Sünde durch den Monte und die göttliche Erhebung gebeichtet werden, ohne Buße.« (Zitiert in: Stanislao Majarelli/Ugolino­ Nicolini, Il Monte dei Poveri di Perugia. Periodo delle Origini (1462–1474). Perugia 1962, S. 44, Anm. 1). 2 Fortunato Coppoli wurde als Sohn des Juristen Ivo di Niccolo und Maddalena di Paolo Montesperelli geboren. Er studierte Zivil- und kanonisches Recht bei Giovanni di Pettruc­ cio Montesperelli bzw. Benedetto Capra (Kanonist). Er hatte mehrere Ämter inne, wie das des consulator massariorum comunis Perusii, 1456 wurde er iudex comunis in Perugia. Ob er oder Michele de Carcano der Gründer des Perusiner Monte war, ist umstritten. Jedoch ist Coppoli einer der vehementesten Verteidiger des Monte in den Jahren nach seiner Gründung und wirkte an 13 Gründungen von Monti mit. Vgl. hierzu Vittorino Meneghin, I Monti di Pietà in Italia dal 1462 al 1562. (Studi e testi francescani. Nova serie, 7) Vicenza

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von 14683, überliefert. Wer dieses Gedicht verfasst hat, ist unklar; seine Entstehung scheint eng verknüpft mit der Gründung des Monte in Cortona am 14. Februar 1472 und möglichen Schwierigkeiten, die Institution zu legitimieren, wie sie in einigen Städten auftraten.4 Der Autor empfiehlt die Gründung eines Monte di Pietà, eines christlichen Pfandleihhauses, als Mittel der Wucherbekämpfung. Den guten Christenmenschen Cortonas wird geraten, den Mammon und seine Komplizen (damit sind üblicherweise die Juden gemeint) aus der Stadt zu vertreiben. Dazu hätte Fortunato Coppoli mit der Entdeckung des barmherzigen Monte beigetragen. Fortunato – als Gelehrter des kanonischen und zivilen Rechts von zweifachem Geist inspiriert – habe die vier Gegenstände des Vertrages aufgezeigt, die ein solches Pfandleihgeschäft beinhalte: das Darlehen selber, das Pfand, die geleistete Arbeit und den Auftrag. Die Einteilung des einen Leihgeschäftes in vier Einzelelemente spielte für die Argumentation der Befürworter der damals umstrittenen Monti eine ganz entscheidende Rolle. Es ging also um die Durchsetzung neuen Wissens zum Zwecke der Legitimierung der Zinsnahme durch eine christliche Kreditbank, die nach dem allgemeinen Kirchenrecht bis dato grundsätzlich verboten war.5 Die vier genannten Vertragsgegenstände werden in der dritten Strophe mit den vier Elementen verglichen. Sie bilden eine fünfte Essenz, die wiederum mit dem göttlichen Monte zu vergleichen ist. Die Errichtung einer solchen wohltätigen Einrichtung sei nach Gottes Wille und deshalb gänzlich ohne Sünde. In diesem kurzen Text kristallisieren sich wesentliche Elemente eines Wissens- und Expertendiskurses um die Rechtmäßigkeit einer städtischen Einrichtung und deren Funktionsweise, die seit der Mitte des 15. Jahrhunderts als Teil  einer kirchlichen Sozialpolitik mit den Franziskanern als Protagonisten entstand. Franziskanische Autoren wie Petrus Iohannes Olivi oder Bernardino da Siena avancierten seit dem 14. Jahrhundert zu Experten einer neuen Wirt1986. Biographische Informationen unter www.treccani.it, Dizionario Biografico degli Italiani (letzter Zugriff am 03.04.2013). 3 Cortona, Bibl. Comunale, ms 249.cc39r–45v. Gedruckt wurde das Consilium 1498 in Venedig. 4 Die Gründung folgte Majarelli und Nicolini zufolge, auf eine Predigt des Fortunato. Vgl. Dies., Monte (wie Anm.1), S. 44, Anm. 1. 5 Bemerkenswert ist jedoch die semantische Ambiguität der christlichen Autoren im Hinblick auf die Begriffe usura und interesse. Während usura verstanden als Wucher nach dem Decretum Gratiani alles war, was über die ursprüngliche Darlehenssumme hinausging, also sehr abstrakt definiert wurde, existierten in der Praxis mehrere Formen von Gewinnen (interesse) aus der Nutzung von Gütern – so auch Geld, die durchaus akzeptiert waren. Hierzu kompakt und innovativ: Giacomo Todeschini, Christian Perceptions of Jewish Economic Activity in the Middle Ages, in: Michael Toch (Hg.), Wirtschaftsgeschichte der mittelalterlichen Juden: Fragen und Einschätzungen. (Schriften des Historischen Kollegs, 71) München 2008, S. 1–16. Daneben die klassische Literatur von Benjamin Nelson, The Idea of Usury. From Tribal Brotherhood to Universal Otherhood. Philadelphia 1948; John ­Thomas Noonan, The Scholastic Analysis of Usury. Cambridge/Mass. 1957 sowie Terence Patrick McLaughlin, The Teaching of the Canonists on Usury (XII, XIII and XIV Centuries), in: Medieval Studies 1, 1939, S. 81–147.

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schaftsethik, wie Giacomo Todeschini gezeigt hat.6 In Auseinandersetzung mit dem Armutsideal als gesamtgesellschaftlichem Ideal erfolgte auch und geradezu zwangsläufig die Auseinandersetzung mit den Themen Reichtum, Markt und Handel – also mit der Ökonomie und ihrem Nutzen. Aus dem franziskanischen Diskurs um die Wirtschaft entwickelte sich ein neues Vokabular für eine ökonomische Theorie, die an einen moralischen und theologischen Kontext geknüpft war. Das Thema vom rechten Glauben wurde mit dem Thema des richtigen ökonomischen Handelns verbunden und war Ausdruck des Reformwillens der Franziskanerobservanten.7 Diese Entwicklung mündete schließlich in die Propagierung einer neuen christlichen Institution, die die Geldleihe als notwendiges Mittel der Armutsbekämpfung anerkannte: die Monti di Pietà. Diese »Berge der Barmherzigkeit« waren Pfandleihhäuser und Anlageinstitute für die untere Mittelschicht.8 Sie vergaben Kleinkredite in Höhe von maximal sechs Florin für sechs bis zwölf Monate9 an bedürftige Handwerker, Angestellte und Bauern. Die Klientel der Monti waren also nicht die ganz Armen, sondern 6 Vgl. Giacomo Todeschini, Franciscan Economics and Jews in the Middle Ages: From  a Theological to an Economic Lexicon, in: Steven J. McMichael (Hg.), Friars and Jews in the Middle Ages and Renaissance. (The Medieval Franciscans, 2) Leiden u. a. 2004, S. 99–117. Zur theoretischen Fundierung durch die Scholastiker vgl. zudem den Beitrag von Philip Knäble in diesem Band. 7 Damit ging eine Aufwertung der Rolle des christlichen Händlers als Vorbildfigur einher, der sein Spezialwissen um Preise und Waren, sowie sein Kapital zum Wohle der Christengemeinschaft einsetzte. Dieser wurde so fast zu einem städtischen Laienäquivalent des religiösen Missionars, da er die fidelium communitas auf seine Weise unterstützte und stärkte. Todeschini, Franciscan Economics (wie Anm. 6), S. 110 f. 8 Zu den Monti liegen bisher fast nur aktuelle italienische Studien vor. Einschlägig: Maria Guiseppina Muzzarelli, Il denaro e la salvezza: l’invenzione del Monte di Pietà. (Collana di storia dell’economia e del credito, 10) Bologna 2001; Dies. (Hg.), Banchi ebraici a Bologna nel XV secolo. (Collana di storia dell’economia e del credito, 2) Bologna 1994; Paola Avallone (Hg.), Il »povero« va in Banca. I Monti di Pietà negli antichi stati Italiani (Secc. XV–XVIII). Napoli 2001; Daniele Montanari (Hg.), Monti di Pietà e presenca ebraica in Italia (secoli XV–XVIII). Roma 1999. Die einzige deutschsprachige Monografie ist älteren Datums: P. Heribert Holzapfel, Die Anfänge der Montes Pietatis (1462–1515). München 1903. Ein katalogartiges Verzeichnis bietet Meneghin, Monti (wie Anm.  2); ideen­ geschichtlich: Giacomo Todeschini, Franciscan Wealth: From Voluntary Poverty to Market Society. New York 2009; zur administrativen Praxis: Mauro Carboni/Maria Guiseppina Muzzarelli (Hg.), I Conti dei Monti: Teoria e Pratica amministrativa nei Monti di Pietà fra medioevo ed Età Moderna. Venedig 2008. Englischsprachige Literatur ist rar gesät. Eine Ausnahme bildet das Sonderheft von Renaissance and Reformation, herausgegeben von Nicholas ­Terpstra/Mauro Carboni, The Material Culture of Debt. (Centre for Reformation and Renaissance Studies) Toronto 2012, das interessante neue Fragestellungen eröffnet. Außerdem die Studien von Carol Bresnahan Menning, Charity and State in Late Renaissance Italy: The Monte di Pietà of Florence. Ithaca 1993 und Brian Pullan, Rich and Poor in Renaissance Venice: The Social Institutions of a Catholic State, to 1620. Oxford 1971. 9 Bei diesen Angaben handelt es sich um Durchschnittswerte. Bei der Darlehenshöhe sowie dem Zeitraum der Vergabe zeigen die einzelnen Institute je nach wirtschaftlicher Lage eine gewisse Flexibilität.

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die »pauperes pinguiores«10; jene Personen, deren Ertrag aus eigener Arbeit gerade zur Existenzsicherung, jedoch nicht darüber hinaus ausreichte. Materielle Krisen, die durch Kriege, Hungersnöte und Krankheiten ausgelöst wurden, sorgten bei diesen Menschen aufgrund mangelnder Rücklagen für prekäre Lebensbedingungen. Für das Darlehen mussten die Kunden ein Pfand hinterlegen: In der Regel handelte es sich um Gegenstände wie Stoffe – meist Leinen, Baumwolle oder Seide, Kleidungsstücke, Schmuck, Rüstungsteile, Werkzeuge oder Bücher.11 Begreift man die spätmittelalterliche Stadt als »Cluster von Expertisen«12, so waren es die Franziskaner, die als Prediger und Seelsorger in den Städten die Verhältnisse vor Ort gut kannten und die als Experten der freiwilligen und unfreiwilligen Armut, aber auch der Bekämpfung letzterer auftraten. So entstanden im Laufe von 100 Jahren über 200 solcher Leihhäuser in ganz Italien. Aber noch einmal zurück zum eingangs zitierten Sonett: An diesem Beispiel wird deutlich, dass die Franziskaner und andere Verfechter der Montes Pietatis eine durchaus hohe Kreativität an den Tag legten, wenn es um die Formulierung komplexer Wissensinhalte – wie hier die Rezeption des antiken Vertragsrechts – in einfachen Worten ging. Denn komplex und langwierig war der spätmittelalterliche Diskurs um Wucher und Zins in jedem Fall; und so auch, als es um die strittige Verzinsung von Darlehen ging. Die Bibel ist hierzu sehr deutlich – und zwar konsequent gegen das Annehmen einer zusätzlichen Zahlung auf verliehenes Geld.13 Wurde ein 10 Hierzu Otto Gerhard Oexle, Armut im Mittelalter. Die pauperes in der mittelalterlichen Gesellschaft, in: Heinz-Dieter Heimann, u. a. (Hg.), Gelobte Armut. Armutskonzepte der franziskanischen Ordensfamilie zwischen Ideal und Wirklichkeit vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Paderborn 2012, S. 1–17; Valentin Groebner, Ökonomie ohne Haus. Zum Wirtschaften armer Leute in Nürnberg am Ende des 15. Jahrhunderts. Göttingen 1993. Zur Klientel der Monti konkret vgl. beispielsweise Brian Pullan, Charity and Usury:­ Jewish and Christian Lending in Renaissance and Early Modern Italy, in: Proceedings of the British Academy 125, 2004, S. 19–40. Pullan nennt auch verarmte Adelige und bankrotte Kaufleute – die so genannten poveri vergognosi oder pauperes verecundi – als mögliche Klienten der Monti, insbesondere als es möglich wurde, die Pfandleihe über Vertreter zu tätigen, hier auf den Seiten 23 und 35. 11 Dies geht aus diversen Pfandverzeichnissen hervor. Vgl. beispielsweise die Zusammenstellung versteigerter und nicht versteigerter Pfandgegenstände bei Majarelli/Nicolini, Monte (wie Anm. 1), S. 338–358. 12 Vgl. Frank Rexroth, Systemvertrauen und Expertenskepsis. Die Utopie vom maßgeschneiderten Wissen in den Kulturen des 12.  bis 16.  Jahrhunderts, in: Björn Reich/ Ders./Matthias Roick (Hg.), Wissen maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne. (Historische Zeitschrift, Beihefte N. F. 57) München 2012, S. 12–44, hier 29–32. 13 Einige Beispiele genügen zur Illustration: AT: Dt. 23,20: »Du darfst von deinem Bruder keine Zinsen nehmen: weder Zinsen für Geld noch Zinsen für Getreide noch Zinsen für sonst etwas, wofür man Zinsen nimmt. Von einem Ausländer darfst du Zinsen nehmen, von deinem Bruder darfst du keine Zinsen nehmen, damit der Herr, dein Gott, dich segnet in allem, was deine Hände schaffen, in dem Land, in das du hineinziehst, um es in Besitz zu nehmen. »; Ps. 15,5: »Herr, wer darf Gast sein in deinem Zelt, wer darf weilen

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Darlehen durch einen Monte gewährt, so wurde in den meisten Fällen ein Zinssatz von vier bis zehn Prozent zur Deckung laufender Kosten verlangt. Dass diese umstrittene Maßnahme nötig war, zeigt die häufig allzu prekäre Lage vieler Monti in den Anfangsjahren.14 Die grundlegende Herausforderung der Kreditinstitute bestand darin, das nötige Grundkapital für die Kreditvergabe zu erlangen. Zu diesem Zweck waren die Montes auf Spenden von Privatpersonen oder Körperschaften angewiesen. In Rom wurden dazu beispielsweise ab 1553 in allen Kirchen Kassetten aufgestellt.15 Neben diesen anonymen Kleinstspenden sammelten die Förderer des römischen Monte Gelder während und nach der einmal jährlich stattfindenden Prozession. Hinzu kamen Einzelspenden von Privatpersonen. Die Statuten veranlassten außerdem ab 1545, dass alle für den als Bruderschaft organisierten Monte jährlich zwei carlini spendeten.16 Auch versprach Papst Paul III. in seiner Bulle vom 3. März 1552 einen Plenarablass für alle Förderer des Monte. Schließlich sprach Gregor XIII. am 1. Oktober 1584 dem Monte alle Einnahmen aus Gerichtsverfahren zu, die höher als fünf scudi lagen.17 Zudem fungierte der Monte nun auch als Anlageinstitut. Und auch die Juden wurden zu Zwangs­ anleihen verpflichtet, wie im Falle Perugias, wo der Monte seine Geschäfte erst nach einem Darlehen von 2000 scudi von jüdischen Geldverleihern endgültig aufnehmen konnte.18 Das Leitungsgremium des Monte ergriff also eine ganze Reihe verschiedener Maßnahmen um die Existenz der fragilen Monti zu sichern. Dennoch reichten diese Maßnahmen häufig nicht zur Deckung aller Kosten aus und der Vorstand sah sich gezwungen, einen Zins auf das verliehene Geld zu erheben.

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auf deinem heiligen Berg?« (Ps 15, 1) – »[…] der sein Geld nicht auf Wucher ausleiht und nicht zum Nachteil des Schuldlosen Bestechung annimmt. Wer sich danach richtet, der wird niemals wanken.«; Ezech. 18,8: »Er [der Gerechte] leiht nicht gegen Zins und treibt keinen Wucher.«; NT: Luk 6,34: »Gebt ein Darlehen, aber erhofft dabei keinen Gewinn«; Matt. 6,24.: »Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.« Einige Montes konnten ihre Geschäfte nur schleppend oder gar nicht aufnehmen oder sie mussten schon nach kurzer Zeit wieder schließen. Beispiele sind Bologna oder Genua, siehe hierzu Pullan, Charity and Usury (wie Anm. 10), S. 30 ff. Auch in Perugia verzögerte der Kapitalmangel den Geschäftsbeginn des Monte um ein ganzes Jahr; hierzu Majarelli/ Nicolini, Monte (wie Anm. 1), passim. Zum römischen Monte grundlegend: Donato Tamilia, Il sacro Monte de pietà di Roma: ricerche storiche e documenti inediti: contributo alla storia della beneficenza e alla storia economica di Roma. Roma 1900; Mario Tosi, Il Sacro Monte di Pietà di Roma e le sue amministrazioni: Cassa di Risparmio di Roma. Il banco di depositi, la depositeria generale della R. Camera Apostolica, la zecca, la deposita urbana (1539–1874). Roma 1937. Neuerdings allerdings mit eher fragmentarischem Charakter: Federico Arcelli, Banking and Charity in XVI century Italy. The Holy Monte di Pietà of Rome (1539–84). Leicestershire 2003. Summario delle Indulgentie Faculta et gratie concesse allo benefattori del Sacro Monte della Pieta e l’alma citta di Roma, in: Tamilia, Monte (wie Anm. 15), S. 117 f. Tosi, Monte, (wie Anm. 15), S. 353–355. Majarelli/Nicolini, Monte (wie Anm. 1), S. 134 und 143.

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Um den wucherischen Charakter dieses interesse, den einige Kritiker diesem zuschrieben, wurde in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts heftig gestritten. Wir befinden uns hier an der Schnittstelle der Ablösung der Grundannahme, dass laut Lukas 6, 34 alles, was über die Darlehenssumme hinausginge, Wucher sei. Diese Grundannahme wurde – so die These dieses Beitrags – im 14. und 15.  Jahrhundert und eben auch durch die Auseinandersetzung mit der Zinsnahme der Montes stark relativiert – hin zu einer Lockerung des Wucherverständnisses, ja einer Neudefinition des Wucherbegriffs.19 Dieser Prozess kulminierte schließlich im Beschluss Leos X. des 5. Lateranums von 1515.20 Der folgende Aufsatz wird auf diesen Diskurs und die Rolle von Experten darin eingehen. Ausgehend von den Grundannahmen, die Frank Rexroth 2012 zum Expertenbegriff vorgetragen hat21, werden folgende Leitfragen beantwortet: Welches ökonomische Wissen wird hier geschöpft und verstetigt? Welche Experten werden zu Rate gezogen? Handelt es sich nur um gelehrtes Wissen oder spielt Handlungs- und Erfahrungswissen ebenfalls eine Rolle? Welche Form hat die Expertise und wie wird sie institutionalisiert? Gibt es einen Wissenstransfer hin zur Praxis? Wie wird die Expertise inszeniert? Wer ruft die Experten als solche an? Zur Beantwortung dieser Fragen werden im ersten Teil des Beitrags einige juristische Fachgutachten analysiert, die im Auftrag der Franziskaner und teils von diesen in den 1480er und 1490er Jahren verfasst wurden.22 Die Gutachten sind 19 Nicola Lorenzo Barile betont den Ausgang der franziskanischen Wucherlehre von den traditionellen Positionen der Scholastiker: »The monti di Pieta were a result of the distinct moral theology of the Franciscan Order, which departed from the traditional positions of medieval scholasticism on usury.« (Ders., Renaissance Monti di Pietà in Modern Scholarship: Themes, Studies, and Historiographic Trends, in: Terpstra/Carboni, Conti (wie Anm. 8), S. 85–114, hier 92). 20 »Zur Schadloshaltung der Montes, d. h. für die Kosten ihrer Bediensteten und aller übrigen Dinge, die sich auf den notwendigen Erhalt erstrecken, sei es, wenn die Pfandhäuser keine Gewinne machen, erlaubt, einen maßvollen und notwendigen Betrag über das geliehene Kapital hinaus von denen zu verlangen und zu erhalten, die aus einem solchen Darlehen einen Vorteil schöpfen. Es gibt ja eine Regel des Rechts die lautet: wer den Vorteil hat, soll auch die Last tragen. […] Ein solches Wechselgeschäft verdient Lob und Billigung und soll in keiner Weise für Wucherei gehalten werden. […] Dennoch wäre es viel vollkommener und heiliger, wenn solche Häuser völlig unentgeltlich entstünden, d. h. wenn die Gründer sie mit einem Fonds ausstatteten, aus dem, wenn auch nicht die Gesamtheit, so doch wenigstens die Hälfte der Kosten bezahlt werden könnte, so daß die Armen dadurch mit der Zahlung eines geringeren Schuldenzinses belastet würden. Deshalb entscheiden wir, die Christgläubigen durch größere Ablässe dafür zu gewinnen, solche Häuser einzurichten und mit einem Fonds zur Kostenbeteiligung auszustatten.« (Leo X., Beschluss über die Reform der Pfandleihhäuser (5. Lateranum 1515), Joseph Wohlmuth (Hg.), Dekrete der ökumenischen Konzilien, Bd. 2. Konzilien des Mittelalters. Paderborn 2000, S. 625 f.). 21 Rexroth, Systemvertrauen (wie Anm. 12), S. 22–24. 22 Die meisten Gutachten wurden zeitnah und in Anthologien abgedruckt und sind weitestgehend unediert, wie etwa die Sammlung mehrerer Texte unter dem Titel Pro monte

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nicht nur aufschlussreich im Hinblick auf das neue zirkulierende Wissen um den Zins- und Wucherbegriff und seine Anwendbarkeit, sondern bieten zudem wertvolle Zeugnisse der Selbstinszenierung der Autoren als Experten beziehungsweise die Anrufung anderer Verfasser als solche. Die Frage, wie der Transfer und die Institutionalisierung dieses neuen Wissens geschahen, wird anhand von Predigten und öffentlichen Streitgesprächen beantwortet. Daneben bilden diese Quellen die Inszenierung von Expertise hervorragend ab. In einem dritten Schritt wird schließlich das Erfahrungswissen der Beamten der Monti als Expertenwissen thematisiert. I . Neues und altes Wissen und Expertise im Spiegel

des Zinsdiskurses – die juristischen Fachgutachten Die verschleierte Verzinsung von Darlehen stellte im Mittelalter eine gängige Praxis bei der Kreditvergabe dar, wie die Forschung zur Kreditgeschichte23 in vielfältiger Weise gezeigt hat. Die hierbei sichtbare Kluft zwischen Wirtschaftspraxis und Theorie wurde jedoch nur langsam geschlossen. Die Legitimität einer Kompensation oder Entschädigung bei entgangenem Gewinn oder Zahlungsverzug war immer wieder Gegenstand theologischer Traktate – und flammte erneut und heftig auf, als auch christliche Institutionen wie die Monti offen ein interesse annahmen. Diesem Problem versuchte man durch die EinPietatis. Consilia sacrorum Theologorum ac colleiorum Patavii & Perusii. Clarissimorumque doctores dd. Ioannis Baptistae Rozelli & Ioannis Campegii. Cum bulla ac brevi dato fratri Bernardino Feltresi Sanctissimi Pape Innocentii Octavi. Venedig, 1495/98 in der Bayerischen Staatsbibliothek – 4 Inc.s.a. 152 d. Drei weitere prominente Texte sind das Consilium montis pietatis a fratre Fortunato perusino editum, die Appollogia fratris Ludovici de la ture contra cuiusdam invectiva sowie die Confutatio questiuncule contra montem pietatis fratris Philippi de Rotingo, alle in einem Druck aus Venedig von 1498 der Inkunabelbibliothek der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel: 173-1-quod-4. 18 dieser Gutachten liegen mittlerweile als Edition mit Übersetzung vor: Severio Amadori, Nelle bissacce di Bernardino da Feltre: Gli scritti guiridici in difesa dei monti di pietà. Bologna 2007. 23 Vgl. dazu Laurence Fontaine, L’Économie Morale: Pauvreté, crédit et confiance dans l’ Europe preindustrielle. Paris 2008; Gabriela Signori, Schuldenwirtschaft, Konsumenten- und Hypothekarkredite im spätmittelalterlichen Basel. (Spätmittelalterstudien, 5) Konstanz 2015 sowie die Vielzahl der Werke von Hans-Jörg Gilomen, darunter Wucher und Wirtschaft im Mittelalter, in: Historische Zeitschrift 250, 1990, S. 265–302; Ders./­ Sébastien Guex/Brigitte Studer (Hg.), Von der Barmherzigkeit zur Sozialversicherung. Umbrüche und Kontinuitäten vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert. De l’assistance à l’assurance sociale. Ruptures et continuités du Moyen Age au XXe siècle. (Schweizerische Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 18) Zürich 2002; Ders., Die ökonomischen Grundlagen des Kredits und die christlich-jüdische Konkurrenz im Spätmittelalter, in: Eveline Brugger/Martha Keil/Birgit Wiedl (Hg.), Ein Thema – zwei Perspektiven. Juden und Christen in Mittelalter und Frühneuzeit. Innsbruck u. a. 2007, S. 139–169. Ebenso Diana Wood, Medieval Economic Thought. Cambridge 2002.

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schaltung von Experten des Zivil- und Kirchenrechtes zu begegnen. Diese Bemühungen mündeten in einer ganzen Reihe von consilia für und gegen die Zinsnahme der Montes. Hélène Angiolini definiert die consilia als das Reflexionsmedium für wirtschaftsethische Fragestellungen im 14. und 15. Jahrhundert. Sie behandeln ein weites Themenspektrum, unter anderen das zentrale Thema Vertragsrecht (und hier insbesondere die Ausnahmeregelungen für Zinsnahme: lucrum cessans, damnum emergens, stipendium laboris, periculum sortis), weiterhin Wechsel­ geschäfte, öffentliche Schulden und Monti Communi, Konsumkredit, Pfandleihe und die Rolle der Juden. In den Gutachten wird die Idee des »bonum publicum« und der »utilitas commune« weiterentwickelt: Vor allem durch die Beteiligung der Armen am Wirtschaftskreislauf wird Gerechtigkeit hergestellt  – eine Idee, die im Kontext des veränderten Armutsverständnisses und der Rolle von Arbeit seit dem 13.  Jahrhundert aufscheint.24 Die Gutachter zu den Monti selbst formulierten so auch deutlich den Zweck ihrer Expertisen, wie etwa der Franziskaner und studierte Jurist Bernadino de Bustis25 in seinem »Defensorium Montis pietatis contra figmenta omnia aemulae falsitatis«26. Um jeden Zweifel aus den Herzen der Unwissenden zu beseitigen, hätten viele Experten (»peritissimi«) beider Rechte Gutachten zur Rechtfertigung der Monti herausgebracht.27 Er wendet sich zudem mit deutlichen Worten an die Gegner und betont die Qualifikation der Gutachter. Diese seien allesamt höchst weise Männer und Doktoren der Universitäten Perugia, Padua, Siena, Florenz und Piacenza und vermöchten deshalb jedweden Zweifel aus dem Weg zu räumen.28 Dieses Gutachten steht im Kontext einer Auseinandersetzung zwischen Franziskaner­ obser­vanten als Verteidiger einer neuen Institution, wie de Bustis, und Kritikern, wie der Augustinereremit Niccolo Bariani (1440–1503), der den Vorwurf 24 Hélène Angiolini, I consilia quale fonte per la vita economica: alcuni problemi, in: Mario Ascheri/Ingrid Baumgärtner/Julius Kirshner (Hg.), Legal Consulting in the Civil Law Tradition. (Studies in Comparative Legal History) Berkeley 1999, S. 293–315. 25 Bernardino war Sohn eines Juristen und stammte aus Mailand. Er selbst studierte in­ Pavia Recht und wurde zwischen 1475 und 1476 Franziskaner. Dass Experten den Diskurs zum Zins und Wucher leiten, wird an vielen Stellen des Textes klar. Bereits zu Beginn des Gutachtens nennt de Bustis Elidorus da Cremona vom Orden der Karmeliter und Befürworter des Monte einen doctor peritissimus (vgl. Amadori, Bernardino da Feltre (wie Anm. 22), S. 136). 26 1497 erstmals gedruckt von Ulrich Scinzenzeler in Mailand. Abgedruckt und übersetzt bei Amadori, Bernardino da Feltre (wie Anm. 22), S. 143–169. 27 »Ad tollendam atque omnem dubitatem de cordibus ignorantium multi singulares viri ­iuris utriusque peritissimi specialia super predicti montis iustificatione clarissimaque consilia ediderunt.« (Ebd., S. 146–147). 28 »O igitur indurati adversarii montis. Si nunquam essent alie probationes, deberetis tot sapientissimorum hominum acquiescere consilio et determinationi, quales sunt omnes doctores Perusii, Padue, Senarum, Florentie, et Placentie qui nemine discrepantie hoc affirmant.« (Ebd., S. 136).

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der »impietas« erhob und diesen in seiner 1496 erstmals gedruckten Schrift »De Monte Impietatis« deutlich formulierte.29 I.1 Neues Wissen – Gutachten und Zinsdiskurs

Das ›neue‹ Wissen, welches in den genannten Gutachten aufscheint, diente weitestgehend der Legitimierung der Zinsnahme in den Monti. Zinsen zu nehmen, war nach der Gründung des ersten Monte 1462 in Perugia sehr umstritten. Die meisten Montes versuchten zunächst Darlehen zinsfrei zu vergeben. Erst später setzte sich flächendeckend ein Zinssatz von vier bis zehn Prozent durch. Der ersten Gründung folgte ein Gutachten des bereits im eingangs zitierten Sonett genannten Perusiner Juristen und Franziskaners Fortunato Coppoli. Grundlage seiner Stellungnahme war eine Neuinterpretation des Darlehensvertrags, den ein Schuldner mit einem Monte abschloss. Wie oben erwähnt, argumentierte er im Sinne einer Vierteilung des Vertrages.30 Dessen Gegenstände waren zum einen das Darlehen selber, zum anderen das Pfand. Die Verträge über diese beiden Gegenstände wurden zwischen dem Darlehensnehmer und dem Monte als städtischer Einrichtung geschlossen. Die zwei verbleibenden Gegenstände der Arbeit und des Mandats wurden hingegen als Verträge zwischen Privatpersonen definiert. Diese hafteten persönlich für die Einhaltung des Vertrags. Der Beamte des Monte leistete demnach einen Dienst, indem er die Pfänder auf­ bewahrte und das Geld auszahlte, wofür er eine rechtmäßige Entschädigung verlangen durfte. Dieses »stipendium laboris« als das zentrale Argument neben der karitativen Intention der Geldleiher taucht in fast allen Gutachten dieser Zeit auf.31 Der Passus »facio ut des« rückt das Mandat als entscheidendes Ele29 Nicolo Bariani, De Monte Impietatis, in: Dorothei Asciani S. S. Theol. D. Montes Pietatis Romanenses: Historice, Canonice, Theologice, detecti; Praemittitur Iustus Tractatus De Nervis Rerum Gerendarum Roman. Eccles., gedruckt von Matthias Zimmermann. Leipzig 1670, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, https://www. deutsche-digitale-bibliothek.de/item/CS36NT4TXBJXQF3UUDRCHXYS5L72 BLUM (letzter Zugriff am 21.06.2016). 30 »Primo (…) contractus mutui, secundo contractus pignoris, tertio contractus locationis seu contractus innominatus ›facio ut des’, quarto et ultimo contractus mandati. Primi duo, scilicet contractus mutui et pignoris celebrantur inter communitatem et particulares mutuatarios, seu pignorantes, mediantibus istis officialibus qui nomine communitatis mutuant et recipiunt pignora, (…) Religui vero duo contractus locationis et mandati celebrantur inter ipsos mutuatarios et illos officiales ad eorum comodum et incomodum et sic ab ipsi officialibus non nomine communitatis sed ut a privatis personis.« (Fortunato Coppoli, Consilium, c.2va: Zitiert bei Amadori, Bernardino da Feltre (wie Anm. 22), S. 29). 31 So etwa auch bei Filippo de Rodingo in seiner 1493 entstandenen Confutatio questiuncule contra montem pietatis, die 1498 in Venedig zusammen mit Fortunatos Gutachten und anderen Texten gedruckt wurde und mehrfach als Digitalisat vorliegt; z. B. der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Dort schreibt dieser: »Pecunia igitur in proposito non parit pecuniam, sed labor optat premium et parit mercedem«. Fol. 44.

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ment des Vertrages in den Mittelpunkt. Hier geht es um die Berechtigung einer Handlung mit dem Ziel, einen anderen zum Geben zu bewegen. Zugleich kann hierin ein Beleg für die Rezeption des vielschichtigen römischen Vertragsrechts des »Codex Iustinianus« gesehen werden.32 Diese Neuauslegung des Vertragsrechts nach zivilem römischen Recht fand rege Verbreitung in den Predigten der Befürworter der Monti – unter ihnen der prominenteste Bernardino da Feltre und Fortunato selbst, der als Prediger in den 1470er und 1480er Jahren tätig war. Er führte auch im April 1473 ein entscheidendes öffentliches Streitgespräch in Santa Croce in Florenz, dessen Thema der Wuchervorwurf gegen die Monti war und aus dem er siegreich hervorging.33 Um die Inszenierung der eigenen Expertise in den Gutachten geht es auch bei Bernadino de Bustis. Darin fasst er zunächst den Stand der Argumentation zur Zinsnahme und der Wohltätigkeit der Monti zusammen und beruft sich ausdrücklich auf die Expertise derjenigen, die bisher Gutachten verfasst haben – wie eben auch Fortunato. Dieses Gutachten fällt in die zweite Phase der Auseinandersetzung mit der Kreditpraxis der Monti in den 1490er Jahren. Es beginnt mit der Feststellung, dass religiöse Männer, wie Michele de Carcano oder Marco da Bologna und Cherubino da Spoleto, bereits die Rechtmäßigkeit der Verträge und des Zinses der Monti festgestellt hätten. Zudem sei die Wahrhaftigkeit ihrer Aussagen durch vielfache Wunder (sic) bestätigt, die sie sonst noch vollbracht hätten. Im Gegensatz dazu hätte kein einziger der Gegner der Monti Wunder bewirkt.34 Das Gutachten nimmt Bezug auf die Gutachten der Juristen von Perugia, Padua, Siena und Florenz, die de Bustis alle selber vor Augen hatte, wie er schreibt. Darin fasst er ihre Inhalte zusammen und betont die hohe Qualität dieser Expertentexte. Im ersten Teil des Textes nennt de Bustis drei Conclusiones zur Rechtmäßigkeit der Zinsnahme.35 32 Hierzu die monumentale Abhandlung Reinhard Zimmermanns, The Law of Obligation. Roman Foundations of the Civilian Tradition. Cape Town u. a. 1990, besonders S. 534 f. 33 Zum Wirken Fortunatos vgl. Alberto Ghinato, Un propagatore dei Monti di Pietà del 400: P. Fortunato Coppoli da Perugia, in: Studi e Documenti intorno ai primitivi Monti di Pietà. (Studi e Testi francescani, 25, Teilbd. IV) Rom 1963, S. 37–59. 34 »Tutto ciò giustifica il Monte poiché i miracoli sono una testimonanza più che sufficente per provare la verità«, Ebd., S. 135. 35 »Conclusio prima est quod pro expensis et oneribus et salariis etcetera, aliquid accipere usque ad concurrentem quantitatem dictarum expensarum nulla prorsus dici potest usura vel peccatum. Ex qua inferitur correlarium, quod dici debet opus pium, sanctum et caritate plenum et quod contraria sentiens dogma perversum habet. Et falsas ac novas gignit Il opiniones. Et si daretur audacia verbis inherendo glose in Cle. Prima. Extra De usur. In glo. Pe. (…) Secunda conclusio est quod massarii seu depositarii ellecti nullatenus peccant. Ex qua correlarium inferitur quod definiri ministri pietatis merentur. Tertiua conclusio quod illa excresentia cum in casu predicto non efficiatur in dominio alicuius ex ministris nec etiam communitatis nec elargentium monti aliquo modo non potest dici usura. Ex qua infertur correlarium quod dola retentio fulcita recto et iusto animo restituendi, modo de quo in capitulis non nutrit peccatum. Et quod mons

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Etwas später fasst de Bustis dann die Schlussfolgerungen des Gutachters Gerolamo Carenzoni gegen Niccolò Barianis Schrift »De Monte impietatis« zusammen.36 Demnach seien die Monti nicht gegen das Evangelium. Ihre unternehmerische Tätigkeit produziere keinen Gewinn und keinen Betrug, sondern sie helfe den bedürftigen Armen. Die ganze Welt strahle im Glanz dieser wohltätigen Einrichtung, die keinen unrechtmäßigen Vertrag schließe. Eine Arbeit, die geleistet werde, werde entlohnt, ein Haus gegen Bezahlung gemietet, der Mons behalte jedoch keinerlei Geld für sich. Der einzige Grund für die Existenz des Monte sei daher, den Armen zu helfen. Diese Barmherzigkeit schaffe nur Gutes, nichts Schlechtes. In gleichem Ton folgen weitere, insgesamt zehn Conclusiones. Die zehnte Schlussfolgerung sei noch zitiert, da sie die Verwendung von konkreten Fallbeispielen zur Illustration des Sachverhaltes und damit eine Abkehr von der rein theoretischen Argumentationsweise früherer Gutachten verdeutlicht: »Ein Zimmermann oder ein armer Lastenträger, der ein Darlehen erhalten hätte, müsse die Rechtmäßigkeit einer Entschädigung für den Darlehensgeber anerkennen, da diese sowohl den Armen helfen als auch zur Anregung der Barmherzigkeit nützlich sei. Warum solle also der Monte die Arbeit eines Mannes weniger anerkennen als sein allgemeines Wirken zum Wohle der Armen? In gleicher Weise werden die Spesen des Monte nach der Höhe des Darlehens kalkuliert. Diese Spesen werden nicht für das Darlehen selber gezahlt, sondern für die geleistete Arbeit.«37

Mithilfe eines Gleichnisses, das jedem verständlich und einleuchtend erschei­ nen musste, wird hier das »stipendium laboris« mit der allgemeinen caritas gleichgesetzt. Die Expertise der Gutachter wird nun an vielen Stellen thematisiert. Deutlich wird sie zum Ausdruck gebracht, nachdem de Bustis erneut sieben Collorationes angebracht hat, die auf verschiedenen Gutachten von Gelehrten aus Mailand fußen. Er formuliert: »Predictum etiam montem licitum esse patet ex determinatione sapientissimorum doctorum consilii secreti illustrissimi ducis Mediolani […]«.38 Um alle weiteren Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Monti zu zerstören, hätten Experten beider Rechte und der Theologie berühmte Gutachten, wie eben das des Fortunato Coppoli zugunsten des Monte, erstellt: pietatis factus auctoritate episcopi dicitur locus pius, et illi conpetunt omnia privilegia ecclesiarum quatenus ei adaptari possunt, hec illi.« (Amadori, Bernardino da Feltre (wie Anm. 22), S. 134 ff.). 36 Ebd., S. 136 f. 37 »Carpentarius et vilis valde baiulus in delatione mutui merito precio a mutuatario debet recognosci etiam si pauperi non inserviatur nec stimulo caritatis. Cur ergo pietas huius equissimi montis non recognoscet obligationem onerosam valde hominis et notabilis industrie et bone erga pauperes voluntatis? Similiter enim in proposito onus quantitati­ mutuate commultiplicatur. Ideo ex onere damnoso: ut omnes concedunt licere hic recte accipitur non ex usumutui mensurantes.« (Ebd., S. 140). 38 Ebd., S. 144.

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»Zur Beseitigung aller Zweifel aus den Herzen der Unwissenden veröffentlichten zahlreiche einzigartige höchst gelehrte Männer des Rechts einige glänzende Gutachten über die Rechtmäßigkeit der genannten Montes. Unter ihnen war auch Bruder Fortunatus aus Perugia dessen Gutachten unterzeichnet und bestätigt wurde von jenen hier aufgeführten Doktoren deren Unterschriften sind […].«39

Das Gutachten de Bustis besteht zu weiten Teilen aus der Nennung von Namen, ja ganze Namenslisten werden aufgeführt um zu belegen, wie groß die Menge der profilierten und arrivierten Unterstützer der Monti ist. Bernardino führt an der Stelle, an der er das Gutachten Fortunatos bespricht, nun keine Auszüge aus dem Gutachten selbst, sondern alle Namen der Unterzeichner an. Diese Expertenliste listet insgesamt 47 Namen auf, darunter Theologen und Juristen des Florentiner Kollegs. Die Mehrzahl der Gutachter bezeichnet sich selbst als Magister, Doktoren oder Professoren der Theologie; 19 bezeichnen sich als Dok­ toren oder Professoren beider Rechte40. Die akribische Aufzählung der Namen der Gutachter verweist auf die Inszenierung der Autorität de Bustis im Streit um das interesse: die vorgebrachte Zahl und Qualifikation der Personen sollen das Gesagte untermauern. Auch die Bezeichnung einiger Experten zeigt den Stellenwert ihrer Expertise. So bezeichnet der Autor den päpstlichen Lektor Benedetto de Benedetti da Perugia, als »iuris utriusque doctor clarissimus qui dicebatur doctor veritatis.«41 Die Legitimität der Gründung von Monti di Pietà wird also wesentlich begründet und gestiftet durch die Autorität der Experten. Die Expertise von Theologen und Juristen wird hier zum Maßstab für ein Gelingen von sozialpolitischen Initiativen. Begriffe wie Wahrheit werden direkt mit dem Expertenbegriff verknüpft: Experten lösen Probleme und Konflikte, sie deuten Begriffe wie Wucher und Zins neu. De Bustis Text ist zudem ein gutes Beispiel für seine Selbstinszenierung innerhalb einer Textgattung. Die eigentlichen Argumente der Gutachten, wie die Auslegung des Vertragsrechtes, die Rolle der »intentio« und die verschiedenen Ausnahmen bei Darlehen gegen Zinsen treten in diesen Gutachten in den Hintergrund zu Gunsten der Aufzählung von Namen und Qualifikationsgrad der Gutachter. Anhand dreier Quellentypen soll im Folgenden gezeigt werden, wie und von wem das neue Wissen um die Monti verstetigt wurde: den Predigten, dem öffentlichen Streitgespräch und den Statutenexten der Montes.

39 »Ad tollendam atque omnem dubitatem de cordibus ignorantium multi singulares viri ­iuris utiusque peritissimi specialia super predicti montis iustificatione clarissimaque consilia ediderunt. Inter quos fuit frater Fortunatus de Perusio cuius consilium subscriptum fuit et approbatum ab infrascriptis doctoribus quorum subscriptione sunt…«., (Ebd., S. 146). 40 Ebd., S. 147–153. 41 Ebd., S. 152.

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II . Wissen wird verstetigt – Predigten und Streitgespräche II.1 Die Predigten des Bernardino da Feltre (OFM, 1439–1494)

Dass die Gutachten direkte Verwendung durch die zahlreichen Franziskanerprediger fanden, die als vehemente Verfechter des Monte auftraten, zeigt die Überlieferung einer Reihe von consilia, die der berühmteste Befürworter der Monti, Bernardino da Feltre, mit sich führte und die er als Grundlage seiner Predigten verwendete.42 Bernardino stammte aus der adeligen Familie der T ­ omitani aus Feltre, er trat nach dem Rechtsstudium in Padua in den Franziskanerorden ein und wurde 1463 zum Priester geweiht. Seit dem Jahr 1469 bis zu seinem Tod zog er predigend durch Nord- und Mittelitalien, wo er die Gründung zahlreicher Monti initiierte beziehungsweise sogar selbst vornahm.43 Er widmete die letzten zehn Jahre seines Lebens (1484–1494) der Verteidigung und Propagierung des Monte. Dass er dabei auch 18 juristische Gutachten44 von Universitätsgelehrten quasi in seiner Satteltasche mitführte, geht aus zwei Quellen hervor. In einer Abhandlung des Franziskaners Antonio Tauro da Feltre von 1791, der einige Jahre im Convent von Santo Spirito in Feltre residierte, erwähnt dieser, dass er dort ein Buch fand, das Bernardino angeblich immer mit sich führte. Antonio schreibt in seiner Schrift von einem Buch »[…] im Quartformat, das einzigartig in der Welt genannt werden kann und das neben anderen Anekdoten auch 18 Gutachten enthält; daneben andere Druckwerke und Manuskripte; aber alles sind Originale, die Bernardino von zahlreichen Universitäten Italiens geschenkt wurden oder von den berühmtesten Theologen jener Zeit, die sie auf seine Bitte hin verfasst haben zur besseren Regulierung der an jenen Orten von ihm selbst gegründeten Pfandleihhäuser.«45

42 Hierbei handelt es sich um die 18 von Amadori, Bernardino da Feltre (wie Anm.  22), edierten Gutachen. 43 Meneghins Katalog verzeichnet 32 Orte, an denen die Gründung des Monte u. a. auf­ Initiative Bernardino da Feltres zurückging. Alleinige Gründungen durch ihn waren: Mantua (1484), Faenza (1491), Padua (1491), Piove di Sacco (1491), Ravenna (1491), Camposampiero (1492). Vgl. Meneghin, Monti (wie Anm. 2), passim. 44 Unter den Autoren der Gutachten waren berühmte Theologen wie Gomez da Lisboa, Franziskaner und Theologe, der an der Sorbonne studierte. Ebenso Giovanni Nanni da Viterbo aus dem Predigerorden. »Il compito affidato agli esperti era quello di dimostrare che il mutuo concesso dagli ufficili del Monte e il suvrappiu da loro ricevuto a titulo di rimborso delle spese non era usura.« (Amadori, Bernardino da Feltre (wie Anm. 22), S. X). 45 »Un libro in quarto, che puo dirsi unico al mondo, contenente, oltre qualche aneddoto, diciotto Consigli, e altri stampati e altri manoscritti, ma tutti originali, dati allo stesso B. Bernardino de parecchie Università dell’Italia, o dai piu celebri teologi di quiei tempi, da lui richiesti per ben regolarsi nell’erezione dei Monti di Pietà fondati dal medesimo in tanti luoghi.« (Antonio Tauro da Feltre (1791), zit. bei Amadori, Bernardino da Feltre (wie Anm. 22), S. 41, Anm. 184).

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Dieses enthalte neben Anekdoten auch 18 consilia, andere Druckwerke und einige Manuskripte – alle im Original – die Bernardino aus verschiedenen Universitäten Italiens erhalten habe. Von den berühmtesten Theologen jener Zeit erbat er Schriften, um die Gründung der Monti an den jeweiligen Orten zu regulieren. Der Band wurde geteilt und eine Hälfte ist in der Universitätsbibliothek von Padua als Kodex 455 überliefert. Aus dem ersten Band ist lediglich der Index der ehemals enthaltenen Schriften erhalten.46 Auch der Biograph da Feltres, Bernardo Guslino, beschreibt in seiner Vita (in Kapitel 17, Paragraf 2) wie Bernardino sich darum bemühte, Breven, päpstliche Schreiben und Gutachten sowie die Statuten (»capitoli«) bereits bestehender Monti (von Florenz und Siena) zu erhalten, auf deren Basis er sein Wissen um die Etablierung der Monti im Diskurs seiner Zeit erweitern und in seinen Predigten anwenden konnte. Der Prediger, der heute vor allem für seine antijüdische Polemik bekannt ist, erscheint hier als akribischer Sammler von Expertentexten, die seine eigene Autorität untermauern sollten. Gutachten, Statuten und päpstliche Erlasse boten einen Fundus an neuem Wissen und Autorität, die sicherlich ein Basiselement des Erfolges seiner Predigten darstellen. Er verdichtete und präzisierte das Vokabular, so dass die Inhalte für einen größeren Zuhörerkreis verständlich wurden. Man könnte formulieren, dass es sich also um einen direkt nachweisbaren Wissenstransfer handelt, der das Expertenwissen um die Rechtmäßigkeit der Zinsnahme zu Anwendungswissen werden ließ. II.2 Öffentliche Streitgespräche

Die zweite Ebene, auf der sowohl der Wissenstransfer als auch die Selbstinszenierung der Experten stattfanden, waren öffentliche Streitgespräche, die in den 1480er und 1490er Jahren in einigen italienischen Städten wie Florenz,­ Mantua, Faenza und Cremona geführt wurden. Schauen wir uns erneut das Gutachten Bernardino de Bustis von 1497 an. In diesem inszeniert er sich selbst als Teil einer Riege von Experten und führt dabei das Beispiel einer erfolgreichen Verteidigung der Monti durch einen Franziskaner an. Lancillotto Decio  – der höchstbekannte Doktor beider Rechte, dem Mailänder und Lektor an der Universität von Pavia (»famossimo dottore in entrambi i diritti, milanese e lettore nello studio di Pavia«) – besiegte seine Gegner in einem öffentlichen Streitgespräch.47 46 Ebd., S. 43 ff. 47 »Dominus quoque Lanzalotus de Decio iuris utriusque doctor celeberrimus mediolanensis atque in studio papiensi legens idem consuluit particulari consilio super hoc edito et ut ipse mihi retulit ore proprio cum casu ad terram Prati Tuscie devenisset et ibi quosdam religiosos magistros se in theologia facientes invenisset qui contra beatum patrem fratrem Cherubinum de Spoleto diputare volebant impugnando montem pietatis ipse dominus Lanzalotus onus respondendi accipiens prefatos omnes montes adversarios in publica disputatione superavit. Et predictus fuit magister meus in studio papiensi.« (Ebd., S. 158).

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Lancilotto trat nicht nur als Protagonist eines erfolgreichen Disputs zur Verteidigung des Franziskanerpredigers Chrubino da Spoleto auf, sondern war – so ergänzt Bernardino – auch sein späterer Lehrer in Pavia. Diese öffentlichen Dispute als Gelegenheiten der Inszenierung der Expertise wurden häufiger ausgetragen. Dabei wurden auch päpstliche Bullen zugunsten der Monti gezeigt und verlesen, so wie in Narni, wo das Streitgespräch 1487 in der Kathedrale unter Anwesenheit des Bischofs, des Gouverneurs und Prätors sowie vieler Adeliger und des ganzen Volkes stattfand.48 Die gegnerischen Diskutanten waren auf zwei Seiten aufgestellt. Auf der einen Seite diejenigen, deren Ordenszugehörigkeit der Autor nicht nennen möchte, »um nicht den Hass der Menschen auf diese zu lenken«49. Auf der anderen Seite standen die Franziskanerobservanten. Leider wissen wir nichts über den genauen Verlauf des Streitgesprächs und die dabei ausgetauschten Argumente – doch kennen wir seinen Ausgang. Die hier angesprochene Öffentlichkeit durch das gesamte Volk, den Gouverneur der Stadt, den Bischof sowie weitere wichtige Persönlichkeiten der Stadt, darunter eine Vielzahl angesehenster Doktoren, kann als wichtiges Moment bei der Inszenierung von Expertise gesehen werden. Dazu kam die anschließende Präsentation einer päpstlichen Bulle, die den Monte von Narni bestätigte, ebenso wie die Gutachten und der Statutentext als konstitutiver Akt. Über ein weiteres Gespräch wird für das Jahr 1493 aus Cremona berichtet.50 Dort verkündete der Paduaner Rechtsexperte Giacomo da Marenzio öffentlich die Rechtmäßigkeit des Zinses und drohte denjenigen mit Exkommunikation, Laien oder Religiosen, die das Gegenteil verkündeten oder predigten oder die auf andere Weise die Ausweitung des Monte verhinderten. Danach seien die Verlierer in ihr Kloster zurückgekehrt und hätten die Glocken geläutet. Dies hätte den Menschen den Eindruck gegeben, diese hätten den Disput gewonnen – man zwang darauf den Vorsteher des Klosters zum öffentlichen Eingeständnis der Niederlage.51 48 »In altero etiam instrumento continebatur qualiter etiam illustris dominus d. Bertholameus de Ruere, gubernator dicte civitatis Narnee visa et intellecta pulcra disputatione facta in cathedrali ecclesia narniensi in presentia prefati domini Karoli episcopi antedciti et prefati domini gubernatoris et pretoris et multorum preclarissimorum doctorum et coram omni populo inter fratres ordinis cuisdam ex una parte, qui ibi nominantur specifie, sed ego eos non nomino ne eos omnibus populis exosos reddam qui asserebant capitula dicti montis civitatis perusine mantuane usurarium pravitatem continere et continetur peccatum mortale. Et fratres minores de observatia ordinatores dicti montis piissimi ex alia. Sic etiam visis predictis capitulis et consiliis et copia predicte bulle, dictum montem narniensem tanquam pium iustum et sanctum approbavit et confimavit observarique mandavit sub pena ducatorum centum camere apostolice irremissibiliter applicandorum prout plenius et latius in dictis instrumentis continetur.« (Ebd., S. 164). 49 Ebd. 50 Siehe Ebd., S. 164 ff. 51 De Busti nennt ebenfalls andere Orte öffentlicher Disputationen wie Piacenza, Mantova und Faenza, Ebd., S. 167.

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Als dritten Quellentypus, in dem der angesprochene Wissenstransfer und das Streben nach Professionalisierung inhaltlich deutlich wird, werden nun einige Statutentexte analysiert. Im Gegensatz zum neuen Wissen um das interesse soll an dieser Stelle das durch Praxis erworbene Erfahrungswissen in den Fokus rücken. III. Erfahrungswissen als Expertenwissen –

ein Blick in die Statuten Die Statuten einiger Montes belegen, dass das alltägliche Funktionieren der Pfandleihe garantiert werden sollte durch den Einsatz von Experten mit Erfahrungswissen. Beispiele hierfür finden sich in einigen Statutentexten, die festlegten, dass die Qualitätskontrolle der Pfänder und deren Aufbewahrung durch Fachleute wie Goldschmiede oder Tuchmacher/Schneider geschehen sollte. In den Statuten des Monte von Macerata finden sich zwei kurze Bestimmungen dieser Art: »XII. Der Goldschmied, der die städtische Waage verwahrt, soll gratis das Silber wiegen; und wenn er dies nicht gewissenhaft tut, so haftet er selbst für den Schaden. XIII. Die ehrwürdigen Herren Prioren wählen während ihrer Amtszeit für drei Wo-

chen während drei Monaten einen Schneider aus der Stadt, der gratis und unter Eid die Pfänder in Form von Stoffen bewertet.«52

In Perugia wissen wir von den Berufen der ersten Beamten des 1462 gegründeten Monte: Diese waren Händler (mercanti) und Geldwechsler (cambiavalute), im Rat der zehn camerlenghi waren vier aus der Zunft der Mercanzi und ein­ auditor del cambio. Zudem bestand das Kontrollorgan und Rechtsinstanz, also die Auditoren, die die Bücher des Monte einmal pro Jahr prüften, aus Experten, die aus der Zunft der Händler beziehungsweise Geldwechsler stammten.53 Aus dem Kapitel über die Wahl des Depositarius des Perusiner Monte am 22. April 146254 geht hervor, dass der gewählte Gasparre di Francesco di Mateo 52 »XII . Aurifex, quo tenet pondera Comunis, gratis sagiet argenta; et si non bene sagiaret, ipse teneatur de suo refundere. XIII . Magnifici domini Priores, pro tempore existentes, eligant de tribus mensibus in tres menses unium sotorem de Civitate, qui gratis et cum iuramento extimet pignora pannorum.« (I capitolo del Monte Pio di Macerata del 1468, in: Maurice Weber, Les origines des Monts-de-Pieté. Rixheim 1920, S. 97). 53 »Como li consoli et auditore siano iudici nelle controverse del Monte, capitulo 22: Item che nelle controversie le quale potessono nassciere nel ditto Monte ni sieno iudici li consoli de la Mercanthia et li auditori del Cambio che per li tempi saranno, li quali sieno tenute decidere…«. (Majarelli/Nicolini, Monte (wie Anm. 1), S. 307). 54 Statuten von Perugia (1. Fassung von 1462): Capitulo di la electione dil depositario di le pechunie del Monte di poveri eletto a di XXIJ d’aprile 1462: »lo egregio huomo Gasparre

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di Giovannello ein Kaufmann war. Er hatte seiner Qualifikation entsprechend die Statuten und das Geld des Monte zu verwalten; ebenso zahlte er die Gehälter an die Beamten des Monte aus. Zudem bürgte er für das Grundkapital des Monte – die dreitausend Florin, die die Stadt und Teile der jüdischen Gemeinde zur Verfügung gestellt hatten. Hier wurden Experten der Wirtschaftspraxis und ihr Erfahrungswissen gezielt eingesetzt, um das Funktionieren der Institution zu gewährleisten. Auch bei der Gründung der Institute griff man auf bereits bestehendes Wissen zurück. So auch in Perugia. Am 28. April 1462 wurde dort der Monte offiziell gegründet durch die Ratifizierung der Statuten, über deren Entstehungsprozess wir allerdings nicht im Detail informiert sind. Majarelli und Nicolini analysieren akribisch die Gründungsumstände des Perusiner Monte, wobei sie glaubhaft nachweisen, dass nur eine Woche nach Zusammentreten der beratenden Kommission die Statuten bereits vorlagen.55 Überraschend wäre eine so zeitnahe Entstehung durchaus. Vieles spricht für die Einbindung externer Juristen und Geldwechsler, also Experten, die die Organisation bereits bestehender Banken gut kannten und sich daran orientierten.56 Auch Konflikten wurde mithilfe externer Experten aus der Wirtschaft begegnet. Im Falle von Streitigkeiten zwischen den Beamten des Monte und den Bürgern, Bauern oder Bewohnern der Stadt sollte das Kollegium der Mercanzia und die Auditoren des Cambio als Richter fungieren und innerhalb von 15 Tagen nach Eingang einer Beschwerde ein Urteil fällen.57 Diese wenigen und kurzen Einblicke in die Statuten einiger Monti zeigen, dass Expertise und Expertenwissen im Sinne von Erfahrungswissen für das Funktionieren der Institution eine ebenso wichtige Rolle spielten wie das theoretische Wissen, welches die Gutachter zum Wucher und Zins schöpften, um die Rechtmäßigkeit der Verzinsung der Kleinkredite zu betonen.

di Francesco di Mateo di Giovanello da Peroscia di porta Soli, mercatante, per uno anno che proximo da vinire […].« (Capitulo di la electione dil depositario di le pechunie dil Monte di poveri eletto a di XXIJ d’aprile 1462, Ebd., S. 258 f). 55 Ebd., S. 115 f. 56 »È pero vero che il Monte dei poveri, per lo scopo che si proponeva e per il nuovo tentativo di leggitimare un sistema fino a quel momento severamente riprovato dalle leggi ecclesiatiche, esigeva particolare accortezza e competenza non soltanto tecnico-finanzaria ma anche teologico-guiridica per la formulazione del suo statuto. Tutto questo ci induce a pensare che il complesso di norme che fu approvato il 28 aprile 1462 dovette essere frutto di laboriose discussioni e di collaborazione tra esperti di varie dottrine.« (Ebd.). 57 »Como li consoli et auditore siano iudici nelle controverse del Monte, capitulo 22: Item che nelle controversie le quale potessono nassciere nel ditto Monte ni sieno iudici li consoli de la Mercanthia et li auditori del Cambio che per li tempi saranno, li quali sieno tenute decidere … Capitulo decimo: che de le questione nassciero d’esso Monte ni sieno giudici competenti i consoli di la Merchanthia e auditori dil Cambio e loro sentenca non possa appellare.« (Ebd., S. 264).

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IV. Fazit Der Zugang zu Kleinkrediten in spätmittelalterlichen Städten ermöglichte ärmeren Bevölkerungsgruppen eine Partizipation am Markt und Konsum. Dafür wurden unter der Ägide der Franziskaner als Experten der Armutsbekämpfung seit dem 15. Jahrhundert Pfandleihhäuser geschaffen, die vergleichsweise günstige Darlehen gegen einen geringen Zins vergaben. Am Beispiel eines Ausschnitts aus dem Wucher- und Zinsdiskurs, der durch die Entstehung dieser Monti entscheidende Impulse erhielt, konnte gezeigt werden, wie neues ökonomisches Wissen – hier die Legitimation des Zinses auf der Basis des Vertragsrechtes – durch juristische Fachgutachten und Predigten gezielt verbreitet und institutionalisiert wurde. Über die Einführung und Kreditvergabepraxis dieser neuen Institution wurde der Wucher- und Zinsdiskurs, der 1311 mit dem Beschluss Ex Gravi des Konzils von Vienne einen reaktionären Höhepunkt gefunden hatte58, mehr als wiederbelebt. Anhand der Diskussion um die Legitimität des interesse beim Monte wurden grundlegende Fragen des Kirchenrechtes im Lichte des zivilen Rechts neu beleuchtet und ausgedeutet. Dieser Expertendiskurs ebnete den Weg zu einer Flexibilisierung des Wucherbegriffs auf der einen Seite und zu einer Legitimierung christlicher Zinsnahme andererseits. Die Entwicklung mündete schließlich in den Beschluss »Inter multiplices« des 5.  Lateranums 1515. Leo X. musste in diesem anerkennen, dass die Monti zum Erhalt ihrer Existenz und zum guten Funktionieren durchaus eine Zahlung als Aufwandsentschädigung annehmen durften und sogar mussten. Damit wurde das »stipendium laboris« als nicht-wucherisch legitimiert, das neue Wissen zur Norm erklärt. Man könnte etwas verkürzt formulieren: Die Theologie des Wuchers passte sich der gängigen Wirtschaftspraxis an. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass der Inhalt der Gutachten direkten Niederschlag fand – sowohl in den Predigten Bernardino da Feltres als auch in den Statutentexten und in den Gründungen der Monti, die häufig unmittelbar auf das Wirken einzelner Prediger in den Städten stattfanden. Dies ist ein faszinierender Beleg für den Wissenstransfer von der universitären Expertenebene auf die Mediatorenebene der Prediger, die die Einrichtung der Monti propagierten, hin zur Legislative, die das tägliche Funktionieren der Institution steuerte. Oft waren die Gutachter ebenfalls fratres und nutzten das neue Wissen direkt in ihren Predigten, so wie Fortunato Coppoli. Alle Verfasser der Gutachten waren selber Rechtsgelehrte und Teil eines etablierten Expertenfeldes. Sie zitieren sich gegenseitig, nahmen an öffentlichen

58 Dort hieß es noch: »Wer in jenen Irrtum verfällt, daß er sich erdreistet, hartnäckig zu behaupten, Zins zu nehmen sei keine Sünde, der ist, so Unser Beschluß, als Häretiker zu bestrafen.« (Wohlmuth, Konzilien (wie Anm. 20), Konzil von Vienne 1311–1312, Nr. 29 Zinsangelegenheiten, S. 384 f.).

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Streitgesprächen teil und inszenierten ihre Expertise durch gezieltes »namedropping« in ihren Texten. Das Wissen wurde transferiert in Statutentexte, die die Organisation und Funktionsweise der Monti steuern sollten. Anhand der Statuten wird aber auch deutlich, dass nicht nur das theoretische Wissen um die Rechtmäßigkeit des Zinses Niederschlag fand, sondern dass auch Praktiker des Handwerks, wie Goldschmiede, Schneider oder Geldwechsler und Kaufleute ihr Erfahrungswissen als entscheidende Expertise in die Institution einbrachten. Ich möchte an dieser Stelle schließlich für eine Erweiterung des Expertenbegriffs plädieren, der durch die Berufspraxis erworbenes Wissen, wie den Geldwechsel oder Handel, einschließt. Kommunale Institute der Sozialpolitik wie die Monti le­ gitimierten ihre Existenz aus den theoretischen Schriften der Träger eines theologisch-juristischen Diskurses. Ihr Funktionieren basierte jedoch ganz wesentlich auf dem Wissen der in den Städten als »Cluster von Expertisen« neu entstandenen Experten der Finanzen und des Handels. Diese standen diesseits der ­universitären Welt der Gelehrten.

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Die Kompetenz des Kommerzienrates Karl von Zinzendorf und ökonomisches Wissen als administrative Karriereoption

»Nunmehr war der Vogel gefangen.« Mit diesen wenig enthusiastischen Worten kommentierte Graf Karl von Zinzendorf und Pottendorf seine Ernennung zum wirklichen k.k. Kommerzienrat im März 1762.1 Dieser Kommentar scheint umso erstaunlicher, ja bitterer, findet er sich in der über drei Jahrzehnte später verfassten Autobiographie des Grafen – zu einem Zeitpunkt, da Zinzendorf auf eine lange administrative Laufbahn zurückblicken konnte, die ihn in der Wirtschafts- und Finanzverwaltung avancieren ließ. Begann Zinzendorf seine Karriere als Kommerzienrat, avancierte er schließlich über den Gouverneursposten von Triest bis zu der Präsidentschaft der Neuen Hofrechenkammer unter Joseph  II., dem Vorsitz der Kommission für die Robotaufhebung und der Leitung des Staatsrechnungsdepartements.2 Die umfassende Forschung zu Karl von Zinzendorf und Pottendorf hat den Grafen vor allem als Protagonisten einer neuen Kategorie von »administrateurs« beschrieben, die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts etablierte. Dabei wird konstatiert, dass sich diese hohen Amtsträger entscheidend durch ein wirtschaftliches und finanztechnisches Fachwissen auszeichneten, das europaweit über Schriften ebenso wie über Netzwerke persönlicher Bekanntschaften zirkulierte.3 In

1 Karl v. Zinzendorf, Die Selbstbiographie des Grafen und Herrn Johann Karl Christian Heinrich von Zinzendorf und Pottendorf, in: Eduard Gaston Graf von Pettenegg (Hg.), Ludwig und Karl Grafen und Herren von Zinzendorf, Minister unter Maria Theresia, Josef II . und Franz I. Ihre Selbstbiographien nebst einer kurzen Geschichte des Hauses­ Zinzendorf. Wien 1897, S. 165–272, hier 171. 2 Biographische Überblicke bei: Maria Breunlich/Marieluise Mader, Einleitung, in: Dies. (Hg.) Karl Graf von Zinzendorf, Aus den Jugendtagebüchern. 1747, 1752 bis 1763. (Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs, 84) Wien 1997, S. 1–48; Grete Klingenstein, Europäische Aufklärung zwischen Wien und Triest. Die Tagebücher des Gouverneurs Karl Graf von Zinzendorf 1776–1782, Bd. 1. Karl Graf Zinzendorf, erster Gouverneur von Triest, 1776–1782. Einführung in seine Tagebücher. (Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs, 103,1) Wien 2009, bes. S. 13–22. 3 Vgl. prägend Christine Lebeau, Aristocrates et grands commis à la Cour de Vienne (1748– 1791). Le modèle français. Paris 1996; Dies., Finanzwissenschaft und diplomatische Missionen. Machtstrategien und Ausbildung der Staatswissenschaften in Frankreich und in der Habsburgischen Monarchie (1750–1820), in: Hillard von Thiessen/Christian W ­ indler

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diesem Sinne erscheint die Figur des Administrators auf das engste mit einer sich etablierenden Lehre vom Kommerz beziehungsweise der politischen Ökonomie verflochten. Inwieweit in Bezug auf diese Wissensbestände über Produktion, Handel, Landwirtschaft und Finanzsysteme der Begriff des Experten oder der Expertise zutrifft, ist teilweise diskutiert worden. Arnauld Skornicki etwa hat den Unterschied zu einem modernen Expertenbegriff betont, der mit spezialisierten technischen Kompetenzen verbunden sei: »­ ›L’expertise‹ en économie publique relevait directement de la pensée et de la pratique politiques, nos experts s’apparentant davantage à des ›conseillers‹, non certes du prince, mais comme des ›administrateurs‹«.4 Mit dieser Feststellung wiederum korrespondiert die These von Stefan Haas und Mark Hengerer, Verwaltung ließe sich ganz allgemein als Expertentum der Implementierung von obrigkeitlichen Anordnungen beziehungsweise Gesetzen verstehen.5 Die Vorstellung des Administrators als eines Akteurs, der über spezifisches wie allgemeines Wissen verfügt, das ihm eigenständige Vorstellungen und Lösungsansätze ermöglicht, entspricht dabei der ebenfalls von Haas und Hengerer formulierten Definition vom Verwalten »als kreative[m] Akt des Organisierens soziokultureller Wirklichkeit«6. In diesem Sinne kann der »adminstrateur«, der deutsche »Rat«, wohl kaum als eine Erfindung des 18. Jahrhunderts gelten.7 Nichtsdestoweniger hat (Hg.), Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel. Köln 2010, S.  151–172; Dies., Eloge de l’homme imaginaire. Recherches sur la construction de la figure de l’administrateur au XVIIIème siècle, in: Michael Werner/­ Bénédicte Zimmermann (Hg.), De la comparaison à l’histoire croisée. (Le Genre humain) Paris 2004, S. 99–116. 4 Arnauld Skornicki, L’État, l’expert et le négociant. Le réseau de la ›science du commerce‹ sous Louis XV, in: Genèses 65,4, 2006, S. 4–26, hier 19. 5 Vgl. Stefan Haas/Mark Hengerer, Zur Einführung: Kultur und Kommunikation in politisch-administrativen System der Frühen Neuzeit und der Moderne, in: Dies. (Hg.), Im Schatten der Macht. Kommunikationskulturen in Politik und Verwaltung 1600–1950. Frankfurt am Main 2008, S. 9–22, hier 10. 6 Ebd. 7 Vgl. etwa Wolfgang E. J. Weber, ›Ein vollkommener fürstlicher Staats-Rath ist ein Phoenix‹. Perspektiven einer politischen Ideengeschichte der hohen Beamtenschaft, in: Zeitschrift für Historische Forschung 21, 1994, S. 221–233; Ders., Die Erfindung des Politikers. Bemerkungen zu einem gescheiterten Professionalisierungskonzept der deutschen Politikwissenschaft des ausgehenden 16. und 17. Jahrhunderts, in: Luise Schorn-Schütte (Hg.), Aspekte der politischen Kommunikation im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts. Politische Theologie – Res Publica – Verständnis – konsensgestützte Herrschaft. (Historische Zeitschrift, Beihefte N. F. 39) München 2004, S. 347–370; Rudolf Stichweh, Gelehrter Rat und wissenschaftliche Politikberatung. Zur Differenzierungsgeschichte einer Intersystembeziehung, in: Heidelberger Akademie der Wissenschaften (Hg.), Politikberatung in Deutschland. Wiesbaden 2006, S.  101–111; Cornel Zwierlein, Die Transformation der Lehren von Rat, Ratgeben und Ratgebern in Italien im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, in: Wolfgang E. J. Weber (Hg.), Räte und Beamte in der Frühen Neuzeit. Lehren und Schriften. (Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte, 19) Baden-Baden 2007, S.  1–25; M ­ arian Füssel, Vormoderne Politikberatung? Gelehrte Räte zwischen Standes- und Expertenkultur, in:

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insbesondere die französische Forschung den besonderen Charakter der Räte gar im Sinne einer Transnationale von politisch-ökonomischen Experten, einer »république des administrateurs«8, beschrieben. Es ist zur Genüge reflektiert worden, dass es auch im 18. Jahrhundert keinen kohärenten oder auch nur besonders verbreiteten Expertenbegriff im heutigen Verständnis gab.9 Möchte man sich für die Frühe Neuzeit dennoch analy­ tisch dem Phänomen von »Expertise« nähern, so hat etwa Eric H.  Ash mehrere Ansatzpunkte vorgeschlagen. Der Experte wäre mithin als ein Akteur gekennzeichnet, der über ein spezifisches Wissen gerade auch praktischer Natur (»competences«) verfügt, das zumeist auf Erfahrungen beruht, aber zugleich auch in theoretische Reflexionen überführt wird und sich somit vom Wissen reiner Praktiker unterscheidet. Zugleich müssen die besonderen Kompetenzen des Experten als solche erst von Dritten anerkannt und legitimiert werden.10 Legt man solch eine definitorische Annäherung zugrunde, scheint das von Haas und Hengerer sehr allgemein formulierte »Expertentum der Verwaltung« nur bedingt erklärungsmächtig. Demgegenüber stellt sich die Frage, ob sich mit dem Typ des – wirtschaftlich-finanztechnisch beschlagenen – Rates im Sinne von Ash innerhalb der Verwaltung nachvollziehbar ein eigenes Expertentum absondert, das sich vom bekannten gelehrten Rat qualitativ unterscheidet. In diesem Rahmen drängt sich schließlich das Problem einer apriori sozialhierarchisch, institutionell zugesprochenen Kompetenz dieser Akteure auf. In den kursorischen historischen Bemerkungen der Wissenssoziologie wird von einem Wandel des Kompetenzbegriffs in der Mitte des 18.  Jahrhunderts ausgegangen, der sich von einem wettbewerbsorientierten Streben nach Meisterschaft zu einer segmentierten, juristisch konnotierten Abgrenzung von Zuständigkeiten gewandelt habe.11 Letztere wurde etwa von Max Weber geradezu als ein Kernelement des modernisierenden Bürokratisierungsprozesses identifi

Eva Schlotheuber u. a. (Hg.), Herzogin Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg (1510–1558). Herrschaft – Konfession – Kultur. (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens, 132) Hannover 2011, S. 222–232. 8 Christine Lebeau, La république des administrateurs. Une république médiate, in: PierreYves Beaurepaire (Hg.), La Plume et la Toile. Pouvoirs et réseaux de correspondance dans l’Europe des Lumières. Arras 2002, S. 273–287. 9 Hier sei lediglich zusammenfassend verwiesen auf die umfassenden Ausführungen und Überlegungen in: Björn Reich/Frank Rexroth/Matthias Roick (Hg.), Wissen, maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne. (Historische Zeitschrift, Beihefte N. F. 57) München 2012. 10 Vgl. Eric H. Ash, Introduction: Expertise and the Early Modern State, in: Osiris 25,1, 2010, S. 1–24, hier bes. 5–10. 11 Vgl. Hans D. Huber, Im Dschungel der Kompetenzen, in: Ders./Bettina Lockemann/ Michael Scheibel (Hg.), Visuelle Netze – Wissensräume in der Kunst. Ostfildern 2004, S. 15–29, hier 19; Hubert Knoblauch, Von der Kompetenz zur Performanz. Wissenssoziologische Aspekte der Kompetenz, in: Thomas Kurtz/Michaela Pfadenhauer (Hg.), Soziologie der Kompetenz. Wiesbaden 2010, S. 237–255, hier 239.

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ziert.12 Kompetenz nicht als Verfügung über Wissen, sondern als Macht- und Rechts­titel dominiert im Übrigen auch die Bourdieu’sche Vorstellung einer dem Einzelnen zugeschriebenen »compétence statuaire«.13 Verschiedene soziologische Definitionsversuche von Expertentum und fachlicher Kompetenz gehen wiederum gleichermaßen von beiden Phänomenen als spezifischen Erscheinungen einer modernen differenzierten Gesellschaft aus. Dies jedoch setzt oftmals in Bezug auf beide Kategorien implizit oder explizit die Annahme voraus, spezialisierte Wissensbereiche als Teil  komplementärer gesellschaftlicher System­zusammenhänge stünden quer zu sozialen Stratifizierungen.14 Dem Entstehen eines eigenen theoretisch fundierten Corpus’ ökonomischen Wissens im 18. Jahrhundert wird mittlerweile eine gewisse Ambivalenz zugesprochen. Die neuere Forschung hat entsprechend – zumindest mit Blick auf das ökonomische Denken – thematisiert, inwieweit im Sinne von Differenzierungstheorien zeitgenössisch tatsächlich von einem sich formierenden eigenständigen, komplementären Teilsystem Wirtschaft die Rede sein kann. Vielmehr schien in vielen theoretischen Entwürfen gerade der Anspruch vorzuherrschen, verschiedene epistemologische Verquickungen zwischen ökonomischen Überlegungen einerseits und Definitionsversuchen des Gemeinwesens und seiner Funktionsweise andererseits herzustellen.15 Mithin scheint in der Verbindung zwischen Spezialwissen und allgemeinem politischem Anspruch für die Politische Ökonomie des 18. Jahrhunderts ähnliches zu gelten wie für den Status des Rates – der ja gerade als Akteur zu den Trägern dieses politisch-ökonomischen Diskurses gehörte. Zugleich lässt sich am Beispiel der Habsburger Monarchie beobachten, wie seit dem ausgehen12 Vgl. Max Weber, Wesen, Voraussetzung und Entfaltung der bürokratischen Herrschaft, in: Ders., Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. 5. Aufl. Tübingen 1980, S.  551–579, hier 551; vgl. zum Weberschen Kompetenzbegriff auch­ Thomas Kurz, Der Kompetenzbegriff in der Soziologie, in: Ders./Pfadenhauer (Hg.), Soziologie der Kompetenz (wie Anm. 11), S. 7–25, hier 8–10. 13 Vgl. Pierre Bourdieu, Ce que parler veut dire. L’économie des échanges linguistiques. Paris 1982, S. 74. 14 Vgl. Rudolf Stichweh, Professionalisierung, Ausdifferenzierung von Funktionssystemen, Inklusion, in: Ders., Wissenschaft, Universität, Professionen. Soziologische Analysen. Neuauflage Bielefeld 2013, S. 317–330, bes. 319 f.; vgl. auch etwa Kurz, Kompetenzbegriff (wie Anm. 12), S. 14–17. 15 Um nur einige einschlägige Arbeiten zu verschiedenen europäischen Kontexten zu nennen: Catherine Larrère, L’invention de l’économie au XVIIIe siècle. Du droit naturel à la physiocratie. Paris 1992; John G. A. Pocock, Virtue, Commerce, and History. Essays On Political Thought and History, Chiefly in the Eighteenth Century. Cambridge u. a. 1986; Albert O. Hirschman, The Passions and the Interests. 3.  Aufl. Princeton 2013; David Kammerling Smith, Structuring Politics in Early Eighteenth‐Century France. The Political Innovations of the French Council of Commerce, in: Journal of Modern History 74,3, 2002, S. 490–537; Regina Grafe, Distant Tyranny. Markets, Power, and Backwardness in Spain (1650–1800). Princeton 2012.

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den 17.  Jahrhundert unterschiedliche Versuche aufeinanderfolgen, innerhalb der Wiener Zentralverwaltung eigens abgetrennte Wirtschaftsdepartements zu errichten.16 Vor dem Hintergrund der skizzierten Problemkomplexe geht es im Folgenden darum, in welcher Weise eine Wirtschaftsverwaltung in der Habsburger Monarchie der Mitte des 18.  Jahrhunderts als gesonderte Facheinheit verstanden wurde sowie ob und auf welche Weise den Räten solch einer Wirtschaftsverwaltung ein gesonderter Expertenstatus zukam. Für diese Überlegungen dient der Einstieg des jungen Karl von Zinzendorf in die Verwaltungskarriere als exemplarischer Orientierungsrahmen. Entsprechend soll zunächst dessen Vorbereitung auf den Posten eines Kommerzienrats skizziert werden, ausgehend von seiner Lektüre und Ausbildung das Problem spezifischen ökonomischen Wissens diskutiert und schließlich mit dem Problem einer formalisierten Fach­ spezialisierung innerhalb der Habsburger Verwaltung kontrastiert werden. I . Der Graf und das Wissen über die Kommerzien Am 13. Februar 1762, gut ein Jahr nach seiner Ankunft in Wien, notiert Karl von Zinzendorf lakonisch in sein Tagebuch: »Triste le matin jusqu’au désespoir sur ma destinée. Cours de parties doubles.«17 Anscheinend wollte die Aussicht auf vertiefte Kenntnisse in der Doppelten Buchführung den jungen Grafen nicht recht optimistisch für seine Zukunft stimmen. Im Gegenteil: Folgt man den Tagebucheinträgen weiter, versank Graf Karl in den folgenden Wochen über der Lektüre von François Véron Duverger de Forbonnais’ »Éléments du commerce« in immer tiefere Depressionen.18 Mit 22 Jahren war der mittellose Graf im Februar 1761 in Wien eingetroffen. Als Neffe des Herrnhuter Bischofs Nikolaus von Zinzendorf war er in Sachsen in einem pietistischen Familienzusammenhang aufgewachsen. Gerade hatte er ein Studium in Jena beendet und befand sich nun auf Einladung seines älteren Halbbruders Ludwig in der Habsburger Metropole. Ludwig war schon früh zum Katholizismus konvertiert und war mittlerweile in Wien bis zum Präsidenten der neu geschaffenen Hofrechenkammer aufgestiegen. Nach dem Tod des Vaters war Ludwig als Senior des Hauses für den Jüngeren verantwortlich.19 Die 16 Vgl. etwa die Überblicksdarstellung bei Peter G. M. Dickson, Finance and Government under Maria Theresia (1740–1780), Bd. 1: Society and Government. Oxford 1987, S. 233–252; vgl. auch Christoph Link, Die habsburgischen Erblande, die böhmischen Länder und Salzburg, in: Kurt G. A. Jeserich/Hans Pohl/Georg-Christoph von Unruh (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1. Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches, Stuttgart 1983, S. 468–552, hier 516–527. 17 Tagebücher, Bd. 7 (1762), HHStA, Nachlaß Zinzendorf, 18r. 18 François Véron Duverger de Forbonnais, Elements du commerce. Leyde 1754. 19 Vgl. Klingenstein, Europäische Aufklärung (wie Anm. 2), S. 15.

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Position eines protestantischen sächsischen Adelssprosses wie Karl war – trotz der österreichischen Wurzeln des Hauses Zinzendorf – in Wien keine besonders günstige. Dies lag nicht in erster Linie an der konfessionellen Erwartungshaltung der Monarchin, sondern am konfessionellen Druck, der innerhalb der Adelsgesellschaft selbst aufgebaut wurde.20 Schon eine leicht abfällige Bemerkung macht dies deutlich, die der Obersthofmeister Fürst Kheven­hüller-Metsch nur zwei Jahre zuvor in seinem Tagebuch sogar über Ludwig Zinzendorf machte. Dabei hatte letzterer schon einen respektablen Aufstieg im Windschatten seines Protektors Fürst Wenzel Kaunitz vorzuweisen.21 Nichtsdestoweniger konstatiert Khevenhüller-Metsch ätzend beiläufig, Ludwig von Zinzendorf sei doch »ein gebohrner Sachß und [habe] nach angenohmenen catholischen Glauben sich hier etabliret.«22 In Jena hatte Karl juristische Vorlesungen besucht. Diese schien die beste, wenn auch nicht besonders enthusiastisch von ihm verfolgte Ausgangsqualifikation für die von der Familie gemachten Zukunftspläne. Denn über die Vermittlung seines Onkels August von Callenberg sollte er »zum Hof- und Justizienrath bei der königlich und kurfürstlichen Landesregierung zu Dresden« gemacht werden.23 Daneben aber besuchte er mit größerem Interesse Vorlesungen, die sich mit der »administration publique« beschäftigten.24 Einer seiner wichtigsten Professoren war hier Joachim Georg Darjes. Letzterer war ein typischer Vertreter einer Lehre, die die Praxisausrichtung und theoretisches Wissen miteinander zu verbinden suchte, wie es für die Kameralwissenschaften allgemein konstatiert worden ist.25 Dies bedeutete jedoch andererseits für Darjes, auch eine klare Trennlinie zwischen praktisch-technischem ›wirtschaftlichen‹ Wissen und demjenigen verwaltungspraktischen Wissen zu ziehen, über das der Administrator verfügen müsse: »Die, welche Wirthschaften regieren sollen, müssen nothwendig eine Wissenschaft von der Wirthschaft haben.«26 Dies betraf 20 Vgl. Christine Lebeau, La conversion de Karl von Zinzendorf. Affaire d’État ou affaire de famille?, in: Revue de synthèse 114,3, 1993, S. 473–495. 21 Vgl. Klingenstein, Europäische Aufklärung (wie Anm. 2), S. 15 f. 22 Rudolf Graf Khevenhüller-Metsch/Hanns Schlitter (Hg.), Aus der Zeit Maria Theresias. Tagebuch des Fürsten Johann Josef Khevenhüller-Metsch, kaiserlichen Obersthofmeisters 1742–1776, Bd. 5. 1758–1759. Wien/Leipzig 1911, S. 128. 23 Zinzendorf, Die Selbstbiographie des Grafen (wie Anm. 1), S. 169. 24 Vgl. Lebeau, Aristocrates et grands commis (wie Anm. 3), S. 86–95. 25 Vgl. etwa Keith Tribe, Governing Economy. The Reformation of German Economic Discourse 1750–1840. Cambridge u. a. 1988, bes. S. 35–54; Marcus Sandl, Ökonomie des Raumes. Der kameralwissenschaftliche Entwurf der Staatswirtschaft im 18.  Jahrhundert. (Norm und Struktur, 11) Köln 1999; Lebeau, Aristocrates et grands commis (wie Anm. 3), S. 91–95. 26 Joachim Georg Darjes, Erste Gründe der Cameral-Wissenschaften darinnen die HauptTheile so wohl der Oeconomie als auch der Policey und besondern Cameral-Wissenschaft in ihrer natürlichen Verknüpfung zum Gebrauch seiner academischen Fürlesung entworfen. Jena 1756, )(4r.-)(4v.

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zum einen den Blick auf das große Ganze, das ›Wirtschaft‹ ausmache. Zum anderen müssten sie »aus der wahren Beschaffenheit der Sache diejenigen HandGriffe entdekken können, welche die wirthschaftlichen Beschäftigungen erleichtern und vollkommener machen.«27 Das, was Darjes ›Wirtschaft‹ umfasste, war dabei eine übliche Kombination aus Landwirtschaft, Handwerk, Manufakturen, Policey und den Finanzen des Herrschers. Interessierte Darjes in diesem Rahmen der Handel und Geldumlauf höchstens unter den Maßgaben des Produktionsprozesses28, ergänzte Ludwig v. Zinzendorf mit Literaturverschickungen und -empfehlungen von Wien aus auch diesen Teil von Karls theoretischem Wissenserwerb.29 Dazu gehörten Auszüge aus Jean-François Mélons geld- und handelstheoretischem Bestseller »Essai sur le commerce politique«30 oder aus jenem Forbonnais, der noch in Wien zur Lektüre Zinzendorfs gehören sollte.31 Als sein Bruder ihn schließlich nach Wien einlud, hatte Karl v. Zinzendorf, wie für den Adel immer noch nicht unüblich, die Universität Jena Ende 1760 verlassen, ohne den Versuch, einen Abschluss zu erwerben.32 Ludwig von Zinzendorf legte es explizit darauf an, den Jüngeren in der Kommerzienverwaltung der Monarchie unterzubringen. Entgegen den Vorstellungen Karls, dem zunächst eine klassische Juristenstelle im Reichshofrat vorschwebte33, ließ Ludwig ihn ein umfassendes Propädeutikum durchlaufen. Dazu gehörten auch stetige Lektüreempfehlungen: »Je […] parcourrois ses livres de Finances et de Commerce, il me dit que c’etoit lui qui avoit traduit d’un livre anglois Money & Trade le livre intitulé Gedanken vom Gelde und von der Handlung, il on a traduit plusieurs encore […] qui n’ont pas eté imprimés. Il me donna à lire les Institutions politiques du Baron de Bielefeld, Le XVIII de Voltaire qui contient l’histoire de Pierre le Grand, et le IIeme qui contient un Essai sur l’histoire générale ainsi Remarques sur les Avantages et les Desavantages de la France et de la Grande Bretagne par rapport au Commerce.«34

Die neben der üblichen aufgeklärten Lektüre mehr oder weniger freiwillige Aneignung finanziell-ökonomischen Wissens vollzog sich für Karl von Zinzendorf dabei zunächst in erster Linie im häuslichen Umfeld. Auf diese Weise machte er sich neben seiner Lektüre Forbonnais’ oder der ungedruckten Denkschriften des Bruders in der Hausbibliothek eben mit der gerade erschienenen Lehrschrift Jakob Friedrich von Bielfelds zu Staat und Verwaltung oder der von Louis-Joseph Plumard de Dangeul publizierten Abhandlung über Wirtschaft und Handel in 27 Ebd., )(4v. 28 Vgl. exemplarisch Ebd., S. 365. 29 Vgl. Lebeau, Aristocrates et grands commis (wie Anm. 3), S. 96–98. 30 Jean-François Mélon, Essai sur le commerce politique. 1. Aufl. o. O. 1734. 31 Vgl. Lebeau, Aristocrates et grands commis (wie Anm. 3), S. 202. 32 Vgl. Breunlich/Mader, Einleitung (wie Anm. 2), S. 28 f. 33 Vgl. ebd., S. 32. 34 Tagebücher, Band 6 (1761), HHStA, Nachlaß Zinzendorf, S. 28.

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Frankreich und Großbritannien vertraut.35 Die Wissensaneignung beschränkt sich jedoch keineswegs auf Leseaufträge. Späterhin sollte Zinzendorf etwa zu Übungszwecken auch Josiah Tuckers »Elements of Commerce and Theory of Taxes« übersetzen.36 Darüber hinaus berichtete Bruder Ludwig ihm beständig über die neuesten Diskussionen und Entwürfe aus dem Staatsrat, zeigte ihm Beispiele von Banknoten und setzte ihm die eigenen Pläne für die Einführung von Papiergeld auseinander.37 Die Lektüre innerhalb des intimen häuslichen Erziehungsrahmens zeigt die deutliche Orientierung Ludwig von Zinzendorfs an den gerade in Frankreich modischen ökonomischen Schriften des Kreises um Vincent de Gournay.38 Auch wenn die inhaltlichen Unterschiede zwischen den theoretischen Entwürfen, die aus dem Umkreis Gournays stammten, erheblich waren, ergaben sich trotzdem basale Übereinstimmungen.39 So stellten Forbonnais und Plumard de Dangeul mit ihren Abhandlungen zum »commerce« den Handel in den Mittelpunkt, von dem sie ihre Betrachtungen zu Landwirtschaft, Manufakturwesen und Finanzverwaltung erst abhängig machten. Zwar ergaben sich zwischen dem »commerce« und Darjes’ »Wirtschaft« mit Landwirtschaft, Manufakturen, Materien der Policey und der Steuer- wie Finanzverwaltung einige gewichtige Überschneidungen in der Unterteilung der jeweiligen Untersuchungsgegenstände. Gegenüber Darjes fand in den französischen Interpretationen aber nicht nur eine Ergänzung durch die Bereiche Rohstoffe und Kolonien, sondern gewissermaßen eine Umkehrung der Prioritäten statt. Dies zeichnete sich bereits bei Jean-François Mélon ab, dessen Abhandlung über den »commerce politique« Zinzendorf ebenso studierte. Er gehörte zu den Pionieren eines Verständnisses von »commerce«, auf das Gournay und seine Gruppe aufbauten.40 In der stark erweiterten zweiten Auflage seiner Schrift über den »commerce politique« erhob Mélon das Rechnen, den »calcul«, zum allgemeinen Gesellschaftsprinzip, das Moral wie Handel gleichermaßen bestimmen sollte. Dies hatte für ihn folglich einschneidende Konsequenzen für das politische Handeln: »Il faut tourner l’attention et le génie des Peuples, sur le Commerce, sur le Crédit, sur la culture des terres, etc. et dans ce sens le meil35 Jakob F. von Bielfeld, Institutions politiques. Bde. 1–3. La Haye 1760; Louis-Joseph Plumard de Dangeul, Remarques sur les avantages et les désavantages de la France et de la Grande Bretagne par rapport au commerce et autres sources de la puissance des États. Traduction de l’anglois du chevalier John Nickolls. Leyde 1754. 36 Dabei handelte es sich um eine auch zeitgenössisch sehr seltene, im Privatdruck erschienene Schrift Tuckers, vgl. George Shelton, Dean Tucker and Eighteenth-Century Economic and Political Thought. London 1981, S. 88–132, 277. 37 Vgl. Tagebücher, Band 6 (1761), HHStA, Nachlaß Zinzendorf, S. 69 f. 38 Vgl. Skornicki, L’État (wie Anm. 4), S. 16. 39 Vgl. Loïc Charles, Le cercle de Gournay. Usages culturels et pratiques savantes, in: Ders./ Frédéric Lefebvre/Christine Théré (Hg.), Le cercle de Vincent de Gournay: savoirs économiques et pratiques administrative en France au milieu du XVIIIe siècle. Paris 2011, S. 63–88. 40 Vgl. Philippe Steiner, Commerce, commerce politique, in: Charles/Lefebvre/Théré (Hg.), Vincent de Gournay (wie Anm. 39), S. 179–200, hier 189–192.

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leur calculateur devient le meilleur Législateur.«41 Entsprechend erklärte auch Forbonnais den »commerce« als Handel zu einer anthropologischen Notwendigkeit und Konstante. In Plumard de Dangeuls – frei modifizierender – Übertragung von John Nickols englischsprachigem Werk über den Handel von Frankreich und Großbritannien wurde hieraus die Notwendigkeit, die Beschäftigung mit dem »commerce« zu einer ständeübergreifenden, allgemeinen Materie von Wissen und (politischen) Entscheidungsprozessen zu machen.42 Es muss offenbleiben, bis zu welchem Grad der junge Karl v. Zinzendorf sich mit den grundlegenden Fragen und Dimensionen der erwähnten Traktate beschäftigte. Die Schrift Mélons etwa kannte Karl wohl in ihrer ersten Auflage, die sich wesentlich stärker auf technische Fragen von Handel und Geldumlauf beschränkte und die oben zitierten generellen Überlegungen noch vermied.43 Nichtsdestoweniger ergibt sich aus dem Lesehorizont des jungen Grafen eine Vision von Ökonomie, die auf das engste mit allgemeinen Fragen der Organisation von Gemeinwesen verbunden ist. Wird dabei einerseits Spezialwissen über Handelsmechanismen, Manufakturarbeit und Steuerpolitik vermittelt, handelt es sich andererseits zugleich um Entwürfe, die Moral und Gemeinwesen dominant über Parameter interpretieren, die aus ökonomischen Überlegungen abgeleitet werden. Eine Ergänzung des häuslichen Erziehungsrahmens über Lektüre boten die gelegentlichen Besuche von Kollegien an der Universität. Dazu gehörte nicht etwa nur eine Vorlesung über Grotius.44 War Ludwig von Zinzendorf als Protégé des Kanzlers Kaunitz aufgestiegen, so wurde Karl von Zinzendorf nun im Sinne eines strikteren technischen Wissenserwerbs wohl mit dem Sohn von Kaunitz in Kurse über Doppelte Buchführung geschickt.45 Doch all dies war nur ein Teil der gesamten Vorbereitung auf den Eintritt in die monarchische Administration. Mehr Zeit noch verbrachte Karl von Zinzendorf mit seiner Einführung in die Hofgesellschaft. Hier lernte der lutherische Pietist nicht nur anständig zu tanzen46, sondern auch Kontakte mit den hohen Kreisen des Hofadels zu knüpfen, beinahe tägliche Diners und Soupers zu absolvieren. Intensive Bemühungen um seine Konversion begleiteten diese Sozialisierung im Wiener Hofadel.47 Zum Knüpfen von Kontakten kam auch das Lernen aus der praktischen Anschauung hinzu. So nahm Graf Karl nicht nur an Einführungszeremonien in hohe Hofämter teil, sondern bemühte sich auch, die offizielle Ordination eines Hofrats zu erleben.48 41 Mélon, Essai (wie Anm. 30), S. 320 f. 42 Vgl. Plumard de Dangeul, Remarques (wie Anm. 35), S. 150–155, 184–202. 43 Vgl. Lebeau, Aristocrates et grands commis (wie Anm. 3), S. 97, 202. 44 Tagebücher, Bd. 6 (1761), HHStA, Nachlaß Zinzendorf, S. 55. 45 Vgl. Tagebücher, Bd. 7 (1762), HHStA, Nachlaß Zinzendorf, 12v. 46 Vgl. ebd., 10v., 16r. 47 Vgl. Lebeau, La conversion (wie. Anm. 20), S. 488–491. 48 Vgl. Tagebücher, Bd. 6 (1761), HHStA, Nachlaß Zinzendorf, S. 57.

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II . Die Verwaltung und die Kommerzien Die Verbindung von Wissen um Kommerzien und Verwaltung war Teil der normativen Lektüre, die Ludwig von Zinzendorf seinem Bruder Karl zu lesen gab, damit er sich darin schulte. In Preußen entwickelte Jakob Friedrich von Bielfeld in seinen erst 1760 erschienenen »Institutions politiques« die Vorstellung, dass insbesondere die Wirtschafts- und Finanzverwaltung spezielle und umfassende Kenntnisse nötig machten. In Hinsicht auf die Wirtschaftsverwaltung bemerkt Bielfeld, man könne nicht einfach einen Kaufman an deren Spitze setzen, denn: »L’habile financier, qui préside aux affaires de Commerce, devroit sçavoir l’Art du Négociant, […] il doit posséder de plus toutes les connoissances du Commerce que nous venons d’exiger dans l’Homme d’Etat.«49 Dass wiederum der Adel bei der Anstellung in der Administration bevorzugt wurde, hält ­Bielfeld für einen nicht weiter zu begründenden wie zu diskutierenden Umstand. Der Aufstieg innerhalb einer auf speziellen ökonomischen oder finanziellen genauso wie umfassenden politischen Kenntnissen fußenden Verwaltung müsse allerdings allen offenstehen – und dies bis hin zum Minister. Dabei betont er an anderer Stelle, die gesamte Kompetenz einer spezialisierten Verwaltung beruhe darauf, das Erfahrungswissen von lokalen wie subalternen Amtsträgern in ihre Arbeit einzubeziehen.50 Die Kombination von Spezial- und einem gewissen Praxiswissen sowie umfassender allgemeiner Bildung, wie sie Sonnenfels und Bielfeld für höhere Amtsträger einfordern, findet sich in kondensierter Form auch schon kurz zuvor im 1741 erschienenen Artikel des Zedler über den »Commercien-Rath«. Der ideale Kommerzienrat müsse Fremdsprachen, Geographie, Infrastrukturkenntnisse und Architektur, Arithmetik, Rechnungslegung und Buchhaltung im Allgemeinen beherrschen, daneben aber auch ein beschlagener Historiker und Jurist sein.51 Besonders auffällig ist in diesem Zusammenhang die Länge des Lemmas, dessen Erläuterungen mit acht Spalten die Ausführungen zu allen anderen Spielarten von Räten weit übersteigen. Weiterhin scheint bemerkenswert, dass der Artikel des Zedler die »Commercien« deutlich als Handel auslegt. Entsprechend erscheint der Kommerzienrat als besonders erklärungsbedürftige Spielart des Administrators, der zu einem in dieser Form recht neuen, von der Obrigkeit erschlossenen Handlungs- und Regelungsfeld gehört. Der Definitionsbedarf, der sich noch in der Mitte und der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Hinblick auf eine Kommerzienverwaltung ergab, spiegelte sich auch bei den chronischen Reorganisationsversuchen innerhalb der Wiener Zentralverwaltung wider. Die Bewertung der Kommerzienverwaltung spielte 49 Bielfeld, Institutions politiques, Bd. 1 (wie Anm. 35), S. 270. 50 Vgl. ebd., S. 172. 51 Vgl. Rath (Commercien-), in: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 30: Q und R-Reh. Halle 1741, S. 934–942.

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sich dabei vor dem Hintergrund einer Kombination von Differenzen zwischen einzelnen Hofparteiungen, Adelskonkurrenzen und Auseinandersetzungen um systematische Ordnungsvorstellungen ab. Ende des 17. Jahrhunderts unter dem Einfluss von Johann Joachim Becher und dann Philipp Wilhelm von Hörnigk entstanden, gehörte die »Kommerzienkommission« zunächst in den Zuständigkeitsbereich der Finanzverwaltung.52 Hörnigk veröffentlichte 1683 seine umfassende theoretische Schrift zur »Lands-Oeconomie«, die achtzig Jahre später von der nun geschaffenen Niederösterreichischen Kommerzienkommission nochmals aufgelegt werden sollte.53 Diese Abhandlung war zwar weit von der Idee eines Freihandels oder auch nur des Handels als Kern wirtschaftlicher Aktivität entfernt. In Hinsicht auf die Verwaltung dessen, was Hörnigk als »Oeconomie« verstand – neben dem tendenziell marginalisierten Handel besonders Manufakturen, Rohstoffe und Landwirtschaft54 – erwies sich das Werk allerdings als aufschlussreich. Scharf kritisierte Hörnigk die bisherige Praxis der Hofverwaltung in Bezug auf Manufakturwesen und Handel. Sie sei durch Unfähigkeit, inhaltliche Unkenntnis und Überlastung der zuständigen Räte mit anderen Aufgaben sowie das Desinteresse oder den Unwillen der Minister gekennzeichnet.55 Gerade angesichts der innereuropäischen Konkurrenz sei dies ein unhaltbarer Zustand: »So will uns wenigst / wann wir rechtschaffene Leute seynd / und unser Verfahren künftig zu verantworten gedencken / gebühren / es auch nicht bey dem alten bleiben zu lassen.«56 In den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts waren von Hörnigk zu einem Verständnis von »Landes-Oeconomie« zusammengeführte Bereiche wie das Berg- und Salzwesen in getrennten Kommissionen der Hofkammer unterstellt. Gleiches galt auch für eine gesonderte Kommission, die sowohl für »Kommerzien« als auch für Mauten und Zölle zuständig war.57 Demgegenüber erfolgte 52 Vgl. Lebeau, Aristocrates et grands commis (wie Anm. 3), S. 108. 53 Philipp W. von Hörnigk, Österreich über alles wann es nur will. Das ist: wohlmeinender Fürschlag wie mittels einer wol-bestellten Lands-Oeconomie, die Kayserliche Erbland in kurzem über alle andere Staat von Europa zu erheben / und mehrals einiger derselben / von denen andern Independent zu machen. o. O. [Nürnberg] 1684; zur Neuauflage von 1763 vgl. Lebeau, Aristocrates et grands commis (wie Anm. 3), S. 120. Diese Auflage ist in der Auflistung aller Editionen in einer jüngst veröffentlichten Zusammenstellung aller deutschsprachigen »Bestseller« ökonomischer Literatur in der Frühen Neuzeit nicht erwähnt, vgl. Erik S. Reinert/Kenneth E. Carpenter, German Language Economic Bestsellers before 1850. Also Introducing Giovanni Botero as a Common Reference Point of Cameralism and Mercantilism, in: Philipp R. Rössner (Hg.), Economic Growth and the Origins of Modern Political Economy. Economic reasons of state, 1500–2000. London 2016, S. 26–53, hier 42. 54 v. Hörnigk, Österreich über alles (wie Anm. 53), bes. S. 34–50. 55 Vgl. ebd., S. 22–26. 56 Ebd., S. 30. 57 Vgl. Heinrich Kretschmayer, Die österreichische Zentralverwaltung. I. Abteilung: Vom Maximilian I. bis zur Vereinigung der österreichischen und böhmischen Hofkanzlei (1749), 1. Band: Geschichtliche Übersicht. (Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte Österreichs, 5) Wien 1907, S. 125.

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1746 auf Dekret Maria Theresias die Errichtung eines eigenen »Universalkommerziendirektoriums«, das neben Mauten und Zöllen seinen expliziten Zuständigkeitsbereich im Handel und der allgemeinen Wirtschaftsförderung fand und seinerseits der Bancalität als oberster Rechnungskontrollstelle untergeordnet wurde.58 Nach der Zerschlagung des »Directoriums in publicis et cameralibus« als hierarchischer Zwischeninstanz stellte sich die Frage nach einer Zuordnung des Kommerziendirektoriums neu. Im Jahr 1762, gerade als Karl von Zinzendorf sich anschickte, in die Verwaltung einzutreten, dauerten heftige Auseinandersetzungen zu diesem Thema an. Besonders umstritten war die Frage einer etwaigen Unabhängigkeit des nunmehrigen »Kommerzienrats« beziehungsweise seine weitere Unterordnung unter die Hofrechenkammer oder die Hofkanzlei. Abgesehen von den Konkurrenzen, die hier zwischen den Staatsministern Haugwitz und Kaunitz beziehungsweise dem Präsidenten des Kommerzienrats, Franz Reinhold von Andler-Witten, und dem Kanzler Rudolph Chotek ausgetragen wurden, befleißigte sich jede Seite systematischer Argumente. Andler-Witten wehrte sich in diesem Zusammenhang gegen eine Unterstellung des Kommerzienrats unter die Hofkanzlei mit dem Argument: »Alle geschäften, so dem commercienrath obliegen, seynd von einer solchen natur, dass in das politicum, camerale, bancale und militare einen beständigen einfluss haben und grössern theils keinen verzug leyden.«59 Der Kommerzienpräsident behauptete mithin nicht nur die generelle Bedeutung der Kommerzien für das gesamte Staatswesen, ja sogar tendenziell deren Dominanz über alle anderen Bereiche. Vielmehr schrieb er den Kommerzien eine Eigenlogik zu, die eine besondere Geschwindigkeit und Effizienz in den Entscheidungsprozessen verlangte. Diese wiederum könne der Kommerzienrat nur als eigenständige Behörde garantieren.60 Demgegenüber versuchte Chotek, seine eigene Zuständigkeitserweiterung durch die Integration des Kommerzienrats in die Hofkanzlei von der gleichen argumentativen Basis abzuleiten.61 Gleichzeitig war jedoch auch ihm klar, dass die Beratungsgegenstände des Kommerzienrats ein derartig 58 Vgl. ebd., S. 137 f., vgl. auch S. 129. Daneben wurde zugleich davon getrennt ein »Münzund Bergwerksdirektionskollegium« errichtet. 59 Vortrag von Graf Andler-Witten für Maria Theresia, 15. Mai 1765, in: Heinrich Kretsch­ mayer/Friedrich Walter (Hg.), Die österreichische Zentralverwaltung. II . Abteilung: Von der Vereinigung der österreichischen und böhmischen Hofkanzlei bis zur Einrichtung der Ministerialverfassung (1749–1848), 3. Band: Vom Sturz des Directoriums in publicis et cameralibus (1760/1761) bis zum Ausgang der Regierung Maria Theresias – Akten­ stücke. (Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte Österreichs, 29) Wien 1934, S. 349–350, hier 350. 60 Die besondere Bedeutung der Geschwindigkeit administrativer Entscheidung in Kommerzsachen hatte schon Becher als notwendig beurteilt, da sie der Natur des Kommerzes selbst entspräche, vgl. Johann J. Becher, Politische Discurs von den eigentlichen Ursachen, des Auf- und Abnehmens der Städte/Länder und Republicken. 3. Aufl. Frankfurt 1721, S. 202. 61 Vortrag von Graf Chotek für Maria Theresia, 5. Juni 1765, in: Kretschmayer/Walter (Hg.), Die österreichische Zentralverwaltung, Bd. II .3 (wie Anm. 59), S. 354–359, hier 355.

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spezifisches Wissen der beteiligten Räte erforderten, dass es ihm unabdingbar erschien, auch im Rahmen der Hofkanzlei »für die pura commercialia weitershin besondere sessiones zu halten.«62 Die Stellung des Kommerzienrats innerhalb der Zentralverwaltung blieb allerdings noch weiterhin nicht einfach zu klären. Nach einem Interimskompromiss und der Zuordnung zur Hofkanzlei wurde der Kommerzienrat zu Beginn der 1770er Jahre eine eigenständige Behörde, um ab 1776 endgültig der Hofkanzlei zugeordnet zu werden.63 Parallel zum zentralen Kommerzienkollegium beziehungsweise Kommerzienrat in Wien fanden sich in den einzelnen Territorien der Habsburger Monarchie sogenannte Kommerzienkonsesse oder Kommerzienkommissionen, die ihrerseits jeweils zugleich von der zentralen Wiener Kommerzienverwaltung wie von den einzelnen Landesregierungen abhängig waren.64 Bei der Reorganisation des niederösterreichischen Kommerzienkonsesses 1762 gelang es nun Ludwig von Zinzendorf, seinem jüngeren Halbbruder einen Posten als Kommerzienrat zu verschaffen. Es war also einerseits auf der unteren Ebene der Länderverwaltung, auf der Karl von Zinzendorf seinen Einstieg als Kommerzienrat erlebte. Andererseits war der niederösterreichische Kommerzienkonsess in Wien angesiedelt und dessen Präsident Graf Philipp Joseph von Sinzendorf verfolgte mit seiner Kommission durchaus höhere Ambitionen. Es war gar eine Art mehr oder weniger offiziöser Kommerzienakademie, die Sinzendorf mit seiner Kommission einrichtete. Die Probleme, die Sinzendorf seinen Räten in diesem Rahmen zur Diskussion vorlegte, zielten einerseits schwerpunktmäßig nicht auf den Handel, sondern auf die Manufakturen und deren konkrete Förderung. Andererseits waren es sehr generelle Fragen einer »Commercial Politik«, über die reflektiert werden sollte und die in gemeinsamen Lektüren insbesondere der Schriften aus dem Umkreis Gournays vorbereitet wurden.65 Philipp von Sinzendorf vertrat in diesem Sinne ein gängiges Bild des »commerce politique«, wenn er konstatierte: »allein Commerce kann von politischen und Finanz-Verrichtungen nicht abgesöndert werden.«66 Dabei schwebte ihm zugleich ein Bild des Kommerzienrats als einem Administrator vor, das sich deutlich von der Vorstellung des obrigkeitlichen Beamten als einem rein aus62 Vortrag von Graf Chotek für Maria Theresia, 15.  Mai 1765, in: Kretschmayer/Walter (Hg.), Die österreichische Zentralverwaltung, Bd. II .3 (wie Anm. 59), S. 350–352, hier 351. 63 Knapper, aber instruktiver Überblick bei Kretschmayer/Walter (Hg.), Die österreichische Zentralverwaltung, Bd. II .3 (wie Anm. 59), S. 359 f. 64 Zur Rolle der Kommerzienkonsesse innerhalb der Wirtschaftsverwaltung: Bernhard Hackl, Die staatliche Wirtschaftspolitik zwischen 1740 und 1792. Reform versus Stagnation, in: Helmut Reinalter (Hg.), Josephinismus als Aufgeklärter Absolutismus. Wien 2008, S. 191–271, hier 205–207. 65 Vgl. Lebeau, Aristocrates et grands commis (wie Anm. 3), S. 114–117. 66 Gustav Otruba, Über das erbländische Commerce 1786. Eine Denkschrift Philipp Graf Sinzendorfs, in: Mitteilungen des Oberösterreichischen Landesarchivs 8, 1964, S. 502–512, hier 505.

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führenden Vielschreiber in Verwaltungsangelegenheiten unterschied. Schreckensbild war ihm vielmehr die Feststellung, dass »die ganze Staats-Maschine auf Schreibfedern zu ruhen habe.«67 Damit entsprach er durchaus der schon bei Gournay kultivierten Kritik an der Administration als »bureaumanie«, ja gar als »bureaucratie«.68 III . Der Graf als Kommerzienrat Am 15. März 1762 wurde Karl v. Zinzendorf von Kanzler Wenzel Kaunitz persönlich mit einer Vorstellung der anderen Kommerzienräte in sein Amt eingeführt. »Monsieur de Kaunitz dit qu’il fallait tâcher de se distinguer, que j’entrais dans une carrière où je n’avais pas beaucoup de concurrents, que c’était lui qui l’avait recommandé à mon frère et que je voyais en lui comment on distinguait les étrangers quand ils le méritaient.«69

Der Tagebucheintrag Zinzendorfs über seinen Amtsantritt als Kommerzienrat scheint dabei zunächst voller Widersprüche. Seinen Posten hatte der relative Außenseiter in der Hofgesellschaft kaum seinen Lektüren und dem Kurs über Doppelte Buchführung zu verdanken. Auch wurde er innerhalb des Ratskollegiums aufgrund von Stand und Beziehungen sofort anderen, weitaus erfahreneren Räten, vorgestellt.70 Dass aber der Posten in der relativ neuen und ihrer Position umstrittenen Kommerzienverwaltung dennoch ein spezielles Fachwissen verlangte, war schon aus den zeitgenössischen Diskussionen über die Behördenorganisation deutlich geworden. Die meisten Kommerzienräte des niederösterreichischen Konsesses konnten auf längere Tätigkeiten in verschiedenen Territorien der Monarchie zurückblicken, hatten Manufakturen beaufsichtigt oder längere Reisen zur Evaluierung der wirtschaftlichen Situation verschiedener Gebiete unternommen. Gerade für die im Dienst nobilitierten beziehungsweise niederrangigen Adligen bedeutete der Posten eines Kommerzienrates die K ­ rönung ihrer Karriere.71 Demgegenüber machte Kaunitz dem jungen Zinzendorf klar, dass für ihn die Stellung in der Kommerzienverwaltung eine gute Ausgangsposition sei. Sein gesellschaftlicher Rang aber, so implizierte der Kanzler, ermögliche dem jungen Grafen durchaus einen weiteren Aufstieg, wenngleich dieser von seinen individuellen Fähigkeiten abhinge. 67 Ebd. 68 Correspondance littéraire, philosophique et critique de Grimm et de Diderot depuis 1753 jusqu’en 1790. Tome 4: 1764–1765. Paris 1829, S. 11 f., 326; vgl. hierzu auch Bernd Wunder, Bürokratie. Geschichte eines politischen Schlagwortes, in: Adrienne Windhoff-Héritier (Hg.), Verwaltung und ihre Umwelt, Opladen 1987, S. 277–301, hier 278. 69 Zinzendorf, Aus den Jugendtagebüchern (wie Anm. 2), S. 269. 70 Vgl. ebd. 71 Vgl. Lebeau, Aristocrates et grands commis (wie Anm. 3), S. 111–114.

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Joseph von Sonnenfels, seines Zeichens erster Inhaber eines Lehrstuhls für Kameralwissenschaften in Wien, durfte seine Tätigkeit nicht auf die universitäre Lehre beschränken. Vielmehr war er verpflichtet, auch die praktisch intendierte Ausbildung des Adels in den neu entstehenden theresianischen Akademien zu bespielen.72 Zur Eröffnung des Schuljahres an der Savoyischen Akademie im Jahr 1767 hielt der Professor den zukünftigen Amtsträgern in der Verwaltung entsprechend einen Vortrag über den Adel. Vieles an seinen Argumenten war dabei keineswegs neu, sondern entsprach einer seit dem Humanismus etablierten Vorstellung von Tugend- und Leistungsadel.73 Bemerkenswert an ­Sonnenfels’ Rede war dabei vor allem die Radikalität seiner Publikums­ beschimpfung. Der konvertierte  – und geadelte  – Jude Sonnenfels hielt den Schülern vor74, dass die Abstammung an sich überhaupt kein Kriterium gesellschaftlicher Position darstelle: schließlich käme in diesem Falle allen Juden eine übergeordnete Stellung zu, da sie sich auf die längste Ahnenreihe bis Abraham berufen könnten.75 Wenn der Fürstendienst nun dennoch die Berufung des Adels sei, so Sonnenfels weiter, dann habe der einzelne Adlige nicht selbst über seine Bestimmung in diesem Dienst zu entscheiden, sondern allein der Fürst. Als wichtiger noch stellt er fest, dass die Fähigkeit das einzige Kriterium für einen Aufstieg innerhalb des Fürstendienstes sei – und weiter: »Auch rechnet er [der Adlige] sichs nicht zur Unehre, vielleicht einem Manne untergeordnet zu seyn, dessen Namen nur erst durch ihn selbst bekannt geworden. Wenn ich, sprich er, irgend auf der Reise den Weg nicht kenne, werde ich dem, der mir ihn weisen will, vorher seine Adelsbriefe abfordern?«76

Die Fähigkeit wiederum, die den Fürstendiener avancieren ließe, ist für Sonnenfels das Wissen um den Gegenstand, für den er zuständig ist. Nichts sei schlimmer als reine Meinung und Halbwissen schädlicher als Unwissen.77 Ruft man sich den umfassenden Wissenskatalog in Erinnerung, der im Zedler’schen Artikel über den idealtypischen Kommerzienrat eingefordert wurde, so schien eine ausreichende sachliche Kompetenz in Hinsicht auf die den Räten zugewiesene Beratungs- und Entscheidungskompetenz schwer erwerbbar. Dies 72 Vgl. Simon Karstens, Lehrer  – Schriftsteller  – Staatsreformer. Die Karriere des Joseph von Sonnenfels (1733–1817). (Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs, 106) Wien 2006, S. 151–161. 73 Joseph von Sonnenfels, Das Bild des Adels. Eine Rede gehalten […] zum Anfange des Studiums in der k.k. savoyischen Akademie. Wien o. J. [1767]. 74 Zur Biographie von Sonnenfels vgl. Karstens, Lehrer  – Schriftsteller  – Staatsreformer (wie Anm. 72), S. 25–38; Hildegard Kremers, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Aufklärung als­ Sozialpolitik. Ausgewählte Schriften aus den Jahren 1764–1798. (Klassische Studien zur sozialwissenschaftlichen Theorie, Weltanschauungslehre und Wissenschaftsforschung, 10) Wien 1994, S. 9–33. 75 Vgl. v. Sonnenfels, Das Bild des Adels (wie Anm. 73), a4v.-a5r. 76 Ebd., b6v. 77 Ebd., b5v.

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war auch dem Verfasser des Lemmas klar, der abschließend bemerkte, »daß wenig Subjecta werden anzutreffen seyn, die dergleichen Wissenschaften und Requisita obbeschriebener massen nach besitzen sollten.«78 So sehr allerdings spezielle Kenntnisse einer Wirtschafts- oder Finanzverwaltung einerseits normativ wünschenswert erschienen, desto weniger sollten die Spitzen dieser Verwaltung in den Geruch von allzu theoretischer Gelehrsamkeit kommen. Das, was für den Adel im Allgemeinen galt, hatte etwa schon Bielfeld auch für Minister und Amtschefs als richtig erkannt – und dies trotz der Annahme, dass ein unbegrenzter Aufstieg in der Verwaltung theoretisch zumindest jedem Qualifizierten offenstehen sollte: Nach einer universitären Ausbildung bräuchte es unbedingt Reisen und mondäne Gewandtheit, um die »Stacheln der Wissenschaft« auszureißen, die einen zum »Igel« machten. Denn nichts sei schlimmer als ein Minister, der den »Abdruck der Pedanterie« trüge.79 Es war weniger die vom Verfasser des Zedler-Artikels geforderte Ausbildung in einem speziellen »Mercantilen Studio«80, die Karl von Zinzendorf weiteres W ­ issen und Fähigkeiten vermitteln sollte. In diesem Sinne begann für den Kommerzienrat Zinzendorf, neben den theoretischen Diskussionen der Sinzendorfschen Kommerzien-Akademie, ein training on the job. Berichte über die Zustände einzelner Manufakturen und entsprechende Referate im Kollegium bildeten seinen Einstieg in die Kommerzienverwaltung.81 Weitaus bedeutender wurden für ihn und seine Karriere allerdings die in den nächsten Jahren folgenden ausführlichen Studien- und Berichtsreisen durch ganz Europa. Schon lange vor seiner Bestallung als Kommerzienrat hatte für Zinzendorf das Reisen eine verlockende Aussicht dargestellt. Auf Vermittlung seines Bruders Ludwig sollte ihm dabei 1763 die erste Kommerzialreise nach Danzig und Preußen übertragen werden. Die Ambivalenz seiner Reisemotivation machte der frisch ernannte Kommerzienrat dabei selbst deutlich, schwankte sie doch zwischen der Perspektive einer herrschaftlich finanzierten Grand Tour und der Möglichkeit praktischer fachlicher Weiterqualifizierung aus eigener Anschauung: »Je me le représentais comme un voyage assez inutile, dont ni moi ni l’Etat ne retirerait guères de profit, outre cela comme un voyage peu convenable pour un homme de condition. Cependant je me consolais en me disant qu’il n’était pas mal fait pour un jeune homme d’apprendre à connaître les ressorts du commerce dans une ville commerçante même.«82

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Rath (Commercien-), in: Grosses vollständiges Universal-Lexicon (wie Anm. 51), S. 942. Bielfeld, Institutions politiques, Bd. 2 (wie Anm. 35), S. 88. Rath (Commercien-), in: Grosses vollständiges Universal-Lexicon (wie Anm. 51), S. 942. Die Anfertigung von Berichten und Vorträgen ist seit seinem Eintritt in den niederösterreichischen Kommerzienkonsess regelmäßig, fast täglich, in den Tagebüchern zu verfolgen. 82 Zinzendorf, Aus den Jugendtagebüchern (wie Anm. 2), S. 330.

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Die Kommerzialreisen Karl von Zinzendorfs sind bereits ausführlich von der Forschung thematisiert worden. In ihrem Charakter zwischen Bildungsreise, diplomatischer Mission und analytischem Sammeln von Informationen basierten sie auf einer Mischung aus der Lektüre theoretischer Abhandlungen und persönlichen Kontakten, die erst durch den adligen Sozialrang des Reisenden und seine Netzwerkeinbindungen ermöglicht wurden.83 In diesem Sinne eignete sich Karl von Zinzendorf ein breites Erfahrungswissen an. Dies entsprach zugleich epistemologisch einem Empirismus, wie ihn ein Teil der von ihm gelesenen Theoretiker zur Ökonomie bei ihren Betrachtungen zugrunde legten. Deutlich wird dies etwa am Beispiel Josiah Tucker, dessen »Elements of Commerce and Theory of Taxes« Zinzendorf bereits ab Ende des Jahres 1762 in Wien übersetzt hatte. Immerhin stellte derselbe Tucker in seiner Abhandlung über das Reisen fest, dessen eigentliche Haupttätigkeit solle die Beobachtung sein: Der Reisende »must observe how (the various systems of Religion, Politics and Commerce) operate on different People.«84 Die Qualität und Ausführlichkeit seiner Berichte trug dann wesentlich zur Anfangsphase seines weiteren Aufstiegs bei85, die ihn 1766 erst zum Hofrat der Kommerzienhofkommission, dann 1770 der Hofrechenkammer und Mitglied der Staatswirtschaftsdeputation, schließlich 1776 zum ersten Gouverneur der Handelsstadt Triest avancieren ließ. Das Changieren seiner Karriere zwischen Kommerzien- und Finanzverwaltung, die sich doch auf der Ebene der Behördenorganisation voneinander differenzieren zu wollen schienen, ist in diesem Zusammenhang auch exemplarisch für Zinzendorfs Berichte. Ganz im Sinne sowohl der Kameralwissenschaft eines Darjes als auch des französischen »commerce politique« wurde von seinen Auftraggebern die Analyse von Handel, Manufakturen und Landwirtschaft gemeinsam mit den ausländischen Finanzsystemen eingefordert und von Karl geliefert.86 Bemerkenswert scheint dabei auch das Selbstbewusstsein, mit dem der junge Kommerzienrat seine Be-

83 Vgl. Lebeau, Finanzwissenschaft und diplomatische Missionen (wie Anm. 3), S. 151–172; Elisabeth Fattinger, Gestalt und Gewinn einer ›Auftragsreise‹. Karl Graf Zinzendorf in Großbritannien (1768), in: Joachim Rees/Winfried Siebers/Hilmar Tilgner (Hg.), Europareisen politisch-sozialer Eliten im 18. Jahrhundert. Theoretische Neuorientierung – kommunikative Praxis  – Kultur- und Wissenstransfer. (Aufklärung und Europa, 6) Berlin 2002, S. 129–158; Sergueï Karp, Les livres et les gens du livre dans le voyage de Karl von Zinzendorf en Russie (1774), in: Frédéric Barbier/Dominique Varry (Hg.), La prosopographie des hommes du livre, l’enssib à Villeurbanne, du 22 au 23 avril 2005, S. 61–70, http://www.enssib.fr/bibliotheque-numerique/notice-1459 (letzter Zugriff am 03.09.2016). 84 Josiah Tucker, Instructions for Travellers. Dublin 1758, S. 4 f.; ähnliche Bemerkungen finden sich bei Paul J. Marperger, Anmerckungen Uber das Reisen In Frembde Länder, Dessen rechten Gebrauch und Mißbrauch und den, dem Publico daraus entstehenden Nutzen oder Schaden. Dresden/Leipzig o. J. [1722], bes. S. 3–25. 85 Vgl. Fattinger, Gestalt und Gewinn (wie Anm. 83), S. 134–136. 86 Vgl. ebd., S. 134.

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richte nicht allein als deskriptive Schilderung des status quo begriff. Vielmehr leitete er, gerade bei den Reisen durch die Monarchie, aus einem vor Ort erworbenen Wissen den Anspruch ab, Verbesserungsvorschläge zu erarbeiten.87 Gemessen an ihren umfassenden Lektüren auch jenseits der Kommerz- und Finanzwissenschaften dürfen Karl von Zinzendorf wie sein älterer Bruder L ­ udwig als typische Vertreter eines gelehrt-aufgeklärten Adels gelten. Anders allerdings als der französische Kreis um Gournay brachten sie im Wesentlichen keine gedruckten Schriften mit einem weiteren Rezipientenkreis hervor, die ihnen eine etwaige Zuschreibung als Experten hätte einbringen können. Sicherlich gehörte neben dem Tausch von Büchern und mündlichen Informationen die Erstellung von Analysen für persönliche Bekanntschaften oder die Weitergabe handschriftlicher Denkschriften zum gängigen Tauschmittel.88 Nichtsdestoweniger waren es keine Druckpublikationen, deren Anerkennung ihnen überhaupt die Möglichkeit zum Ein- und Aufstieg in der Administration boten. Anders also als die Akteure aus dem Kreis von Gournay, die das als Herrschaftsarkanum betrachtete Wissen um Ökonomie und Finanzen zum Gegenstand einer erweiterten Öffentlichkeit machten89, konnte von einem Habsburger Kommerzienrat kaum eine breitere Veröffentlichung seines Wissens erwartet werden.90 Schließlich erwies sich in der Habsburger Monarchie das Wissen des Kommerzienrats als zu wertvolles spezielles Herrschaftswissen, als dass es Publizität außerhalb der Administration erlangen sollte. Als Karl von Zinzendorf bereits 1764 das Angebot erreichte, in sächsische Dienste zu treten, erklärte ihm sein Wiener Vorgesetzter entsprechend, dass es ein schwerwiegender Affront gegen die k.k. Majestät sei, »die zu Wien erlernten Grundsätze gerade in der nämlichen Carriere in eines benachbarten Fürsten Diensten vielleicht gegen das Haus­ Oesterreich zu verwenden.«91

87 Vgl. beispielsweise seinen Bericht zu Triest: Karl von Zinzendorf, Relation von Triest nach meiner Anwesenheit daselbst 1771 verfaßt, HHStA KA Nl. Zinzendorf, Karton 3, bes. S. 216–218; vgl. zum Englandbericht: Fattinger, Gestalt und Gewinn (wie Anm. 83), S. 153. 88 Vgl. ausführlich hierzu Christine Lebeau, La république des administrateurs. Une république médiate, in: Pierre-Yves Beaurepaire (Hg.), La Plume et la Toile. Pouvoirs et réseaux de correspondance dans l’Europe des Lumières. Arras 2002, S. 273–287. 89 Vgl. Charles, Le cercle de Gournay (wie Anm. 39), bes. S. 82 f. 90 Eine Ausnahme hierbei bildet der im Druck erschienene Banken- und Papiergeldplan Ludwig von Zinzendorfs, dessen Publikation er als Waffe in den inneradministrativen Debatten mit seinen Gegnern einsetzte, vgl. Ludwig v. Zinzendorf, Finanz-Vorschläge zur Fortsetzung des gegenwärtigen Krieges, o. O. [Wien] 1759. 91 Zinzendorf, Die Selbstbiographie des Grafen (wie Anm. 1), S. 173.

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IV. Résumé Experten, so hat Martin Mulsow unlängst festgestellt, seien durchaus Teil von »epistemischen Kulturen«, »aber im Regelfall fungieren sie eher als Extensionen von Wissensverwaltung: Das gesicherte Wissen wird angewendet.«92 Zumindest im Fall des Kommerzienrats Karl von Zinzendorf lässt sich solch ein allgemeiner Definitionsversuch nur bedingt anwenden. Für die Habsburger Kommerzienverwaltung der Mitte des 18.  Jahrhunderts scheint es eher so, als ob Wissensproduktion und -anwendung zu gewichtigen Teilen zusammenfielen. Sicherlich bestand ein Großteil des Prozesses, der Zinzendorf zu einem etwaigen Experten werden ließ, in der Lektüre bestehenden technischen und theoretischen Wissens. Doch konnte dieses sehr neue Wissen noch keineswegs als ein abgeschlossener Kanon sicheren Wissens gelten. Zudem verdeutlicht der Fall Zinzendorfs ebenso, dass sein durch diese epistemische Prägung geschultes Handeln wiederum genauso erst zur Verfestigung einer noch recht neuen Vorstellung vom Kommerzienrat als sehr spezifischem Agenten der Administration beitrug. Dies einerseits durch die Einbindung in europaweit übergreifende Netzwerke einer Kommunikation über einen »commerce politique«, andererseits durch die Produktion eigener Denkschriften und Analysen – auch wenn letztere den Bereich der Administration selbst im Wesentlichen kaum verließen. Zudem nahmen diese Akteure, wie Ludwig von Zinzendorf und späterhin auch Karl, aktiven Einfluss auf die organisationelle Gestaltung der Behörden, die sich auf Kommerzien- und Finanzverwaltung spezialisierten. Der Kommerzienrat erschien in diesem Sinne als doppelter Kompetenzträger. Zum einen im juridisch-herrschaftstechnischen Sinne, war er doch Amtsträger einer Behörde, deren Zuständigkeitsbereich bis Mitte des 18.  Jahrhunderts modifiziert wurde, beziehungsweise sich auf Grundlage eines veränderten Verständnisses von Kommerzien und Ökonomie etablierte. Die administrative Kompetenz, die dem Kommerzienrat Zinzendorf zugesprochen werden konnte, basierte jedoch zugleich auf einer ihm sozial-hierarchisch zugeschriebenen Kompetenz als höherrangigem Mitglied des Adels, beziehungsweise als Profiteur familiärer Netzwerke. Die soziale Position Karl von Zinzendorfs wiederum wirkte auch entscheidend auf seine Möglichkeiten des Wissenserwerbs. Auf dieser Basis vermochte er sich auch als relativer Außenseiter in Wien durchzusetzen. In diesem Sinne wird an diesem Fall das Verschmelzen von statuarischer, rechtlich-herrschaftlicher Ermächtigung und dem Wettbewerbsaspekt deutlich, die sich noch in der Zedler’schen Definition von »competentia« finden.93 92 Martin Mulsow, Expertenkulturen, Wissenskulturen und die Risiken der Kommunikation, in: Rexroth/Reich/Roick (Hg.), Wissen, maßgeschneidert (wie Anm. 9), S. 249–268, hier 249. 93 Vgl. Competentia, in: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 6: Ci-Cz. Halle 1733, S. 870.

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Hinsichtlich seines Wissens wurde der Kommerzienrat Träger einer sachlich-­ inhaltlichen Kompetenz. Stellt man dabei jedoch das Verständnis von Kameralwissenschaften oder eines »commerce politique« in Rechnung, wäre es zu kurz gegriffen, hier allein von einem ausdifferenzierten Spezialwissen im Sinne eines komplementären Teilsystems Wirtschaft zu sprechen. Zumindest aus dem zeitgenössischen Anspruch der Träger dieser Diskurse handelte es sich doch um wesentlich mehr als nur die Herausbildung eines komplementären Spezialwissens. Eher implizierte insbesondere der »commerce politique« eine Umkehrung der Prioritäten im Verständnis des Gemeinwesens, das nun auch in Hinsicht auf seine Organisation und seine Moral unter das apriori von Prinzipien gestellt wurde, die man aus der ökonomischen Analyse ableitete. Einen Reflex dessen findet sich eben auch in den Debatten um die behördliche Zugehörigkeit der Kommerzienverwaltung. Deren Wichtigkeit und intrinsische Verbindung mit dem »Politischen« stellte entsprechend in den 1760er Jahren keiner der Beteiligten in Frage – bei gleichzeitiger Annahme, es handele sich um ein Gebiet, das Fachkenntnisse und eine gewisse separate Eigenlogik verlangte. Der Kommerzienrat mochte in diesem Sinne tendenziell zwischen seiner Position als Inhaber von »Sonderwissen« und »Weltweisem« changieren.94 Nichtsdestoweniger darf der Kommerzienrat der Mitte des 18. Jahrhunderts im Sinne der eingangs paraphrasierten Expertendefinition von Ash als Experte gelten. Ein ökonomischer Experte war er zudem, wobei in Bezug auf den Kommerzienrat das zeitgenössische Verständnis von Wirtschaft weder konsequent von der Finanzwissenschaft, noch von den umfassenden Ansprüchen einer gesamtgesellschaftlichen oder einer politischen Perspektive getrennt werden konnte. Für Karl von Zinzendorf als relativem Außenseiter im Habsburger Wien boten sich angesichts der breiten Anforderungen an den Kommerzienrat und des noch verhältnismäßig geringen Interesses an solch einer nichtsdestoweniger spezialisierten Karriere – trotz seines anfänglichen Unwillens – unverhoffte Aufstiegschancen.

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Marian Füssel

Wissen, Märkte und Kanonen Europäische Militärexperten im Südasien der Frühen Neuzeit

»Zu Beginn des 17. Jahrhunderts hatte der Shogun davon gehört, daß die Überlegenheit der Europäer  – auf den Gebieten der Schiffahrt, des Handels, der Politik, der Kriegskunst  – in ihrer Kenntnis der Mathematik begründet sei. Er wünschte, sich eines so kostbaren Wissens zu bemächtigen. Als man ihm von einem englischen Seemann erzählt hatte, der das Geheimnis dieser wunderbaren Diskurse kannte, ließ er ihn in seinen Palast kommen und hielt ihn dort fest. Ganz allein nahm er bei ihm Unterrichtsstunden. Er lernte Mathematik. Er behielt tatsächlich die Macht und wurde sehr alt. Erst im 19. Jahrhundert gab es dann japanische Mathematiker. Aber die Anekdote ist damit nicht zu Ende: sie hat ihre europäische Kehrseite. Dieser englische Seemann, Will Adams, soll nämlich ein Autodidakt gewesen sein: ein Zimmermann, der bei seiner Arbeit auf einer Werft die Geometrie gelernt hatte. Drückt sich nicht in dieser Erzählung einer der großen Mythen der europäischen Kultur aus? Dem monopolisierten und geheimen Wissen der orientalischen Tyrannei setzt Europa die universale Kommunikation der Erkenntnis, den unbegrenzten und freien Austausch der Diskurse entgegen.«1

Mit dieser Geschichte veranschaulichte Michel Foucault 1970 in seiner Antrittsvorlesung »Die Ordnung des Diskurses« die Mechanismen der Einschränkung von Aussageformationen. Die Episode ist jedoch ebenso aufschlussreich für die Frage nach der Rolle von Experten im Prozess der europäischen Expansion. Sie zeigt zum einen, wie sich ein ›Despot‹ das Wissen eines europäischen Experten aneignet, zum anderen wie der Seemann Adams erst in diesem Moment durch die Anrufung des Shoguns überhaupt zum Experten gemacht wird.2 Der Experte ist mithin eine soziale Rollenzuschreibung, sein Wissen jedoch nichtsdestoweniger ein begehrtes Gut und das insbesondere innerhalb der Konkurrenz unterschiedlicher Kulturen.3 So kann es mittlerweile wohl als Konsens der Forschung gelten, dass der Prozess der europäischen Expansion und einer sich ausbreitenden globalen Verflechtung von mehr Faktoren abhing als von

1 Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses. München 1974, S. 26. 2 Zu William Adams vgl. Giles Milton, Samurai William. Ein englischer Navigator im Dienste des Shōgun. Neu-Isenburg 2009; William Corr, Adams the Pilot. The Life and Times of Captain William Adams: 1564–1620. Folkestone, Kent 1995. 3 Björn Reich/Frank Rexroth/Matthias Roick (Hg.), Wissen, maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne. (Historische Zeitschrift, Beihefte N. F. 57) München 2012.

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militärischer Gewalt allein.4 Die sozialen Logiken lokaler Bündnisse, der Einsatz bestimmter Kommunikationstechniken und vor allem eine spezifische Wissenskultur zählen zu denjenigen Faktoren imperialer Ausdehnung, denen in jüngerer Zeit verstärkte Aufmerksamkeit gilt.5 Doch sollte der Faktor organisierter Gewalt und militärischer Technologie damit nicht ad acta gelegt werden, nicht zuletzt da Gewalt und Wissen kaum voneinander zu trennen sind.6 »Segel und Kanonen«, um einen bekannten Titel von Carlo Cipolla zu zitieren, bedurften eines spezifischen Know-hows und waren damit an bestimmte Expertenkulturen geknüpft.7 Mit anderen Worten, nicht allein der Besitz einer bestimmten Waffe oder eines Fortbewegungsmittels war entscheidend, sondern auch der Wille und die Fähigkeit zu ihrem Gebrauch. Ein Feld, das gerade im maritimen Bereich von Fragen der Kartographie bis hin zur astronomischen Bestimmung von Längen und Breitengraden mittlerweile gut erforscht ist.8 Ähnliches gilt in etwas geringerem Maß auch für Kanonen und eine spezifisch militärische Expertise. Seit dem 16.  Jahrhundert begann in Europa eine unaufhaltsame Verbreitung der Artillerie, die allmählich Belagerungswesen und Festungsbau transformierte und seit dem 18. Jahrhundert auch die Schlachtfelder zu beherrschen begann. Ein Prozess, der vor allem in der englischsprachigen Forschung unter dem 1955 von Michael Roberts geprägten Begriff der »militärischen Revolution« diskutiert wird.9 Die These von der militä4 Vgl. zuletzt die umfangreiche Synthese von Wolfgang Reinhard, Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415–2015. München 2016. 5 Wayne E. Lee (Hg.), Empires and Indigenes. Intercultural Alliance, Imperial Expansion, and Warfare in the Early Modern World. New York, NY 2011; Jürgen Renn (Hg.), The Globalization of Knowledge in History. Berlin 2012; mit Blick auf Expertenkulturen zum Teil auch die Beiträge in Eric H. Ash (Hg.), Expertise: Practical Knowledge and the Early Modern State. Chicago, IL . 2010. 6 Vgl. Dierk Walter, Organisierte Gewalt in der europäischen Expansion. Gestalt und Logik des Imperialkrieges. Hamburg 2014; zur Aneignung europäischer Formen o ­ rganisierter Gewalt außerhalb Europas vgl. David B. Ralston, Importing the European Army. The Intro­duction of European Military Techniques and Institutions in the Extra-European World, 1600–1914. Chicago 1990. 7 Carlo M. Cipolla, Segel und Kanonen. Die europäische Expansion zu See. [Orig. 1965] Berlin 1999; inzwischen wird die Kanonen- und Bakterien-These weitgehend kritisch diskutiert, vgl. George Raudzens (Hg.), Technology, Disease and Colonial Conquests, Sixteenth to Eighteenth Centuries. Essays Reappraising the Guns and Germs Theories. Leiden u. a. 2001. 8 James R. Akerman (Hg.), Cartographies of Travel and Navigation. Chicago 2006; Ders., The Imperial Map. Cartography and the Mastery of Empire. Chicago 2009; Philippe Despoix, Die Welt vermessen. Dispositive der Entdeckungsreise im Zeitalter der Aufklärung. Göttingen 2009; Tanja Michalsky/Felicitas Schmieder/Gisela Engel (Hg.), Aufsicht – Ansicht – Einsicht. Neue Perspektiven auf die Kartographie an der Schwelle zur Frühen Neuzeit. Berlin 2009; Michael Bischoff/Vera Lüpkes/Rolf Schönlau (Hg.), Weltvermesser. Das goldene Zeitalter der Kartographie. Dresden 2015. 9 Vgl. Michael Roberts, Die militärische Revolution 1560–1660, in: Ernst Hinrichs (Hg.), Absolutismus. Frankfurt am Main 1986, S. 273–309. Das Konzept ist mittlerweile viel diskutiert und umstritten, vgl. Bert S. Hall/Kelly R. de Vries, Essay Review – the »Military Revolution«

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rischen Revolution war und ist von einem starken Eurozentrismus geprägt, der die nicht-euro­päischen Regionen entweder gar nicht oder als Gegenbeispiele für eine Nicht-Modernisierung anführt.10 Es liegt also nah, die Emergenz des Artilleriewesens auch auf den überseeischen Schauplätzen zu verfolgen und in ihren Konsequenzen mit der europäischen Entwicklung zu vergleichen.11 Kaushik Roy hat, anstatt nach Äquivalenten oder einem Ausbleiben der militärischen Revolution in Südasien zu suchen, für diesen Prozess den Begriff einer »Military Synthesis« vorgeschlagen, während Andrew de la Garza zuletzt von einer militärischen Revolution des Mogulreiches im 16.  Jahrhundert gesprochen hat.12 Ähnliche Tendenzen zu militärtechnischer Innovation haben Gábor Ágoston für das Osmanische Reich und Tonio Andrade für China ausmachen können.13 Ein besonders markanter Fall, der jeglichen technologischen Determinismus, wie er lange Zeit weite Teile der angloamerikanischen Militärgeschichte dominierte, in Frage stellt und die kulturelle Logik hinter der Aneignung oder eben Ablehnung von Waffentechnik aufzeigt, ist die von Noel Perrin meisterhaft erzählte Geschichte der Abschaffung der Feuerwaffen im Japan der Tokugawa Zeit von 1543–1879.14 Doch diese spezifische Insel-Logik kultureller Abschottung sollte eine Ausnahme bleiben. Kanonen waren weder einfach herzustellen noch einfach zu bedienen. So verwundert es nicht, dass der Begriff des »Experten« exakt im Bereich der Erforschung von Artillerieeinsatz immer wieder Verwendung findet, meist jedoch ohne damit ein explizites Konzept zu verbinden. So schreibt Geoffrey Vaughan Scammell 1992: »European experts, or self-proclaimed experts, in the gunner’s Revisited, in: Technology and Culture 31, 1990, S. 500–507; Clifford J. Rogers (Hg.), The Military Revolution Debate. Readings on the Military Transformation of Early Modern Europe. Boulder u. a. 1995; MacGregor Knox/Williamson Murray (Hg.), The Dynamics of Military Revolution, 1300–2050. Cambridge 2001; Geoffrey Parker, The »Military Revolution«, 1955–2005: From Belfast to Barcelona and The Hague, in: Journal of Military History 69,1, 2005, S. 205–209; Bernhard R. Kroener, Kriegswesen, Herrschaft und Gesellschaft 1300–1800. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 92) München 2013, S. 62–74. 10 Vgl. Kaushik Roy, Introduction, in: Ders., Military Transition in Early Modern Asia, 1400–1750. Cavalry, Guns, Governments and Ships. London u. a. 2014, S. 1–9, hier 3–5. 11 Vgl. Geoffrey Parker, Die militärische Revolution. Die Kriegskunst und der Aufstieg des Westens 1500–1800. Frankfurt am Main 1990; dazu kritisch William R. Thompson, The Military Superiority Thesis and the Ascendancy of Western Eurasia in the World System, in: Journal of World History 10, 1999, S. 143–178. 12 Kaushik Roy, Military Synthesis in South Armies, Warfare, and Indian Society, c. 1740–1849, in: Ders. (Hg.), Warfare, State and Society in South Asia 500 BCE –2005 CE . New Delhi 2010, S. 350–396; Andrew de la Garza, The Mughal Empire at War: Babur, Akbar and the Indian Military Revolution, 1500–1605. London 2016. 13 Gábor Ágoston, Feuerwaffen für den Sultan. Militärische Stärke und Waffenindustrie im Osmanischen Reich. Leipzig 2010; Tonio Andrade, Gunpowder Age. China, Military Innovation, and the Rise of the West in World History. Princeton, NJ 2016. 14 Noel Perrin, Keine Feuerwaffen mehr. Japans Rückkehr zum Schwert, 1543–1879. Stuttgart 1996.

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art crop up throughout much of Asia from the Early 1500s«15, während Channa Wickremesekera 2002 ganz ähnlich festhält: »European deserters had been welcome at the Courts of Indian rulers since the early sixteenth century as artillery experts.«16 Entsprechende Zitate ließen sich fast beliebig vermehren.17 Doch Experten waren zu keiner Zeit einfach gegeben. Sie stellen eine kulturelle Rollenzuschreibung und Rollenerwartung dar, werden also gesellschaftlich gemacht.18 Militärische Experten wurden weniger durch ein spezifisches inhaltliches Sonderwissen konstituiert als durch die jeweilige Interaktionssituation, in der sie für bestimmte Kompetenzen ›angerufen‹ wurden.19 Erst die Annahme dieser Anrufung konstituiert den Experten. Es bedurfte mithin einer Nachfrage nach Expertise und Menschen, die bereit sind, diese auch zu entlohnen. Eine Situation, die auf kaum einem Schauplatz der europäischen Expansion variantenreicher gegeben war als in Südasien. Hier wurden nicht nur komplexe Herrschaftssysteme wie das indische Mogulreich mit europäischen Handelsgesellschaften konfrontiert, sondern trafen auch zahlreiche europäische wie innerasiatische Handelskonkurrenten aufeinander. Die Gemengelage unterschiedlicher Akteure und Interessen ist gerade für die Frage nach der kulturellen Logik von Wissensmärkten besonders aufschlussreich. Der Blick auf die Marktförmigkeit von Austausch erlaubt es, den in der postkolonialen Wissensgeschichte zu Recht geforderten Perspektivenwechsel von Prozessen der Diffusion auf solche der Zirkulation zu konkretisieren.20 Im Folgenden werden zunächst einige Grundstrukturen des militärischen Arbeitsmarktes in Südasien vorgestellt (I.), dann einige exemplarische Fälle militärischer Experten diskutiert (II.), um drittens auf Formen der Expertenkritik einzugehen (III.). I . Der militärische Arbeitsmarkt Südasiens Die militärischen Entwicklungen im frühneuzeitlichen Südasien, um die es mir im Folgenden im Wesentlichen gehen soll, formen keine historische Einbahnstraße, in der die Europäer unter Ausnutzung lokaler Bündnispartner und auf Grund überlegener Technologie schließlich die Oberhand gewinnen muss15 Geoffrey Vaughan Scammell, European Exiles, Renegades and Outlaws and the Maritime Economy of Asia c. 1500–1750, in: Modern Asian Studies 26,4, 1992, S. 641–661, hier 645. 16 Channa Wickremesekera, Best Black Troops in the World: British Perceptions and the Making of the Sepoy, 1746–1805. New Delhi 2002, S. 67. 17 Parker, Militärische Revolution (wie Anm. 11), S. 159; Cipolla, Segel und Kanonen (wie Anm. 7), S. 126–129. 18 Rexroth/Roick/Reich, Experten (wie Anm. 3). 19 Vgl. Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate (Anmerkungen für eine Untersuchung), in: Ders., Ideologie und ideologische Staatsapparate. Hamburg 1977, S. 108–153, hier 140–145. 20 Vgl. Kapil Raj, Relocating Modern Science. Circulation and the Construction of Knowledge in South Asia and Europe, 1650–1900. Basingstoke 2010.

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ten.21 Vielmehr sind die sozialen und kulturellen Bedingungen des Übergangs vom Handel zur britischen Territorialherrschaft aus einer symmetrischen, nicht teleologischen Perspektive zu beschreiben und damit zu historisieren.22 Die Thematisierung von militärischen Wissensmärkten kann insofern dazu beitragen, als dass sie Fragen von technologischer Verfügbarkeit und kultureller Eigenheit auflöst zugunsten von Fragen der Aneignung und kulturellen Pass­ fähigkeit.23 Militärische Expertise war ein von allen Parteien begehrtes, erworbenes und produziertes Gut. Insofern ist im Sinne Max Webers hier eine Minimalbedingung von Märkten erfüllt, die er wie folgt definiert: »Von einem Markt soll gesprochen werden, sobald auch nur auf einer Seite eine Mehrheit von Tausch­reflek­tanten um Tauschchancen konkurrieren.«24 Indische Fürsten begannen schon im späten Mittelalter einen Geschützpark aufzubauen und dafür europäische Söldner zu rekrutieren. Die aus Europa importierte Expertise konnte damit auch gegen die Europäer selbst verwendet werden. Vor diesem Hintergrund scheint es tatsächlich gerechtfertigt, nicht nur von einem »militärischen Arbeitsmarkt«, sondern bis zu einem gewissen Grad auch von einem »Gewaltmarkt« im Sinne von Georg Elwert zu sprechen.25 Der­ Begriff des »Gewaltmarktes« wurde anhand von empirischen Befunden aus dem modernen Afrika entwickelt. Diesem vergleichbar war im frühmodernen Indien das weitgehende Fehlen eines Gewaltmonopols seit dem Tod des Groß­ moguls Aurangzeb (1618–1707) im Jahre 1707 und im Falle der Handelskompa21 Vgl. als hilfreichen Einstieg und Forschungsüberblick über die Militärgeschichte Indiens Kaushik Roy, Historiographical Survey of the Writings on Indian Military History, in:­ Sabyasachi Bhattacharya (Hg.), Approaches to History. Essay in Indian Historiography. Delhi 2011, S. 119–157. 22 Vgl. Jeremy Black, European Overseas Expansion and the Military Revolution, in:­ Raudzens (Hg.), Technology (wie Anm. 7), S. 1–30. ›Symmetrie‹ bezieht sich hier auf drei Relationen: Die der Zeit (keine Teleologie), der Akteure (keine unterstellte Überlegenheit der Europäer) und von Mensch und materieller Kultur (Gleichgewichtung von menschlichen und nichtmenschlichen Elementen in Akteurnetzwerken). 23 Vgl. Marian Füssel, Lernen  – Transfer  – Aneignung. Theorien und Begriffe für eine transkulturelle Militärgeschichte, in: Birthe Kundrus/Dierk Walter (Hg.), Waffen – Wissen  – Wandel. Anpassung und Lernen in transkulturellen Erstkonflikten. Hamburg 2012, S. 34–49; speziell zu den technologischen Antworten vgl. Ahsan Jan Qaisar, The Indian Response to European Technology and Culture (A. D. 1498–1707). Delhi 1998. 24 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. 5. Aufl. Tübingen 1980, S. 382. 25 Dirk H. A. Kolff, Naukar, Rajput and Sepoy: The Ethnohistory of the Military Labour Market in Hindustan 1450–1850. Cambridge 1990. Zum Begriff des »Gewaltmarktes« vgl. Georg Elwert, Gewaltmärkte. Beobachtungen zur Zweckrationalität der Gewalt, in: Trutz von Trotha (Hg.), Soziologie der Gewalt. (Kölner Zeitschrift für Soziologie und­ Sozialpsychologie, Sonderheft 37) Opladen 1997, S.  86–101. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff und eine gelungene Adaption für die Vormoderne leisten Philippe Rogger/Benjamin Hitz, Söldnerlandschaften – räumliche Logiken und Gewaltmärkte in historisch vergleichender Perspektive. Eine Einführung, in: Dies. (Hg.), Söldnerlandschaften. Frühneuzeitliche Gewaltmärkte im Vergleich. (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 49) Berlin 2014, S. 9–43.

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nien die Kriegführung aus primär wirtschaftlichen Motiven.26 Die strategische Erzeugung von Angst und die Instabilität von Bündnissen und Loyalitäten sind weitere Faktoren, die gerade von den Europäern taktisch ausgenutzt wurden.27 Es gilt jedoch auch, einige deutliche Unterschiede zu berücksichtigen. Elwert geht von der Situation moderner Marktwirtschaften und moderner Medien­ gesellschaften aus, während wir es in Südasien mit sozial eingebetteten Märkten zu tun haben, die nicht allein nach Regeln ökonomischer Effizienz und Nutzenmaximierung funktionierten, sondern von Faktoren wie Ehre, Religion, Herkunft und sozialem Stand wesentlich mitbestimmt wurden.28 Innerhalb des militärischen Arbeitsmarktes bildeten Wissensakteure gewissermaßen das Hochpreissegment, waren hier doch Fähigkeiten und Fertigkeiten gefragt, die dem Anspruch nach bereits erlernt sein mussten und somit ein höheres Qualifikationsniveau beanspruchen konnten. Neben der offenen Vermittlung durch die Handelskompanien bestimmte sich das Angebot des militärischen Wissensmarktes vor allem durch europäische Deserteure oder ›Abenteurer‹. Es war bekannt, dass Indien zumindest in finanzieller Hinsicht eine vielversprechende Karriereoption eröffnen konnte. Ein Großteil der bisherigen Forschung hat die Aktivitäten der europäischen Söldner daher als Kapitel in der Geschichte sozialen Aufstiegs und sozialer Mobilität verortet.29 Ein schillerndes Beispiel hierfür ist etwa der Lebenslauf des berüchtigten deutschen Söldnerführers Walter Reinhardt.30 Nach der Schlacht von Dettingen 1743 aus französischen Diensten desertiert, stieg er im Dienst verschiedener indischer Fürsten bis 1774 zu einem Landmagnaten mit jährlichen Einkünften von rund 600.000 Rupien auf. Reinhardt blieb jedoch Zeit seines Lebens Analphabet und hat offenbar keinerlei eigene schriftliche Zeugnisse hinterlassen. Die militärischen Herausforderungen, vor die sich die europäischen Handelsgesellschaften wie die Companie des Indes oder die East India Company gestellt sahen, und die der lokalen Machthaber, wiesen jedoch signifikante Unterschiede auf. Während für die Europäer, vereinfacht gesprochen, das Problem 26 Kaushik Roy, The Hybrid Military Establishment of the East India Company in South Asia: 1750–1849, in: Journal of Global History 6, 2011, S. 195–218, hier 215; Ders., War, Culture and Society in Early Modern South Asia, 1740–1849. London 2011. 27 Zur Frage der Versicherheitlichung vgl. etwa Marian Füssel, Die Politik der Unsicherheit. Versicherheitlichung, Gewalt und Expansion in den britischen Kolonien im Siebenjährigen Krieg, in: Christoph Kampmann/Ulrich Niggemann (Hg.), Sicherheit in der Frühen Neuzeit. (Frühneuzeit Impulse, 2) Köln 2013, S. 299–312. 28 Vgl. zur Frage der »embeddedness« Mark Granovetter, Economic Action and Social Structure. The problem of Embeddedness, in: The American Journal of Sociology 91,3, 1985, S. 481–510. 29 Michael Mann, Indien ist eine Karriere. Biographische Skizzen deutscher Söldner, Ratsherren und Mediziner in Südasien, 1500–1800, in: Markus A. Denzel (Hg.), Deutsche Eliten in Übersee (16. bis frühes 20.  Jahrhundert). (Büdinger Forschungen zur Sozial­ geschichte 2004 und 2005. Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit, 27) St. Katharinen 2006, S. 249–289. 30 Ebd., S. 262–267.

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aufgrund der großen Entfernungen eher in der Quantität der verfügbaren Truppen lag, war es für die Mogulherrscher eher die Qualität und Kontinuität der Expertise im Umgang mit Drill und Geschütztechnologie. So begannen die Europäer mit der Rekrutierung von sogenannten Sepoys aus Einheimischen, eine Praxis die zunächst von den Franzosen entwickelt worden war, dann aber bald von den Briten kopiert wurde und sich zu einem rasch expandierenden Erfolgsmodell entwickelte.31 Neben den »best black troops in the world« gab es jedoch auch eine nicht unbeträchtliche Anzahl europäischer Söldner, die sich wahlweise von den Handelsgesellschaften oder den lokalen Gewalten anheuern ließen.32 Genaue Zahlen sind jedoch ebenso schwierig zu gewinnen wie vertiefte Einblicke in die konkrete Aushandlung von militärischer Expertise vor Ort. Die bisher genutzten Quellen sind vor allem die Korrespondenzen der europäischen Handelskompanien sowie die bekannten Reiseberichte etwa von Jean-Baptiste ­Tavernier,­ Gemelli Careri, Jürgen Andersen, Cristofero Borri, Niccolao Manucci oder Jean de Thevenot. Aus ihnen hat bereits die ältere Forschung immerhin eine reiche Fallsammlung einzelner Anstellungsverhältnisse zusammengetragen.33 Die Präsenz europäischer Kanoniere in Südasien begann bereits im 15. Jahrhundert mit den »bombardeiros de nomonima«, einer Gruppe von Flamen und Deutschen, die sich einem Aufruf des Königs von Portugal folgend in Lissabon zur Bruderschaft (confraria des Alemans bombardeiros) des Heiligen Bartho­ lomäus zusammenschlossen und dort auch eine St. Bartholomäus-Kapelle unterhielten.34 Mit Privilegien des portugiesischen Königs ausgestattet, reisten sie 1502 nach Cochin an der Malabarküste im Südwesten Indiens, wo sie eine eigene Kirche bauen ließen. Weitere hundert bombardeiros wurden später nachrekrutiert, um Goa zu sichern. Bereits zu dieser Zeit zeigte sich, dass mit ihrem Dienst oder Sold unzufriedene Europäer auch in den Dienst der lokalen Machthaber treten konnten, wie etwa der Ex-Soldat Marcos Roiz Dalemanha, der sich als Sekretär des Rajas von Cochin verdingte. Als katholischen Christen war es den Portugiesen nach päpstlicher Bannbulle theoretisch verboten, Waffen an Muslime und Ungläubige zu verkaufen, eine Norm, die in der Praxis jedoch immer wieder unterlaufen wurde.35 So beklagten verschiedene portugiesische Be31 Wickremesekera, Best Black Troops (wie Anm. 16), S. 117. 32 Ebd., S. 67–75. 33 Vgl. den Literaturüberblick von Ramamurthy Balasubramaniam, European Mercenary Artillerymen in Indian Subcontinent: 1500–1800, in: Indian Journal of History of Science 40,4, 2005, S. 673–677. 34 Vgl. ausführlich Gregor M. Metzig, Kanonen im Wunderland. Deutsche Büchsenschützen im portugiesischen Weltreich (1415–1640), in: Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit 14,2, 2010, S. 267–298 sowie die Hinweise bei Mann, Karriere (wie Anm. 29), S. 261; Pius Malekandathil, The Germans, the Portugese and India. Münster 1999, S. 31–33. 35 Charles R. Boxer, Asian Potentates and European Artillery in the 16th and 17th Centuries: A Footnote to Gibson-Hill, in: Journal of the Malaysian Branch of the Royal Asiatic­ Society 38, 1965, S. 156–172, hier 160 f.

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obachter, wie etwa ein anonymer Soldat in der 1630 veröffentlichten Schrift »Primor e Honra da vida Soldatesca no estado da India«, bereits den erreichten Expertenstatus der lokalen Gewalten: »[T]he Portugese taught the Sinhalese, and more especially Raja Sinha I, the use of [fire]-arms, firing with matchlocks, and casting cannon. And whereas they were formerly an unwarlike race, and used no other arms than swords, shields, lances, bows and arrows, they are now so expert in the use of matchlocks and artillery, that they are in no way inferior to us.«36

Damit reihte er sich ein in eine Kritik anderer portugiesischer Autoren, die beklagten, dass im Gegensatz zu den Spaniern, die es in Mexiko und Peru nur mit Gegnern zu tun hätten, die mit Pfeil und Bogen oder Holzknüppeln kämpften, sie in Südasien mit Armeen konfrontiert wären, die über Feuerwaffen verfügten. Aufschlussreich für die vergleichbar seltene Zuschreibung von Expertise an die lokalen Akteure ist auch der 1631 veröffentlichte Reisebericht des Jesuiten Cristoforo Borri (1583–1632) über Cochin-China, das heutige Südvietnam. Er berichtet, die Chochin-Chinesen hätten aus den Wracks der auf ihren Felsen aufgelaufenen portugiesischen und holländischen Schiffe Kanonen geborgen, die sie nun so meisterhaft zu bedienen wüssten, dass sie den Europäern darin in nichts nachständen, ja diese sogar herausfordern könnten.37 Sie würden sich auch ständig im Zielschiessen üben, so dass sie mit ihrer Artillerie besser treffen könnten als andere mit der Arkebuse.38 36 Ebd., S. 161. »So expert« entsteht erst in der Übersetzung Boxers, im Orginal heißt es »tam praticos«: »[O]nde os Portugueses ensinarāoaos Chingalás, principalmente ao Rajú jugar das armas, tirar com espingardas, fundir artelharia; & sendo elles gente pouca bellicosa, & nāo tendo mais vso darmas que espada rodella, lança; & frecha, saō agora tam praticos na espingarda & attelharia que nos naō ha nenhúa enueja.« ([Anonym], Primor e Honra da vida Soldatesca no estado da India […]. Lissabon 1630, S. 66v). 37 Für die Entwicklung des Expertenbegriffs interessant ist, dass dieser allein in der deutschen Übersetzung verloren geht. Im italienischen Original heißt es »vedendosi li Cocincinesi fatti cosi ben’prattici, & esperti nel maneggiarle, che meglio de gli Europei medesimi le sanno caricare« (Cristofero Borri, Relatione della Nuova Missione delli PP. della Compagnia di Giesù al regno della Cocincina. Rom 1631, S. 81–82) ; in der französischen Übersetzung »Les Cochinchinois s’estant rendus si adroits & experimentez à les manier, qu’ils surpassent en cela les Europeans mesmes« (Christofero Borri, Relation de la nouvelle mission des pères de la Compagnie de Jesus au Royaume de la Cochinchine. Lille 1631, S. 81); in der englischen: »The Cochin-Chinois neing now become so expert in the managing of them, that they surpass our Europeans.« (Cristofero Borri, Cochin-China containing many admirable rarities and singularities of that countrey / extracted out of an Italian relation, lately presented to the Pope, by Christophoro Borri, that liued certaine yeeres there. London 1633, chap. VII, unpag.) und in der deutschen: »Solche zu laden und abzuschiessen können sie dermassen / daß sie im geringsten den Europeern nicht weichen / ja wol auch die dieselben außfordern dürfen.« (Cristofero Borri, Relation Von dem newen Königreich Cocincina Deß Ehrwürdigen Patris Christophori Borri, der Societet Jesu Auß dem Welsch- und Lateinischen verteutscht […]. Wien 1633, S. 51). 38 Borri, Relatione (wie Anm. 37), S. 82.

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In dieser frühen Phase fanden die europäischen Artillerieexperten in Übersee ihre Organisation noch in den klassischen institutionellen Formen der Gilden, Zünfte und Bruderschaften. Später wurde dieser institutionelle Kitt der Selbstorganisation von den Handelskompanien ersetzt, die als eine Art broker in Sachen der Vermittlung von Expertise und Experten fungierten oder mit einem Begriff Eric Ashs ausgedrückt als »expert mediators«.39 Aus der Perspektive der Institutionenökonomie ist damit auch das Problem der Transaktionskosten tangiert, also vereinfacht ausgedrückt die Frage nach den Kosten für die Auffindung, Anwerbung und Rekrutierung von Experten. So profitierte zwischen 1630 und 1663 beispielsweise der Subahdar (Gouverneur) von Bengalen Mir Jumla II (1591–1663), nach Charles Ralph Boxer »perhaps the keenest collector of European cannon and the greatest employer of European gunners in Moghul India«, deutlich von der Vereenigden Oost-Indischen Compagnie (VOC), die ihn sowohl mit Geschützen als auch mit Kanonieren versorgte.40 Im Reisebericht Francois Berniers aus den Jahren 1656–1658 erfährt man über die Artillerie des Mogul Reiches, dass die Infanterie schlecht bezahlt sei: »[B]ut their artillerymen who receive great pay, particularly all the Franguis or Christians, – Portugese, English, Dutch, Germans and French; fugitives from Goa, and from the Dutch and English companies. Formerly when the Mogols were little skilled in the management of artillery, the pay for the Europeans was more liberal, and there are still some remaining who receive two hundred rupies a month: but now the king admits them with difficulty into the service, and limits their pay to thirtytwo rupies.«41

Ganz ähnliche und möglicherweise direkt übernommene Eindrücke schildert auch der italienische Weltreisende Giovanni Francesco Gemelli Careri (1651–1725) von seinem Besuch Indiens 1693 in seinem 1699 publizierten Werk »Giro Del Mondo« über die »fränkischen oder christlichen Kanoniere«: Einige von ihnen hatten »200 Rupien im Monat, aber jetzt wo die Moguln ein wenig dieses Handwerk gelernt haben, werden die Franken weniger bezahlt«.42 Der Marktwert der europäischen Experten scheint also mit steigender Ausbildung der eigenen Männer abgenommen zu haben. 39 Eric H. Ash, Power, Knowledge, and Expertise in Elizabethan England. Baltimore u. a. 2004. 40 Boxer, Asian Potentates (wie Anm. 35), S. 160. Vgl. auch Jagadish Narayan Sarkar, The Life of Mir Jumla: The General of Aurangzeb. New Delhi 1979. 41 François Bernier, Travels in the Mogul Empire, A. D. 1656–1668, hrsg. von Archibald Constable. Westminster, Eng. 1891, S. 217. 42 »Or tutta questa artigleria, particolarmente la grossa, stà in mano di Bombardieri Franchi, o Christiani, i quali hanno grandissimo soldo; sopra tutto i Portoghesi, Inglesi, Ollandesi, Tedeschi, e Francesi, che vi passano da Goa, o fuggono da’vascelli. Ve n’era per l’addietro taluno, che avea 200 rupie al mese; ma ora che i Mogoli hanno appreso un poco il mestiere; i Franchi sono meno pagati.« (Francesco Gemelli Careri, Giro del Mondo, Bd. 3: Nell’ Indostan […]. 2. Aufl. Neapel 1708, S. 144). Vgl. auch Boxer, Asian Potentates (wie Anm. 35), S. 162.

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Während Sanjay Subrahmanyam in Anlehnung an einen Film Akira Kurosawas über rivalisierende japanische Adelshäuser, von denen eines schließlich portugiesische Schützen zur Hilfe nimmt, von einem »Kagemusha-Effekt« gesprochen hat, steht auf der anderen Seite die Beobachtung Geoffrey Parkers, dass der Einsatz der »foreign experts« selten tatsächlich zu militärischen Erfolgen führte.43 Die kulturelle Logik der Aneignung westlicher Expertenkulturen scheint also komplexeren Anforderungen gehorcht zu haben als allein der Überwindung des Gegners. Eine Vernichtung der gegnerischen Armee war in der Praxis der indischen Kriegführung ohnehin nicht das Ziel, sondern eher eine Übernahme oder Versklavung der gegnerischen Truppen. II . Doing expertise Folgen wir daher dem Einsatz europäischer Kanoniere aus der Nähe, um zu bestimmen, was ihre konkreten Anforderungsprofile in der Praxis ausmachte. Von seiner Reise im Deccan berichtet Jean-Baptiste Tavernier (1605–1689) über die befestigte Stadt Daulatabad: »In diesem Platz seynd viele schöne Stuck Geschütz / und die Büchsen Meister gewonlich Engeländer oder Holländer von Nation.«44 Experten, die offenbar so wertvoll waren, dass man sie nicht wieder gehen lassen wollte, denn Tavernier berichtet weiter: »Es war daselbsten ein Holländischer Constabler / welcher / nach deme er dem König 15. oder 16. Jahr gedienet / seinen Abschied begehrte / und die Holländische Compagnie selbsten / welche demselben zu des Königs Dienste anfangs verhülflich gewesen / thate ihr äusserstes / ihne zu entledigen / aber vergeblich; weil er ein gutter Büchsen-Meister war / und die Feuerwercke ihme treflich wol gelungen.«45

Doch gelang es dem Niederländer offenbar irgendwann, sich den Diensten des Moguls dennoch zu entziehen. Als Raja Jai Singh nahe der Festung vorbei reiste, näherte er sich ihm und unterbreitete einen Vorschlag. Er würde auf einem nahegelegenen Berg, der die Festung an Höhe überragte, Geschütze installieren lassen, um die Anlage noch weiter zu sichern. Der Raja ging auf das Angebot ein, der Kanonier installierte erfolgreich die Geschütze, und Tavernier sah ihn angeblich zu Beginn des Jahres 1667 in Surat, als er sich nach Batavia ein-

43 Sanjay Subrahmanyam, The Kagemusha Effect: The Portuguese Fire Arms and the State in Early Modern South India, in: Indian Economic and Social History Review 26,2, 1989, S. 98–123. 44 Jean-Baptiste Tavernier, Beschreibung Der Sechs Reisen Welche Johan Baptista Tavernier, Ritter und Freyherr von Aubonne, In T. Darinnen Indien und die Benachbahrte Inseln beschrieben werden, Bd. 2. Genf 1681, S. 37; vgl. auch die kritische englische Edition: Jean-Baptiste Tavernier, Travels in India, übers. v. Valentine Ball, Bd. 1. Cambridge u. a. 2012, S. 144–145. 45 Tavernier, Sechs Reisen (wie Anm. 44), S. 37.

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schiffte. Für die Frage nach der Konstruktion von militärischer Expertise ist die Episode insofern einschlägig, da sie einerseits auf die ›despotische‹ Monopolisierung von Expertenwissen verweist, wie Foucault sie eingangs beschrieb, und andererseits zeigt, wie der Experte gerade durch seine besonderen Fähigkeiten die scheinbar unlösbare Aufgabe der Geschützinstallierung meistert und sich damit seine persönliche Freiheit erkauft, die ihn von der Expertenrolle wieder entbindet. Aufschlussreich für die Praktiken europäischer Artillerieexperten ist auch die Reisebeschreibung des aus Schleswig gebürtigen Jürgen Andersen (1620–1679), der 1649 im Dienste des persischen Schah Abbas II (1632–1666) an der Belagerung Kandahars im heutigen Afghanistan teilnahm: »Die Perser hätten gern die Europeer, so mit der Artillerey umbzugehen wüßten / sonderlich weil es jetzo zur Belagerung vor Candahar gelten sollte / und nicht gar viel die sich zu solcher Profession möchten gebrauchen lassen / finden würden.«46 Die Nachfrage nach Experten wird demnach ebenso deutlich wie die symbolische Kenntlichmachung der Experten als Fremde, wenn Andersen weiter berichtet, dass der König ihm befohlen habe, er »solte lassen ein Kleid machen / und darinnen gehen wie die Frengi oder Teutsche zu gehen pflegen / und darzu einen Hut tragen. […] Ich kunte anfangs nicht wissen / was diese Verenderung bedeuten sollte / ich erfuhr aber hernach / daß es darum geschehen mußte / weil viel Indianer in der Stadt / und auch ein Gesandter vom Mogol / König in Indien / ankommen würde / daß sie sehen sollten / daß der König im vorstehenden Krieg deutsche Constabels gebrauchen wolte. Denn die Perser und Indianer halten die Frengi (so nennen sie fast alle Europeer) für die besten und klugesten Artillerey Meister und Fewrwercker.«47

Vestimentäre Geltungsmechanismen des Experten, vergleichbar den Funktio­ nen von Robe und Talar in Europa, griffen auch hier und zeigen, wie stark allein die ethnische Herkunft den Expertenstatus bestimmen konnte.48 Auch Andersen wurde es offenbar nicht leicht gemacht, seinen Dienst zu quittieren: »Als wir wieder nach Herat kamen / begehrte ich meinen Abschied / welcher mir zwar erstlich wollte geweigert werden / weil ich aber meine unpaßlichkeit vorwendete / erhielt ich denselben / wiewol nicht schrifftlich / bekam 46 [Jürgen Andersen/Volquard Iversen/Adam Olearius], Orientalische Reise-Beschreibunge. Jürgen Andersen aus Schleßwig der An. Christi 1644 außgezogen und 1650 wieder kommen und Volquard Iversen aus Holstein so An. 1655 außgezogen und 1668 wieder angelanget. Seynd beyde respective durch Ostindien, Sina, Tartarien … und Palestinam gezogen … Jürgen Andersen und Volquard Iversen orientalische Reisebeschreibunge. Schleßwig 1669, S. 149. 47 Ebd., S. 150. 48 Vgl. zu den Autoritätseffekten akademischer Kleidung Marian Füssel, Talar und Doktorhut. Die akademische Kleiderordnung als Medium sozialer Distinktion, in: Barbara Krug-Richter/Ruth Mohrmann (Hg.), Frühneuzeitliche Universitätskulturen. Kultur­ historische Perspektiven auf die Hochschulen in Europa. Köln u. a. 2009, S. 245–271.

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aber die helffte meines Soldes / mit verheissung die ander helfte in Ispahan zu empfangen«, was schließlich auch geschah.49 Die praktischen Tätigkeiten der Europäer sollten jedoch auch nicht überschätzt werden, vielfach scheint ihre bloße Präsenz schon den Zweck der Autorisierung erfüllt zu haben. So berichtet Niccolao Manucci (1638–1717), der 1653 mit vierzehn Jahren Venedig verlassen hatte, 1656 Indien erreichte und bis 1659 in der Armee von Prinz Dara Shikoh (1615–1659) diente, über seine europäischen Kameraden: »Some of these were surgeons, but the greater number artillerymen in the Mogul service, an honourable employment. For European artillerymen who took service in that branch had only to take aim; as for the rest – the fatigue of raising, lowering, loading, and firing – this was the business of artificers or labourers kept for the purpose.«50

Eine Stellung, die jedoch auch nicht als dauerhafte ›Sinekure‹ garantiert war, wie der Wandel unter dem im Juli 1658 an die Macht gelangten Aurangzeb zeigt, wenn Manucci fortfährt: »However, when Aurangzeb came to the throne, he, seeing the insolent behaviour and the drunkenness of such-like men, deprived them of all their privileges, except that of distilling spirits, and forced them to do sentry duty like other soldiers, thus leaving them with no estimation or reputation in the army.«51

Wie bereits der Hinweis auf das Feuerwerk nahelegt, erfüllte die Nutzung der Geschütze ebenso instrumentelle wie symbolische Funktionen.52 So bat etwa Abdul Jallel, der Bruder des Nawabs Mohamed Ali, den Rat der East India Company in Fort St. David 1749 um die Ausleihe eines Mörsers, was die Company ihm jedoch verweigerte. Er entgegnete daraufhin mit den Worten »being possessed of such a thing would greatly intimidate his enemies and was the only use he intended it for«.53 Die Company wachte aufmerksam über ihre Artillerie-­ Expertise und verordnete im gleichen Zeitraum die Entlassung aller »nicht englischen Fremden und Eingeborenen« vom Dienst bei der Artillerie und sorgte zusätzlich für eine Art Werkschutz: 49 Andersen, Orientalische Reise-Beschreibunge (wie Anm. 46), S. 162. 50 [Niccolao Manucci], A Pepys of Mogul India, 1653–1708: being an abridged edition of the »Storia do Mogor« of Niccolao Manucci. New York 1913, S. 49; vgl. zu Manucci auch Sanjay Subrahmanyam, Further thoughts on an enigma. The tortuous life of Nicolò Manucci, 1638–c.1720, in: Indian Economic Social History Review 45,1, 2008, S. 35–76. 51 [Manucci], Mogul India (wie Anm.  50), S.  49. An anderer Stelle  – deutlich bearbeitet durch den Jesuiten Catrou – wird die Abneigung Aurangezbs gegenüber dem euro­ päischen Artilleriepersonal primär auf religiöse Gründe zurückgeführt vgl. François­ Catrou, Histoire générale de l’Empire du Mogol depuis sa fondation jusqu’à présent Sur les Mémoires Portugais de M. Manouch, Vénitien, […] Bd. 2. Paris 1715, S. 288–289. 52 Robert Elgood, Hindu Arms and Ritual. Arms and Armour from India 1400–1865.­ Ahmedabad 2004. 53 Wickremesekera, Best Black Troops (wie Anm. 16), S. 67.

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»No foreigner whether in our service or not […] nor any Indian or person of mixed breed, nor any Roman Catholic of what nation whatsoever, shall on any pretense be admitted to set foot on the laboratory or any military magazine either out of curiosity or to be employed in them, or to come near to them so as to see what is going on or contained therein.«54

Einer ganz ähnlichen Logik der Sicherung folgte auch die Bewaffnung der­ Sepoy-Regimenter, die im Bereich der Infanterie modernisiert und vereinheitlicht wurde, während der Gebrauch der Feldartillerie weiterhin allein von Europäern kontrolliert wurde, da man fürchtete, andernfalls die entscheidende technische Überlegenheit gegenüber den Indern zu verlieren.55 Trotz dieser Ängste und der Verfügbarkeit europäischen Militärpersonals in Indien verlief die Aneignung europäischer Waffentechnik und Ausbildung durch die lokalen Gewalten zunächst eher schleppend.56 So sieht etwa Kaushik Roy den wesentlichen Unterschied zwischen der militärischen Kultur der Mogulherrscher und den Europäern mit Blick auf den Belagerungskrieg in der militärischen Ausbildung mit ihren Medien und Institutionen und nicht in der Materialität der Festungen.57 Durch den Buchdruck konnte sich militärtheoretisches Wissen schneller verbreiten und Institutionen wie Artillerie- und Ingenieurschulen führten zu einem höheren Professionalisierungsgrad in der Verwissenschaftlichung der Kriegführung.58 Die indischen Armeen bestanden im Gegensatz zu den europäischen im Wesentlichen aus Kavallerie.59 Sie ermöglichte rasche Operationen sowie das schnelle Überwinden größerer Distanzen und war überdies tief in der adeligen Kriegerkultur verwurzelt. Die Artillerie hingegen bestand aus schweren und schwerfälligen, von Ochsen gezogenen, Geschützen, die im Gefechtsfeld schlecht zu manövrieren waren und kaum mit den Positionen der Kavallerie oder Infanterie koordiniert wurden. Die Infanterieverbände der Mogularmeen genossen geringes Ansehen, waren nicht exerziert und mit Luntenschloßgeweh54 Madan Paul Singh, Indian Army under the East India Company. New Delhi 1976, S. 5. 55 Vgl. bereits allgemein zu diesen Ängsten bei den Kolonialmächten Cipolla, Segel und­ Kanonen (wie Anm. 7), S. 124 f. 56 Stewart Gordon, The Limited Adoption of European-Style Military Forces by Eighteenth Century Rulers in India, in: Indian Economic Social History Review 35, 1998, S. 229–245. 57 Kaushik Roy, Siege Warfare and Siege Artillery in Asia, in: Ders., Military Transition (wie Anm. 10), S. 89–125, hier 116. 58 Zum Prozess der medialen Standardisierung aus Perspektive der Akteur-NetzwerkTheorie vgl. die anregenden Überlegungen von Erhard Schüttpelz, Die medientechnische Überlegenheit des Westens. Zur Geographie und Geschichte von Bruno Latours ›Immutable Mobiles‹, in: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.), Mediengeographie. Theorie, Analyse, Diskussion. Bielefeld 2009, S. 67–110. 59 Darin besteht für gewisse Zeiträume durchaus eine Parallele zu europäischen Armeen, denkt man etwa an die von Reiterverbänden dominierte Spätzeit des Dreißigjährigen­ Krieges. Am Ende des 17. Jahrhunderts geht mit dem Aufbau enormer Infanterieverbände und der Etablierung neuer Formen des Belagerungskrieges die Entwicklung jedoch immer weiter auseinander, vgl. Kroener, Kriegswesen (wie Anm. 9), S. 41.

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ren ausgestattet, die nur eine geringe Feuerkraft besaßen. Im 17. Jahrhundert dominierten noch berittene Bogenschützen, die offenbar um einiges effektiver waren als die mit Schusswaffen ausgestatteten Krieger.60 Obwohl die Armeen der Mogulreiche also längst vor der Präsenz europäischer Gewaltgemeinschaften wie den Handelskompanien über Musketen und Kanonen verfügten, waren sie von einer Dominanz ihrer Reiterkrieger geprägt.61 Eine Tendenz, die mit Kenneth Chase auch auf die jeweilige Bedrohungssituation zurückgeführt werden kann, die in Südasien und China in Angriffen berittener Steppennomaden bestand, in Europa hingegen mit Ausnahme der Osmanen eher aus Konflikten der einzelnen Monarchien untereinander erwuchs.62 Schon früh fokussierte sich die indische Wahrnehmung der europäischen Kampfkraft jedoch auf deren Artillerie. So heißt es in der »Ajnapatra«, einem königlichen Edikt von 1715, in dem die Grundlagen der Marathischen Politik niedergelegt waren, über die »huttragenden Kaufleute«: »Their stength lies in navy, guns and ammunition«.63 Doch mit einem reinen Technologietransfer war es nicht getan. Die indischen Armeen benötigten im Sinne eines Akteur-Netzwerkes das ganze »setting« einer europäischen Armee, ihren Drill, ihre Kommandostrukturen, ihre Disziplin und ihre Ausrüstung von der Uniform bis zur Feldartillerie.64 Angesichts dieser Teiladaption blieb eine mit der militärischen Revolution in Europa vergleichbare Dynamik im Bereich von Artillerie und Fortifikationswesen aus.65 Mit der steigenden Effizienz von Belagerungs­artillerie hatte sich in ganz Europa seit dem 16. Jahrhundert ein rasches Wechselspiel in der Innovation von Festungsarchitektur und Belagerungsgeschützen ergeben. Die hohen Mauern der mittelalterlichen Burgen und Städte wichen der in die Fläche gebauten trace italienne der Festungsarchitektur. Untersuchungen zu diesem Verhältnis auf dem indischen Schauplatz konnten zeigen, dass dort die hohen Schutzmauern bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nicht verschwanden, was 60 Die Beschreibung der Mogul-Armeen geht vielfach auf europäische Reiseberichte zurück und übernimmt dabei leicht deren abwertende Perspektive. Eine postkoloniale und vergleichende Sicht bietet Kaushik Roy, Battles and Campaigns of the Asian Armies and Gunpowder Technology: 1500–1750, in: Ders., Military Transition (wie Anm. 10), S. 43–88, hier 69–75. 61 Zur Entwicklung der Geschütztechnologie in Indien vgl. Ramamurthy Balasubramaniam, Development of Cannon Technology in India, in: Indian Journal of History of Science 40,4, 2005, S. 503–538; Iqtidar Alam Khan, Early Use of Cannon and Musket in India, AD 1442–1526, in: Journal of the Economic and Social History of the Orient 24, 1981, S. 146–164; Ders., Gunpowder and Firearms. Warfare in Mediaval India. New Delhi 2004. 62 Kenneth Chase, Firearms. A Global History to 1700. Cambridge 2003. 63 The Ajnapatra or Royal Edict, übers. v. Shrikrishna Venkathesh Puntambekar, in: Journal of Indian History 8,2, 1929, S. 212–213. 64 Zum Begriff des »settings« vgl. Madeleine Akrich/Bruno Latour, Vocabulary for the­ Semiotics of Human and Nonhuman Assemblies, in: Wiebke E. Bijker/John Law (Hg.), Shaping Technology/Building Society: Studies in Sociotechnical Change. Cambridge, Mass. 1992, S. 259–264, hier 259. 65 Vgl. Parker, Militärische Revolution (wie Anm. 11), S. 45–62.

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auf die mangelnde Bedrohung durch Belagerungsartillerie zurückgeführt wird, die einerseits aus der zum Teil enormen Dicke der bereits bestehenden Mauern resultieren konnte, andererseits aus der Ineffizienz der eingesetzten Geschütze.66 Jos Gommans hat zudem argumentiert, dass viele der indischen Forts auf steilen Hügeln oder undurchdringbarem Waldgebiet errichtet worden waren und eine trace italienne Befestigung schon allein deshalb überflüssig machten.67 In der Konsequenz reichte der Umgang mit europäischer Militärkultur von der vollständigen Ablehnung einer entsprechenden Adaption bis zu der kompletten Aufstellung ganzer Regimenter, am prominentesten vielleicht unter Tipu Sultan, dem von den Briten erst nach mehreren Kriegen 1799 in der Schlacht von Seringapatam besiegten Herrscher von Mysore.68 Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig und reichen von der mangelnden Passfähigkeit gegenüber Terrain und Situation vor Ort bis zu den sozialen Prestigelogiken der traditionellen Kavallerieverbände, die mehr Ehre, Anerkennung und materiellen Profit gewährten als Infanterie oder Artillerie. Anpassung oder Nicht­ anpassung an die europäische Form der Kriegführung waren für das Überleben einzelner Herrschaften angesichts der territorialen Expansion der Briten seit dem Siebenjährigen Krieg jedoch nicht entscheidend. Denn gerade sich modernisierende Herrschaften wie die Tipu Sultans stellten eine erhöhte Bedrohung für die Briten dar, die umso vehementer bekämpft wurden. III . Ambivalenzen des Marktes: Expertenkritik Aus Sicht der Briten war der Einsatz europäischer Experten auf Seiten ihrer Gegner zweifellos eine große Gefahr, die mit dazu beitrug, dass das Ansehen dieser Gruppe beständig litt. Während diese Konkurrenz im Verlauf des 17. Jahrhunderts nicht weiter ins Gewicht gefallen war, da eine territoriale Expansion in Südasien für die Company ohnehin undenkbar blieb, änderte sich die Situation mit den globalen Erfolgen der Briten während des Österreichischen Erbfolgekrieges und des Siebenjährigen Krieges.69 Frankreichs Ambitionen wur66 Jean Deloche, Gunpowder Artillery and Military Architecture in South India (15–18th century), in: Indian Journal of History of Science 40,4, 2005, S. 573–595; Ders., Studies on Fortification in India. Pondicherry 2007; Parker, Militärische Revolution (wie Anm. 11), S. 161–162. 67 Jos Gommans, Warhorse and Gunpowder in India c. 1000–1850, in: Jeremy Black (Hg.), War in the Early Modern World: 1450–1815. London 2004, S. 105–127, hier 114. 68 Irfan Habib (Hg.), Confronting Colonialism. Resistance and Modernization under H ­ aidar Ali and Tipu Sultan; commemorating Srirangapatnam 1799. New Delhi 1999. 69 Vgl. als Überblicke Bruce Lenman, Under whose flag? The erratic emergence of the East India Company as a military power 1688–1757, in: Ders., Britains’s Colonial Wars 1688–1783. Harlow 2001, S. 83–113; Peter James Marshall, War and its Transformations: India 1754–1765, in: Ders., The Making and Unmaking of Empires. Britain, India, and America c. 1750–1783. Oxford 2005, S. 119–157.

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den auf ein Minimum an Handelstätigkeit reduziert und im Gegensatz zum euro­päischen Schauplatz stellten die überseeischen militärischen Aktivitäten der Franzosen nach 1763 keine grundlegende Bedrohung mehr für das Empire dar. Eine Folge davon war jedoch, dass Frankreichs Soldaten entweder bewusst in einer Art Spielverderber-Mentalität als militärische Unterstützer der lokalen Gegner der Briten agierten, sei es der Nawab von Bengalen bei Plassey 1757 oder der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung nach 1776, oder als Arbeits­suchende auf dem militärischen Arbeitsmarkt bei den diversen Gegnern der Briten anheuerten. Einer der bekanntesten Vertreter dieser Art war der Savoyer Kaufmannssohn Benoît Leborgne (1751–1830), besser bekannt als Comte Benoît de Boigne.70 Seine militärische Karriere begann 1766 beim irischen Regiment der Armee Ludwig XV, wo er auch die englische Sprache erlernte. 1773 verließ er angesichts geringer Aufstiegschancen das Regiment und begab sich in russische Dienste, geriet jedoch in osmanische Gefangenschaft, wurde dann von einem britischen Lord freigekauft und landete bald darauf in den Diensten der East India Company, wo er zunächst als Ausbilder von Sepoys arbeitete. Wenig später trat de Boigne in die Dienste diverser indischer Fürsten und erhielt schließlich eine hohe Position in der Armee der Marathen, für die er eine nach europäischem Muster gedrillte Einheit unter der Fahne Savoyens befehligte. Nach wenigen Jahren standen 100.000 Mann unter seinem Kommando, und er erhielt ein ­jaghir, eine Art Lehen. All das hinderte ihn nicht daran, 1798 britischer Staatsbürger zu werden und 1807 nach Savoyen zurückzukehren. Nachfolger de Boignes in der Armee der Marathen wurde der Sohn eines Tuchhändlers mit Namen Pierre Cuillier-Perron (1753–1834), der 1780 von einer französischen Fregatte desertiert war. Auch er kehrte später aus Indien mit immensen Reichtümern nach Frankreich zurück. An Figuren wie de Boigne und Perron lässt sich gut zeigen, wie sich die Kritik an militärischen Experten mit den sich wandelnden sozialen und ideologischen Kontexten veränderte. So bemerkte 1805 Captain Louis Ferdinand Smith, einer der ersten Historiographen der euro­ päischen Söldner in indischen Diensten, über die Soldaten in Perrons Armee: »Perron’s army was  a minute miniature of the French revolution  – wretches were raised from cooks, bakers, and barbers, to majors and colonels, absurdly entrusted with the command of brigades, and shoved into paths to aquire lacks – this was the quintessence of égalite, and the acme of the French revolution.«71 70 Shelford Bidwell, Swords for Hire: European Mercenaries in Eighteenth-Century India. London 1971; Gabrielle Sentis, Un nabab savoyard: Le général de Boigne (1751–1830). Grenoble 1989; Herbert Compton, A Particular Account of the European Military Adventurers of Hindustan, from 1784 to 1803. London 1895. 71 Lewis Ferdinand Smith, A sketch of the rise progress & termination, of the regular corps formed & commanded by Europeans, in the service of the native princes of India, with details of the principal events and actions of the late Marhatta [sic] War. Calcutta 1805, S. 47.

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Dieser Höhepunkt erscheint hier aus Sicht des militärischen Professionalismus als ein Tiefpunkt. Die vermeintlichen Experten werden als inkompetente Aufsteiger sozial zu deklassieren versucht. Während de Boigne ein erfahrener Offizier war, war es um die Expertise seiner Nachfolger vor ihrem Militärdienst durchaus anders bestellt. Cullier Perron war ein entlaufener Seemann und Louis Bourquin ein ehemaliger Pastetenbäcker; eine Tatsache, die den Spott der viktorianischen Historiographen erntete. So hielt Herbert ­Compton 1895 süffisant fest, dass Bourquins kulinarische Fähigkeiten seine militärischen deutlich übertroffen hätten.72 Expertenkritik artikulierte sich ferner in den diskursiven Mustern der traditionellen Söldnerkritik.73 Ein Offizier namens Ambrose, der in den Diensten der Mahraten stand, klagte 1807 gegenüber dem Chairman des Board of Directors der Company über die indischen Verhältnisse: »It is well known, to those conversant with the affairs of the East, that there are in that country many hundreds of thousands, soldiers by profession, who wander continually from service to service, from prince to prince, as the pressure of the moment requires their assistance and promises them employ. Gain is their god, and it is so perfectly immaterial to them whom they serve, while they are paid, and the minitude to their caste attended to, that an utter stranger, with efficient funds, might at any time raise an army in Hindustan, who would follow him and fight his battles as long as his resources were sufficient for the current expenses of the day. Born soldiers, without any other profession than that of arms, these men eagerly flock to the standard of any adventurer, however desperate his prospects, if he only possesses the summum bonum of their happiness.«74

Zwar handelte es sich bei allen frühneuzeitlichen Heeren und erst recht bei den Kolonialtruppen um ›stehende Söldnerheere‹, dennoch verstummte nie die Kritik am unterschiedslosen Solddienst.75 Auch hier wird letztlich die Macht des Experten zum Kritikpunkt, jedoch nicht in Form einer übermächtigen Expertokratie, sondern in ihrer unkontrollierbaren Marktförmigkeit. Der reichhaltige Markt militärischer Wissensakteure wurde damit paradoxerweise gerade für die Handelsgesellschaften nicht nur zur Chance, sondern auch zur Bedrohung. Die Antwort auf die große Frage nach den Ursachen für den Erfolg der britischen Expansion in Indien gibt die Forschung inzwischen mit einer in der Globalgeschichte wie den postkolonialen Area-Studies gleichermaßen be72 Compton, Military adventurers (wie Anm. 70), S. 341. 73 Michael Sikora, Söldner – historische Annäherung an einen Kriegertypus, in: Geschichte und Gesellschaft 29,2, 2003, S. 210–238, hier 227–233. 74 R. L. Ambrose, A letter, on the present crisis of affairs in India, addressed to Edward Parry, Esq. […]. London 1807, S. 20–21. 75 Vgl. Sikora, Söldner (wie Anm.  73); Daniel Hohrath, Soldiers and Mercenaries. Protagonists in Trans-Cultural Wars in the Modern Ages, in: Hans-Henning Kortüm (Hg.), Transcultural Wars from the Middle Ages to the 21st Century. Berlin 2006, S. 249–260.

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liebten Kategorie: der Hybridität.76 Nicht mehr allein die Kollaboration mit den lokalen Gewalten des zerfallenden Mogulreiches und noch weniger die militärtechnologische Überlegenheit europäischer Armeen angesichts einer in Südasien ausgebliebenen militärischen Revolution werden als Faktoren geltend gemacht, sondern die hybride militärische Formation der East India Company, die europäische und lokale Elemente effektiver miteinander verband, als das den lokalen Territorialherren aufgrund kultureller Barrieren ihrer eigenen Gesellschaft gelingen konnte.77 IV. Fazit 1. Die meisten Darstellungen zur südasiatischen Militärgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts arbeiten mit dem Fluchtpunkt des Verfalls des Mogul-Reiches und dem allmählichen Aufstieg der East India Company zur kolonialen Territorialmacht. Diesem Narrativ ist oftmals eine modernisierungstheoretische Grundannahme inhärent, die unter anderem das Ausbleiben von modernisierenden Prozessen im Militärwesen, vergleichbar der Militärischen Revolution in Europa, für ein Auseinandertreten der Entwicklung im Sinne einer »great divergence« verantwortlich macht.78 Eine symmetrische Perspektive sollte eher das Ineinandergreifen einzelner Faktoren zu spezifischen historischen Figurationen von militärischer Expertise in den Blick nehmen. Obwohl auch die indischen Territorien wie etwa Mysore bürokratisierte Steuerapparate aufzubauen suchten, kam es letztlich nicht zur Ausbildung eines fiscal-military state, dessen erfolgreiche koloniale Variante im Umkehrschluss für die Erfolge der East India Company verantwortlich gemacht wird.79 Der wachsende Landbesitz der Briten erforderte weitere Sicherungsmaßnahmen, so dass sich der Zirkel von Abgaben und expandierendem Militärapparat laufend verstärkte. So kam es zu einem Kreislauf von erhöhtem Sicherheitsbedürfnis, für das mehr Truppen aufgestellt wurden, die wiederum aus den Einkünften aus Landbesitz finanziert wurden. 2. Die indischen Territorien befanden sich ähnlich wie europäische im Prozess der Staatsbildung und benötigten Fachpersonal zum Ausbau ihres militärischen Apparates. Nicht zuletzt aufgrund der fortwährenden Kriegführung im frühneu76 Kritisch dazu Kiên Nghị Hà, Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus. Bielefeld 2005. 77 Roy, Hybrid Military Establishment (wie Anm. 26). 78 Kenneth Pomeranz, The Great Divergence. China, Europe, and the Making of the Modern World Economy. Princeton 2000. 79 Vgl. Christopher A. Bayly, The British Military-Fiscal State and Indigenous Resistance: India 1750–1820, in: Ders., Origins of Nationality in South Asia: Patriotism and Ethical Government in the Making of Modern India. New Delhi 1998, S. 238–275; zu Mysore vgl. Sanjay Subrahmanyam, Warfare and State Finance in Wodeyar Mysore 1­ 724–25. A Missionary Perspective, in: Indian Economic and Social History Review 26,2, 1989, S. 203–233.

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zeitlichen Europa war ein gewisses Angebot an Söldnern auf den überseeischen Gewaltmärkten stets vorhanden. Jürgen Andersen desertierte während des Dreißigjährigen Krieges, Walther Reinhard während des Österreichischen Erbfolgekrieges und eine ganze Phalanx französischer Soldaten während und vor allem nach den napoleonischen Kriegen und fand in Südasien eine neue Anstellung. Gerade die Friedenszeiten nach den Kriegen produzierten ein Überangebot an Soldaten, während gleichzeitig die Aufstiegsmöglichkeiten innerhalb der militärischen Hierarchie sanken. Eine folgenreichere Übersättigung ist hingegen für den militärischen Arbeitsmarkt in Indien beschrieben worden. Angesichts einer großen ländlichen Bevölkerung und den Unwägbarkeiten des Monsuns kam es regelmäßig zu der Situation, dass der agrarische Arbeitsmarkt überfüllt war und der Militärdienst als einzige Alternative erschien.80 In der Konsequenz schlossen die Männer sich nicht nur den Fürsten, sondern auch privaten Kriegsunternehmern, den sirdars, an. Insgesamt verschärfte dies die Situation auf dem Gewaltmarkt weiter und begünstigte Prozesse segmentärer Staatsbildung.81 3. Die vorgestellten Beispiele aus dem südasiatischen Raum haben im transkulturellen Vergleich gezeigt, dass ethnische Herkunft zu einer wichtigen Ressource bei der Rollenzuschreibung als Experte wurde. Aufgrund der Importlogik höherwertiger oder als höherwertig erachteter europäischer Waffentechnologie konnten tendenziell alle Europäer zu potentiellen Experten werden allein aufgrund des Kompetenzversprechens ihrer Herkunft als faranği, als Franken.82 Expertenkritik artikulierte sich auf europäischer Seite in den Mustern klassischer Söldnerkritik, während sich auf der Seite der Mogulfürsten wie­ Aurang­zeb vereinzelt religiöse Motive finden lassen. 4. Der analytische Zugang über die Gewalt- und Wissensmärkte kann in zweierlei Hinsicht erkenntnisfördernd sein. Zum einen zeigt er, dass Prozesse des Kulturtransfers und der Aneignung immer auch eine ökonomische Dimension besitzen, die für die Dynamik des kulturellen Austauschs konstitutiv sein kann. Zum anderen wird deutlich, dass Institutionen, in diesem Fall die Handelsgesellschaften und die südasiatischen Höfe, ihre Selbstrekrutierung nie unabhängig von marktförmigen Austauschprozessen realisierten. Märkte waren und sind jedoch zu keiner Zeit frei von ihrer sozialen und kulturellen Einbettung zu betrachten. Für die marktförmige Konstitution von Expertenkulturen wird der europäisch-südasiatische Kulturkontakt damit zu einem wichtigen Beobachtungsrahmen, der noch einmal mit aller Deutlichkeit auf die soziale und kulturelle Konstruktion von Expertise verweist. 80 Vgl. Roy, Hybrid Military Establishment (wie Anm.  26), S.  216–217 und Gerald James­ Bryant, Asymmetric Warfare: The British Experience in Eighteenth-Century India, in: The Journal of Military History 68,2, 2004, S. 431–469. 81 Vgl. Michael Mann, Geschichte Südasiens 1500 bis heute. Darmstadt 2010, S. 59–69. 82 Auch für den Söldner als Experten gilt, dass er neben technischer Kompetenz und »tacit knowledge« vor allem auch »Kompetenzdarstellungskompetenz« benötigte, vgl.­ Michaela Pfadenhauer, Professionalität. Eine wissenssoziologische Rekonstruktion institutionalisierter Kompetenzdarstellungskompetenz. Opladen 2005.

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5. Blicken wir am Ende noch einmal zurück auf Foucaults Bezug auf den Wunsch des Shoguns und die Expertise von Will Adams, so zeigt sich, dass der Zirkulation des Wissens von beiden Seiten  – der europäischen wie der lokalen – immer wieder auch Grenzen gesetzt wurden. Zirkulation und Kontrolle bildeten ein Spannungsverhältnis innerhalb von Expertenkulturen, dass durch marktförmigen Austausch dynamisiert, aber nie vollständig aufgehoben wurde.

Quellen und Literatur Quellen The Ajnapatra or Royal Edict, übers. v. Shrikrishna Venkathesh Puntambekar, in: Journal of Indian History 8,2, 1929, S. 212–213. Ambrose, R. L., A letter, on the present crisis of affairs in India, addressed to Edward Parry, Esq. […]. London 1807. [Andersen, Jürgen/Iversen, Volquard/Olearius, Adam], Orientalische Reise-Beschreibunge. Jürgen Andersen aus Schleßwig der An. Christi 1644 außgezogen und 1650 wieder kommen und Volquard Iversen aus Holstein so An. 1655 außgezogen und 1668 wieder angelanget. Seynd beyde respective durch Ostindien, Sina, Tartarien … und Palestinam gezogen … Jürgen Andersen und Volquard Iversen orientalische Reisebeschreibunge. Schleßwig 1669. [Anonym], Primor e Honra da vida Soldatesca no estado da India […]. Lissabon 1630. Bernier, François, Travels in the Mogul Empire, A. D. 1656–1668, hrsg. von Archibald Constable. Westminster 1891. Borri, Cristofero, Relatione della Nuova Missione delli PP. della Compagnia di Giesù al regno della Cocincina. Rom 1631. Borri, Christofero, Relation de la nouvelle mission des pères de la Compagnie de Jesus au Royaume de la Cochinchine. Lille 1631. Borri, Cristofero, Cochin-China containing many admirable rarities and singularities of that countrey / extracted out of an Italian relation, lately presented to the Pope, by Christophoro Borri, that liued certaine yeeres there. London 1633. Borri, Cristofero, Relation Von dem newen Königreich Cocincina Deß Ehrwürdigen Patris Christophori Borri, der Societet Jesu Auß dem Welsch- und Lateinischen verteutscht […]. Wien 1633. Catrou, François, Histoire générale de l’Empire du Mogol depuis sa fondation jusqu’à présent, Sur les Mémoires Portugais de M. Manouch, Vénitien, […] Bd. 2. Paris 1715. Gemelli Carari, Francesco, Giro del Mondo, Bd. 3: Nell’ Indostan […]. 2. Aufl. Neapel 1708. [Manucci, Niccolao], A Pepys of Mogul India, 1653–1708: being an abridged edition of the »Storia do Mogor« of Niccolao Manucci. New York 1913. Smith, Lewis Ferdinand, A sketch of the rise progress & termination, of the regular corps formed & commanded by Europeans, in the service of the native princes of India, with details of the principal events and actions of the late Marhatta [sic] War. Calcutta 1805.

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Überseewissen in Süddeutschland Gelehrte Publizistik und visuelle Praxis im 17. und 18. Jahrhundert

I . Altes Reich und Neue Welten Zu einer wichtigen Erkenntnis der Mediengeschichte gehört die Einsicht, dass der Buchmarkt im Heiligen Römischen Reich der Frühen Neuzeit kein Mono­ polsystem war. Vielmehr bildete sich hier die Pluralität der territorialstaatlichen und konfessionskulturellen Verhältnisse ab. Der deutsche Buchmarkt war ein komplexes Gefüge, das neben unbestrittenen Größen – etwa Frankfurt am Main und Leipzig – viele kleine Zentren von Wissensproduktion und Wissensdiffusion kannte. Die Situation im Reich unterschied sich fundamental von jener in den westeuropäischen Monarchien, in Spanien, England und Frankreich. Hier sind recht früh – im Zeichen von ›Nationalliteraturen‹ – Zentralisierungstendenzen auf die hauptstädtischen Metropolen hin zu beobachten. Hingegen spielte sich das Buchleben im Reich bis in das späte 18. Jahrhundert hinein in vielen unterschiedlichen Szenarien ab: Räume von markant regionaler Färbung treten hervor. Es lassen sich geradezu spezifische »Buchlandschaften« herauspräparieren.1 In diesem Beitrag soll diese Grunderkenntnis für das Problem des Überseewissens nutzbar gemacht werden: Es geht um die Überlieferungschancen von Überseewissen auf den regionalen Buchmärkten im Heiligen Römischen Reich der Frühen Neuzeit. Das regionale commercium litterarum soll gewissermaßen als transkontinentale Kontaktzone, als Feld für die Begegnung mit der außereuropäischen Welt untersucht werden. Die folgende Betrachtung zieht also die Buchproduktion als Indikator für intellektuelle Aneignungsprozesse heran, so wie es die Forschung bereits für die Rezeption des juristischen Humanismus oder die Verbreitung von Fremdsprachenkenntnissen paradigmatisch geleistet hat.2 Unser Anliegen steht in einem größeren Kontext, in dem drei Aspekte von Bedeutung sind. Zum Ersten zielen die Beobachtungen auf einen wissenschafts­ geschichtlichen Zusammenhang ab. Die Überlegungen befassen sich mit Pro1 Vgl. Andreas Würgler, Medien in der Frühen Neuzeit. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 85) München 2009, S. 41, 89 f.; Reinhard Wittmann, Geschichte des deutschen Buchhandels. Ein Überblick. München u. a. 1991; Etienne François, Géographie du livre et réseau urbain dans l’Allemagne moderne, in: Bernard Lepetit/Jochen Hoock (Hg.), La ville et l’innovation. Relais et réseaux de diffusion en Europe, 14e–19e siècles. (Recherches d’histoire et de sciences sociales, 23) Paris 1987, S. 59–74. 2 Vgl. dazu die Beiträge von Ian Maclean und Mark Häberlein in diesem Band.

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dukten der gelehrten Publizistik, also mit Texten, die über den rein tagesaktuellen Anlass hinaus in einer nachhaltig informationssichernden und wissensordnenden Absicht verfasst wurden. Zum Zweiten sind hier Druckerzeugnisse angesprochen, die in eine spezifische visuelle Praxis eingebettet waren. Im Mittelpunkt stehen Texte, die nicht nur als ›Texte‹ im engeren Sinn funktionieren, sondern zugleich auf bildliche Wissensrepräsentationen bezogen sind. Etwa enthalten sie selbst umfangreiche Illustrationen oder sie beziehen sich auf außerliterarische bildliche Darstellungen – sei es nun in der Kunst oder in der Architektur. Wir haben es daher mit einem besonderen mediengeschichtlichen Moment zu tun. Die dritte Referenzebene ist in der globalisierungsgeschichtlichen Diskussion zu suchen. Im Folgenden stehen Werke im Vordergrund, die im Heiligen Römischen Reich in breiter Reaktion auf die frühneuzeitliche Expansion Europas publiziert wurden. Damit ist ein Thema aufgegriffen, das die Forschung bis dato allzu oft mit den ›klassischen‹ Kolonialmächten Spanien, Portugal, Frankreich und England assoziiert hat, während Binneneuropa kaum beachtet wurde. Von geopolitischer Seeferne oder kolonialer Abstinenz – wie sie zweifellos für das Reich des 17. und 18. Jahrhunderts gegeben waren – wurde oft vorschnell auf ein Desinteresse an der globalen Welt insgesamt geschlossen.3 Insbesondere muss diese Feststellung auf das süddeutsche Umfeld zutreffen. Viel zu selten ist bislang nach den Rückkopplungen gesamteuropäischer Übersee-Erfahrungen in den süddeutschen Territorien gefragt worden, weil diese Gebiete von vornherein als backcountry fernab des transkontinentalen Geschehens apostrophiert wurden.4 Ausnahmen wie die offenkundigen, von der Forschung intensiv rezi3 Eine umfassende Einordnung zum Spannungsverhältnis von Global- und Reichsgeschichte unter dem Aspekt der Atlantic History jetzt bei Susanne Lachenicht, Europeans Engaging the Atlantic: Knowledge and Trade, c. 1500–1800. An Introduction, in: Dies. (Hg.), Europeans Engaging the Atlantic. Knowledge and Trade, 1500–1800. Frankfurt am Main 2014, S. 7–21, hier 12–15; Nicholas Canny, The European Backcountry and the Atlantic: an Afterword, in: Ebd., S. 161–171. 4 Abgesehen von einigen Pionierstudien, die sich zudem auf die Amerikawahrnehmungen konzentrieren: Rainald Becker, Nordamerika aus süddeutscher Perspektive. Die Neue Welt in der gelehrten Kommunikation des 18.  Jahrhunderts. (Transatlantische Historische Studien, 47) Stuttgart 2012; Ders., Augsburger Amerikabilder im 18.  Jahrhundert. Gelehrte Publizistik  – Kommunikationsmilieus  – Deutungsmuster, in: Philipp Gassert u. a. (Hg.), Augsburg und Amerika. Aneignungen und globale Verflechtungen in einer Stadt. (Documenta Augustana, 24) Augsburg 2013, S. 57–80; Ders., New Worlds Turning Southern German: Knowledge of the Americas in Early Modern Bavaria, Franconia and­ Swabia, in: Lachenicht (Hg.), Engaging the Atlantic (wie Anm. 3), S. 89–109; Ders., Chapter One: Catholic Print Cultures: German Jesuits and Colonial North America, in: AnjaMaria Bassimir/­Oliver Scheiding (Hg.), Religious Press and Print Culture (im Druck); Galaxis Borja ­González, Die jesuitische Berichterstattung über die Neue Welt. Zur Veröffentlichungs- und Rezeptionsgeschichte jesuitischer Americana auf dem deutschen Buchmarkt im Zeitalter der Aufklärung. (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte, 226) Göttingen 2011; außerdem Christine R. Johnson, The German Discovery of the World. Renaissance Encounters with the Strange and the Marvellous. (Studies in Early Modern German History)

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pierten Globalverflechtungen Augsburger Unternehmerfamilien – bei den Welsern und Fuggern – bestätigen nur diese Regel.5 Erst die Amerikanische Revolution habe – so eine prominente Einschätzung – eine breite Hinwendung (süd-) deutscher Territorialstaaten zu überseeischen Horizonten bewirkt.6 Schon eine einfache Gegenprobe genügt, um diese Annahme zu erschüttern. Gerade vom Standpunkt visueller Übersee-Aneignungen aus ergibt sich eine ganz andere Lage. Eindeutig sind beispielsweise die kunstgeschichtlichen Befunde für den Barock in den katholischen Territorien von Süddeutschland und Österreich. Der Kirchen- und Schlossbau in Bayern, Franken und Schwaben, aber auch in den habsburgischen Erbländern, zählte zwischen 1670 und 1760 zu den Hauptverbreitungsgebieten für sogenannte Erdteilallegorien. Die Darstellung der vier damals bekannten Kontinente Europa, Asien, Afrika und Amerika in Form von Skulpturen und Fresken ist hier besonders stark ausgeprägt. In Fürstenresidenzen, in Brunnen- und Gartenanlagen oder in den reich dekorierten Bibliotheks- und Kirchenräumen der Klöster, selbst in Dorfkirchen und Wegkapellen – überall lassen sich entsprechende, meist an herausragender Stelle platzierte Inszenierungen des ›Überseeischen‹ entdecken.7 Charlottesville 2008; Renate Pieper, Die Vermittlung einer neuen Welt. Amerika im Nachrichtennetz des habsburgischen Imperiums 1493–1598. (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Universalgeschichte, 163) Mainz 2000; Mark Häberlein, Monster und Missionare. Die außereuropäische Welt in Augsburger Drucken der frühen Neuzeit, in: Helmut Gier/Johannes Janota (Hg.), Augsburger Buchdruck und Verlagswesen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Wiesbaden 1997, S. 353–380; mit Blick auf Asien: Walter Demel, Das China-Bild in Bayern und anderen katholischen Reichsterritorien, in: Peter Claus Hartmann/Alois Schmid (Hg.), Bayerisch-chinesische Beziehungen in der Frühen Neuzeit. (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Beiheft 34) München 2008, S. 189–229. 5 Vgl. Mark Häberlein, Augsburger Handelshäuser und die Neue Welt: Interessen und Initiativen im atlantischen Raum (16. bis 18. Jahrhundert), in: Gassert u. a. (Hg.), Augsburg und Amerika (wie Anm. 4), S. 19–37. 6 Vgl. Horst Dippel, Germany and the American Revolution, 1770–1800. A Socio-Historical Investigation of Late Eighteenth-Century Political Thinking. Chapel Hill 1977. 7 Zum kunsthistorischen Genus der Erdteilallegorie nach wie vor grundlegend Sabine­ Poeschel, Studien zur Ikonographie der Erdteile in der Kunst des 16. bis 18. Jahrhunderts. (Beiträge zur Kunstwissenschaft, 3) München 1985; ferner Mark Ashton, Allegory, Fact, and Meaning in Giambattista Tiepolo’s Four Continents in Würzburg, in: The Art Bulletin 58, 1978, S. 109–125; zusammenfassend Wiebke Franken, Art. Erdteile, in: Uwe ­Fleckner/Martin Warnke/Hendrik Ziegler (Hg.), Handbuch der politischen Ikonographie, Bd. 1. München 2011, S. 259–267; mit Blick auf Amerika Friedrich B. Polleross/Andrea Sommer-­Mathis/ Christopher F. Laferl (Hg.), Federschmuck und Kaiserkrone. Das barocke Amerika­bild in den habsburgischen Ländern. Wien 1992; ferner Hermann Wellenreuther, Ausbildung und Neubildung. Die Geschichte Nordamerikas vom Ausgang des 17.  Jahrhunderts bis zum Ausbruch der Amerikanischen Revolution 1775. (Geschichte Nordamerikas in atlantischer Perspektive von den Anfängen bis zur Gegenwart, 2) Münster u. a. 2001, S. 620–623. Auf eine systematische digitale Erschließung aller allegorischen Kontinentaldarstellungen in der barocken Architektur und Deckenmalerei in Süddeutschland zielt das Forschungs-

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Ein eindrucksvolles Beispiel für den intensiven Umgang mit dem außereuropäischen Kosmos findet sich in Dillingen an der Donau. Die barocke Freskenausstattung der dortigen ehemaligen Universitätskirche St. Maria Himmelfahrt nimmt das Übersee-Thema in programmatischer Weise auf. Auf den Gewölbefeldern zeigen sich – in anspruchsvoller Komposition – großformatige Allegorien von Europa, Asien, Afrika und Amerika (vgl. Abbildung 1). Diese Darstellungen spielen zeitgeschichtlich auf die katholischen Missionsbestrebungen (vor allem der Jesuiten) in den einzelnen Erdteilen an. Zugleich binden sie diese Erfahrungen in den heilsgeschichtlichen Horizont ein, indem sie die Missionstätigkeit auf das Hauptthema des Freskenzyklus beziehen, nämlich die Krönung Mariens im Himmel durch die Heilige Dreifaltigkeit. In der mobilen Kirchenausstattung, vor allem in den Gemälden der Seitenaltäre, wird das kontinentalallegorische Motiv erneut variiert.8 Das um 1750 entstandene Dillinger Bildprogramm ist durchaus repräsentativ für den Übersee-Diskurs auf den süddeutschen Wissensmärkten der Frühen Neuzeit: Die Rezeption stützte sich auf ein bestimmtes Trägermilieu, in diesem Fall die Jesuiten, die zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert in Dillingen eine Universität mit Bibliothek und Druckerei unterhielten. Die Vermittlung von Globalwissen war an konkrete Anlässe gebunden: Gewiss spielte wissenschaftliches Interesse eine herausragende Rolle; dieses erhielt jedoch erst in der Ausrichtung auf Mission und Evangelisierung seinen legitimierenden Impuls. Zudem partizipierte die künstlerisch-architektonische Auseinandersetzung mit Übersee an spezifischen Formen von Gelehrsamkeit, die in publizistische Aktivitäten und von dort aus in den regional und konfessionell vielgliedrigen Buchmarkt einflossen. So lässt sich geradezu ein ›ganzheitlicher‹, unterschiedliche Medien- und Gattungsformen miteinander verbindender, Ansatz der Wissensvermittlung erkennen.9 Diese Beobachtungen sollen nun in zwei Schritten vertieft werden, einerseits mit einem Ausblick auf die Strukturen des süddeutschen Buchmarktes für projekt »Erdteilallegorien« an der Universität Wien unter Leitung von Wolfgang Schmale (http://www.erdteilallegorien.univie.ac.at; letzter Zugriff am 25. Januar 2015). Dazu Wolfgang Schmale u. a., Continent Allegories in the South of the Holy Roman Empire. A Pictorial Discourse, in: Ders. (Hg.), Time in the Age of Enlightenment/Le Temps des Lumières/Zeit in der Aufklärung. (Das achtzehnte Jahrhundert und Österreich, 27) Bochum 2012, S. 295–297; Ders./Marion Romberg/Josef Köstlbauer (Hg.), The Language of Continent Allegories in Baroque Central Europe. Stuttgart 2016. 8 Zum Corpus der barocken Deckenmalerei in Dillingen jetzt mustergültig Christine­ Schneider, Kirche und Kolleg der Jesuiten in Dillingen an der Donau. Studien zu den spätbarocken Bildprogrammen. »Ut in nomine Iesu omne genu flectatur«. (Jesuitica, 19) Regensburg 2014, hier besonders zu den Erdteilallegorien S. 92–151, 368–372 (Abb. 39–44). 9 Zuletzt zu solchen Ausprägungen des barocken »Medien- und Gattungsverbunds« Werner Telesko, Die Deckenmalereien der Stiftskirche Melk oder die Visualisierung von Ordensgeschichte als Manifestation kirchenpolitischer Ansprüche, in: Thomas Wallnig u. a. (Hg.), Europäische Geschichtskulturen um 1700 zwischen Gelehrsamkeit, Politik und Konfession. Berlin 2012, S. 169–191.

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Abbildung 1: Dillingen an der Donau, Studienkirche St. Maria Himmelfahrt, Langhaus (Maria Himmelskönigin mit den vier Erdteilen, 1751) Fotografie: Marion Romberg (Erdteilallegorien-Projekt, Universität Wien, 2. März 2015, http://erdteilallegorien.univie.ac.at/bilder/dillingen-der-donau-dillingen-d-mariaehimmelfahrt/dillingen-der-donau-dillingen-d-7)

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Übersee-, genauer: Amerikawissen, andererseits mit einer Fallstudie zum bereits angesprochenen Dillingen. Die um die Mitte des 16. Jahrhunderts von Kardinal Otto Truchseß von Waldburg unter den Auspizien der Katholischen Reform gegründete und später dem Jesuitenorden übertragene Hochschule10 in der Residenzstadt der Augsburger Fürstbischöfe ist in unserem Zusammenhang besonders einschlägig. Denn diese Universität – eine der größten im barocken Heiligen Römischen Reich – fungierte als einer der Hauptumschlagplätze für Überseewissen in (Süd-)Deutschland.11 Diese Funktion hatte Dillingen in erster Linie dem hier stark entwickelten naturkundlichen, genauer geographischen, mathematischen und physikalischen, Forschungsinteresse zu verdanken.12 Insbesondere ist der heute wenig bekannte Heinrich Scherer und dessen zu Beginn des 18.  Jahrhunderts gedruckter »Atlas Novus«, eine Universalgeographie, zu erwähnen. Mit dem Jesuitengelehrten und seinem Œuvre werden wir uns daher im Folgenden näher beschäftigen. Zunächst soll aber geklärt werden, was man sich unter den griffigen, im Einzelnen allerdings klärungsbedürftigen Stichwörtern »Überseewissen« und »gelehrte Publizistik« sowie den hierfür in Frage kommenden Quellen- und Textsorten genauer vorzustellen hat. II . Voraussetzungen und Formen Der erst in der jüngeren Forschung häufiger auftauchende Terminus »Überseewissen« ist hier vor allem als globalgeographisch bestimmte Kategorie gemeint. Er bezeichnet die Gesamtheit an Kenntnissen über die Welt außerhalb des lateinisch-griechischen Europas, also über die Kontinente Asien und Afrika, soweit 10 Vgl. Rolf Kiessling (Hg.), Die Universität Dillingen und ihre Nachfolger. Stationen und Aspekte einer Hochschule in Schwaben. (Jahrbuch des Historischen Vereins für Dillingen, 100) Dillingen 1999; außerdem Anton Schindling, Die katholische Bildungsreform zwischen Humanismus und Barock. Dillingen, Dole, Freiburg, Molsheim und Salzburg: Die Vorlande und die benachbarten Universitäten, in: Hans Maier/Volker Press (Hg.), Vorderösterreich in der frühen Neuzeit. Sigmaringen 1989, S.  137–176, hier ­144–158; Ders., Fürstbischof und Universität. Die Hochschulen der Germania Sacra im Alten Reich, in: Bettina Braun/Mareike Menne/Michael Ströhmer (Hg.), Geistliche Fürsten und Geistliche Staaten in der Spätphase des Alten Reiches. Epfendorf 2008, S. 163–193, hier 170–178; Wolfgang Wüst, Art. Dillingen, in: Wolfgang Adam/Siegrid Westphal (Hg.), Handbuch kultureller Zentren der Frühen Neuzeit. Städte und Residenzen im alten deutschen Sprachraum, Bd. 1. Augsburg – Gottorf. Berlin 2012, S. 383–415. 11 Zu Dillingen als Zentrum für Überseewissen: Becker, Nordamerika (wie Anm. 4), S. 58, 65; außerdem Borja González, Jesuitische Berichterstattung (wie Anm. 4), S. 43 f., 74 f., 78 f. 12 Vgl. Marcus Hellyer, Catholic Physics. Jesuit Natural Philosophy in Early Modern Germany. Notre Dame 2005; Laetitia Boehm, Universität in der Krise. Aus der Forschungsgeschichte zu katholischen Universitäten der Aufklärung am Beispiel der Reformen in Ingolstadt und Dillingen, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 54, 1991, S. 107–157.

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diese den Europäern der Frühen Neuzeit zugänglich und bekannt waren, sowie über Amerika, wie es seit den Expeditionsfahrten des Christoph Kolumbus nach und nach Eingang in das europäische Bewusstsein gefunden hat. Sachlich gesehen, bezieht sich der Begriff auf die Gesamtheit der naturkundlichen, ethnographischen, religiösen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Erkenntnis über die Welt. Unter Überseewissen ist also ein ›Transferprodukt‹ zu verstehen, das aus der Begegnung der Europäer mit Nicht-Europäern entstanden ist – charakteristischerweise im Rahmen von interkontinentalen Austauschprozessen wie ökonomischer und politischer Interaktion (Handel, Kolonial- und Imperienbildung), aber auch in religiösen Vermittlungsbewegungen (Mission).13 Mit »gelehrter Publizistik« sind Textgattungen angesprochen, die einerseits einen explizit wissenschaftlichen, andererseits einen allgemeinbildenden Anspruch vertraten. Dabei ist weniger an Periodika wie Zeitungen und Relationen gedacht. Im Mittelpunkt stehen vielmehr globalgeographische und universalhistorische Synthesen, die den zeitgenössischen Wissensstand über die Welt enzyklopädisch zusammenfassen, ordnen und deuten. Solche Erzeugnisse gab es im 17. und 18. Jahrhundert sehr häufig. Von der Forschung sind sie bislang meist ignoriert worden. Zu stark hat sich die Diskussion der Asien-, Afrika- und Amerikawahrnehmungen von der Fokussierung auf Reiseberichte leiten lassen. Im Fall des Amerikabildes führte diese Schwerpunktsetzung in der Quellenauswahl zu sehr selektiven Ergebnissen: Die Neue Welt als Raum ferner Exotik oder als Paradies utopischer Freiheit – solche Anmutungen förderten die Annahme, dass das frühneuzeitliche Wissen zu Amerika nicht über blinde Stereotypien hinaus gekommen sei.14 Hingegen fügt sich das nachher noch genauer zu untersuchende Werk von Heinrich Scherer paradigmatisch in das globalgeographische beziehungsweise universalgeschichtliche Sujet ein: Der Dillinger Jesuit bietet einen naturkundlichen und welthistorischen state of the art um 1700. Sein Werk kann durchaus mit den zeittypischen Produkten der sogenannten Reichspublizistik verglichen werden, da der »Atlas Novus« konzeptionell ganz ähnlich aufgebaut ist: Im Mittelpunkt steht die Beschreibung des Heiligen Römischen Reichs und seiner Stände. Scherer erweitert jedoch diesen geographischen Fokus auf die euro­ päischen Nachbarn. Vor allem aber führt er eine ›transkontinentale‹ Perspektive ein, indem er den Blickwinkel auf Asien, Afrika und Amerika ausweitet.

13 Methodisch lehnt sich der Begriff an das Konzept der »Überseegeschichte« an. Die Fülle der Literatur sei hier nur gestreift: Markus A. Denzel (Hg.), Deutsche Eliten in Übersee (16. bis frühes 20. Jahrhundert). (Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte, 27) St. Katharinen 2006; Thomas Beck u. a. (Hg.), Überseegeschichte. Beiträge der jüngeren Forschung. Festschrift anlässlich der Gründung der Forschungsstiftung für vergleichende europäische Überseegeschichte 1999 in Bamberg. (Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte, 75) Stuttgart 1999; Hermann Joseph Hiery (Hg.), Lexikon zur Übersee­ geschichte. Stuttgart 2015. 14 Zum Forschungsstand zuletzt Becker, Nordamerika (wie Anm. 4), S. 19–24.

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Die umfangreiche Verwendung von Bildmaterial, überhaupt die Verbindung von Text und Bild, ist für diese Art von Publizistik kennzeichnend. Wie bereits angedeutet, kann man von einer visuellen Praxis sprechen: Scherer ließ seinen Atlas mit rund 200 Kupferstichen ausstatten, meist mit Karten, aber auch allegorischen Darstellungen von einzelnen Kontinenten und Ländern.15 Gerade diese mediale Doppelung ist von besonderem Interesse: Die künstlerische Inszenierung der außereuropäischen Welt – ob nun in Skulptur oder Malerei – hat ihre Vorlagen nicht nur in den einschlägigen Emblemhandbüchern oder in den Mustersammlungen der zeitgenössischen Architekturtheorie. Ihre V ­ orlagen sind auch im Bildmaterial der gelehrten Publizistik zu suchen. Wenn wir von »gelehrter Publizistik« sprechen, dann müssen wir von einem denkbar weiten Gattungsbegriff ausgehen. Zwar soll an dieser Stelle mit Scherers Atlas eine gelehrte Universalgeographie im Vordergrund stehen. Überseewissen – sei es nun religiöser oder ethnographischer Art – war aber auch in anderen Genres abrufbar. Zu nennen sind etwa hagiographische Vitensammlungen. Man braucht nur an die Programmheiligen der frühneuzeitlichen Jesuitenmission zu denken, beispielsweise an Franz Xaver, dessen erste offizielle Heiligenbeschreibung für den deutschen Sprachraum in Dillingen publiziert wurde. Diese Hagiographie betont nachdrücklich die außereuropäische Missionstätigkeit des Heiligen. Sie löste eine Flut von Folgeveröffentlichungen aus – und zwar sowohl von Texten als auch von Druckgraphiken, die wiederum zum Vorbild für die malerische Ausgestaltung in der schwäbischen und bayerischen Sakralarchitektur des Barocks wurden.16 Überseeische Wissenselemente können aber auch in gedruckten Disputa­ tionsthesen enthalten sein, wie sie seit dem 17. Jahrhundert im Examensbetrieb der Universitäten zunehmend üblich wurden. Diese Thesenblätter fassten den Inhalt von Magister- und Doktorpromotionen knapp zusammen. Der Hauptakzent lag jedoch weniger auf der Präsentation in Textform, vielmehr kam es darauf an, die Kernaussage in eine ästhetisch wie argumentativ besonders anregende Bilddarstellung zu bringen – ganz im Sinn der von der Barockrhetorik geforderten argutezza. Mit der graphischen Gestaltung wurden in der Regel namhafte Künstler beauftragt. Die Herstellung der Thesenblätter war technisch aufwendig und erfolgte daher oft in bekannten Offizinen. Ihr Druck zielte auf Repräsentation in der akademischen, mehr noch in der außeruniversitären­

15 Vgl. jetzt allgemein Susanne Lang, Bilder zur Mission. Die jesuitische Literatur und ihre Illustration. (Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte, 94) Petersberg 2012; speziell zu Scherer Becker, Nordamerika (wie Anm. 4), S. 83 f. 16 Vgl. Christine Schneider, »Von deß grossen Wunder Heiligen Vatter Francisci Xaverij« – Ein Ordensheiliger im Dienst der ehemaligen Jesuiten-Universität Dillingen, anlässlich des 500. Geburtstages des Hl. Franz Xaver SJ, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für Dillingen 107, 2006, S. 223–257; Dies., Franz Xaver in Druckerzeugnissen der Dillinger Akademischen Presse, anlässlich des 500. Geburtstages des Hl. Franz Xaver SJ. Dillingen 2006.

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Öffentlichkeit. Meist widmete sie der Prüfungskandidat – zusammen mit dem Prüfungskollegium – seinem hochrangigen Mäzen, etwa einem Adligen, Fürsten, Bischof oder sogar dem Kaiser.17 Noch einmal kann man hier ein Dillinger Beispiel aufgreifen, nämlich ein 1664 veröffentlichtes Thesenblatt.18 Das dort behandelte Thema ist zwar eher konventionell: Das Blatt referiert die nicht allzu originellen Kenntnisse von drei jungen Jesuitenstudenten auf dem Feld der aristotelischen Philosophie (Universa Aristotelis Philosophia, Conclusiones ex Vniversa Philosophia). Bemerkenswert ist jedoch die graphische Einrahmung. Der schulmäßig aufbereitete philosophische Lehrstoff wird nämlich mit einer Bildervita des Ignatius von Loyola beziehungsweise mit einer Bildererzählung der jesuitischen Weltmission während des 16. und 17. Jahrhunderts zeitgeschichtlich verknüpft. Diese visuelle Adaption besticht durch ihre herausragende zeichnerische Qualität. Den Entwurf dafür lieferte Johann Christoph Storer, ein bedeutender Maler und Radierer aus Augsburg. Den Druck des Blatts besorgte Bartholomäus Kilian, ein ebenfalls in Augsburg ansässiger Künstler, der sich auf die Produktion von Kupferstichen spezialisiert hatte.19 Für Praxis und Semantik des Überseewissens im barocken Süddeutschland ist der Druck so charakteristisch, dass sich eine kurze Betrachtung lohnt (vgl. Abbildung 2). Das Thesenblatt präsentiert ein reiches Figurenpanorama, das über drei Ebenen verteilt ist: Links oben erscheinen in himmlischer Sphäre  – auf Wolkenbänken – Jesus Christus mit Maria und Heiligen, darunter Katharina von Alexan­dria, die Patronin der philosophischen Fakultät, mit dem Rad. Eine Stufe tiefer – nach rechts gerückt – ist der heilige Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens, zu erkennen. Die dritte Ebene stellt die irdische Welt vor. Auch hier treten Jesuiten auf: links Franz Xaver mit einem Indianer an der Hand, dahinter Petrus Canisius, der Mitgründer der Jesuitenkollegien von Dillin17 Vgl. Hanspeter Marti, Disputation und Dissertation. Kontinuität und Wandel im 18. Jahrhundert, in: Marion Gindhart/Ursula Kundert (Hg.), Disputatio 1200–1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur. (Trends in Medi­eval Philology, 20) Berlin 2010, S.  63–85; Marian Füssel, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit. (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne) Münster 2006, S. 149–187; mit Blick auf Dillingen Sibylle Appuhn-Radtke, Speculum Pietatis – Persuasio Benefactoris. Zur Ikonographie illustrierter Einblattdrucke an der Universität Dillingen, in: Kiessling (Hg.), Universität Dillingen (wie Anm. 10), S. 559–593, hier besonders S. 574–588. 18 Edition und Kommentar des Thesenblatts bei Sibylle Appuhn-Radtke, Das Thesenblatt im Hochbarock. Studien zu einer graphischen Gattung am Beispiel der Werke Bartholomäus Kilians. Weißenhorn 1988, S. 256–260 (Nr. 63). 19 Vgl. ebd., S. 256; zu den beiden Künstlern: Dies., Visuelle Medien im Dienst der Gesellschaft Jesu. Johann Christoph Storer (1620–1671) als Maler der Katholischen Reform. (Jesuitica, 3) Regensburg 2000; ferner Christian Hecht, Die Glorie. Begriff, Thema, Bildelement in der europäischen Sakralkunst vom Mittelalter bis zum Ausgang des Barock. Regensburg 2003 (Register).

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Abbildung 2: Thesenblatt zur Weltmission der Gesellschaft Jesu (1664), Staats- und Stadtbibliothek Augsburg: Kilian.B 16

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gen und Ingolstadt, dann in der Mitte Aloisius Gonzaga, gemeinsam mit einem Schüler kniend. Auf der rechten Seite  – hinter einer Balustrade  – zeigen sich weitere Jesuiten. Im Vordergrund verharrt ein afrikanischer Fürst in anbetender Haltung. Diese Figurengruppe ist um einen Altar im Bildzentrum arrangiert. Über dem Altar schwebt das Christusmonogram IHS. Das Antependium ist mit einer Weltkarte in Form eines brennenden Herzens bedeckt, auf der die Kontinente Amerika, Europa, Afrika, Asien und das sagenhafte ›Südland‹ (Terra Australis Incognita) zu sehen sind. Die Darstellung bezieht sich allegorisch auf die Vision des Ignatius in La Storta (vor Rom): Laut Bildinschrift steht das die einzelnen Erdteile umfangende Herz für die »Liebe zu Gott und dem Nächsten« (»Dei et proximi amore«); zugleich verweist es auf Ignatius, der sich in missionarischer Liebe der ganzen Welt zuwendet. Sinnfällig erschließt sich diese Botschaft für den Betrachter durch den Strahl, der von der Seitenwunde des auferstandenen Christus (nach Lukas 12, 49: »Ignem veni mittere in terram«) auf das Herz des Ignatius trifft und von dort auf die Missionare aus dem Jesuitenorden ausstrahlt. Das Liebesfeuer Gottes – empfangen und vermittelt durch Ignatius – befähigt die Jesuiten zur missionarischen Tat im ganzen Erdkreis, der durch die Weltkarte und die Personifikationen der einzelnen Kontinente repräsentiert ist. Dabei vertritt der Indianer Amerika, der Orientale Asien, der junge kniende Knabe Europa und der dunkelhäutige Fürst Afrika.20 Für das Dillinger Thesenblatt bietet also die Missionsaktivität der tridentinischen Reformorden den entscheidenden Anstoß für das Übersee-Thema. Die Erkenntnisdynamik der frühneuzeitlichen missionary society wurde freilich auch noch in anderen Gattungen wirksam, so etwa in einer umfassenden Missionspublizistik. Hierbei handelt es sich um umfangreiche, häufig über mehrere Jahrzehnte hinweg periodisch aufgelegte Korrespondenzsammlungen mit Erfahrungsberichten aus allen Weltteilen. Dabei ist der Text wichtiger als das Bild, auch wenn kartographische Darstellungen oder sonstige Illustrationen ebenfalls Eingang in das Genre gefunden haben. Bedeutsamer als der visuelle Präsentationsmodus ist der Rekurs auf die Autopsie. Die Missionspublizistik wirbt mit der Autorität des Augenzeugenberichts. Einerseits appelliert sie damit an die Neugier auf Nachrichten aus der exotischen Ferne. Andererseits verfolgt sie erbauliche Absichten, verbunden mit dem Ziel, Spendengelder für die kontinuierliche Missionsarbeit in Übersee zu akquirieren.21 20 Zur Interpretation vgl. Appuhn-Radtke, Thesenblatt (wie Anm. 18), S. 258 f. 21 Vgl. Reinhard Wendt, Einleitung: Missionare als Reporter und Wissenschaftler in Übersee, in: Ders. (Hg.), Sammeln, Vernetzen, Auswerten. Missionare und ihr Beitrag zum Wandel europäischer Weltsicht. (ScriptOralia, 123) Tübingen 2007, S. 7–22; Ulrich van der Heyden/Andreas Feldtkeller (Hg.), Missionsgeschichte als Geschichte der Globalisierung von Wissen. Transkulturelle Wissensaneignung und -vermittlung durch christliche Missionare in Afrika und Asien im 17., 18. und 19. Jahrhundert. (Missionsgeschichtliches Archiv, 19) Stuttgart 2012; speziell zur Missionshistoriographie und -publizistik M ­ arkus Völkel, Geschichtsschreibung. Eine Einführung in globaler Perspektive. (UTB , 2692) Köln 2006, S. 219 f.

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Hinter den einzelnen publizistischen Initiativen standen oft einflussreiche konfessionelle Mediennetzwerke. Es lassen sich sowohl katholische als auch protestantische Protagonisten ausmachen, wobei die Initiatoren häufig aus dem Umfeld der Grenzgänger jenseits des reichs- beziehungsweise landeskirchlichen mainstream kamen: Im Fall der Katholiken lancierten in der Regel die inter­national besonders gut verzweigten Ordensgemeinschaften entsprechende Unternehmungen. Die evangelischen Vermittlungsmilieus standen meist dem dissentierenden Protestantismus mit seinen spezifischen Missionsinteressen in Übersee nahe. Zu denken ist etwa an die Pietisten oder Herrnhuter. Beide Gruppen verfügten über ein gut ausgebautes und effizient organisiertes System interkontinentaler Informationsbeschaffung.22 Der Rückgriff auf französische oder englische Vorbilder war nicht selten, wie der »Neue Welt-Bott« des Jesuiten J­oseph Stöcklein beweist. Dieses in 40 Bänden erschienene Periodikum umfasst rund 800 Briefberichte aus Europa, Afrika, Asien und Amerika. Ein großer Teil dieser Korrespondenzen kam aus spanischen und französischen Quellen, so etwa aus den »Lettres édifiantes et curieuses« der Pariser Jesuiten Charles Le Gobien und Jean-Baptiste du Halde.23 Für die evangelische Seite sind die Missionszeitschriften aus dem Umkreis der Francke’schen Stiftungen in Halle zu nennen. Diese Periodika mit Nachrichten über die pietistischen Siedlungs- und Missionsprojekte in Nordamerika (Georgia) und Indien (Tranquebar) standen in enger Verbindung mit der Publizistik der englischen Society for Promoting Christian Knowledge.24

22 Für die Jesuiten: Markus Friedrich, Der lange Arm Roms? Globale Verwaltung und Kommunikation im Jesuitenorden (1540–1773). Frankfurt am Main 2011; für die Herrn­huter: Gisela Mettele, Weltbürgertum oder Gottesreich. Die Herrnhuter Brüdergemeine als­ globale Gemeinschaft (1727–1857). (Bürgertum, 4) Göttingen 2009. 23 Vgl. Becker, Nordamerika (wie Anm. 4), S. 193–195; Borja González, Jesuitische Berichterstattung (wie Anm. 4), S. 124–145; ferner Bernd Hausberger, P. Joseph Stöcklein, der »Welt-Bott« und der Ruf der Exotik, in: Gerhard Holzer/Thomas Horst/Petra Svatek (Hg.), Die Leidenschaft des Sammelns. Streifzüge durch die Sammlung Woldan. (Edition ­Woldan, 3,1) Wien 2010, S. 153–184; Renate Dürr, Der »Neue Welt-Bott« als Markt der Informationen? Wissenstransfer als Moment jesuitischer Identitätsbildung, in: Zeitschrift für Historische Forschung 34, 2007, S. 441–466; Claudia von Collani, Der Neue Welt-Bott. A Preliminary Survey, in: Sino-Western Cultural Relations Journal 25, 2003, S. 16–43. 24 Zu Georgia: Hans-Jürgen Grabbe (Hg.), Halle Pietism, Colonial North-America, and the Young United States. (USA-Studien, 15) Stuttgart 2008; zu Tranquebar: Ulrike ­Gleixner, Expansive Frömmigkeit. Das Netzwerk der hallischen Indienmissionen im 18.  Jahrhundert, in: Heike Liebau/Andreas Nehring/Brigitte Klosterberg (Hg.), Mission und Forschung. Translokale Wissensproduktion zwischen Indien und Europa im 18.  und 19. Jahrhundert. (Hallesche Forschungen, 29) Halle 2010, S. 57–66; Daniel Jeyaraj, Mission Reports from South India and Their Impact on the Western Mind. The Tranquebar Mission of the Eighteenth Century, in: Dana L. Robert (Hg.), Converting Colonialism. Visions and Realities in Mission History, 1706–1914. (Studies in the History of Christian Missions) Grand Rapids 2008, S. 21–42.

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III . Amerika auf dem süddeutschen Buchmarkt Für den mittlerweile gut erforschten Sektor des amerikakundlichen Buch­ druckes lassen sich die Konjunkturen für das frühneuzeitliche Überseewissen in Süddeutschland statistisch genauer bestimmen.25 Die Befunde können allgemeine Aufmerksamkeit beanspruchen, denn die folgende bibliometrische Aufstellung (vgl. Tabelle 1) erfasst nicht nur Drucke, die sich allein auf Amerika beziehen, sondern auch Werke, in denen die Neue Welt im globalen Rahmen zusammen mit anderen Kontinenten – mit Europa, Asien und Afrika – beschrieben wird. Amerika- und Überseepublizistik sind also teilweise identisch. Tabelle 1: Druckorte für Amerikaliteratur im Reich 1676–1750 (Auswahl) 1676–1700

1701–1725

1726–1750

Augsburg

23

37

57

Berlin

17

6

11

7

7

9

167

88

71





8

Halle

11

20

48

Hamburg

61

59

65

Jena

31

25

14

Köln

40

12

4

139

155

200

8

9

3

120

58

62

Regensburg (mit Stadtamhof)

5

11

12

Wien

8

10

14

Dillingen Frankfurt am Main Göttingen

Leipzig München Nürnberg (mit Altdorf)

Nach: European Americana. A Chronological Guide to Works Printed in Europe Relating to the Americas, 1493–1750, hrsg. v. John Alden u. Dennis Channing Landis, Bde. 4–6. (The John Carter Brown Library) New York 1988–1997.

Unsere Beobachtungen betreffen den Abschnitt zwischen 1676 und 1750. Berücksichtigt sind nicht alle (süd-)deutschen Druckorte für Americana; hier steht 25 Vgl. dazu jetzt die detaillierten statistischen Übersichten bei Becker, Augsburger Amerika­ bilder (wie Anm. 4), S. 59–65; Ders., Nordamerika (wie Anm. 4), S. 49–60; Borja González, Jesuitische Berichterstattung (wie Anm. 4), S. 41–54.

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vielmehr eine exemplarische, gleichwohl aussagekräftige Auswahl im Blickpunkt. Folgende Zusammenhänge verdienen besondere Beachtung. Erstens: Der deutsche Markt für Americana wurde zweifellos – dem allgemeinen buchgeschichtlichen Trend entsprechend  – von Frankfurt am Main und Leipzig dominiert (326 beziehungsweise 494 Drucke). Beide Verlagszentren führten das amerikakundliche Segment unangefochten an. Freilich werden bereits in der chronologischen Verteilung ›raumspezifische‹ Faktoren zugunsten des Südens sichtbar: Beispielsweise kam Nürnberg am Beginn unseres Beobachtungszeitraums, also im späten 17. Jahrhundert, durchaus noch recht nahe an die beiden deutschen Hauptmärkte für Amerikawissen heran (insgesamt 270 Drucke). Als ausschließlich Leipziger oder Frankfurter Phänomen kann man den Handel mit Überseenachrichten kaum bezeichnen, zumal die Mainmetropole im Lauf des 18.  Jahrhunderts schrittweise Marktmacht abgeben musste – vor allem an die sächsische Konkurrenz in Leipzig. Bei näherer Betrachtung des geographischen Diffusionsgrades kann festgestellt werden, dass das Interesse an der Neuen Welt in den seenahen Druckorten im Norden Deutschlands größer war als in Süddeutschland. So brachte es ­Hamburg auf einen kontinuierlich hohen Ausstoß an Amerikapublizistik. Daneben zeichneten sich die Universitätsstädte Göttingen und Halle als Wachstumspole für entsprechende publizistische Unternehmungen aus. Im Fall von Göttingen, der Wiege der modernen Amerikakunde im Sinn der aufklärerischen Kameralistik, sollte sich dieses Gewicht nach 1750 noch ganz erheblich verstärken, wobei die politischen Verbindungen aufgrund der dynastischen­ Personalunion zwischen Hannover und England die Sensibilitäten für den atlantischen Kosmos zusätzlich abstützten.26 Dennoch dürfen die süddeutschen Verlagszentren nicht unterschätzt werden. Neben Nürnberg tritt in der statistischen Übersicht Augsburg hervor – bis 1750 mit substantiellen Zuwächsen (insgesamt 117 Drucke). Selbst kleinere Orte sicherten sich im Geschäft mit den Amerikanachrichten Anteile: Das bereits mehrfach erwähnte Dillingen war nicht nur in qualitativer Hinsicht ein bedeutsamer Umschlagplatz für Übersee- beziehungsweise Amerikawissen. Die Universitätsstadt, eine wichtige Adresse für den süddeutschen Buchdruck, tat sich

26 Vgl. dazu Volker Depkat, Amerikabilder in politischen Diskursen. Deutsche Zeitschriften von 1789 bis 1830. (Sprache und Geschichte, 24) Stuttgart 1998, hier besonders S. 66–97; Eugene Edgar Doll, American History as Interpreted by German Historians from 1770 to 1815. (Transactions of the American Philosophical Society, 38,5) Philadelphia 1949, S.  454–464; außerdem Thomas Biskup, The University of Göttingen and the Personal Union, 1737–1837, in: Brendan Simms/Torsten Riotte (Hg.), The Hanoverian Dimension in British History, 1714–1837. Cambridge u. a. 2007, S. 128–160; ferner Hermann Wellenreuther, Personalunion mit England und Mitglied im Reich. Von Kurhannover zum Königreich Hannover, 1690–1837, in: Elmar Mittler/Silke Glitsch (Hg.), »Eine Welt allein ist nicht genug«. Großbritannien, Hannover und Göttingen 1714–1837. Göttingen 2005, S. 32–51.

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auch unter quantitativen Aspekten hervor.27 Mit 23 Amerikadrucken zwischen 1676 und 1750 war sie nicht schlechter gestellt als überregional verflochtene Metropolen wie die Kaiserresidenz Wien (32 Drucke) oder Kurbayerns Hauptstadt München (20 Drucke), während des 18. Jahrhunderts immerhin Standort einer der größeren englischen Gesandtschaftsvertretungen auf dem europäischen Festland.28 Selbst Regensburg kam mit 27 amerikakundlichen Publikationen – trotz seiner Position als Sitz des Immerwährenden Reichstags und damit als einer internationalen Drehscheibe von Diplomatie und Kommunikation29  – auf kaum höhere Werte als das vermeintlich im Windschatten des atlantischen Raumes liegende Dillingen. Zweitens: Die herausragende Rolle des Nürnberger, Augsburger oder auch Dillinger Verlagswesens für die Genese von Amerikawissen hing mit den besonderen Strukturen der intellektuellen Szene in Süddeutschland zusammen. Wie die Überseewahrnehmung insgesamt war der Sonderfall der Amerika­ rezeption an spezifische institutionelle Trägerkreise gekoppelt. Transkontinental belebend wirkte vor allem die Konkurrenzkultur der paritätisch beziehungsweise multikonfessionell ausgebauten Stadt- und Territoriallandschaft. Diese Komponente verband sich mit dem Missionsmoment, das auf katholischer wie protestantischer Seite die Auseinandersetzung und Aneignung mit der Neuen Welt positiv förderte, während wirtschaftliche oder politische Impulse schwächer blieben.30 Wie sahen diese süddeutschen ›Agenturen‹ für amerikakundliches Wissen nun konkret aus? Drei Gruppen sollen hier näher beleuchtet werden, nämlich die religiösen, reichsstädtischen und höfischen Intellektuellen. Die höchste Bedeutung für den Wissenstransfer hatten die katholischen Orden. Dabei ist bemerkenswert, dass nicht nur die international erfahrenen­ Jesuiten, sondern auch die vergleichsweise ›sesshaften‹ Benediktiner auf entsprechende Weise tätig wurden. Obwohl gerade die Benediktiner kaum aktiv in das frühneuzeitliche Missionsgeschehen eingriffen, partizipierten sie doch an dessen intellektueller Bewältigung. Mit den Franziskanern und deren Reformzweigen (Rekollekten, Kapuziner) verfügte Süddeutschland – soweit es katho27 Vgl. Hans-Jörg Künast, Die Akademische Druckerei der Universität Dillingen, in:­ Kiessling (Hg.), Universität Dillingen (wie Anm. 10), S. 595–626. 28 Vgl. Ernst Schütz, Die Gesandtschaft Großbritanniens am Immerwährenden Reichstag zu Regensburg und am kur(pfalz-)bayerischen Hof zu München. (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, 154) München 2007. 29 Dazu Susanne Friedrich, Drehscheibe Regensburg: das Informations- und Kommunikationssystem des Immerwährenden Reichstags um 1700. (Colloquia Augustana, 23) Berlin 2007. 30 Freilich gab es auch solche Kontakte. Zu den ökonomischen Verbindungen aus dem Augsburg des 18.  Jahrhunderts in die Neue Welt: Mark Häberlein/Michaela SchmölzHäberlein, Die Erben der Welser. Der Karibikhandel der Augsburger Firma Obwexer im Zeitalter der Revolutionen. (Studien zur Geschichte des Bayerischen Schwabens, 21) Augsburg 1995; weitere Hinweise bei Becker, Nordamerika (wie Anm. 4), S. 34–36.

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lisch war – über weitere Spezialisten für die Vermittlung von Informationen aus (Mittel- und Süd-)Amerika.31 Einen deutlich kleineren, indes schlagkräftigen Kreis können wir mit den Augsburger Pietisten identifizieren.32 Soziologisch betrachtet, waren die beiden religiösen Trägergruppen nicht nur im engeren Bereich der kirchlichen Verkündigung verankert. Ein zusätzliches Aktionsfeld bot die Universität. Paradigmatisch stehen dafür die Jesuiten, die sich im Süden des Alten Reichs auf ein dichtes Gelehrtenschulwesen stützen konnten, sei es nun auf universitärer oder protoakademischer Ebene. Um nur an die wichtigsten Institutionen zu erinnern: Dillingen, Ingolstadt, Graz, Freiburg im Breisgau oder Würzburg, daneben die Kollegien von München, Rottweil oder Landsberg am Lech.33 Aus den dort ausgebildeten und/oder lehrenden Professoren rekrutierten sich die Amerikapublizisten, die als Autoren gezielt einschlägige Buchprojekte auf dem süddeutschen Verlagsmarkt platzierten. Ein charakteristisches Beispiel dafür ist der schon angesprochene »Neue Welt-Bott«. Dessen Hauptherausgeber Joseph Stöcklein steuerte dieses mehrere Jahrzehnte dauernde Editionsunternehmen zwar vom Grazer Jesuitenkolleg aus. Gedruckt wurde das seit 1726 periodisch erscheinende Reihenwerk jedoch in Augsburg bei Philipp Jakob Veith, einem auf katholische Theologie, Homiletik und Historiographie spezialisierten Verlagsbuchhändler. Nach dem Urteil des katholischer Sympathien gewiss unverdächtigen Friedrich Nicolai zählte Veith zu den wirtschaftlich erfolgreichsten Unternehmern seiner Zeit. Stöcklein konnte überdies von den herausragenden logistischen Qualitäten des Augsburger Hauses profitieren, unterhielt Veith doch in Graz eine Zweigniederlassung für die österreichischen Erbländer.34 31 Dazu Becker, Nordamerika (wie Anm. 4), S. 64–67; zu den süddeutschen Franziskanern als transkontinentalen ›Wissensagenten‹ Rainald Becker, Rom – Brücke nach Afrika. Die Äthiopienreise des Franziskaners Theodor Krump (1672–1724), in: Ders./Dieter J. Weiß (Hg.), Bayerische Römer – römische Bayern. Lebensgeschichten aus Vor- und Frühmoderne. (Bayerische Landesgeschichte und europäische Regionalgeschichte, 2) St. Ottilien 2016, S. 321–352. 32 Vgl. Becker, Nordamerika (wie Anm. 4), S. 67; Rudolf Freudenberger, Samuel Urlsperger und die Salzburger in Georgia: Eine pietistische Beziehung Augsburgs nach Nordamerika im 18. Jahrhundert, in: Gassert u. a. (Hg.), Augsburg und Amerika (wie Anm. 4), S. 81–101; Alexander Pyrges, Religion in the Atlantic World. The Ebenezer Communication Network, 1732–1828, in: Jonathan Strom/Hartmut Lehmann/James Van Horn Melton (Hg.), Pietism in Germany and North America, 1680–1820. Farnham 2009, S. 51–67. 33 Zur süddeutschen und österreichischen Bildungsinfrastruktur der Jesuiten vgl. Horst­ Nising, »… in keiner Weise prächtig«. Die Jesuitenkollegien der süddeutschen Provinz des Ordens und ihre städtebauliche Lage im 16.–18. Jahrhundert. Petersberg 2004; ­Notker Hammerstein/Rainer A. Müller, Das katholische Gymnasialwesen im 17.  und 18.  Jahrhundert, in: Notker Hammerstein/Ulrich Herrmann (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. II . 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800. München 2005, S. 324–354. 34 Vgl. Joseph Stöcklein u. a., Der Neue Welt-Bott mit allerhand Nachrichten deren Missionarien Societatis Iesu …, 5 Bde. Augsburg 1726–1761. Die Nachfolger des 1733 verstor-

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Die Augsburger Pietisten um Samuel Urlsperger, dem Hauptpastor an der reichsstädtischen Pfarrkirche St. Anna, reagierten auf diese jesuitischen Amerikaprojekte mit eigenen Großvorhaben. Einen tagesaktuellen Anlass dafür gab die Vertreibung und Übersiedlung der Salzburger Protestanten nach Georgia (1734). Dabei rückte Urlsperger nicht nur in den Mittelpunkt eines von Schwaben nach Nordamerika reichenden Hilfs-, Missions- und Kolonisationskonsortiums, sondern er initiierte auch die »Eben-Ezer-Schriften«.35 Diese vor allem mit Auswandererkorrespondenzen aus Georgia bestückten Textsammlungen sollten das Schicksal der Exulanten in Nordamerika in die Öffentlichkeit bringen. Dabei schöpfte der Geistliche systematisch die in Augsburg vorhandenen Kapazitäten des Buchdrucks aus. Die Augsburger Verleger kooperierten wiederum mit der unter pietistischer Leitung stehenden Waisenhausdruckerei in Halle.36 Die beiden übrigen Wissensmilieus – die reichsstädtischen und höfischen Intellektuellen – trugen ebenfalls dazu bei, dass die süddeutschen Metropolen zu Zentren der gelehrten Kommunikation über die Neue Welt aufsteigen konnten. Gerade die Nürnberger Verhältnisse sind dafür ein aussagefähiges Beispiel: Hier bildete sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts ein amerikakundliches Wissensforum um den Kupferstecher und Kartographen Johann Baptist Homann heraus. Dieser Großverleger, der den gesamten europäischen Markt von Russland bis Frankreich mit Atlanten versorgte, ließ eine Reihe von sehr detailgenauen Karten über Nord- und Südamerika erscheinen. Das Hintergrundwissen bezog Homann entweder aus der damals führenden Pariser Kartographie oder aus den Universitäten vor Ort. Insbesondere für die Legendentexte seiner graphisch aufwendig gestalteten Karten griff er auf die Kompetenzen der Geo-

benen Joseph Stöcklein wechselten den Verleger. Ab 1746 erschien der »Neue Welt-Bott« bei Leopold Johann Kaliwoda in Wien. 1761 wurde die Publikation infolge wirtschaftlicher Probleme und des sich verschärfenden Antijesuitismus der Aufklärung eingestellt. Dazu ausführlich Borja González, Jesuitische Berichterstattung (wie Anm. 4), S. 138–145; ferner Helmut Gier, Buchdruck und Verlagswesen in Augsburg vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Ende der Reichsstadt, in: Ders./Janota (Hg.), Augsburger Buchdruck (wie Anm. 4), S. 479–516, hier 512 f. 35 Der Begriff »Eben-Ezer-Schriften« spielt auf den Siedlungsnamen der Salzburger Exulantenkolonie in Georgia an. Darunter fallen vor allem zwei größere Kompilationen: Samuel Urlsperger, Ausführliche Nachrichten von der Königlich-Groß-Britannischen Kolonie Saltzburgischer Emigranten …, 4 Tle. Halle 1735–1752; Ders./Johann August Urlsperger, Das Americanische Ackerwerk Gottes …, 4 Bde. Augsburg 1754–1767. Vgl. dazu Stefan W. Römmelt, »Georgien in Teutschland«. Der Augsburger Pastor Samuel Urlsperger (1685–1772) und die pietistische Publizistik über das Siedlungsprojekt EbenEzer (Georgia), in: Wolfgang Wüst/Georg Kreuzer/David Petry (Hg.), Grenzüberschreitungen. Die Außenbeziehungen Schwabens in Mittelalter und Neuzeit. (Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg, 100) Augsburg 2008, S. 249–266, hier 249. 36 Vgl. zuletzt Becker, Augsburger Amerikabilder (wie Anm. 4), S. 70–72.

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graphen am Nürnberger Egidianum beziehungsweise an der reichsstädtischen Landesuniversität in Altdorf zurück. Darüber hinaus machte sich Homann die amerikakundliche Expertise der süddeutschen Missionsnetzwerke zunutze. Die Erkenntnisse der Jesuiten und Pietisten flossen ebenfalls in das kartographische Œuvre des Nürnberger Verlegers ein.37 Noch markanter zeigt sich die Abhängigkeit der Amerikarezeption von den religiösen Milieus im Fall der süddeutschen Hofgelehrten. Diese Gruppe setzte sich vor allem aus Intellektuellen zusammen, die am kurfürstlichen Hof in München tätig waren – entweder als Räte oder Präzeptoren. Obgleich ein Großteil dieser Wissensproduktion für den internen Gebrauch, etwa für den Unterricht der Kurprinzen, bestimmt war und damit dem Arcanum unterlag, gingen aus dem höfischen Umfeld einschlägige Werke hervor.38 Ein führender Übersee- beziehungsweise Amerika-Spezialist am Münchner Hof war der Jurist­ Johann Joseph Pock. Er veröffentlichte während der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts mehrere Weltgeschichten, die durch eine starke Stilisierung im Sinn des literarischen Barocks gekennzeichnet sind. So nimmt der zwischen 1718 und 1722 publizierte »Politische catholische Passagier, durchreisend alle … Länder der gantzen Welt«39 das Muster des pikaresken Reiseromans auf: Ein Vagant wandert durch die vier Erdteile Europa, Asien, Afrika und Amerika und berichtet von den dabei gemachten Entdeckungen. Unter der Hand – in durchaus frühkameralistischer Manier – breitet Pock das ganze Panorama an naturkundlicher, ethnographischer, geographischer und historischer Beobachtung aus. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem »Güldenen Denck-Ring Göttlicher Allmacht und Menschlicher Thaten« (1723–1752).40 Im Gestus des Gesprächsspiels wird hier eine globalhistorische Länder- und Staatenkunde dargeboten. Zwar verarbeiten die beiden Periodika auf kompilatorischem Weg das gesamte damals verfügbare Wissen über die Welt. Im Kern wertet Pock jedoch Jesuitenautoren aus  – sowohl spanischer, französischer, italienischer als auch deutscher Provenienz, wie sie eben auf dem süddeutschen Buchmarkt greifbar 37 Allgemein zu Homann: Michael Diefenbacher/Markus Heinz/Ruth Bach-Damaskinos (Hg.), »auserlesene und allerneueste Landkarten«. Der Verlag Homann in Nürnberg 1702–1848. (Ausstellungskatalog des Stadtarchivs Nürnberg, 14) Nürnberg 2002; zu dessen Amerikakarten: Becker, Nordamerika (wie Anm. 4), S. 122–138. 38 Dazu Becker, Nordamerika (wie Anm. 4), S. 73 f. 39 Vgl. Johann Joseph Pock, Der Politische Catholische Passagier, durchreisend Alle hohe Höfe, Republiquen, Herschafften und Länder der gantzen Welt …, 10 Tle. Augsburg 1718–1722. Allgemein zu Pock: Becker, Nordamerika (wie Anm.  4), S.  294 f.; Borja­ González, Jesuitische Berichterstattung (wie Anm. 4), S. 43 f.; außerdem Stefan Benz, Zwischen Tradition und Kritik. Katholische Geschichtsschreibung im barocken Heiligen­ Römischen Reich. (Historische Studien, 473) Husum 2003, S. 518 f. 40 Vgl. Johann Joseph Pock/Johannes Rudolph Conlin, Güldener Denck-Ring, Göttlicher Allmacht und Menschlicher Thaten, Welche sich begeben von Anfang der Welt, durch die bißher etliche tausend verflossene Jahre, biß auf jetzt lauffende Zeit …, 34 Tle. Augsburg 1723–1752.

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waren. Der süddeutsche Kreis schließt sich in noch anderer Weise: Der bayerische Gelehrte gab seine beiden Werke in Augsburg bei Kaspar Brechenmacher in Druck. Wie Veith galt auch Brechenmacher als Spezialist für Catholica, insbesondere für Predigtsammlungen und Erbauungsliteratur.41 So stellt sich noch die Frage, an welche Adressaten sich diese vielfältigen verlegerischen Bemühungen richteten. Auch wenn es für detaillierte Ergebnisse noch zu früh ist und die Forschung noch weiter voranzutreiben ist, zeichnen sich schon jetzt einige Grundtendenzen ab. Ich möchte mich hier auf die besonders wirksamen religiösen Akteure konzentrieren: Im Fall der Pietisten wandten sich die amerikakundlichen Publizisten in erster Linie an die eigene Gemeinschaft der Frommen. Ihre literarische Aktivität zielte auf innere Milieustabilisierung ab, indem sie gewissermaßen zeitgeschichtliches Anschauungsmaterial aus den amerikanischen Kolonien für die katechetische Unterweisung bereitstellten. Im Konventikel oder auf der Kanzel konnte die amerikakundliche Information zum theologischen Argument für die heilsgeschichtliche Plausibilität des pietistischen Modells werden.42 Mutatis mutandis bewegten sich die katholischen (vor allem jesuitischen) Protagonisten der Amerikavermittlung auf der gleichen Linie: Die Jesuiten fanden zunächst einen Absatzmarkt in den eigenen Bildungseinrichtungen. Auch sie schrieben und druckten zuerst für die eigene Identitätssicherung. Man darf nicht vergessen, dass in Landsberg am Lech das wohl bedeutendste Missions­ noviziat der deutschsprachigen Jesuitenprovinzen bestand. Es fungierte als Ausbildungszentrum für den deutschen Klerikernachwuchs in Süd- und Mittelamerika. In diesem Funktionszusammenhang konnte die Amerikapublizistik ihre Anwendung finden.43 Gleichwohl stellten sich die Jesuiten auf eine breitere Öffentlichkeit ein. Ihr Wirkungsradius war im Vergleich zu dem der Pietisten weiter gezogen. Dazu trug gewiss ihr auf die Gelehrsamkeit abhebender Habitus bei. Die jesuitischen Americana fanden rasche Verbreitung in Kloster- und Universitätsbibliotheken – diesseits und jenseits konfessioneller Grenzen. Zugleich gaben sie dem religiösen Informationsbedarf des global sensibilisierten common reader neuen Stoff. Dabei ist etwa an die Fugger zu denken. Im 18. Jahrhundert 41 Vgl. Becker, Nordamerika (wie Anm. 4), 76 f.; zu Brechenmacher siehe Gier, Buchdruck und Verlagswesen (wie Anm. 34), S. 485–489. 42 Vgl. Becker, Nordamerika (wie Anm. 4), S. 229–238. 43 Vgl. Michael Müller, Bayerns Tor nach Übersee. Das Missionsnoviziat der oberdeutschen Jesuitenprovinz in Landsberg am Lech, in: Konrad Amann u. a. (Hg.), Bayern und Europa. Festschrift für Peter Claus Hartmann zum 65. Geburtstag. Frankfurt am Main u. a. 2005, S.  169–184; Christoph Nebgen, Missionarsberufungen nach Übersee in drei Deutschen Provinzen der Gesellschaft Jesu im 17.  und 18.  Jahrhundert. (Jesuitica, 14) Regensburg 2007, S. 68, 133 f.; Ders., Jesuiten aus Bayern, Franken und Schwaben in Neu­granada im 17. und 18. Jahrhundert, in: Peter Claus Hartmann/Alois Schmid (Hg.), Bayern in Lateinamerika. Transatlantische Verbindungen und interkultureller Austausch. (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Beiheft 40) München 2011, S. 135–172.

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unterstützte diese adlige Beamten-, Unternehmer- und Bankiersdynastie kirchliche Einrichtungen in Übersee mit hohen Summen.44 IV. ›Spirituelle Geographie‹ bei Heinrich Scherer SJ Im »Atlas Novus« des Dillinger Jesuitenprofessors Heinrich Scherer bündeln sich die unterschiedlichen Markt-, Vermittlungs- und Motivationsstrategien der Überseewahrnehmung im Süden des Alten Reichs auf exemplarische Weise. Das sieben Bände umfassende Werk ist deshalb für eine vertiefende inhaltliche Sondierung der süddeutschen Überseediskurse gut geeignet. Dafür spricht auch die Tatsache, dass Scherer sein Publikum nicht einfach der Orientierungslosigkeit von antiquarischen Datenkatalogen oder ausufernden Quelleneditionen überlässt. Im Gegensatz zu diesen von zeitgenössischen Publizisten häufig genutzten Darstellungsformen entscheidet sich Scherer für ein Konzept erneuerter Stringenz. Er spricht von der Notwendigkeit, seinen Leser nach der Erkenntnisflut des europäischen Expansions- und Entdeckungszeitalters mit nützlich geordnetem Wissen über Europa, Asien, Afrika und Amerika auszustatten.45 Mit dem Appell an Nützlichkeit und Ordnung ist ein Topos aufgenommen, der von jeher und ganz besonders in Barock und Aufklärung das Selbstverständnis gelehrter Aktivität bestimmte.46 Bei Scherer jedoch gewinnt das Plädoyer für neue Klarheit charakteristische Profile: Einerseits möchte er auf den explodierenden Wissensüberfluss mit einer (disziplinär) differenzierten Systematik geographischer Analyse antworten und ihn damit fassbar machen. Andererseits soll diese Art von Präsentation lebensrelevante, sinnhaltige Bezüge aufweisen: Die Erkenntnis von Mensch und Natur ist in eine dynamische Beziehung zur Gotterkenntnis gesetzt, wobei dieser alte Anspruch der philosophia perennis auf unkonventionelle Weise mit geographischer Wissenschaft verbunden wird: Scherers Geographie versteht sich als spiritual geography, die mit den empirischen Methoden von Mathematik, Physik, Astronomie und Geschichte die Handschrift des Schöpfergottes im Buch der Natur zu entschlüsseln hilft.47 44 So beispielsweise in China und Südostasien: Ronnie Po-Chia Hsia, Noble Patronage and Jesuit Missions: Maria Theresia von Fugger-Wellenburg (1690–1762) and Jesuit Missionaries in China and Vietnam. (Monumenta Historica Societatis Iesu, S. N., 2) Roma 2006. 45 Vgl. Becker, Nordamerika (wie Anm. 4), S. 92 f. 46 Zu diesem Topos vgl. zuletzt Ann M. Blair, Too Much to Know. Managing Scholarly­ Information before Modern Age. New Haven u. a. 2010. 47 Vgl. Becker, Nordamerika (wie Anm.  4), S.  88 f.; zu zeitgenössischen Konzepten einer­ spiritual geography: Steven J. Harris, Mapping Jesuit Science: The Role of Travel in the Geography of Knowledge, in: John W. O’Malley SJ u. a. (Hg.), The Jesuits. Cultures, Sciences, and the Arts, 1540–1773. Toronto u. a. 1999, S. 212–240; Lauric Henneton, Spiritual Geopolitics. Reconsidering Religious and Political Boundaries in Seventeenth-Century Northeastern America, in: Journal of Early American History 4, 2014, S. 212–238; schon früher François de Dainville SJ, La Géographie des humanistes. (Les Jésuites et l’éducation de la société française, 1) Paris 1940 (ND Genf 1969), S. 71 f.

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Zunächst seien Leben und Werk von Heinrich Scherer knapp skizziert: Der Gelehrte wurde 1628 in Dillingen als Sohn eines fürstbischöflichen Beamten geboren. 1704 verstarb er in München. Scherer studierte an der Hochschule seiner Geburtsstadt und trat in jungen Jahren dem Jesuitenorden bei, mit dem Ziel, als sogenannter Indipeta (eine Wortableitung von Ad Indiam petere)  in die amerikanische Mission zu gehen. Angesichts seiner Ablehnung aus gesundheitlichen Gründen verlegte er sich auf das akademisch-wissenschaftliche Fach und wurde Prinzenerzieher am Herzogshof von Mantua. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland unterrichtete der Jesuit an der Universität Dillingen Hebräisch, Griechisch und Mathematik. Später wechselte er nach München. Dort übernahm er die Leitung des Jesuitenkollegiums. Zugleich unterrichtete er die Söhne des bayerischen Kurfürsten. Neben seiner wissenschaftlichen Autoren­tätigkeit verfasste er für die Marianische Männerkongregation in München zahlreiche Konversionsdramen, in denen Märtyrerfiguren aus der Jesuitenmission (etwa die japanischen Märtyrer) eine zentrale Rolle einnahmen und die öffentlich aufgeführt wurden. Das mediale Zusammenspiel von Text und Bild (und sogar Theater), von gelehrter Erörterung und visueller Darbietung (sowie dramatischer Inszenierung) war auch für Scherers Umgang mit den außereuro­päischen Welten bestimmend.48 Der »Atlas Novus« erschien 1703 als Ergebnis von Scherers langer Lehrtätigkeit an Fürstenhof und Universität. Publiziert wurde er bei dem in Augsburg und Dillingen ansässigen Universitätsdrucker Johann Caspar Bencard.49 Das Werk wurde 1737 noch einmal aufgelegt. Bemerkenswert ist der neuartige Methodenzugang des Atlas. Seine sieben Teilbände50 entsprechen unterschiedlichen wissenschaftlichen und intentionalen Aussageebenen: Zwar folgt der erste Band über die Naturgeographie (»Geographia Naturalis«) noch der ptolemäischen 48 Zuletzt biographisch zu Scherer: Rainald Becker, Russland in der süddeutschen Gelehrtenkultur des Humanismus und Barock, in: Alois Schmid (Hg.), Bayern und Russland in vormoderner Zeit. Annäherungen bis in die Zeit Peters des Großen. (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Beiheft 42) München 2012, S.  259–287, hier 276 f. (mit weiterer Literatur); ferner Hanspeter Fischer, Eine mitteleuropäische Jesuitenkarte ­Heinrich ­Scherers (1628–1704) von 1703, in: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 47, 2013, S. 313–323; zu Scherer als Dramatiker vgl. Jean-Marie Valentin, Theatrum Catholicum XVIe–XVIIe siècles. Les jésuites et la scène en Allemagne au XVIe et au XVIIe siècles/Die Jesuiten und die Bühne im Deutschland des 16.–17. Jahrhunderts. (Collection Etudes allemandes) Nancy 1990, S. 345. 49 Zu Bencard vgl. Isabel Heitjan, Die Buchhändler, Verleger und Drucker Bencard, 1636–1762, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 3, 1961, S. 614–979. 50 Vgl. Heinrich Scherer, Atlas Novus, Bd. 1: Geographia Naturalis, Sive Fabrica Mundi Sublunaris …, Bd. 2: Geographia Hierarchica, Sive Status Ecclesiastici Romano-Catholici …, Bd. 3: Atlas Marianus …, Bd. 4: Geographia Politica, Sive Historia Geographica Exhibens Totivs Orbis Terraquei Statvm Et Regimen Politicum …, Bd. 5: Geographia Artificialis, Sive Globi Terraquei Geographice Repraesentandi Artificium …, Bd. 6: Tabellae Geographicae, Hoc Est: Regionum, Provinciarum Locorumque Memorablium In Orbe Terrrarum Succincta Dispositio Et Ordo Politico-Geographicus …, Bd. 7: Critica Quadri-Partita, In Qva Plura Recens Inventa, Et Emendata circa Geographiae Artificium, Histo- // riam, Technicam, Et Astrologiam Scitu Dignissma explicantur … Augsburg 1703–1710.

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Tradition. Aber bereits die weiteren Bände über die (katholische)  Religionsgeographie der Welt führen innovative Prinzipien ein. Sie behandeln die weltweite Organisation der katholischen Kirche mit ihrer Gliederung in Kirchenprovinzen, Erzbistümer und Bistümer (»Geographia Hierarchica«). Der dritte Band liefert eine Topographie aller zum damaligen Zeitpunkt weltweit bestehenden Marienheiligtümer (»Geographia Mariana«). Dabei handelt es sich um eine Neubearbeitung eines schon älteren Werkes, das auf den Ingolstädter Professor Wilhelm von Gumppenberg SJ zurückging.51 Der vierte Teil  beschäftigt sich mit den Staaten und Ländern in historisch-geographischer Perspektive (»Geographia Politica sive Historia Geographica«). Der nächste Teil listet in einer Art von geographischem Weltindex (»Tabellae Geographicae«) alle damals bekannten Orte und Städte auf, und zwar nach ihrer Lage im Koordinatensystem beziehungsweise nach ihrer staatlich-territorialen Zugehörigkeit. Der Folgeband informiert über die technischen Prinzipien des geographischen Arbeitens (»Geographia Artificialis«). Der letzte Band bietet eine critica. Im zeit­ genössischen Sprachgebrauch ist damit ein bibliographischer Kommentar zum Forschungsstand gemeint. Um die konzeptionelle Tragweite der ›spirituellen Geographie‹ bei Scherer beispielhaft zu illustrieren, seien hier zwei Kupfer­stiche ausgewählt. Von besonderem Interesse ist die Titelvignette der »Geographia politica« (vgl. Abbildung 3). Sie lässt den universalistischen Deutungsanspruch der jesuitischen Welt­ beschreibung programmatisch hervortreten. Das Bild spielt auf die von Scherer im Rahmen seiner politischen Geographie vorgestellten Kontinente, Imperien, Königreiche und Länder an. Diese tragen als Atlanten mit vereinten Anstrengungen den Globus, über dem eine Personifikation des Glaubens (Fides) schwebt. Seitlich angeordnet ist eine Kartusche. Sie enthält eine Inschrift aus dem Buch der Sprichwörter 8: »Per me reges regnant et legvm conditores ivsta decernvnt.« Das Motto – es unterstellt alle weltliche Herrschaft dem göttlichen Recht – richtet sich an den Westen wie den Osten, an Frankreich, England und Spanien ebenso wie an die Osmanen (Imperium Turcicum) oder die Mongolen. Prominent in die Mitte gerückt sind jedoch das chinesische Imperium in Gestalt eines Mandarins und das Heilige Römische Reich, verkörpert durch einen jungen römischen Legionär mit dem Reichsadler auf dem Brustpanzer.52 51 Zu Gumppenberg Becker, Russland (wie Anm. 48), 259 f.; ferner Olivier Christin/Fabrice Flückiger/Naïma Ghermani (Hg.), Marie mondialisée. L’»Atlas Marianus« de Wilhelm Gumppenberg et les topographies sacrées de l’époque moderne. (Image et patrimoine) Neuchâtel 2014. 52 Womit Scherer eine direkte Kontinuität zwischen dem antiken Reich der Römer und dem mittelalterlich-frühneuzeitlichen Reich der Franken beziehungsweise Deutschen ganz im Sinn der danielischen Monarchienfabel postuliert. Zur Fortgeltung dieser politischen Vorstellung noch im 18. Jahrhundert vgl. Werner Goez, Translatio imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Tübingen 1958.

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Abbildung 3: Heinrich Scherer SJ, Atlas Novus, Bd. 4: Geographia politica …. 2. Aufl. Augsburg 1737, Titelkupfer. Staats- und Stadtbibliothek Augsburg: 4 Gs 2065–4

Dem Betrachter tritt also eine barocke global society entgegen. Unter dem Vorzeichen des einen (christlichen) Glaubens stehen die Repräsentanten der Reiche und Kontinente auf gleicher Augenhöhe, obwohl die subtile Bildregie feine Unterschiede sichtbar werden lässt: Als ontologische Erkenntnismöglichkeit ist die Glaubenswahrheit zwar allen Nationen, Ethnien und Kulturen in gleicher

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Weise zugänglich. Dennoch kommen Länder und Völker auf diesem Erkenntnisweg mit unterschiedlicher Geschwindigkeit voran: Am weitesten vorangeschritten sind die beiden in der Mitte platzierten Imperien der Chinesen und der Deutschen. Sie erweisen sich als Hauptpfeiler der globalen Ordnung. Ihnen ist das Gesicht der über der Welt schwebenden Fides voll zugewandt. Bei Scherer spiegeln sich also die Hoffnungen wider, die man auch auf Seiten der süddeutschen Jesuiten mit der Chinamission verknüpfte.53 Zum anderen ist in der Einschätzung des Heiligen Römischen Reichs als Großimperium ein Beleg dafür zu sehen, dass Reichspatriotismus keine exklusiv lutherische Angelegenheit war. Sie war auch unter deutschen Jesuiten weit verbreitet. Demgegenüber drängen sich die westeuropäischen Monarchien – gewissermaßen als eifersüchtige Epigonen hinter den Deutschen – an den Rändern der atlantischen Peripherie. Bemerkenswert ist die Perspektive auf die islamische Welt. Auch diese trägt den Erdglobus mit, ist aber noch nicht in der globalen Christenheit angekommen: Im gebückt verharrenden Osmanen und in dem zwar noch im Dunkel stehenden, aber neugierig nach Westen blickenden Mongolen ist diese Interpretation visuell umgesetzt. Die Vorstellung von der Welt als globaler, wenn auch in sich abgestufter Gemeinschaft wird auch im Textteil der »Geographia politica« wirksam. Scherer operiert bei seiner Beschreibung der Weltregionen, der einzelnen Nationen und Reiche mit dem Begriff des dominium. Er greift also bei der Einteilung seiner politischen Geographie auf eine völkerrechtliche Kategorie zurück, die der zeitgenössischen Staatsrechtslehre geläufig war und insbesondere in der (spanischen) Barockscholastik breit diskutiert wurde. Grundsätzlich argumentiert diese Theorie mit der juristischen Eigenwertigkeit aller politischen Entitäten. Die staatlichen Gemeinschaften der Erde sind trotz ihrer Verfassungsunterschiede gemäß der aristotelischen Systemlehre (Monarchie, Republik und so weiter) prinzipiell gleichartig, weil sie über Autorität (potestas) verfügen. Daher können bei Scherer der indianische Stammesfürst, der mongolische Führer und der europäische König sowohl im bildlichen Zeremoniell der Titelvignette als auch im Arrangement des textuellen Narratives als Protagonisten einer gemeinsamen global society auftreten: Sie sind nicht von gleichem Rang, wohl aber von vergleichbarem Wert.54 Den zeitgenössischen Konfessionsstatus reflektiert eine Karte aus der »Geographia hierarchica« (vgl. Abbildung 4). Sie zeigt – in polständiger Projektion von Norden – die religionsgeographische Struktur der Welt aus Sicht der katholischen Missionsgeschichte um 1700. In einzigartiger Weise sind hier die konfessionellen Identitäten in ihrer räumlichen Verteilung über den Erdkreis herausgearbeitet: Die von der katholischen (speziell: jesuitischen) Missionsbewegung bereits erfassten Räume sind 53 Zur China-Euphorie in Bayern vgl. die Beiträge bei Hartmann/Schmid (Hg.), Bayerischchinesische Beziehungen (wie Anm. 4). 54 Vgl. dazu Becker, Nordamerika (wie Anm. 4), S. 99 f.

Abbildung 4: Heinrich Scherer SJ, Atlas Novus, Bd. 2: Geographia hierarchica …. 2. Aufl. Augsburg 1737, fol. Z nach S. 34. Staats- und Stadtbibliothek Augsburg: 4 Gs 2065–2

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hell ­ausgewiesen, während die paganen oder protestantischen Gebiete dunkel schraffiert sind. In Nordamerika liegen die britischen Kolonien an der atlantischen Küste im Dunklen, während Neu-Frankreich, Mexiko und die Karibik als weiße Zonen sichtbar werden, wie auch weite Teile von Südamerika. In Europa wiederholen sich ähnliche Konstellationen: Im Licht stehen Portugal, Spanien, Frankreich, Italien, die südlichen Teile des Heiligen Römischen Reichs, im Dunkel hingegen die britischen Inseln, Norddeutschland, das nördliche Europa und das orthodoxe Russland. Afrika und Asien sind als nicht-­katho­ lisches Terrain gekennzeichnet – bis auf wenige Ausnahmen, zu denen Goa oder China gehören. Die Aussage wird durch zusätzliche Bildelemente verstärkt. Reich ornamentierte Kartuschen mit Bibelzitaten und weitere Darstellungen erläutern die Kartenbotschaft: Zu erkennen ist etwa Christus als S­ alvator mundi. Daneben zeigen sich Jesuiten. Sie sind als Hirten gekleidet und sammeln Schafe ein – eine biblische Assoziation an ihre Missionstätigkeit in Übersee. Damit gibt sich eine klare Stoßrichtung zu erkennen: Die außereuropäischen Welten verdienen deshalb besondere Beachtung und sogar Wertschätzung, weil hier die neue Christenheit der Zukunft erscheint. Mehr noch: Die Verluste, die der katholischen Kirche infolge der Reformation in der alten Welt entstanden sind, werden im Westen, Süden und Osten des Erdkreises durch den Zuzug neuer Gläubiger kompensiert. Übersee wird damit zum geistlichen Lehrmeister des alten Europa.55 Man kann – ein Wort des amerikanischen Kunsthistorikers Jeffrey Chipps Smith abwandelnd – von einer geographischen »art of salvation« sprechen.56 V. Ausblick In welchem größeren Zusammenhang stehen nun diese Beobachtungen? Zu verweisen ist zunächst auf die Epochensignifikanz der Befunde. Der Umgang mit dem Überseeischen war kein Privileg jener Zeiten, die wir für besonders ›weltoffen‹ zu halten gewohnt sind, so den Humanismus mit seiner Vorliebe für das Fremd-Exotische oder die Aufklärung mit ihrer menschheitsgeschichtlichen Beschwörung der One World. Unsere Überlegungen sollten helfen, den Blick für historische Zwischenzeiten zu schärfen: Im Heiligen Römischen Reich gab es von 1650 bis 1750, also nach dem Ende des auch von globalen Vernetzungen ablenkenden Dreißigjährigen Krieges und vor den Euphorien rousseauistischer Weltentgrenzung, eine durchaus eigenwertige Begegnungsphase mit dem Außereuropäischen. Man könnte sie als barocke Überseekonjunktur bezeichnen – mit spezifischen Merkmalen. So leitete sie sich aus einem dezidiert 55 Zu den konfessionellen Deutungsstrategien, speziell zu den ›kompensatorischen‹ Aspekten in Scherers Kartographie vgl. Becker, Nordamerika (wie Anm. 4), S. 105 f. 56 Vgl. Jeffrey Chipps Smith, The Art of Salvation in Bavaria, in: O’Malley (Hg.), Jesuits (wie Anm. 47), S. 568–599.

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religiösen Antrieb ab. Die Missionsbewegung der von konfessionellen Weltdeutungskonkurrenzen geprägten Christenheit verhalf entsprechenden Interessen zum Durchbruch. Sie machte sich den neuen Bildungsoptimismus der Epoche mit ihrer Begeisterung für intellektuelle Ordnung zunutze. Nicht zuletzt formierte sie sich als Wissenskultur in spezifischen regionalen und sozialen Milieus. Augsburg, Nürnberg und Dillingen konnten zu Orten überseeischer Kompetenzen werden, gestützt auf beachtliche Ressourcen an Gelehrsamkeit und verlegerischem Potential. Nichts wäre falscher, als den Prozess der Überseeaneignung auf die metropolitanen Zentren einzugrenzen, auf den Kreis der üblicherweise Verdächtigen wie London, Paris, Madrid oder Rom. Auch die ›Provinz‹ wurde davon erfasst; sie trieb solche Prozesse maßgeblich mit voran. So sorgte sie für eine Popularisierung von Überseewissen in der Fläche und Breite. Das Moment der Erweiterung wurde aber auch noch auf andere Weise wirksam. Die barocke Überseerezeption trat mit einem multimedialen, medienübergreifenden Vermittlungsapparat auf, von dem der Humanismus nur träumen konnte, den die Aufklärung mit ihrem Nüchternheitspathos hingegen rigoros entsorgte: Texte und Bilder, visuelle Varianten aller Art – von der Karte über den Kupferstich, das Wandfresko und die Skulptur bis zum performativen Akt im Theater – stellten das Thema in vielfältiger Öffentlichkeitswirkung vor. Das Überseewissen blieb – bei allem Anspruch auf Gelehrsamkeit – kein Elitenprojekt. Die Freskenhimmel des süddeutschen Sakralbarocks wandten sich nicht nur an den peritus, sondern – in einer Art von trickle down-Effekt vom Buch zum Fresko – auch an den Laien. Oder anders gesagt: Während der Sonntagsmesse die gemalte Asia, Africa oder America am Gewölbe über sich kontemplierend, konnte der gemeine Mann mit seinen Mitmenschen jenseits von Atlantik und Pazifik in Kontakt treten.57

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III. Angebot und Nachfrage

Gion Wallmeyer

Wie der Kreuzzug marktfähig wurde Überlegungen zur Anwendung des Marktbegriffs auf das höfische Ratgeberwesen des 13. und 14. Jahrhunderts

In Feuilleton und Sozialwissenschaften scheint Einigkeit darüber zu bestehen, dass sich nahezu alle Lebensbereiche der westlichen Gegenwartsgesellschaft in einem Prozess zunehmender Ökonomisierung befinden.1 Obgleich diese Entwicklung in der Vergangenheit häufig (und vermutlich zurecht) kritisiert wurde, haben sich Sozial- und Kulturwissenschaftler immer wieder erfolgreich das Erklärungspotential einer ökonomischen Betrachtung sozialer Phänomene zu Nutze gemacht, indem sie wirtschaftliche Konzepte auf gesellschaftliche Teilbereiche angewandt haben, in denen diese zuvor nur eine untergeordnete Rolle spielten. Vertreter der Neuen Institutionenökonomik haben etwa versucht, mithilfe wirtschaftswissenschaftlicher Annahmen die Entwicklung von Staatlichkeit zu erklären und Marktsoziologen haben das Marktkonzept auf soziale Phänomen wie die Adoption von Kindern, Partnerwahl oder sogar Whale-Watching ausgeweitet.2 Im Anschluss an diese Arbeiten hat Ewert vorgeschlagen, auch den vormodernen Fürstenhof als Markt zu betrachten, an dem Höflinge Dienste gegen die herrscherliche Gunst tauschen konnten.3 1 Gebhard Kirchgässner, Homo oeconomicus. Das ökonomische Modell individuellen Verhaltens und seine Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften, 74) 3. Aufl. Tübingen 2008; Harald Staun, Das Gespenst der totalen Durchökonomisierung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26.10.2015 sowie Markus Pohlmann, Die Gegenwart der Zukunft. Das Management und der Wandel der Arbeitsgesellschaft, in: Ulrich Brinkmann/Karoline Krenn/Sebastian Schief (Hg.), Endspiel des Kooperativen Kapitalismus? Institutioneller Wandel unter den Bedingungen des marktzentrierten Paradigmas. Wiesbaden 2006, S. 218–238. 2 Colin Campbell, The Romantic Ethic and the Spirit of Modern Consumerism. 3. Aufl. York 2005; Douglass North/Barry Weingast, Constitutions and Commitment. The Evolution of Institutions Governing Public Choice in Seventeenth-Century England, in: The Journal of Economic History 49,4, 1989, S. 803–832; Jens Beckert/Rainer Diaz-Bone/Heiner Ganssmann, Neue Perspektiven für die Marktsoziologie, in: Dies. (Hg.), Märkte als soziale Strukturen. Frankfurt am Main 2007, S. 19–39; Neil Fligstein, Markets as Politics. A PoliticalCultural Approach to Market Institutions, in: American Sociological Review 61,4, 1996, S. 656–673 sowie Nelson Phillips/Thomas Lawrence, From Moby Dick to Free Willy. MacroCultural Discourse and Institutional Entrepreneurship in Emerging Institutional Fields, in: Organization 11,5, 2004, S. 689–711. 3 Ulf Christian Ewert, Sozialer Tausch bei Hofe. Eine Skizze des Erklärungspotentials der Neuen Institutionenökonomik, in: Reinhardt Butz (Hg.), Hof und Theorie. Annäherungen an ein historisches Phänomen. (Norm und Struktur, 22) Köln 2004, S. 55–75.

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Ich möchte diesen Grundgedanken aufgreifen und ihn mithilfe der Marktsoziologie auf die funktionale Ausdifferenzierung des höfischen Ratgeberwesens im späten Mittelalter übertragen. Die Entwicklung der politischen Beratungspraxis – von einer Möglichkeit für gesellschaftliche Eliten, an der Willensbildung des Herrschers zu partizipieren, hin zu einem Beraterstab, dessen Mitglieder »weniger einer Begrenzung der Befugnisse ihres Fürsten verpflichtet [waren] als der Optimierung herrschaftlichen Agierens durch sachkompetente Bedienstete«, ist in der Vergangenheit vornehmlich modernisierungstheoretisch oder herrschaftsgeschichtlich aufgearbeitet worden.4 Im Lichte einer ökonomisch orientierten Herangehensweise stellt sich folgerichtig die Frage, ob sich durch diese Ausdifferenzierung auch höfische Märkte für solche sachkompetenten Ratgeber und ihr Wissen entwickelt haben. Im Unterschied zu Ewert geht es mir also im Folgenden um den Hof als Markt für Expertise, also der Fähigkeit, Probleme durch Sachkenntnis zu lösen, als eine spezielle Form von inkorporiertem Kulturkapital.5 Den Ausgangspunkt bilden dabei die spätmittelalterlichen Beratungen über die sogenannten Orientkreuzzüge, welche als umfangreiche Feldzüge in weit entfernte Regionen ein hohes Maß an militärischer Planung und somit auch Expertise seitens der teilnehmenden Herrscher erforderten.6 4 Gerd Althoff, Kontrolle der Macht. Formen und Regeln politischer Beratung im Mittelalter. Darmstadt 2016, S. 336. Siehe auch Blake Beattie, John XXII and His Lawyer-Cardinals, in: Hans-Joachim Schmidt/Martin Rohde (Hg.), Papst Johannes XXII . Konzepte und Verfahren seines Pontifikats. (Scrinium Friburgense, 32) Berlin 2014, S. 149–163; Jean Favier, Les légistes et le gouvernement de Philippe le Bel, in: Journal des Savants 2, 1969, S. 92–108 oder Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungs­ geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1999, S. 141–183. 5 Vgl. insbesondere Dietrich Rüschemeyer, Professionalisierung. Theoretische Probleme für die vergleichende Geschichtsforschung, in: Geschichte und Gesellschaft 6, 1980, S. 311–325; Frank Rexroth, Expertenweisheit. Die Kritik an den Studierten und die Utopie einer geheilten Gesellschaft im späten Mittelalter. (Freiburger mediävistische Vorträge, 1) Basel 2008 sowie Ders., Systemvertrauen und Expertenskepsis. Die Utopie vom maßgeschneiderten Wissen in den Kulturen des 12. bis 16. Jahrhunderts, in: Björn Reich/Ders./Matthias Roick (Hg.), Wissen, maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne. (Historische Zeitschrift, Beihefte N. F. 57) München 2012, S.  12–44. Die soziale Rolle des Experten werde ich allerdings im Folgenden aussparen, weil es eine eingehende Untersuchung der Inszenierung und Rezeption höfischer Ratgeber erfordern würde, um zu ermitteln, ob höfische Berater den Zeitgenossen als Experten galten. Diese Annahme scheint angesichts der historischen Evidenz jedoch durchaus plausibel, sodass der geneigte Leser »Kreuzzugsberater« meist durch »Kreuzzugsexperte« substituieren kann. 6 Da der Ausdruck »Kreuzzug« vor dem 16.  Jahrhundert nicht in den Quellen verwandt wurde, ist die begriffliche Extension von Kreuzzug in der Forschung umstritten. Im Rahmen der folgenden Untersuchung werde ich mit »Kreuzzug« jeden (geplanten oder ausgeführten) Feldzug verstehen, der in den Quellen des 13. und 14. Jahrhunderts als passagium (ultra mare) bzw. passage (d’outre mer) bezeichnet wurde. Für eine ausführliche Diskussion siehe u. a. Jean Flori, Pour une redéfinition de la croisade, in: Cahiers de Civilisation­ Médiévale 47,188, 2004, S. 329–349; Jonathan Riley-Smith, What Were the Crusades? London 1978 sowie Norman Housley, Contesting the Crusades. Malden 2007, S. 1–23.

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Wenngleich den Kreuzfahrern das Stigma religiös geleiteter Irrationalität anhaftet, zeugt das überlieferte Kanzleischrifttum von zahlreichen Planungssitzungen an den Höfen kreuzzugsinteressierter Herrscher, in denen sich Kreuzzugsratgeber intensiv mit dem Problem auseinandersetzten, wie die Heiligen Stätten an der Levante erobert werden könnten.7 Anhand dieser höfischen Kreuzzugsplanungen lässt sich wiederum ermitteln, ob es im 13. und 14. Jahrhundert einen Markt für kreuzzugsbezogene Expertise an den Herrscherhöfen der lateinischen Christenheit gab. Gleichzeitig kann anhand dieser Thematik exemplarisch überprüft werden, inwiefern ein ökonomisch orientierter Marktbegriff geeignet ist, durch einen kontrollierten Anachronismus Ereignisse und Verläufe des späten Mittelalters zu erklären.8 Ich werde also zunächst mithilfe der Marktsoziologie eine Definition des Begriffs Markt ausarbeiten. Anschließend werde ich auf Grundlage dieser Definition dafür argumentieren, dass es an den lateinischen Herrscher­höfen des 13.  und 14.  Jahrhunderts einen Markt für kreuzzugsbezogene Expertise gab. Abschließend werde ich kurz die Vorteile und Probleme der Anwendung des Marktbegriffs auf diesen Beispielfall diskutieren und auf diese Weise dessen wissenschaftliche Fruchtbarkeit beurteilen.

7 Anthony Leopold, How to Recover the Holy Land. The Crusade Proposals of the Late Thirteenth and Early Fourteenth Centuries. Aldershot 2000; Aziz Suryal Atiya, The Crusade in the Later Middle Ages. 2. Aufl. New York 1970, S. 29–127; Christopher Tyerman, How to Plan a Crusade. Reason and Religious War in the High Middle Ages. London 2015; Norman Housley, The Later Crusades 1274–1580. From Lyons to Alcazar. Oxford 1995, S. 7–48 sowie Sylvia Schein, Fideles crucis. The Papacy, the West, and the Recovery of the Holy Land 1274–1314. Oxford 1991. 8 In der geschichtswissenschaftlichen Forschung herrscht nach wie vor Skepsis bezüglich der Verwendung anachronistischer Termini. Man könne doch stattdessen einfach, so die Annahme, vollkommen unvoreingenommen die Quellen sprechen lassen und auf Anachronismen verzichten. Forscher, welche diese Position vertreten, sind allerdings nicht unvoreingenommen, sondern reflektieren nicht die Axiome, welche sie ihrer Interpretation der Quellen implizit zu Grunde legen. Ob ein Ausdruck für die historische Forschung fruchtbar ist, hängt nicht davon ab, ob es in den Quellen ein begriffliches Äquivalent für ihn gibt, sondern davon, ob er Historikern dabei hilft, vergangene Sachverhalte besser zu erklären. So haben Anachronismen wie der Ausdruck »Investiturstreit« durch ihr Erklärungspotential Historikern immer wieder geholfen, vollkommen neue Forschungsbereiche zu erschließen. Zum Konzept des »kontrollierten Anachronismus« siehe Nicole Loraux, Éloge de l’anachronisme en histoire, in: Le Genre humain 27, 1993, S. 23–39 sowie Peter von Moos, Das Öffentliche und das Private im Mittelalter. Für einen kontrollierten Anachronismus, in: Ders./Gert Melville (Hg.), Das Öffentliche und Private in der Vormoderne. (Norm und Struktur, 10) Köln 1998, S. 3–83.

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I . Markt und Marktsoziologie Ausgehend von der These, dass Markthandeln notwendigerweise sozial und kulturell eingebettet ist, beschäftigten sich Marktsoziologen seit den 1980er Jahren mit der sozialen Dimension von Märkten.9 In der Forschung haben sich mittlerweile drei Beschreibungs- und Erklärungsansätze für die sozialen Dynamiken der Märkte herausgebildet: (1) Netzwerktheoretiker untersuchen die Tauschverbindungen zwischen einzelnen Marktakteuren mit den Methoden der sozialen Netzwerkanalyse, um die individuellen Aushandlungsprozesse auf den Märkten zu rekonstruieren. (2) Die Vertreter institutionenorientierter Ansätze fokussieren sich auf die Regeln und normativen Codes, welche das Handeln der Marktakteure strukturieren und (3) Performativitätstheoretiker analysieren vor dem Hintergrund der Akteur-Netzwerk-Theorie die Tools und Artefakte, welche aus dem Markthandeln hervorgehen und es zugleich ermöglichen.10 Für eine historische Anwendung marktsoziologischer Konzepte scheinen insbesondere institutionenorientierte Ansätze geeignet zu sein, weil sie geringere Ansprüche an den Umfang der Überlieferung stellen, als die beiden anderen Herangehensweisen.11 Aus diesem Grund werde ich »Markt« im Folgenden mit Beckert als »eine soziale Struktur und institutionelle Ordnung zum Tausch von Rechten an Gütern und Leistungen« verstehen, »die es ermöglicht, diese Rechte zu bewerten, zu erwerben und zu veräußern.«12 Märkte unterscheiden sich damit von der Güterverteilung durch eine Zentralinstanz (Redistribution) sowie von dem auf sozialer Verpflichtung beruhenden Prinzip von Gabe und Gegengabe (Rezipro9 Mark Granovetter, Economic Action and Social Structure. The Problem of Embeddedness, in: The American Journal of Sociology 91, 1985, S. 481 ff. Für einen Überblick über die marktsoziologische Forschung siehe Beckert/Diaz-Bone/Ganssmann, Neue Perspektiven (wie Anm. 2), S. 19–39 sowie Neil Fligstein/Luke Dauter, The Sociology of Markets, in: Annual Review of Sociology 33, 2007, S. 105–128. 10 Siehe u. a. Fligstein, Markets as Politics (wie Anm.  2); Harrison White, Markets from Networks. Socioeconomic Models of Production. Princeton 2002 sowie Michel Callon, What does it mean to say that Economics is performative?, in: Donald MacKenzie/Fabian­ Muniesa/Lucia Siu (Hg.), Do Economists Make Markets? On the Performativity of Economics. Princeton 2007, S. 311–357. 11 Netzwerkanalytische Verfahren benötigen eine möglichst lückenlose Überlieferung der fraglichen Tauschhandlungen am Markt, welche gerade innerhalb der vormodernen Geschichte nicht immer gewährleistet werden kann. Performativitätsstheoretische Herangehensweisen stoßen hingegen im speziellen Fall der politischen Beratungspraxis auf Probleme, weil Beratungen am Hof meist mündlich erfolgten und folglich nicht primär auf Verdinglichungen wie Niederschriften, Gebäude oder andere Hilfsmittel angewiesen waren. Es ist also vor allem die Polyvalenz institutionenorientierte Ansätze, die sie für die historische Forschung geeignet macht. 12 Patrick Aspers/Jens Beckert, Märkte, in: Andrea Maurer (Hg.), Handbuch der Wirtschaftssoziologie. Wiesbaden 2008, S. 225.

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zität).13 Als Institutionen zeichnen sich Märkte zudem durch »zeitlich, sachlich und sozial generalisierte Verhaltenserwartungen« aus, die von den Marktakteuren über einen längeren Zeitraum hinweg aufrechterhalten werden.14 Ich gehe ferner davon aus, dass Märkte als »hochgradig voraussetzungsvolle Arenen sozialen Handelns […] nur funktionieren« können, wenn es gelingt, drei Probleme der sozialen Interaktion zwischen den Marktakteuren zu lösen: »das Wertproblem, das Problem des Wettbewerbs und das Kooperationsproblem.«15 Standardmärkte zeichnen sich also durch insgesamt fünf verschiedene Eigenschaften aus: Ein Angebot sowie eine Nachfrage an bestimmten Gütern beziehungsweise Leistungen (Angebots- und Nachfragedimension),16 soziale Normen beziehungsweise Praktiken der Bewertung von Marktgütern beziehungsweise -leistungen (Bewertungsdimension), die wiederholte Kooperation von Anbietern und Nachfragern beim Tausch dieser Güter beziehungsweise Leistungen (Kooperationsdimension), sowie die Einbettung des Markthandelns in eine institutionelle Ordnung (Dimension der Institutionalisierung). Im Anschluss an diese marktsoziologischen Hypothesen kann der Ausdruck »Markt« also folgendermaßen definiert werden: Eine Menge von Tauschakten t eines Güter- oder Leistungstyps g gilt genau dann als »Markt«, wenn: In t mehr als ein Käufer von g auftritt, in t mehr als ein Verkäufer von g auftritt, in t eine normative Ordnung für die Bewertung von g existiert, g in einer hinreichenden Zahl von Fällen durch t von Verkäufer zu Käufer transferiert wird, und t einer normativen Ordnung unterliegt, die über einen hinreichenden Zeitraum aufrechterhalten wird.

Diese Definition bildet die Grundlage meiner Argumentation für die These, dass es an den lateinischen Herrscherhöfen des 13. und 14. Jahrhunderts einen Markt für kreuzzugsbezogene Expertise gab. Um sie zu belegen, werde ich im

13 Karl Polanyi, The Great Transformation. The Political and Economic Origins of our Time. 2. Aufl. Boston 2010, S. 49 ff. 14 Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution. Ein Beitrag zur politischen Soziologie. (Schriften zum Öffentlichen Recht, 24) Berlin 1965, S. 13. 15 Jens Beckert, Die soziale Ordnung von Märkten, in: Ders./Rainer Diaz-Bone/Heiner Ganssmann (Hg.), Märkte als soziale Strukturen. Frankfurt am Main 2007, S. 44 f. 16 Wenn es innerhalb des untersuchten Marktes keinen Wettbewerb zwischen mehreren Anbietern und Nachfragern gibt, liegt kein Standardmarkt, sondern ein Monopsonbzw. Monopolmarkt vor. Siehe diesbezüglich u. a. Susanne Wied-Nebbeling, Markt- und Preistheorie. 3. Aufl. Berlin 1997, S. 6 ff. Ewert geht davon aus, dass es sich bei vormodernen Herrscherhöfen um Monopolmärkte handelt, weil der jeweilige Potentat der einzige Anbieter herrscherlicher Gunst an seinem Hof ist, vgl. Ewert, Sozialer Tausch (wie Anm. 3), S. 61.

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Folgenden anhand zeitgenössischer Kanzleischriften und Traktate der Reihe nach darlegen, dass jede einzelne dieser fünf Bedingungen in dem fraglichen Zeitraum realisiert war. II . Der höfische Markt für kreuzzugsbezogene Expertise a) Nachfragedimension

In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts befanden sich die Territorien, welche die Kreuzfahrer in den vorangegangenen 150 Jahren im östlichen Mittelmeerraum erobert hatten, in steter Bedrängnis. Das Königreich Jerusalem war bereits 1244 an die Ayyubiden gefallen, 1261 eroberte das Heer des Michael P ­ alaiologos (um 1224–1282) das Lateinische Kaiserreich und sieben Jahre später annektierte der ägyptische Sultan Baibars (um 1223–1277) das Fürstentum Antiochia.17 Alle Versuche lateinischer Herrscher, die verlorenen Gebiete zurückzugewinnen, verliefen erfolglos oder führten gar zu militärischen Debakeln wie dem ersten Kreuzzug (1248–1256) Ludwigs IX . (1214–1270), infolge dessen sowohl der französische König, als auch zahlreiche andere hohe Adelige in die Gefangenschaft des ägyptischen Sultans geraten waren.18 Diese fast 50-jährige Serie militärischer Fehlschläge kulminierte schließlich 1291 im Verlust aller verbliebenen Kreuzfahrerreiche an der Levante.19 Im Lichte dieser kontinuierlichen Niederlagen mussten die lateinischen Machteliten schließlich erkennen, dass ihre in den Dekaden zuvor erprobten militärischen Praktiken für die Kriegsführung im Orient faktisch unzureichend waren. Jene Erfahrung des Scheiterns verursachte einen Moment der epistemischen Erschütterung, welcher aus der militärischen Krise an der L ­ evante eine epistemische Krise an den Höfen kreuzfahrender Herrscher werden ließ und zugleich den Bedarf nach passgenauem Wissen weckte, welches die Rückeroberung des Heiligen Landes ermöglichen sollte.20 Diese wachsende Nachfrage 17 Christopher Tyerman, God’s War. A new History of the Crusades. London 2007, S. 750–822; Housley, The Later Crusades (wie Anm. 7), S. 7–22; Kenneth Setton, The Papacy and the Levant, Bd. 1. (Memoirs of the American Philosophical Society, 114) Philadelphia 1976, S.  85–109 sowie Steven Runciman, A History of the Crusades, Bd.  3. Cambridge 1997, S. 224–233 und 315–348. 18 Dirk Reitz, Die Kreuzzüge Ludwigs IX . von Frankreich 1248/1270. (Neue Aspekte der europäischen Mittelalterforschung, 3) Münster 2005, S. 57–174; Jacques Le Goff, Saint Louis. (Folio Histoire, 205) Paris 1996, S. 210–241; Joseph Reese Strayer, The Crusades of Louis IX , in: Kenneth Setton (Hg.), A History of the Crusades. The Later Crusades 1189–1311. (A History of the Crusades, 2) London 1969, S. 487–521 und Xavier Hélary, La dernière croisade. Saint Louis à Tunis (1270). Paris 2016, S. 13–41. 19 Atiya, Crusade (wie Anm. 7), S. 3–25 sowie Runciman, Crusades (wie Anm. 17), S. 387–423. 20 Die Kreuzzugsforschung hat in Auseinandersetzung mit der spätmittelalterlichen Chronistik insbesondere den Fall Akkons traditionell als einen solchen Erschütterungsmo-

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nach kreuzzugsbezogener Expertise lässt sich vor allem durch die wiederholten Anfragen kreuzzugsinteressierter Herrscher belegen. Es waren insbesondere die Päpste, welche sich immer wieder durch die explizite Artikulation des entsprechenden Wissensbedarfs hervortaten. Unmittelbar nachdem das Heer des ägyptischen Sultans im Jahr 1291 die Kreuzfahrerstadt Akkon erobert hatte, wandte sich beispielsweise Nikolaus IV. (1227–1292) mit einer Bitte um Ratschläge an die lateinische Christenheit: »Da wir also zur schnellen Rückeroberung des genannten Landes, wie sie die besondere Notlage erfordert, eingehende Untersuchungen beabsichtigen, bitten, erinnern und ermahnen wir euch alle ernsthaft, verschiedene sowie ausgefallene Wege und Möglichkeiten durch uns und durch andere sorgfältig zu prüfen, damit […] das Land selbst zurückerobert werden kann und das zurückeroberte [Land] im Anschluss bewahrt werde […] .«21

Nikolaus’ Anliegen war allerdings kein Einzelfall, denn für den Zeitraum von 1272 bis 1334 sind zahlreiche analoge Anfragen anderer lateinischer Machthaber überliefert. Schon 1272 hatte beispielsweise Papst Gregor X. (um 1210–1276) im Vorfeld des zweiten Konzils von Lyon ein vergleichbares Gesuch an seine Prälaten gerichtet.22 Ein Großteil dieser herrschaftlichen Beratungsgesuche richtete sich allerdings im Gegensatz zu den offenen Anfragen Nikolaus’ und Gregors an einen kleinen, namentlich bekannten, Kreis von Spezialisten. Der neugewählte ment beschrieben. Vgl. etwa Annette Seitz, Das lange Ende der Kreuzfahrerreiche in der Universalchronistik des lateinischen Europa (1187–1291). (Historische Studien, 497) Husum 2010, S. 54 ff.; Atiya, Crusade (wie Anm. 7), S. 29; Erwin Stickel, Der Fall von ­A kkon. Untersuchungen zum Abklingen des Kreuzzugsgedankens am Ende des 13.  Jahrhunderts. (Geist und Werk der Zeiten, 45) Bern 1975, S. 89–95; Hans Eberhard Meyer, Geschichte der Kreuzzüge. Stuttgart 1965, S. 255 f.; Joseph Marie Antoine Delaville Le Roulx, La France en Orient au XIVe siècle, Bd.  1. Paris 1886, S.  14 f. und Reinhold Röhricht, Die Eroberung Akkas durch die Muslimen (1291), in: Forschungen zur deutschen Geschichte 20, 1880, S. 93–126. Dieser Hypothese widersprochen und stattdessen den langsamen, kontinuierlichen Niedergang der Kreuzfahrerreiche seit den 1260ern betont haben H ­ ousley, The Later Crusades (wie Anm. 7), S. 22 f. sowie Schein, Fideles Crucis (wie Anm. 7), S. 73 f. 21 »Cum igitur ad recuperationem celerem dicte terre, prout eius urgentissima necessitas exigit, ferventibus studiis intendamus, vias et modos diversos et varios per nos et alios sollicitius exquirentes, ut […] terra ipsa recuperari valeat, et recuperata in posterum conservari, universitam vestram monemus, rogamus et hortamur attente […]« (Ernest­ Langlois (Hg.), Registres de Nicolas IV. Recueil des bulles de ce pape. Paris 1886, S. 902; alle deutschen Übersetzungen der lateinischen Zitate durch den Autor). Die Enzyklika war jedoch nicht allein an lateinische Prälaten, sondern auch an alle weltlichen Herrscher der lateinischen Welt gerichtet, wie der Chronist Walter von Guisborough zu berichten weiß. Vgl. Thomas Hearne (Hg.), Historia de rebus gestis Edvari I. Edvardi II . & Edvardi III . Oxford 1731, S. 25. 22 Jean Giuraud (Hg.), Les Registres de Grégoire X. Recueil des bulles de ce pape. Paris 1892, S. 54. Siehe auch Burkhard Roberg, Das Zweite Konzil von Lyon (1274). (Konzilien­ geschichte, 10) Paderborn 1990, S. 171–217.

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Papst Clemens V. (um 1264–1314) bestellte beispielsweise im Juni 1305 die Oberhäupter des Hospitaliter- und Templerordens nach Poitiers, um ihn bezüglich der Rückeroberung des Heiligen Landes zu beraten und König Philipp V. (um 1292–1322) versammelte im Winter 1319 aus demselben Anlass 13 Kreuzzugsratgeber an seinem Hof in Paris.23 Die aus militärischem Versagen resultierende »urgentissima necessitas«, welche bereits Nikolaus in seiner Enzyklika beschwor, hatte demnach im späten 13. Jahrhundert einen Bedarf an kreuzzugsbezogener Expertise unter den kreuzfahrenden Machteliten geschaffen. b) Angebotsdimension

Die päpstlichen oder königlichen Anfragen nach kreuzzugsbezogener Expertise blieben selbstverständlich nicht lange ungehört: Nur wenige Monate, nachdem Nikolaus IV. 1291 die lateinische Christenheit um Rat gebeten hatte, adressierte der Franziskanermönch Fidenzio von Padua (um 1226–1292) eine schriftliche Abhandlung an den Papst, die auf über hundert Blättern darlegen sollte, wie das Heilige Land für die lateinische Christenheit zurückerobert werden könne.24 Dieses Werk mit dem Titel »Liber recuperationis Terre sancte« war offenbar bereits Jahre zuvor im Auftrag des Papstes Gregor X. begonnen und in Reaktion auf Nikolaus’ Enzyklika fertiggestellt worden. Zu Beginn seines Rückeroberungstraktates bezieht sich der Franziskanermönch explizit auf eine ältere Anfrage Gregors: »Papst Gregor [X.] […] hat mich auf dem [zweiten] Konzil von Lyon beauftragt, schriftlich niederzulegen, wie das Heilige Land aus den Händen der Ungläubigen erobert werden könnte und auf welche Weise das eroberte [Land] für die christlichen Gläubigen bewahrt werden kann.«25

Wenngleich aufgrund der Überlieferungslage unklar bleibt, ob Papst Gregor X. Fidenzio tatsächlich persönlich auf dem Konzil beauftragt hatte, so veranschaulicht seine Erzählung dennoch die reziproke Beziehung von Angebot und Nachfrage kreuzzugsbezogener Expertise auf dem höfischen Markt. ­Fidenzios 23 Paris. Archives Nationales. JJ 58, Fol. 37r und Luigi Tosti (Hg.), Regestum Clementis­ Papae V., Bd. 1. Rom 1885, S. 190 f. 24 Zu Fidenzio siehe insbesondere Paolo Evangelisti, Fidenzio da Padova e la letteratura crociato-missionaria minoritica. Strategie  e modelli francescani per il dominio (XIII–XV sec.). Bologna 1998; Girolamo Golubovich (Hg.), Biblioteca bio-bibliografica della Terra Santa e dell’ Oriente francescano, Bd. 2. Rom 1906, S. 1–7 sowie Patrick Gautier Dalché, Cartes, réflexion stratégique et projets de croisade à la fin du XIIIe et au début du XIVe siècle. Une initiative franciscaine?, in: Francia 37, 2010, S. 77–95, hier 80–83. 25 »[…] dominus papa Gregorius […] michi mandavit in concilio Lugdunensi ut in scriptis ponerem qualiter Terra Sancta acquiri posset de manibus Infidelium et qualiter acquisita possit a Cristi fidelibus conservari.« (Golubovich, Biblioteca bio-bibliografica, Bd. 2 (wie Anm. 24), S. 9).

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Rückeroberungstraktat blieb allerdings nicht die einzige Antwort auf die päpstliche Bitte um Rat, denn gegen Ende des Jahres 1291 kompilierten die Berater des Königs Karl II. von Neapel (um 1254–1309) für Nikolaus IV. eine weitere Abhandlung mit Vorschlägen zur Rückeroberung des Heiligen Landes.26 Noch vor seinem Tod im April 1292 erreichten den Papst zwei weitere Rückeroberungstraktate: eines aus der Feder des katalanischen Missionars Ramon Llull (um 1232–1316) und ein anderes aus der des genuesischen Mediziners­ Galvano di Levanto († um 1340).27 Insgesamt lassen sich für den Zeitraum zwischen 1291 und 1334 mindestens 30 derartiger Abhandlungen über die Rückeroberung des Heiligen Landes nachweisen.28 In ihren Ausführungen stützten

26 George Ioan Brătianu (Hg.), Le conseil du roi Charles. Essai sur l’internationale chrétienne et les nationalités à la fin du moyen âge, in: Revue Historique du Sud-Est Européen 19,2, 1942, S. 291–361. Siehe auch Andreas Kiesewetter, Die Anfänge der Regierung Karls II . von Anjou (1278–1295). Das Königreich Neapel, die Grafschaft Provence und der Mittelmeerraum zu Ausgang des 13. Jahrhunderts. (Historische Studien, 451) Husum 1999, S. 365–370; Émile Léonard, Les Angevins de Naples. Paris 1954, S. 199–202 sowie Norman Housley, Charles II of Naples and the Kingdom of Jerusalem, in: Byzantion 54,2, 1984, S. 527–535. 27 Blanca Garí/Fernando Reboiras Domínguez (Hg.), Liber de passagio. Epistola ad papam Nicholaum IV. Tractatus de modo convertendi infideles, in: Dies., Raimundi Lulli opera latina 49–52. (Corpvs Christianorvm. Continvatio Mediaevalis, 182) Turnhout 2003, S. 257–353 und Charles Alfred Kohler (Hg.), Liber sancti passagii Christicolarum contra Saracenos pro recuperatione Terrae Sancta. Traité du recouvrement de la Terre Sainte adressé vers l’an 1295, à Philippe le Bel par Galvano de Levanto, médecin génois, in: Charles Jean Melchior Vogüé (Hg.), Revue de l’Orient Latin, Bd. 6. Paris 1898, S. 343–369. Die einzige überlieferte Kopie des Werkes von Galvano ist zwar an den französischen König Philipp IV. adressiert, aber ein Inventar der päpstlichen Bibliothek aus dem Jahr 1295 beweist, dass der Papst in den 1290er Jahren ebenfalls über mindestens eine Version des Werkes verfügt haben muss, die allerdings nicht erhalten ist. Vgl. dazu Franz Ehrle (Hg.), Zur Geschichte des Schatzes, der Bibliothek und des Archivs der Päpste im vierzehnten Jahrhundert, in: Archiv für Literatur- und Kirchengeschichte des Mittelalters 1, 1885, S. 359. Über Galvano ist außerhalb seiner Werke nicht viel bekannt. Für eine ausführliche Biographie Llulls siehe insbesondere Armand Llinares, Raymond Lulle. Philosophe de l’Action. Grenoble 1963, S. 73–126; Erhard Wolfram Platzeck, Raimund Lull. Sein Leben – Seine Werke. Die Grundlagen seines Denkens (Prinzipienlehre), Bd. 1. Düsseldorf 1962, S. 3–59 sowie Jocelyn Nigel Hillgarth, Ramon Lull and Lullism in fourteenth-century France. Oxford 1971, S. 1–45. 28 Für einen Überblick über diese Rückeroberungstraktate siehe Albert Lecoy de la Marche, La prédication de la croisade au treizième siècle, in: Revue des questions historiques 48, 1890, S. 5–28; Atiya, Crusade (wie Anm. 7), S. 29–127; Delaville Le Roulx, La France en Orient, Bd. 1 (wie Anm. 20), S. 11–102; Jacques Paviot, Projets de croisade. (Documents relatifs à l’histoire des Croisades, 20) Paris 2008, S.  5–51; Franz Heidelberger, Kreuzzugsversuche um die Wende des 13.  Jahrhunderts. (Abhandlungen zur Mittleren und Neuen Geschichte, 31) Berlin 1911, S. 67–77; Leopold, Holy Land (wie Anm. 7), S. 8–51; Ludger Thier, Kreuzzugsbemühungen unter Papst Clemens V. (1305–1314). (Franziskanische Forschungen, 24) Werl 1973, S. 23–75 sowie Schein, Fideles Crucis (wie Anm. 7), S. 269 f.

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sich die Ratgeber sowohl auf den neuen universitären Methodenkanon als auch auf die kontinuierliche Erweiterung des Orientwissens im 13. Jahrhundert und profitierten zugleich von der zunehmenden Ausdifferenzierung des höfischen Ratgeberwesens.29 Die Rückeroberungstraktate waren allerdings nicht ausschließlich Auftragsarbeiten wie im Fall Fidenzios, sondern entstanden auch aus der Eigeninitiative von Schreibern, welche die zeitgenössische Nachfrage nach kreuzzugsbezogener Expertise erkannt hatten und mit ihrem Kreuzzugs-Wissen an höfische Eliten herantraten, ohne zuvor von ihnen explizit angefragt worden zu sein. Ein paradigmatisches Beispiel für einen derartigen Fall ist sicherlich der normannische Jurist Pierre Dubois (um 1255–1321), der während seiner Tätigkeit als königlicher Amtsanwalt in der Bailliage Coutances ein Rückeroberungstraktat verfasste, das er dem französischen Herrscher Philipp IV. (um 1­ 285–1314) vermutlich im Mai 1308 auf der Burg Chinon überreicht hat.30 Noch 1304 29 Für die Entstehung des universitären Methodenkanons im 12.  Jahrhundert siehe u. a. Jacques Le Goff, Les intellectuels au Moyen Âge. 2. Aufl. Paris 1985, S. 9–69 sowie Richard Southern, Scholastic Humanism and the Unification of Europe, Bd.  2. Oxford 2001, S. 3–147. Für die Erweiterung des Orientwissens siehe u. a. Benjamin Scheller, ­Verkaufen, Kaufen und Verstehen. Die Atlantikexpansion der Europäer, die Fernhändler und die neue Erfahrung des Fremden im 14. und 15. Jahrhundert, in: Michael Borgolte/­Nikolas Jaspert (Hg.), Maritimes Mittelalter. Meere als Kommunikationsräume. (Vorträge und Forschungen, 83) Ostfildern 2016, S. 233–260; Felicitas Schmieder, Europa und die Fremden. Die Mongolen im Urteil des Abendlandes vom 13. bis in das 15. Jahrhundert. (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters, 16) Sigmaringen 1994 sowie Marina Münkler, Erfahrung des Fremden. Berlin 2000. Für eine Synthese dieser Phänomene siehe: Antonio Garcia Espada, Marco Polo, Odorico of Pordenone, the Crusades, and the Role of the Vernacular in the First Descriptions of the Indies, in: Viator 40, 2009, S. 201–222; Alfred Crosby, The Measure of Reality. Quantifacation and Western Society 1250–1600. Cambridge 1997, S. 21–126; Johannes Fried, In den Netzen der Wissensgesellschaft. Das Beispiel des mittelalterlichen Königs- und Fürstenhofes, in: Ders./­Thomas Kailer (Hg.), Wissenskulturen. Beiträge zu einem forschungsstrategischen Konzept. (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel, 1) Berlin 2003, S.  141–193; Ders., Auf der Suche nach der Wirklichkeit. Die Mongolen und die europäische Erfahrungswissenschaft im 13.  Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 243,2, 1986, S.  287–332 sowie ­Martin Kintzinger, Viri religiosi et literati. Kleriker am Fürstenhof im späten Mittelalter, in: Franz Felten/Nikolas Jaspert (Hg.), Vita Religiosa im Mittelalter. Festschrift für ­Kaspar Elm zum 70. Geburtstag. (Berliner historische Studien, 31) Berlin 1999, S. 543–562. 30 Dies behauptet Dubois zumindest in späteren Schriften, vgl. Étienne Baluze/Guillaume Mollat (Hg.), Vitae Paparum Avenionensium, Bd. 3. Paris 1921, S. 155. Möglicherweise hatte er Philipp IV. sein Rückeroberungstraktat aber auch bereits 1306 oder 1307 übergeben und präsentierte dem König 1308 in Chinon nur eine überarbeitete Variante des Werkes. Diese Theorie wird vertreten von Walther Brandt (Hg.), The Recovery of the Holy Land. Translated with an Introduction and Notes by Walther I. Brandt. (Records of Civilization. Sources and Studies, 51) New York 1930, S. 7 sowie von Charles Victor ­Langlois (Hg.), De recuperatione Terre Sancte. Traité de politique générale. Paris 1891, S.  XII . Zu den Schriften und dem Wirken des Pierre Dubois siehe insbesondere Chris Jones, Rex

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hatte ­Dubois für den französischen König eine Kampfschrift gegen den zu diesem Zeitpunkt bereits verstorbenen Papst Bonifatius VIII. (um 1235–1303) verfasst, der P ­ hilipp VI. infolge politischer Auseinandersetzungen exkommuniziert hatte.31 Als sich dann im Juni 1305 mit der Wahl von Betrand de Got als Papst­ Clemens V. die politische Lage änderte und Philipp IV. zunehmend in die Kreuzzugsvorbereitungen des neuen Papstes involviert wurde, begann Dubois wiederum an dem Rückeroberungstraktat für den französischen König zu arbeiten. Auch der englische Herrscher Edward I. (um 1239–1307) erhielt eine Kopie dieses Werkes, nachdem er im Mai 1306 während des Feast of the Swans geschworen hatte, die Heiligen Stätten zurückzuerobern.32 Mit seinem Rückeroberungstraktat reagierte Dubois also nicht auf eine entsprechende Anfrage des englischen oder französischen Königs, sondern allein auf das tagespolitische Geschehen an den beiden Höfen, welches jedem aufmerksamen Beobachter einen entsprechenden Bedarf an kreuzzugsbezogener Expertise suggerieren musste.33 Wie Dubois Beispiel illustriert, war es nicht ungewöhnlich, dass Kreuzzugsberater ihr Spezialwissen an verschiedenen Herrscherhöfen anboten. Ramon Llull suchte dafür etwa nicht nur die Päpste Nikolaus VI., Bonifatius VIII. und­ Clemens V. auf, sondern auch den Königshof Jakobs II. von Aragon ­(1267–1327) sowie das Konzil von Vienne.34 Den größten Wirkungsbereich unter allen Kreuz­

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Francie in regno suo principes est. The Perspective of Pierre Dubois, in: Comitatus 34, 2003, S. 49–53; Pierre-Anne Forcadet, Pierre Dubois. Conseiller de Philippe le Bel en matière politique et militaire, in: José Javier de los Mozos Touya (Hg.), El ejército, la paz y la guerra. Jornadas de la Sociedad de Historia del Derecho. Valladolid 2009, S. 209–228; Frank Rexroth, Pierre Dubois und das Projekt einer universalen Heilig-Land-Stiftung, in: Ders./Wolfgang Huschner (Hg.), Gestiftete Zukunft im mittelalterlichen Europa. Festschrift für Michael B ­ orgolte zum 60. Geburtstag. Berlin 2008, S. 309–331 sowie Otto­ Gerhard Oexle, Utopisches Denken im Mittelalter. Pierre Dubois, in: Historische Zeitschrift 224,2, 1977, S. 293–339. Pierre Dupuy (Hg.), Supplication du pueuble de France au Roy contre le Pape Boniface VIII, in: Ders./Simon Vigior (Hg.), Histoire du différend d’entre le pape Boniface VIII et Philippe le Bel. Paris 1655, S. 214–219. Bei den im Rahmen des Feast of the Swans getätigten Schwüren über die Rückeroberung des Heiligen Landes handelte es sich allerdings weniger um ein realpolitisches Ziel Edwards I., sondern vielmehr um die Repräsentation von Ritterlichkeit seitens des Königs und seiner Gefolgschaft. Vgl. Constance Bullock-Davies, Menestrellorum multitudo. Minstrels at a Royal Feast. Cardiff 1978 sowie Marc Morris, A great and terrible King. Edward I and the Forging of Britain. London 2009, S. 355 f. Dubois politischer Okkasionalismus wird besonders deutlich, wenn man seine späteren Schriften in Betracht zieht: Unmittelbar nach dem Tod des Habsburgers Albrecht I. im Jahr 1308 verfasste Dubois eine Denkschrift für Philipp IV., in der er dem französischen König dazu riet, sich vom Papst zum Kaiser krönen zu lassen und im Jahr 1313 reagierte er mit einer Streitschrift auf das kurz zuvor durch Papst Clemens V. erlassene Turnierverbot. Vgl. Baluze/Mollat (Hg.), Vitae paparum avenionensium, Bd.  3 (wie Anm.  30), S. 154–162 sowie James Long (Hg.), In Defense of the Tournament. An Edition of Pierre Dubois’ De Torneamentis et Iustis, in: Manuscripta 17,2, 1973, S. 67–79. Aloisius Madre (Hg.), Raimundi Lulli opera Latina, S. 120–122. (Corpvs Christianorvm. Continuatio Mediaeualis, 35) Palma 1981, S. 250–291 sowie Éphrem Longpré (Hg.), Deux

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zugsberatern hatte jedoch fraglos der venezianische Patrizier Marino Sanudo von Torsello (um 1270–um 1343). Zu den zahlreichen Adressaten seines als Liber Secretorum Fidelium Crucis bekannten Rückeroberungstraktates zählten unter anderem die französischen Könige Karl IV. (1294–1328) und Philipp VI. ­(1293–1350), die Päpste Johannes XXII. (um 1244–1334) und Benedikt XII. (um 1285–1342), der englische König Edward III. (1312–1377), der neapolitanische König Robert I. (um 1278–1343), König Hugo IV. von Zypern (um ­1295–1359), Graf Wilhelm von Hennegau (um 1287–1337) sowie zahlreiche höfische Funktionsträger wie Kardinal Bertrand du Pouget (um 1280–1352) oder Erzbischof Ingramo Stella von Capua († 1333), der Kanzler des Königreichs Neapel.35 Das überregionale Wirken des Venezianers Sanudo verdeutlicht auch den Umstand, dass es einen gemeinsamen und nicht etwa viele verschiedene Märkte für kreuzzugsbezogene Expertise an den lateinischen Herrscherhöfen des 13. und 14. Jahrhunderts gab.36 Aus der überregionalen Dimension des Marktes erwuchsen jedoch zugleich auch signifikante Unkosten für die einzelnen Kreuzzugsberater, welche für ihre Reisen zwischen den einzelnen Höfen selbst aufkommen mussten, sofern sie Opuscules inédites du B. Raymond Lulle, in: La France Franciscaine 18,1, 1935, S. 145–154. Für eine Darstellung von Llulls Tätigkeit als höfischer Kreuzzugsberater siehe Carla­ Compagno, Missionary Intent in Ramon Llull’s Proposals at the Council of Vienne, in: Mediaeval Sophia 13, 2013, S. 65–84; Gabriel Ensenyat, Pacifism and Crusade in Ramon Llull, in: Quaderns de la Mediterrània 9, 2008, S. 142 ff. sowie Hillgarth, Ramon Llull (wie Anm. 27), S. 46–134. 35 Annegrit Schmidt/Bernhard Degenhart, Marino Sanudo und Paolino Veneto. Zwei Literaten des 14. Jahrhunderts in ihrer Wirkung auf Buchillustrierung und Kartographie in Venedig, Avignon und Neapel, in: Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte 14, 1973, S. 3–16; Angeliki Laiou, Marino Sanudo Torsello, Byzantium and the Turks. The Background to the Anti-Turkish League of 1332–1334, in: Speculum 45,3, 1970, S. 374–392; Christopher Tyerman, Marino Sanudo Torsello and the Lost Crusade. Lobbying in the Fourteenth Century, in: Transactions of the Royal Historical Society 32, 1982, S. 57–73; Evelyn Edson, Reviving the Crusade. Sanudo’s Schemes and Vesconte’s Maps, in: Rosamund Allen (Hg.), Eastward Bound. Manchester 2004, S. 131–155; Franco Cardini, Marino Sanuto Torsello. Un profile, in: Giovanna Lazzi (Hg.), Da Venezia alla Terrasanta. Il restauro del Liber secretorum fidelium crucis di Marin Sanudo (Ricc. 237) della Biblioteca Riccardiana di Firenze. Padua 2013, S. 25–41 und Sherman Roddy, The Correspondence of Marino Sanudo Torsello. Diss. Phil. Philadelphia 1971. 36 Die überregionale Dimension dieses Wissensmarktes schließt selbstverständlich adressatenspezifische Besonderheiten einzelner Höfe oder Eilten nicht aus. So schlug etwa der katalanische Missionar Ramon Llull im Jahr 1305 gegenüber König Jakob II . von Aragón vor, das Kreuzfahrerheer solle über Nordafrika ins Heilige Land ziehen und auf dem Weg das Emirat von Granada erobern, welches zu diesem Zeitpunkt mit Aragón in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt war. In seinem 13 Jahre zuvor für Papst Nikolaus IV. verfassten Rückeroberungstraktat erwähnt Llull diesen iberischen Sondervorschlag allerdings nicht und proponiert stattdessen eine Route über Kleinasien, sodass die Vermutung naheliegt, er habe seine Vorschläge entsprechend ihrer Adressaten modifiziert. Vgl. Garí/Reboiras Domínguez, Liber de passagio (wie Anm. 27), S. 338 f. und Madre, Liber de fine (wie Anm. 34), S. 276 f.

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nicht bereits in den Diensten eines Herrschers standen. Selbst der verhältnismäßig wohlhabende Venezianer Sanudo war 1332 gezwungen, König Philipp VI. darum zu bitten, ihm die Reise an den französischen Hof zu finanzieren.37 Zu diesen signifikanten Ausgaben addierten sich sowohl die ökonomischen Kosten für die Herstellung von Rückeroberungstraktaten, als auch das soziale und symbolische Kapital, welches notwendig war, um die höfischen Eliten überhaupt direkt ansprechen zu können. Zusammengenommen bildeten diese Transaktionskosten die Schwelle, welche den Zugang zum höfischen Markt für die Anbieter kreuzzugsbezogener Expertise regulierte. c) Wertdimension

Hatte ein Ratgeber einmal den Herrscher erreicht, wurde zunächst die faktische Tauglichkeit seines Ratschlages evaluiert, was wiederum Praktiken der Prüfung und Beurteilung von Expertise notwendig machte. Märkte entwickeln laut Beckert notwendigerweise solche Mechanismen, um die heterogenen Produkte, welche auf dem Markt angeboten werden, mit einem Wert zu versehen und auf diese Weise untereinander vergleichbar zu machen.38 Der höfische Markt für kreuzzugsbezogene Expertise bildete diesbezüglich keine Ausnahme. Um der Expertise des Kreuzzugsberaters Marino Sanudo einen Wert zuzuweisen, richtete Papst Johannes XXII. beispielsweise eine Art ad-hoc Sachverständigenkommission ein, welche die beiden Kopien des Rückeroberungstraktates prüfen sollte, die der Venezianer ihm im September 1321 in Avignon überreicht hatte. Sanudo selbst schrieb vier Jahre später über diesen Evaluationsvorgang: »Schließlich sagte er [Johannes XXII.]: Ich wünsche, dass diese Bücher einer Prüfung unterzogen werden. […] Später an diesem Tag schickte er nach den folgenden Brüdern: Boentio de Ast, Vikar der Provinz Armenien vom Orden der Dominikaner, Jacobo de Camerino vom Orden der Franziskaner, der einen Bart trug und im Namen der [Franziskaner-] Brüder in Persien an die Kurie gekommen war, Matthäus von Zypern sowie Paolino der Venetianer, sein [Johannes XII.] Beichtvater – beide ebenfalls vom Orden der Franziskaner. Er gab ihnen das safrangelbe Buch, bat sie es sorgfältig zu untersuchen und [ihm] ihre Ergebnisse zu berichten.«39

37 Friedrich Kunstmann (Hg.), Studien über Marino Sanudo den Älteren. Mit einem Anhange seiner ungedruckten Briefe, in: Abhandlungen der historischen Classe der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften 7, 1855, S. 798. 38 »Nur wenn Käufer in der Lage sind, zwischen dem Wert von Gütern, die auf Märkten angeboten werden, zu unterscheiden und Verkäufer zuverlässig den Wert der von ihnen angebotenen Waren darlegen können, wird Ungewissheit reduziert und kann Kaufbereitschaft entstehen.« (Beckert, Die soziale Ordnung (wie Anm. 15), S. 53). 39 »Finaliter ita dixit: Volo, inquit, ut examen recipiant isti libri […] Inde ergo recessi et ecce eodem die sollicite ipse misit pro fratribus infrascriptis: scilicet, Boentio de Ast, ordninis Praedicatorum, Vicario in Provincia Armeniae, Iacobo de Cammerino, ordinis Mino-

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Nachdem diese Sachverständigen Sanudos Rückeroberungstraktat zwölf Tage lang begutachtet hatten, übergaben sie dem Papst eine kurze schriftliche Zusammenfassung des umfangreichen Werkes.40 Dieses größtenteils positive Gutachten gibt Aufschluss über die zeitgenössischen Bewertungsmaßstäbe für kreuzzugsbezogene Expertise am höfischen Markt. Im Gutachten werden insbesondere solche Passagen positiv hervorgehoben, welche die Sachverständigen als übereinstimmend mit der Wirklichkeit betrachten. So stellen sie etwa fest, ihnen sei zugetragen worden, die Küste Ägyptens sei »genauso wie es im Buch beschrieben wird«.41 Ihr Zuspruch beschränkte sich jedoch nicht allein auf die Beschreibung geographischer Merkmale, sondern auch auf Sanudos militärstrategische Planungen. Die Sachverständigen stimmten etwa dem Vorschlag des Venezianers zu, den ägyptischen Sultan im Vorfeld des Kreuzzuges durch eine Seeblockade des ägyptischen Mittelmeerhandels kriegswichtiger Ressourcen zu berauben. Die zehn von Sanudo zu diesem Zweck veranschlagten Galeeren – so die vier Prüfer – seien faktisch notwendig (necessaria) und würden ausreichen (sufficere), um eine See­blockade erfolgreich aufrecht zu erhalten.42 Keine abstrakten Prinzipien, sondern der Glaube an die Umsetzbarkeit der von Sanudo proponierten Vorschläge begründete in diesem Fall die positive Beurteilung seines Rückeroberungstraktates. Grundlage der Bewertung kreuzzugsbezogener Expertise war demnach ein durchweg pragmatischer Funktionalismus, dessen Leitdifferenz die binäre Unterscheidung zwischen umsetzbaren und nicht-umsetzbaren Vorschlägen zur Rückeroberung rum, qui portat barbam, qui ad Curiam venerat pro fratribus de Perside; Matthaeo de Cypro et Paulino Veneto eius poenitentiario utroque similiter Minorum ordinis; deditque eis librum croceo coopertum, imponens eis quod ipsum diligenter examinarent et sibi examinationem referrent.« (Jacques Bongars (Hg.), Gesta dei per Francos sive orientalium expeditionum et regni Francorum hierosolimitani historia, Bd.  2. Hannover 1611, S. 1 f.). 40 Das Gutachten ist zusammen mit späteren Kopien von Sanudos Liber Secretorum über­ liefert. Vgl. Bongars, Gesta dei per Francos, Bd.  2 (wie Anm.  39), S.  3–5. Welche Kenntnisse diese Gutachter mitbrachten, ist aus Sanudos Text allerdings nicht direkt ersichtlich. Auffallend ist allein, dass mindestens drei der vier Prüfer eine gewisse Orientkenntnis unterstellt werden kann: Boentio als Vikar der Dominikaner in der Provinz­ Armenien, Jacobo als Vertreter der Franziskaner in Persien sowie Matthäus aufgrund seiner Herkunftsregion Zypern. Paolino ist in der Forschung immer wieder ein Orientaufenthalt unterstellt worden, allerdings lässt eine solche Reise anhand der Quellen nicht belegen. Gegen die Hypothese der orienterfahrenen Sachverständigen spricht insbesondere die Feststellung der päpstlichen Gutachter, sie hätten die ägyptische Küste selbst nie gesehen (siehe Anm.  41). Da die Identität der Sachverständigen in vergleichbaren Kommissionen am französischen, neapolitanischen oder zypriotischen Hof ungeklärt ist, lässt sich keine eindeutige Hypothese über die Zusammensetzung dieser Gremien formulieren. 41 »De hoc dicimus quod ripariam illam non vidimus; bene tamen audimus eam esse talis conditionis, sicut in libro describitur […]« (Bongars, Gesta dei per Francos, Bd. 2 (wie Anm. 39), S. 4). 42 Ebd., S. 3.

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des Heiligen Landes bildete.43 Diese Hypothese belegt auch das Gutachten einer französischen Kommission unbekannter Zusammensetzung, die 1334 im Auftrag Philipps VI. zwei Rückeroberungstraktate von Mitgliedern des Dominikanerordens prüfte.44 So lehnten die Gutachter den Vorschlag der beiden Dominikaner, das Kreuzfahrerheer solle über Ungarn und Kleinasien ins Heilige Land ziehen, aus durchweg pragmatischen Gründen ab. Der Landweg, so die französische Kommission, berge im Vergleich zum Seeweg über das Mittelmeer zu viele Gefahren (périls), da das Heer sich in Kleinasien nicht adäquat mit Nahrungsmitteln versorgen ließe und ständig durch die feindlichen Türken attackiert werden könne – folglich sei der Seeweg dem Landweg vorzuziehen.45 Nachdem diese im Bedarfsfall offenbar ad-hoc zusammengestellten Gutachtergruppen die Vorschläge eines Kreuzzugsberaters bewertet hatten, konnte die Expertise des Beraters fortan mit der Expertise anderer Ratgeber hinsichtlich ihrer Umsetzbarkeit verglichen werden. Sachverständigenkommissionen dienten den jeweiligen Machteliten also als eine Art Heuristik, um den Wert der kreuzzugsbezogenen Expertise, die ihnen auf dem höfischen Markt angeboten wurde, zu erkennen.46 Gleichzeitig ermöglichte diese Bewertungspraktik höfischen Machteliten, den Informationsvorsprung der Kreuzzugsberater zumindest partiell zu 43 Diese Form der Bewertung bedeutet auch, dass kein sogenannter Statusmarkt vorliegt, auf dem Güter nicht nach ihrer Qualität, sondern vornehmlich aufgrund des sozialen Status ihrer Anbieter und Nachfrager bewertet werden. Der Zugang zum höfischen Wissensmarkt für kreuzzugsbezogene Expertise war zwar partiell durch sozialen Status limitiert, aber die Sachverständigenkommissionen belegen, dass die Bewertung der Expertise auf Basis des Inhalts des Gesprochenen und nicht auf der des Status der Sprecher erfolgte. Zu Statusmärkten siehe insbesondere Patrik Aspers, Wissen und Bewertung auf Märkten, in: Berliner Journal für Soziologie 17,4, 2008, S. 431–449. 44 Das Gutachten ist nur in einer Kopie aus dem 18. Jahrhundert überliefert, die vermutlich infolge eines Brands der französischen Rechnungskammern im Jahr 1737 angefertigt wurde. Vgl. Delaville Le Roulx, La France en Orient, Bd. 2 (wie Anm. 20), S. 7–11. Bei den geprüften Werken handelte es sich um das »Directorium ad passagium faciendum« eines unbekannten Dominikaners sowie das Werk des Dominikanermönches Guillelmus Adae. Für eine Edition der beiden Texte siehe Charles Alfred Kohler/Louis de Mas-­Latrie (Hg.), Recueil des historiens des croisades. Documents arméniens, Bd.  2. Paris 1906, S. 367–517 sowie Giles Constable (Hg.), How to defeat the Saracens. Washington 2012. 45 Delaville Le Roulx, La France en Orient, Bd. 2 (wie Anm. 20), S. 11. 46 Der Tausch am höfischen Wissensmarkt unterscheidet sich damit vom Gabentausch an mittelalterlichen Höfen, weil für den Nachfrager am höfischen Markt im Gegensatz zum Gabentausch der Inhalt der empfangenen Gabe bzw. Expertise relevant war. Die Übergabe der Rückeroberungstraktate diente den kreuzzugsinteressierten Machteliten in erster Linie der Gewinnung militärisch relevanter Information und nicht etwa der Herstellung sozialer Gemeinschaft wie im Falle eines Gabentausches. Vgl. Benjamin Scheller, Rituelles Schenken an Höfen der Ottonenzeit zwischen Ein- und Mehrdeutigkeit. Formen und Funktionen des Austausches im früheren Mittelalter, in: Ulf-Christian Ewert (Hg.), Ordnungsformen des Hofes. (Mitteilungen der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, 2) Kiel 1997, S.  56–66, hier 57–58 und Otto­ Gerhard Oexle, Memoria und Memorialüberlieferung im früheren Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 10, 1976, S. 87–95.

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nivellieren und auf diese Weise das Risiko zu minimieren, die unrealisierbaren Vorschläge eines inkompetenten Ratgebers zu vergüten (und wohlmöglich sogar zu befolgen). Im Sinne der Neuen Institutionenökonomik fungierten diese Gutachten somit als Mechanismus, um eine sogenannte Gegenauslese (adverse selection) zu vermeiden, die langfristig einen massiven Verlust an sozialem, ökonomischem sowie symbolischem Kapital für den Auftraggeber bedeuten konnte.47 d) Kooperationsdimension

Eine positive Bewertung des angebotenen Kulturkapitals in Form von Expertise war somit die Voraussetzung für den erfolgreichen Tauschhandel zwischen Kreuzzugsratgebern und kreuzzugsinteressierten Machteliten am höfischen Markt. Von diesen Tauschgeschäften zeugen die zahlreichen Rückeroberungstraktate, welche in den Hofbibliotheken von Päpsten und Königen archiviert wurden. Eine zeitgenössische Aufstellung des Bestandes der Bibliothek des Louvre-­Palasts aus dem Jahr 1373 enthält beispielsweise neben drei Rückeroberungstraktaten, die sich inhaltlich nicht näher zuordnen lassen, auch die Werke der Kreuzzugsberater Hethum von Korykos (um 1240–1308), Guido von Vigevano (um 1280–1349) und Marino Sanudo.48 Ein gleichartiges Verzeichnis der päpstlichen Bibliothek in Avignon aus dem Jahr 1371 beinhaltet darüber hinaus mindestens neun Werke, die sich aufgrund ihrer Beschreibung als Rückeroberungstraktate einordnen lassen.49 Die in Hofbibliotheken archivierten 47 George Akerlof, The Market for Lemons. Quality Uncertainty and the Market Mechanism, in: Quarterly Journal of Economics 84,3, 1970, S. 488–500. Die Funktionsweise und Zusammensetzung der beiden Sachverständigenkommissionen verdeutlichen zugleich, dass die Ratschläge der Kreuzzugsberater vornehmlich der Informationsgewinnung und nicht etwa der konsensualen Herrschaft im Sinne des consilium et auxilium dienen sollten. So waren die vier namentlich bekannten Gutachter in der päpstlichen Kommission von 1321 beispielsweise einfache Mönche und somit sicherlich keine Personen, deren Hilfe oder Zustimmung der Papst benötigte, um einen Kreuzzug durchzuführen. Zur konsenualen Herrschaft siehe insbesondere Althoff, Kontrolle der Macht (wie Anm. 4), S. 325–334; Bernd Schneidmüller, Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter, in: Peter Moraw/Paul-­Joachim Heinig/ Barbara Krauss (Hg.), Reich, Regionen und Europa im Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw. (Historische Forschungen, 67) Berlin 2000, S. 53–87 sowie Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungs­geschichte Österreichs im Mittelalter. 4. Aufl. Wien 1959, S. 269–272. 48 Léopold Delisle, Le Cabinet des manuscrits de la Bibliothèque impériale, Bd. 3. Paris 1881, S. 162. Bei den drei Werken, die sich nicht zuordnen lassen, kann es sich sowohl um nicht überlieferte Rückeroberungstraktate handeln oder um solche, die aufgrund ihrer knappen Beschreibung im Bibliotheksinventar nicht eindeutig als eine der überlieferten Abhandlungen ausgewiesen werden können. 49 Franz Ehrle, Historia bibliothecae romanorum pontificum tum Bonifatianae tum Avenio­ nensis. Enarrata et antiquis earum indicibus aliisque documentis. (Biblioteca dell’Accademia storico-giuridica, 7) Rom 1890, S. 500, 504, 546 und 557 f.

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Rück­erobe­rungs­traktate bilden jedoch nur einen kleinen Teil der kreuzzugsbezogenen Expertise ab, welche auf dem höfischen Markt erfolgreich von Kreuzzugsberatern zu den jeweiligen Machteliten transferiert wurde. Die Mehrheit dieser Transfers erfolgte im vertraulichen Rahmen mündlicher Planungs- und Beratungssitzungen an den Höfen, über deren spezifische Inhalte aufgrund mangelnder Quellen nur spekuliert werden kann. Allein in den kreuzzugs­ bezo­genen Planungssitzungen am Hof des französischen Königs Philipp V. lassen sich für die Jahre 1318 bis 1321 beispielsweise 19 Kreuzzugsberater namentlich nachweisen, von denen nur zwei ihre Ratschläge in einem entsprechenden Rückeroberungstraktat niedergeschrieben haben.50 Sowohl die Archivierung von Rückeroberungstraktaten als auch die Präsenz von Kreuzzugsberatern in höfischen Planungssitzungen sagen allerdings wenig über die faktische Rezeption der am Markt transferierten Expertise durch Eliten am Hofe aus. Eine Umsetzung der Vorschläge einzelner Kreuzzugsberater fand nicht statt, da es zwischen 1272 und 1364 zu keinem weiteren Orientkreuzzug kam. Dennoch liegt fraglos ein über die einfache Aufbewahrung von Rückeroberungstraktaten hinausgehender Transfer kulturellen Kapitals vor, weil die beratenen Machteliten sich teilweise die Vorschläge ihrer Kreuzzugsratgeber zu Eigen machten. Ein Beispiel für solch einen erfolgreichen Transfer findet sich in dem an Papst Johannes XXII. gerichteten consilium des Kardinals Jacopo Stefaneschi (um 1260–1341) aus dem Jahr 1323. Der Papst hatte zuvor 17 seiner Kardinäle aufgefordert, die von den Ratgebern König Karls IV. am französischen Hof erarbeiteten Pläne zur Rückeroberung des Heiligen Landes zu bewerten.51 In seinem Gutachten wies Kardinal Stefaneschi die französischen Planungen einer Kreuzzugsflotte aus 24 Galeeren als inutile zurück. Stattdessen folgte er Marino Sanudos Vorschlägen von einer Flotte aus zehn Galeeren, die zunächst den ägyptischen Seehandel stören und das christliche Königreich Armenien verteidigen sollte.52 50 Paris. Archives Nationales. JJ 58, Fol. 37r und Fol. 50v. Die einzigen beiden Ratgeber des Königs, von denen entsprechende Rückeroberungstraktate überliefert wurden, sind Foulques de Villaret, der ehemalige Ordensmeister der Hospitaliter sowie Guillaume Durand, der damalige Bischof von Mende. Für die Werke der beiden siehe Informatio brevis super hiis que viderentur ex nunc fore providenda quantum ad passagium divina favente graciam faciendum, in: Gottfried Duerrholder (Hg.), Die Kreuzzugspolitik unter Papst­ Johann XXII (1316–1334). Straßburg 1913, S. 103–110 sowie Joseph Petit (Hg.), Mémoire de Foulques de Villaret sur la croisade. Hec est informatio et instructio nostri magistri Hospitalis super faciendo generali passagio pro recuperatione Terre Sancte, in: Bibliothèque de l’École des chartes 60, 1899, S. 602–610. Für eine ausführliche Darstellung der Beratungen siehe Christopher Tyerman, Philip V of France, the Assemblies of 1319–20 and the Crusade, in: Historical Research 57,135, 1984, S. 15–34. 51 Auguste Coulon (Hg.), Lettres secrètes et curiales du pape Jean XXII (1316–1334). Relatives á la France, Bd. 2. Paris 1906, S. 281–318. Für eine ausführliche Darstellung der Verhandlungen siehe Norman Housley, The Franco-Papal Crusade Negotiations of 1322–3, in: Papers of the British School at Rome 48, 1980, S. 166–185. 52 Coulon, Lettres secrètes, Bd.  2 (wie Anm.  51), S.  308 f. Für Sanudos Vorschläge siehe­ Bongars, Gesta dei per Francos, Bd. 2 (wie Anm. 39), S. 30 f.

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Der Kreuzzugsberater Sanudo hatte den Kardinal wiederum während seines Aufenthaltes an der Kurie in den Jahren 1321/1322 persönlich getroffen und stand noch 1329 in schriftlichem Kontakt mit ihm.53 Zu einem erfolgreichen Tausch im Sinne der Marktsoziologie gehört jedoch nicht allein der gelungene Transfer kulturellen Kapitals an den Nachfrager, sondern auch die Gegenleistung, welche der Anbieter als Reaktion auf diesen Transfer empfängt. Der höfische Markt für kreuzzugsbezogene Expertise war in dieser Hinsicht keine Ausnahme, denn er ermöglichte Kreuzzugsberatern, ihr Kulturkapital in Form kreuzzugsbezogener Expertise in soziales (1), ökonomisches (2) oder symbolisches Kapital (3) zu transformieren. (1) Die Transformation von Expertise in Sozialkapital durch Tausch erfolgte zumeist in Form einer entsprechenden Position am Herrscherhof. Beispielhaft für den Versuch, auf diese Weise Karriere zu machen, ist sicherlich der normannische Jurist Pierre Dubois, welcher dem französischen König in seinem Kreuzzugstraktat auf geradezu aufdringliche Weise seine Dienste als Berater am Hof offerierte: »Der Verfasser dieses Werkes ist bereit alle vorgenannten Angelegenheiten zu organisieren, obwohl er das große Einkommen aus seiner Position als gerichtlicher Advokat in den Sachen der hochehrenwerten Könige der Franken und Engländer sowie in anderen [Angelegenheiten] der Kirche und sein Leben in dem Land seiner Geburt aufgeben müsste […] .«54

Wenngleich Dubois eine Position im inneren Beraterzirkel Philipps IV. versagt blieb und seine höfischen Karriereavancen somit schlussendlich nicht von dem gewünschten Erfolg gekrönt waren, gelang es anderen Kreuzzugsberatern durchaus, ihr Sozialkapital auf dem höfischen Markt erfolgreich zu steigern. Im Jahr 1317 überreichte etwa der zuvor in keiner Quelle erwähnte Dominikanermönch Guillelmus Adae (um 1275–1339) dem Kardinal Raymond de Fargues (†1345) eine Abhandlung, welche er selbst als »Leitfaden für einen allgemeinen Kreuzzug« bezeichnete.55 Weniger als ein Jahr, nachdem er dem Kardinal dieses Rückeroberungstraktat ausgehändigt hatte, wurde der Dominikanermönch als 53 Bongars, Gesta dei per Francos, Bd. 2 (wie Anm. 39), S. 313–315. 54 »Ad premissa vero omnia […] paratus est et erit scriptor huis opusculi, dimisso magno questu publici advocationis officii causarum illustrissimorum dominorum regnum Fancorum et Anglorum et aliarum ecclesiasticarum, terreque sue natalis habitatione […]« (Langlois, De recuperatione Terre Sancte (wie Anm. 30), S. 81). 55 »Intentionis autem mee est que inferius ponuntur ad generalis passagii quoddam preambulum texere […]«. (Constable, How to defeat (wie Anm. 44), S. 24). Für eine Biographie des Guillelmus Adae siehe Henri Omont, Guillaume Adam, missionnaire, in: Histoire littéraire de la France 35, 1921, S. 277–284 sowie Julien Trouilhet, Les projets de croisade des dominicains d’Orient au XIVe siècle. Autour de Guillaume Adam et Raymond Ètienne, in: Jacques Paviot/Daniel Baloup/Benoît Joudiou (Hg.), Les projets de croisade. Géostratégie et diplomatie européenne du XIVe au XVIIe siècle. (Méridiennes Croisades tardives, 1) Toulouse 2014, S. 160 ff.

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Suffraganbischof der neugeschaffenen Diözese Sultanieh in Persien eingesetzt. Bereits im darauffolgenden Jahr ernannte ihn der Papst zum Bischof des kleinasischen Smyrna und 1322 schließlich zum Erzbischof von Sultanieh. Wie eng der soziale Aufstieg des Guillelmus Adae mit der ihm zugeschriebenen Expertise verbunden war, belegt ein Schreiben aus dem Jahr 1334, in dem sich der Dominikaner erneut mit Papst Johannes XXII. über die Durchführung eines Kreuzzuges austauschte.56 Vor diesem Hintergrund nutzten auch Höflinge, die bereits in anderen Fragen als Berater eines Herrschers tätig wären, die steigende Nachfrage nach kreuzzugsbezogener Expertise dazu, um ihre Ratgeberposition am Hofe aufrecht zu erhalten. So engagierten sich beispielsweise auch der Großsiegelbewahrer Guillaume de Nogaret (um 1265–1313) und der Bischof­ Guillaume Durand (†1330) als Berater des französischen Königs auf dem Markt für kreuzzugsbezogene Expertise, obwohl beide bereits zuvor als königliche Ratgeber in das Hofgeschehen eingebunden waren.57 (2) Verbunden mit einer derartigen Karriere am Hof oder in der Kirchenhierarchie war zumeist entsprechendes ökonomisches Kapital, was wiederum den zweiten Grund für die Veräußerung von kreuzzugsbezogener Expertise bildet. Dass die Tätigkeit als höfischer Kreuzzugsratgeber auch unabhängig von einer formal fixierten Position am Hof ökonomisch entlohnt wurde, zeigt das Beispiel des Venezianers Marino Sanudo. Nachdem er Papst Johannes XXII. im September 1321 ein umfangreiches Rückeroberungstraktat übergeben hatte, erhielt der Venezianer im März des Folgejahres für seine Tätigkeit eine Art Aufwandsentschädigung in der Höhe von 200 Florin. Der entsprechende Posten in den­ päpstlichen Rechnungsbüchern ist dabei explizit an Sanudos Beratungstätigkeit in Kreuzzugsfragen (informatione passagii terre sancte) gebunden.58 Sanudo war jedoch als Spross einer wohlhabenden venezianischen Familie weniger auf die materiellen Zuwendungen höfischer Eliten angewiesen als an56 Charles Alfred Kohler (Hg.), Documents relatifs à Guillaume Adam, archevêque de Sultanieh, puis d’Antivari, et à son entourage (1318–1346), in: Charles Jean Melchior Vogüé (Hg.), Revue de l’Orient Latin, Bd. 10. Paris 1904, S. 21 ff., 29–32 und 49 f. 57 Edgard Boutaric (Hg.), Mémoire de Nogaret sur la possibilité d’une croisade, in: Ders., Notices et extraits des manuscrits de la Bibliothèque nationale et autres bibliothèques, Bd. 20. Paris 1862, S. 199–205 und Duerrholder, Informatio brevis (wie Anm. 50), S. 104–110. Für eine ausführliche Darstellung ihrer höfischen Laufbahn siehe C ­ onstantin Fasolt, Council and Hierarchy. The political Thought of William Durant the Younger. (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought, 16) Cambridge 1991, S. 73–100 und 305–314; Ernest Renan, Guillaume de Nogaret, in: Histoire littéraire de la France 27, 1877, 233–371; Paul Viollet, Guillaume Durant le Jeune, Evêque de Mende, in: Histoire littéraire de la France 35, 1921, S. 1–64 sowie Robert Hotzmann, Wilhelm von Nogaret. Rat und Großsiegelbewahrer Philipps des Schönen von Frankreich. Freiburg 1898. 58 »Die III mensis martii, de mandato domini nostri pape tradidimus domino Marino­ Sanudo alias Torcello de Venetiis, pro expensis suis et ex dono ipsius domini nostri, qui libros super informatione passagii terre sancte protaverat ipsi domino nostro – II floren. auri.« (Maurice Faucon (Hg.), Marino Sanudo à Avignon, in: Mélanges d’archéologie et d’histoire 2, 1882, S. 222 f.).

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dere Kreuzzugsberater. Beispiel für einen ökonomisch schlechter gestellten Ratgeber ist der normannisch-englische Hospitaliter Roger von Stanegrave († nach 1332), welcher am Hof Edwards II. (1284–1327) und Edwards III. tätig war. Der Ordensritter war 1318 nach einer 30-jährigen Gefangenschaft aus Ägypten in seine Heimat zurückgekehrt und hatte sich aufgrund des für seine Freilassung erforderlichen Lösegelds in Höhe von 10.000 Florin bei der englischen Krone hoch verschuldet. Seine prekäre finanzielle Lage sowie die daraus resultierende Abhängigkeit von der Krone trugen fraglos dazu bei, dass der zu diesem Zeitpunkt vermutlich fast 80-jährige Roger sich noch zu Beginn der 1330er Jahre als Kreuzzugsberater am englischen Hof verdingte.59 (3) Eng verknüpft mit dem höfischen Ratgeberwesen war indes nicht allein soziales und ökonomisches, sondern auch symbolisches Kapital, welches aus der prestigereichen Position in der Nähe des Herrschers resultierte. Bereits der Anrufungsakt als Berater durch höfische Machteliten war für sich genommen ein prestigeträchtiger Vorgang. Aus genau diesem Grund visualisierten die Schreiber der Rückeroberungstraktate die symbolträchtige Übergabe des schriftlichen Ratschlages gern unmittelbar zu Beginn der Werke durch entsprechende Dedikationsminiaturen. In einer Kopie des »Liber recuperationis Terre Sancte« aus dem Jahr 1295 ist beispielsweise in einer Initiale auf dem ersten Blatt der Abhandlung abgebildet, wie der Franziskanermönch Fidenzio dem Papst im Jahr 1291 sein Rückeroberungstraktat überreichte (siehe Abbildung 1). Das Bild zeigt ihn kniend vor Nikolaus IV., der das Werk im Beisein eines Kardinals empfängt. Dieses Motiv des knienden Kreuzzugsberaters, der seine verschriftlichten Ratschläge einem Herrscher übergibt, wurde in zahlreichen anderen illuminierten Rückeroberungstraktaten wie etwa denen des Marino Sanudo verwandt.60 Auch Dekaden später übernahmen Kopisten der Rückeroberungstraktate dieses Stilelement gern, wie das Beispiel einer Abschrift des Werkes des Hethum von Korykos aus dem frühen 15. Jahrhundert belegt (siehe Abbildung 2). Die Abbildung stellt Papst Clemens V. dar, wie er, abermals umgeben von zwei Kardinälen, das Rückeroberungstraktat aus den Händen des knienden Prämonstratensermönches Hethum empfängt. Im Unterschied zum Warentausch an Standardmärkten erfolgten die Gegenleistungen in Form von sozialem, ökonomischem oder symbolischem Kapital jedoch nicht unmittelbar nachdem der jeweilige Kreuzzugsberater sein Kulturkapital durch mündliche oder schriftliche Ratschläge erfolgreich an einzelne höfische Eliten übertragen hatte. In den beschriebenen Fällen des Marino Sanudo 59 Jacques Paviot (Hg.), L’Escarboucle d’armes de la conquête précieuse de la Terre saints de promission in Projets de croisade, in: Ders., Projets de Croisade. 1290–1330. (Documents relatifs à l’histoire des Croisades, 20) Paris 2008, S. 295–312. Für eine Darstellung von Rogers Leben und Gefangenschaft siehe Jonathan Riley-Smith, The Knights Hospitaller in the Levant. 1070–1309. Basingstoke 2012, S. 213 f. sowie Timothy Guard, Chivalry, Kingship and Crusade. The English Experience in the Fourteenth Century. (Warfare in History, 38) Woodbridge 2013, S. 32 f. 60 Rom. Bibliotheca Apostolica Vaticana. Ms. Lat. 2972, Fol. 1r.

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Abbildung 1: Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. Latin 7242, Fol. 85r.

und des Guillelmus Adae verging beispielsweise ein halbes Jahr, bis die beiden eine Gegenleistung des Papstes für die ihm zur Verfügung gestellte Expertise erhielten. Gleichzeitig ist anzunehmen, dass für die Kreuzzugsberater keineswegs im Vorhinein feststand, auf welche Art und Weise sie für ihre Ratschläge kompensiert werden würden, da für keinen der untersuchten Fälle ein vertragsähnliches Dokument oder eine vergleichbare (mündliche) Abmachung überliefert ist, welche die Gegenleistungen des Auftraggebers ex ante regeln würde. Diese zeitlich verzögerte sowie inhaltlich diffuse Art des Tausches legt nahe, dass die informelle Vereinbarung zwischen Kreuzzugsberatern und Machteliten nicht dem für Standardmärkte charakteristischen Typ des formal fixierten Zweckkontraktes zwischen Auftraggeber und -nehmer entsprach.61 Stattdessen folgte sie vielmehr den Regeln von Statuskontrakten, die »eine Veränderung der rechtlichen Gesamtqualität, der universellen Stellung und des sozialen Habitus von 61 Ich verstehe Zweckkontrakte mit Weber als »[…] Vereinbarungen, welche nur die Herbeiführung konkreter, meist ökonomischer, Leistungen oder Erfolge zum Zweck haben, den Status der beteiligten Persönlichkeiten aber unberührt […] lassen.« (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. 5. Aufl. Tübingen 1980, S. 401).

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Abbildung 2: Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. Français 12201, Fol. 1r.

Personen«62 zum Gegenstand haben. Der erfolgreiche Transfer von Kulturkapital in Form kreuzzugsbezogener Expertise erhob den Anbieter in die exaltierte Position eines königlichen, päpstlichen oder fürstlichen Ratgebers, was wiederum verbunden war mit zuvor formal nicht fixierten Gegenleistungen in Gestalt von ökonomischem, sozialem oder symbolischem Kapital. Für die Zeitgenossen verlief der Unterschied zwischen Zweck- und Statuskontrakt jedoch keineswegs derart trennscharf, wie diese begriffsanalytischen Überlegungen es suggerieren mögen. Als etwa der normannische Jurist Pierre Dubois in seinem Rückeroberungstraktat offensiv eine Stellung am französischen Hof einforderte, verletzte er durch seine expliziten Forderungen den Grundsatz des Statuskontrakts. Er setzte offenbar fälschlicherweise voraus, dass auf dem höfischen Markt die (Tausch-)Regeln eines Standardmarktes gelten würden und erbat folgerichtig eine entsprechende Vergütung für die von ihm angebotene Expertise. Diese forsche Vorgehensweise mag sicherlich auch einer der Gründe dafür gewesen sein, dass Dubois die erhoffte Stellung am Hof des französischen Königs niemals erhalten hat. 62 Ebd., S. 400.

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e) Dimension der Institutionalisierung

Die vorangegangenen Beispiele wiederkehrender Kooperation zwischen Nachfragern und Anbietern legen bereits nahe, dass der höfische Markt für kreuzzugsbezogene Expertise im 13.  und 14.  Jahrhundert eine gewisse institutionelle Verstetigung erfahren hatte. Für diese These spricht auch der Umstand, dass in diesem Zeitraum generalisierte Verhaltenserwartungen für die Marktakteure entstanden, die sich deutlich in den archetypischen Einleitungsfloskeln der Rückeroberungstraktate widerspiegeln. So betonten ausnahmslos alle Kreuzzugsratgeber zu Beginn ihrer Schriften, sie wollten im Folgenden zeigen, wie das Heilige Land aus den Händen der Ungläubigen zurückerobert werden könne.63 Als ein gattungsbildendes Merkmal zieht sich dieser qualiter Terra Sancta acquiri posset-Passus stringent durch alle Rückeroberungstraktate. Mithilfe dieses Sprechaktes stellten die jeweiligen Berater die Zugehörigkeit ihres Ratschlags zur höfischen Planungs- und Vorbereitungspraxis her und trugen somit, metaphorisch gesprochen, ihre Expertise zu Markte. Die Tatsache, dass sich bereits in den frühen 1290er Jahren ein solch eindeutiger kultureller Code etabliert hatte, spricht für eine institutionelle Verstetigung des höfischen Marktes für kreuzzugsbezogene Expertise in dem fraglichen Zeitraum. Die Herausbildung institutioneller Formen blieb allerdings durchgehend an die Konjunktur kreuzzugsbezogener Expertise gekoppelt. Als schließlich Mitte der 1330er Jahre die höfische Nachfrage kollabierte, begann eine rapide De-Institutionalisierung des Marktes, welche sich insbesondere darin ausdrückt, dass neue Rückeroberungstraktate ab 1334 nur noch sporadisch nachweisbar sind. Die Ursachen dieses Niedergangs waren politischer Natur: Die englischen und französischen Herrscher hatten mit dem Beginn des Hundertjährigen Krieges jedes Interesse an einem Kreuzzug verloren und die Kurie war gemeinsam mit den Hospitalitern, den oberitalienischen Städten und dem König von Zypern in eine Seeliga zur Verteidigung gegen türkische Angriffe in der Ägäis eingebunden.64 Letztere markierte zugleich den Beginn einer neuen geopolitischen Strategie der lateinischen Herrscher, die sich von nun an vornehmlich auf die Tür63 Vgl. etwa die entsprechenden Formulierungen in den Abhandlungen von Ramon Llull, Fidenzio von Padua sowie dem Hospitaliterorden: »Deus in virtute tua ostenditur hic quomodo Terra sancta recuperati potest.« (Garí/Reboiras Domínguez, Liber de passagio (wie Anm. 27), S. 328); »[…] dominus papa […] michi mandavit […] ut in scriptis ponerem qualiter Terra Sancta acquiri posset de manibus Infidelium […]« (Golubovich, Biblioteca bio-bibliografica, Bd. 2 (wie Anm. 24), S. 9) sowie »Ci commence .i. autre traitié qui fu pieça acordé entre la mer par le mestre de l’Ospital […]; et enseignie coment la Terre sainte puet estre recouvrée par les crestiens.« (Benjamin Kedar/Sylvia Schein (Hg.), Un projet de passage particulier proposé par l’ordre de l’Hôpital, in: Bibliothèque de l’École des chartes 137, 1979, S. 221). 64 Christopher Tyerman, Philip VI and the Recovery of the Holy Land, in: The English Historical Review 100,394, 1985, S. 49–52; Leopold, Holy Land (wie Anm. 7), S. 43 ff.; Housley, Contesting the Crusades (wie Anm. 6), S. 125 f. sowie Mike Carr, Merchant Crusaders in the Aegean. 1291–1352. Woodbridge 2015, S. 70–78.

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kenverteidigung konzentrierten und die Rückeroberung des Heiligen Landes zurückstellten.65 In den darauffolgenden 100 Jahren bildeten sich allerdings immer wieder ähnliche Marktstrukturen heraus, wenn einzelne Herrscher begannen, sich für die Rückeroberung des Heiligen Landes zu interessieren. Als beispielsweise im Königreich Zypern unter Peter I. (um 1328–1369) in den 1360er Jahren die Planungen zur Eroberung Jerusalems aufgenommen wurden, entwickelte sich der zypriotische Hof zu einem Markt, auf dem Ratgeber wie Philippe de Mézières (um 1327–1405) ihre kreuzzugsbezogene Expertise feilboten. Der Markt blieb jedoch auf Zypern beschränkt und verschwand mit dem Tod des Herrschers.66 Fast 60 Jahre später entstand erneut ein regional beschränkter Markt für kreuzzugsbezogene Expertise, dieses Mal am Hof des Herzogs Philipp III. von Burgund (1369–1467). Während seiner Regierungszeit verfügte der kreuzzugsbegeisterte Herrscher »über einen Kern von Spezialisten für sämtliche mit einem Kreuzzug zusammenhängende Fragen«67, die kontinuierlich an seinem Hof wirkten. Im Rahmen dieser burgundischen Kreuzzugs-Renaissance wurden neben zeitgenössischen Spezialisten wie Jean Germain auch einige der Ratgeber des frühen 14. Jahrhunderts von Neuem rezipiert. Obgleich Philipps Sohn Karl (1433–1477) die kreuzzugsorientierte Politik seines Vaters teilweise fortführte, begrenzte sich die Nachfrage kreuzzugsbezogener Expertise wie bereits im Fall Zyperns auf einen einzelnen Hof. Diese Phase endete schließlich im Jahr 1477, als mit Karl die burgundische Seitenlinie des Hauses Valois ausstarb und das Herzogtum in einen Krieg um dessen Nachfolge stürzte.68 Eine längere Periode der institutionellen Verstetigung eines überregionalen Marktes für kreuzzugsbezogene Expertise, die vergleichbar mit den Entwicklungen des späten 13. und frühen 14. Jahrhundert gewesen wäre, blieb indes aus.

65 Carr, Merchant Crusaders (wie Anm.  64), S.  63–66; Housley, The Later Crusades (wie Anm. 7), S. 47 f. sowie Jacques Paviot, L’idée de croisade à la fin du Moyen Âge, in: Ders./ Baloup Joudiou (Hg.), Les projets de croisade. Géostratégie et diplomatie européenne du XIVe au XVIIe siècle. (Méridiennes Croisades tardives, 1) Toulouse 2014, S. 18–20. 66 Atiya, Crusade (wie Anm.  7), S.  319–378; Norman Housley, Cyprus and the Crusades. 1291–1571, in: Nicholas Coureas/Jonathan Riley-Smith (Hg.), Cyprus and the Crusades. Papers Given at the International Conference Nicosia 6–9 September 1994. Nicosia 1995, S. 195 ff.; Peter Edbury, The Kingdom of Cyprus and the Crusades. 1191–1374. Cambridge 1994, S. 161–179 sowie Philippe Contamine, Entre Occident et Orient. Philippe de Mezieres (vers 1327–1405). Itineraries maritimes et spirituels, in: Kiril Petkov/Renate Blumenfeld-Kosinski (Hg.), Philippe de Mézières and his Age. Piety and Politics in the Fourteenth Century. Leiden 2012, S. 19–40. 67 Heribert Müller, Kreuzzugspläne und Kreuzzugspolitik des Herzogs Philipp des Guten von Burgund. (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 51) Göttingen 1993, S. 31. 68 Ebd., S. 127–133; Jacques Paviot, Burgundy and the Crusade, in: Norman Housley (Hg.), Crusading in the Fifteenth Century. London 2004, S. 70–80 sowie Tyerman, God’s War (wie Anm. 17), S. 858–861.

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III . Vorteile und Probleme der historischen Anwendung

des Marktbegriffs Insgesamt scheint die Anwendung des Marktbegriffs auf das Phänomen der höfischen Kreuzzugsberatungen trotz einiger Abweichungen hinsichtlich des zeitlich verzögerten Tausches prinzipiell möglich und plausibel zu sein. Für den Einsatz des Marktbegriffs spricht vor allem, dass vermittels dieses kontrollierten Anachronismus sowohl die Entwicklung als auch die Auflösung einer spezialistengestützten Planungs- und Beratungspraxis durch die Konjunktur kreuzzugsbezogener Expertise an den Höfen erklärt werden kann. Gleichzeitig plausibilisiert diese Herangehensweise auch das Handeln von Kreuzzugsberatern, die ohne einen konkreten Auftrag mit ihrer Kreuzzugs-Expertise an Herrscherhöfen vorstellig wurden, als eine direkte Reaktion auf die Nachfrage an diesen Höfen. Das Konzept des Marktes veranschaulicht damit auch die zunehmende Ausdifferenzierung des höfischen Beraterwesens im Spätmittelalter: Kreuzzugsberater erscheinen nicht als Machtkonkurrenten des Herrschers, die auf Partizipation drängen, sondern als eine Art vormoderne Informationsdienstleister auf einem durch Angebot und Nachfrage regulierten Markt. Das mit dem Marktbegriff verknüpfte Interpretationsschema individueller Nutzenmaximierung ermöglicht es zudem, die Handlungen einzelner Kreuzzugsberater plausibel zu erklären, ohne auf das religiöse Deutungsschema rekurrieren zu müssen, welches in der Kreuzzugsforschung nach wie vor omnipräsent ist.69 Nachdem das Potential der Akquise sozialen, ökonomischen und symbolischen Kapitals durch Kreuzzugsberatung auf diese Weise herausgestellt wurde, erscheinen Kreuzzugsratgeber nicht mehr nur als altruistisch handelnde Propagandisten der Kreuzzüge, sondern immer auch als Agenten in eigener Sache. Der letztgenannte Vorteil erweist sich bei genauerer Betrachtung allerdings als ambivalent, denn das zweckrationale Kalkül, welches dieser methodologische Individualismus jedem Marktakteur unterstellt, ist nicht in der Lage, altruistische Handlungsgründe wie etwa die tiefe Religiosität des katalanischen Missionars Ramon Llull adäquat zu erfassen.70 Eine weitere Schwierigkeit in der Anwendung des Marktbegriffes auf höfische Kreuzzugsberatungen liegt in der Egalität aller Marktakteure, die das Konzept des Markthandelns implizit voraussetzt.71 Ein Blick auf die Situation des päpstlichen Kreuzzugsratgebers ­Hethum von Korykos verdeutlicht dieses Problem: So erwähnt der Arme69 Für eine Kritik siehe insbesondere Tyerman, Crusade (wie Anm. 7), S. 9 f. 70 Dies ist zumindest der Tenor der Llull-Forschung. Vgl. Albert Soler/Josep Maria Ruiz, Ramon Llull in his Historical Context, in: Catalan Historical Review 1, 2008, S. 47 ff.; Compagno, Missionary Intent (wie Anm.  34), S.  75–80; Llinares, Raymond Lulle (wie Anm. 27), S. 129–167 sowie Platzeck, Raimund Lull (wie Anm. 27), S. 42–59. 71 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 2 (wie Anm. 61), S. 384 f.

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nier Hethum explizit in der Einleitung des Rückeroberungstraktates, welches er im Jahr 1307 Clemens V. überreichte, der Papst habe ihm den Befehl erteilt, das Werk zu verfassen.72 Im Fall höfischer Kreuzzugsberatungen war es also nicht immer der freie Akteur, der sein kulturelles Kapital allein aus eigenem Antrieb heraus zu Markte trug, weil er sich davon Vorteile erhoffte. Stattdessen handelte es sich vielmehr um das berühmte ›Angebot, das man nicht ablehnen kann‹, welches Ratgeber wie Hethum zur Veräußerung ihrer Expertise brachte.73 Durch die begriffliche Engführung von Käufern und Verkäufern als freie Akteure verschließt die Verwendung des Marktbegriffs an dieser Stelle also effektiv plausible Deutungsansätze. Aufgrund dieses Egalitätsproblems sowie des Problems der Zweckrationalität kann das Konzept des Marktes eine, aber nicht die einzige theoretisch-begriffliche Grundlage der Erforschung spätmittelalterlicher Kreuzzugsberatungen sein und bedarf folglich der Ergänzung durch wissens­ geschichtliche oder herrschaftsgeschichtliche Interpretationsschemata. Abschließend betrachtet erweist sich der Marktbegriff demnach durchaus als fruchtbar für die Anwendung auf das höfische Ratgeberwesen des 13. und 14.  Jahrhundert, insofern er in Kombination mit anderen Deutungsansätzen appliziert wird. Über diese einfache Evidenz hinaus ermöglicht die begriffliche Bestimmung und Schärfung des Marktbegriffs an den Quellen auch den Gebrauch des marktsoziologischen Methodeninstrumentariums durch weiter­ führende Untersuchungen, welche beispielsweise die sozial generalisierten Verhaltenserwartungen oder die Ratgebernetzwerke des höfischen Marktes näher in den Blick nehmen könnten. Zahlreiche Kreuzzugsratgeber waren in ihrer Tätigkeit allerdings nicht allein auf die Kreuzfahrten beschränkt. Stattdessen wirkten Berater wie etwa Guillaume Durand oder Guillaume de Nogaret auch als Legisten oder Kanonisten am Hof und auf kirchlichen Konzilen. Neben der sozialen Einbettung des Markthandelns bedarf also auch die personale und inhaltliche Schnittmenge des Marktes für kreuzzugsbezogene Expertise mit anderen marktförmigen Strukturen an den Höfen einer weiterführenden Untersuchung.

72 »Ci comence le livre de la flor des estoires de la terre d’Orient, lequel frere Hayton […] compila par le comandement du pape Clement Quint, en l’an Nostre Seignor M CCC VII, en la cité de Poytiers.« (Kohler/Mas-Latrie, Recueil des historiens, Bd. 2 (wie Anm. 44), S. 367). 73 Nicht alle (Markt)Theoretiker würden in einem derartigen Fall von einer Form des Zwangs sprechen. Vgl. Robert Nozick, Coercion, in: Sidney Morgenbesser/Patrick Suppes/ Morton White (Hg.), Philosophy, Science, and Method. Essays in Honor of Ernest Nagel. New York 1969, S. 440–472.

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Quellen und Literatur Archivquellen Paris. Archives Nationales. JJ 58. Paris. Bibliothèque nationale de France. Ms. Lat. 7242. Paris. Bibliothèque nationale de France. Ms. Franc. 12201. Rom. Bibliotheca Apostolica Vaticana. Ms. Lat. 2972.

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Colin Arnaud

Lohnverhältnisse, ›Arbeitgeben‹ und Armenfürsorge im Wirtschaftsdiskurs der Textilunternehmer in Italien (13.–16. Jahrhundert)

Heutzutage gilt Lohnarbeit immer noch weithin als der selbstverständliche Normalfall, und die Arbeitslosen werden als die typischen Armen angesehen. Arbeitslos ist Synonym für arbeitssuchend, Arbeitssuche bedeutet die Suche nach einer Stelle als Lohnarbeiter, setzt ein Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer voraus. Es wird immer noch als moralisch berechtigt angesehen, den Arbeitslosen zur Arbeitssuche zu zwingen. Allerdings erfährt diese moralische Grundannahme, dass jeder arbeiten beziehungsweise Arbeit suchen sollte, zunehmend Widerspruch, auch weil die Vorrangstellung der Lohn­arbeit in der Wirtschaft immer mehr bröckelt. Die viel diskutierte Idee des bedingungslosen Grundeinkommens zielt beispielsweise auch darauf, Erwerbsarbeit als moralische Pflicht infrage zu stellen, und die bisher mit Arbeitslosigkeit einhergehende Stigmatisierung zu überwinden.1 Angesichts dieser aktuellen Debatte scheint es wichtig zu verstehen, wann dieser gesellschaftliche Druck zur Ausübung der Lohnarbeit eingesetzt hat. Obwohl Soziologen und Neuzeithistoriker den Aufstieg der Arbeitsgesellschaft und die nahezu unangefochtene Vorrangstellung der Lohnarbeit mit der Industrialisierung datieren2, besteht der moralische Zwang zur Arbeit viel länger. Bereits während der Renaissance wurde überall in Europa immer lauter gefordert, dass die Armen arbeiten sollten, anstatt zu betteln.3 Im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts öffneten zahlreiche Zucht- und Arbeitshäuser, in denen die gesunden Bettler eingesperrt und zur Arbeit gezwungen wurden.4 Der Übergang von einer mittelalterlichen positiven Bewertung der Bettler, die Anlass zu Almosenspenden und daher zur Seelenrettung gaben, hin zu einer modernen Verurteilung des Müßiggangs der Armen und einer Forderung der 1 Siehe u. a. Michael Hirsch, Die Überwindung der Arbeitsgesellschaft. Eine politische Philosophie der Arbeit. Wiesbaden 2016. 2 Siehe u. a. Jürgen Kocka, Mehr Last als Lust. Arbeit und Arbeitsgesellschaft in der euro­ päischen Geschichte, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 46,2, 2005, S. 185–206. 3 Bronisław Geremek, Geschichte der Armut. Elend und Barmherzigkeit in Europa. München 1991, S. 150 f. 4 Volker Hunecke, Überlegungen zur Geschichte der Armut im vorindustriellen Europa, in: Geschichte und Gesellschaft 9,4, 1983, S. 480–512, hier 500.

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Colin Arnaud

Selbstversorgung durch Arbeit, ist bekannt und in unterschiedlicher Weise erklärt worden. Die theologische Erklärung weist darauf hin, dass mit der Reformation die Almosenvergabe nicht mehr automatisch zur Seelenrettung führte. Die Armenfürsorge sei deswegen von einem religiösen zu einem sozialen Problem geworden. Die alte Debatte über den konfessionellen Einfluss auf diesen Mentalitätswechsel tritt aber heutzutage in den Hintergrund, da katholische und protestantische Gesellschaften zur selben Zeit ähnliche Einrichtungen zur Armenfürsorge entwickelten.5 Eine andere Erklärung geht von einer zunehmenden Schicht von Armen in der frühen Neuzeit aus. Diese Verarmungswelle habe dazu geführt, eine steigende Anzahl von Bettlern auf die Straße zu jagen. Die öffentliche Macht sei zunehmend überfordert gewesen und musste daher zwischen berechtigten und unberechtigten Hilfsbedürftigen unterscheiden und neue Lösungen der Armen­f ürsorge finden.6 Diese Pauperismusthese erklärt jedoch nicht, warum ausgerechnet die Arbeitshäuser als Lösung angesehen wurden. Gewiss entwickelten die städtischen Verwaltungen und Laienbruderschaften  – noch mehr als die kirchlichen Institutionen  – innovative Maßnahmen für die Armenfürsorge. Brian Pullan und Nicholas Terpstra sprechen von einer »neuen Philanthropie«7 beziehungsweise einer »praktischen« Caritas, die sich von der »traditionellen« beziehungsweise »patronalen« Caritas unterscheide. Anstatt die Armen nur kurzfristig mit demonstrativen Almosen zu versorgen, suchte die neue Caritas praktische Wege, um die Armut dauerhaft und effizient zu beseitigen. Auch wenn oft beide Arten von Caritas gleichzeitig gewährt wurden, sind sie konzeptionell klar zu trennen, da sie auf unterschiedlichen Ideologien beruhten.8 In diesem Beitrag wird ein neutraler und epochenübergreifender Ideologiebegriff angewandt. In Bezug auf die Wissenssoziologie wird Ideologie als ein System von Ideen, Meinungen und Werten verstanden, das Gruppen zur Legitimation ihrer eigenen Handlungen und zur Beurteilung der Handlungen Fremder benutzen.9 Die Marxsche Annahme, dass eine bestimmte Ideologie be5 Brian Pullan, Catholics and the Poor in Early Modern Europe, in: Transactions of the Royal Historical Society 26, 1994, S. 15–34, hier 17: »There seems now to be little question that the Catholic and Protestant community showed an almost equally strong tendency to transform the wandering penniless stranger into the fearful and repulsive figure of the vagrant.« 6 Hunecke, Geschichte der Armut (wie Anm. 4), S. 505; Geremek, Geschichte der Armut (wie Anm. 3), S. 88 f. 7 Brian Pullan, Support and Redeem. Charity and Poor Relief in Italian Cities from the fourteenth to the seventeenth Century, in: Continuity and Change 3, 1988, S. 177–208, hier 201. 8 Nicholas Terpstra, Cultures of Charity. Women, Politics and the Reform of Poor Relief in Renaissance Italy. Cambridge, Mass., 2013, S. 13–14. 9 Thomas Blume, Art. Ideologie, in: Handwörterbuch Philosophie, hrsg. von Wulff D. Rehfus, Göttingen 2003. Online in: http://www.philosophie-woerterbuch.de/online-woerterbuch/? tx_gbwbphilosophie_main[entry]=426&tx_gbwbphilosophie_main[action]=show&tx_ gbwbphilosophie_main[controller]=Lexicon&no_cache=1 (letzter Zugriff am 25.05.2017). Siehe auch Karl Mannheim, Ideologie und Utopie. Bonn 1929.

Lohnverhältnisse, ›Arbeitgeben‹ und Armenfürsorge

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stimmte soziale Verhältnisse und eine bestimmte materielle Produktionsweise widerspiegelt10, ist richtig, aber greift zu kurz, denn sie erklärt den kognitiven Prozess nicht, durch den eine wirtschaftliche Erneuerung in eine neue Wissenskategorie übertragen und in einen ideologischen Diskurs eingeschrieben wird. Um die ideologische Basis für diese neue »praktische« Caritas beziehungsweise für die Idee von ›Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen‹ für Arme zu verstehen, gilt es also, das Zusammenspiel zwischen neuen Produktionsverhältnissen, neuen Denkmustern und deren Übertragung in ein ideologisches Wertsystem zu rekonstruieren. Hierzu stellt sich die Frage, welche Akteure diese neue Ideologie verbreiteten, und ob sie dabei als Wirtschaftsexperten agierten. Zuerst werden die ersten Beispiele von ›Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen‹ in Armen- oder Waisenheimen in Lyon, Bologna und Florenz analysiert und die Rolle italienischer Seidenindustrieunternehmer in diesen neuen Einrichtungen hervorgehoben. Dazu werden die frühen Denk- und Handlungsmuster untersucht, die diese Idee ermöglicht haben. Insbesondere soll gezeigt werden, wie in der Textilindustrie seit dem 13. Jahrhundert die Lohnarbeit und somit die Beschäftigung von Lohnarbeitern immer selbstverständlicher wurde und wie dementsprechend bereits im 14. Jahrhundert die Bereitstellung von Arbeit von den Textilunternehmern als Armenfürsorge postuliert wurde. Abschließend wird versucht, das Eindringen dieser Grundannahme in andere Kontexte zu rekonstruieren und einige auch kritische Reaktionen auf diese Ideologie aufzuzeigen. I . Die Bedeutung der Seidenindustrie für die ersten

Arbeitshäuser (Lyon, Bologna, Florenz) Ein einleuchtendes Beispiel für die Zusammenarbeit zwischen Seidenindustrie und Armenfürsorge stellt Lyon dar. Anfang der 1530er Jahre wurde in der Stadt das gesamte Fürsorgesystem in einer neuen zentralen Einrichtung zusammengefasst, der Aumône-Générale. Die Bettler wurden aus der Stadt vertrieben oder gezwungen, am Bau der Stadtmauer zu arbeiten. Gleichzeitig wurden Waisen und Kinder mittelloser Eltern in separaten Einrichtungen untergebracht, wo zumindest die Jungen eine Schulbildung und eine Lehrlingsausbildung erhielten, um einen qualifizierten Handwerksberuf (beispielsweise als Färber, Schlosser oder Nadelmacher) zu erlernen, der sie später vor Armut bewahren sollte.11 10 Karl Marx, Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhons ›Philosophie des Elends‹. 9. Aufl. Stuttgart 1921, S. 90 f.: »Die ökonomischen Kategorien sind nur die theoretischen Ausdrücke, die Abstraktionen der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse (…). [D]ieselben Menschen, welche die sozialen Verhältnisse gemäß ihrer materiellen Produktionsweise gestalten, gestalten auch die Prinzipien, die Ideen, die Kategorien gemäß ihren gesellschaftlichen Verhältnissen.« 11 Natalie Zemon Davis, Relief, Humanism and Heresy, in: Society and Culture in Early­ Modern France. Eight Essays. Stanford 1975, S. 18–64, hier 43 f.

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Noch innovativer erscheint die Initiative des italienischen Kaufmanns Stefano Turchetti, der sich in Lyon unter dem Namen Étienne Turquet niedergelassen hatte und den Plan verwirklichte, in Zusammenarbeit mit der AumôneGénérale eine nennenswerte Seidenindustrie in Lyon aufzubauen. Mit einer städtischen Unterstützung von 500 écus lockte er ab 1536 italienische Seidenarbeiter und -unternehmer in die Stadt an der Rhone an. Die Aumône-Générale mietete Werkstätten an und bezahlte italienische Seidenspuler und Seidenzwirner, damit diese dort den Mädchen der Waisenheime und den Töchtern armer Familien die Grundlagen ihrer Arbeit beibrachten. Sobald die Mädchen den Beruf erlernt hatten, wurden sie von den Seidenunternehmern von Lyon eingestellt, mit denen die Aumône-Générale kooperierte. Eine ähnliche Zusammenarbeit wurde mit der ebenfalls aus Italien eingeführten Baumwollindustrie organisiert.12 Der Aufbau dieser neuen Textilindustrien war in Lyon bewusst als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Arme und somit als ein Mittel der Armutsbekämpfung gedacht. Étienne Turquet wirkte – als Textilunternehmer – als ein Experte für Gewerbepolitik, aber auch – als Berater und später als Rektor der AumôneGénérale – als ein Experte für städtische Armenfürsorge. In Bologna wurde ab den 1560er Jahren ein ähnliches Armenfürsorgesystem wie in Lyon eingeführt, bei dem der Seidenindustrie ebenfalls eine wichtige Rolle zukam. 1563 wurde die Opera Pia dei Poveri Mendicanti gegründet und unter die Aufsicht der Assunteria del Pavaglione gestellt, dem städtischen Amt, das für den Seidenraupenmarkt und die Textilindustrie im Allgemeinen zuständig war. Alle Armen, die auf Almosen angewiesen waren, wurden in einem ehemaligen Kloster außerhalb der Stadt untergebracht. Die jungen Männer wurden möglichst in Lehrlingsstellen untergebracht. Die Frauen verrichteten hingegen im Armenheim einfache Arbeiten im Textilbereich, vor allem für die florierende Seidenindustrie: Sie rollten die Seidenraupenkokons zu Rohseide aus, zwirnten die Fäden und webten Seidenschleier.13 Besonders das Ausrollen der Kokons benötigte von Mai bis Juli viel Arbeitskraft in großen, gut beleuchteten Räumen, für die sich die Armenhäuser und Mädchenheime anboten. Auch die Bewohnerinnen der Mädchenheime arbeiteten für die Seiden­indus­ trie, sogar noch intensiver als die unbeständigeren Bewohnerinnen des Armenhauses. Die Mädchen aus dem Waisenhaus von Santa Maria del B ­ araccano waren motivierter, da sie mit der Seidenarbeit ihre Mitgift finanzierten, und deswegen produktiver.14 Dies gilt auch für das Hospital von Santa  Croce, das am Anfang des 17.  Jahrhunderts von Bonifacio dalle Balle, einem frommen 12 Ebd., S. 43. 13 Terpstra, Cultures of Charity (wie Anm. 8), S. 177–178. 14 So erklärt Terpstra die viel höhere Produktivität der Waisenmädchen im Vergleich zu den Frauen des Armenheims: Die letzteren deckten nur 6,5 Prozent der Einnahmen des Heims mit ihrer Arbeit, die Waisenmädchen des Baraccano hingegen 17,8 Prozent (Ebd.).

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Mitglied einer Seidenunternehmerfamilie, für die Töchter von Prostituierten gegründet wurde.15 Auch in Florenz waren die Seidenunternehmer direkt an karitativen Werken beteiligt. Die Insassen des größten Waisenhauses der Stadt, der Pietà, verrichteten intensive Seidenarbeit, die in den 1570er Jahren bis zu zwei Drittel der Einnahmen des Hospitals darstellte.16 Die Seidenzunft öffnete 1445 sogar ein eigenes Waisenhaus, das Ospedale degli Innocenti. Die älteren Mädchen erlernten ab 1457 das Spulen, Spinnen und Weben, damit sie dann für die Seidenindustrie arbeiten konnten. Ab den 1550er Jahren wurde dort sogar eine Werkstatt für­ Tapisserie und Brokat eröffnet.17 Dabei deckte die Arbeit der Mädchen – ähnlich wie in Bologna – nur einen Bruchteil der Kosten für das Hospital ab, das somit immer noch auf die großzügigen Spenden der Seidenzunft und ihrer Mitglieder angewiesen war. Das Betreiben einer solchen Institution war also kein alleiniger Gewinn für die Textilunternehmer. Trotzdem bedeutete diese Neuorganisation der Almosenvergabe eine ›WinWin‹-Situation: Diese neue Form von Armenfürsorge war nicht nur gut für die Seele des Spenders, sondern auch nützlich für die Wirtschaft. Dahinter stand die Idee, dass die Einstellung von Lohnarbeitern eine gesellschaftlich nützliche, ja karitative Aktion war. Diese Idee findet man bereits lange vor der Einrichtung von Armenhäusern. II . Die Verbreitung der Lohnarbeit in der Textilindustrie

seit dem 13. Jahrhundert Bisher war stets die Rede von Seidenproduzenten und nicht von Seidenhändlern, obwohl diese sich etwa in Bologna selbst als »mercatores sirici« bezeichneten.18 Insofern scheint eine analytische Unterscheidung zwischen Textilhändler und -unternehmer sinnvoll. Hierzu wird ein enger Unternehmerbegriff in Analogie mit den Industrieunternehmern der Neuzeit verwendet: Die Unternehmen, 15 Ders., Working the Cocoon: Gendered Charitable Enclosures and the Silk Industry in Early Modern Europe, in: Kim Kippen/Lori Woods (Hg.), Worth and Repute. Valuing Gender in Late Medieval and Early Modern Europe. Essays in Honour of Barbara Todd. Toronto 2011, S. 39–72, hier 51. 16 Terpstra, Cultures of Charity (wie Anm. 8), S. 182; Siehe auch Ders., Abandoned Children of the Italian Renaissance. Orphan Care in Florence and Bologna. Baltimore 2005, S. 123–136, 289–292. 17 Ders., Working the Cocoon (wie Anm. 15), S. 55. 18 In den Estimi von 1385 werden viele Mitglieder der Seidenzunft »mercator sirici« benannt: Archivio di Stato di Bologna, Ufficio dei riformatori degli estimi, estimi, serie I, Bd. 9, 4r, 5r, 8r, 8b, 14r. Die Mitglieder der Seidenzunft bezeichnen sich in ihren eigenen Statuten sogar schlicht als »mercatores«: Paolo Montanari (Hg.), Il piu antico statuto dell’Arte della seta bolognese (1372), in: L’Archiginnasio 53/54, 1958/1959, S.  104–159, hier insbesondere 120, 127.

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die sie leiteten, produzierten Waren für den Markt, die von eingestellten oder ausgelagerten Lohnarbeitern hergestellt wurden. Die Forschung hat bereits erkannt, dass die gewerbliche Textilproduktion im Spätmittelalter zum großen Teil  im Verlagssystem oder  – anders formuliert  – wie eine dezentrale beziehungsweise teilzentrierte Manufaktur funktionierte.19 Allerdings werden zugleich oft die Rollen des Fernhändlers und des Textilunternehmers in der Figur des Frühkapitalisten verschmolzen, in Anlehnung an berühmte Großkaufleute wie die Medici oder die Fugger, die ihr Kapital sowohl im Textilgewerbe als auch im Fernhandel sowie im Bankgeschäft investierten.20 Diese Verwechselung der beiden Rollen führt zu Vereinfachungen.21 Die klassischen Studien von Henri Pirenne22 und Georges Espinas23 über die flämische Wolltuchindustrie haben dazu beigetragen, diese Idee zu verbreiten. Die Verschmelzung der Figur des Textilunternehmers und des Kaufmannes im Kaufmannsunternehmer, der im internationalen Rohwoll- und Wolltuchhandel tätig war, ist allerdings gerade für Flandern regelmäßig in Frage gestellt worden.24 Ebenso ist in der Florentiner Wolltuchindustrie eine Trennung der Wolltuchproduzenten und der Fernhändler erkannt worden: Auch wenn manche Großkaufleute in der Wollzunft 19 Rudolf Holbach, Frühformen von Verlag und Großbetrieb in der gewerblichen Produktion (13.–16. Jahrhundert). Stuttgart 1994. 20 Raymond De Roover, The Rise and Decline of the Medici Bank. 1397–1494. (Harvard Studies in Business History, 21) Cambridge, Mass. 1963; Mark Häberlein, Die Fugger. Geschichte einer Augsburger Familie (1367–1650). Stuttgart 2006. 21 Vorwiegend in der französischsprachigen Literatur ist der Begriff »marchand-entrepreneur« verbreitet. Siehe u. a. Jean-Louis Roch, Un autre monde du travail. La draperie en Normandie au Moyen Âge. Mont-Saint-Aignan 2013, S. 110; Jacqueline Guiral-­Hadziiossif, Valence, port méditerranéen au XVe siècle. 1410–1525. Paris 1986, S. 431. Die Figur des Kaufmann-Unternehmers hat einen wichtigen Platz im Narrativ des Aufstiegs des Kapitalismus und ist deswegen in der marxistisch angefärbten Sozialgeschichte der 1970er Jahre in Deutschland präsent. Volker Hunecke, Il tumulto dei Ciompi. 600 Jahre danach. Bemerkungen zum Forschungsstand, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 58, 1978, S. 360–410, hier 375, spricht vom Kaufmann-Unternehmer-Verleger für die italienischen Textilunternehmer des Spätmittelalters. 22 Henri Pirenne, Geschichte Belgiens, Bd. 1. Bis zum Anfang des 14. Jahrhunderts. Gotha 1899, insbesondere S. 304 f. 23 Georges Espinas, Les origines du capitalisme, Bd. 1: Sire Jehan Boinebroke. Patricien et drapier douaisien (?–1286 environ). (Bibliothèque de la Société d’Histoire du Droit des Pays Flamands, Picards et Wallons, 7) Lille 1933. 24 Hans van Werveke, De koopman-ondernemer en de ondernemer in de Vlaamsche lakennijverheid van de middeleeuwen. Antwerpen 1946, S. 23 f.; Alain Derville, Les draperies flamandes et artésiennes vers 1250–1350, in: Revue du Nord 54, 1972, S. 353–370. Siehe auch das Gegenbeispiel einer Figur, die die zwei Funktionen verband: Peter Stabel, Entre commerce international et économie locale. Le monde financier de Wouter Ameide­ (Bruges fin XVe – début XVIe siècle), in: Marc Boone/Walter Prevenier (Hg.), Finances publiques et finances privées au bas Moyen Âge. Actes du colloque tenu à Gand les 5 et 6 Mai 1995. (Studies in urban social, economic and political History of the medieval and modern Low Countries, 4) Leuven 1996, S. 75–99.

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eingeschrieben waren und in Wolltuchwerkstätten investierten25, wurden diese Werkstätten von spezialisierten Unternehmern – den lanaioli – betrieben.26 Abgesehen von der Frage, ob es Unternehmer gab, die beide Aktivitäten gleichzeitig ausübten, ist zu beachten, dass beide Berufe unterschiedlichen Logiken folgten, die sich nicht zwangsläufig überschnitten. Den besten Beweis liefern uns die Florentiner Traktate für Händler und Textilunternehmer. In der »Pratica dell’Arte della Mercatura« (um 1340) des Florentiner Kaufmanns ­Francesco Pegolloti findet man für jeden wichtigen Umschlagplatz  – von Alexandria bis Brügge  – eine Aufzählung der wichtigsten Informationen für Händler wie: Wechselkurse, Zollregeln sowie die üblichen Maßeinheiten und Kaufpreise verschiedener Waren unterschiedlicher Herkunft.27 Ein »Trattato dell’Arte della Lana« und ein »Trattato dell’Arte della Seta« wurden ebenfalls in Florenz im 15. Jahrhundert geschrieben.28 Darin wird nirgendwo auf die Vermarktung der Tuche hingewiesen.29 Die Details, die die Textilunternehmer interessieren, sind anderer Natur: Es geht um die technischen Verfahren für jede Arbeitsphase, um die Länge, die Breite und das Gewicht der Fäden und Tuche sowie um den Lohn für die Arbeiter.30 Der idealtypische Textilunternehmer unterscheidet sich sowohl vom Fernhändler als auch vom Handwerker. Der idealtypische Fernhändler transportiert Waren und setzt diese in fernen Märkten ab. Er muss sich nicht auf eine 25 De Roover, Rise and Decline (wie Anm. 20), S. 167–187; Francesco Ammannati, Gli opifici lanieri di Francesco di Marco Datini, in: Giampiero Nigro (Hg.), Francesco di Marco­ Datini. L’uomo, il mercante. Firenze 2010, S. 497–524. 26 Gene Adam Brucker, The Ciompi Revolution, in: Nicolai Rubinstein (Hg.), Florentine Studies. Politics and Society in the Renaissance Florence. London 1968, S. 314–356, hier 319; Franco Franceschi, Oltre il »Tumulto«. I lavoratori fiorentini dell’arte della lana fra Tre e Quattrocento. (Biblioteca di storia toscana moderna e contemporanea, Studi e documenti, 38) Firenze 1993, S. 45. 27 Francesco Balducci Pegolotti, La Pratica della mercatura, hrsg. v. Allan Evans. Cambridge, Mass. 1936. 28 Beide Texte wurden in einem Codex in Florenz aus dem Jahr 1453 gefunden. Edition des Trattato dell’Arte della Lana, in: Alfred Doren, Studien aus der Florentiner Wirtschafts­ geschichte, Bd. 1. Die Florentiner Wollentuchindustrie vom vierzehnten bis zum sechzehnten Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte des modernen Kapitalismus. Stuttgart 1901, S. 484–493. Edition des Trattato dell’Arte della Seta in: Girolamo Gargiolli (Hg.), L’Arte della seta in Firenze. Firenze 1868, S. 3–125. 29 Im Trattato dell’Arte della lana wird auf eine unterschiedliche Faltmethode hingewiesen, je nachdem, ob das Tuch in Florenz verkauft wird oder für den Fernhandel vorgesehen ist. Dann wird es »o alla borsella, o alla borsellina« gefaltet, und zwar für diverse Zielorte, an denen die Kaufleute das Tuch absetzen wollten (»o per napoli, o per genova, o per roma, o per vinegia, o per pisa, o per perugia, o per catalogna, o per ragusia o dove vogliono e mercatanti«). Der Fernhändler wird also als eine Person dargestellt, die unabhängig vom Textilunternehmer entscheidet, wohin er die Tuche schickt. Doren, Die Florentiner Wollentuchindustrie (wie Anm. 28), S. 492. 30 Zum Lohn der Arbeiter siehe Gargiolli, L’arte della seta (wie Anm. 28), S. 75 (»Pregi si danno alle Maestre dell’incannare e dello addoppiare«), S. 77 (»Pregi del torcere e del filare le sete«).

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besondere Art von Waren festlegen und benötigt kaum eigene Beschäftigte. Dagegen arbeitet der idealtypische Handwerker hauptsächlich eigenständig und verrichtet alle Phasen seiner Arbeit selbst: Die wenigen Mitarbeiter, die er unter Umständen beschäftigt, machen dieselbe Arbeit wie er; sie sind nicht auf eine Arbeitsphase spezialisiert. Der Textilunternehmer kann hingegen nicht alle Phasen der Textilarbeit selbst erledigen, er koordiniert vielmehr die Arbeitsphasen und beschäftigt dafür unterschiedliche Facharbeiter. Die Besonderheit des Textilunternehmers liegt also darin, dass er Arbeit gibt. In anderen produktiven Sektoren, die viele Lohnarbeiter benötigten, wie etwa im Bau- und Bergbau­ gewerbe, waren die Figur des privaten Unternehmers und die Arbeitsteilung mit spezialisierten Facharbeitern weniger verbreitet.31 Die Lohnarbeiter des Spätmittelalters können allerdings keineswegs mit den Angestellten unserer Zeit gleichgesetzt werden. Im Spätmittelalter existierte eine Vielfalt von Lohnverhältnissen und die Grenze zwischen Lohnarbeit und (Sub-)Unternehmertum erscheint aus heutiger Sicht oft fließend. Die damaligen Lohnarbeiter konnten in der Werkstatt des Arbeitgebers, aber auch in der eigenen Werkstatt oder zu Hause arbeiten. Sie konnten sowohl nach Zeitlohn als auch nach Stücklohn bezahlt werden. Vor allem aber wechselten sie häufig den Arbeitgeber und erhielten in der Regel für jeden Auftrag einen Arbeitsvertrag. Trotzdem gelten die meisten Textilarbeiter des Spätmittelalters als Lohnarbeiter und Arbeitnehmer, da sie den Unternehmern ihre reine Arbeitskraft verkauften. Die Rolle des Textilunternehmers als Arbeitgeber wird durch die vergleichsweise große Anzahl von Beschäftigten belegt, selbst wenn das Beschäftigungsverhältnis von kurzer Dauer sein konnte. Das von Francesco Datini finanzierte und von den Tuchmachern Francesco di Marco und Agnelo di Nicolò geführte Wolltuchunternehmen aus Prato gab zwischen 1395 und 1400 etwa 1000 Personen Arbeit.32 Das Florentiner Seidenunternehmen von Andrea ­Bianchi beschäftigte 1460 etwa  100 Arbeiter, darunter um die 30 Spulerinnen, ebenso viele Weber, sechs Spinnerinnen, fünf Seidenzwirner, drei Färber und sieben Beschäftigte in der Zentralwerkstatt.33 Diese Beispiele aus der toskanischen Wollindustrie des 14. und 15. Jahrhunderts sind bekannt. Weniger bekannt ist, dass die Lohnarbeit sich bereits im Textilgewerbe im 13. Jahrhundert etabliert hatte, auch abseits des großen Kapitals und der durch Fernhandel abgesetzten Großproduktion. Die bescheidenen Seidenmacher und Goldspinner von Genua stellten 1257 immerhin bis zu zehn Lohnarbeiter ein, viel mehr als andere Handwerker.34 31 Zur Lohnarbeit in diesen beiden Wirtschaftssektoren siehe Philippe Braunstein, Travail et entreprise au Moyen Âge. Bruxelles 2003, S. 253–259, 404–414. 32 Ammannati, Gli opifici lanieri (wie Anm. 25), S. 503. 33 Florence Edler de Roover, Andrea Banchi setaiolo fiorentino, in: Archivio Storico Italiano 150, 1992, S. 878–963, hier 927. 34 Giovanna Petti Balbi, Apprendisti  e artigiani  a Genova nel 1257, in: Atti della Società­ Ligure di Storia Patria, nuova serie 20,2, 1980, S. 135–170, insbesondere S. 143 f.

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Die Bologneser Zunftstatuten aus dem 13. Jahrhundert zeigen, dass die Beschäftigung von Lohnarbeitern selbstverständlich für alle, selbst die minderwertigen Textilgewerbe der Stadt, geworden war. Nicht nur die Meister der­ Bombasari (Baumwollzunft)35 oder die Hersteller von feinen Wolltuchen aus der Zunft der Lana Gentile36, sondern auch die Meister der Zunft der Lana Bisella, also die Erzeuger von rauen, ungefärbten Woll- oder sogar Halbwolltuchen für den lokalen Markt, stellten viele Lohnarbeiter ein. Die Statuten der Zunft der Lana ­Bisella erwähnen beispielsweise Wollschläger, Wollkämmerer, Wollkratzerinnen, Spinnerinnen, Weber und andere »laboratores«.37 Die übliche An­ drohung für Arbeiter, die schlecht arbeiteten oder gegen die Regeln der Zunft verstießen, war das Arbeitsverbot: Kein Meister durfte solchen illoyalen laboratores Arbeit geben.38 35 Die Statuten aus dem Jahr 1288 enthalten bereits die üblichen Verbote für Arbeiter, für mehrere Meister gleichzeitig zu arbeiten. Wer dagegen verstieß, durfte für sechs Monaten keine Arbeit mehr erhalten: »Ad hoc ut laboratores non decipiant magistros, statuimus et ordinamus quod nullus magister dare debeat ad laborandum nec permittere laborare in sua domo aut tela aliquem laboratorem, nisi prius compleverit telam alieni magistri quam inceperit et cum eo fuerit in concordia de omnibus rationibus habitis inter eos arbitrio ministralium. et qui contra fecerit, […] ille laborator deinde ad sex menses illi magistro non debeat laborare.« (Augusto Gaudenzi (Hg.), Statuti delle Società del Popolo di Bologna, Bd. 2: Società delle Arti. (Fonti per la storia d’Italia, 4) Roma 1896, S. 404). Allgemein darf kein Zunftmitglied jemandem, der von der Zunft verbannt worden ist, Arbeit geben (»Quod nullus debeat sibi laborare nec dare ad laborandum aliquid quod spectet ad artem«, Ebd., S. 405). 36 Die Statuten aus dem Jahr 1256 enthalten  – ähnlich wie bei der Baumwollzunft  – das Verbot für einen Weber oder einen anderen Lohnarbeiter (laborator), woanders arbeiten zu gehen, bevor er seine Arbeit bei einem Meister beendet hat. Ebd., S. 307 für Weber (texarios), S. 316 für alle Arbeiter: »Statuimus quod omnes laboratores, tam petinatores et tonditores boldronum vel pellium, ex quo inceperint laboreria que conveniunt facere hominibus de misterio, non debeant se a dicto opere separare sine licentia domini cui ­promiserit laborare, nisi compleverit laborerium totum, in banno .V. sol. bon.; et nullus de arte debeat sibi dare ad laborandum«. Dafür darf kein Meister einen Lohnarbeiter abhalten, Arbeit woanders zu finden, wenn dieser seine Arbeit beendet hat (Ebd., S. 308). Wenn ein Arbeiter Werkstoff stehlen würde, dürfe ihm niemand Arbeit geben: »Statuimus quod, si quis laborator esset furatus aliquid, quod nullus det ei ad laborandum, et sit in banno positus, de quo exire non possit« (Ebd., S. 300). 37 Die Meister hatten Angst, dass Lohnarbeiter Rohstoffe für sich behielten: »Ad hoc, ut lane non sutrahantur nec accipiantur illis qui faciunt laborare bixellos, statuimus et ordinamus quod aliquis batarius, nec petenarius, nec graminatris, nec aliquis alius laborator artis Lane bixelle debeat nec presumat aliquam lanam accipere, nec aliquod furtum in ipsa arte committere; et nullus texarius aut filera, nec alius laborator presumat de lanis sibi datis aliquid occultare vel retinere penes se, quin integre restituat domino lane« (Ebd., S. 383 f.). 38 Siehe Anm. 36, 37 und für die lana bisella ebd., S. 375: »Aliquis texator vel texatris non debeat ponere ante se laborare, nec laborari facere, seu texere aliquam telam minorem. XXIII . portatis. […] si contrafactum fuerit […] aliquis de societate […] non debeat ei dare aliquid ad laborandum.« Interessant ist in diesem Zitat auch die Möglichkeit für die­ Weber, ebenfalls Lohnarbeiter einzustellen.

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Die wiederholte Erwähnung von speziellen Facharbeitern, die für die Textilunternehmer für Lohn arbeiteten und das Zunftrecht nicht erhalten durften, kontrastiert mit der Erwähnung von Lehrlingen und Gesellen – die auf keine besondere Aufgabe spezialisiert waren und auf die Dauer Meister werden sollten39  – in den Statuten der anderen Handwerkerzünfte. Beispielsweise durfte kein Schmied länger als vier Monate für Lohn bei einem anderen Schmied arbeiten, ohne der Zunft beizutreten.40 Selbst die Zimmerleute, die oft auf Baustellen für Lohn arbeiteten, durften gegebenenfalls nur Meister derselben Zunft einstellen und keine subalternen Lohnarbeiter wie im Textilbereich.41 Auch die Baumwollzunft von Venedig war bereits im 13. Jahrhundert stark hierarchisch gegliedert42: Die eigentlichen Meister, also die Textilunternehmer, wählten fünf Vertreter und die Baumwollschläger, die ebenfalls in die Zunft eintreten sollten, zwei Vertreter.43 Die Schläger waren aber nur als Lohnarbeiter eines Meisters vorgesehen, genauso wie die Weber und die Spinnerinnen, die keine Zunftmitgliedschaft beanspruchen durften.44 Die Idee des dauerhaften Lohnarbeiters und der breiten Lohnarbeitermasse wurde durch die Realität des Textilgewerbes bedingt, aber auch von den Textilunternehmern bereits im 13. Jahrhundert gedacht und konzeptualisiert. Mit der Figur des Lohnarbeiters wurde gleichzeitig die Idee des ›Arbeitgebens‹ in den gängigen Wirtschaftsdiskurs mit einbezogen. Damit wurde das Feld vorbereitet, um das Bereitstellen und Versichern von Arbeitsstellen als Ernährungsmaßnahme einer breiten Bevölkerung präsentieren zu können. Die Bologneser Seidenunternehmer, die erst im Lauf des 14. Jahrhunderts eine Zunft bildeten und ähnliche Lohnverhältnisse mit ihren 39 Diejenigen, die zehn Jahre lang als Messerhersteller gearbeitet hatten, sollten der Zunft beitreten (Ebd., S. 416). 40 Ebd., S. 219. 41 Ebd., S. 202, 211 (»Quod nullus magister sotietatis laboret cum aliquo magistro qui non sit de sotietate in civitate.«), S. 212. 42 Die ersten Statuten der Zunft stammen aus der Zeit vor 1278, wahrscheinlich von 1275. Edition: Giovanni Monticolo, (Hg.), I capitolari delle Arti Veneziane sottoposte alla giustizia e poi alla giustizia vecchia dalle origini al 1330, 3 Bde., 1896–1914, Bd. 2.1. (Fonti per la storia d’Italia, 27) Roma 1905, S. 535 f. 43 Ebd., S. 542–545. 44 Für die Schläger ebd., S. 545: »Quod aliquis batitor se non debeat dividere a su magistro causa eundi ad laborandum cum aliquo alio magistro nisi prius solverit id quod dare debet dicto suo magistro et si non esset secum concors, sub pena novem grossos, et quod­ aliquis ei dare ad laborandum non audeat, sub pena predicta.« Für die Weber ebd.: »Si erit aliquis texator aut laborator qui furatus fuerit vel ordinaverit malum artis, debeat expelli de arte, et nullus magistrorum debeat ei dare ad laborandum.« Für die Spinnerinnen ebd., S. 561 f.: »Statuimus quod a modo in antea nulla femina, tam Veneta quam forinseca, que filet banbacium pro precio, non audeat habere in domo sua insimul plus librarum XXV. de banbacio causa filandi ipsum.« Der gastaldio und die Richter der Baumwollzunft haben rechtliche Gewalt über die Spinnerinnen in Fragen des Gewerbes, auch wenn diese keine Zunftmitglieder sind.

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Arbeitern pflegten45, benutzten diese Argumentation der Seidenindustrie als Ernährerin der städtischen Bevölkerung bereits in einer Bittschrift von 1343: »Ihr wisst, unser Gewerbe ist groß in Bologna, so dass viele Leute sich davon ernähren«46, und weiter: »Um die Arbeit zu multiplizieren, haben wir in Bologna große Aufwendungen erbracht, so dass die Arbeit gewachsen ist und sich vervielfacht hat.«47 Sie bekräftigten schließlich, Kaufleute wie sie wüssten besser als andere, welche Politik gut für eine blühende städtische Wirtschaft sei und inszenierten sich damit als Wirtschaftsexperten.48 Die Industrie ernährt die Leute, so lautete die Botschaft. Das Lohnarbeitsverhältnis setzt tatsächlich voraus, dass die Arbeitnehmer auf die Arbeitgeber angewiesen sind, um sich zu ernähren. Nicht mehr das Arbeiten an sich, sondern das ›Arbeitgeben‹ ernährt den Lohnarbeiter. Somit vollzieht sich eine Umkehrung des feudalen Vorstellungssystems, das den Stand der laboratores als Ernährer der ganzen Gesellschaft darstellte. Man denke an das Gedicht von Adalbero von Laon (gest. 1030), nach dem der Herr von seinem Knecht ernährt wird, während er meint, den Knecht zu ernähren (pascere).49 Diese Behauptung wurde schon damals von Adalbero als Paradox formuliert, entsprach aber auch der Aufrechnungslogik zwischen Grundherr und Bauer: Der Leibeigene oder Hörige wurde von seinem Herrn nicht bezahlt, sondern umgekehrt bezahlte er ihm mit Zinsabgaben und Frondienst den Schutz und das Anrecht auf die Benutzung seines Hofes.50

45 Montanari, Il piu antico statuto (wie Anm. 18). 46 Giovanni Livi, I mercanti di seta lucchesi in Bologna, in: Archivio Storico Italiano 4,7, 1881, S. 5–55, hier 41: »Lo nostro mistieri è molto grande in Bologna, chome potete sapere, che molta gente se ne notricha, et fanno utile per lo nostro mistieri.« 47 Ebd., S.  42: »Per moltiplicare il lavoro in Bologna avemo fatto maggiore paghamento, e peròe c’è chosìe cresciuto et multiplicato lo lavorare.« 48 Ebd.: »E non guardate al dire di choloro che vi informano male, che in veritade elli non vi amano, et non amano lo buono stato di questa cittade. Quando si pone la tagla alla chosa convenivile dèsi seguire quella. E sempre si dovrebbeno agevilare li merchatanti e dare loro chagione di bene fare.« 49 G. A. Hückel (Hg.), Les poèmes satiriques d’Adalbéron, in: Bibliothèque de la Faculté des Lettres de l’Université de Paris 13, 1901, S. 49–167, hier 155: »Seruorum Studium, cursus, tantosque labores? / Tesaurus, vestis, cunctis sunt pascua servi; / Nam valet ingenuus sine servis vivere nullus. / Cum labor occurrit, sumptus et habere perobtant, / Rex et pontifices seruis seruire videntur. / Pascitur a servo dominus quem pascere sperat.« Siehe Otto Gerhard Oexle, Die funktionale Dreiteilung der »Gesellschaft« bei Adalbero von Laon. Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im früheren Mittelalter. (Frühmittelalterliche Studien 12) 1978, S. 1–54, hier 30 f. 50 Für eine Synthese der ›feudalen‹ wirtschaftlichen Verhältnisse siehe Ludolf Kuchenbuch/Bernd Michael, Zur Struktur und Dynamik der ›feudalen‹ Produktionsweise im vorindustriellen Europa, in: Dies. (Hg.), Feudalismus. Materialien zur Theorie und Geschichte. Frankfurt am Main 1977, S.  693–761. Siehe auch die zahlreichen Quellenbeispiele in Ludolf Kuchenbuch, Grundherrschaft im früheren Mittelalter. Idstein 1991.

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Für Adalbero von Laon ernährten die Arbeiter nicht nur ihre Herren, sondern alle, die nicht arbeiteten, Krieger sowie Kleriker.51 Diese Idee war dem Anschein nach weit verbreitet. So behauptet der englische Mönch Aelfric zur selben Zeit, der Ordo der laboratores erwerbe für die ganze Gesellschaft den Lebensunterhalt und sei genauso wichtig wie die anderen beiden Stände.52 Auch nach Abbo von Fleury (gest. 1004) arbeiteten die Bauern, um dem Kirchenvolk den Unterhalt zu gewährleisten (sustentatur).53 Diese Annahme wurde nun im 14. Jahrhundert wieder umgekehrt, wie die Bittschrift der Seidenunternehmer aus Bologna verdeutlicht: Die Arbeiter ernähren nicht mehr die Gesellschaft, sondern die Unternehmer und deren Investitionen ernähren die Arbeiter. Diese Umdeutung wurde möglich, weil die neuen Herren nicht zu den Feudalherren zählten, sondern zu den Produzenten selbst. Ähnlich wie die Bauern waren die Textilunternehmer dafür zuständig, konkrete Erzeugnisse für den Unterhalt der Allgemeinheit zu schaffen. Die Lohnzahlung an die Arbeiter bildete nur einen Vorschuss auf den zu erwartenden Profit aus dem Verkauf des Endproduktes.54 Diese Umkehrung ergibt sich aus der andersartigen Lesart einiger Worte. Die laboratores etwa bezeichnen nicht mehr alle Bauern und Handwerker, sondern allein die Lohnarbeiter, die Arbeitnehmer. In den Statuten der Textilzünfte werden nur die Arbeitnehmer als laboratores oder laborantes genannt, nicht die Arbeitgeber.55 Auch das semantische Feld für Unterhalt und Ernähren wird um­gedreht. Im Bologneser kommunalen Statut aus dem Jahr 1335 wird 51 Oexle, Die funktionale Dreiteilung (wie Anm. 49), S. 25–29. 52 »Suspicor non latere almitatem tuam tres ordines fore in ecclesia Dei: laboratores, bellatores, oratores. Ordo laboratorum adquirit nobis uictum.« (Bernhard Fehr (Hg.), Die­ Hirtenbriefe Aelfrics in altenglischer und lateinischer Fassung. (Bibliothek der angelsächsischen Prosa, 9) Hamburg 1914, S. 225). 53 »Agricolae, quidem insudant agriculturae et diversis artibus in opere rustico, unde sustentatur totius Ecclesiae multitudo« (Abbo von Fleury, Liber apologeticus, in Patrologia latina, hrsg. v. Jean-Paul Migne, Bd. 139. Paris 1853, Sp. 461–472, hier 464). 54 Mathieu Arnoux erkennt diese Eigenschaft des Lohnverhältnisses in der spätmittelalterlichen Tuchindustrie: »Ici [dans l’industrie drapière], ce n’est pas seulement la rétribution monétaire d’une activité manuelle de transformation de la matière première qui caractérise le salaire, mais aussi le fait que l’employeur verse cette compensation par anticipation du profit escompté de la vente du produit. Le rapport entre l’ouvrier et son patron s’inscrit ici, pour l’un comme pour l’autre, dans le circuit d’une économie de marché où le premier pourra subvenir à ses besoins par son salaire tandis que le second rentrera dans ses frais par la mise en vente du produit fini.« (Mathieu Arnoux, Relation salariale et temps du travail dans l’industrie médiévale, in: Moyen Age 115, 2009, S. 557–581, hier 562). 55 Im Statut der Wollzunft von Florenz aus den Jahren 1317–1319 ist die Unterscheidung zwischen Arbeitnehmer (laborans oder operator) und Arbeitgeber (magister oder artifex) klar formuliert: »Quicumque factor, discipulus, battitor, pettinator, vel petinatrix, vel alii laborantes aut operatores artis lane, receperit  a suo magistro vel artifice pecuniam aut pretium mutui, spe et intentu satisfaciendi« (Anna M. Agnoletti (Hg.), Statuto dell’arte della lana di Firenze (1317–1319), Firenze 1940, S. 147–148). Siehe andere Beispiele in Anm. 35–37 und 46.

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behauptet, dass 4000 Personen aus der Stadt und dem Contado im Baumwollgewerbe beschäftigt seien und von dieser Arbeit lebten (de laboreriis vivant).56 Die wahrscheinlich übertriebene Anzahl von Arbeitern und die Aufzählung der verschiedenen Berufe heben die soziale Bedeutung der Industrie hervor.57 Dieselben Statuten kommentieren ebenfalls das Seidengewerbe in einem Paragrafen, der auch in den ersten überlieferten Statuten der Bologneser Seidenzunft aus dem Jahr 1372 zitiert wird, und sind dabei sogar expliziter, was die soziale Rolle der Seidenindustrie angeht. Die Kommune und das Volk von Bologna hätten bisher großen Nutzen aus dem Seidengewerbe gezogen. Vor allem die Armen würden durch ihre Arbeit im Seidengewerbe ihren Lebensunterhalt erzielen. Deswegen sei es wichtig, das Gewerbe aufrechtzuerhalten und auszubauen, da es sich seit einer gewissen Zeit in der Stadt vervielfacht habe und hoffentlich in der Zukunft noch wachsen werde.58 Hier wird offiziell festgehalten, die Textilindustrie ernähre die Armen, indem sie ihnen Arbeit gebe. Deswegen lohne es sich, diese Industrie aufrechtzuerhalten, um die Beschäftigung der Armen sicherzustellen. Nicht alle Textilarbeiter konnten als Arme bezeichnet werden. Gerade in der Seidenindustrie genossen qualifizierte Arbeiter wie Färber oder Samtweber einen gewissen Wohlstand.59 Der Anteil von Textilarbeitern war zum Beispiel unter den Bedürftigen in Florenz wider Erwarten nicht besonders groß.60 Trotz56 Anna Laura Trombetti Budriesi, Statuto di Bologna dell’anno 1335, Bd. 2. (Fonti per la storia dell’Italia medievale, Antiquitates, 28) Roma 2008, S. 872, VIII, § 229: »Cum hoc sit quod cum quatuor millia personarum in civitate et districtu Bononie artem bambucinis seu ipsius artis menbrum aliquid operantur et vivant de laboreriis ad ipsam artem spectantibus.« 57 Ebd., S. 873 f.: »Tam tinctores, batarii, tesarii, texarie, fillerie, garçatores, sfereçatores, coronatores, cimatores, lavatores, curatores, tortetrices, et ordentes telas tam alli […] qui dictam artem vel de dicta arte aliquid operantur vel faciunt vel facient seu fieri facient in fucturum.« 58 Ebd., S.  875, VIII, § 230; sowie Montanari, Il piu antico statuto (wie Anm.  18), S.  120: »Considerantes magnum honorem et utilitatem que provenit communi et populo Bononie et hominibus arcium et maxime pauperibus qui suis manibus et laboreriis victam trahunt et substentant de arte sete et sindonum que a certo tempore citra multiplicata est in civitate predicta et maiori haberi speratur verisimiliter in fucturum, si dicta ars manuteneatur et defendatur.« 59 Bruno Dini, L’industria serica in Italia. Secc. XIII–XV, in: Simonetta Cavaciocchi (Hg.), La seta in Europa sec. XIII–XX . Atti della Ventiquattresima Settimana di Studi, 4.–9. maggio 1992. Firenze 1993, S. 91–124, hier 114. 60 Am Anfang des 14. Jahrhunderts, also zur Zeit des Höhepunktes der Florentiner Wollindustrie, waren nur sechs Textilarbeiter unter den 37 Berufsbezeichnungen, die auf der Liste der Hilfeempfänger von Orsanmichele standen (vgl. John Henderson, Piety and Charity in Late Medieval Florence. Oxford 1994, S. 268). Für die Jahre 1412–1413 waren immerhin 25 Textilarbeiter unter 95 Berufsbezeichnungen (Ebd., S. 385–386). Allerdings fielen unter die Textilberufe nicht nur Berufe, die für Lohn ausgeübt wurden, sondern auch die wenigen Seiden- und Wollhändler sowie Hutmacher. Die Textilarbeiter waren also nicht stärker von Armut betroffen, als die Kleinhandwerker aus anderen Wirtschaftssektoren.

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dem heben die Verfasser der Bologneser Statuten die Rolle der Seidenindus­trie für die Beschäftigung der Armen hervor. Ähnlich werden in Siena die »vielen armen Arbeiter, die kontinuierlich aus der Wollindustrie ihren Unterhalt ziehen«, präsentiert.61 Für die Wollzunft von Venedig war diese Ideologie nicht nur eine oberflächliche Berechtigungsstrategie ihrer wirtschaftlichen Praktiken, sondern auch ein Grund, diese Praktiken selbst zu ändern: 1383 verbot sie das Spinnen von Wolle im Umland, um das Spinnen in der Stadt zu konzentrieren und somit den städtischen Armen mehr Arbeit zu verschaffen.62 Obwohl die Bauersfrauen ver­ mutlich für einen niedrigeren Lohn Wolle spannen, sollten die Armen in der Stadt bevorzugt werden. Diese Maßnahme zeigt, wie ernst die Zunft die soziale Funktion des Textilgewerbes nahm. Interessant ist die Definition des Armen, die sich hinter dieser Ideologie versteckt. Arbeiter, die durch ihre Arbeit versorgt werden, benötigen keine Al­ mosen, werden aber trotzdem als Arme benannt. Mit diesem erweiterten Armutsbegriff werden die Lohnarbeiter als glücklichere Arme, aber trotzdem als Arme bezeichnet, weil sie kein Vermögen und kein anderes Einkommen haben als ihren Lohn. Sollte der Lohn ausfallen, wären sie fast sofort von Almosen abhängig geworden. Die Institution der niedrig bezahlten Lohnarbeit rettete sie vor der Armut, konfrontierte sie aber gleichzeitig mit ständiger Armuts­ bedrohung. III . Rezeption und Kritik der Lohnarbeit Diese paradoxe Situation erregte seitens der weiteren Akteure, Kommentatoren und Experten des damaligen Wirtschaftslebens keineswegs Kritik oder alternative Vorschläge. Vielmehr wurde sie einfach akzeptiert: Die beste Lösung gegen die Armut der Lohnarbeiter sei die Sicherung der Lohnarbeit durch mehr Industrie. Es ist nicht überraschend, dass die Investoren der Textilbranche sich gerne als Helfer der Armen präsentierten und die karitative Wirkung der Textilindustrie betonten. Nach Raymond de Roover investierten viele Florentiner Großkaufleute in Textilwerkstätten, obwohl diese eine niedrigere Rendite als

61 Duccio Balestracci, Lavoro e povertà in Toscana alla fine del Medioevo, in: Studi storici 23, 1982, S. 565–582, hier 574: »Così, sono senza aggettivi considerate pauperes le ›multe persone‹ che  a Siena nel Trecento ›ex ministerio dicte artis [lanae] continue substententur‹.« Man beachte die gleiche Wortwahl (susteneri) wie bei Abbo von Fleury (siehe Anm. 53), diesmal im umgekehrten Kontext. 62 »[A]sserentes esse melius et utilius predicta Arte ac pro pauperibus personis civitatis nostre Veneciarum viventium de filando artem ipsam ac multiplicatione et augmento dicte Artis.« (Andrea Mozzato (Hg.) La Mariegola dell’arte della lana di Venezia, Bd. 1. Venezia 2002, S. 118).

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Fernhandel und Bankgeschäfte erzielten, sie aber damit Arbeit für die Armen schaffen konnten.63 Die Stadtverwaltungen selbst unterstützten die Textilindustrie aus sozialen Gründen, wie es die kommunalen Statuten von Bologna deutlich gemacht haben. Der Rat von Siena verpflichtete im 15. Jahrhundert die Vermögenden dazu, in die verfallende Wollindustrie zu investieren um Arbeitsplätze zu retten, obwohl diese Investitionen weitgehend unsicher und unrentabel waren.64 Eine indirekte Kritik der Lohnarbeit kam vom Klerus, insbesondere von Vertretern der Bettelorden. Der Pisaner Dominikaner Domenico Cavalca predigte in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, dass die ausfallende oder verspätete Lohnzahlung einem Betrug an den eigenen Lohnarbeitern gleichkomme und fast einen Mord darstelle, da die Arbeiter ohne Lohn an Armut sterben würden.65 Diese moralische Verurteilung offenbarte die dauerhafte Armutsbedrohung des Lohnarbeiters. Eine wirtschaftliche Alternative zur Lohnarbeit wird von Cavalca aber nicht angeboten. Es sei ausreichend, den Lohn rechtzeitig zu bezahlen. Der Dominikaner und Bischof Antonin von Florenz (1389–1459) kommentiert in seiner »Summa Theologica« den moralischen Wert zahlreicher konkreter Praktiken des Wirtschaftslebens und zeigt sich ebenfalls der Schwierigkeiten der Lohnarbeiter bewusst.66 Ihm ist bewusst, dass die Lohnarbeiter oft arm sind und mit ihrem Lohn ihre Familie unterhalten müssen. Deswegen verurteilt er den ungerechten Lohn und bedauert, dass gerade in der Textil­ industrie der Lohnarbeiter öfter seinen Lohn in Tuch anstatt in Geld ausbezahlt  bekommt.67 Er betrachtet die Lohnarbeit aber als normales Arbeitsver63 Roover, Rise and Decline (wie Anm. 20), S. 167: »It was a old tradition among Florentine families, even when they owned extensive landed estates, either to control or to manage a woll or silkshop in order to provide work to the ›poor‹.« 64 Balestracci, Lavoro e povertà (wie Anm. 61), S. 578; Sandra Tortoli, Per la storia della produzione laniera a Siena nel Trecento e nei primi anni del Quattrocento, in: Bullettino senese di storia patria, 82/83, 1976/1975, S. 220–238, hier 231 f. 65 Domenico Cavalca, Medicina del cuore, ovvero Trattato della pazienza di Fra Domenico Cavalca, hrsg. v. Giovanni Gaetano Bottari. Milano 1838, S. 54.: »Ingannare gli suoi operari perocchè è anche quasi uno micidio, in questo che quando l’uomo niega lo salario al lavoratore sì l’induce a morte per povertà, e fallo disperare e peccare per molta malinconia.« 66 Über Antoninus’ allgemeine Bewertung des gerechten Lohns, siehe Oreste Bazzichi, Dall’economia civile francescana all’economia capitalistica moderna. Una via all’umano e civile dell’economia. Roma 2015, S. 144. 67 Antoninus Florentinus, Sancti Antonini Summa Theologica. Summa theologica, 4 Bde., Nachdr. d. Ausg. Verona 1740, Graz 1959, Liber II, Titulus I, Cap. XVII, § VIII, Sp. 268–269: »Verum quia talia communiter inventa sunt ad decipiendum & opprimendum pauperes; ideo inducendi sunt setarioli, & retalieatores, quod abstineant a talibus, & ex factis hujusmodi fraudibus satisaciant laesis, vel pauperibus erogent, si non gravaverunt notabiliter textores. […] Sed de setariolis, & textoribus dictum est, quia hujosmodi multum Florentiae practicatur.«

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hältnis68 und kann daher nur an die moralische Pflicht appellieren, rechtzeitig den gerechten Lohn zu zahlen.69 Luca Landucci, ein Florentiner Apotheker, schreibt im Januar 1479 in seinem Tagebuch: »Diese Feiertage verbrachten die Bürger in Angst wegen des Krieges, wegen der Pest, wegen des päpstlichen Bannes, wegen Unruhen. Es sind die Bürger sehr eingeschüchtert und es ist keiner, der zu arbeiten Lust hat. Und die Armen finden keine Arbeit, weder in der Seide, noch in der Wolle, oder wenig, so dass Haupt und Glieder sich beklagen. Gott möge uns helfen!«70

Wieder treten die Armen als Arbeitssuchende in der Textilindustrie auf. Die schlechte Konjunktur, die die Lohnarbeiter ohne Lohn verhungern lässt, wird als Schicksalsschlag dargestellt, ähnlich wie Krieg oder Dürre. Auch für einen Florentiner Apotheker war es selbstverständlich, dass Arme als Lohnarbeiter in der Textilindustrie eingestellt wurden. Die Denkweise der Textilunternehmer hatte eine große Verbreitung erreicht. Die Forderungen der Ciompi in Florenz im Jahre 1378 zeigen, wie selbst die Lohnarbeiter in diesem System verhaftet waren. Die Ciompi stellten in ihren Petitionen nicht ihren Arbeitsstatus in Frage, forderten etwa keineswegs das Anrecht auf eigenes Unternehmertum. Vielmehr verlangten sie bessere Arbeitsbedingungen, eine bessere politische Vertretung, und vor allem einen höheren Lohn.71 Als die Wolltuchmacher als Reaktion ihre Werkstätten schlossen, baten die Ciompi verzweifelt darum, diese wieder zu öffnen. Sie waren sogar dazu bereit, verhaftete Tuchmacher aus dem Gefängnis zu holen, aber nicht dazu, selbst 68 Ebd., Liber III, Titulus III, Cap. I., § 7, Sp. 171: »Quarto debet dominus dare munus. Et primo quidem debitum, ut non faciat gratis artifices, vel agricolas pro se laborare, non dando eis mercedem suam, sicut faciunt hodie multi non domini vel officiales, sed tyranni & praedatores contra illud legis.« 69 Ebd., Liber II, Titulus I, Cap. XVII, § VII, Sp. 267–268: »Quarto in solutionis diminutione & tarditate sit fraus seu damnum, quando non solvitur laboranti pro opere suo termino debito: quod faciunt multi non tam ex impotentia, quam ex avaritia.« Antonin hat daher Verständnis für die Weber und Spinner, die die Produkte der Textilunternehmer für sich behielten, wenn diese ihnen den Lohn nicht oder zu in zu geringer Höhe zahlten: »Excusarentur tamen ipsi textores & alii in hac arte operarii, quando certi sunt de hoc, puta quia quum debeat dare 20. ex manifesta conventione, & non dat sibi nisi 10. nec potest aliter se juvare, accipiendo ab illo 10. sive de serico, quod pervenit ad manus ejus, sive de aliis rebus amotis scandalis, non tenetur illi, ne peccat.« (Liber III, Titulus VIII, cap. IV, Sp. 316). 70 Luca Landucci, Diario fiorentino dal 1450 al 1516, hrsg. v. Jodoco Del Badia. Firenze 1883, S. 30. Abgesehen von eigenen Änderungen, deutsche Übersetzung aus Ders., Ein florentinisches Tagebuch. 1450–1516 nebst einer anonymen Fortsetzung 1516–1542, hrsg. v.­ Marie Herzfeld, Nachdr. der Ausg. Jena 1912/13, Düsseldorf 1978, S. 47. Dieselbe Auffassung findet sich in weiteren Stellen des Tagebuches. Im Jahr 1495: »E poveri che vivono solo di manifatture si morrano di fame.« (Landucci, Diario fiorentino dal 1450 al 1516, S. 98). Im Jahr 1501: »E qui non si lavorava, e massime di seta, e massime e poveri stentavano e dolevansi.« (Ebd., S. 221). 71 Hunecke, Il tumulto dei Ciompi (wie Anm. 21), S. 397–398, 406.

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Werkstätten zu eröffnen.72 Dafür fehlten ihnen nicht nur das Kapital, sondern auch das Know-how und die Kontakte. Auch die Landstreicher und professionellen Bettler, die sich durch die Ablehnung der regulären Lohnarbeit definierten und sich als Randgruppe formierten, setzten der Ideologie der Lohnarbeit keinen gesamtgesellschaftlichen Alternativentwurf entgegen. Péchon de Ruby beschreibt die Landstreicher in seiner 1596 veröffentlichten »Vie généreuse des mercelots, gueuz et boesmiens« als eine Parallelgesellschaft mit eigenen Regeln und eigenem Jargon. Auch wenn er auf die Faszination des freiheitlichen Lebensstils anspielt, bezeichnet er ein solches Leben trotzdem als unmoralisch und verbrecherisch.73 Die Geschichten von Eulenspiegel, die im 16. Jahrhundert großen Erfolg genossen74, zeigen, wie die Lohnarbeiter aus ihrer ärmlichen Situation Nutzen ziehen und von der Flexibilität des Arbeitsverhältnisses profitieren konnten: Da Eulenspiegel ständig in fremde Städte wandert, kann er immer wieder die Meister verspotten und betrügen und sich trotzdem mit einem Umzug in eine neue Stadt neue Arbeitsgelegenheiten verschaffen. Allerdings weist die Figur des Eulenspiegel auf den Status der Gesellen und Handwerksknechte und nicht auf den der dauerhaften Lohnarbeiter der Textilindustrie hin.75 Stattdessen findet man bei vielen Humanisten die Auffassung, dass die Textilindustrie gut für die Armen sei. Der Bologneser Doktor Leonardo Fioravanti schreibt 1572 über die Seide, dass sie die Reichen verherrliche und den Armen helfe.76 Die Humanisten zeigten auch eine tendenzielle Begeisterung für die­ Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für Arme. Man denke an den Spanier Juan Luis Vives, der 1526 einen Traktat für die Stadt Brügge über Armenfürsorge schrieb, mit dem Vorschlag, arbeitsfähigen Armen notfalls zwangsweise Arbeit zu geben.77 Thomas Morus und Erasmus von Rotterdam waren ähnlicher Meinung.78 Man sieht, wie sehr diese Gelehrten von der Selbstverständlichkeit der 72 Ernst Piper, Der Aufstand der Ciompi. Über den Tumult, den die Wollarbeiter im Florenz der Frührenaissance anzettelten. Berlin 1978, S. 92. 73 Péchon de Ruby, La vie généreuse des mercelots, gueuz, et boesmiens, contenant leur façon de vivre, subtilitez et gergon. Lyon 1596. Online: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/ btv1b86196955 (letzter Zugriff am 25.05.2017). 74 Reinhard Tenberg, Die deutsche Till-Eulenspiegel-Rezeption bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. Würzburg 1996. 75 Hermann Bote, Till Eulenspiegel. Aus dem Lande Braunschweig. Frankfurt am Main 1981. 76 Terpstra, Working the Cocoon (wie Anm. 15), S. 40. 77 Alexander Wagner, Armenfürsorge in (Rechts-) Theorie und Rechtsordnungen der frühen Neuzeit, in: Sebastian Schmidt/Jens Aspelmeier (Hg.), Norm und Praxis der Armenfürsorge in Spätmittelalter und früher Neuzeit. Stuttgart 2006, S. 21–61, hier 33 f. 78 Terpstra, Cultures of Charity (wie Anm. 8), S. 166. Thomas Morus stellt in seiner Utopie einige Widersprüche des moralischen Wertesystems infrage. Er beschreibt die vielen Bauernfamilien, die von ihren Feldern vertrieben werden und auf das Betteln angewiesen sind, und die dann als Vagabunden verhaftet werden, weil sie nicht arbeiten, obwohl keiner ihnen Arbeit geben will (Thomas More, Utopia, hrsg. von Edward Surtz/Jack H. Exter. (The Complete Works of St. Thomas More, Bd.4.) New Heaven 1965, S. 66).

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Lohnarbeit als normalem Arbeitsverhältnis für untere Schichten geprägt waren. Sie waren von den wirtschaftlichen Strukturen ihrer Zeit, aber auch von der Expertise der Textilunternehmer und deren Ideologie beeinflusst. IV. Fazit Es wurde versucht zu rekonstruieren, wie im Lauf des Spätmittelalters Schritt für Schritt die Bedingungen geschaffen wurden, damit die Textilunternehmer eine Ideologie der Arbeitsbeschaffung für Arme verbreiten konnten. Bereits im 13.  Jahrhundert war das Beschäftigen von spezialisierten Lohnarbeitern eine strukturelle Praxis im Bologneser Textilgewerbe, und zwar in allen Textilbranchen, aber auch nur dort. Im 14. Jahrhundert konnten die Textilunternehmer vorbringen, dass die Textilindustrie viele Personen, insbesondere viele Arme, ernähre. So wurde eine Umkehrung der Bewertung von Arbeit im Vergleich zur feudalen Vorstellung des Hochmittelalters vollzogen: Die armen Arbeiter ernährten nicht mehr die Gesellschaft, sondern wurden von den Arbeitgebern ernährt. Sobald das Bereitstellen von Arbeitsplätzen als gut für die Armen erachtet wurde, wurde die Industrie selbst als eine besondere Art von Armenfürsorge behandelt. Mit diesem Grundgedanken ist es nicht erstaunlich, dass die Textilunternehmer die Ersten waren, die eine systematische Beschäftigung von arbeitsfähigen Armen in Armen- und Waisenheimen organisierten. Die Textilunternehmer konnten sich als Wirtschaftsexperten präsentieren, auch weil ihre Praktiken und ihre Ideologie ein breites Publikum erreicht hatten. Es wurde zwar erkannt, dass die Lohnarbeiter nach wie vor in ständiger Armutsgefährdung verhaftet blieben, aber die Lohnarbeit wurde immer mehr als das normale Arbeitsverhältnis für die städtische Unterschicht betrachtet.

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Der Wissensmarkt für Fremdsprachen im frühneuzeitlichen Mitteleuropa

I . Einleitung Liest man den Eintrag »Ehre«, der Ende des 18.  Jahrhunderts in dem Nachschlagewerk »Deutsche Encyclopädie oder Allgemeines Real-Wörterbuch aller Künste« erschien, gewinnt man den Eindruck, dass die Vermittlung von Fremdsprachenkenntnissen in der Frühen Neuzeit keinen besonders guten Ruf genoss: »Die allgemeine Hochachtung, die Ehren sind die schicklichste Münze, der eigentlichste Preiß edler und tugendhafter Handlungen, auch die natürliche Begleiter grosser Verdienste. Mit Geld, sagt Monta[i]gne, belohnt man einen Knecht, einen Courier, einen Tanzmeister, einen Sprachmeister, eine Kuplerin, eine Beyschläferin, eine Verrätherin und alle übrige geringe Dienste, so uns jemand thun kann; es ist also kein Wunder, wenn die Tugend diese gemeine Münze nicht so sehr verlangt, als jene, die ihr eigenthümlich ist, ganz edel und großmüthig ist.«1

Der Fremdsprachenlehrer (Sprachmeister) wird hier in eine Reihe mit anderen Anbietern »geringe[r] Dienste« gestellt, deren Tätigkeit lediglich dem Broterwerb diente, ihnen aber keinerlei Ansehen erwarb. Diese negative Einschätzung weist einerseits darauf hin, dass dem Erteilen von Fremdsprachenunterricht in der Frühen Neuzeit zentrale Merkmale fehlten, die ein ehrbares Gewerbe ausmachten: Es gab keine geregelte Ausbildung zum Fremdsprachenlehrer, keine allgemein verbindlichen und überprüfbaren Eintrittsqualifikationen in den Berufsstand und keine, beziehungsweise allenfalls vereinzelte, korporative Zusammenschlüsse von Sprachlehrern in Zünften, Gilden oder Gesellschaften. Zugespitzt formuliert war ein Sprachmeister jemand, der sich selbst für hinreichend befähigt hielt, lebende Fremdsprachen zu unterrichten, und der Kunden fand, die ihn für seine Dienste bezahlten.2 Hier und im Folgenden wird stets 1 [Heinrich Martin Gottfried Köster], Art. Ehre, in: Deutsche Encyclopädie oder Allgemeines Real-Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften […], Bd. 7. Frankfurt am Main 1783, S. 1034. 2 Vgl. Bernd Spillner, Französische Grammatik und französischer Fremdsprachenunterricht im 18. Jahrhundert, in: Dieter Kimpel (Hg.), Mehrsprachigkeit in der deutschen Aufklärung. (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, 5) Hamburg 1985, S. 133–155, hier 143 f.; Werner Hüllen, Kleine Geschichte des Fremdsprachenunterrichts. Berlin 2005, S. 47, 64; Martin Zürn, Unsichere Existenzen. Sprachmeister in Freiburg i. Br., Konstanz und Augsburg in der Frühen Neuzeit, in: Mark Häberlein/Christian Kuhn (Hg.), Fremde Sprachen in frühneu-

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von lebenden Fremdsprachen die Rede sein, da die klassischen Sprachen Latein und Griechisch selbstverständlich fest in den Lehrplänen der höheren Schulen und Universitäten verankert waren. Andererseits ist das Verdikt der »Deutschen Encyclopädie« aber bereits anachronistisch, denn im 18. Jahrhundert gehörten Kenntnisse der Fremdsprachen Französisch, Italienisch und (gegen Ende des Jahrhunderts) Englisch zum festen Bildungskanon der höheren Stände – des Adels, der Kaufmannschaft und der höheren Beamtenschaft3 –, und innerhalb der Gruppe der Fremdsprachenlehrer hatte sich eine Elite herausgebildet, die als Hof- und Universitätssprachmeister durchaus über ein gewisses Sozialprestige verfügte und deren Mitglieder mit­ unter sogar in den Professorenrang aufstiegen oder zu korrespondierenden Mitgliedern wissenschaftlicher Akademien gewählt wurden.4 Der Fremdsprachenunterricht stellt in der Frühen Neuzeit also einen vergleichsweise freien, unregulierten Wissensmarkt dar, auf dem sich gleichwohl bestimmte professionelle Standards und Mechanismen der Zuweisung von Status und Prestige entwickelten. Bei der Darstellung dieses Wissensmarktes bietet sich eine Unterscheidung an zwischen einem Arbeitsmarkt, auf dem Anbieter von Fremdsprachenkenntnissen auf Personen trafen, die am Erwerb entsprechender Kenntnisse interessiert waren, und einem Buchmarkt, auf dem Materialien für die Vermittlung von Sprachkenntnissen  – Wörterbücher, Grammatiken, Gesprächs- und Übungsbücher  – zirkulierten.5 Im Folgenden wird zeitlichen Städten. Lernende, Lehrende und Lehrwerke. (Fremdsprachen in ­Geschichte und Gegenwart, 7) Wiesbaden 2010, S. 103–120; Helmut Glück/Mark Häberlein/Konrad Schröder, Mehrsprachigkeit in der Frühen Neuzeit. Die Reichsstädte Augsburg und Nürnberg vom 15. bis ins frühe 19. Jahrhundert. (Fremdsprachen in Geschichte und Gegenwart, 10) Wiesbaden 2013, S. 137–143 und passim; Silke Schöttle, Art. Sprachunterricht, in: Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 12. Stuttgart 2011, Sp. 479–482, bes. 480 f. 3 Grundlegend zum Französischunterricht ist jetzt die umfangreiche Darstellung von W ­ alter Kuhfuß, Eine Kulturgeschichte des Französischunterrichts in der frühen Neuzeit. Französischlernen am Fürstenhof, auf dem Marktplatz und in der Schule in Deutschland. Göttingen 2014. Zum Italienischen vgl. den knappen Überblick von Hans Helmut Christmann, Italienische Sprache und Italianistik in Deutschland vom 15. Jahrhundert bis zur Goethezeit, in: Konrad Schröder (Hg.), Fremdsprachenunterricht 1500–1800. Vorträge gehalten anlässlich eines Arbeitsgesprächs vom 16. bis 19. Oktober 1988 in der Herzog August Bibliothek. (Wolfenbütteler Forschungen, 52) Wiesbaden 1992, S.  43–56, bes. 47–51. Zum Englischunterricht siehe Friederike Klippel, Englischlernen im 18.  und 19.  Jahrhundert. Die Geschichte der Lehrbücher und Unterrichtsmethoden. Münster 1994. 4 Vgl. Wolfgang H. Strauss, Der Unterricht in den neueren Sprachen an der Universität Jena von den Anfängen bis 1800, in: Schröder (Hg.), Fremdsprachenunterricht 1500–1800 (wie Anm. 3), S. 205–215, hier 207 f.; Glück/Häberlein/Schröder, Mehrsprachigkeit (wie Anm. 2), S. 138–140. 5 Zu historischen Wissensmärkten vgl. Peter Burke, Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft. Berlin 2001; Gangolf Hübinger, Ideenzirkulation und Buchmarkt. Ein Themenschwerpunkt zu neuen Konstellationen der Verlags- und Intellektuellen­ geschichte, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 27, 2002, S. 116–124; Ute Schneider, Das Buch als Wissensvermittler in der Frühen Neuzeit, in:

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zunächst die Nachfrageseite betrachtet, das heißt aufgezeigt, welche Personenkreise zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert Fremdsprachen zu erlernen suchten und welche Motive dafür ausschlaggebend waren. Anschließend geht der Beitrag auf die Angebotsseite ein und widmet sich der Frage, aus welchen sozialen Milieus sich Fremdsprachenlehrer rekrutierten. In einem weiteren Schritt werden anhand von Aufenthaltsgesuchen sowie Annoncen in den im 18. Jahrhundert in zahlreichen deutschen Städten erscheinenden Intelligenzblättern Aspekte des Arbeitsmarktes für Fremdsprachenlehrer beschrieben; in diesem Zusammenhang kommen auch Professionalisierungs- und Institutionalisierungsprozesse zur Sprache. Die Darstellung grundlegender Entwicklungstendenzen auf dem Buchmarkt für Sprachlehrwerke, die sich mit den Stichworten quantitative Expansion, Differenzierung und Spezialisierung umreißen lassen, schließt die Ausführungen ab. Lange Zeit haben sich vor allem Sprachwissenschaftler und Fremdsprachendidaktiker, die sich für die Geschichte der eigenen Disziplin interessieren, mit dem frühneuzeitlichen Fremdsprachenunterricht befasst.6 Die mehrbändigen Nachschlagewerke des Regensburger Germanisten Herbert Brekle7 und des Augsburger Englischdidaktikers Konrad Schröder8 sind aufgrund ihrer Materialfülle für die Beschäftigung mit dem Thema unverzichtbar. Seit kurzem liegt zudem eine umfangreiche »Kulturgeschichte des Französischunterrichts in der frühen Neuzeit« des Romanisten Walter Kuhfuß vor,9 und der Bamberger Germanist Helmut Glück hat zwei Standardwerke zur Geschichte Johannes Burkhardt/Christine Werkstetter (Hg.), Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit. (Historische Zeitschrift, Beihefte N. F. 41) München 2005, S.  63–78;­ Andrew Pettegree, The Book in the Renaissance. New Haven 2010; Ders., The Invention of News: How the World Came to Know about Itself. New Haven 2014. Dass die Vermittlung von Sprachkenntnissen bereits in der Frühen Neuzeit als Markt verstanden wurde, zeigt­ Kuhfuß, Kulturgeschichte (wie Anm. 3), S. 635 f. anhand des Frontispizes von Pierre ­Canels 1710 erschienenem Werk »Le Tableau de l’Orthographie Françoise«, wo unter dem Titel »La foire aus letres« der Handel mit Buchstaben visualisiert wird. 6 Vgl. exemplarisch Schröder (Hg.), Fremdsprachenunterricht 1500–1800 (wie Anm. 3); Willem Frijhoff/André Reboullet (Hg.), Histoire de la diffusion et de l’enseignement du français dans le monde. Paris 1998; Jan de Clercq/Nico Lioce/Pierre Swiggers (Hg.), Grammaire et enseignement du français, 1500–1700. (Orbis, Supplementa 16) Löwen 2000; Jean-Antoine Caravolas, Histoire de la didactique des langues au siècle des lumières. Précis et anthologie thématique. Montreal 2000; Werner Hüllen/Friederike Klippel (Hg.), Heilige und profane Sprachen. Die Anfänge des Fremdsprachenlernens im westlichen Europa. (Wolfenbütteler Forschungen, 98) Wiesbaden 2002; Dies. (Hg.), Sprachen der Bildung – Bildung durch Sprachen im Deutschland des 18. und 19. Jahrhunderts. (Wolfenbütteler Forschungen, 107) Wiesbaden 2005. 7 Vgl. Herbert Brekle u. a. (Hrsg), Bio-bibliographisches Handbuch zur Sprachwissenschaft des 18. Jahrhunderts. Die Grammatiker, Lexikographen und Sprachtheoretiker des deutschsprachigen Raumes mit Beschreibungen ihrer Werke, 8 Bde. Tübingen 1992–2005. 8 Vgl. Konrad Schröder, Biographisches und bibliographisches Lexikon der Fremdsprachenlehrer des deutschsprachigen Raumes. Spätmittelalter bis 1800, 6 Bde. Augsburg 1992–1999. 9 Vgl. Kuhfuß, Kulturgeschichte (wie Anm. 3).

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des Deutsch­lernens in Europa vom Mittelalter bis zur Romantik vorgelegt.10 Die Geschichtswissenschaft hingegen hat erst in den letzten Jahren im Zusammenhang mit der Rezeption des Kulturtransferansatzes11 begonnen, sich intensiver mit dem Thema zu befassen, wobei Peter Burkes 2006 auf Deutsch erschienener Studie »Wörter machen Leute« eine Pionierfunktion zukommt.12 Im Rahmen eines DFG -Projektes wurden die sozialen, kulturellen und sprachgeschichtlichen Dimensionen des Fremdsprachenlernens in den beiden großen süddeutschen Reichsstädten Augsburg und Nürnberg erforscht.13 Zwei aktuelle Sammelbände befassen sich mit der Geschichte der Fremdsprachenlehrer im europäischen Rahmen.14 Unter der Perspektive vormoderner Wissensmärkte ist die Vermittlung von Fremdsprachenkenntnissen bislang indessen noch nicht systematisch behandelt worden; insbesondere für Kommunikations- und Verlagszentren wie Frankfurt am Main und Leipzig wäre hier noch intensive Arbeit zu leisten. II . Die Nachfrageseite: Das Interesse an

Fremdsprachenkenntnissen in der Frühen Neuzeit Nachfrage nach Fremdsprachenkenntnissen bestand vorrangig in den höheren Ständen. Für Angehörige des Adels bildeten sie in erster Linie ein Element der sozialen Distinktion und waren Teil einer Standeserziehung, die eine möglichst vielseitige körperliche und geistige Bildung sowie die Teilhabe an den Leistungen und Repräsentationen fremder Kulturen anstrebte. Darüber hinaus versetzten Fremdsprachen sie in die Lage, volkssprachliche Texte, die seit dem 16. Jahrhundert in wachsender Zahl gedruckt wurden, zu rezipieren, mit ausländischen Besuchern in deren Landessprache zu kommunizieren und sich auf Reisen in andere europäische Länder ohne die Vermittlung von Dolmetschern zu verständigen. Bereits um 1500 hatten Mitglieder der kursächsischen Herr10 Vgl. Helmut Glück, Deutsch als Fremdsprache in Europa vom Mittelalter bis zur Barockzeit. Berlin 2002; Ders., Die Fremdsprache Deutsch im Zeitalter der Aufklärung, der Klassik und der Romantik. (Fremdsprachen in Geschichte und Gegenwart, 12) Wiesbaden 2014. 11 Vgl. exemplarisch Michel Espagne, Les transferts culturels franco-allemands. Perspectives germaniques. Paris 1999; Wolfgang Schmale (Hg.), Kulturtransfer. Kulturelle Praxis im 16. Jahrhundert. Innsbruck u. a. 2003; Thomas Fuchs/Sven Trakulhun (Hg.), Das eine Europa und die Vielfalt der Kulturen. Kulturtransfer in Europa 1500–1850. Berlin 2003; Michael North (Hg.), Kultureller Austausch. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung. Köln 2009. 12 Vgl. Peter Burke, Wörter machen Leute. Gesellschaft und Sprachen im Europa der frühen Neuzeit. Berlin 2006. 13 Vgl. Glück/Häberlein/Schröder, Mehrsprachigkeit (wie Anm. 2). 14 Vladislav Rjeoutski/Alexandre Tchoudinov (Hg.), Le précepteur francophone en Europe (XVIIe–XIXe siècles). Paris 2013; Mark Häberlein (Hg.), Sprachmeister. Sozial- und Kulturgeschichte eines prekären Berufsstands. (Schriften der Matthias-Kramer-Gesellschaft, 1) Bamberg 2015.

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scherfamilie nach Auskunft Georg Spalatins »die französisch Sprach also gelernet, dass sie diesselbe ziemlich verstanden, geschrieben und geredet haben.« Nach Einschätzung von Walter Kuhfuß handelte es sich dabei »um einen inhaltlich ausgerichteten, zur moralischen, vergnüglich-amüsanten Unterhaltung und politisch-geschichtlichen Belehrung und Information vorgesehenen Textunterricht, nicht um die Vermittlung von praktischen Kenntnissen für mündliche Kommunikationssituationen.«15 Unter dem Einfluss des europaweit erfolgreichen »Cortegiano« Baldassarre Castigliones, der das Ideal der sprezzatura – des gewandten, eleganten und weltläufigen Auftretens bei Hofe – propagierte, gewann im 16. Jahrhundert auch die Fähigkeit zur polyglotten Konversation an Bedeutung.16 Dies galt zunächst vor allem für die italienische und die französische Sprache, wobei Letztere in der Regierungszeit Ludwigs XIV. unter dem Vorzeichen der politischen und kulturellen Hegemonie Frankreichs zur europäischen Hofsprache avancierte.17 Von diplomatischen Gesandten wurde spätestens im 17. Jahrhundert erwartet, dass sie die Sprache des Hofes, an dem sie tätig waren, selbst beherrschten und nicht auf Dolmetscher angewiesen waren – weniger wegen der Inhalte diplomatischer Kommunikation, sondern weil die Konventionen höfischer Rede eine »perfekte sprachliche Darbietung unter Erfüllung der bestehenden sprachlichrhetorisch-stilistischen Normen« voraussetzten. Dies implizierte »eine vollendete Beherrschung der betreffenden Sprachen in Wortschatz, Grammatik und Aussprache«.18 Vor diesem Hintergrund diente die Prinzenreise beziehungsweise Kavalierstour durch mehrere europäische Länder, die seit dem 16. Jahrhundert zum festen Bestandteil der Adelserziehung avancierte, nicht zuletzt der Vermittlung von Fremdsprachenkenntnissen. Junge Adelige und reichsstädtische Patrizier erhielten bereits vor Reiseantritt Sprachunterricht bei Präzeptoren und Hofmeistern, der während der Reise durch Privatlektionen und den Besuch von Universitäten und Akademien vervollkommnet wurde. Neben Reit-, Fecht- und Tanzunterricht spielte das Fremdsprachenlernen eine zentrale Rolle bei der Ein15 Kuhfuß, Kulturgeschichte (wie Anm. 3), S. 72–89, Zitate 72, 74. 16 Vgl. ebd., S.  151–155. Zur europäischen Rezeption Castigliones siehe Peter Burke, Die Geschicke des ›Hofmann‹. Zur Wirkung eines Renaissance-Breviers über angemessenes Verhalten. Berlin 1996. 17 Vgl. Kuhfuß, Kulturgeschichte (wie Anm. 3), S. 30 bezeichnet Französisch als »Mandarinsprache des Adels«. Vgl. ebd., S. 219, 277–301, 339–341, 628, 644 sowie Glück, Deutsch als Fremdsprache (wie Anm. 10), S. 132–140; Hüllen, Kleine Geschichte (wie Anm. 2), S. 61, 66. 18 Benjamin Durst, Diplomatische Sprachpraxis und Übersetzungskultur in der Frühen Neuzeit. Theorien, Methoden und Praktiken im Spiegel einer juristischen Dissertation von 1691, in: Johannes Burkhardt/Kay Peter Jankrift/Wolfgang E. J. Weber (Hg.), Sprache. Macht. Frieden. Augsburger Beiträge zur Historischen Friedens- und Konfliktforschung. (Documenta Augustana Pacis, 1) Augsburg 2014, S. 59–107, bes. 71–74, 106­ (Zitat).

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übung eines höfisch-adeligen Habitus.19 An den seit Ende des 16. Jahrhunderts im Heiligen Römischen Reich gegründeten Ritterakademien und Hofschulen wie dem Tübinger Collegium Illustre und dem Kasseler Collegium Mauritianum, die der Adelsausbildung eine institutionelle Form gaben, waren Französisch und Italienisch fester Bestandteil des Curriculums.20 Während beim Adel kulturelle Interessen und soziale Distinktion im Vordergrund standen, lernten Fernhandelskaufleute aus kommerziellen Interessen Fremdsprachen. In den großen süddeutschen Handelsstädten war es bereits seit dem Spätmittelalter üblich, Kaufmannssöhne im Alter von 13 bis 16 Jahren zur Ausbildung in europäische Handelszentren wie Venedig, Antwerpen und Lyon zu schicken, wo sie im Rahmen eines oft mehrjährigen Aufenthalts neben den Techniken der kaufmännischen Buchhaltung und Rechnungsführung sowie den lokalen Handelsusancen auch die Landessprache erlernten. Im 16. Jahrhundert lernten süddeutsche Kaufmannssöhne bevorzugt Italienisch und Französisch, während im 17. Jahrhundert das Niederländische und im 18. Jahrhundert das Englische an Bedeutung gewannen. Dabei wurden die angehenden Kaufleute zumeist in den Haushalten von native speakers untergebracht, wo sie die Landessprache durch Immersion möglichst rasch verstehen und sprechen lernen sollten. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts ist zwar auch für Angehörige des Kaufmannsstandes vorbereitender Sprachunterricht am Heimatort belegt; der Auslandsaufenthalt gehörte jedoch weiterhin zum Standardprogramm der Ausbildung.21 19 Vgl. Glück, Deutsch als Fremdsprache (wie Anm. 10), S. 132–140; Antje Stannek, Tele­ machs Brüder. Die höfische Bildungsreise des 17.  Jahrhunderts. Frankfurt am Main 2001, S. 33 f.; Mathis Leibetseder, Die Kavalierstour. Adelige Erziehungsreisen im 17. und 18. Jahrhundert. Köln u. a. 2004, S. 123–125, 153, 172; Eva Bender, Die Prinzenreise. Bildungsaufenthalt und Kavalierstour im höfischen Kontext gegen Ende des 17. Jahrhunderts. (Schriften zur Residenzkultur, 6) Berlin 2011, S.  45, 57, 239; Glück/Häberlein/­ Schröder, Mehrsprachigkeit (wie Anm.  2), S.  93–136; Kuhfuß, Kulturgeschichte (wie Anm. 3), S. 98–102, 153, 224–230, 392–402; Hilmar Tilgner, Art. Kavalierstour, in: Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 6 (wie Anm. 2), Sp. 523–526. 20 Vgl. Hüllen, Kleine Geschichte (wie Anm.  2), S.  67 f.; Kuhfuß, Kulturgeschichte (wie Anm. 3), S. 157–172, 371 f., 402–411; Thomas Töpfer, Art. Ritterakademie, in: Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 11 (wie Anm. 2), Sp. 286–288; Silke Schöttle, Männer von Welt. Exerzitien- und Sprachmeister und ihr Lehrangebot am Collegium Illustre und an der Universität Tübingen 1594–1819. (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B, 209) Stuttgart 2016. 21 Vgl. Glück, Deutsch als Fremdsprache (wie Anm. 10), S. 84–97; Hanns-Peter Bruchhäuser, Die Berufsbildung deutscher Kaufleute bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, in: ­A lwin Hanschmidt/Hans-Ulrich Musolff (Hg.), Elementarbildung und Berufsausbildung ­1450–1750. (Beiträge zur historischen Bildungsforschung, 31) Köln u. a. 2005, S. 95–107; Mark Häberlein, Fremdsprachen in den Netzwerken Augsburger Handelsgesellschaften des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, in: Ders./Kuhn (Hg.), Fremde Sprachen (wie Anm. 2), S. 23–45; Christian Kuhn, Fremdsprachenlernen zwischen Berufsbildung und sozialer Distinktion. Das Beispiel der Nürnberger Kaufmannsfamilie Tucher im 16. Jahrhundert, in: Ebd., S. 47–74; Heinrich Lang, Fremdsprachenkompetenz zwischen Handelsverbindungen und Familiennetzwerken. Augsburger Kaufmannssöhne aus dem Welser-Umfeld in der Aus-

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Eine dritte Gruppe, die in hohem Maße mehrsprachig war, waren Militär­ angehörige. Da frühneuzeitliche Armeen häufig multinational zusammengesetzt waren, bestand schon aus pragmatischen Gründen die Notwendigkeit, sich innerhalb dieser Verbände zu verständigen, und Offiziere mussten in der Lage sein, Kommandos zu geben, die ihre Untergebenen auch verstanden. So fertigten die Kanzleien der habsburgischen Generalität im Dreißigjährigen Krieg Schriftstücke in deutscher, italienischer, französischer und spanischer Sprache aus, und kaiserliche Generäle wie Matthias Gallas, Hieronymus von Colloredo und Ottavio Piccolomini kommunizierten untereinander sowohl auf Italienisch als auch auf Deutsch. Im Zuge der Verwissenschaftlichung der militärischen Ausbildung gewann im 18.  Jahrhundert das Ideal des gebildeten Offiziers an Bedeutung, zu dessen Anforderungsprofil neben genuin militärwissenschaftlichen, historischen, geographischen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Kenntnissen auch Fremdsprachenkenntnisse gehörten.22 Während Adelige, Kaufleute und Offiziere zusammen mit Klerikern die Kerngruppe der mehrsprachigen Bevölkerung Mitteleuropas bildeten, ist für Handwerker zumindest vereinzelt belegt, dass sie auf ihrer Wanderschaft Fremdsprachen lernten oder aus eigener Initiative Sprachunterricht nahmen. Der Isnyer Bürgersohn Hans Conrad Lang beispielsweise, der das Handwerk des Tuchscherers erlernt hatte, begann inmitten des Dreißigjährigen Krieges offenbar aus rein persönlichem Interesse, Sprachen zu lernen. In seinen autobiographischen Aufzeichnungen berichtet er, dass er 1627 in Memmingen drei Monate Italienischunterricht genommen habe. Im Frühjahr 1635 habe er in Ulm »den Herrn Doctor Hans Christoffen König von Kempten gepetten, mich etwas in der französischen Spraach zu instituieren. Welches er, (weil er ebensowol als ich nichts zu thun und ein Spaß ist) bewilliget. Habe also in Gottes Nahmen den 9. Aprilis Ao. 1635 die französische Spraach anfangen zu exerzieren.«23 bildung bei Florentiner Bankiers um 1500, in: Ebd., S. 75–92; Irmgard Schwanke, Lernen bei Sprachmeistern und im Kontor. Die Ausbildung Augsburger Patriziersöhne in Lucca und Lyon 1620–1627, in: Ebd., S. 93–102; Glück/Häberlein/Schröder, Mehrsprachigkeit (wie Anm. 2), S. 55–91; Kuhfuß, Kulturgeschichte (wie Anm. 3), S. 172–178, 464–475. 22 Vgl. zu diesem Themenkomplex Norbert Furrer, Die vierzigsprachige Schweiz. Sprachkontakte und Mehrsprachigkeit in der vorindustriellen Gesellschaft (15.–19. Jahrhundert), Bd. 1. Zürich 2002, S. 493–544 sowie die Beiträge in Helmut Glück/Mark Häberlein (Hg.), Militär und Mehrsprachigkeit im neuzeitlichen Europa. (Fremdsprachen in Geschichte und Gegenwart, 14) Wiesbaden 2014. Speziell zur Kommunikation unter den habsburgischen Generälen: Robert Rebitsch, Matthias Gallas (1588–1647), Generalleutnant des Kaisers zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Eine militärische Biographie. Münster 2006, S. 248. 23 Karl Pfeilsticker (Hg.), Tagebuch des Hans Conrad Lang, Bürgers von Isny und Beisitzers von Biberach, Ulm und Memmingen, weiland Kriegskommissär in kaiserlichen, schwedischen und spanischen Diensten aus den Jahren 1601–1659. Isny 1930, S. 11, 28; vgl. auch Andreas Flurschütz da Cruz, Situationen des Sprachkontakts in Selbstzeugnissen aus der Zeit der Dreißigjährigen Krieges, in: Glück/Häberlein (Hg.), Militär und Mehrsprachigkeit (wie Anm. 22), S. 47–64, hier 50 f.

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Fuhrleute, die Waren über weite Distanzen beförderten, und Gastwirte an Fernstraßen oder in großen Handelsstädten waren bisweilen in der Lage, Dolmetscherdienste zu leisten.24 Im 18.  Jahrhundert schließlich fanden Fremdsprachenkenntnisse auch in der bürgerlichen Beamtenschaft und im entstehenden Bildungsbürgertum zunehmend Verbreitung, da sie soziales Prestige verliehen und die Partizipation am Informations- und Meinungsaustausch in einer sich formierenden transnationalen Öffentlichkeit ermöglichten. III . Die Angebotsseite: Zur geographischen und sozialen

Herkunft von Fremdprachenlehrern in Mitteleuropa Wie bereits erwähnt, erwarben Adelige und Fernhandelskaufleute ihre Sprachkenntnisse zunächst vorwiegend im Ausland  – in den Haushalten von native speakers, bei privaten Sprachlehrern oder an Hochschulen und Akademien. Die niederländische Handelsmetropole Antwerpen etwa, in der zahlreiche süddeutsche und rheinische Handelsfirmen im 16.  Jahrhundert Niederlassungen unterhielten,25 war auch ein frühes Zentrum des Sprachunterrichts. Hier ist bereits 1468 eine Schulmeistergilde belegt, der im Jahr 1579 73 Männer und 53 Frauen angehörten. Dem 1557 erneuerten Privileg dieser Gilde zufolge nahm sie Lehrer der lateinischen, französischen, deutschen, spanischen und italienischen Sprache auf. Die im europäischen Vergleich frühe und starke Institutionalisierung des Fremdsprachenunterrichts in den Niederlanden strahlte auch auf das Heilige Römische Reich aus, als im Zuge des Aufstands der niederländischen Provinzen gegen die spanische Krone seit den 1560er Jahren Tausende von niederländischen Flüchtlingen in deutsche Städte strömten. Bei den 24 Sprachmeistern, die zwischen 1550 und 1614 in Köln nachweisbar sind, handelte es sich vorwiegend um »Emigranten aus den südlichen Niederlanden«, die Cornel Zwierlein zufolge »Konzept und Praxis der professionellen privaten Fremdsprachenschule aus den südlichen Niederlanden, insbesondere aus Antwerpen« in die rheinische Metropole transferierten.26 Der erste in Augsburg nachweisbare Sprachmeister war ein gewisser Gerhard Dorn aus Mechelen; er bot dem Rat der schwäbischen Reichsstadt 1559 an, Bürgerkindern Latein-, Französisch-, Italienisch- und Spanischunterricht zu erteilen, wodurch deren Eltern die Kosten für teure Auslandsaufenthalte ihrer 24 Vgl. Glück, Deutsch als Fremdsprache (wie Anm. 10), S. 105, 253. 25 Vgl. Donald J. Harreld, High Germans in the Low Countries: German Merchants and Commerce in Golden Age Antwerp. Leiden 2004. 26 Vgl. Cornel Zwierlein, Französischunterricht in Köln im 16.  Jahrhundert: Niederländisch-deutsche Frankophonie-Transfers, in: Geschichte in Köln 57, 2010, S. 57–69, Zitate 61; Ders., Religionskriegsmigration, Französischunterricht, Kulturtransfer und die Zeitungsproduktion im Köln des 16. Jahrhunderts, in: Francia 37, 2010, S. 197–229; Kuhfuß, Kulturgeschichte (wie Anm. 3), S. 113–115, 173–175, 178–180, 230–234.

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Sprösslinge einsparen könnten.27 Lieven van Hulze (Levinus Hulsius), der 1584 aus Middelburg ins Reich floh, unterrichtete nacheinander in der Exulanten­ gemeinde Frankenthal, in Nürnberg und Frankfurt, wo er sich auch als Verleger betätigte. Er nimmt durch sein 1597 in Nürnberg publiziertes deutsch-französisches und sein 1613 posthum in Frankfurt veröffentlichtes deutsch-italienisches Wörterbuch eine wichtige Stellung in der Entwicklung des Fremdsprachenunterrichts sowie in der Geschichte der Lexikographie in Deutschland ein.28 Einen vergleichbaren Schub wie durch die niederländische Glaubensmigration erhielt der Fremdsprachenunterricht in Deutschland durch den Exodus der Hugenotten nach der Revokation des Edikts von Nantes im Jahre 1685. Insbesondere reformierte Geistliche, Juristen, Sekretäre und Notare suchten häufig ein Auskommen als Präzeptoren oder Sprachlehrer. In Nürnberg etwa stellten zwischen 1680 und 1699 nicht weniger als 17 Sprachmeister ein Aufenthaltsgesuch, von denen die große Mehrzahl aus Frankreich kam.29 In Berlin prägten hugenottische Schulen wie das Collège royal français im 18.  Jahrhundert maßgeblich die Bildungslandschaft.30 Auch die Emigrationsbewegung, welche die Französische Revolution auslöste, führte zu einem deutlichen Anstieg des Fremdsprachenangebots in deutschen Städten.31 Ferner schlug sich die Mehrsprachigkeit frühneuzeitlicher Truppenverbände in der sozialen Herkunft der Fremdsprachenlehrer nieder: Sowohl in den Nachschlagewerken von Brekle 27 Vgl. Glück/Häberlein/Schröder, Mehrsprachigkeit (wie Anm. 2), S. 161, 165, 171 f., 465 f. 28 Vgl. Franz Josef Hausmann, Das erste französisch-deutsche Wörterbuch. Levinus Hulsius’ Dictionaire von 1596–1607, in: Zeitschrift für Romanische Philologie 100,3–4, 1984, S. 306–320; Schröder, Biographisches und Bibliographisches Lexikon, Bd. 2 (wie Anm. 8), S. 244–246; Peter O. Müller, Deutsche Lexikographie des 16. Jahrhunderts. Konzeptionen und Funktionen frühneuzeitlicher Wörterbücher. (Texte und Textgeschichte, 49) Tübingen 2001, S.  241–247, 263–267, 278–282; Glück/Häberlein/Schröder, Mehrsprachigkeit (wie Anm. 2), S. 153–155, 172, 262; Kuhfuß, Kulturgeschichte (wie Anm. 3), S. 175 f. 29 Vgl. Glück/Häberlein/Schröder, Mehrsprachigkeit (wie Anm.  2), S.  175–180, 427 f.; allgemein: Glück, Deutsch als Fremdsprache (wie Anm.  10), S.  168–170; Kuhfuß, Kultur­ geschichte (wie Anm. 3), S. 301–308, 340 f. 30 Vgl. Konrad Schröder, Französischunterricht in Berlin im 18. Jahrhundert, in: Herbert Christ/Gerda Hassler (Hg.), Regards sur l’histoire de l’enseignement des langues étrangères. Actes de la Section 8 du Romanistentag de Potsdam du 27 au 30 septembre 1993. Tübingen 1995, S. 188–209; Franziska Roosen, Erziehung und Bildung von Hugenotten in Berlin. Das Lehrerseminar, in: Guido Braun/Suanne Lachenicht (Hg.), Hugenotten und deutsche Territorialstaaten. München 2007, S.  193–208; Dies., »Soutenir notre Église«. Hugenottische Erziehungskonzepte und Bildungseinrichtungen im Berlin des 18. Jahrhunderts. (Geschichtsblätter der Deutschen Hugenotten-Gesellschaft e. V., 42) Bad Karlshafen 2008; Susanne Lachenicht, Hugenotten in Europa und Nordamerika. Migration und Integration in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main/New York 2010, S. 428–432; Kuhfuß, Kulturgeschichte (wie Anm. 3), S. 439–442. 31 Vgl. exemplarisch Glück/Häberlein/Schröder, Mehrsprachigkeit (wie Anm.  2), S.  186; Matthias Winkler, Die Emigranten der Französischen Revolution in Hochstift und Diözese Bamberg. (Bamberger Historische Studien, 5/Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bamberg, 13) Bamberg 2010, S. 120–132.

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und Schröder als auch in der erwähnten Untersuchung zu den Reichsstädten Augsburg und Nürnberg findet sich eine bemerkenswerte Zahl abgedankter Offiziere und Soldaten, die nach dem Ende ihrer militärischen Karriere ihren Lebensunterhalt als Sprachmeister zu verdienen suchten.32 Vor allem aber ist die geographische und soziale Heterogenität der Gruppe der frühneuzeitlichen Fremdsprachenlehrer hervorzuheben. Die 98 zwischen der Mitte des 16.  und dem Beginn des 19.  Jahrhunderts in Augsburg nachweisbaren Sprachlehrer beispielsweise stammten nur zu 28 Prozent aus dem deutschsprachigen Raum und in den seltensten Fällen aus Augsburg selbst. 41 Prozent kamen aus Frankreich, neun Prozent aus der französisch- und italienischsprachigen Schweiz und sieben Prozent aus Italien. In Nürnberg war der Anteil deutschstämmiger Fremdsprachenlehrer mit 38 Prozent etwas höher, aber auch hier kam die Mehrheit aus dem (sprachlichen) Ausland, insbesondere aus Frankreich, Italien und den südlichen Niederlanden. In sozialer Hinsicht finden sich unter ihnen ehemalige Kleriker, verarmte Adelige, angehende Mediziner und Juristen sowie Handwerker, die sich einschlägige Kenntnisse angeeignet hatten.33 Viele Sprachmeisterkarrieren sind durch hohe geographische Mobilität und biographische Brüche – Glaubenswechsel, Flucht und Vertreibung, berufliche Sackgassen, gescheiterte Ehen – geprägt.34 Eine besonders bewegte Karriere hatte der 1540 in Savoyen geborene Catherin Le Doux ­(Catharinus Dulcis), der Hofmeister deutscher, französischer, englischer und mährischer Adeliger, Orientreisender, Dolmetscher, Übersetzer, Soldat, türkischer Galeerensklave und Sprachmeister an den Universitäten Wittenberg und Marburg sowie am Collegium Mauritianum in Kassel war.35 Auch in der Autobiographie des Thüringers Johann Kaspar Steube (1747–1795) spiegeln sich die biographischen Wechsellagen, die viele Sprachmeisterkarrieren kennzeichnen, anschaulich wider. Der Sohn eines Gothaer Fleischers war im Dienst der schwedischen Ostindienkompanie bis nach Malakka gereist, hatte in Italien als Schuhmacher gearbeitet, war als Soldat an der habsburgischen Militärgrenze im Banat stationiert gewesen und hatte eine Gastwirtschaft in Temesvar betrieben, ehe er in seine Heimatstadt Gotha zurückkehrte. Dort praktizierte er zunächst das Schusterhandwerk, spürte aber nach einigen Monaten, »daß die so 32 Vgl. Glück/Häberlein/Schröder, Mehrsprachigkeit (wie Anm.  2), S.  165 f., 200; Mark Häberlein, Einleitung, in: Glück/Häberlein (Hg.), Militär und Mehrsprachigkeit (wie Anm. 22), S. 11–29, bes. 12–15. 33 Vgl. Glück/Häberlein/Schröder, Mehrsprachigkeit (wie Anm. 2), S. 144–148, 162–169. 34 Vgl. Zürn, Unsichere Existenzen (wie Anm.  2), S.  107–113; Glück/Häberlein/Schröder, Mehrsprachigkeit (wie Anm.  2), S.  189–191, 198–200; Kuhfuß, Kulturgeschichte (wie Anm. 3), S. 176–178, 237–240. 35 Vgl. Glück/Häberlein/Schröder, Mehrsprachigkeit (wie Anm. 2), S. 149–153; Kuhfuß, Kulturgeschichte (wie Anm. 3), S. 25, 160 f.; Martin Holý, Catharinus Dulcis (1540–1626), the Savoyan Romanist in the Service of European Nobility, and his Peregrinations, in: Eva Doležalová u. a. (Hg.), Roma-Praga, Praha-Řím. Omaggio a Zdeňka Hledíková. (Bollettino dell’Istituto Storico Ceco di Roma, Supplemento 1) Prag 2009, S. 249–262.

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gekrümmte Schuhmacherstellung sehr nachteilig auf meine Gesundheit würkte, so, daß mir jeder Tag, den ich mit anhaltendem Sitzen zubrachte, schmerzhafte Krämpfe verursachte« und die Arztrechnungen sein gesamtes Einkommen aufzehrten. Da er in Italien während einer längeren Krankheit die Landessprache gelernt hatte, ergriff er nach eigenem Bekunden »den Sprachunterricht als ein der Beschaffenheit meines Körpers angemesseneres Geschäfte.«36 IV. Der Arbeitsmarkt für Fremdsprachenlehrer Wie sah nun der Arbeitsmarkt für Fremdsprachenlehrer aus? Wie fanden sie eine Anstellung oder zahlende Schüler? Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass nur eine Minderheit eine Festanstellung an einem Fürstenhof, einer Universität oder höheren Schule erhielt. Gerade an kleineren Fürstenhöfen wurden Sprachmeister oft nicht kontinuierlich beschäftigt, sondern erst eingestellt, wenn die Söhne und Töchter des regierenden Fürsten das für die Erteilung von Fremdsprachenunterricht passend erscheinende Alter erreicht hatten, und nach Beendigung des Unterrichts wieder entlassen. Im Adel wie im höheren Bürgertum blieb Privatunterricht bis ins späte 18. Jahrhundert die häufigste Form der Vermittlung von Fremdsprachenkenntnissen.37 Universitärer Französischunterricht wurde im Heiligen Römischen Reich erstmals 1571 in Wittenberg erteilt;38 bis Ende des 16.  Jahrhunderts folgten Herborn, Jena und Altdorf.39 Noch bis Mitte des 18. Jahrhunderts wurden lebende Fremdsprachen allerdings an vielen Hochschulen nur sporadisch angeboten. Die Universitätssprachmeister waren zumeist keine Mitglieder der akademischen Korporation und erhielten keine oder nur eine geringe feste Besoldung, sondern mussten sich darum bemühen, unter den Studenten interessierte Sprachschüler zu finden. Häufig entbrannten zudem Konflikte um die Unterrichtszeiten sowie um die Nutzung von Universitätsgebäuden. Die neueren Universitäten Halle, wo seit der Gründung im Jahre 1694 Unterricht in modernen Sprachen erteilt wurde, und Göttingen, deren Gründungsprivileg vom Dezember 1736 vorsah, dass neben Reit-, Fecht- und Tanzmeistern auch geeignete »Engelländische, Frantzösische und Italiänische Sprach-Meister beruffen und bestellet werden«40 sollten, knüpften an die Tradition der Adelserziehung 36 Johann Kaspar Steube, Von Amsterdam nach Temiswar. Wanderschaften und Schicksale [1791], hrsg. von Jochen Golz. Berlin 1969, S. 219 f. 37 Vgl. Glück/Häberlein/Schröder, Mehrsprachigkeit (wie Anm. 2), S. 143–208; Kuhfuß, Kulturgeschichte (wie Anm. 3), S. 373–392, 642. 38 Vgl. Hüllen, Kleine Geschichte (wie Anm.  2), S.  47; Kuhfuß, Kulturgeschichte (wie Anm. 3), S. 91 f. 39 Vgl. Strauss, Unterricht (wie Anm. 4), S. 205 f.; Glück/Häberlein/Schröder, Mehrsprachigkeit (wie Anm. 2), S. 209. 40 Wilhelm Ebel (Hg.), Die Privilegien und ältesten Statuten der Georg-August-Universität zu Göttingen. Göttingen 1961, S. 28.

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an. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wirkten Hermann Krapoth zufolge an der Georgia Augusta rund 80 Fremdsprachenlehrer – etwa 50 für Französisch, circa 20 für Italienisch, acht für Englisch und zwei für Spanisch  – doch hinter diesen Zahlen verbergen sich erhebliche Unterschiede zwischen besoldeten Lektoren und unbesoldeten Sprachmeistern, die lediglich die Erlaubnis genossen, gegen Gebühr Fremdsprachenunterricht zu erteilen. Die Aufenthaltsdauer der Göttinger Sprachmeister variierte zwischen wenigen Monaten und mehreren Jahrzehnten.41 Einige wenige Sprachmeister wie Antoine Rougemont und Isaac Colom du Clos wurden in Göttingen zu außerordentlichen Professoren ernannt. Auch die Stellung dieser Spitzengruppe innerhalb der Gruppe der Sprachlehrer war indessen prekär. Rougemont versuchte sein Einkommen durch die Gründung einer Privatschule aufzubessern, scheiterte jedoch damit. 1747 wurde er wegen angeblich überhöhter Gebühren gemaßregelt und daran erinnert, »daß er denen übrigen Professoribus, da er ja keiner facultät gehörig, und den bloßen Titel führe, sich keines Weges gleich zu setzen habe.« Der aus einer Hugenottenfamilie stammende Colom du Clos erhielt 1764 den Titel eines ordentlichen Professors erst nach einer längeren, verbissen geführten Auseinandersetzung um die Anerkennung seiner Ranggleichheit mit dem Englisch-Professor John­ Thompson. Zugleich entschied die kurhannoversche Regierung, dass »in Zukunft niemand von denen Lectoribus den Rang eines Ordinarii Professoris übernehmen solle.«42 Ein vergleichender Blick auf die fränkische Residenz- und Universitätsstadt Bamberg unterstreicht, dass die Arbeitsfelder Hof und Universität Sprachlehrern verhältnismäßig wenig Sicherheit boten. Bamberg war zwar Residenzstadt eines geistlichen Territoriums; da die Fürstbischöfe im späten 17.  und 18.  Jahrhundert aber häufig in Personalunion auch den Mainzer oder Würzburger Bischofs­ thron innehatten, hatte es über Jahrzehnte eher den Status einer Nebenresidenz. Und obwohl die 1647 gegründete Academia Ottoniana im 18. Jahrhundert zur Volluniversität mit vier Fakultäten ausgebaut wurde, fehlte der Institution die überregionale Ausstrahlung Halles oder Göttingens.43 Zudem hatten die Jesuiten, die bis zur Aufhebung des Ordens 1773 den Lehrkörper dominierten, Vor41 Vgl. Hermann Krapoth, Die Beschäftigung mit romanischen Sprachen und Literaturen an der Universität Göttingen im 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Reinhard Lauer (Hg.), Philologie in Göttingen. Sprach- und Literaturwissenschaft an der Georgia Augusta im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Göttingen 2001, S. 57–90, hier 59–62; vgl. Kuhfuß, Kulturgeschichte (wie Anm. 3), S. 411 f., 506. 42 Krapoth, Beschäftigung (wie Anm. 41), S. 63 f. (Zitate); zu Colom du Clos vgl. auch Schröder, Biographisches und Bibliographisches Lexikon, Bd. 1 (wie Anm. 8), S. 151–153 und Bd. 5, S. 173. Zu Thompson siehe Thomas Finkenstaedt, Auf der Suche nach dem Göttinger Ordinarius des Englischen John Thompson, in: Schröder (Hg.), Fremdsprachenunterricht 1500–1800 (wie Anm. 3), S. 57–74. 43 Vgl. Bernhard Spörlein, Die ältere Universität Bamberg (1648–1803). Studien zur Institutionen- und Sozialgeschichte, 2 Bde. (Spektrum Kulturwissenschaften, 7) Berlin 2004.

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behalte gegen modernen Fremdsprachenunterricht, da er die Studenten angeblich vom Studium der klassischen Sprachen abhielt. Daher wurde der erste Hof- und Universitätssprachmeister erst um 1750 bestellt. In seiner Funktion als Hofsprachmeister erhielt dieser Pierre Etienne Fauvel ein Jahresgehalt von 52 Reichstalern, während er als Universitätssprachmeister lediglich die Erlaubnis besaß, Studenten und andere Interessenten an vorlesungsfreien Tagen gegen eine monatliche Kursgebühr zu unterrichten. Auch in Bamberg insistierte die Universität auf dem Rangunterschied zwischen Sprachlehrer und Professor: 1762 wurde das Gesuch eines Sprachmeisters, im Akademiegebäude unterrichten zu dürfen, mit der Begründung abgelehnt, dass es »sich ohnehin nicht geziemen will, demselben einen solchen plaz oder Canzel in denen schuelen einzuraumen, wo höhere Studia offentlich dociret werden.« Und auch hier wechselten sich die Sprachlehrer rasch ab: Der erste Hof- und Universitätssprachmeister verließ 1754 fluchtartig die Stadt (wobei er seine Ehefrau zurückließ); einer seiner Nachfolger wurde 1762 entlassen, nachdem er wegen angeblich blasphemischer Äußerungen denunziert worden war.44 Im Laufe des 18. Jahrhunderts führten die Integration der modernen Fremdsprachen in die Lehrpläne von Gymnasien und gelehrten Schulen sowie die Gründung von Fachschulen wie Kadettenanstalten, Berg- und Handelsakademien und kameralwissenschaftlichen Hochschulen zu einer deutlichen Ausweitung der Arbeitsmöglichkeiten.45 Dennoch spricht alles dafür, dass auf dem Arbeitsmarkt für Fremdsprachenlehrer das Angebot weit größer blieb als die Nachfrage. In den Reichsstädten Augsburg und Nürnberg, in denen die meisten Sprachlehrer freiberuflich arbeiteten, gibt es beispielsweise keine Anhaltspunkte dafür, dass sich die Stadtmagistrate aktiv um die Rekrutierung geeigneten Personals bemüht hätten; vielmehr zeigen die Quellen, dass es in aller Regel die Sprachlehrer selbst waren, die beim Rat um eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis supplizierten. Zum Teil versuchten sie, ihren Gesuchen Nachdruck zu verleihen, indem sie Empfehlungsschreiben früherer Arbeitgeber oder ausgear44 Vgl. Mark Häberlein, Fremdsprachen und Kulturtransfer in Bamberg im Zeitalter der Aufklärung, in: Ders. (Hg.), Bamberg im Zeitalter der Aufklärung und der Koalitionskriege. (Bamberger Historische Studien, 12/Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bamberg, 19) Bamberg 2014, S. 71–130, bes. 91–107, Zitat 97. 45 Vgl. Joachim Gessinger, Das Fremdsprachenproblem im Unterricht an den Schulen, in: Kimpel (Hg.), Mehrsprachigkeit (wie Anm. 2), S. 105–116; Kuhfuß, Kulturgeschichte (wie Anm. 3), S. 413–445; Horst Erlich, Die Kadettenanstalten. Strukturen und Ausgestaltung militärischer Pädagogik im Kurfürstentum Bayern im späteren 18. Jahrhundert. München 2007, S. 115, 123, 224, 272; Josef Ernst, Die Institutionalisierung der Sprachausbildung im österreichischen Militär von der Zeit Maria Theresias bis zum Wiener Kongress, in: Glück/Häberlein (Hg.), Militär und Mehrsprachigkeit (wie Anm.  22), S.  113–134;­ Frederic Groß, Sprachunterricht an der Hohen Karlsschule in Stuttgart – die Bedeutung der Sprachkenntnisse für die militärspezifische Ausbildung von Offizieren am Ende des Ancien Régime, in: Ebd., S. 135–150; Jürgen Kloosterhuis, Art. Kadettenanstalt, in: Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 6 (wie Anm. 2), Sp. 243–246.

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beitete Unterrichtspläne vorlegten und die Unterstützung potentieller Kunden mobilisierten. Die Räte bemühten sich ihrerseits, Informationen über Leumund und Qualifikation der Antragsteller einzuholen, und zogen dabei auch die bereits am Ort ansässigen Sprachmeister als Experten zu Rate. Dass deren Urteil nicht nur von Sachverstand, sondern auch von dem Wunsch geprägt war, unliebsame Konkurrenten abzuwehren, versteht sich.46 Im 18. Jahrhundert fungierten zudem die in zahlreichen deutschen Städten entstehenden Intelligenzblätter47 als Stellenbörsen für Sprachlehrer und trugen damit zur Genese eines Bildungsmarktes auf dem Gebiet des Fremdsprachen­ erwerbs bei.48 Sichtet man die Anzeigenseiten dieser Frühform der Zeitung, so hat es ebenfalls den Anschein, als ob der Markt für Fremdsprachenkenntnisse primär angebotsorientiert war. Vergleichsweise selten finden sich Stellenangebote wie 1754 in den »Franckfurter Frag- und Anzeigungs-Nachrichten«: »Es wird ein Sprachmeister in der Englischen Sprache gesucht um an einem benachbarten Fürstl. Hofe auf 6. bis 12. Monate gegen raisonnables Recompence Lection zu geben.«49 1784 wurde im Leipziger Intelligenzblatt »ein unverheyratheter französischer Sprachmeister auf das Land gesucht, welcher nicht allein die Aussprache rein und natürlich deutlich habe, sondern auch deren Regeln und die feinen Wendungen genau kenne, und die Gabe solches mitzutheilen besitze. Man wird jedoch Bedenken tragen, anders, als auf sehr glaubhafte Beglaubigungs- und Empfehlungsschreiben sich mit einem Unbekannten weiter ein­ zulassen.«50

Wesentlich häufiger begegnen einem Anzeigen, in denen Männer und (selte­ ner) Frauen eine Anstellung als Hofmeister, Sekretär, Diener oder Gouvernante suchten und – teilweise in Kombination mit anderen Fähigkeiten – ihre 46 Vgl. Glück/Häberlein/Schröder, Mehrsprachigkeit (wie Anm. 2), S. 160–189. 47 Vgl. zu dieser Gattung periodischer Publizistik Sabine Doering-Manteuffel u. a. (Hg.), Pressewesen der Aufklärung. Periodische Schriften im Alten Reich. (Colloquia Augus­ tana, 16) Berlin 2001; Astrid Blome, Vom Adressbüro zum Intelligenzblatt. Ein Beitrag zur Genese der Wissensgesellschaft, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 8, 2006, S. 1–27; Dies., Wissensorganisation im Alltag – Entstehung und Leistungen der deutschsprachigen Regional- und Lokalpresse im 18. Jahrhundert, in: Dies./Holger Böning (Hg.): Presse und Geschichte. Leistungen und Perspektiven der historischen Presseforschung. (Presse und Geschichte. Neue Beiträge, 36) Bremen 2008, S. 179–208. 48 Zum Konzept eines »städtischen Bildungsmarkt[es]« und zur Presse als »strategischer Ort aufklärerischer Bildungsöffentlichkeit« vgl. im vorliegenden Zusammenhang insbesondere Ulrike Krampl, Bildungsgeschichte jenseits der Schule. Soziale Situationen der Sprachvermittlung im Paris des 18. Jahrhunderts, in: Frühneuzeit-Info 24, 2013, S. 19–28; Dies., Fremde Sprachen, Adelserziehung und Bildungsmarkt im Frankreich der zweiten Hälfte des 18.  Jahrhunderts, in: Glück/Häberlein (Hg.), Militär und Mehrsprachigkeit (wie Anm. 21), S. 97–112, Zitate 98. 49 Ordentliche wochentliche Franckfurter Frag- und Anzeigungs-Nachrichten […], Nr. 10, 1. Februar 1754. 50 Gnädigst privilegirtes Leipziger Intelligenz-Blatt […], Nr. 37, 28. August 1784, S. 307.

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Fremdsprachenkenntnisse als Qualifikation anführten. Im »Churbaierischen Intelligenzblatt« bot 1769 »ein wohlgewachsener Mensch seine Dienste an, als Sprachmeister, Kammerdiener oder Hofmeister bey einer Herrschaft.« Der Arbeitssuchende sei »von Geburt ein Schweitzer, versetzt Bücher aus dem Französischen ins Deutsche und redet seine 4. Sprachen.«51 In der »Münchner Zeitung« inserierte 1781 »[e]in honneter Mensch, welcher frisiren und barbiren kann, auch die teutsche, französische, italienische und änglische Sprache verstehet,« um »als Kamerdiener anzukommen.«52 Vier Jahre später publizierte in derselben Zeitung »[e]ine Demoiselle von guter Konduit, welche in der französischen Sprache besonders wohl versiret, und in Unterrichtung der Kinder sehr geschikt ist,« ihren Wunsch, »als Gubernantin aufgenommen zu werden.«53 Im selben Jahr suchte »[e]in unverheuratheter Mann von geseztem Alter und guter Herkunft, der gut schreibt und rechnet, nebst der teutschen die lateinische und französische Sprache verstehet, nicht nur praktische Rechtskenntnis, sondern auch Einsicht in die Hauswirthschaft besizt,« eine Anstellung »bei einer Herrschaft als Sekretär, Kammerschreiber, oder Verwalter«, und »[e]in junger Mensch, welcher nebst der teutschen Sprache auch gut französisch und italiänisch spricht, und schreibt, anbei mit guten Attestaten versehen ist, suchet als Bedienter anzukommen.«54 Auch ein »junger Weltpriester«, der 1785 über eine Annonce in der »Münchner Zeitung« eine Stelle als Hofmeister suchte, hatte ein vielseitiges Qualifikationsprofil vorzuweisen: Nach eigenem Bekunden hatte er »seine Studien mit auszeichnendem Fortgange zurückgelegt«, verstand »nebst der deutschen auch die französische Sprache« und hatte sich »durch nüzliche Lektüre klassischer und neuerer Schriften mit den Maximen bildender Jugend so viel nur möglich bekannt gemacht.«55 Freiberuflich arbeitende Sprachmeister bedienten sich der Intelligenzblätter, um ihr Unterrichtsangebot bekannt zu machen und neue Schüler zu werben. In den »Hannoverischen Anzeigen« bekundete 1751 ein Italienischlehrer seine Absicht, »sich allhier niederzulassen, und sowol in italiänischer als französischer Sprache Lectiones zu geben,« sofern sich bereits im Vorfeld eine ausreichende Zahl an Schülern anmeldete. Nachdem man »gedachten Sprachmeister gerne hieher ziehen möchte, so wird gebethen, daß alle diejenigen, welche in der italiänischen oder französischen Sprache bey bemeldten Sprachmeister Lectiones nehmen wollen, solches fordersamst dem Intelligenzcomtoir mögen wissend machen, damit man jedem davon Nachricht geben […] könne.«56 51 52 53 54

Churbaierisches Intelligenzblatt 1769, S. 62. Münchner Zeitung Nr. CXC , 1. Dezember 1781, Anhang. Münchner Zeitung Nr. XXXVI, 5. März 1785, Anhang. Münchner Zeitung Nr. LXXV, 14. Mai 1785, Anhang. Zu Dienstboten als Sprachvermittlern siehe Krampl, Fremde Sprachen (wie Anm. 48), S. 105–108. 55 Münchner Zeitung, Nr. LV, 9. April 1785, Anhang. 56 Hannoverische Anzeigen von allerhand Sachen […], Nr. 17, 26. Februar 1751, S. 354.

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Drei Jahre später kündigte der französische Sprachmeister Bedart in einem Frankfurter Intelligenzblatt an, dass er seinen zwischenzeitlich unterbrochenen Sprachunterricht wieder aufnehmen werde.57 In Salzburg bot 1784 ein Sprachmeister, »welcher der italiänischen Sprache vollkommen kündig ist, […] dem hiesigen Publikum, und vorzüglich der lehrbegierigen Jugend seine Dienste an. Er gibt nicht nur gründlichen und geschwinden Unterricht in diser so sehr nüzlichen und schönen Sprache, sondern auch in der sogenannten wälschen Prattica. Wenn sich mehrere zugleich melden sollten, so erbietet er sich wöchentlich dreimal in jedem diser zwei Gegenstände auf Verlangen, um die sehr nidrige monatliche Erlage von 30 Kreuzern Unterricht zu geben. Er erwartet nur noch einige Bestellungen, um mit den Lektionen sogleich den Anfang machen zu können.«58

Private Bildungseinrichtungen und Fachschulen bedienten sich ebenfalls des Mediums der Intelligenzblätter, um auf ihr Unterrichtsangebot aufmerksam zu machen. So wurde 1787 in den »Gothaischen gelehrten Zeitungen« für eine »Erziehungsanstalt für Kameralisten« im Raum Frankfurt geworben, an der neben ökonomischen und technischen Fächern auch Französisch und Englisch unterrichtet wurden.59 Eine Handelsakademie in Elberfeld warb 1798 in der in Nürnberg erscheinenden ›Allgemeinen Handlungs-Zeitung‹ damit, dass dort »alle diejenigen Sprachen, Wissenschaften und Künste gelehrt [würden], welche dem Jüngling für seinen künftigen Beruf als Kaufmann und als gebildeter Mann unentbehrlich sind; z. B. die Französische, die Deutsche, die Englische und die Italiänische Sprache; das Buchhalten, Rechnen und Schönschreiben; die Geographie, die Geschichte und die Moral.«60 57 »Nachdem der, wegen seiner schönen Schreib-Art genugam bekannte Frantzösische Sprach-Meister Herr Bedart, gewisser Ursachen halben gezwungen worden, die bey ihm zu Hauß gegebene Information-Stunden zu unterbrechen, so hat er sich zum allgemeinen Besten, und Vortheil der Jugend beyderley Geschlechts, aufs neue entschlossen, selbige wieder anzufangen, und darinnen so wohl die Frantzösische Sprache, Uebersetzung, als Correspondence zu lehren, wie auch Kost-Gänger anzunehmen, und selbige durch Behülffe der geschicktesten Meister in allen nützlichen Wissenschafften zu unterrichten. Er selbst aber wird des Abends von 6 biß 8 Uhr, in denen schon vorgemeldten Sachen informiren. Er hat zu besserer Beförderung eines so Löbl. Vorhabens, sein dermahliges Logis mit einem andern in der Kruggasse, in des Herrn Lindenfels Behausung verändert, und wird sich wegen des Lehr- und Kost-Geldes mit einem jeden zu verstehen befleißigen.« (Ordentliche wochentliche Franckfurter Frag- und Anzeigungs-Nachrichten Nr. VI, 18. Januar 1754). 58 Salzburger Intelligenzblatt, 9. August 1784, Nr. XXXII, S. 127. 59 »In einem unweit Frankfurt am Mayn in einer schönen Gegend liegenden Dorfe, soll eine Erziehungsanstalt für Kameralisten errichtet, und darin von mehrern Lehrern Unterricht in der Landwirthschaft, Bergbau, Forstwissenschaft, Technologie, Kameral- und Polizeywissenschaft, Handlung, Mathematik, Statistik, wie auch in der französischen und englischen Sprache ertheilet werden. Die nahe liegenden Bergwerke, Waldungen und Fabriken, verschaffen den Lehrern Gelegenheit, das Praktische mit dem Theoretischen zu verbinden.« (Gothaische gelehrte Zeitungen, Nr. 69, 29. August 1787, S. 568). 60 Kaiserlich-privilegirte allgemeine Handlungs-Zeitung, 5. Jahrgang, 46. Stück, Nürnberg, 14. November 1798, S. 733 f.

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Auch in privaten Mädchenschulen, für die im späten 18. Jahrhundert geworben wurde,61 gehörten Fremdsprachen zum Fächerkanon. In einem »Erziehungshaus […] für junge Frauenzimmer«, das zwei Franzosen 1785 in München zu gründen beabsichtigten, sollte neben »Religion, Moral und Lebensart«, deutscher und französischer »Schönschreibkunst«, Geschichte, Geographie und Handarbeiten auch »die französische Sprache gründlich und durch eine immerwährende Uibung« vermittelt werden.62 Maria Sophia von Vinnen, die 1792 eine Annonce für ihre private Mädchenschule in Altona aufgab, benannte als Unterrichtsfächer »Religion, Deutsche, Französische, Englische und Italiänische Sprache, Zeichnen, Musik, Tanzen, Rechnen und Schreiben, nebst Ortographie, Landcharten, Geschichte wie auch allerhand Händearbeit […], überhaupt alles was zur Bildung eines wohlerzogenen Frauenzimmers erfordert wird.«

Während des Unterrichts seien »die jungen Demoisellen beständig unter der Aufsicht von mir selbsten, oder von zwey Französinnen, und eine[r] Engelände­ rin, welche von mir, nebst acht der geschicktesten Lehrer, in jedem Fache angestellt sind.«63 V. Der Markt für Lehrwerke Neben dem Arbeitsmarkt für Fremdsprachenlehrer bildete der Markt für Lehrwerke die zweite Säule des hier untersuchten Wissensmarktes. Auch wenn eingehende wirtschaftshistorische und statistische Untersuchungen bislang fehlen, lassen die einschlägigen Nachschlagewerke und Bibliographien eine starke quantitative Expansion der Produktion von Materialien für den Fremdsprachen­ unter­richt erkennen. Während sich der Unterricht um 1500  – a­ bgesehen von 61 Zur fremdsprachlichen Frauen- und Mädchenbildung vgl. Konrad Schröder, Frauen lernen Fremdsprachen. Einige empirische Fakten und die Historie des Phänomens, in: Neusprachliche Mitteilungen 49, 1996, S. 5–10; Barbara Kaltz, Der Fall Beaumont oder: Wie lernten Mädchen im 18. Jahrhundert Französisch als Fremdsprache?, in: Hüllen/Klippel (Hg.), Sprachen der Bildung (wie Anm. 6), S. 247–260; Glück/Häberlein/Schröder, Mehrsprachigkeit (wie Anm. 2), S. 200–202, 300–304; Kuhfuß, Kulturgeschichte (wie Anm. 3), S. 360–362, 445–464. 62 »Und in der That wäre es nicht viel vortheilhafter, sein köstliches Kleinod unter seinen eigenen Augen auferziehen zu sehen, statt selbe nach Straßburg oder ander Orte zu­ schiken, wo der größte Theil davon vernachläßiget wird; weil Entfernung ihnen die Furcht ob ihrer Aeltern Scharfblik benimmt; da man im Gegentheile hier zum wenigsten Augenzeuge ihrer Vervollkommnung an Känntnis und Geschiklichkeit sein könnte. Man benachrichtiget, dass man Niemand über 14 Jahre nehmen werde, und bittet diejenigen Personen, die Willens sind, in einen solchen Vorschlag einzuwilligen, selbes vor Ende Septembers anzuzeigen, daß man hierüber seine nöthigen Anstalten treffen könne.« (Münchner Wochenblat[t], 3. August 1785). 63 Der Anzeiger, Nr. 73, 28. März 1791.

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einigen Wörterbüchern  – im Wesentlichen auf handschriftliche Materialien stützte, entstanden um die Mitte des 16.  Jahrhunderts die ersten Gebrauchsgrammatiken, und bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts lag eine um Gesprächsbücher und Aussprachehilfen erweiterte »Standardpalette von sprachlich-didak­ tischen Hilfsmitteln« auf dem Buchmarkt vor. »Zwischen 1550 und 1620 werden in Deutschland« Walter Kuhfuß zufolge »jährlich zwischen einer und sechs Grammatiken des Französischen auf den Markt gebracht; inklusive der Neuauflagen sind das für diesen Zeitraum rund 200 Lehrwerke.«64 Nach einem konjunkturellen Einbruch in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges65 expandierte die Produktion von Lehrmaterialien nach 1650 kontinuierlich; für das 18. Jahrhundert wurden über 400 Französisch-Lehrwerke gezählt. Dabei handelte es sich keineswegs immer um Neuschöpfungen, sondern häufig um Bearbeitungen, Kompilationen oder auch schlichte Plagiate älterer Lehrwerke. Im 18. Jahrhundert entwickelten sich Klagen über die Flut an Französisch-Wörterbüchern und Grammatiken geradezu zu einem Topos in Vorworten und Rezensionsorganen.66 Die Produktion an Englisch-Lehrwerken für den deutschsprachigen Raum expandierte von 27 im Zeitraum ­1700–1770 auf rund 100 im Zeitraum 1770–1840.67 Zahlreiche Sprachlehrer sahen in der Publikation eigener Lehrmaterialien eine Möglichkeit, ihr Einkommen aufzubessern, zumal sie ihrem Unterricht die selbst verfassten Werke zugrunde legen konnten. Einige besonders produktive und geschäftstüchtige Sprachmeister legten eine ganze Palette an Lehrwerken und Übungsmaterialien vor, um einen möglichst breiten Kundenkreis zu erschließen.68 Diese Differenzierung der Produktion möchte ich an einigen Beispielen aufzeigen. Der aus den Niederlanden stammende Gérard Du Vivier, der seit 1564 in Köln eine Sprachschule betrieb, legte 1566 die erste Französischgrammatik in deutscher Sprache vor und schuf in den folgenden Jahren »ein differenziertes System adressatenbezogener Grammatiken, die den Gesamtbereich kaufmännischer Französischkenntnisse abdeckten.« Dieses umfasste ein 1569 gedrucktes französisch-deutsches Synonymwörterbuch, ein fünf Jahre später publiziertes Gesprächsbuch (»Douze dialogues et Colloques«), das auf »die Geschäfts- und Alltagspraxis künftiger Kaufleute« abgestimmt war, einen 1575 erstmals aufgelegten Briefsteller (»Lettres missives familieres entresmeslees de certaines confabulations, non moins utiles que recreatives«), der bis 1642 ein Dutzend

64 Kuhfuß, Kulturgeschichte (wie Anm. 3), S. 115, 127–130, Zitat 130, 181–204, Zitat 219. 65 Zur Situation des Französischunterrichts und zur Lehrwerkproduktion in dieser Zeit vgl. Kuhfuß, Kulturgeschichte (wie Anm. 3), S. 244–261. 66 Vgl. Spillner, Französische Grammatik (wie Anm.  2), S.  135–138; Kuhfuß, Kultur­ geschichte (wie Anm. 3), S. 350. Zur Expansion der Lehrwerkproduktion in Augsburg und Nürnberg vgl. Glück/Häberlein/Schröder, Mehrsprachigkeit (wie Anm. 2), S. 245 f. 67 Vgl. Klippel, Englischlernen (wie Anm. 3), S. 59–65, 93–99. 68 Vgl. Strauss, Unterricht (wie Anm. 4), S. 210–213; Klippel, Englischlernen (wie Anm. 3), S. 61 f., 94; Glück/Häberlein/Schröder, Mehrsprachigkeit (wie Anm. 2), S. 193.

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Neuauflagen erlebte, und drei speziell für den Sprachunterricht geschriebene französische Komödien. Zudem bestellte er Lehrmaterialien, beispielsweise französische Übersetzungen der lateinischen Komödien von Terenz, bei dem bekannten Antwerpener Verleger Christophe Plantin.69 Noch deutlich umfangreicher und vielfältiger war die Produktion des aus Köln stammenden, aber überwiegend in Nürnberg tätigen Matthias Kramer (1640–1727), der neben Wörterbüchern, Grammatiken und Lehrwerken des Französischen und Italienischen auch eine niederländische Grammatik, das erste niederländisch-deutsche Wörterbuch und Lehrbücher für Deutsch als Fremdsprache vorlegte. Außerdem umfasst sein Werk einen italienisch-deutschen Briefsteller für Kaufleute (»Banco-Secretarius, oder kauffmännischer Correspondentz-Stylus, erkläret in drey-hundert schönen Handels-Briefen von allerhand Gewerben […], Italiänisch und Teutsch«) und didaktische Materialien. Seine Schrift »Die rechte Lehr-Art Denen Teutschen gar leichtlich und in kurtzer Zeit beyzubringen Die Frantzösische Sprach / gantz anmutig erkläret vermittels eines Freundlichen Gesprächs Frantzösisch und Teutsch / Zwischen einem Sprachmeister und einem Scholaren« stellt zugleich ein aufschlussreiches Zeugnis zum Selbstverständnis eines Sprachmeisters um 1700 dar. Mit den Nürnberger Häusern Endter und Hofmann standen Kramer leistungsfähige reichsstädtische Verlage zur Verfügung, die für eine weite Verbreitung seiner Werke sorgten.70 Auf die geradezu inflationäre Ausweitung des Angebotes an Sprachlehrwerken im 18. Jahrhundert reagierten die Lehrwerksautoren und ihre Verleger mit verschiedenen Strategien. Erstens erweiterten sie ihr Angebot um Werke für bestimmte Adressatengruppen wie Kinder und Jugendliche, Frauen und einzelne Berufsgruppen (Kaufleute und Bankiers, Kanzlisten und Sekretäre).71 Zweitens versprachen sie ihren Benutzern durch verbesserte oder angeblich gänzlich neu

69 Vgl. Kuhfuß, Kulturgeschichte (wie Anm. 3), S. 115, 120 f., 126, 174, 177 f., 184–188, alle Zitate 185; vgl. Zwierlein, Französischunterricht (wie Anm. 25), S. 62–67. 70 Vgl. Konrad Schröder, Matthias Cramers »Entretien de la Méthode entre un maître de langues et un écolier« (Nürnberg 1696). Französischunterricht und Fremdsprachen­ didak­tik im Zeitalter Ludwigs XIV., in: Ders. (Hg.), Fremdsprachenunterricht (wie Anm. 3), S. 171–189; Laurent Bray, Matthias Kramer et la lexicographie du français en Allemagne au XVIIIe siècle. Avec une édition de textes métalexicographiques de Kramer. Tübingen 2000; Harald Völker, Matthias Kramer als Sprachmeister, Didaktiker und Grammatiker für die französische Sprache in Deutschland, in: Wolfgang Dahmen (Hg.), »Gebrauchsgrammatik« und »Gelehrte Grammatik«. Französische Sprachlehre und Grammatikographie zwischen Maas und Rhein vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. (Tübinger Beiträge zur Linguistik, 454) Tübingen 2001, S.  167–250; Glück/Häberlein/ Schröder, Mehrsprachigkeit (wie Anm.  2), S.  155–160, 202–205, 251–253, 287–290 und passim; Glück, Die Fremdsprache Deutsch (wie Anm. 10), S. 179–187; Kuhfuß, Kultur­ eschichte (wie Anm. 3), S. 324–335. 71 Vgl. exemplarisch Spillner, Französische Grammatik (wie Anm. 2), S. 144–146; Glück/Häberlein/Schröder, Mehrsprachigkeit (wie Anm. 2), S. 287–300.

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entwickelte Lehrmethoden einen größeren Lernerfolg.72 Der als Französischund Italienischlehrer in Frankfurt am Main tätige Johann Valentin ­Meidinger (1756–1822) beispielsweise veröffentlichte 1783 eine »Practische Französische Grammatik, wodurch man diese Sprache auf eine ganz neue und sehr leichte Art in kurzer Zeit gründlich erlerne«, die sich zu einem der populärsten Sprachlehrbücher des späten 18.  Jahrhunderts entwickelte. Außerdem verfasste er Übungsbücher, Lektüren, eine Wortkunde und einen Briefsteller für den Französischunterricht sowie diverse Lehrwerke für den Italienischunterricht. »In seinen Unterrichtsmaterialien zeigt sich Meidinger« Konrad Schröder zufolge »als radikaler Vertreter einer kognitiv orientierten, auf den Erwerb eines Regelwerks abzielenden Methode«, die bereits auf den neuhumanistischen gymnasialen Fremdsprachenunterricht des 19. Jahrhunderts vorausweist.73 Drittens brachten die Drucker und Verleger Lehrwerke in unterschiedlichen Ausstattungen und Formaten auf den Markt. Inhaltlich anspruchsvolle Lehrwerke für die höheren Stände, welche die Ideale der civilité und des honnête homme sowie die damit einhergehenden Spielregeln galanter und geistreicher Konversation vermittelten,74 waren oft als umfangreiche Quartbände mit graphisch anspruchsvollen Titelblättern und Frontispizen gestaltet, die den Distinktionsbedürfnissen einer wohlhabenden und anspruchsvollen Käuferschaft entgegenkamen. Diesen standen einfache, preisgünstig produzierte Oktavbände für weniger vermögende Sprachschüler gegenüber. Viertens schließlich nutzten auch Lehrwerksautoren das Medium der Intelligenzblätter, um auf ihre Schriften aufmerksam zu machen. In der »Kaiserlich-privilegirte[n] allgemeine[n] Handlungs-Zeitung« wurde 1798 eine Übersetzung der »Moralischen Erzählungen« des französischen Schriftstellers Marmontel folgendermaßen beworben: »Die Contes moraux de Mr. Marmontel, wurden seit ihrer Existenz, als vorzügliche Muster einer reinen und eleganten Conversationssprache anerkannt, und von Lehrern der französischen Sprache beym Unterrichte mit Nutzen gebraucht. Ungleich größer müßte aber dieser Nutzen seyn, wenn sie immer von dem Anfänger gehörig

72 Vgl. Spillner, Französische Grammatik (wie Anm. 2), S. 136 f. 73 Vgl. Schröder, Biographisches und Bibliographisches Lexikon, Bd.  3 (wie Anm.  8), S. 175–178, Zitat 175; vgl. auch Brekle u. a., Bio-bibliographisches Handbuch, Bd. 6 (wie Anm. 7), S. 42–48; Kuhfuß, Kulturgeschichte (wie Anm. 3), S. 509–517. 74 Vgl. Karin Ehler/Martin Mulsow, Gespräche über Grammatik und Civilité. Multifunktionalität von sprachdidaktischen Dialogen bei François de Fenne (1690) und Pierre­ François Roy (1693), in: Romanische Forschungen 107,3–4, 1995, S. 314–342; Dies., Vom galanten Umgang mit der Sprache. Sprachdidaktische Dialoge des 17. Jahrhunderts als Konversationsliteratur, in: Wolfgang Adam (Hg.), Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Vorträge und Referate gehalten anlässlich des 8. Kongresses des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Barockforschung in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel vom 31.  August bis 3.  September 1994. Wiesbaden 1997, S.  581–596; Kuhfuß, Kultur­ geschichte (wie Anm. 3), S. 365–370.

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verstanden würden, der nicht selten nach langem vergeblichen Durchblättern seines Dictionaire dieses fürtrefliche Werk unbelehrt aus der Hand legt. Eine Ausgabe mit deutschen Erläuterungen war daher längst der Wunsch vieler Lehrer und Lernenden; und man kündiget hiermit die Erfüllung desselben dem Publikum an.«75

Der »Allgemeine litterarische Anzeiger« druckte im selben Jahr eine »Nachricht an die Französisch lernende Jugend und deren Aeltern und Lehrer«: »Seit dem Anfang dieses 1798. Jahres kommt zu Giessen, in Hessen, eine kleine Französische Zeitung, unter dem Titel: Le petit Mercure Francois, contenant des nouvelles politiques de Musique et des Modes, auf wöchentlich 2 halben Bogen in 8. heraus Ihr Zweck ist: Anfängern im Französischen, auf bequeme, leichte und angenehme Art in dieser so unentbehrlich gewordenen Sprache, auch ohne LehrMeister, nachzuhelfen und sie darin zu befestigen. Desswegen werden darin die neuesten politischen, musikalischen und ModeNeuigkeiten, in leichtem Französischem Style erzählt, und in Teutschen Anmerkungen, welche darunter stehen, die dem Anfänger etwa noch unbekannten Franz. Wörter und RedensArten Teutsch übersetzt; alle historisch-geographisch-statistische u.s.w. Gegenstände erläutert; die neusten und besten Musikalien für Klavier und Gesang angezeigt und beurtheilt, und alle 3 Monate auch die neuesten Moden bemerkt und durch vier ausgemahlte Kupfer erläutert.«76

Schließlich bot das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts analog zur allgemeinen Entwicklung auf dem Zeitschriftenmarkt stark expandierende Rezensionswesen77 Orientierung auf dem Markt für Sprachlehrwerke, indem es zwischen originären Werken, Neubearbeitungen und Plagiaten unterschied und die besprochenen Werke nach ihrem methodischen Aufbau und didaktischen Ansatz beurteilte. Über F. G. Barths 1778 in Erfurt publizierte »Kurzgefaßte spanische Grammatik« beispielsweise urteilte die »Allgemeine deutsche Bibliothek« im folgenden Jahr kurz und bündig: »Weder mit philosophischem Geiste (wie leider fast keine Grammatik,) noch mit Genauigkeit gearbeitet.«78 Die »Portugiesische Grammatik« des ehemaligen Offiziers Johann Andreas von Junk – eines der ersten Lehrwerke dieser Sprache im deutschsprachigen Raum überhaupt – wurde hingegen im selben Jahrgang dieser Zeitschrift in einer fünfseitigen Besprechung gewürdigt, in welcher der Rezensent »die genaue Ausführlichkeit, die Sorgfalt, und den Reichthum« der Publikation lobte und seiner

75 Kaiserlich-privilegirte allgemeine Handlungs-Zeitung, 5. Jahrgang, 16. Stück, Nürnberg, 18. April 1798, S. 255. 76 Allgemeiner Litterarischer Anzeiger, oder: Annalen der gesammten Litteratur für die geschwinde Bekanntmachung verschiedener Nachrichten aus dem Gebiete der Gelehr­ samkeit und Kunst, Bd. 3. Leipzig 1798, S. 247. 77 Vgl. Thomas Habel, Gelehrte Journale und Zeitungen der Aufklärung. Zur Entstehung, Entwicklung und Erschließung deutschsprachiger Rezensionszeitschriften des 18. Jahrhunderts. (Presse und Geschichte – Neue Beiträge, 17) Bremen 2007. 78 Allgemeine deutsche Bibliothek, 37. Jahrgang, 1. St., 1779, S. 266–268, Zitat 266.

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Freude Ausdruck verlieh, »daß wir auch hier wieder ein Werk besitzen, das dem deutschen Fleiße Ehre machet.«79 Die in Nürnberg erscheinende »Kaiserlich-privilegirte allgemeine Handlungs-Zeitung« hob im Jahre 1798 die Vorzüge der in derselben Stadt erschienenen »Neue[n] Grammaire raisonnée zum Gebrauche für eine junge Person herausgegeben von […] E. W. F. Penzenkuffer« hervor: »Die Anzahl der seit ein paar Jahrzehnten erschienenen Französischen Grammatiken ist beinahe Legion, aber nur geringe ist die Ausbeute, die sie dem denkenden Sprachforscher liefern. Nur wenige dringen in den Geist der Sprache ein; die meisten enthalten nur die Form derselben und wer diese schon kennt, legt sie unbefriedigt aus der Hand. Man glaubt öfter daß eine gewöhnliche Kenntniß von einer Sprache hinlänglich sey, um eine Grammatik zu schreiben, während doch tiefe allgemeine und specielle Sprachkenntnisse dazu erfordert werden.«

Die vorliegende Grammatik bilde in dieser Hinsicht eine Ausnahme: »Der Plan ist wohl angelegt und gut ausgeführt und zeigt von den nicht gemeinen Sprachkenntnissen des Verfassers.« Zudem enthalte sie genaue Übersetzungen sowie hilfreiche Anmerkungen und Zusätze.80 Manche Lehrwerksautoren druckten positive Besprechungen ihrer Werke in späteren Publikationen ab.81 VI . Schluss Im Verlauf der Frühen Neuzeit entwickelte sich in Mitteleuropa ein dynamischer Markt für Fremdsprachenkenntnisse, der sowohl durch eine Ausweitung des institutionalisierten und des freien Sprachunterrichts als auch durch eine starke Expansion des Angebots an Lehrmaterialien gekennzeichnet war. Nur eine Minderheit der Fremdsprachenlehrer und Lehrwerksautoren scheint in diesem Metier allerdings auf Dauer eine gesicherte rechtliche und materielle Existenz erlangt zu haben, während die Mehrzahl unter prekären Umständen lebte.82 In Augs79 Ebd., S. 268–273, Zitat 272 f. Zu Junk und seinem Werk vgl. Schröder, Biographisches und bibliographisches Lexikon, Bd. 3 (wie Anm. 8), S. 20 f.; Brekle u. a., Bio-bibliographisches Handbuch, Bd. 5 (wie Anm. 7), S. 66 f.; Barbara Schäfer, Die Darstellung einiger grammatischer Phänomene des Portugiesischen in den drei ältesten Lehrbüchern für Deutsche, in: Helmut Lüdtke/Jürgen Schmidt-Radefeldt (Hg.), Liguistica contrastiva: Deutsch versus Portugiesisch – Spanisch – Französisch. Tübingen 1997, S. 269–284, hier 269. 80 Kaiserlich-privilegirte allgemeine Handlungs-Zeitung, 5. Jahrgang, Nürnberg 1798, S. 279 f. 81 Vgl. das Beispiel des braunschweigischen Sprachmeisters J. G. Kleine bei Spillner, Französische Grammatik (wie Anm. 2), S. 137. 82 Vgl. Kuhfuß, Kulturgeschichte (wie Anm. 3), S. 177 f.: »Ungünstige soziale Bedingungen der Berufstätigkeit, prekäre finanzielle Konditionen und eine konfessionell begründete Mobilität vermitteln […] ein Berufsbild, das insgesamt noch wenig gefestigt erscheint und das in seinem Sozialprestige weit unten in der Rangfolge der Berufe eingeordnet war.« Siehe auch Spillner, Französische Grammatik (wie Anm. 2), S. 143.

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burg und Nürnberg erhielten nicht einmal zehn Prozent der dort im 17.  und 18.  Jahrhundert tätigen Sprachlehrer das Bürgerrecht, und selbst der produktivste Sprachlehrer der Barockzeit, der Nürnberger Matthias Kramer, klagte gegen Ende seines Lebens über sein karges Auskommen.83 Der bereits erwähnte Schuhmacher Johann Caspar Steube, der sich nach einem bewegten Leben in seiner Heimatstadt Gotha als Italienischlehrer versuchte, berichtet in seiner Autobiographie, dass »sich anfänglich viele Liebhaber der italienischen Sprache« eingefunden hätten, so dass er »den ganzen Tag beschäftigt und imstande war, [s]ein Hauswesen sehr gut zu führen.« Dieser Erfolg war allerdings nicht von Dauer, wie Steube selbstkritisch festhielt: »Hätte ich mich mehr auf den Gang der Moden verstanden, so würde ich mir freilich leicht haben sagen können, daß die Erlernung der italienischen Sprache nur Lieb­ haberei und der Verdienst folglich vorübergehend sei; allein ich glaubte, daß ein sehr frugal lebender italienischer Sprachmeister in der Residenzstadt Gotha sein kümmerliches Auskommen finden würde; ich machte aber die Rechnung ohne den Wirt, denn nach einigen Jahren verschwanden die Lernlustigen fast ganz, ich hatte nichts zu ­dozieren […].«

Auch Steubes Versuch, auf die Schnelle noch Französisch – »die Modesprache, ohne welche in Deutschland mancher Deutsche keinen Deutschen verstehen würde« – zu lernen und damit seinen Broterwerb zu bestreiten, zerschlug sich, als sein Lehrer ihm eröffnete, dass er allenfalls mittelmäßig Französisch spreche. »[D]er ganze Erfolg war, daß ich die Modesprache im Kopfe und ein Dutzend Louisdor weniger im Beutel hatte.«84 Während also gelehrte Enzyklopädien den Sprachmeistern am Ende des 18. Jahrhunderts vorwarfen, sie würden nicht für Ehre, sondern nur für Geld arbeiten, mussten viele von ihnen feststellen, dass es auch um das Geld nicht allzu gut bestellt war.

Quellen und Literatur Quellen Allgemeine deutsche Bibliothek, 37. Jahrgang, 1. St., 1779. Allgemeiner Litterarischer Anzeiger, oder: Annalen der gesammten Litteratur für die geschwinde Bekanntmachung verschiedener Nachrichten aus dem Gebiete der Gelehrsamkeit und Kunst, 3. Band. Leipzig 1798. Churbaierisches Intelligenzblatt 1769. Der Anzeiger, Nr. 73, 28. März 1791. Gnädigst privilegirtes Leipziger Intelligenz-Blatt […], Nr. 37, 28. August 1784. Gothaische gelehrte Zeitungen, Nr. 69, 29. August 1787. 83 Vgl. Glück/Häberlein/Schröder, Mehrsprachigkeit (wie Anm. 2), S. 192–197, 207 f. 84 Vgl. Steube, Von Amsterdam nach Temiswar (wie Anm. 36), S. 220–222 (dort alle Zitate).

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Ian Maclean

Die Publikation gelehrter Bücher vor und nach dem Dreißigjährigen Krieg Die humanistische Jurisprudenz

Über die Entwicklungen in den volkssprachigen beziehungsweise nationalen Literaturen zwischen 1650 und 1750 ist viel geschrieben worden. In jüngerer Zeit hat die Forschung ihre Aufmerksamkeit vor allem den Veränderungen in der Gelehrtenrepublik gewidmet, insbesondere den sich formierenden Briefnetzwerken. Die kontinuierliche Tradition buchbasierter Wissenschaft sowohl innerhalb als auch außerhalb der Universitäten wurde dabei etwas vernachlässigt, obwohl ein überaus breites Quellenfundament vorliegt.1 Im Sinne einer handhabbaren Erschließung solcher Quellen werde ich mich in diesem Beitrag auf zwei wichtige Publikationsprojekte im vergleichsweise überschaubaren Feld der humanistischen Rechtswissenschaft konzentrieren. Auf diese Weise lassen sich die wichtigsten Veränderungen im gelehrten Buchmarkt aufzeigen, dem drei Funktionen zukamen: Bei der Wiederentdeckung verlorener wissenschaftlicher Publikationen der Vergangenheit behilflich zu sein, zentrale Werke im jeweiligen Feld dauerhaft zugänglich zu machen sowie die Publikation neuer Bücher zu fördern. Die beiden von Everhard Otto (1685–1756) und Gerard Meerman (1722–1771) herausgegebenen Thesauri versammelten in den mehrbändigen Folioausgaben, die ihre Förderer zwischen 1725 und 1753 drucken ließen, mehr als 200 unveröffentlichte und veröffentlichte Texte sowie gänzlich neue Arbeiten. Der erste war der vierbändige »Thesaurus Juris Romani«, der zwischen 1725 und 1726 in Leiden bei Johannes van der Linden gedruckt wurde. Er beinhaltete 77 bereits publizierte Texte; das Material stammte hauptsächlich aus Frankreich und Spanien. Der Herausgeber Everhard Otto, ein Rechtsprofessor an der Universität Utrecht, nutzte für die Kompilation hauptsächlich Bestände der Bibliothek Cornelius van Bynkershoeks (1673–1743), des Vorsitzenden des Hohen Rats von Holland. Weitere Auflagen erfolgten 1733 bis 1735 – mit 21 Zusätzen – sowie 1741 bis 1744. Der zweite war der siebenbändige »Novus Thesaurus Juris Civilis et Canonici«, der zwischen 1751 und 1753 in Den Haag bei Pieter de Hondt gedruckt wurde. Seine 105 Bestandteile, ebenfalls größtenteils französischer und spanischer Herkunft, stammten hauptsächlich aus der Bibliothek des Herausgebers Gerard Meerman, eines Rotterdamer Ratspensionärs. 1 Vgl. exemplarisch die Webseiten: http://www.e-enlightenment.com; http://ckcc.huygens. knaw.nl; http://www.uni-mannheim.de/mateo/camenahtdocs/cera.html; http://www. culturesofknowledge.org (letzter Zugriff am 20.02.2017).

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Anhand dieser beiden Beispiele möchte ich neue Publikationspraktiken ebenso wie neue Hilfsmittel beim Aufbau von Sammlungen im Kontext des Buchhandels und im Hinblick auf neue Konzeptionen von Gelehrsamkeit umfassend beleuchten. Dazu werde ich zuerst einen allgemeinen Überblick über die ›humanistische Jurisprudenz‹ und ihre Beziehung zur zeitgenössischen Entwicklung der Rechtsstudien geben, im Folgenden den gelehrten Buchmarkt vor und nach dem Dreißigjährigen Krieg in den Blick nehmen, dann die durch die historia literaria und die Gelehrtenrepublik neu entstehenden Kontexte wissenschaftlicher Publikationen und schließlich die Thesauri selbst betrachten. I . Humanistische Jurisprudenz 1755 definierte Johannes Fridericus Jugler die humanistische Jurisprudenz (»jurisprudentia elegantior«) als »das Studium des Römischen Rechts in enger Verbindung mit der Philosophie (vor allem der Stoiker), der Altertümer, der griechischen und lateinischen Sprache, der Kunst der Textkritik, der römischen Geschichte und Literatur«.2 In den Augen Ottos und Meermans begann die erste Phase der humanistischen Jurisprudenz im frühen sechzehnten Jahrhundert mit Guillaume Budé (1468–1540) und Andrea Alciato (1492–1550), mit denen auch das Phänomen des mos gallicus iuris civilis docendi verbunden ist, das sich vom traditionellen mos italicus absetzte. Sie fand ihren Höhepunkt im Werk Jacques Cujas’ (1522–1590), der laut Meerman die »Cuiaciana schola« begründet hatte.3 Die sogenannte niederländische Elegante Schule kann als ihre letzte Phase bezeichnet werden. Ihr gehörten Arnold Vinnius, Simon van Leeuwen, Ulric Huber, Johannes Voet, Gerard Noodt, van Bynkershoek, Otto und Meerman selbst an. Diese Figuren wirkten alle in den Niederlanden; sie waren mehrheitlich niederländischer Herkunft, doch kam auch einigen Deutschen eine wichtige Rolle zu. Zwischen diesen Phasen gab es »die Douarens, die Le Contes, die Doneaus, die Baudouins, die Le Carons, die Connans, die Brissons und die Hotmans«, so Ottos Darstellung4, Gruppierungen von Gelehrten, die zwischen den 1540er und 1590er Jahren hauptsächlich in Frankreich tätig waren, und im folgenden Jahrhundert die spanischen Gelehrten F ­ rancisco Ramos de Manzano, José Fernández de Retes und Juan Suárez de Mendoza, die allesamt von Meerman wieder bekanntgemacht wurden. Wenngleich es sich bei der humanistischen Rechtswissenschaft um eine klar umrissene Gattung handelte, betrachtete keiner der beiden Thesaurus-Kompilatoren sie als eine ungebrochene Tradition, auch wenn sie in allen Generationen praktiziert worden war. Obwohl in manchen Universitäten einige deutliche Traditionslinien bestanden 2 Zitiert nach: Douglas Osler, Jurisprudentia Elegantior and the Dutch Elegant School, in: Ius Commune 23, 1996, S. 339–354, hier 339. 3 Gerard Meerman, Novus Thesaurus Juris Civili et Canonico, Bd. 4. Den Haag 1751–1753, S. 1. 4 Everhard Otto, Thesaurus Juris Romani, Bd. 1. Utrecht 1733–1735, S. 1.

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(zum Beispiel in Toulouse oder Salamanca), hat es keine ungebrochene lineare Entwicklung gegeben, da das Studium des Römischen Rechts in unterschiedlichen nationalen Kontexten zu verschiedenen Zeiten aufblühte oder brachlag.5 Für beide Kompilatoren war die humanistische Jurisprudenz mit mehr als dem Studium alter Sprachen verbunden: Meerman schloss auch volkssprachliche Werke in seine Erschließung von rechtswissenschaftlichen Publikationen ein.6 Sie sprach durchaus nicht nur Historiker des Römischen Rechts in ihrem antiquarischen Interesse an: Selbst Johann Gottlieb Heineccius (1718–1791), der in der herkömmlichen Rechtsgeschichte stets für die nachfolgende Phase der Rechtswissenschaften steht (die Schule des Naturrechts), verfasste ein Pamphlet, in dem er den Nutzen der humanistischen Rechtsgelehrsamkeit für Studenten und Praktiker betonte.7 Anzumerken ist auch, dass die deutsche Herangehensweise an das Römische Recht, wie sie sich in Samuel Stryks Formel »usus modernus Pandectarum« ausdrückt, nicht mit der humanistischen Rechtswissenschaft in Konflikt stand.8 Auch wenn es zwischen antiquarisch-rechtshistorischen Studien und Praktikerliteratur einen deutlichen Unterschied gab, ließen sich beide Gattungen auf der gemeinsamen Grundlage der Rechtssemantik  – dem Argumentieren und Interpretieren – wechselseitig beleuchten. Die niederländische Elegante Schule legte ihr Augenmerk sowohl auf forensische Themen als auch auf die Textgenese und verließ sich darauf, dass die humanistische Jurisprudenz über eine kleine Gruppe von Rechtshistorikern hinaus Anziehungskraft besitzen würde.9 Die humanistische Jurisprudenz war auf Zusammenarbeit und allmählichen Wissenszuwachs angelegt. Das ideale Ergebnis ihrer Bemühungen wäre eine neue Edition des »Corpus Juris Civilis« gewesen, wie sie im achtzehnten Jahrhundert von verschiedenen Gelehrten geplant wurde.10 Bei weniger am5 Gerard Meerman, Conspectus Novi Thesauri Juris Civilis et Canonici. Den Haag 1751, S. 53–70. Douglas Osler, Legal humanism, http://www.rg.mpg.de/research/legal-humanism (letzter Zugriff am 20.02.2017). 6 Meerman, Conspectus (wie Anm. 5), S. 67–68, verweist auf praktische Handbücher zum Strafrecht in den jeweiligen nationalen Gesetzgebungen von Pierre Ayrault (1576) und Pierre Bougler (1622). 7 Johann Gottlieb Heineccius, Praefatio de utilitate Antiquitatum in Jurisprudentia, in:­ Jacobus Perizonius, Dissertationes septem. Leiden 1740. John W. Cairns, Alexander Cunningham’s Proposed Edition of the Digest, in: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 69, 2001, S.  307–360, hier 353, verweist auch darauf, dass Gelehrte wie beispielsweise J­ohannes Voet, wie andere, die den usus modernus Pandectarum pflegten, aber nicht altertumswissenschaftlich orientiert waren, Interesse an der Arbeit humanistischer Rechtsgelehrter zeigten. 8 Samuel Stryk, Specimen Usus Moderni Pandectarum. Frankfurt 1690–1712. 9 Vgl. beispielsweise den Kommentar David Ruhnkens, der griechische Text des Thalalaeus, den er edierte, sei verfasst worden »in gratiam Advocatorum et Procuratorum, qui forum attingere parabant« (Meerman, Conspectus (wie Anm. 5), S. 8). 10 Besonders Andrew Cunningham und Heinrich Brencmann, vgl. Cairns, Alexander Cunningham’s Digest (wie Anm. 7).

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bitionierten humanistisch-rechtshistorischen Vorhaben – Monographien oder Kommentaren – waren zwei Grenzziehungen von Seiten der humanistischen Jurisprudenz überaus wichtig: Gegenüber derjenigen Literatur, die sich vornehmlich an Praktiker wendete, und gegenüber dem juristischen Schrifttum, das für die Lehre vorgesehen war. Zwar konnten Werke, die für die Rechtspraxis bestimmt waren, durchaus historisches Material enthalten und aus diesem Grund der Gattung zugeordnet werden, aber für die große Mehrzahl der Schriften auf diesem Gebiet traf das nicht zu. Meerman schloss explizit Lehrbücher für Studenten aus seinem Publikationsprojekt aus. Unklar ist jedoch, ob für ihn Texte wie der Institutionenkommentar von Johannes Schneidewein (1519–1568) zu dieser Kategorie gehörten. Dieser wurde 1571 erstmals gedruckt und sukzessive von drei hoch angesehenen Gelehrten mit weiteren Kommentaren und Zusatzmaterialien ergänzt: Denis Godefroy (1549–1622), Matthäus Wesenbeck (1531–1586) und Pieter Cornelis van Brederode (1559–1637).11 Er erlebte bis 1750 zahlreiche Auflagen; der Absatz wird auf 25.000 bis 30.000 Exemplare geschätzt.12 Meerman ordnet allerdings weitere Kommentare zu den »Institutiones« des Justinian der humanistischen Abteilung zu, weshalb sein Schweigen im Fall des Schneidewein’schen Kommentars wohl nicht nur damit zu tun hat, dass die »Institutiones« selbst einen Einführungstext darstellen: Es ist ein implizites Urteil über dessen wissenschaftliche Qualität. II . Der rechtswissenschaftliche Buchmarkt

vor dem Dreißigjährigen Krieg Es ist hilfreich, Rechtsbücher in vier allgemeinere Kategorien einzuteilen: Antike kanonische Texte (hier vor allem das »Corpus Juris Civilis«, das die humanistischen Rechtsgelehrten mit dem »Theodosianischen Codex« und verschiedenen anderen byzantinischen griechischen Texten zu ergänzen versuchten); mittel­a lterliche Kommentare und in der späten Renaissance publizierte Praktikerliteratur, humanistische Jurisprudenz sowie Werke moderner Autoren zur Rechtswissenschaft, zum Gerichtswesen und zur Rechtspraxis. Um mit einer wissenschaftlichen Publikation internationale Sichtbarkeit zu erlangen, bedurfte es damals – falls man nicht bereit und in der Lage war, die Publikation selbst zu finanzieren  – mindestens zweier Voraussetzungen: Der Förderung durch einen Gelehrten oder einen wohlhabenden Patron und die Annahme durch einen Verleger, der das finanzielle Risiko des Druckens tragen oder ablehnen konnte. Fast alle in dieser Zeit hergestellten Bücher wurden auf

11 Meerman, Conspectus (wie Anm. 5), S. 76, in Bezug auf jedes Werk, das »unice in studiosae juventutis gratiam conscriptus videtur«. 12 Rodolfo Savelli, Censori i Giuristi. Storie di Libri, di Idee e di Costumi (Secolo XVI–XVII). Mailand 2011, S. 309.

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der zweimal jährlich stattfindenden Frankfurter Buchmesse angekündigt und beworben. Diese stellte den größten Umschlagplatz für Bücher in ganz Europa dar, und zwar nicht nur im Hinblick auf Neuerscheinungen, sondern auch auf ältere Publikationen, da große Verlagshäuser umfangreiche Lagerbestände in der Stadt unterhielten. Die zweimal jährlich erscheinenden Kataloge der Buchmesse halfen herauszufinden, was verfügbar war; ebenso gab es Listen zur Altproduktion der Verlage, die als ›nomenclaturae‹ kursierten, sowie bibliographische Werkzeuge, in denen Bücher nach Themen verzeichnet waren, beispielsweise Georgius Draudius’ umfangreiche »Bibliotheca classica« (1610 und 1625), die nach Fachrichtungen geordnet war. Drucker und Verleger verantworteten nicht nur die Produktion dieser Buchbestände. Sie halfen durch ihre gegenseitigen Geschäftsbeziehungen auch beim Vertrieb, hauptsächlich durch Tauschhandel, indem sie mit anderen Verlegern bestimmte Mengen an Druckbögen tauschten. Die Verleger, die selbst Messen besuchten oder sich von Agenten vertreten ließen, folgten damit zum großen Teil  dem Handelsmodell der Hanse; sie waren entsprechend weniger auf einen Vertriebszweig ihrer eigenen Firma oder auf Direktverkäufe an Buchhändler angewiesen, wenn sie auf den Messen Verkäufe und Austausch betreiben konnten. Der Tauschhandel hatte verschiedene Effekte: Er verwandelte Bücher in ein Zahlungsmittel und milderte so die ständigen Liquiditätsprobleme der Verleger. Sie brachten Bücher nach Hause mit, die sie im Austausch erworben hatten, und boten sie selbst zum Verkauf an. Damit wurden sie Sortimentsbuchhändler und stellten zugleich die Verbreitung wissenschaftlicher Texte in ganz Europa sicher. Die internationalen Verlagshäuser wussten nur zu genau über die verschiedenen Märkte Bescheid; sie waren sich bewusst, dass sie über die Reproduktion ihrer Titel lediglich begrenzt Kontrolle ausüben konnten, ohne rechtlichen Schutz durch teure Privilegien innerhalb der verschiedenen Geltungsbereiche zu erwirken – etwa in Frankreich oder im Heiligen Römischen Reich. Sie wussten ebenfalls um die möglichen Hemmnisse, die den freien Vertrieb behindern konnten, insbesondere Zensur und kirchliche Verbote, und versuchten, diese so weit als möglich zu umgehen. Dabei nutzen sie verschiedene Mittel, etwa falsche bibliographische Angaben oder die Verschleierung von Autornamen und -herkunft. Der Protestant Schneidewein erhielt beispielsweise für den italienischen und spanischen Markt den griechischen Spitznamen Oinotomus.13 Gegen Ende dieses Zeitraums nahmen Verleger zunehmend die Interessen der wachsenden Zahl von Sammlern in den Blick. Sie versuchten, Buchreihen zu akquirieren, die die Käufer dazu verleiteten, auf einem spezifischen Gebiet ständig neue Bücher zu erwerben. Darin wurden sie von denselben Findmitteln unterstützt, die für die Zwecke der Käufer entwickelt worden waren. Daneben nutzten sie zahlreiche weitere Tricks, um ambitionierte Sammler darin zu bestärken, stets die aktuelle Auflage zu erwerben, und so die Expansion des 13 Ebd., S. 37.

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Marktes dadurch zu sichern, dass die Bücher gleichsam automatisch veralteten.14 Diese Tricks hatten in der gesamten Frühen Neuzeit Bestand; sie beruhten hauptsächlich auf der Suggestion, zweite oder folgende Auflagen seien entweder vollständiger oder genauer – oder beides. Zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts führte ungebremstes Vertrauen in das Wachstum des Marktes zu Überproduktion und Marktsättigung. Die Ankündigungen der Frankfurter Buchmesse verdreifachten sich zwischen 1593 und 1613; die ausgedehnten Lagerbestände unverkaufter Bücher, die von großen Verlagshäusern bereitgehalten wurden, verursachten spektakuläre Bankrotte. Diese internen Faktoren, die in Verbindung mit dem Marktgeschehen standen, wurden von äußeren Faktoren verschärft, die den freien Güter- und Personenverkehr behinderten: Lokale Konflikte und die Pest, vor allem aber die Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges, von dessen Auswirkungen Frankfurt selbst sich für viele Jahrzehnte nicht erholen sollte. Selbst die geschäftstüchtigsten und erfahrensten Verlagsbuchhändler fielen diesen negativen Dynamiken zum Opfer, wie der Bankrott von Peter Kopf zeigt, der 1633 sein Geschäft aufgeben musste. Laut zeitgenössischen Berichten war sein Lager voll von unverkauften und wahrscheinlich auch nicht verkaufbaren Folioausgaben juristischer Werke, die zum Teil von ihm selbst publiziert, zum Teil durch Tauschhandel erworben worden waren.15 Es dauerte einige Jahrzehnte, bis risikofreudige Ver­leger sich wieder zur Publikation umfangreicher Rechtstexte bereiterklärten. Die Marktbedingungen hatten sich zu diesem Zeitpunkt jedoch massiv verändert. III . Der lateinische Buchhandel vor 1650 und

die Rolle der Niederlande Um 1650 hatte Frankfurt an Bedeutung verloren. Leipzig  – die andere große Buchmessestadt in Deutschland – befand sich zu weit östlich, um den europäischen Buchhandel zu beherrschen. Dass Amsterdam nun den Ruf des ›Buchladens der Welt‹ erworben hatte, drückte eine Verschiebung des Handels mit gelehrten Büchern von Deutschland in die Niederlande aus.16 Viele Faktoren hatten dazu beigetragen: Die Vereinigten Provinzen besaßen gute Straßen und durch die Häfen internationale Anbindungen; mit der Iberischen Halbinsel waren sie über die Südniederlande verbunden. Seit dem frühen siebzehnten Jahrhundert hatten sie durch einen gut entwickelten Finanzmarkt, niedrige Zins14 Zu all diesen Punkten vgl. Ian Maclean, Scholarship, Commerce, Religion: The Scholarly Book in the Age of Confessions 1560–1630. Cambridge, Mass. 2012. 15 Alexander Dietz, Frankfurter Handelsgeschichte, Bd. 3. Frankfurt am Main 1970, S. 82. 16 Diese Beschreibung geht auf Voltaire zurück, vgl. Christiane Berkvens-Stevelinck u. a. (Hg.), Le Magasin de l’Univers: The Dutch Republic as the Centre of the European Book Trade. Leiden 1992, S. x.

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sätze, Handelsgesetzgebung und ein internationales Bankensystem den Ruf der »first modern economy« erworben.17 Zudem fungierten sie als ein überaus wichtiges Zentrum des Austauschs von Informationen aller Art.18 Die Niederlande profitierten zudem von der Flucht einiger prominenter Hugenotten aus Frankreich, die im Druck- und Verlagswesen tätig waren, unter ihnen Pierre Bayle (1647–1706) und Jean Le Clerc (1657–1736). Ihre Anwesenheit beförderte den Gebrauch des Französischen, das neben dem Lateinischen zur zweiten internationalen Wissenschaftssprache avancierte. In den Vereinigten Provinzen fand weder auf staatlicher noch auf Zunftebene eine übermäßige Regulierung statt, die die Entwicklung gebremst hätte. Auf dem Gebiet der Buchherstellung wurden verschiedene Innovationen entwickelt, unter anderem kleine Buchformate mit deutlich lesbaren Schrifttypen. In den ersten Jahrzehnten des 17.  Jahrhunderts waren niederländische Verleger die ersten, die auf ihren Frankfurt-Reisen keinen Tauschhandel mehr betrieben, um Bücher zu erwerben oder zu verkaufen.19 Stattdessen entwickelten sie ein Kreditsystem, das ihnen erlaubte, mit einem breiten Netz an Buchhändlern im In- und Ausland zu handeln: Als Meermans Verleger Pieter de Hondt einen Prospekt für die Ankündigung des »Novus Thesaurus« herausgab, konnte er ihm eine beeindruckende Liste von 440 Buchhändlern als seinen Vertriebspartnern auf dem gesamten Kontinent beifügen.20 Sie alle konnten als Kommissionshändler für andere tätig werden; auch der Leipziger Buchhandel stützte sich auf derartige Modelle.21 Vom frühen 17. Jahrhundert an betrieben lokale Buchhändler wie der Amsterdamer Cornelis Claez eine umfangreiche Lagerhaltung. In ihren Katalogen regten sie potentielle Käufer dazu an, sich auch nach darin nicht aufgelisteten Werken zu erkundigen.22 Später traten in den Niederlanden ansässige Buchhändler (Bibliopolae)  auch als Verleger und­ 17 Jan de Vries/Ad van der Woude, The First Modern Economy: Success, Failure and Perseverance of the Dutch Economy, 1500–1815. Berkeley 1997. Vgl. auch Jan Luiten van­ Zanden, The ›Revolt of the Early Modernists‹ and the ›First Modern Economy‹: An Assessment, in: Economic History Review 55, 2002, S. 619–641. 18 Vgl. Woodruff D. Smith, The Function of Commercial Centers in the Modernization of European Capitalism: Amsterdam as an Information Exchange in the Seventeenth Century, in: Journal of Economic History 44, 1984, S. 985–1005. 19 Sie untergruben den Tauschhandel unter anderem, in dem sie eine sträflich hohe Tauschrate forderten (1:3 oder 1:4); vgl. Norbert Bachleitner/Franz M. Eybl/Ernst Fischer (Hg.), Geschichte des Buchhandels in Österreich. Wiesbaden 2000, S. 68. Monika Estermann, Signete und Widmungsbriefe Frankfurter Verleger des späten 16. Jahrhunderts in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 59, 2005, S. 65–91, hier 90, weist nach, dass der Tauschhandel unter den deutschen Verlegern lange Bestand hatte. 20 Meerman, Conspectus (wie Anm. 5), S. 81–87. 21 Johann Goldfriedrich, Geschichte des deutschen Buchhandels, Bd.  2. Geschichte des deutschen Buchhandels vom Westfälischen Frieden bis zum Beginn der klassischen Literaturperiode, 1648–1740. Leipzig 1908, S. 281–285. 22 Bert van Selm, Een menighte treffelijcke boecken. Nederlandse boekhandelscatalogi in het begin van de zeventiende eeuw. Utrecht 1987, S. 176.

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Finanziers, als Zwischenhändler für andere, als Vertriebs- und als Anzeigenagenten auf.23 Die niederländische Kultur war von Handel und Vielsprachigkeit geprägt (Französisch, Latein, Niederländisch, Deutsch). Durch die Universitäten gab es Kontakt zu Gelehrten, die als Korrektoren für wissenschaftlichen Editionen tätig werden konnten; es gab eine relative Publikationsfreiheit und einen gewissen Grad an Pluralität und Toleranz in religiösen Angelegenheiten – auch im Interesse des Handels. Die Vereinigten Provinzen besaßen überdies die für den Buchdruck erforderliche Bandbreite an Handwerksbetrieben  – Setzer, Binder und Illustratoren – und wurden rechtzeitig unabhängig und wettbewerbsfähig in der Papierherstellung.24 Auch der antiquarische Buchmarkt wuchs in Den Haag, Amsterdam und Leiden mehr als an irgendeinem anderen Ort in Europa. Im frühen 17. Jahrhundert wurden dort wichtige Privatbibliotheken zum Verkauf angeboten, so dass Bücher erworben werden konnten, nach denen man zuvor in den Lagerhäusern von Frankfurt hatte suchen müssen. Verkauft wurden sie auf Auktionen, und diejenigen Interessenten, die ihre eigene Bibliothek zu vervollständigen suchten, ließen sich in diesen Städten von Kaufagenten vertreten. Cornelius van Bynkershoek und Gerard Meerman, die Förderer des »Thesaurus Juris Romani« und des »Novus Thesaurus«, waren auf seltene Bücher angewiesen, die auf diese Weise von ihnen oder ihren Mitarbeitern angeschafft wurden. Die Verleger der Werke, Johannes van der Linden und Pieter de Hondt, waren beide auf dem Auktionsmarkt für rechtswissenschaftliche Bücher tätig. So kümmerte sich van der Linden 1730 um die Veräußerung der Bibliothek des Rechtshumanisten Alexander Cunningham und de Hondt im Jahr 1743 um die der Bibliothek Cornelius van Bynkershoeks. Dass beide Verleger das Risiko auf sich nahmen, bei der Förderung der Thesauri ihr eigenes Geld einzusetzen, mag auch damit zu tun gehabt haben, dass sie um das große Interesse wussten, das Käufer, die bei Auktionen seltener Bücher unterlegen waren, an deren Nachdruck hatten. Auktionen waren, so erklärte Otto in seinem Vorwort zum »Thesaurus«, durchaus ein unsicherer und teurer Weg, Bücher zu kaufen.25 Ein Beispiel mag hier genügen: Bei 23 Zu den neuen Geschäftsbeziehungen zwischen Druckern, Verlegern und Buchhändlern in anderen Ländern Europas vgl. Estermann, Signete und Widmungsbriefe (wie Anm. 19), S. 90. 24 Zu den in diesem Absatz gemachten Aussagen vgl. de Vries/van der Woude, The First Modern Economy (wie Anm. 17), S. 129, 311; David McKitterick, Credit, Cash and Customers: Cornelius Crownfield and Anglo-Dutch Trade in the Early Eighteenth Century, in: Lotte Hellinga u. a. (Hg.), The Bookshop of the World: The Role of the Low Countries in the Book-trade, 1473–1941. t’Goy Houten 1999, S. 245–262, hier 245; Paul Hoftijzer, The History of the Book in the Low Countries, in: Michael F. Suarez/Henry R. Woudhuysen (Hg.), The Oxford companion to the book, Bd. 1. Oxford 2010, S. 212–215. 25 Otto, Thesaurus, Bd. 1 (wie Anm. 4), S. 1. Die Notizen zu Auktionsstücken bestätigen dies oft: Der Auktionator (Abraham de Hondt) vermerkte in »The Viri illustris ­Friderici­ Adophi Hansen ab Ehrencron […] bibliotheca«, Den Haag 1718, S.  17, über Lot 232

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dem ersten in Ottos »Thesaurus« enthaltenen Text handelt es sich um Antonius Augustinus’ 1579 in Tarragona bei Philippus Mey gedrucktes Werk »De nominibus propriis Pandectarum«, ein derart seltenes Buch, dass es kurz vor dem Erscheinen des »Thesaurus« bei einer Auktion 432 Gulden erzielte. Nachdem Otto für den Nachdruck gesorgt hatte, war es gerade noch ein Zehntel dieses Preises wert.26 Auktionsverfahren waren gesetzlich geregelt und spiegelten einige strenge niederländische Handelsgepflogenheiten wider; so besagte etwa eine Vorgabe, dass Käufe nur mit Barem getätigt werden durften.27 Die Niederländer machten sich etliche neue Techniken zu eigen, um Bücher abzusetzen, wozu insbesondere der Verkauf per Subskription gehörte, der zweierlei Formen haben konnte: Die Vorabbezahlung eines Teils der Kosten (Prämuneration) oder aber einfach eine förmliche Verpflichtungserklärung, das Buch zu erwerben. Dies entlastete umfassende Publikationsvorhaben zu einem gewissen Teil von ihrem wirtschaftlichen Risiko. Der Subskriptionsverkauf, der eine Lösung für das Problem vorab entstehender Herstellungskosten (Papier und Arbeit) bereitstellte, war zuerst in England entwickelt worden. Seine Hochzeit erreichte er im späten 17. Jahrhundert, in der Epoche der großen mehrbändigen Nachschlagewerke, deren Käufer meist ebenso sehr wie an ihrer Verwendung daran interessiert waren, sie als prestigeträchtigen Besitz ausstellen zu können.28 Auf solche ›Eitelkeitskäufer‹ mag abschätzig herabgesehen worden sein, sie waren jedoch als passive Konsumenten unentbehrlich für den Erfolg von Unternehmungen wie die Ottos und Meermans. Einige Merkmale der Subskriptionsprospekte zeigen, dass der Markt gelehrte Werke auch als Luxusgüter behandelte: Im Konspekt zu Meermans »Novus Thesaurus«, das die Subskriptionsbedingungen de Hondts verzeichnet, werden das gute Papier und das feine Druckbild des Produkts hervorgehoben, zudem das große Format mit breiten Rändern, die limitierte Auflage sowie eine Seite mit den Namen all derer, die sich vorab zum Kauf des Werks verpflichten – ein zusätzlicher Köder für deren Eitelkeit. Die Begrenzung der Druckauflage diente dazu, die Exklusivität des Produkts für den Kreis (Augustin’s De nominibus propriis Pandectarum), es sei ein »lib[er] rar[us] et quantisvis pretii«. Vgl. auch Anm. 53. 26 Wie viel ein Exemplar vor dem Wiederabdruck des Textes im Thesaurus kostete, ist in dem Brief eines niederländischen Juristen an den Leipziger Verleger Thomas Fritsch überliefert, der um 1720 300 Gulden nennt. Beim Verkauf der Cunningham’schen Bibliothek im Jahr 1730 war der Preis auf 32 Gulden gefallen. Vgl. Govaert C. J. J. van den Bergh, Die holländische elegante Schule: ein Beitrag zur Geschichte von Humanismus und Rechtswissenschaft in den Niederlanden 1500–1800. Frankfurt am Main 2002, S. 126. 27 Pieter de Hondt, Catalogus Bibliothecae Johannis Francisci de Boissy. Den Haag, 1755, verso der Titelseite: »on avertit le Public, qu’on ne delivrera aucun livre, que contre de l’argent comptant, et non en or.« 28 Peter J. Wallis, Book Subscription Lists, in: The Library, 5,29, 1974, S. 255–286, hier 255. Paul Raabe, Gelehrte Nachschlagewerke im 18. Jahrhundert in Deutschland, in: Bernhard Fabian u. a. (Hrsg), Gelehrte Bücher vom Humanismus bis zur Gegenwart. Referate des 5. Jahrestreffens des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Geschichte des Buchwesens vom 6. bis 9. Mai 1981 in der Herzog August Bibliothek. Wiesbaden 1983, S. 97–117.

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der Subskribenten sicherzustellen. Aus diesem Grund wurden derartige Werke auch nicht in den Katalogen der Buchmessen verzeichnet.29 Natürlich blieben diese Entwicklungen nicht auf die Niederlande begrenzt. Auktionen fanden überall in Europa statt, und bekannte Buchhändler erarbei­ teten bibliographische Findlisten früherer Publikationen. Die umfassendste Liste stellt das »Allgemeine Europäische Bücher-Lexicon« dar, das Theophilus Georgi in Leipzig herausgab (1742–1758). Groß angelegte Publikationsvorhaben zur Rechtswissenschaft wurden auch in Genf, Lyon, Leipzig sowie in Neapel betrieben, doch nur die beiden ersteren Städte konnten mit der Produktion der Vereinigten Provinzen mithalten. IV. Historia literaria, die Gelehrtenrepublik und

die humanistische Jurisprudenz Ein Nebenprodukt humanistischer Gelehrsamkeit bestand darin, dass vergangene Leistungen humanistischer Gelehrter gewürdigt wurden. Die akademischen Berufe zogen nach: Rechtsanwälte gehörten zu den ersten, die Bio-Bibliographien ihrer Vorgänger veröffentlichten, um ihr Fach zu fördern. Eine der frühesten, verfasst von Johann Fichard (1512–1581) und Bernardinus Rutilius (1504–1538), erschien im Jahr 1539. 1679 wurde die erste umfassende und systematische juristische Bibliographie publiziert, Martin Lipenius’ (1630–1692) »Bibliotheca realis juridica«. Sie enthielt sechs Einträge unter der Überschrift »Bibliotheca juridica«, 19 unter »Vitae jurisconsoltorum« und 37 unter »Vitae in specie«. In der Auflage von 1757 verdreifachten sich diese Zahlen auf 49, 38 und 101. Meerman besaß und zitierte viele dieser Bände. Die Gattung der BioBibliographie begleitete ein neues Projekt in der Wissenschaftsgeschichte, das als historia literaria bekannt werden sollte und in manchen deutschen Universitäten als Lehrmethode eingesetzt wurde. Als Gründungstext dieser Textgattung wird in der Regel Daniel Morhofs (1639–1691) »Polyhistor sive de auctorum notitia et rerum commentarii« (1688) angesehen; sie kam dann in Christoph August Heumanns (1681–1764) »Conspectus reipublicae literariae« (1718) voll zum Tragen und erreichte ihren Höhepunkt in den Werken des humanistischen Juristen Nicolaus Hieronymus Gundling (1671–1729) (»Vollständige Historie der Gelehrsamkeit«, 1734–1736) und Johann Andreas Fabricius’ (1668–1736) (»Abriss einer allgemeinen Historie der Gelehrsamkeit«, 3 Bde. 1752–1754). Gegenstand dieser Werke waren Leben und Werk einzelner Gelehrter – sowohl im lokalen als auch im internationalen Kontext. Sie nahmen insbesondere die wissenschaftlichen Genealogien zwischen Lehrern und ihren Schülern in den Blick und zeichneten nach, wie die jeweiligen gelehrten Unternehmungen mit an­deren verbunden 29 Meerman, Conspectus (wie Anm. 5), S. 77. Genauso wurde bei der zweiten, von Broedelet besorgten Auflage des Otto’schen Thesaurus verfahren, vgl. Nova Acta Eruditorum (Januar 1734), S. 47 f.

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waren. All das gab Anlass für ein Entwicklungsmodell der Geistesgeschichte, das von der stetig fortschreitenden Systematisierung des Wissens erzählte, die den Dogmatismus vernichten würde.30 Die Gruppe der humanistischen Rechtsgelehrten (zu denen Gundling gehörte) zeichnete sich durch eine besondere Verbindung zur Praxis der historia literaria aus, was in anderen Ländern von den Akademien gefördert wurde, etwa der Académie Royale des S­ ciences in Paris, deren jährliche Mémoires zuerst im Jahre 1696 erschienen. Die wachsende Bedeutung der Gattung der historia literaria war unmittelbar mit der der Gelehrtenrepublik verbunden, wie sie in den berühmten ­Worten Pierre Bayles im »Dictionnaire historique et critique« von 1696 beschrieben wurde. Für ihn stellte die Gelehrtenrepublik einen äußerst freien Staat dar. Dieser musste jedoch keineswegs ein friedlicher sein, da energischer Kritik im Namen von Wahrheit und Vernunft kein Riegel vorgeschoben war.31 Andere Kommentatoren gingen noch weiter und betonten den vollständig demokratischen und nicht-exklusiven Charakter der Republik sowie ihre Überschreitung sprachlicher, religiöser und nationaler Grenzen.32 Entscheidend an ihrer Entstehung beteiligt waren die neuen Medien gelehrter Kommunikation, die die weniger effizienten Modelle der Frankfurter Buchmesse ersetzten. Diese Phase in der Geschichte der Gelehrtenrepublik begann kurz nach der Gründung wissenschaftlicher Journale wie der »Transactions of the Royal Society«, der »Mémoires de l’Académie Royale des Sciences«, der »Acta Eruditorum«, des »Journal des

30 Martin Gierl, Bestandsaufnahme im gelehrten Bereich. Zur Entwicklung der »Historia literaria« im 18. Jahrhundert, in: Ders. (Hg.), Denkhorizonte und Handlungsspielräume. Historische Studien für Rudolf Vierhaus zum 70. Geburtstag. Göttingen 1992, S. 53–80, hier 53; Ders., Compilation and the Production of Knowledge, in: Hans Erich Bödeker/ Peter Hanns Reill/Jürgen Schlumbohm (Hg.), Wissenschaft als kulturelle Praxis, 1750– 1900. Göttingen 1999, S.  69–104, hier 70; Françoise Wacquet, Mapping the World of­ Learning. The Polyhistor of George Morhof. Wiesbaden 2000; Heinz Mohnhaupt, Historia literaria iuris: Beispiele juristischer Literaturgeschichten im 18. Jahrhundert, in: Max Planck Institute for European Legal History Research Papers, No. 2013–03: http://ssrn. com/abstract=2256530 (letzter Zugriff am 20.02.2017). 31 »Cette République est un Etat extrêmement libre. On n’y reconnoit que l’empire de la­ vérité et de la raison; et sous leurs auspices on fait la guerre innocemment à qui que ce soit. Les amis s’y doivent tenir en garde contre leurs amis, les pères contre leurs enfans, les beaux-pères contre leurs gendres… Chacun y est tout ensemble souverain et justiciable de chacun. Les loix de la société n’ont pas fait préjudice à l’indépendance de l’état de nature, par rapport à l’erreur et à l’ignorance: tous les particuliers ont à cet egard le droit de glaive et le peuvent exercer sans en demander la permission à ceux qui gouvernent. […] La critique d’un livre ne tend à montrer qu’un auteur n’a pas tel ou tel degré de lumière: or, il peut, avec ce défaut de science, jouir de tous les droits et de tous les privilèges de la société, sans que sa réputation d’honnête homme et de bon sujet de la République reçoive la moindre attente; on n’usurpe rien de ce qui dépend de la Majesté de L’Etat en faisant conoître au public les fautes qui sont dans un livre.« (Pierre Bayle, Dictionnaire historique et critique. Rotterdam 1697, s.v. Catius). 32 M. de Vigneul-Marville, Mélanges d’histoire et de littérature, Bd. 2. Paris 1700, S. 60–63.

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Savants« und der Entstehung von Rundbriefen und Zeitungen wie den »Nouvelles de la République des Lettres«, der »Bibliothèque ancienne et moderne« sowie der »Gazette de Leyde«, in denen stets neue wissenschaftliche Werke angezeigt und ausführlich besprochen wurden.33 In der Mitte des 18. Jahrhunderts hatte sich die Anzahl der Journale und Monographien, die sich an die gelehrte Welt richteten, vervielfacht: Die 1747er Auflage von Morhofs »Polyhistor« verzeichnet nicht weniger als 784. Einige verfügten über reiche und einflussreiche Förderer, etwa das »Journal des Savants«, das von Jean Colbert, dem Minister Louis’ XIV. unterstützt wurde, oder die »Acta eruditorum«, die der Sächsische Kurfürst als ein lokales Prestigeprojekt bezuschusste. Andere erhielten Unterstützung durch die Subskriptionen von gelehrten Gesellschaften. In der Mehrzahl jedoch handelte es sich um riskante Unternehmungen, die häufig genug nur ein oder zwei Jahre überlebten und dann wieder von der Bildfläche verschwanden. Ein großer Teil  dieser Publikationsaktivitäten, die wissenschaftliche Debatten in die Öffentlichkeit trugen, fand im Raum der Niederlande statt, die für ihre in dieser Hinsicht tolerante Regierung bekannt waren. Der niederländische Einfluss war sogar noch im eher repressiven Spanien zu spüren, wo unter anderem Juristen schnell lernten, mit dem liberalen Norden in Kontakt zu treten, um intellektuellen Austausch zu pflegen. Unter diesen befanden sich auch zwei Figuren, die, wie wir sehen werden, großen Einfluss auf Meermans »Novus Thesaurus« hatten. V. Rechtswissenschaftliche Publikationen nach 1650 Die idealistisch gefärbten programmatischen Darstellungen der Gelehrten­ republik unterschlagen die prosaische Tatsache, dass für Kommunikation innerhalb einer solchen internationalen Gelehrtengemeinschaft bezahlt werden musste. Das trifft natürlich auch für alle rechtswissenschaftlichen Publikationen in der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg zu. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass auf dem Weg zur Publikation Förderer nötig waren. Im Grunde hätte es für humanistische Juristen relativ leicht sein müssen, Sponsoren zu gewinnen und breite Absätze zu erzielen, waren sie doch auf einem internationalen Arbeitsgebiet tätig, das sich einer universellen Sprache bediente. Die Faktenlage zeigt jedoch, dass einer entsprechenden Veröffentlichung, wenn sie von einem zeitgenössischen Autor verfasst worden war, nur begrenzte Auflagen und ausschließlich lokale Verbreitung beschieden waren, selbst in entwickelten Märkten wie dem deutschen. Dies ist damit begründet worden, dass die scheinbar vollkommene, grenzenlose Gelehrtenrepublik unter der Oberflä-

33 In den Acta eruditorum und dem Journal des savants genossen rechtswissenschaftliche Studien ein hohes Ansehen; das Recht stand an zweiter Stelle der aufgelisteten Disziplinen, der Theologie kam der erste Rang zu.

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che nationalistisch strukturiert war,34 was sich bereits daran ermessen lässt, dass Listen berühmter humanistischer Juristen von Autor zu Autor und von Publikation zu Publikation variieren.35 Als weitere Faktoren können Werbe- und Vertriebsprobleme angenommen werden.36 Bereits verstorbenen Vertretern der humanistischen Rechtswissenschaft erging es in dieser Hinsicht besser. ­Everhard Otto erweist denjenigen Fachvertretern seine Wertschätzung (die Liste ist unvollständig), die seit dem 16. Jahrhundert für die Wiederveröffentlichung ihrer Vorgänger gesorgt hatten; als bemerkenswertes Beispiel ist hier Charles ­Annibal Fabrots Edition von Cujas zehnbändiger Folioausgabe der »Observationes« aus dem Jahr 1658 zu nennen, die von einem Verleger-Konsortium unter der Leitung Sébastien Cramoisys publiziert wurde.37 Angesichts ihres Umfangs fällt ins Auge, dass diese Bände für denselben kleinen Markt reicher Sammler und Institutionen produziert worden sein müssen wie die vor dem Dreißigjährigen Krieg gedruckten juristischen Foliobände, die für den Bankrott ihrer Verleger verantwortlich gewesen waren. Nach 1650 passierte dies nicht mehr; es wird deutlich, dass der Markt sich erholt und effizientere Werbe- und Vertriebsmodelle entwickelt hatte. Anzunehmen ist eine starke Abhängigkeit von der zunehmenden Sammeltätigkeit europäischer Eliten, die auch gelehrte Werke einschloss. Auch andere humanistische Juristen der frühen Phase durften sich, allerdings in bescheidenerem Maße, über Wiederveröffentlichungen freuen, die mög­ licherweise auch für den breiteren Vertrieb ausgelegt waren. So erfuhren etwa Barnabé Brissons (1531–1591) »Opera minora« sowie die Werke »De formulis et 34 Martin Mulsow, Practices of Unmasking: Polyhistors, Correspondence, and the Birth of Dictionaries of Pseudonymity in Seventeenth-Century Germany, in: Journal of the history of ideas 67, 2006, S. 219. Christian Heinrich Trotz, ein Deutscher, der zur selben Zeit wie Otto in Utrecht lehrte, förderte das Werk eines rechtshumanistischen Landsmanns: Die Opuscula juridico-philologica Christfried Waechtlers (1733), in deren Einleitung er seinem Nationalstolz anlässlich der Edition Ausdruck gab. Ebenso aber brachte er das Werk eines Schweizers (Jacques Godefroy im Jahr 1736) und eines Franzosen (Guillaume Maran im Jahr 1741) zum Druck. 35 Otto, Thesaurus, Bd. 1 (wie Anm. 4), S. 1, schließt Viglius Zuichem in seine Liste ein (vielleicht um seiner Wahlheimat zu schmeicheln); in den zahlreichen Listen, die in Beiträgen der Acta eruditorum erscheinen (Supplement, Bd. 8, 1724, S. 515), formuliert die Rezension von Heineccius’ Antiquitatum Romanarum jurisprudentiam illustrantium syntagma (1724) folgende ausgefallene Liste prominenter Rechtshumanisten: »immortalia nomina Brissonii, Cujacii, Fabrorum [i. e. Pierre et Antoine Favre], Brummeri, Signonii, Spanheimi, Noodtii, Bynkershoekii, Huberi, Schultingii, Thomasii.« 36 Michael H. Hoeflich behauptet, dass Jacques Godefroy, ein Genfer Gelehrter des 17. Jahrhunderts, »had little trouble himself (and believed that others would fare as well) in obtaining works from Spain, France, Germany, Italy and the Low Countries«, vgl. Ders., A seventeenth century Roman Law bibliography: Jacques Godefroy and his Bibliotheca Juris Civilis Romani, in: Law library journal 75, 1982, S. 514–528, hier 520. Ich halte diese Aussage nicht für plausibel. 37 Otto, Thesaurus (wie Anm. 4), S 1. Meerman, Novus thesaurus (wie Anm. 3), Bd. 1, S. ix, Bd. 2, Bd. 4, S. vii würdigt zu verschiedenen Gelegenheiten die Rolle Fabrots als Förderer der humanistischen Jurisprudenz.

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solennibus verbis« und »Selectae ex iure civili antiquitates« nach 1648 mehrere Nachdrucke, und sein juristisches Wörterbuch »De verborum significatione« wurde allein oder im Verbund mit anderen Nachschlagewerken vor 1755 sechsmal aufgelegt. Im Pantheon der Juristen, die wiederveröffentlicht wurden, stellt Brisson allerdings eine Ausnahmeerscheinung dar: Die meisten humanistischen Juristen standen im Schatten von Herausgebern großer lehrbuchartiger Textzusammenstellungen, wie beispielsweise im Fall des bereits erwähnten »Institutionenkommentar« des Joannes Schneidewein; und auch A ­ utoren von Praktikerliteratur, beispielsweise Pedro Barbosa (gest. 1606), G ­ iacomo Menochio (1532–1607), Francesco Mantica (1534–1614) und Prospero Farinacci (1544–1618) wurden häufiger neu aufgelegt. VI . Der Thesaurus Juris Romani (1725–1744) Damit ist der breitere Kontext der beiden Thesauri Ottos und Meermans skizziert, denen ich mich nun zuwende. Den ersten förderte Cornelius van Bynkershoek in Verbindung mit Johannes van der Linden, einem Verleger humanistischer Autoren, und Otto. Otto war Teil einer Gruppe Deutscher, die in Utrecht Recht lehrten. Seit 1720 war er in Utrecht Professor; zu dieser Zeit hatte er bereits vier Monographien veröffentlicht. Hinzu kamen weitere gelehrte Mitarbeiter.38 Wie entschieden wurde, ob und welche Werke in den »Thesaurus« aufgenommen wurden, wird im Vorwort des ersten Bandes nicht ausführlich dargelegt. Hier geht Otto allein auf die Bedingungen der »raritas«, »brevitas« und »utilitas« ein. Eine vierte Bedingung war, dass sich die Werke im Besitz van Bynkershoeks befinden mussten; diese wurde allerdings häufig übergangen, um seltene Werke mit aufzunehmen, die sich von Zeit zu Zeit zu hohen Preisen auf Auktionen erwerben ließen – und deren teuerstes ich bereits erwähnt habe: Augustinus’ De nominibus Pandectarum. Ottos Thesaurus konnte per Subskription in Paris und Leiden erworben werden; die Bedingungen wurden 1723 in Jean Le Clercs »Bibliothèque ancienne et moderne« angezeigt.39 Die Liste der Subskribenten, die trotz des Angebots an die französische Kundschaft sehr wenige Namen französischer Käufer ent38 Das Vorwort zum ersten Band dankt auch Alexander Cunningham und Heinrich Brencmann für ihren Rat, ebenso Adolf Visscher, dem Kollegen van Bynkerhoeks im Hohen Rat, der ein Exemplar von Antonio Augustins De nominibus propriis Pandectarum (1579) beigesteuert, dem Leipziger Professor Georg Adolf Schuberth, der Joannes Stekius’ Observationes anticriticae juris (1627) beschafft, sowie Abraham Gronovius, der die Observationes et conjecturae (1660) von Nicolaus Catharinus zur Verfügung gestellt hatte. Des Weiteren wird der friesische Anwalt Johannes Balk dankend erwähnt, der ­Editionen von Petrus Burgius’ Electorum liber (1585) und Petrus Perrenonius’ Animadversiones et Variae Lectiones Juris Civilis (1593) erarbeitet hatte. Alle außer Schuberth waren auch als Subskribenten gelistet. 39 Bibliothèque Ancienne et Moderne, Bd. 20. Amsterdam 1723, S. 325–334.

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hält, wurde am Ende des Vorworts in der chronologischen Reihenfolge der Bestellungen abgedruckt. Sie enthielt den taktvollen Hinweis, dass man Titel und Rangstellung der Genannten nicht angegeben hatte, um diejenigen nicht zu beschämen, die denken mochten, ihre eigenen seien unzulässigerweise unbeachtet geblieben. So wissen wir heute nicht, ob die Mehrheit der Subskribenten tatsächlich eitle, nur am Prestigewert interessierte Nicht-Leser waren, die bereits als Käufergruppe erwähnt wurden. Ein Kommentar in einer 1725 in der »Bibliothèque ancienne et moderne« erschienenen Rezension scheint diese Annahme jedoch zu bestätigen.40 Die Liste offenbart, dass von 401 bestellten Exemplaren (alle mit demselben Papier) 168 an Buchhändler gingen – vor allem in Deutschland und den Niederlanden. Dies zeigt, dass sie von Buchhändlern in der Hoffnung auf Weiterverkauf erworben wurden und die Behauptung eines exklusiven Besitzes durch Subskribenten auf unsicheren Füßen stand. Die große Mehrheit von Ottos Subskribenten stammte – urteilt man anhand der Namen – aus den Niederlanden, abgesehen von drei Schotten, vier Deutschen und vier Italienern. Wir können zudem die Subskribentenliste in der Edition der »Opera O ­ mnia« des Renaissance-Anatomen Andreas Vesalius für einen Vergleich heran­ziehen, die in zwei Foliobänden ebenfalls 1725 erschien und von den Leidener Buchhändlern Johannes van Vivié und Jan und Herman Verbeek verlegt wurde. Die dortige Liste verzeichnet 199 Exemplare, von denen 47 an niederländische Buchhändler, 88 an niederländische Ärzte und 34 an andere niederländische Käufer gingen. Englische Ärzte (15) stellen die nächste größere Gruppe. Wir können daraus ableiten, dass wohl auch auf der Liste Ottos vor allem Anwälte vertreten waren. Diese Annahme findet Bestätigung durch den »Kurtze[n] Bericht / von der nützlichen und fürtrefflichen Buch-handung und deroselben Privilegien« des Jenaer Juristen Adrian Beier aus dem Jahr 1690, der folgende Passage enthält: »Die Wahren [des Buch-Händlers] sind von und vor niemand als Gelehrten/kaufft iemand von and’n Professionen zu Zeiten ein Teutsch- oder bey andern Nationen in seiner Mutter-Sprach gestelltes Buechlien / so geschiehets zufaelliger Weise un[d] selten / dass daruf keine Rechnung oder Staat zu machen. […] Der Buch-Händler allein ist der Gelehrten eigentlicher Abnehmer.«41

Im Vorwort zum ersten Band verortet Otto den Thesaurus zunächst in der Geschichte der humanistischen Jurisprudenz von Budé bis Cujas. Er würdigt dann diejenigen, die sich um Gelehrte der Vergangenheit und die Verbreitung ihres Werks verdient gemacht haben, indem sie für Editionen und Nachdrucke sorgten. Zudem erörtert er die Gattung des Thesaurus selbst. Im Kontext frühe40 »Jamais on n’a tant publié de Recueils en Hollande, qu’on  a fait dans l’espace de peu d’Années.  […] Si l’on demande: si cela vient de ce, qu’il y  a plus de gens qui étudient­ qu’autrefois? je crois, que la plûpart répondront, que cela vient plûtôt de ce, que plus de gens font des Bibliotheques, qu’on ne faisoit auparavant.« (Bibliothèque Ancienne et Moderne, Bd. 23. Amsterdam 1725, S. 327 f.). 41 Kurtzer Bericht / von der nützlichen und fürtrefflichen Buch-handung und deroselben Privilegien. Jena 1690, S. 5 f.

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rer juristischer Großprojekte nennt er zunächst die achtzehn Foliobände von Francesco Ziletti aus Venedig, die als »Tractatus tractatuum« (1584) bekannt sind, und die achtbändige Ausgabe der »Repetitiones« von Pompeius L ­ impius (1608). Näher an seiner eigenen Wirkungsstätte und -zeit waren allerdings die breit angelegten antiquarischen Unternehmungen: Die zwölf Foliobände zu Römischen Altertümern (1694–1699), dreizehn zu griechischen Altertümern ­(1697–1702) und vierzehn zu italienischen (1704–1725), die man jeweils als Thesaurus kannte. Die Bände wurden im Wechsel von Joannes Georgius Graevius, Jacobus G ­ ronovius und Pieter Burman herausgegeben und vom erfolgreichen Leidener Verleger ­Pieter van der Aa auf den Markt gebracht.42 Während die anderen Thesauri mit dem Anspruch der umfassenden Darstellung eines Themengebiets auftraten, war dies bei Ottos Projekt nicht der Fall. Diese Unternehmung zielte offenbar eher darauf ab, Lücken zu füllen, und richtete sich an Sammler, die bereits umfangreiche Bibliotheken auf dem Gebiet der humanistischen Jurisprudenz verfügbarer Titel erworben hatten, aber noch auf der Suche nach seltenen Stücken waren, die sie oder ihre Agenten nicht zu erwerben vermocht hatten. Dies zeigt sich auch in Martin Lipenius’ analytischer Bibliographie der Rechtswissenschaften, einem Standardwerk, das Ottos und ­Meermans Titel in seinem Ergänzungsband aus dem Jahr 1775 nicht unter »thesaurus«, sondern unter »opera et opuscula« einordnet.43 Ottos Einbindung sollte gewährleisten, dass das juristische Material formal korrekt dargestellt wurde, dass die ausgewählten Texte ohne die typographischen und anderen Fehler früherer Auflagen reproduziert sowie mit den übli­ chen biographischen Informationen versehen wurden, die die Praxis der historia literaria verlangte. An diesem Punkt zeigte er sich ein wenig als Rebell: Er betont mit Nachdruck, dass die ermüdende Konzentration auf biographische Details zu unbekannten Gelehrten nichts zum Verständnis ihres Werks beitrage und dass diese gegebenenfalls rasch aus jeder biographischen Kompilation recherchiert werden könnten.44 Andererseits bemühte er sich – im Bewusstsein der heiklen und anspruchsvollen Rolle des Herausgebers – um eine ausführliche Darstellung 42 Vgl. Paul Hoftijzer, The Leiden Bookseller Pieter van der Aa (1659–1733) and the Inter­natio­ nal Book Trade, in: Berkvens-Stevelinck, Le magasin de l’univers (wie Anm. 16), S. 169–184. Otto erwähnt ebenfalls Janus Gruters Lampas sive fax artium liberalium (1602–1634). 43 Hier ist darauf hinzuweisen, dass in Burcardus G. Struvius’ Bibliotheca iuris selecta, hrsg. v. Chistianus G. Buder. Jena 1756, S. 389–390, als Vorgänger dieser Thesauri anstelle des Tractatus Tractatuum, wie Otto nahelegt, die sechs versammelten Werke der humanistischen Jurisprudenz genannt werden, die als Novarum declarationum, variarum lectionum et resolutionum iuris libri XVII von Alexander Albertonius teilediert und von Johannes Gymnicus in Köln im Jahr 1576 veröffentlicht wurden und spätere Auflagen in den Jahren 1585 und 1609 erfuhren. 44 Hier findet sich implizite Kritik an der Praxis der historia literaria, wie sie auch in anderen Feldern der gelehrten Welt formuliert wurde, vgl. Anthony Grafton, The World of the Polyhistors: Humanism and Encyclopedism, in: Central European History 18, 1985, S.  31–47, hier 31; Helmut Zedelmaier, Cogitationes de studio litterario: Johann Lorenz Mosheims Kritik der Historia Litteraria, in: Martin Mulsow u. a. (Hg.), Johann Lorenz

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des Inhalts der Werke und wies auf Probleme, Auslassungen und Fehler hin.45 Seine Kommentare zu Augustinus’ De nominibus propriis Pandectarum – einem so seltenen und teuren Buch, dass selbst Sammler wie Alexander Cunningham es vor dem Wiederabdruck im Thesaurus für ihre Kunden hatten beschaffen, aber sich nicht selbst hatten leisten können46 – nehmen am meisten Raum im Vorwort ein, das in einem selbstbewussten humanistischen Stil verfasst ist und reichen Gebrauch von literarischen Anspielungen und Zitaten macht. Seine Bewertung der durch van Bynkershoek ausgewählten A ­ utoren folgt den strengen Regeln der Gelehrtenrepublik, die bereits erwähnt worden sind. Einen Juristen, Carolus Selvaghus, beschreibt er als den »unwürdigen Inhaber des Lehrstuhls für Römisches Recht, auf dem zuvor [so verdienstvolle Gelehrte wie] Muret und Augustinus saßen, dessen Werk vor barbarischem Latein und schlimmen Fehlern strotzt und jeder Form von lebensspendendem Saft und Blut entbehrt«.47 Die Subskribentenliste legt einen begrenzten, eher lokalen Erfolg nahe. Dieser Erfolg genügte jedoch für eine zweite Auflage der vier Bände. Diese besorgte – van der Linden war zu diesem Zeitpunkt bereits gestorben – Jan Broedelet, der zwischen 1728 und 1771 als Verleger aktiv war und einer Dynastie der Branche angehörte, von 1733 bis 1735 in Utrecht. Otto selbst fügte dieser Auflage einen fünften Band hinzu. Im ersten Band der Ausgabe Broedelets war eine Subskribentenliste enthalten, die 351 Exemplare verzeichnete, darunter 13 im Großformat. Davon gingen 230 an überwiegend niederländische und deutsche Buchhändler. Wie zuvor wurden Titel und Rangstellung der Bezieher nicht genannt. Über die Hälfte der im »Thesaurus Juris Romani« wieder abgedruckten Werke sind vor 1600 entstanden, zwei Drittel vor 1650. 35 stammen von französischen, zehn von italienischen, zehn von deutschen und sechs von spanischen Autoren, weitere aus dem Burgund, der Schweiz, den Vereinigten Provinzen und den südlichen Niederlanden. Otto erhebt in seinen Vorworten nicht den Anspruch, einer der verschiedenen Schulen der humanistischen Rechtswissenschaft den Vorzug zu geben. Auffällig ist allerdings, dass die größte Gruppe von Texten vor 1600 in Frankreich entstanden ist. Mosheim (1693–1755). Theologie im Spannungsfeld von Philosophie, Philologie und Geschichte. Wiesbaden 1997, S. 17–43, hier 34. 45 »Proxime nunc foret, de singulis Auctoribus, unde domo fuerint, quando et ubi vixerunt, qua industria, quibusque subsidiis, ad eos scribendos sese accinxerunt, quae munera in Republica sustinuerint, et quid de singulis habendum sit, dissererem; nisi plerorumque nomina vix unquam fando audita, prorsus in obscure laterent; ceterorum vero vitae in Freheri, Witteni, Teisseri, aliorumque Biographorum scriptis, omnium manibus tererentur. Erat Hebraeorum paroemia: fatuitatis esse respicere dolium, non id quod est in dolio; jamque sat multos invasit stadium supervacuas minutias in historia literaria tractandi, quibus operose nihil agunt, nec doctiores fiunt, sed molestiores.« (Otto, Thesaurus, Bd. 1 (wie Anm. 4), S. 6). 46 Cairns, Alexander Cunningham’s Digest (wie Anm. 7), S. 345. Vgl. auch Anm. 26. 47 »[I]ndignus ille olim Mureti in cathedra Romani nunc Augustini successor, barbarismis et soloecismis refertus, succo vero omni et sanguine destitutus.« (Otto, Thesaurus, Bd. 1 (wie Anm. 4), S. 6).

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Die dritte und letzte Auflage des »Thesaurus« erschien 1741–1744 in Basel, sie wurde von einem anderen Angehörigen einer Verlegerdynastie, Johann ­Ludwig Brandmüller, gedruckt. Seit den 1710er Jahren als Verleger tätig, hatte sich Brandmüller auf großformatige und mehrbändige Ausgaben von Geschichts- und Referenzwerken spezialisiert. So hatte er beispielsweise die Geschichtsbände von Jacques-August de Thou und das »Dictionnaire critique et historique« von Pierre Bayle gedruckt.48 Brandmüller war ein erfolgreicher und eigensinniger Verleger, der Investitionsrisiken nicht scheute. Er setzte nicht auf Subskriptionsverkäufe, sondern kündigte seine Neuauflage 1742 auf der Leipziger Frühjahrsbuchmesse an.49 Gerard Meerman beschreibt diese Auflage als sehr nachlässig und stellt sie damit implizit denjenigen gegenüber, die die beiden niederländischen Verleger verantwortet hatten, die offenbar höhere wissenschaftliche Standards anlegten und ihre Arbeit auch als Dienst an der Gelehrtenrepublik verstanden. VII. Der Novus Thesaurus und sein Ergänzungsband (1751–80) Abschließend komme ich zur Kompilation Gerard Meermans (1722–1771), der in Leiden graduiert wurde und später in Rotterdam als Ratspensionär tätig war. Meerman blickte, ebenso wie Otto, bereits auf beachtliche Publikationserfahrung zurück, als er sich dem Projekt des »Novus Thesaurus« zuwandte.50 Meerman war von verschiedenen Seiten dazu angeregt worden: Zum einen durch­ Ottos früheren erfolgreichen »Thesaurus Juris Romani«, zum anderen durch zwei wichtige Unterstützer, spanische Juristen, die der Voraufklärung in Spanien angehörten. Gregorio Mayans y Siscar aus Valencia (1699–1781), der bis 1739 die Spanische Königliche Bibliothek geleitet hatte, und José Finestres y Monsalvo von der Universität von Cervara (1688–1777) standen ihm großzügig mit ihrem Rat zur Seite und überließen ihm Bücher und Handschriften aus ihren Sammlungen. In den Niederlanden kam ihm die wissenschaftliche Tätigkeit zweier Deutscher zugute, David Ruhnkens und Wilhelm Otto Reitz’, die für ihn griechisch-byzantinische Rechtstexte edieren sollten. Verleger war Peter de Hondt, der wie van der Linden einer Verlegerdynastie angehörte; er wirkte von 1720 bis zu seinem Tod im Jahre 1763. Im Vertrauen darauf, dass Meermans »Novus Thesaurus« Käufer sowohl unter den humanistischen Juristen als auch unter den Rechtspraktikern finden würde, stellte er 1751 auf eigene Kosten 48 Goldfriedrich, Geschichte des deutschen Buchhandels (wie Anm. 21), S. 336. 49 Catalogus universalis, oder Verzeichniss derer Bücher, welche in der Frankfurter und Leipziger Oster-Mess des ietzigen 1742 Jahres entweder gantz neu gedruckt, oder sonsten verbessert, wieder aufgeleget worden sind […] (1742), sig. c3v. 50 Diatriba antiquario-juridica inauguralis, exhibens nonnullas de rebus mancipi, et nec mancipi, earumque mancipatione conjecturas (1741); Specimen calculi fluxionalis (1742); Specimen animadversionum criticarum in Caii jurisconsulti Institutiones (1742).

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einen aufwändigen Konspekt für die Kompilation her. In den Subskriptionsbedingungen, die im Konspekt abgedruckt sind, betont er selbst, dass, »[…] da der Thesaurus [Ottos] im Laufe der Zeit so viele Käufer gefunden hat, dass drei Auflagen erschienen sind, und da deshalb wohl viele Exemplare dieses neuen Thesaurus ohne Risiko (»absque ullo periculo«) verkauft hätten werden können, sich der Buchhändler erlaubt hat, fromm und nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass er einen Druckauftrag für nicht mehr als 825 Standardexemplare und 100 im Großformat gegeben hat«.51

Zu diesen Zahlen gelangte er wahrscheinlich durch Berücksichtigung der Subskriptionslisten von 1725 und 1733 sowie der Tatsache, dass für Brandmüllers Ausgabe noch mehr Verkäufe anzusetzen seien. Der Preis für die fünf geplanten Bände betrug pro Band der Standardausgabe zehn Florin und pro Band der Prachtausgabe fünfzehn Florin. Der erwartete Umfang wurde insgesamt mit 1000 Druckbögen (also 4000 Folioseiten) angegeben. Den Subskribenten wurde zugesichert, dass ihre Namen im zweiten Band erscheinen würden (Conditiones VIII). Bedingung VI enthielt eine Formel zur Anpassung des Preises, falls die Bände auf mehr oder weniger als 1000 Bögen kommen würden; letztlich bestanden die sieben (nicht fünf)  Bände aus 1440 Bögen (oder 5760 Seiten) und der Preis wurde auf 72 beziehungsweise 108 Florin erhöht. Diese Ausdehnung des Publikationsprojekts teilt der »Novus Thesaurus« mit zahlreichen anderen Subskriptionsverkäufen zu dieser Zeit (und auch mit deren aktuellen Entsprechungen). Die Subskribentenliste erschien dann erst am Ende des siebten und letzten Bandes; sie enthält – anders als in der Liste bei Otto  – vollständige Informationen zu den Beziehern. 225 Standardund 15 Großformatexemplare sind verzeichnet, 56 davon gingen an Buchhändler, die nicht alle zu de Hondts Agenten zählten. Es ist bezeichnend, dass es unter den Buchhändlern in der Subskribentenliste keine Vertreter der iberischen Halbinsel oder Italiens gibt, obwohl einige in der Liste der Vertriebs-Agenten vertreten sind. Diese Regionen waren offenbar keine Verfechter der niederländischen Form des Buchhandels. Zweifellos lässt sich der Schluss ziehen, dass der Unternehmung kein durchschlagender Erfolg beschieden war. Bestätigt wird dies dadurch, dass 1769, als Meerman einen neuen Konspekt für einen Ergänzungsband seiner Kompilation herausgab, noch unverkaufte Exemplare der sieben Bände bei einem Leidener Buchhändler namens Thomas Haack vorrätig waren. Dessen Vater, ebenfalls Buchhändler, hatte 1753 auf der Subskribentenliste gestanden. Das Projekt ist jedoch offenbar nicht als wirtschaftlich gescheitert angesehen worden. Die Titelseite gibt an, dass die Inhalte der eigenen Bibliothek Meermans entstammen  – der Konspekt zeigt, dass das nicht vollständig zutrifft  –, dass die Kompilation nun sowohl Handschriften als auch gedruckte Werke zum zivilen und kanonischen Recht vornehmlich französischer und spanischer Autoren 51 Meerman, Conspectus (wie Anm. 5), S. 77 f.

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einbezieht und dass die ausgewählten Texte sich allesamt auf die klassische antike Literatur, Antiquitäten, Münzen und Bauwerke berufen, um die ausgewählten Texte zu verbessern, zu erklären oder zu illustrieren. Meermans Vorworte unterscheiden sich von denen Ottos in vielerlei Hinsicht. Sie fallen viel kürzer aus und sind in einem deutlich weniger ostentativ humanistischen Latein verfasst: Seltene und darum schwer verständliche Redewendungen, subtile Zitate und Anspielungen fehlen hier. Meerman blieb den Prinzipien der Gelehrten­ republik treu; er gab keiner Nationalität den Vorzug. Seine Pflichten als Vertreter der historia literaria nahm er sehr ernst. Die Recherchen zu den von ihm ausgewählten Autoren führte er auch fort, nachdem sie bereits an dem ihnen bestimmten Ort in der Ausgabe erschienen waren. In zahlreiche Bände wurden addenda zu einzelnen Biographien aufgenommen, der letzte Band enthielt sogar vier vollständige Seiten mit Nachträgen. Meerman bietet für die abgedruckten Texte vollständige bibliographische Informationen, wie sie in Ottos »Thesaurus« beinahe vollständig gefehlt hatten. Einer ausführlichen inhaltlichen Darstellung der von ihm abgedruckten Texte widmet er sich nicht; jedoch bemühen er und mindestens einer seiner Mitstreiter sich darum, deutlich ablehnende Urteile zu den Texten zu dokumentieren. Damit üben sie dasselbe Privileg der Gelehrtenrepublik aus, von dem Otto Gebrauch gemacht hatte. Das eindringlichste Beispiel dieser Tätigkeit findet sich im Konspekt, der den Brief eines »doctus Hispanus« enthält, dessen Name allerdings erst im Vorwort zum siebten Band genannt wird. Darin äußert der spanische Jurist Finestres y Monsalvo scharfe Kritik an großen Teilen der zeitgenössischen spanischen Rechtswissenschaft, deren Werke er brandmarkt, sie seien »gespickt mit bedeutungslosen Worten und [gelehrter] Trickserei in Reinform«.52 Im Falle Meermans ist es einfacher als bei Otto, den Inhalt seiner Kom­ pilation im Hinbick auf wenigstens einen Aspekt zu analysieren, da er die bibliographischen Informationen zur Verfügung stellt. 42 Stücke stammen aus Frankreich, 22 aus Spanien;53 19 datieren vor 1600, 26 zwischen 1600 und 1650 und 23 zwischen 1650 und 1700. Nur drei der Texte waren später als 1700 entstanden. Vier Autoren werden mithilfe von Handschriftentranskriptionen dargestellt, auch sind zwei Editionen byzantinisch-griechischer Texte enthalten. Damit bestätigen sich die Angaben auf der Titelseite. Wenn eine Gruppe als abwesend auffällt, dann sind dies italienische Autoren – nur einer ist in den sieben Bänden vertreten. Meermans Engagement bei der Wiederveröffentlichung humanistischer Jurisprudenz endete 1753 nicht. 13 Jahre später förderte er Jakob van Vaassens Edition der »Opera juridica, philologica, philosophica« Antonio Gouveias, eines Gelehrten des 16.  Jahrhunderts: Er stellte Bücher aus seiner eigenen Biblio52 »[I]nanibus logis et tricis meris subfarcinati« (Meerman, Conspectus (wie Anm.  5), S. 58 f.). 53 Die Titelseite stellt spanische über französische Autoren, obwohl letztere häufiger vertreten sind.

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thek sowie Material zur Verfügung, das er von Gregorio Mayans y Siscar erhalten hatte. Meerman half Vaassen auch, indem er seine Kontakte nutzte, um für den Editor Erkundigungen zu Beständen der großen europäischen Bibliotheken einzuholen. Vaassen stellte seine Edition in den Kontext von Ausgaben anderer humanistischer Juristen, etwa der in Lucca erschienenen von Antonio Augustin und der der Brüder Gentili, die in Neapel veröffentlicht worden war. Dass diese Ausgaben ungefähr zur selben Zeit erschienen, erweckt aus einer internationalen Perspektive den Eindruck, die Verleger seien im Bereich der humanistischen Rechtswissenschaft selbst in dieser relativ späten Phase durchaus von optimistischen Absatzerwartungen ausgegangen. Des Weiteren plante Meerman gemeinsam mit Nicolas van Daalen, dem Den Haager Verleger, mit dem er nach dem Tod von Pieter de Hondt zusammen­ gearbeitet hatte, einen Ergänzungsband zu seinem eigenen »Thesaurus«. Dafür wurde 1769 ein Konspekt herausgegeben, den im Februar 1770 auch noch einmal das »Journal des Savants« abdruckte. Das wichtigste Werk, das in den Ergänzungsband aufgenommen werden sollte, war die Edition des »Promptuarium« beziehungsweise »Manuale legum« des Constantinus Harmenopulus. Dies war als Desiderat bereits im Vorwort des siebten Bandes formuliert worden. Wilhelm Otto Reitz hatte das Werk ediert, war jedoch gestorben, bevor er einen Verleger gefunden hatte; sein Sohn Karl Konrad Reitz kümmerte sich dann um den Druck und auch um das Register zu allen acht Bänden des »Novus Thesaurus«, das Meerman als ein unverzichtbares Werkzeug ansah und das auch Otto für seine Kompilation erstellt hatte. Nur eines der weiteren neun Werke, die in den achten Band einbezogen wurden, Samuel Fermats »Dissertationes«, stand auf der Liste der Desiderata im Konspekt aus dem Jahr 1751. Enthalten ist nur ein Text, dessen Originalausgabe vor 1600 datiert ist, vier erschienen vor 1700 und die restlichen vier danach. Drei Texte stammen von französischen, fünf von niederländischen und zwei von deutschen Autoren. Dieselbe Bandbreite europäischer Buchhändler stand für die Entgegennahme von Subskriptionen zur Verfügung, die, so zeigte Meerman an, bis zum 1. Juni 1770 möglich bleiben würde. Zwar wurden Anstrengungen unternommen, die Kompilation innerhalb von zwei Jahren nach diesem Datum zur Veröffentlichungen zu bringen; tatsächlich erschien der Band jedoch erst 1780, acht Jahre nach dem Tod Meermans. Das Vorwort enthält die Publikationsgeschichte der Autoren. »The Monthly Review or literary journal« berichtete 1783 von der Neuerscheinung und formulierte zurückhaltend, dass der Band aufgrund der Harmenolupus-Edition »von denjenigen, die sich für die Studien der antiken Jurisprudenz interessieren, natürlich als eine wertvolle Publikation angesehen werden muss«, womit wahrscheinlich impliziert war, dass diese unter den Lesern der Zeitschrift nicht sehr zahlreich seien.

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VIII. Schlussbemerkungen Was hätten Gelehrte, Verleger und Käufer rechtswissenschaftlicher Texte in den Jahren 1600 und 1750 wohl als grundlegende Unterschiede wahrgenommen? Wie veränderten sich die Publikationsbedingungen, also die Bedingungen dafür, veröffentlicht und vermarktet zu werden, Zugang zu publiziertem Material aus der jüngeren und entfernteren Vergangenheit zu bekommen, eigene Bibliotheken aufzubauen, Märkte zu schaffen und zu erweitern? Einige Punkte sind hier zu nennen. Lebende Autoren waren für ihre eigenen Disputationen und Monographien hauptsächlich auf lokale Druckereien angewiesen. Deutsche Buchmessen zeigten Neuerscheinungen weiter an, dies war aber vor allem im norddeutschen Raum wirksam. Um einen internationalen Markt zu erreichen, musste eine Rezension in einer der angesehenen gelehrten Zeitschriften erscheinen. Danach nahm der potentielle Käufer wohl Kontakt zu seinem lokalen Buchhändler auf, der einem weit gespannten Buchhändler-Netzwerk angehörte, möglicherweise auch zu lokalen Agenten ausländischer Buchhändler. Die Effizienz dieser Vertriebswege war für den Nordeuropäischen Raum beachtlich; für Spanien und Italien allerdings sah es nicht gut aus. Selbst Verleger, die breiten Absatz anstrebten, wie beispielsweise verschiedene neapolitanische Verlagshäuser, waren darin nicht immer erfolgreich; man muss hier nur an ­Giambattista Vico und die sehr schwache Verbreitung seiner Werke in Nordeuropa denken. Sogar Frankreichs Perspektive auf den Buchmarkt fiel trotz des hohen Ansehens, das es als Zentrum wissenschaftlicher Tätigkeiten genoss, etwas einseitig aus. Als der Pariser Abbé Bordelon 1699 in seiner »Histoire critique des personnes les plus remarquables de tous les siècles« die Frage beantworten wollte, ob zu viele Bücher veröffentlicht würden, bemerkte er Folgendes: In England würden nur in Oxford und London viele Bücher hergestellt; in Italien konzentrierten sich Verlage auf Pastoral- und Moraltheologie und kanonisches Recht, abgesehen davon hätten sie wenig Ahnung von dem, was außerhalb ihres Landes publiziert werde; in Spanien seien die Standards der Buchherstellung niedrig und die meisten Bücher würden von Theologen veröffentlicht, deren Freunde den Druck bezahlten; tatsächlich wichtige Zentren des Buchdrucks seien in Frankreich nur Paris und Lyon; die Niederlande produzierten große Mengen an Büchern (manche von verdächtigem Inhalt) in verschiedenen Städten (er nennt Amsterdam, Leiden, Rotterdam, Den Haag und Utrecht); in Deutschland gebe es viele Buchläden in Hamburg, Straßburg und Frankfurt, das ein Zentrum des internationalen Handels sei, Köln sei im Abstieg begriffen. Leipzig wird nur wegen der »Acta eruditorum« erwähnt, Basel gehöre der Vergangenheit an und Genf sei produktiv, habe aber den Ruf, für sehr schlechte Bücher zu stehen, im Hinblick sowohl auf den Inhalt als auch die Druckverarbeitung. Diese beschränkte Darstellung lässt einiges aus und liegt insbesondere in Bezug auf

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Deutschland falsch. Sie macht deutlich, dass in einigen Kreisen nur lückenhafte Informationen über wissenschaftliche Publikationen vorhanden waren.54 Ich habe abschließend zu zeigen versucht, dass das Funktionieren des internationalen Buchmarkts nicht so sehr von Gelehrten als vielmehr von Sammlern abhing, die Bücher aus Prestigegründen kauften. In einem Vorwort mit der Überschrift »De vana librorum pompa« für einen Neudruck von Thomas Bartholins »De libris legendis dissertationes« aus dem Jahr 1711 listet Johann Gerhard Meuschen, ein in Den Haag ansässiger lutheranischer Theologe, die Sünden der Käufer derartiger gelehrter Bücher auf. Er beginnt mit der Annahme, dass sie kulturelles Ansehen durch den bloßen Besitz einer großen Zahl an Büchern gewännen, insbesondere Büchern mit schönen Einbänden, ohne die Absicht zu haben, sie tatsächlich zu lesen, und bedauert dann ihren Unwillen, ernsthaften Wissenschaftlern Zugang zu ihren Bibliotheken zu gewähren.55 Seine Anklage ist voll moralischer Entrüstung gegenüber solchen Käufern; sie versäumt aber, die Bedeutung ihrer finanziellen Beteiligung zu würdigen. Ottos und Meermans Subskribentenlisten legen offen, dass ein großer Teil  der wissenschaftlichen Publikationen ohne ihre Unterstützung nicht das Licht der Welt erblickt hätte.

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Miriam Müller

Sammelnde Professoren Die Ökonomie der Objektakkumulation an den Universitäten Helmstedt und Göttingen im 18. Jahrhundert

Das Sammeln war im 18.  Jahrhundert eine Tätigkeit, die neben Fürsten und wohlhabenden Bürgern vor allem Gelehrte beschäftigte. In zuvor nicht gekanntem Ausmaß wurden unter anderem Kunstwerke, Pflanzen und Tiere, mathematische und physikalische Instrumente, außereuropäische Gebrauchsgegenstände, Mineralien und Münzen zusammengetragen.1 Auch an den Universitäten hielt unter dem Einfluss des im 17.  Jahrhundert aufkommenden Empirismus eine intensive Beschäftigung mit Sammlungen Einzug unter der Prämisse, sie für den akademischen Unterricht nutzbar zu machen.2 Die Universitätslehrer nutzten Objekte in ihren Vorlesungen als Anschauungsmaterial, verwendeten verschiedene Hilfsmittel zu anatomischen, physikalischen oder chemischen Demonstrationen, und nicht zuletzt diente ihnen ihr Sammlungsbesitz zum Vorantreiben ihrer eigenen Forschung. 1 Für einen Überblick zur Geschichte des Sammelns in der Frühen Neuzeit vgl. Andreas Grote (Hg.), Macrocosmos in Microcosmos. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800. (Berliner Schriften zur Museumskunde, 10) Opladen 1994; Anke te Heesen/Emma Spary (Hg.), Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung. (Wissenschaftsgeschichte) 2. Aufl. Göttingen 2002. Des Weiteren einschlägig sind Paula Findlen, Possessing Nature. Museums, Collecting, and Scientific Culture in Early Modern Italy. (Studies on the History of Society and Culture, 20) Berkeley 1994; D ­ ominik Collet, Die Welt in der Stube. Begegnungen mit Außereuropa in Kunstkammern der­ Frühen Neuzeit. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 232) Göttingen 2007. 2 Zur Scientific Revolution im 17.  Jahrhundert vgl. Steven Shapin, Die wissenschaftliche Revolution. Frankfurt am Main 1998. Zu Universitäten in diesem Zusammenhang vgl. Roy Porter, Die Wissenschaftliche Revolution und die Universitäten, in: Walter Rüegg (Hg.), Geschichte der Universität in Europa, Bd. 2. Von der Reformation zur Französischen Revolution (1500–1800). München 1996, S. 425–449; Walter Höflechner, Bemerkungen zur Differenzierung des Fächerkanons und zur Stellung der philosophischen Fakultäten im Übergang vom 18. auf das 19. Jahrhundert, in: Rainer Christoph Schwinges (Hg.), Artisten und Philosophen. Wissenschafts- und Wirkungsgeschichte einer Fakultät vom 13. bis zum 19. Jahrhundert. (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, 1) Basel 1999, S. 297–317; Marian Füssel, Lehre ohne Forschung? Zu den Praktiken des Wissens an der Universität der Frühen Neuzeit, in: Martin Kintzinger/Sita Steckel (Hg.), Akademische Wissenskulturen. Praktiken des Lehrens und Forschens vom Mittelalter bis zur Moderne. (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, 13) Basel 2015, S. 59–87.

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Die Geschichte dieser universitären Dingkultur wurde in der Forschung bisher vor allem als Institutionengeschichte einzelner Fachsammlungen oder Museen geschrieben, was zum Teil auf das dauerhafte und mitunter noch heutige Bestehen dieser Einrichtungen zurückzuführen ist.3 Die große Zahl solcher Studien sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es bereits vor der Gründung von Universitätsmuseen eine akademische Sammlungskultur gegeben hat. Wissensdinge4 waren in Form ›privater‹, also institutionell nicht angebundener Dozentensammlungen ein alltäglicher Bestandteil der universitären Wissenspraxis geworden, nur wurden diese Sammlungen meist mit dem Tod ihres Besitzers aufgelöst und oft zeugen von ihnen kaum mehr als unergiebige Nachlassunterlagen oder Auktionskataloge. Ein bedeutender Faktor dieser auf persönlichen Sammlungen basierenden Dingkultur war, dass die Lehrenden weitestgehend unabhängig von der Institution, an der sie tätig waren, Objekte anschafften, verwalteten und gebrauchten. Denn obwohl der Einsatz von Wissensdingen an Universitäten weitestgehend üblich wurde, war weiterhin die Überzeugung vorherrschend, ein Dozent sei für die Anschaffung seines Arbeitsmaterials selbst verantwortlich, und so war das Vorhandensein von Sammlungen an einer Universität oft vom persön3 Hier eine Auswahl von Ausstellungskatalogen im deutschsprachigen Raum: Udo Andraschke/ Marion Ruisinger (Hg.), Die Sammlungen der Universität Erlangen-Nürnberg. Begleitband zur Ausstellung »Ausgepackt. Die Sammlungen der Universität Erlangen-Nürnberg« 20. Mai–19. Juli 2007. Nürnberg 2007; Claudia Feigl (Hg.), Schaukästen der Wissenschaft. Die Sammlungen an der Universität Wien. Wien 2012; Georg-August-Universität Göttingen (Hg.), Dinge des Wissens. Die Sammlungen, Museen und Gärten der Universität Göttingen. Göttingen 2012; Ulrich Moritz/Horst Bredekamp (Hg.), Theater der Natur und Kunst. Wunderkammern des Wissens. Eine Ausstellung der Humboldt-Universität zu Berlin 10. Dezember 2000 bis 4. März 2001. Essays. Berlin 2001. Außerdem boten aufgrund des überlieferten Quellenmaterials in den Universitätsarchiven institutionelle Sammlungsgründungen bisher einen geeigneten Ausgangspunkt für kleinere Einzeluntersuchungen, hierzu als Beispiele vgl. Christine Nawa, Zum »öffentlichen Gebrauche« bestimmt. Das Academische Museum Göttingen, in: Göttinger Jahrbuch 58, 2010, S. 23–62; Iris Becher, Naturalia, Scientifica, Artificialia. Die Kabinette des 18. Jahrhunderts und die Anfänge der wissenschaftlichen Sammlungen an der Universität Freiburg, in: Dieter Mertens/­Heribert Smolinsky (Hg.), Von der hohen Schule zur Universität der Neuzeit (550 Jahre Albert-­ Ludwigs-Universität Freiburg, Bd. 2). Freiburg i. Br. 2007, S. 198–238. 4 Die Objekte, die zu einem festen Bestandteil der akademischen Wissenskultur wurden, können als Wissensdinge bezeichnet werden. Nach einer praxeologischen Definition sind Wissensdinge materielle Gegenstände, die Bestandteile sozialer Praktiken sind, diese ermöglichen und beeinflussen, vgl. Andreas Reckwitz, Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32,4, 2003, S.  282–301, hier vor allem 290 f. In Zusammenhang mit wissenschaftlichen Sammlungen kommt der Ausdruck »Wissensdinge« zunehmend zum Einsatz, vgl. Anita­ Hermannstädter/Ina Heumann/Kerstin Pannhorst (Hg.), Wissensdinge. Geschichten aus dem Naturkundemuseum. Berlin 2015; Jochen Hennig, Wissensdinge – Wissensanordnungen – Wissensorte. Zum Ausstellen von Universitätssammlungen, in: Georg-August-Universität Göttingen (Hg.), Dinge des Wissens (wie Anm. 3), S. 20–29.

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lichen Engagement einzelner Lehrender abhängig.5 Aus diesem Grund gehen letztendlich viele heutige Universitätssammlungen auf den Nachlass von Professoren zurück, die eigenständig sammelten und ihren Besitz der Hochschule verkauften oder vererbten, während die Universitäten selbst selten vor Ende des 18. Jahrhunderts aus eigener Initiative solche Anschaffungen tätigten. Zu diesem unabhängigen Sammeln gehörte es dazu, dass die Gelehrten ihr eigenes Geld in Anschaffung und Pflege von Sammlungen investierten und diese so zu einem Bestandteil ihres Privatvermögens machten. Damit waren antike Münzen, anatomische Präparate, Herbarien, Mineralienkabinette und sogar chemisches Rüstzeug wie Öfen und Kolben ebenso ein Teil ihres Hausrats wie Möbel oder Geschirr.6 Als ihr Eigentum bewahrten sie die Wissensdinge meist in ihrem Wohnhaus auf, nahmen sie bei einem Umzug mit und konnten überhaupt weitestgehend frei darüber verfügen.7 5 Entweder schafften sich die Dozenten ›privat‹ eine Sammlung an oder sie setzten sich bei ihrer Landesregierung intensiv für eine bessere Ausstattung ihres Lehrstuhls ein. Nur­ selten erhielten sie hierbei finanzielle Unterstützung von den Universitäten oder ihrem Landesherrn. Selbst an Universitäten, an denen bereits eine gewisse Grundausrüstung für den Unterricht zur Verfügung gestellt wurde, zum Beispiel in Form eines mathematisch-physikalischen Instrumentenapparats für Versuchsdemonstrationen oder eines botanischen Gartens für den pharmazeutischen Unterricht, blieb es oft nicht aus, dass der Lehrstuhlinhaber sich finanziell an dieser Ausstattung beteiligen musste, oder diese so mangelhaft war, dass er sich gleich parallel einen eigenen Objektbestand kaufte. Es seien hierfür nur drei Beispiele genannt. Der Leipziger Chemieprofessor Johann Christoph Scheider bot 1710 für die Einrichtung eines universitären Chemielabors an, die hierfür nötigen Öfen und Instrumente aus eigenen Mitteln beizusteuern, um die übrigen Professoren von diesem Vorhaben zu überzeugen, vgl. Schreiben vom 24.11.1710, in: Universitätsarchiv Leipzig (UAL), Rep. II /I C 1, fol 1v. Im Anatomischen Theater in Jena nutzte der Anatomieprofessor Justus Christian Loder sowohl seine eigenen als auch universitätszugehörige Arbeitsmaterialien, weshalb alle zur Universität gehörenden Objekte zur Unterscheidung mit einem »A« markiert werden mussten, vgl. Schreiben vom 8.2.1788, in: Universitätsarchiv Jena (UAJ), Bestand A, (II 76) 876, fol. 33r–35r. Aus Leipzig wird noch 1808 berichtet, die Ausstattung am Lehrstuhl für Physik sei so veraltet gewesen, dass Professor Carl ­Friedrich Hindenburg sich eigene Instrumente anschaffen musste, vgl. Schreiben von Gottfried ­Tauber und Moritz von Prasse vom 30.8.1808, in: UAL , Rep. II /I J 1, fol. 43r–44r. 6 Davon zeugen vor allem Nachlassinventare wie das des Leipziger Chemieprofessors Adam Friedrich Petzold von 1761, das neben Wäsche, Porzellan, Kleidern und Betten auch »Laborir Zeuge« und eine Sammlung an »Ertzen und Mineralien« nennt, vgl. Inventar der Verlassenschaft Adam Friedrich Petzolds 1761, in: UAL , GA II P 14b, fol. 27r–29v. 7 Für die Familien und Hinterbliebenen war es außerdem üblich, diese Besitztümer nach dem Tod des Gelehrten öffentlich zu versteigern, da sie ein Bestandteil des Erbes darstellten, für den sie meist keine weitere Verwendung hatten, vgl. Heide Wunder, Helmstedter Professorinnen. Zur Konstituierung des Professorenstandes, in: Jens Bruning/­U lrike Gleixner (Hg.), Das Athen der Welfen. Die Reformuniversität Helmstedt 1576–1810. (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, 92) Wolfenbüttel 2010, S. 152–159. Mitunter erhielt ein Sohn oder Schwiegersohn einen Teil des Erbes, wenn er selbst eine Karriere als Gelehrter anstrebte, wie der Anatom Georg Friedrich Sigwart, der die Sammlung und Bibliothek seines Schwiegervaters erbte und 1751 dessen Lehrstuhl in Tübingen

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Aus der Konzentration der universitären Wissensdinge im Besitz der Lehrenden ergaben sich Handlungsmöglichkeiten und -vorgaben für verschiedene Akteure, die als eine Ökonomie beschrieben werden können.8 Ökonomie bedeutet in diesem Zusammenhang auch, aber nicht ausschließlich Geldwirtschaft. Es kann im Sinne Pierre Bourdieus von einem Austausch verschiedenen ökonomischen, symbolischen und sozialen Kapitals gesprochen werden.9 So war eine Sammlung für einen Gelehrten sicherlich eine bedeutende Geldanlage, verschaffte ihm aber auch symbolisches Kapital in Form von Prestige und soziales Kapital in Form von Kontakten, die er mit anderen Sammlern und Sammlungsinteressierten knüpfen konnte. Das schlug sich zum Beispiel in der Berufungsund Besoldungspraxis an den Universitäten nieder, in der diese unterschiedlichen Kapitalien zur Geltung kamen (I.). Auch eine moralische Ökonomie, wie sie Lorraine Daston beschreibt, hatte Einfluss auf die übrigen Kapitalsorten.10 Wie sich ein Sammler im Kontext der ungeschriebenen Anstandsregeln des Gelehrtenstandes verhielt, war mitunter entscheidend dafür, ob er von seinen Mitmenschen als Gelehrter akzeptiert und unterstützt wurde, und das konnte schließlich Auswirkungen auf sein Ansehen, seinen sozialen Status und sogar sein Vermögen haben (II.). Um diese Ökonomie des universitären Sammelns zu beschreiben werden die Professoren Gottfried Christoph Beireis (1730–1809) in Helmstedt und Christian Wilhelm Büttner (1716–1801) in Göttingen und Jena als Hauptbeispiele dienen. Sie legten umfangreiche Sammlungen an, die ihnen Karriere­ vorteile brachten, doch der jeweilige Umgang mit diesen Besitztümern im weiteren Verlauf ihres Lebens hatte für beide unterschiedliche Folgen.

übernahm, vgl. Klaus Mörike, Geschichte der Tübinger Anatomie. Tübingen 1988, S. 31. Doch es konnte bereits ausreichen, dass die Erben sich einer anderen Disziplin widmeten, um die Hinterlassenschaft auch für sie entbehrlich zu machen, weshalb beispielsweise die Nachkommen eines Zwickauer Arztes, die selbst nicht Medizin studieren wollten, die Bibliothek ihres Vaters in Leipzig versteigern ließen, vgl. Schreiben des Nachlassverwalters Julius Gottfried Herold vom 16.8.1714, in: UAL , Rep. II /X 2, fol. 12r–13r. 8 Einen Überblick über den Wandel des Ökonomieverständnisses vor allem im Kontext der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte liefert Marian Füssel, Die Ökonomie der Gelehrtenrepublik: Moral – Markt – Wissen, in: Sandra Richter/Guillaume Garner (Hg.), ›Eigennutz‹ und ›gute Ordnung‹. Ökonomisierungen der Welt im 17. Jahrhundert. (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, 54) Wiesbaden 2016, S. 301–322. 9 Vgl. Pierre Bourdieu, Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – Soziales Kapital, in: Ders., Die verborgenen Mechanismen der Macht (Schriften zur Politik & Kultur, 1) Hamburg 1992, S. 49–80. 10 Vgl. Lorraine Daston, Die moralische Ökonomie der Wissenschaft, in: Dies., Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. 2. Aufl. Frankfurt am Main 2003, S. 157–184.

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I . Die Berufung und Besoldung sammelnder Professoren Den Universitäten des 18. Jahrhunderts erschien es meist vorteilhafter, Dozenten einzustellen, die bereits eine ansehnliche Sammlung besaßen, als auf Kosten ihres oft knapp bemessenen Etats eine eigene anzuschaffen. Der Besitz einer Sammlung konnte daher für Gelehrte zu einem deutlichen Vorteil bei der Vergabe vakanter Lehrstühle werden. In einigen Lehrfächern wurden dezidiert Kandidaten bevorzugt, die bereits das für ihre Arbeit erforderliche Rüstzeug vorweisen konnten. Allerdings verloren die Universitäten zusammen mit einem solchen Lehrer, wenn er verstarb oder verzog, auch dessen Besitztümer und die Vorteile, die diese mit sich gebracht hatten. Dennoch wurde die Anschaffung einer dauerhaften, universitätseigenen Lehrstuhlausstattung meist gescheut. Eine Ursache hierfür war, dass kaum praktische Voraussetzungen für die Einrichtungen von Universitätssammlungen wie Räumlichkeiten, Personal oder Verwaltungsstrukturen existierten. Universitäten waren vor allem privilegierte Personenverbände von Lehrern und Studenten, denen es meist an Geld und eigenen Gebäuden mangelte.11 Unter solchen Voraussetzungen erschien die Investition in eine universitätseigene Sammlung oft zu riskant, zumal kaum tradierte Praktiken existierten, die eine institutionelle Kontrolle über die Objekte hätten gewährleisten und damit deren dauerhaften Fortbestand garantieren können. So waren die ersten Versuche, universitätseigene Sammlungen einzuführen, mitunter von Unsicherheiten und Konflikten geprägt. An einem Beispiel lässt sich gut beobachten, wie die aus solchen Unsicherheiten hervorgehenden Auseinandersetzungen die weiteren Entscheidungen für oder gegen eine Universitätssammlung beeinflussten. Eine schlechte Erfahrung mit einer eigenen Sammlung, die den zukünftigen Umgang mit ähnlichen Einrichtungen prägte, machte die Universität Tübingen im Jahr 1745. Bereits 1718 war der Ankauf eines physikalisch-mathematischen Instrumentenapparats auf Antrag des Physikprofessors Johann Conrad Creiling bewilligt worden. Dabei war betont worden, dass die Instrumente »als der Universität Eigenthumb aufbehalten, deren Gebrauch aber Ihme Creiling, wie auch seinen Successoribus in Officio, überlaßen«12 werden solle, Eigentumsrechte der Universität also deutlich von den Gebrauchsrechten des jeweiligen Lehrstuhlinhabers unterschieden werden sollten. Als Creiling aber 1745 die Universität Tübingen wieder verließ und die in seiner Verwahrung befindlichen Instrumente an seinen Nachfolger hätte weitergeben müssen, weigerte er sich schlicht, der Aufforderung nachzukommen. Er behauptete, das Geld für den Instrumentenkauf aus dem 11 Vgl. Hilde de Ridder-Symoens, Organisation und Ausstattung, in: Rüegg (Hg.), Geschichte der Universität, Bd. 2 (wie Anm. 2), S. 139–179. 12 Schreiben an die Universität Tübingen vom 27.5.1718, in: Universitätsarchiv Tübingen (UAT), 21/6.

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Jahr 1718 sei eine Art Zuschuss für den Kauf seiner eigenen Instrumente gewesen, und er bot der Universität stattdessen einige seiner selbstgebauten Fortifikationsmodelle an.13 Dieser Streit mit Creiling hatte eine gesteigerte Vorsicht des akademischen Senats gegenüber solchen Einrichtungen zur Folge, und das zeigte sich in den Verhandlungen um das neugebaute chemische Labor im Jahr 1754. Als hierbei der Chemieprofessor Johann Georg Gmelin eine Erstattung der Kosten für die Laborausstattung beantragte, sprachen sich mehrere Professoren im akademischen Senat vehement dagegen aus. Es könne nicht garantiert werden, dass der Chemieprofessor bei seinem Weggang oder Tod das chemische Labor seinem Nachfolger mit einer intakten und vollständigen Ausstattung hinterlassen werde. Ein Professor der Juristischen Fakultät fragte dementsprechend kritisch nach, wie der Umgang mit der Laboreinrichtung geregelt werden solle: »Wer wird obsorg haben, daß nicht in einiger Zeit alles verderben, wer wird, der Sachen, so preparirt werden sollen, hergeben und behalten, mithin den Nutzen davon ziehen.«14 Damit verwies er auch auf die noch nicht geregelte Zuständigkeit für die laufenden Kosten, die der Erhalt einer solchen Anschaffung erforderte. Schließlich scheinen einige Jahre darauf diese Unsicherheiten in einem für den akademischen Senat akzeptablen Maß gebändigt worden zu sein. Bei einer Lehrstuhlübergabe wurde nun jeweils ein Inventar des chemischen Labors erstellt, das der neue Professor für Chemie zu unterschreiben hatte.15 ­Ähnliche Kontrollpraktiken wie das Inventarisieren und die formelle Sammlungsübergabe bildeten sich auch an anderen Universitäten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts heraus, sodass bei vorhandenen finanziellen Mitteln die Universitäten der Anschaffung und Unterhaltung einer eigenen Sammlung weniger abgeneigt gegenüberstanden als es noch einige Jahrzehnte zuvor der Fall gewesen war.16 13 Vgl. Schreiben der Universität Tübingen an die herzogliche Regierung vom 15.1.1745, in: UAT, 21/6. Ein Schreiben von Creilings Nachfolger Krafft vom 29.4.1745, in dem er von der Überführung mathematischer und physikalischer Instrumente an das Collegium Illustre in Tübingen berichtet, weist darauf hin, dass Creiling die Instrumente womöglich doch zurückgab, vgl. ebd. 14 Beitrag von Christian Ferdinand Harpprecht in der schriftlichen Diskussion der Tübinger Professoren, ca. 26.6.1754, in: UAT, 20/7b. 15 Vgl. UAT 20/7b, fol. 51–54. 16 Zum Beispiel wurden am Morgen nach dem Tod Professor Johann Christian Daniel von Schrebers in Erlangen die Sammlungsräume in dessen Haus und neben dem Auditorium auf Anweisung des Universitätsgerichts versiegelt, da er noch Objekte aus dem universitätseigenen Naturalienkabinett in seiner Verwahrung gehabt hatte, vgl. Bericht der Universitätsdeputierten Sommer und Sattler vom 11.12.1810, in: Universitätsarchiv Erlangen (UAE), A2/1 Nr. S 25. Ein weiteres Beispiel findet sich in Leipzig mit der Sammlung physikalischer Instrumente, die im Jahr 1785 für die Universität gekauft wurde. Es wurde auf das Anlegen eines Verzeichnisses der Instrumente geachtet und hierbei sowie in den folgenden Jahren ein Universitätsmechaniker als Gutachter hinzugezogen, vgl. Akte zum Ankauf der physikalischen Instrumente, in: UAL , Rep. II /I J 1.

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Allerdings war die Herausbildung solcher Kontrollmechanismen ein langwieriger Prozess und die Universitäten des 18.  Jahrhunderts waren oft noch nicht bereit, die finanzielle Last und Unsicherheit einer akademischen Sammlung zu tragen. Dem stand der Wunsch gegenüber, durch die Präsenz einer Sammlung die eigene Universität für potentielle Studenten attraktiver zu machen und so höhere Immatrikulationszahlen zu erzielen. Aus diesem Grund wurden auf einige Lehrstühle bevorzugt Gelehrte berufen, die bereits im Besitz einer eigenen Sammlung waren und alle diesbezüglich aufkommenden Kosten und Risiken selbst trugen. Das verschaffte auch Gottfried Christoph Beireis einen deutlichen Vorteil, als er sich um den 1759 vakant gewordenen Lehrstuhl für Physik in Helmstedt bewarb.17 In seinem Bewerbungsschreiben verspricht er im Fall einer Zusage, für seine physikalischen, chemischen und chirurgischen Vorlesungen den »Frobesischen oder Heisterischen ansehnlichen apparatum von Instrumenten an mich zu kaufen, nicht nur zum Nutzen der studirenden zu gebrauchen, sondern, wenn Gott in Helmstedt mein Ende verlangen sollte, solchen der Academie ohnentgeltlich zu hinterlaßen.«18 Gemeint waren hiermit die mathematischen und physikalischen Instrumente des kurz zuvor verstorbenen Helmstedter Professors für Physik und Mathematik, Johann Nikolaus Frobesius (1701–1756) und die chirurgischen Instrumente des ebenso gerade erst verstorbenen Lorenz Heister (1683–1758), der in Helmstedt unter anderem den Lehrstuhl für Anatomie und Chirurgie inne gehabt hatte.19 Der aus Mühlhausen stammende Beireis, der sein in Jena begonnenes Medizinstudium ab 1756 bei Heister fortgesetzt und als Magister bereits selbst Lehrveranstaltungen in Helmstedt gehalten hatte, wusste offenbar, dass es der Universität ein Anliegen war, den Studenten weiterhin Vorlesungen in der Art und Weise anbieten zu können, wie sie Frobesius und Heister gehalten hatten. Der Besitz ihrer Instrumentensammlungen sollte ihn – neben seinen sonstigen Qualifikationen und seiner Lehrerfahrung, die er im Bewerbungsbrief schildert – in den Augen des Universitätssenats zu einem solchen Unterricht befähigen. Darüber hinaus wollte er der Universität die Instrumente ohne weitere Gegenleistungen vererben, was ausgesprochen großzügig erscheinen musste, war der Verkauf des Professorennachlasses doch sonst eine wichtige Geldquelle für die Hinterbliebenen.20 Sein Vorschlag fand 17 Für biographische Angaben zu Gottfried Christoph Beireis vgl. Carl von Heister, Nachrichten über Gottfried Christoph Beireis. Professor zu Helmstedt von 1759 bis 1809. Berlin 1860. 18 Bewerbungsbrief von Gottfried Christoph Beireis vom 23.2.1759, in: Niedersächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel (NLA), 37 Alt 449, fol. 5r. Hierin berichtet Beireis außerdem von seinem (Auslands-)Studium, seinem Studium bei Heister und seinen Chemievorlesungen, die er bereits in Helmstedt gehalten habe. 19 Zur Frobesischen und Heisterschen Sammlung in Beireis’ Besitz vgl. Anonymus, Auszug aus einem Schreiben eines Reisenden, vom J. 1782, in: Johann Ernst Fabri (Hg.), Geographisches Magazin, H. VIII, 1783, 461 f. 20 Vgl. Anm. 7.

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Zustimmung und mit dem Kauf der besagten Instrumente erfolgte seine Berufung auf den Lehrstuhl.21 Mit dem Nebensatz »wenn Gott in Helmstedt mein Ende verlangen sollte« wird auf einen weiteren Faktor des Sammlungsbesitzes verwiesen. In seinem Bewerbungsschreiben macht Beireis mit dieser Anmerkung deutlich, dass das Vermachen seiner Instrumente an die Universität Helmstedt von der Dauer seines dortigen Aufenthalts abhing. Das bedeutete, die Universität hatte berechtigten Anlass dazu, für Beireis’ lebenslange Anstellung in Helmstedt zu sorgen. Das entsprach nicht unbedingt dem üblichen Karriereweg eines Gelehrten, da die meisten durchaus gewillt waren, einem Ruf auf eine besser bezahlte Stelle zu folgen. Eine solche Möglichkeit bot sich für Beireis bereits im Jahr 1762. Ihm wurde eine Position als Hofarzt beim Fürsten von Mecklenburg-Schwerin angeboten, die eine um 100 Reichstaler höhere Besoldung versprach als seine derzeitige Professur. Ein Freund übermittelte diese Nachricht in seinem Namen der Universität und verweist dabei auf den Verlust, den Helmstedt nicht nur an ihm als Lehrer haben würde, denn »keiner wird so leichtl. einen solchen Apparatum Instrumentorum mit sich bringen u. sich anschaffen können, als H. Pr. Beireis hat.«22 Die laut Schreiber einzigartige oder zumindest doch schwer zu ersetzende Instrumentensammlung würde Beireis bei einem Stellenwechsel selbstverständlich mitnehmen, ohne dass die Universität hierfür irgendeine Ent­schädigung erwarten konnte. Zudem erinnert er daran, dass die laufenden Kosten, die Beireis für seine Instrumente aufbringen musste, sein Interesse an einer lukrativen Anstellung rechtfertigten: »Euer Hochwohlgebohren können leicht. erachten, daß dergl. ansehnl Vocation viel Verführerisches mit sich führe, zumalen H. Pr. Beireis hier nur 300 rthl Besoldung, u. doch eine der kostbarsten Professionen, sowohl wegen der Bücher u. Instrumenten, als auch wegen d. Experimenten in s. Collegiis, hat.«23

Die Universität reagierte bereits wenige Tage später mit dem Angebot, sein Gehalt um 100 Reichstaler zu erhöhen und ihn in die Medizinische Fakultät aufzunehmen.24 In diesem Fall wurde Helmstedt aktiv von Beireis unter Druck gesetzt, ihm eine höhere Besoldung zuzugestehen, damit er nicht samt seiner wertvollen Instrumente fortginge. Derartige Gehaltsverhandlungen waren aber nicht nur eine Möglichkeit für Dozenten, sich einen finanziellen Vorteil zu verschaffen. Auch die Universitäten hatten mitunter großes Interesse daran, einen sammelnden Gelehrten zu fördern und entschieden sich dabei bewusst gegen die Anschaffung einer eigenen 21 In einem zwei Monate nach seiner Bewerbung verfassten Brief erwähnt Beireis Kauf und Einrichtung der Instrumentensammlung sowie den baldigen Beginn seiner Vorlesungen, vgl. Brief von Gottlieb Christoph Beireis vom 21.4.1759, in: NLA , 37 Alt 449, fol. 30r–31r. 22 Schreiben vom 9.3.1762, in: NLA , 37 Alt 449, fol. 42r. 23 Ebd., fol. 41v. 24 Vgl. Schreiben vom 15.3.1762, in: NLA , 37 Alt 449, fol. 43r.

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Sammlung. Das zeigt das Beispiel von Christian Wilhelm Büttner, der Professor für Naturgeschichte in Göttingen wurde.25 Er stammte aus einer wohlhabenden Apothekerfamilie aus Wolfenbüttel und war zunächst selbst in diesem Beruf tätig, bevor er 1748 nach Göttingen reiste, um dem Besuch König Georgs II. beizuwohnen.26 Er verlängerte seinen Aufenthalt in Göttingen und bat schließlich 1754/55 darum, an der Universität Lehrveranstaltungen zur Naturgeschichte halten zu dürfen. Hierzu reichte er einen Unterrichtsentwurf ein, der den Einsatz von Anschauungsmaterial für die Studenten vorsah. Die naturhistorische Sammlung, die er bereits von seinem Vater geerbt und auf seinen mehrjährigen Reisen durch Deutschland, die Niederlande und Skandinavien erweitert hatte, war für seine Vorlesungen fest eingeplant.27 Da bereits bei der Gründung der Universität Göttingen in den 1730er Jahren die Einrichtung eines Raritätenkabinetts in der Universitätsbibliothek geplant, bisher aber nicht umgesetzt worden war, und Büttner darüber hinaus keine jährliche Besoldung verlangte, konnte das Kuratorium seinen Vorschlag als günstige Gelegenheit nutzen.28 Ihm wurde die Lehrerlaubnis erteilt und kurz darauf erwarb er den Magistergrad an der Philosophischen Fakultät.29 Im Jahr 1759 wurde der Universität Göttingen eine Naturaliensammlung zum Kauf angeboten und damit die Frage aufgeworfen, ob in eine solche Anschaffung oder in Büttner investiert werden sollte. Diese Entscheidung musste auch deshalb gefällt werden, weil Büttner zu diesem Zeitpunkt bereits mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte und angab, Göttingen gezwungenermaßen verlassen zu müssen, wenn sich seine Einnahmen nicht besserten.30 Johann Matthias Gesner, der als Direktor der Universitätsbibliothek die 25 Für biographische Angaben zu Christian Wilhelm Büttner vgl. Friedrich Schlichtegroll (Hg.), Nekrolog der Teutschen für das neunzehnte Jahrhundert, Bd.  1. Gotha 1802, S. 211–240. 26 Zum Besuch Georgs II . in Göttingen vgl. Steffen Hölscher, Zwischen Legitimation und Lustbarkeit. Der Besuch Georgs II . an der Universität Göttingen 1748, in: Göttinger Jahrbuch 59, 2011, S. 41–69. 27 Vgl. »Entwurf zu den Unternehmungen des Herrn Commissärs Büttner in der Natur­ geschichte«, in: Universitätsarchiv Göttingen (UAG), Kur. 5754, fol. 11r–13v, hier vor allem fol. 12r. 28 Zum geplanten Naturalienkabinett der Universität Göttingen vgl. Reimer Eck, Vom Pädagogium zur Keimzelle von Universität und Bibliothek. Zur Bau- und Nutzungs­geschichte des Pauliner-Klosters im 18. Jahrhundert, in: Elmar Mittler (Hg.), 700 Jahre Pauliner Kirche. Vom Kloster zur Bibliothek. Ausstellung in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen 10.  Dezember 1994 bis 15.  Januar 1995. Göttingen 1994, S. 145–149 sowie Katalogteil, 160. 29 Zu Büttners Erfolg hat unter anderem auch die Fürsprache von Johann Philipp Murray beigetragen, vgl. Schreiben von Johann Philipp Murray vom 2.1.1755, in: UAG , Kur. 5754, fol. 3r–4r. 30 Büttner habe in Göttingen durch Mietkosten von 300 Reichstalern und »in Hofnung eines etablissement« den Großteil seines Vermögens bereits aufgebraucht, vgl. Schreiben von Johann Matthias Gesner, ca. Feb. 1759, in: UAG , Kur. 7336, fol. 4r.

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Oberaufsicht über das angebotene Naturalienkabinett erhalten hätte, argumentierte schließlich nach einem Gespräch mit Büttner ausdrücklich gegen die Einrichtung einer Universitätssammlung.31 Erstens sei Büttners Sammlung, für die sein Vater und er insgesamt 8.000 Reichstaler ausgegeben hätten, viel wertvoller und umfangreicher als das angebotene Naturalienkabinett, das auf die für den Unterricht in Naturgeschichte weniger interessanten Fossilien spezialisiert sei. Des Weiteren habe die Universitätsbibliothek derzeit gar keine Kapazitäten, eine Sammlung aufzunehmen. Es fehle an geeigneten Räumlichkeiten und die Verwaltung der Objekte würde nur zusätzliche Kosten verursachen. Darüber hinaus betont Gesner, dass Büttners Sammlung vor allem in Kombination mit ihrem Besitzer einen höheren Wert habe als ein in der Universitätsbibliothek aufgestelltes Kabinett. Der Naturhistoriker habe zum Beispiel erst kürzlich bewiesen, dass er als Gastgeber in der Lage sei, für Stadt und Universität äußerst wichtige Besucher für seine Sammlung zu begeistern: »Ich kan aber Zeugen, daß sein Cabinet, u. die darinnen bezeugte Willfährigkeit ein sehr grosses zu der verschonenden aufführung der französischen Generale u. Officirer beygetragen haben u. der Chevalier de Grollier correspondirt von der Zeit an mit ihm. Den Herzog von Wurtenberg, der nicht auf die Bibliotheck gekommen, habe ihn 2 mal besucht, u. ein mal bey der Tafel gehabt.«32

Die Rede ist hier von den französischen Truppen, die im Siebenjährigen Krieg Göttingen besetzten und auf deren adlige Offiziere Büttner einen positiven Einfluss gehabt habe, während eine Universitätseinrichtung wie die Bibliothek nicht in der Lage war, das Interesse der Besatzer zu wecken.33 Die Sammlung ermöglichte ihrem Besitzer soziale Praktiken, die förderlich für den Aufbau einer wohlwollenden Grundstimmung der Besatzer gegenüber der Universität waren. Es war unter adligen und wohlhabenden Reisenden üblich, Sammlern einen persönlichen Besuch abzustatten, sich deren sehenswerte Besitz­tümer vorführen zu lassen und so Kontakte zu knüpfen, und der kriegsbedingte Aufenthalt der französischen Offiziere in Göttingen scheint hierbei keine Ausnahme zu bilden.34 31 Vgl. ebd., fol. 4r–5r. 32 Ebd., fol. 4v. 33 Ebenso suchten die anderen Professoren bei Besuchen, Gegenbesuchen und gemeinsamen Spaziergängen Kontakt zu den französischen Offizieren, auch um diese gegenüber den Universitätsmitgliedern gnädig zu stimmen, vgl. Samuel Christian Hollmann, Die Universität Göttingen im Siebenjährigen Kriege. Aus der handschriftlichen Chronik. Hrsg. v. Alfred Schöne. Leipzig 1887, S. 16–20. 34 Wie gängig solche Sammlungsbesuche waren, zeigen Reiseberichte und Sammlungsführer wie Friedrich Karl Gottlob Hirsching, Nachrichten von sehenswürdigen Gemälde- und Kupferstichsammlungen, Münz- Gemmen- Kunst- und Naturalienkabineten, Sammlungen von Modellen, Maschinen, physikalischen und mathematischen Instrumenten, anatomischen Präparaten und botanischen Gärten in Teutschland, 6 Bde. Erlangen ­1786–1792.

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Letztendlich wurde Büttner ein jährliches Gehalt von 100 Reichstalern gewährt, wofür er versprach, mit seinem Naturalienkabinett in Göttingen zu bleiben. An der Universität Göttingen wurde sich aufgrund der gegebenen Umstände bewusst gegen die Anschaffung einer eigenen Sammlung entschieden, obwohl die Möglichkeit dazu bestanden hätte. II. Ökonomisches Genie oder zügellose Sammelwut? Die Anschaffung und dauerhafte Handhabung einer umfangreichen Sammlung bedeutete für die Professoren finanziell und organisatorisch einigen Aufwand, zumal das ständige Erweitern der Sammlungsbestände keine unübliche Praxis war. Auch Büttner und Beireis hatten ihre Sammlungen im Laufe ihres Lebens stetig vergrößert: Während ersterer mehrfach innerhalb Göttingens in größere Wohnungen umziehen musste, um Platz für seine naturhistorischen Objekte und Bücher zu schaffen,35 füllte letzterer sein Haus in Helmstedt mit seinen Sammlungen, bis er Teile davon in sein Gartenhaus auslagern musste.36 Die finanziellen Risiken, die mit so umfangreichem Sammlungsbesitz einhergingen, trugen die Professoren allein, doch wirtschafteten sie damit nicht im leeren Raum. Wie das Beispiel von Büttners Gehaltserhöhung im Jahr 1759 gezeigt hat, konnte sich das Ansehen eines Gelehrten – in diesem Fall seine Beziehungen zum französischen Adel – auf seine finanzielle Situation auswirken. Doch funktionierte dieses Prinzip auch umgekehrt, wenn der Umgang eines Gelehrten mit seinem Vermögen und seiner Sammlung Folgen für seine soziale Position hatte. Auf welche Art und Weise ein Gelehrter seine Sammlung handhabte, wurde von seinen Mitmenschen beobachtet und beurteilt. Sie war ein sichtbarer Bestandteil des Professorendaseins und beeinflusste das Bild, das andere vom Sammler gewannen. Ein hervorstechendes Kriterium für die Beurteilung einer Sammlung beziehungsweise eines Sammlers durch andere Gelehrte scheint das Maß an Kontrolle gewesen zu sein, dass dieser im Umgang mit den Objekten an den Tag legte. Wenn ein Gelehrter sichtbar die Herrschaft über sich selbst und seinen Besitz verlor, wurde sein Verhalten als unanständig oder lächerlich kritisiert

35 »Seine jedesmalige, an sich sehr geräumige Wohnstube ward aber nach und nach durch die Last der sich darinn ansammelnden Bücher und Curiositäten, und selbst zum Theil durch die natürlichen Folgen der Unsauberkeit seiner thierischen Stubengenossen, so beengt, daß er sie von Zeit zu Zeit mit einer andern vertauschen mußte.« (Schlichtegroll (Hg.), Nekrolog (wie Anm. 25), S. 228 f.). 36 Es ist hier von Sammlungen in der Mehrzahl die Rede, da Beireis selbst mehrere Teilsammlungen unterschied und auch seine Besucher stets von »den Sammlungen« schrieben. Zum Beispiel berichtet ein Nekrologschreiber von acht verschiedenen Teilsammlungen, vgl. Anonymus, Nekrolog. Gottfried Christoph Beireis, in: Christoph Martin Wieland (Hg.), Der Neue Teutsche Merkur 3, Nov. 1809, S. 173.

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und er mitunter als Sonderling ausgegrenzt, was Selbstkontrolle als eine ungeschriebene gelehrte Verhaltensregel fassbar macht.37 Je mehr ein gelehrter Sammler gegen diese Normen verstieß, desto weniger wurde er als legitimes Mitglied seines Standes wahrgenommen und erfuhr mitunter dementsprechend weniger Unterstützung von anderen Gelehrten – auch bei seiner Sammeltätigkeit, die neben Geld vor allem auf sozialen Kontakten beruhte.38 Es galt also als erstrebenswert, die Herrschaft über die eigene Sammlung zu bewahren, und diese konnte sich unter anderem in einer ordentlichen Aufstellung der Objekte und einem ausgeprägten Wissen über diese äußern. Ein bedeutender Aspekt von Sammlungskontrolle war auch die Fähigkeit des Gelehrten, seine Besitztümer finanziell im Griff behalten zu können. Die Kosten der Erweiterung, Lagerung und Pflege seiner Sammlung trug ein Professor in der Regel allein, sodass in einer finanziellen Notlage die Objekte seiner Herrschaft zu 37 Zu Praktiken sozialer Distinktion unter frühneuzeitlichen Gelehrten vgl. Marian ­Füssel, Die symbolischen Grenzen der Gelehrtenrepublik. Gelehrter Habitus und moralische Ökonomie des Wissens im 18.  Jahrhundert, in: Martin Mulsow/Frank Rexroth (Hg.), Was als wissenschaftlich gelten darf. Praktiken der Grenzziehung in Gelehrtenmilieus der Vormoderne. (Campus Historische Studien, 70) Frankfurt am Main 2014, S. 413–437. Speziell zur Ausgrenzung durch Verlachen vgl. Daniel Fulda, Die Gefahr des Verlachtwerdens und die Fähigkeit, über sich selbst zu lachen. Wissenschaft, Gesellschaft und Lächerlichkeit in der frühen und mittleren Aufklärung, in: Ders./Antje Roeben/ Norbert Wichard (Hg.), »Kann man denn auch nicht lachend sehr ernsthaft sein?« Sprachen und Spiele des Lachens in der Literatur. Berlin 2010, S. 175–202. In früheren Jahrhunderten wurde die Zerstreutheit eines Gelehrten und die damit einhergehende Vernachlässigung seiner weltlichen Besitztümer noch als natürliche Folge seiner intensiven geistigen Beschäftigung entschuldigt, doch nun galt eine solche Weltabgewandtheit den meisten Zeitgenossen als altmodische Pedanterie, vgl. Gadi Algazi, Gelehrte Zerstreutheit und gelernte Vergesslichkeit. Bemerkungen zu ihrer Rolle, in: Peter von Moos (Hg.), Der Fehltritt. Vergehen und Versehen in der Vormoderne. Köln 2001, S. 235–250;­ Manfred Beetz, Der anständige Gelehrte, in: Sebastian Neumeister/Conrad Wiedemann (Hg.), Res publica litteraria. Die Institution der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit, Bd. 1. Wiesbaden 1987, S. 153–173. Es galt als unstandesgemäß für einen Gelehrten, die Souveränität über den eigenen Besitz zu verlieren, als wäre er selbst nicht mehr das autonome Subjekt, sondern nur ein Sklave seiner Eigentümer, die ihm sein Handeln diktierten, vgl. Konstanze Baron, Der Morgenrock des Philosophen, oder: Was Dinge mit dem Denken zu tun haben, in: Frauke Berndt/Daniel Fulda (Hg.), Die Sachen der Aufklärung. Beiträge zur DGEJ-Jahrestagung 2010 in Halle a. d. Saale. (Studien zum 18. Jahrhundert, 34) Hamburg 2012, S. 592­– 605. 38 Es war üblich unter Gelehrten, sich gegenseitig bei der Beschaffung von Sammlungs­ objek­ten zu helfen oder diese zu tauschen, was gerade in Disziplinen wie der Botanik überhaupt erst das Anlegen umfangreicher und vielseitiger Sammlungen ermöglichte, vgl. Emma Spary, Utopia’s Garden. French Natural History from Old Regime to Revolution. Chicago 2000; Regina Dauser u. a. (Hg.), Wissen im Netz. Botanik und Pflanzentransfer in europäischen Korrespondenznetzen des 18.  Jahrhunderts. (Colloquia Augustana, 24) Berlin 2008. Zur gegenseitigen Hilfestellung unter Gelehrten allgemein vgl. Anne Goldgar, Impolite Learning. Conduct and Community in the Republic of Letters 1680–1750. New Haven 1995.

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entgleiten drohten. Besaß er keine Mittel für die Pflege, zum Beispiel um Weingeist für Feuchtpräparate zu kaufen, konnten die Stücke mit der Zeit zerfallen und unbrauchbar werden. Ebenso wurde bei einer umfangreichen Sammlung viel Stauraum gebraucht, der entsprechende Mietkosten verursachte, und unter Umständen zur Einschränkung der Sammeltätigkeit zwingen konnte. Eine der letzten Maßnahmen, die in einer finanziellen Notlage ergriffen werden konnte, war der Verkauf. Je umfangreicher und damit meist auch berühmter eine Sammlung und ihr Eigentümer waren, umso folgenreicher konnte ihr durch Geldnot bedingter Verlust werden. Der Betroffene offenbarte schließlich hiermit öffentlich, dass er nicht mehr in der Lage war, seinen bisherigen Lebensstandard und damit die Kontrolle über seine Besitztümer aufrechterhalten zu können. Deshalb nahmen gelehrte Sammler mitunter Einschränkungen in anderen Lebensbereichen oder Verschuldung in Kauf, um ihre Sammlung behalten zu können. Trotz all dieser Risiken investierten viele Gelehrte weiterhin in Sammlungen, in der Hoffnung, dadurch berufliche und soziale Vorteile zu gewinnen.39 Besaß ein Professor eine umfangreiche Sammlung, wurde die Wahrung der Kontrolle über diese also zum Indikator für einen standesgemäßen Lebensstil, der finanziell sehr anspruchsvoll werden konnte und damit ein gewisses Risiko in sich barg. Auch Beireis und Büttner wurden von ihren Mitmenschen skeptisch beobachtet, da ihre Sammlungen ständig anwuchsen und ihr exzentrischer Umgang damit den Verdacht des Kontrollverlusts aufkommen ließ. Denn was die ›Ordentlichkeit‹ ihrer Sammlungen betraf, entsprachen Büttner und Beireis beide nicht dem Ideal. Ihre Besucher bezeugen vielmehr die große Unordnung in der Wohnung der Professoren. Über Beireis’ Haus in Helmstedt berichtet ein Besucher um 1800: »In allen Zimmern seines Hauses, welches er allein bewohnt, und das ganz mit Sachen angefüllt ist, herrscht die scheinbarste größte Unordnung […]. Man kann in den Stuben nicht umhergehen, denn der Boden liegt überall voll, man kann sich nicht niedersetzen, denn alle Stühle sind mit Sachen angefüllt.«40

39 Die Risiken, die es mit sich bringen konnte, zu große Hoffnungen in die Vorteile einer Sammlung zu setzen und sich bei den Ausgaben zu verschätzen, benannte auch der Hamburger Wirtschaftswissenschaftler Johann Georg Büsch in einer seiner Abhandlungen: »Manchen nöthigt sein Amt, oder seine Lieblingswissenschaft zu kostbaren Auslagen. Da fangen wir denn an, Bücher zu kaufen, Gemählde, Kupfer, Landkarten, Naturalien, Instrumente und dergleichen zu sammeln. Es entsteht Hoffnung, daß uns das Publicum unterstützen werde. Diese Hoffnung triegt, und die Zinsenfressenden Sammlungen bleiben uns auf dem Halse; die Liebhaberey hat angefangen, zu tiefe Wurzel gefaßt, und kann ohne Beschämung nicht aufgegeben werden.« (Johann Georg Büsch, Abhandlung über die verfallene Haushaltung der meisten Gelehrten unserer Zeit, in: Hannoverisches Magazin 32, 22.4.1774, Sp. 506 f.). 40 Anonymus, Hofrath Beireis in Helmstädt, in: Münchner Mittwochs- und Sonntagsblatt 30, 15.4.1807, S. 475 f.

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Zumindest findet ein Besucher anerkennende Worte für Beireis’ Fähigkeit, aus dem scheinbaren Durcheinander genau die Objekte hervorzuholen, die er vorzeigen wollte, wodurch seinen Sammlungen wenigstens der Status eines »kontrollierten Chaos« zugeschrieben wurde.41 Zu Büttners Wohnungen in Göttingen und später in Jena finden sich ähnliche Bemerkungen zu Unordnung und Unsauberkeit. So wurde seine Jenaer Wohnung kurz nach seinem Tod, als sie nur noch seine Bibliothek beinhaltete, auf ähnliche Weise beschrieben: »Die Wandschränke standen gefüllt, in dem Zimmer selbst konnte man keinen Fuß vor den andern setzen. Auf alte gebrechliche Stühle waren Stoße roher Bücher, wie sie von der Messe kamen, gehäuft; die gebrechlichen Füße knickten zusammen, und das Neue schob sich flößweise über das Alte hin.«42

Auch der Zustand der Sammlungen ließ kritische Stimmen laut werden. Vor allem wurde der Zerfall von Beireis’ Sammlungen bedauert, so beeindruckend sie auf Besucher auch wirken mochten. Die Feuchtpräparate seien ausgetrocknet, die ausgestopften Tiere von Insekten zerfressen, die Gemälde durch Übereinanderstellen beschädigt und selbst die wertvollen Automaten funktionsunfähig.43 Beiden Sammlern wurde darüber hinaus unterstellt, viel – womöglich zu viel – Geld in Neuanschaffungen für ihre Sammlungen zu investieren. Büttner wurde eine »unbegränzte Neigung zum wissenschaftlichen Besitz«44 nachgesagt, und in Bezug auf Beireis hieß es, »whenever he heard of any objects that were not already in his possession, he spared no price to obtain them.«45 Zusammen mit ihrem Ruf als gesellschaftsscheue, unverheiratete und altmodisch gekleidete Sonderlinge musste all dies das Misstrauen ihrer Zeitgenossen wecken.46 Büttner und Beireis erweckten den Eindruck, als lebten sie ständig an der Grenze zum Unstandesgemäßen oder Unanständigen. Dabei stellte sich für ihre Mitmenschen die Frage, ob sie Regeln der Ordnung und des maßvollen Haushaltens absichtlich, also kontrolliert oder aus Mangel an Selbstbeherrschung verletzten. Ersteres war zwar auch kontrovers, da ein solches Verhalten die bestehenden sozialen Normen in Frage stellte, war aber immer noch vereinbar mit dem Ideal der Selbstkontrolle. Inwiefern ihre Mitmenschen Büttner und Beireis trotz dieser Verfehlungen noch als legitime Mitglieder des Gelehr41 »Aus diesem Chaos holte er bald hier, bald da mit sicherer Hand hervor, was er gerade zu haben wünschte, ein Beweis, daß doch eine gewisse Ordnung darin herrschte.« (Fr. G. Nagel, Gottfried Christoph Beireis, in: Carl Nicolai (Hg.), Magazin der Biographien denkwürdiger Personen der neuern und neuesten Zeit, Bd. 3. Quedlinburg 1817, S. 230). 42 Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, hrsg. v. Irmtraut Schmid, Bd. 17. Frankfurt am Main 1994, S. 100. 43 Vgl. Heister, Nachrichten (wie Anm. 17), S. 197 f. 44 Goethe, Sämtliche Werke, Bd. 17 (wie Anm. 42), S. 100. 45 Jean-André de Luc, Geological Travels in Some Parts of France, Switzerland, and Germany. Translated from the French Manuscript, Bd. 1. London 1818, S. 380. 46 Vgl. Schlichtegroll (Hg.), Nekrolog (wie Anm. 25), S. 226–229; Heister, Nachrichten (wie Anm. 17), S. 133–145.

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tenstandes wahrnahmen, hatte schließlich Auswirkungen darauf, ob sie ihre Sammlungen effektiv erweitern und dauerhaft behalten konnten. Zwischen den beiden Professoren gab es deutliche Unterschiede in Bezug auf ihr Einkommen, was auch das Bild ihrer Mitmenschen von ihnen beeinflusst haben mag. Ihr jährliches Professorengehalt stieg im Laufe ihrer Karriere an, wobei Beireis stets einige hundert Reichstaler mehr erhielt als Büttner.47 Gegenüber ihren anderen Einnahmen spielte die jährliche Besoldung allerdings eine untergeordnete Rolle. Es kann davon ausgegangen werden, dass Beireis deutlich mehr an seinen Vorlesungen verdiente als Büttner.48 Außerdem hatte ersterer mit seiner Tätigkeit als Arzt und dem Verkauf chemisch hergestellter Farbstoffe zwei bedeutende Einnahmequellen unabhängig von seiner universitären Tätigkeit.49 Insgesamt waren Beireis’ Einnahmen also höher als Büttners, womit eine mögliche Erklärung für die unterschiedliche finanzielle Lage der beiden Pro47 Beireis erhielt bei seiner Berufung 300 Reichstaler, die 1762 auf 400 Reichstaler erhöht wurden. Um 1793 habe sein festes Professorengehalt schließlich 1000 Reichstaler betragen, vgl. Heister, Nachrichten (wie Anm. 17), S. 252. Büttner erhielt als Magister zunächst gar kein Gehalt, ab 1758 als außerordentlicher Professor 140 Reichstaler und ab 1763 als ordentlicher Professor 200 Reichstaler, vgl. Personalakte Christian Wilhelm Büttner, in: UAG , Kur. 5754. Gegen Ende seines Lebens soll Büttner etwa 600 Reichstaler jährlich erhalten haben. Das umfasste die beiden Leibrenten für Sammlung und Bibliothek, vgl. Schlichtegroll (Hg.), Nekrolog (wie Anm. 25), S. 228. 48 Im Gegensatz zu Büttner, der nur über Naturgeschichte und gelegentlich über Numismatik und Chemie las, bearbeitete Beireis einen außergewöhnlich breiten Fächerkanon an der Philosophischen und Medizinischen Fakultät und bezog damit Geld aus vielen verschiedenen Veranstaltungen. Heister identifiziert anhand der Helmstedter Lektionskataloge 50 verschiedene Themen, über die Beireis gelesen habe. Diese übertrieben große Zahl ergibt sich womöglich daraus, dass er getrennt voneinander behandelte Bereiche bestimmter Disziplinen, zum Beispiel die Lehre von den Fischen, Vögeln, vierbeinigen­ Säugetieren usw. als Bestandteile der Zoologie, einzeln gezählt hat, vgl. Heister, Nachrichten (wie Anm. 17), S. 77 f. Darüber hinaus hatte Beireis in Helmstedt mit viel weniger Konkurrenz zu kämpfen als Büttner in Göttingen. So war den Lektionskatalogen zufolge Beireis meist der Einzige, der Vorlesungen zur Naturgeschichte hielt, während Büttner in manchen Semestern nur einer von mehreren Dozenten war, die dieses Thema anboten. Erst ab 1807 hielt Johann Friedrich Ernst Sievers eine Vorlesung zur Naturgeschichte parallel zu der von Beireis, vgl. Helmstedter Lektionskataloge auf der Homepage des Projekts »Wissensproduktion an der Universität Helmstedt« an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, URL: http://uni-helmstedt.hab.de/ (letzter Zugriff am 14.09.2016). Büttner dagegen lehrte bereits 1768 die Naturgeschichte parallel zu den naturhistorischen Vorlesungen von Johann Beckmann und Johann Christian Polycarp Erxleben, vgl. Göttingische Anzeigen von Gelehrten Sachen, 1768, Bd. 1, S. 310. 49 So praktizierte Beireis als Arzt, womit er zeitweise 1000 Reichstaler jährlich verdient haben soll. Aber der größte Anteil an seinem Vermögen wurde seiner Tätigkeit als Chemiker nachgesagt. Beireis soll bereits in jungen Jahren eine Methode zur chemischen Herstellung eines kostbaren Farbstoffs entdeckt und das aus dem Verkauf erhaltene Geld gewinnbringend bei Bankiers angelegt haben, vgl. Heister, Nachrichten (wie Anm. 17), S. 183 f. und 186 f.

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fessoren gegeben ist. Doch unterschieden sich die beiden auch darin, ihr Einkommen zu verwalten und ihren Mitmenschen den Eindruck zu vermitteln, ihr Vermögen unter Kontrolle zu haben. Büttner scheint auch diesbezüglich deutlich schlechter abzuschneiden als Beireis. Offenbar konnte er seine Einnahmen und Ausgaben nicht aufeinander abstimmen, sodass er sich in Göttingen zunehmend verschuldete, erst seine naturhistorische Sammlung und schließlich seine Bibliothek verkaufte. Im Jahr 1773 überließ er sein Naturalienkabinett der Universität Göttingen gegen eine jährliche Rente von 300 Talern.50 Obwohl sie in den Göttinger Gelehrten Anzeigen als großzügige Geste gegenüber der Universität angepriesen wurde,51 musste er diese Entscheidung aus einer finanziellen Notlage heraus getroffen haben, denn die Sammlung muss ihm als Anschauungsmaterial in naturhistorischen Vorlesungen einen Vorteil gegenüber anderen Dozenten verschafft haben. Das Fatale an dem Sammlungsverkauf war aber, dass Büttner der Einfluss fehlte, das Monopol über seine Sammlung zu wahren, und offensichtlich wurde er hierbei auch nicht von seinen Göttinger Kollegen unterstützt. Während an anderen Universitäten einem Lehrstuhlinhaber durchaus zugestanden wurde, trotz des Verkaufs seiner Sammlung an den Landesherrn deren Verwalter und mitunter einziger Nutzer bleiben zu dürfen,52 wurde Büttners Naturalienkabinett dem Professor und Bibliotheksdirektor Gottlob Christian Heyne unterstellt. Von nun an durften auch andere Universitätsmitglieder die naturhistorischen Objekte in ihren Lehrveranstaltungen nutzen, worin eine Ursache für die Verdrängung Büttners durch seine jüngeren Kollegen gelegen haben mag. Die Aussage eines Göttinger Magisters, der 1781 bei der Katalogisierung von Büttners Bibliothek half, lässt vermuten, dass Büttner sich nach dem Verkauf der Sammlung weitestgehend aus dem Vorlesungsbetrieb zurückgezogen hatte: »Er ließt nicht mehr Naturgeschichte, weil man ihm die Natur entrissen hat; und ließt gar nicht, weil er sich nicht überwinden kann, da länger zu nützen, wo man mit Undank lohnt.«53 Heyne nennt dage-

50 Büttners Sammlung bildete damit den Grundstock für das spätere »Academische Museum« der Universität Göttingen, vgl. Nawa, Zum »öffentlichen Gebrauche« (wie Anm. 3). Zur Höhe der Leibrente vgl. Brief von Justus Christian Loder an Jakob Friedrich von Fritsch vom 6.12.1778, in: Goethe-Schiller-Archiv Weimar (GSA), 20/37 1, fol. 2v–3v. 51 Vgl. Göttingische Anzeigen von Gelehrten Sachen, 1773, Bd. 2, S. 1113 f. 52 Beispielsweise verkaufte Johann Friedrich Gottlieb Goldhagen der Universität in Halle (Saale)  sein Naturalienkabinett und wurde zugleich zu dessen Direktor ernannt, vgl. »Instruction zur Aufsicht des Naturalien-Cabinets bey der Universität zu Halle« vom 25.10.1787, in: Universitätsarchiv Halle (UAH), Rep. 3 Nr. 211, fol. 11r–11v. 53 Die komplette Passage im Brief lautet: »Das er hier nicht mehr ließt ist Göttingens Schuld. Hier ist er ein Gewehr, das verrostet, weil es nicht gebraucht wird, und ein Schlüßel, den man verlegt hat. Seit Blumenbach Professor heißt, und einem Hannöverischen Hofrath seine verlegene Tochter abgenommen hat, gieng Büttners Verbindung mit seinem eigenen Cabinet, und damit seine halbe Sele verloren. Er ließt nicht mehr­ Naturgeschichte, weil man ihm die Natur entrissen hat; und ließt gar nicht, weil er sich nicht überwinden kann, da länger zu nützen, wo man mit Undank lohnt.« (Brief von

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gen Büttners mangelndes ökonomisches und soziales Geschick als Ursache für dessen ausbleibenden Erfolg als Dozent und Gelehrter. Er schreibt, Büttner sei »ein Gelehrter von überaus ausgebreiteten Kenntnissen […], dem nichts fehlt, als die Gabe, wodurch mit dem zwanzigsten Theile seiner Kenntnisse andere einen gelehrten Ruhm sich erwerben, die Gabe, mit seinem Pfunde zu wuchern, gelehrten Lärmen zu machen und dem Publiko zu versichern, daß man ein sehr gelehrter Mann sey […].«54

Trotz oder gerade wegen des Sammlungsverkaufs verbesserte sich Büttners finanzielle Situation kaum und so nahm er zehn Jahre später das Angebot des Herzogs von Weimar an, auch seine Bibliothek zu verkaufen und nach Jena zu ziehen. Seine Schulden mussten immer noch drückend gewesen sein, da beim Abtransport der Bibliothek darauf geachtet werden musste, dass Büttners Gläubiger auf einen »Arrest-Beschlag«55 der Bücher verzichteten. Zeitgenossen, die sich zu Büttners finanziellen Schwierigkeiten äußerten, vermuteten als deren Ursache keine unglücklichen Zufälle, sondern trauten ihm zu, durch unverhältnismäßige Ausgaben sich selbst in diese Situation gebracht zu haben. Trotz seiner noch immer vorhandenen Schulden, habe Büttner in Jena weiterhin zwei Drittel seiner nun 600 Taler betragenden Rente für Bücheranschaffungen ausgegeben, obwohl die Bibliothek zu diesem Zeitpunkt bereits dem Herzog von Weimar gehörte und er sie nur noch verwaltete.56 Johann Wolfgang Goethe, der sich nach Büttners Tod um dessen Wohnung und Bücher kümmerte, beschreibt ihn als einen Gelehrten, der ständig neue Objekte, vor allem Bücher für seine Bibliothek anschaffte, ohne diese tatsächlich zu gebrauchen oder auch nur einen Überblick über seine Besitztümer zu behalten.57 Nach einer Anekdote, die Goethe wiedergibt, habe Büttner einmal den Hinweis erhalten, dass sich ein Buch doppelt in seiner Bibliothek befinde, woraufhin er nur geantwortet habe, »ein gutes Buch könne man nicht oft genug haben.«58 Das

Heinrich Moritz G ­ ottlieb Grellmann vom 22.8.1781, in: Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar (ThHStA), Bestand Kunst und Wissenschaft – Hofwesen, A 7026, fol. 16r–17v). 54 Gottlob Christian Heyne, Figurae variaeque formae litterarum. Obtulit societati Regiae scientiarum. Götting. C. G. Büttner, in: Friedrich Nicolai (Hg.), Allgemeine Deutsche Bibliothek 19,1, Berlin 1773, S. 281 f. Heyne kann hiermit auch darauf angespielt haben, dass Büttner wegen seiner mangelhaften Lateinkenntnisse kaum publizierte, vgl. Schlichtegroll (Hg.), Nekrolog (wie Anm. 25), S. 217. 55 Vgl. Brief an Johann Gottfried Eichhorn vom 9.1.1781, in: ThHStA, Bestand Kunst und Wissenschaft – Hofwesen, A 7026, fol. 3r–4r. 56 Vgl. Schlichtegroll (Hg.), Nekrolog (wie Anm. 25), S. 228; Goethe, Sämtliche Werke, Bd. 17 (wie Anm. 42), S. 100. 57 Viele der Bücher hätten noch so unsortiert und ungebunden in Büttners Wohnung gelegen, wie er sie auf Auktionen oder Messen gekauft habe, vgl. Goethe, Sämtliche Werke, Bd. 17 (wie Anm. 42), S. 100. 58 Ebd.

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musste auf Büttners Mitmenschen den Eindruck machen, als wäre seine Sammeltätigkeit ein jenseits der Vernunft liegender Zwang, dem er sich nicht widersetzen konnte oder wollte, was sein Ansehen unter Gelehrten herabsetzte und diese womöglich zögern ließ, ihn zu unterstützen. Was aber seine Zeitgenossen als irrationale Sammelwut misstrauisch beobachteten, konnte auch ein Festhalten an einem sozialen Status bedeuten, den Büttner durch finanzielle Zurückhaltung verloren hätte. Eine Einschränkung seiner Sammeltätigkeit hätte womöglich das Eingeständnis bedeutet, dass er den Lebensstandard, den er als wohlhabender Apothekersohn geerbt hatte, nicht aufrechterhalten konnte. In diesem Sinne interpretiert auch Goethe Büttners Verhalten als fruchtloses Festhalten an alten Handlungsmustern: »Und so schien dieser wackre Mann, im höchsten Alter die Thätigkeit seiner Jugend fortzusetzen begierig, endlich nur in Velleitäten [Absichten, M. M.] verloren.«59 Anders als Büttner wurde Beireis oft wie ein geheimnisvoller, aber erfolgreicher Unternehmer beschrieben, und diesen Ruf soll er mit einer bewussten, wenn auch ungewöhnlichen Selbstvermarktung gefördert haben. Es kursierten verschiedene Gerüchte und Anekdoten, die ihn für einen Professor ohne geerbtes Vermögen überdurchschnittlich wohlhabend erscheinen ließen. Angeblich habe er stets etwa 10.000 Reichstaler in seinem Haus gehabt, um spontan Anschaffungen, die sich nicht einmal die meisten Fürsten hätten leisten können, für seine Sammlungen tätigen zu können.60 Zu einigen Objekten in seinem Besitz erzählte er Besuchern unglaubliche Geschichten über deren sagenhaften Kaufpreis oder Wert, wie zu einem Kristall, bei dem es sich angeblich um einen indischen Diamanten von über 1.000 Karat handelte.61 Auch hielt sich hartnäckig das Gerücht, Beireis forsche in seinen chemischen Experimenten zur »Gold­macherei«, obwohl bekannt war, dass er sich vielmehr mit der chemischen Herstellung kostbarer Farbstoffe beschäftigte.62 Dass solche Behauptungen stark übertrieben oder schlicht unwahr waren, war auch den meisten Autoren bewusst, die über Beireis schrieben, aber das ließ kaum Zweifel daran aufkommen, dass er sich tatsächlich einen ansehnlichen Wohlstand erarbeitet hatte. Er galt zwar wie Büttner als eigenbrötlerischer »Sonderling«63, doch anders als diesem unterstellten ihm seine Mitmenschen, dieses Vorurteil besonders im Hinblick auf seine Sammeltätigkeit absichtlich zu fördern, ohne tatsächlich unangemessene Summen in Neuanschaffungen für seine Sammlungen

59 Ebd. 60 Vgl. Anonymus, Nekrolog (wie Anm. 36), S. 172 f. 61 Vgl. ebd., S. 179 f; Heister, Nachrichten (wie Anm. 17), S. 224–232; Dieter Matthes, Goethes Reise nach Helmstedt und seine Begegnung mit Gottfried Christoph Beireis. Eine Untersuchung zum Bildstil der »Tag- und Jahreshefte«, in: Braunschweigisches Jahrbuch 49, 1968, S. 173–181. 62 Für eine Sammlung verschiedener Aussagen und Anekdoten zu Beireis’ angeblicher Goldmacherei vgl Nagel, Gottfried Christoph Beireis (wie Anm. 41), S. 194–205. 63 Vgl. ebd., S. 230 f. und 208–210.

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zu investieren und die Kontrolle über seine Ausgaben zu verlieren.64 Zwar seien seine Besitztümer nicht solche übertriebenen Summen wert gewesen, wie er gelegentlich vorgab, hätten aber immer noch von einem ansehnlichen Vermögen gezeugt und bestätigt, »daß Beireis Gold zu machen verstand, ohne Alchemist zu sein.«65 Gerade die Tatsache, dass die Herkunft seines Vermögens und vieler seiner Sammlungsstücke nicht genau bekannt war und er selbst Gerüchte darüber streute, regte zu Spekulationen an.66 Während manche Schreiber sich völlig ratlos zur möglichen Herkunft seiner Besitztümer gaben,67 sahen andere in dem geschickten Einsatz seiner vorhandenen finanziellen und sozialen Ressourcen den Ursprung seiner reichen Sammlungen. Ihm wurde nicht nur nachgesagt, seinen Ruf als Gelehrter und Sammler absichtlich zu manipulieren, sondern auch für die Erweiterung seiner Sammlungen geschickt seine Möglichkeiten auszunutzen. Vor allem habe er seine weltweiten Kontakte genutzt, die ihm bereitwillig halfen, von begehrten Objekten zu erfahren und diese zu günstigeren Preisen zu erhalten.68 Einer seiner Helmstedter Kollegen verteidigte sogar die hohen Ausgaben für seine umfangreichen Sammlungen als kluge Investition: »Es war aber auch in ökonomischer Hinsicht gar nicht unverständig von ihm gehandelt, daß er große Kosten auf Sammlungen wandte, die sich gerade bei ihm, nach seiner persönlichen Lage, durch Vermehrung seines Ruhms und Beifalls überaus gut verzinseten. Da dieser ökonomische Nutzen von der Meinung des großen, unverständigen Meinung des [sic!] Haufens abhieng, so ließ er es geschehen, daß man ihn für einen Wundermann und Halbgott hielt.«69 64 »Seine Sammlungen können ihm bei weitem keine so große Summen kosten, als er vorgiebt und viele sich haben überreden lassen.« (Anonymus, Hofrath Beireis (wie Anm. 40), S. 474 f.). Ein Kollege von Beireis bestätigt, dass dieser gegenüber Besuchern bezüglich der Kosten für seine Sammlungen stark übertrieb und das gegenüber Freunden auch zugab, vgl. Anton August Heinrich Lichtenstein, zitiert nach Nagel, Gottfried Christoph Beireis (wie Anm. 41), S. 228 f. Nagel zitiert und übersetzt hier Lichtensteins lateinisches Vorwort im Auktionskatalog zu Beireis’ Bibliothek, vgl. Anton August Heinrich Lichtenstein, Godofr. Christophori Beireis […] Bibliotheca. Helmstadii D. XVI . MAII ET SEQ. ANNI MDCCCXI IN PVBLICA AVCTIONE VENDENDA . Helmstedt 1811. 65 Nagel, Gottfried Christoph Beireis (wie Anm. 41), S. 194. 66 »Ist nun ein solcher Besitz nicht etwa vererbt und offenbaren Herkommens, sondern im Geheimniß selbst erworben, so giebt man im Dunkeln alles übrige Wunderbare zu, man läßt ihn sein märchenhaftes Wesen treiben: denn eine Masse gemünztes Gold und Silber verleiht selbst dem Unwahren Ansehn und Gewicht; man läßt die Lüge gelten, indem man die Baarschaft beneidet.« Johann Wolfgang von Goethe, zitiert nach Heister, Nachrichten (wie Anm. 17), S. 189. 67 Vgl. Anonymus, Nekrolog (wie Anm. 36), S. 172 f. 68 Vgl. Lichtenstein, Godofr. Christophori Beireis […] Bibliotheca (wie Anm. 64), zitiert nach Nagel, Gottfried Christoph Beireis (wie Anm. 41), S. 228 f.; de Luc, Geological Travels (wie Anm. 45), S. 380. 69 Lichtenstein, Godofr. Christophori Beireis […] Bibliotheca (wie Anm.  64), zitiert nach Nagel, Gottfried Christoph Beireis (wie Anm. 41), S. 229.

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Bei dem Gewinn, den er aus seinen Sammlungen zog, kann es sich beispielsweise um Einnahmen aus seinen Vorlesungen gehandelt haben, denn er brachte stets kostbare Objekte als Attraktion mit in den Hörsaal.70 Auch konnte ihm die Bekanntheit seiner Sammlungen bei der Beschaffung weiterer Objekte behilflich sein, da er hierüber Kontakte aufbauen konnte, die ihn mit Informationen und Waren versorgten.71 Insgesamt wurde Beireis also ein deutlich höheres Maß an Selbstkontrolle zugeschrieben als Büttner. Dabei war sein Ruf als geschickter Sammler und Spekulant so stabil, dass er nicht einmal durch abweichende Aussagen über den Zustand seiner Sammlungen relativiert wurde. So hätte der zunehmende Verfall vieler Sammlungsstücke, vor allem der leicht verderblichen zoologischen und anatomischen Objekte, den Verdacht wecken können, dass die Geldmittel zur Pflege derselben ausgegangen sein könnten.72 Trotz alledem hielten sich die Gerüchte über Beireis’ finanzielle Stabilität und noch in seinem Todesjahr schätzte die Hallesche Allgemeine Literatur-Zeitung sein Vermögen mit 150.000 Reichstalern etwa doppelt so hoch ein, wie schließlich anhand seines Nachlasses ermittelt wurde.73 Das Ansehen, dass ein Sammler unter anderen Gelehrten genoss, war also nicht ohne Folgen, und so bedeutsam auch das Vorhandensein entsprechender Geldmittel war, bleibt der Einfluss sozialer Kontakte evident. Dementsprechend verlor Büttner, der als unvernünftiger Sammelsüchtiger galt, zu viel Geld durch seine Sammeltätigkeit. Er erhielt auch nicht den Beistand von anderen Gelehrten, der den völligen Verlust seiner naturhistorischen Sammlung hätte verhindern können, während Beireis beim Einkaufen von Sammlungsstücken durch seine zahlreichen Kontakte Geld sparte und sein Ruf als geschickter Sammler ihm diese Unterstützung dauerhaft sicherte. III . Fazit Die Sammeltätigkeit war für Professoren des 18. Jahrhunderts selten nur eine nebensächliche Freizeitbeschäftigung. Eine Sammlung ermöglichte ihnen die Konversion ihres finanziellen Vermögens in andere Kapitalsorten, die sich wiederum positiv auf ihr Einkommen auswirkten. So konnten sich einem Gelehrten durch das mit einer Sammlung gewonnene Ansehen und sich daraus ergebende soziale Kontakte Karrierechancen eröffnen, die seine Einnahmen 70 Anonymus, Nekrolog (wie Anm. 36), S. 182–184. Auch in den Lektionskatalogen wird oft darauf verwiesen, dass Beireis in seinen Lehrveranstaltungen seine Sammlungen einsetzte, vgl. Homepage des Projekts »Wissensproduktion an der Universität Helmstedt« (wie Anm. 48). 71 Vgl. Anm. 38. 72 Vgl. Heister, Nachrichten (wie Anm. 17), S. 197 f. 73 Vgl. Hallesche Allgemeine Literatur-Zeitung 3, Nr. 337, 1809, Sp. 791 f.

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steigerten und ihm das weitere Sammeln erleichterten. Ein solcher Besitz barg aber auch Risiken in sich, die sowohl den finanziellen als auch den sozialen Status des Sammlers betrafen. Wer sein Vermögen – und damit auch seine Sammlung – nicht unter Kontrolle hatte, erlitt im schlimmsten Fall einen finanziellen und sozialen Abstieg. Mit Gottfried Christoph Beireis und Christian Wilhelm Büttner wurden zwei Beispielsammler in den Blick genommen, die sich mit ihrer Leidenschaft für Wissensdinge schon an der Grenze zum finanziell Tragbaren und sozial Akzeptierten bewegten. Ihr Sammlungsbesitz hatte beiden zu einer Professur und zu einer besseren Besoldung verholfen, doch wie unterschiedlich ihr weiterer Lebensweg verlief, macht deutlich, dass die intensive Erweiterung einer Sammlung zwar Prestige und Gewinn versprach, bei Misserfolg aber auch existenziellen Schaden anrichten konnte. Solange die Universitäten sich auf die Sammlungen ihrer Professoren verließen, wurde ihr Etat in dieser Hinsicht kaum belastet und auch der Prestigeverlust berührte – wie in Büttners Fall – den Ruf der Hochschule nicht zwingend. Zwar musste unter Umständen ein gewisser Betrag in den Sammlungsbesitzer investiert werden, damit er die Universität nicht zusammen mit seiner Sammlung verließ, doch Fälle, in denen absolut nicht auf einen Gelehrten und sein Eigentum verzichtet werden konnte, waren äußerst selten.74 Durch diese Vorgehensweise trugen die Universitäten kaum finanzielle Risiken, konnten sich aber auch nicht darauf verlassen, stets mit sammlungsbasiertem Unterricht werben und gegenüber anderen Lehranstalten bestehen zu können. Der Konkurrenzkampf um Studenten hat so letztlich dazu beigetragen, dass zunehmend doch universitätseigene Sammlungen angelegt wurden, und nicht selten wurde hierbei eine bereits vorhandene Professorensammlung angekauft. Für die Geschichte der Universität als Institution lohnt sich also ein Blick auf die Sammeltätigkeit der Professoren, die nicht nur die Grundlage für die späteren institutionellen Lehr- und Forschungssammlungen lieferte, sondern Teil einer spezifisch akademischen Dingkultur war.

74 Meist wurde höchstens verärgert wahrgenommen, dass der Unterricht unter dem Wegfallen einer Professorensammlung litt, wie beim Weggang des Anatomen Justus Christian Loder aus Jena, vgl. Rosemarie Fröber/Thomas Pester, Die Entstehung der anatomischen Sammlung in Jena, in: Dies. (Hg.), Museum Anatomicum Jenense. Die anatomische Sammlung in Jena und die Rolle Goethes bei ihrer Entstehung. Jena 1996, S. 30–32. Ein seltener Fall, bei dem von einer Abhängigkeit der Universität von einem sammelnden Professor gesprochen werden könnte, ist der des Anatomen Johann Friedrich Meckel d. J. in Halle (Saale), vgl. Sabine Schwarz, Die anatomische Privatsammlung der Anatomen­ familie Meckel unter besonderer Berücksichtigung ihres präparationstechnischen Profils. Diss. med. Halle (Saale) 1999, S. 67–88.

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Quellen und Literatur Quellen

Archivquellen Goethe-Schiller-Archiv Weimar (GSA) Bestand: Fritsch, Jakob Friedrich von. Eingegangene Briefe. Loder, Justus Christian, 20/37 1 Niedersächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel (NLA) 37 Alt 449: Personalakte Gottfried Christoph Beireis Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar (ThHStA) Bestand Kunst und Wissenschaft – Hofwesen, A 7026: »Die von Serenissimo acquirirte Bücher- und Manuscripten Sammlung des Professoris Büttner zu Göttingen und deren Aufbewahr- und Aufstellung zu Jena« Universitätsarchiv Erlangen (UAE) A2/1 Nr. S 25: Personalakte Johann Christian Daniel von Schreber Universitätsarchiv Göttingen (UAG) Kur. 5754: Personalakte Christian Wilhelm Büttner Kur. 7336: Planung des Ankaufs eines Naturalienkabinetts Universitätsarchiv Halle (UAH) Rep. 3 Nr. 211: »Acta über Ankauf und Einrichtung des Naturalien Cabinets« Universitätsarchiv Jena (UAJ) Bestand A, (II 76) 876: »Acta Die Erbauung eines neuen Anatomie Gebäudes betr.« Universitätsarchiv Leipzig (UAL) Rep. II /I C 1: »Johann Christoph Scheiders, Chymiae Prof. Publ. und die von Ihm gesuchte Einrichtung eines Laboratorii betr.« Rep. II /I J 1: »Die Erkaufung eines Apparatus physicalischer Instrumente für die hiesige Universität, auch den Gehülfen des Prof. Physic betr.« Rep. II /X 2: »Die Auction der Calovischen und anderer Bibliothecen betr.« GA II P 14b: »Die Ob- und Resignation auch Inventur Herrn D. Adam Friedrich­ Petzolds, Chymiae Prof. Publ. ord. Verlaßenschafft betr.« Universitätsarchiv Tübingen (UAT) 21/6: »Facultas Philosoph. K. Instrum. ad prof. physicae« 20/7b: »Facultatis Medica II., Laboratorium chymicum«

Sammelnde Professoren

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Gedruckte Quellen

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Miriam Müller

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Sammelnde Professoren

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Miriam Müller

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Autorenverzeichnis Colin Arnaud, M. A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster Prof. Dr. Rainald Becker, Ludwig-Maximilians-Universität/Kommission für bayerische Landesgeschichte an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften München Dr. Eva Brugger, Assistentin am Lehrstuhl für die Geschichte der Renaissance und der Frühen Neuzeit, Universität Basel Prof. Harold J. Cook, John F. Nickoll Professor of History, Brown University Dr. Nina Elsemann, Wissenschaftliche Koordinatorin des DFG Graduiertenkollegs 1507 »Expertenkulturen des 12. bis 18. Jahrhunderts«, Georg-August-Universität Göttingen Prof. Dr. Marian Füssel, Professor für Frühe Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der Wissensgeschichte, Georg-August-Universität Göttingen Prof. Dr. Mark Häberlein, Professor für Neuere Geschichte unter Einbeziehung der Landesgeschichte, Otto-Friedrich-Universität Bamberg Dr. Philip Knäble, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am DFG Graduiertenkolleg 1507 »Expertenkulturen des 12. bis 18. Jahrhunderts«, Georg-August-Universität Göttingen PD Dr. Heinrich Lang, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Rom

Dr. Kolja Lichy, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für die Geschichte Ostmitteleuropas, Justus-Liebig-Universität Gießen Prof. Ian Maclean, Emeritus Fellow, All Souls College, Oxford, und Emeritus Professor of Renaissance Studies, University of Oxford Miriam Müller, M. A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFG Graduiertenkolleg 1507 »Expertenkulturen des 12. bis 18. Jahrhunderts«, Georg-AugustUniversität Göttingen

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Autorenverzeichnis

Dr. Tim Neu, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen Prof. Dr. Benjamin Scheller, Professor für Geschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Universität Duisburg-Essen Dr. Tanja Skambraks, Akademische Rätin am Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte der Universität Mannheim Gion Wallmeyer, M. A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am DFG Graduiertenkol­ leg 1507 »Expertenkulturen des 12. bis 18. Jahrhunderts«, Georg-August-Universität Göttingen