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German Pages 329 [332] Year 2012
Wissen, maßgeschneidert
Historische Zeitschrift // Beihefte (Neue Folge)
beiheft 57 herausgegeben von andreas fahrmeir und lothar gall
oldenbourg DOI 10.1524/9783486717952.fm
Björn Reich, Frank Rexroth, Matthias Roick (Hrsg.)
Wissen, maßgeschneidert Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne
Oldenbourg Verlag München 2012
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Inhalt
Vorwort // Björn Reich, Frank Rexroth und Matthias Roick
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Systemvertrauen und Expertenskepsis. Die Utopie vom maßgeschneiderten Wissen in den Kulturen des 12. bis 16. Jahrhunderts // Frank Rexroth
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Der Fahnenflüchtige lässt sich krönen. Petrarca und die Anfänge der humanistischen Kritik am Experten // Matthias Roick Kyot und Kundrie: Expertenwissen in Wolframs „Parzival“ // Michael Stolz Der Kaiser als Experte? Eine Spurensuche mit Ausblick auf die Wissensinszenierung in Maximilians I. „Weißkunig“ // Björn Reich und Christoph Schanze
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Teuflische Rhetorik vor dem Gericht des Herrn. Verhandlungen zwischen Recht und Literatur am Beispiel von Ulrich Tenglers „Laienspiegel“ // Hartmut Bleumer
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Wissensvermittlung leicht gemacht. Die Vermittlung gelehrten Rechts an ungelehrte Rechtspraktiker am Beispiel der volkssprachigen Teufelsprozesse // Eva Schumann
_____ 182
Johannes Keplers Apologie. Wissensproduktion, Selbstdarstellung und die Geschlechterordnung // Gadi Algazi
_____ 214
Expertenkulturen, Wissenskulturen und die Risiken der Kommunikation // Martin Mulsow
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Die Experten, die Verkehrten? Gelehrtensatire als Expertenkritik in der Frühen Neuzeit // Marian Füssel
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Moderne Eunuchen? Offizielle Experten im 18. und 21. Jahrhundert // Caspar Hirschi
Siglenverzeichnis Die Autorinnen und Autoren
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Vorwort
Auf das Wissen von Experten greift man täglich zurück, ja es kann bedrückend sein sich vorzustellen, in welchem Ausmaß man darauf angewiesen ist. Experten werden daher häufig zugleich als die unverzichtbaren Träger und Makler von Sonderwissen und als Hauptverantwortliche für die Entfremdungsprozesse angesehen, die mit der schwindenden Verfügung des Einzelnen über die wissensmäßigen Grundlagen seiner Existenz einhergehen. Da man erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit, im deutschsprachigen Raum beispielsweise seit ca. 200 Jahren, die Träger spezifischen Verfügungswissens als ‚Experten‘ bezeichnet, hat man den Experten bislang fast ausschließlich als ein Phänomen der Moderne zum Gegenstand kulturwissenschaftlicher Reflexion gemacht. In den folgenden Beiträgen wird dagegen deutlich werden, dass dieser kulturelle Typus – jedenfalls wenn man die Antike außer Acht lässt – ein Produkt soziokultureller Veränderungen des hohen Mittelalters ist. Er ist in den Institutionen der Kirche, der höfischen Gesellschaft, der Städte und der Universitäten herangereift und hat die lateineuropäischen Gesellschaften während der gesamten Vormoderne geprägt. Ein seit 2009 an der Universität Göttingen angesiedeltes und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes interdisziplinäres Graduiertenkolleg zu den „Expertenkulturen des 12. bis 16.Jahrhunderts“ ist dem Ziel verpflichtet, die Kenntnisse von der Institutionalität, den Inszenierungsformen und den Ambivalenzen derartiger Wissensregimes zu bereichern. Eine der ersten Aktivitäten auf diesem Weg war eine Vortragsreihe, die im Wintersemester 2009/10 in Göttingen veranstaltet wurde. Sie gewährte Einblicke in den ‚state of the art‘ der Expertiseforschung in den Literatur- und Geschichtswissenschaften sowie der Rechtshistorie. In seinem einleitenden Beitrag begründet Frank Rexroth das Interesse an spezifischen Ausprägungen von ‚Wissen‘, das die historischen Kulturwissenschaften der letzten Jahre geprägt hat, und skizziert die Spezifik desjenigen Wissens, dessen Handhabung dem Experten als einem besonderen kulturellen Typus überlassen wird. Die wissensmäßige Arbeitsteiligkeit innerhalb von Gesellschaften, für die der
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Experte steht und die in einer Vielzahl sozialer Institutionen festgeschrieben wird, wird von denen, die auf das Expertenwissen zurückgreifen, keineswegs einfach als Bereicherung ihrer lebensweltlichen Handlungsmöglichkeiten empfunden; vielmehr führt es zu Entfremdungs- und Verlusterfahrungen, so dass ein alternativlos erzwungenes Vertrauen in das Funktionieren von Wissenssystemen dialogisch von der Neigung begleitet wird, den Experten als deren Repräsentanten zu misstrauen. Rexroth verortet die Genese dieser sozialen Figuration im hohen Mittelalter, schlägt eine Definition des Experten vor und nimmt zu deren Veranschaulichung zwei wort- bzw. begriffsgeschichtliche Sondierungen vor, die in die mittelalterlichen Perzeptionen vom spezifischen Erfahrungswissen hineinführen: zu „expertus“ und zu
„peritus“. Matthias Roick beschäftigt die Frage, wie sich die humanistische Bewegung zu den im 12.Jahrhundert neu entstehenden Expertenmilieus verhält. Er verfolgt die Anfänge der humanistischen Expertenkritik bei Petrarca, der in der Rekapitulation des eigenen Werdegangs dem Abbruch des Rechtsstudiums die Krönung zum Dichter entgegensetzt. In diese Selbstinszenierung bringt Petrarca topische Elemente der Expertenkritik ein, indem er die Gestalten des Redners und Dichters als Vertreter einer Wissenskultur herausstellt, die gegenüber der des Experten nicht nur umfassender, sondern auch von größerer gesellschaftlicher Relevanz und Dignität ist. Michael Stolz untersucht am Beispiel des „Parzival“ Wolframs von Eschenbach, wie die Verständigung über den Typus des Experten, der erst im Spätmittelalter an Kontur gewinnt, bereits in hochmittelalterlichen Erzähltexten ihren Anfang nimmt. In seiner Analyse verschiedener Figuren des „Parzival“, allen voran der Gralsbotin Kundrie und des Wolfram-Gewährsmanns Kyot, diskutiert Stolz kommunikative Möglichkeiten und Grenzen von Sonderwissen im Spannungsfeld von
‚heidnischer‘ und ‚christlicher‘ Kultur. Diese erörtert er weiterhin anhand der spezifischen Legitimationsbedingungen, die höfische Erzähltexte in der Reflexion ihres eigenen referentiellen Status thematisieren. Das Problem der ‚Übersetzung‘ als Voraussetzung für eine gelingende Tradierung von Sonderwissen erweist sich als zentral für die Ausgestaltung der Handlung, für die Fortschreibung in späteren Texten des arturischen Stoffkreises und für die handschriftliche Überlieferung selbst. Auch Björn Reich und Christoph Schanze machen sich auf die Suche nach literarischen Expertenfiguren, zeigen jedoch, dass das Modell des Experten vorerst nur zögerlich Eingang in die literarischen Texte findet: Hier bleibt zunächst, in der Heldenepik wie in der Artusliteratur, das Modell des allumfassend gebildeten und nicht
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spezialisierten Ratgebers vorherrschend. Weisheit steht als Ideal noch über dem Wissen. Nur in frühen Schwankromanen wie dem „Pfaffen Amîs“ wird der Typus des Experten, freilich in der Kritik, greifbar. Das ändert sich im Laufe der literarischen Entwicklung signifikant und gipfelt, wie Reich und Schanze zeigen, in der Selbststilisierung Maximilians I. In dessen pseudo-autobiographischem „Weißkönig“ setzt sich der Kaiser dezidiert mit spezialisierten Experten seines Hofes auseinander und misst sich an ihnen. Dabei erweist er sich selbst stets als eine Art allumfassender Super-Experte, der den auf einzelne Fachgebiete spezialisierten Hof-Experten stets überlegen bleibt. So zeigen die literarischen Zeugnisse, wie das Ideal des Weisen (noch ungeteilt Wissenden) durch die neuen Expertenfiguren verdrängt und übertroffen wird, während diese ihrerseits dem neuen Ideal des uomo universale geopfert werden. Wenn Hartmut Bleumer den Teufelsprozess in Ulrich Tenglers „Laienspiegel“ genauer in den Blick nimmt, so tut er dies aus zwei Gründen: Erstens, weil die juristische Epistemologie den Expertenbegriff am signifikantesten fasst, und zweitens, weil der juristische Diskurs gerade dort, wo er narrativ wird, Einblicke in seine ‚Autopoiesis‘ gestattet. Im Spannungsfeld von juristischer Rationalität und theologischer Erlösungslehre eröffnet die narrative Form von Tenglers Text einen interpretatorischen Spielraum, in dem das juristische Prinzip der Billigkeit fassbar wird. Der nur auf das Recht konzentrierte „beste Jurist“ (in Tenglers Erzählung die Teufelsanwälte) erweist sich dabei dem Sprichwort gemäß tatsächlich als der „schlimmste Christ“. Freilich ist dies nicht nur simple Kritik am Juristenstand, sondern macht deutlich, dass der Experte mit seinem rationalen Wissen immer nur bedingt Anteil an (irrationalem) Heilswissen hat. Weil er als Heilsbringer daher von vornherein unglaubwürdig ist, steht er auch stets in der Kritik. Eva Schumann befasst sich dagegen aus rechtsgeschichtlicher Perspektive mit den volkssprachigen Teufelsprozessen. Entgegen den abwertenden Urteilen der älteren Forschung betont sie die pädagogische und fachliche Leistung dieser Handbücher. Vor einem heilsgeschichtlichen Hintergrund, dem die Absolutheit göttlichen Rechts zugrunde liegt, wird das menschliche Recht verhandelt, wenn die einzelnen Schritte und Möglichkeiten des neuen römisch-kanonischen Zivilprozesses erläutert werden. Wissen wird hier in einem Transitionsprozess zwischen lateinischer Sprache und Volkssprache, aber auch zwischen verschiedenen Gebrauchsansprüchen und Expertenfiguren ‚maßgeschneidert‘ – der Fokus verschiebt sich von den gelehrten Juristen zu den ungelehrten Rechtspraktikern.
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Die Ehre des mathematicus und Astronomen, so zeigt Gadi Algazi in seinem Beitrag über Johannes Kepler und seine erste Ehefrau Barbara, wird nicht ausschließlich in den geschlossenen männlichen Gelehrtenmilieus verhandelt. Die Außenwahrnehmung des gelehrten Haushalts, seiner täglichen Praktiken und Figurationen, ist ebenso entscheidend für sie. Dabei erweist sich die kategorische Rollentrennung zwischen den Ehepartnern – Wissenschaft und Kontemplation der Mann, Kinder und Haushaltsführung die Frau – als reine Fiktion. Sie muss nach außen bewahrt werden, im Inneren des Hauses allerdings zeichnet Algazi eine Reihe konfliktträchtiger Momente nach. Keplers Expertentum ist dabei in seiner Tätigkeit als kaiserlicher Hofmathematiker zu sehen, doch stehen die damit verbundenen Rollenerwartungen in Spannung zu seiner Identität als Gelehrter und Forscher. Diese Identität muss unter Anstrengungen und gegen das Negativimage vom „Sternengucker“ konstruiert werden. Obgleich Experten und ihr Wissen feste Bestandteile vormoderner Wissenskulturen waren, bedeutete dies nicht, dass diese in sich homogen und stabil gewesen wären. Im Rahmen einer „Kulturgeschichte der Wahrheit“ stellt sich Martin Mulsow die Frage, in welchem Verhältnis das Vertrauen, das den Trägern von Sonderwissen entgegengebracht werden muss, zum Misstrauen steht, das die Kommunikation unter libertinen Philosophen des 17.Jahrhunderts prägte. Anhand der Schüler-LehrerBilder und der Wahrheitsallegorien des Venezianers Pietro della Vecchia (1603– 1678) fragt Mulsow danach, wie in philosophischen Insider-Kulturen Kommunikationsweisen entwickelt werden konnten, die ihren Mitgliedern Botschaften verständlich machten – und diese zugleich vor der Außenwelt verbargen. Ausdrucksweisen der Ambivalenz und der Mehrdeutigkeit erweisen sich dabei als Strategien, das „prekäre Wissen“ der Libertins zu übermitteln, zu verbergen und so zugleich zu schützen. Unter diesem Vorverständnis gelingt es Mulsow, gerade die irritierenden Elemente von della Vecchias Bildern zu deuten: die Erotik des Schüler-Lehrer-Verhältnisses, zweideutige, ja obszöne Gestik und den Verweis auf die heterodoxen Materien der abgebildeten Schriften. Marian Füssel untersucht in seinem Beitrag die Gelehrtensatire als einen Ausdruck von Expertenkritik in der Frühen Neuzeit. Er stellt die Kritik an den universitären Experten in erster Linie als eine Art ‚moralische Ökonomie‘ des Wissenschaftssystems dar, die in einer stark normativen Ausrichtung die Mängel und Auswüchse dieses Systems vor Augen führt. Auch wenn es in Einzelfällen zu einer grundsätzlichen Kritik an der neuen Expertenkultur kommt, zeigt Füssel, dass es sich bei den
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Satiren eher um die Austarierung neuer Autoritätspotentiale handelt, die einen kommunikativen Ausgleich zwischen Gelehrtendasein und Öffentlichkeit anvisiert. Bereits in Richtung Moderne führt die Spur, die Caspar Hirschi verfolgt. Ihm geht es um die Spannung, die zwischen dem ideologischen Anspruch eines ‚unabhängigen‘ Expertentums und dem politischen Anspruch eines ‚abnickenden‘ Expertentums entsteht und sich in aktuellen Fällen wie dem Skandal um den britischen Drogenexperten David Nutt gezeigt hat. Er verfolgt diese Spannung zurück bis zur Einrichtung der ersten festen Expertenämter und der Schaffung einer offiziellen Expertenkultur im Frankreich des ausgehenden 17.Jahrhunderts. Der Dank der Herausgeber für die redaktionelle Unterstützung gebührt Dr. des. Nele Hoffmann und Dr. Urte Stobbe (jetzt Vechta). Weiterhin danken sie Herrn Prof. Dr. Lothar Gall und Herrn Professor Dr. Andreas Fahrmeir, beide Frankfurt am Main, für ihre Bereitschaft zur Annahme des Bandes als Beiheft der Historischen Zeitschrift. Göttingen, Wolfenbüttel und Berlin, im Januar 2012 Björn Reich, Frank Rexroth, Matthias Roick
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Systemvertrauen und Expertenskepsis Die Utopie vom maßgeschneiderten Wissen in den Kulturen des 12. bis 16.Jahrhunderts von Frank Rexroth
I. Die historischen Kulturwissenschaften, die Politik und ihre Wissenskonzepte ‚Wissen‘ ist zu einem der Zentralbegriffe der historischen Kulturwissenschaften geworden. 1 Zum Vergleich: Als man sich während des großen Methodisierungs- und Theoretisierungsschubs in den historischen Wissenschaften der 1960er und 1970er Jahre am Vorbild der systematischen Sozialwissenschaften orientiert hatte, hatte sich das Erkenntnisinteresse vornehmlich auf die Analyse anonymer Entwicklungsprozesse gerichtet, auf „übergreifende gesellschaftliche Entwicklungen [...], die den Handelnden selbst zumeist nicht bewusst sind“. 2 Die Deutungen, mit denen sich die
1 Meinen Beitrag zur Göttinger Ringvorlesung habe ich für die Drucklegung überarbeitet und erweitert. Da er als Einführung in das Thema „Expertenkulturen“ fungieren soll, fußt er auf zahlreichen Gesprächen aus der Phase der Antragstellung und der Arbeit im neu gegründeten Graduiertenkolleg „Expertenkulturen des 12. bis 16.Jahrhunderts“ selbst. Zu erwähnen sind daher zunächst die Kolleginnen und Kollegen, die diese intensive Debatte mitgetragen haben: Hartmut Bleumer und Udo Friedrich, Marian Füssel und Thomas Haye, Thomas Kaufmann und Franziska Meier, Hedwig Röckelein, Eva Schumann und Michael Stolz (Bern). Mein ganz besonderer Dank gilt aber den Stipendiatinnen und Stipendiaten sowie den beiden Postdoktoranden des Kollegs, die das Thema „Expertenkulturen“ seit April 2009 vorrangig vorantreiben. Ihnen wird vielleicht manches von meinen Ausführungen schon jetzt als revisionsbedürftig erscheinen. Doch geht es ja hier – gerade angesichts der Dynamik, die unsere Beschäftigung mit dem Konzept „Experte“ erreicht hat – um die Dokumentation unseres Themas in statu nascendi. Siehe auch die Beschreibung des Forschungsprogramms auf der Website des Kollegs: http://www.uni-goettingen.de/de/100754.html (2011–11–04). Für wertvolle Hinweise danke ich Piotr Wittmann, Göttingen. 2 Wolfgang J. Mommsen, Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus. 2.Aufl. Düsseldorf 1972, 43. Vgl. Christoph Cornelißen, Wolfgang J. Mommsen – der Repräsentant einer Historikergeneration?, in: ders. (Hrsg.), Geschichtswissenschaft im Geist der Demokratie. Wolfgang J. Mommsen und seine Generation. Berlin 2010, 11–41. Siehe auch das Editorial von „Geschichte und Gesellschaft“: Helmut Berding/Klaus von Beyme/Dietrich Geyer, Vorwort der Herausgeber, in: GG 1, 1975, 5–7, hier 5: „Das zentrale Thema ist die Erforschung und Darstellung von Prozessen und Strukturen gesellschaftlichen Wandels. Dabei wird die Analyse sozialer Schichtungen, politischer Herrschaftsformen, ökonomischer Entwicklungen und sozio-
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Zeitgenossen jener anonymen Prozesse ihre Wirklichkeit erschlossen, hatten zurückzutreten gegenüber der Beschäftigung mit der „Ebene grundlegender sozialer Bedingtheit“ (Thomas C. Cochran) 3 und dem Unterfangen einer „histoire structurale“ (Fernand Braudel) 4, die sich zum Ziel setzte, „eine Gesellschaftsstruktur in ihrem Zusammenhang zu analysieren und zu erklären“ 5. Sozialgeschichte zielte damit auf Wirkfaktoren, denen die Akteure derart unmittelbar unterworfen waren, dass sie diese möglicherweise gar nicht wahrzunehmen vermochten. Die Erforschung individueller oder auch kollektiver Deutungsleistungen war vorschnell assoziiert worden mit einem vermeintlich „historistischen“ Geschichtsbild und den Techniken einer klassischen Hermeneutik. Deren Überwindung hatte man sich zum Programm erhoben, und dieses Ziel hatte man mit dem Programm einer theoretischmethodisch erneuerten Wissenschaft in eins gesetzt. 6 Seit ca. 1980 bahnte sich dann die Einsicht Raum, „dass Wahrnehmungsweisen und Sinnstiftungsmuster, Selbstdeutungen und Weltbilder der historischen Subjekte mindestens so wichtige ‚Tatsachen‘ der Geschichte darstellen wie beispielsweise ihre sozioökonomische Lage oder ihre Zugehörigkeit zu ‚objektiv feststellbaren‘ Ständen, Schichten oder Klassen“. 7 Das Missverständnis, dass mit diesem Programm die Rückkehr zu den personenfixierten und naiven Geschichtsbildern der Großväter gekommen sei, konnte allmählich ausgeräumt werden. Immerhin ging es nicht darum, historische Wirklichkeit aus dem Denken Einzelner heraus zu rekonstruieren, sondern im Gegenteil um den Nachweis der soziokulturellen Konditionierung von Wissen, um die Prägekraft kultureller Imaginarien, von Ideologien und Mentalitäten. Nicht die erneute Annahme eines in der Geschichte wirkenden ‚Geistes‘ oder
kultureller Phänomene im Vordergrund stehen; Veränderung und Dauer sollen gleichermaßen im Auge behalten werden.“ 3 Zit. nach der Teilübersetzung bei Fritz Stern, Geschichte und Geschichtsschreibung. Möglichkeiten, Aufgaben, Methoden. München 1966, 363. 4 Annette Riecks, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte. Ein Forschungsbericht. (Münsteraner theologische Abhandlungen, Bd. 2.) Altenberge 1989, 24. 5 Die Formulierung stammt aus der Pionierarbeit von Marc Bloch, Die Feudalgesellschaft (frz. 1939). Stuttgart 1999, 19. 6 Mommsen, Geschichtswissenschaft (wie Anm.2). 7 Ute Daniel, Clio unter Kulturschock. Zu den aktuellen Debatten der Geschichtswissenschaft, in: GWU 48, 1997, 195–219 u. 259–278, hier 200; vgl. Willibald Steinmetz, Von der Geschichte der Gesellschaft zur ‚Neuen Kulturgeschichte‘, in: Oldenbourg Geschichte Lehrbuch. Bd. 4: Neueste Zeit. Hrsg. v. Andreas Wirsching. München 2006, 233–252, hier 243f.
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‚Sinns‘ lag diesem Forschen zugrunde, sondern das Bemühen um die Freilegung zeitgenössischer Sinngebungen, um das Verständnis davon, wie sich dominierende Sinnformationen auswirkten und wie sie transformiert wurden. Nicht die Sicherung historischer Authentizität auf der Basis individueller Erfahrungen war das Ziel, sondern die vertiefte Kenntnis davon, wie kollektive, auf Konvention beruhende Wissensbestände die Erfahrungen der Individuen diskursiv vorstrukturierten. 8 Dieses Interesse am Wissen, seiner gesellschaftlichen Konstruiertheit und damit seiner Kulturspezifik brachte die historischen Kulturwissenschaften zugleich in ein neues, für viele Forscher überraschendes Verhältnis zu den politischen Mainstreams ihrer eigenen Gegenwart. ‚Wissen‘ war nämlich seit den ausgehenden 1990er Jahren zugleich zu einem der zentralen Verständigungsbegriffe des Politischen geworden. Der deutsche Bundespräsident Roman Herzog hatte die Rede vom heilsamen Effekt des Wissens popularisiert, indem er die gegenwärtige deutsche Gesellschaft als „Wissensgesellschaft“ titulierte. 9 Diesem Begriff, den vor allem der Soziologe Nico Stehr gegenüber vergleichbaren Konzepten wie der „postindustriellen Gesellschaft“ (David Bell) oder der „Informationsgesellschaft“ (in der Tradition Marshall McLuhans) stark gemacht hatte, war fortan eine weite öffentliche Resonanz beschieden. 10 Die Rede von der „postindustriellen Gesellschaft“ fiel dagegen ab, denn Signaturen zur Selbstvergewisserung, die auf „post-“ beginnen, tragen stets eher zur Ratlosigkeit als zu Optimismus bei. Auch die Wortprägung „Informationsgesellschaft“ stieß insbesondere in Deutschland auf Skepsis, wohl weil man mit ihr nicht nur willkommene Zugriffsmöglichkeiten auf erwünschtes Wissen, sondern auch das ungeschiedene Nebeneinander von wertvollem Verfügungswissen und Daten-
8 So Ute Daniel zur Position Joan Scotts; Daniel, Clio (wie Anm.7), 260. 9 Abzurufen von der Website des Bundespräsidenten: http://www.bundespraesident.de – Reden und Interviews. Die Rede Roman Herzogs ist die vom 26.April 1997. 10
Gernot Böhme/Nico Stehr (Eds.), The Knowledge Society. The Growing Impact of Scientific Knowledge
on Social Relations. Dordrecht 1986; Nico Stehr, Wissen und Wirtschaften. Die gesellschaftlichen Grundlagen der modernen Ökonomie. Frankfurt am Main 2001; ders., Arbeit, Eigentum und Wissen. Zur Theorie von Wissensgesellschaften. Frankfurt am Main 1994; ders., Wissenspolitik. Die Überwachung des Wissens. Frankfurt am Main 2003; ders., Wissensgesellschaften, in: Friedrich Jaeger/Jörn Rüsen (Hrsg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 3: Themen und Tendenzen. Stuttgart/Weimar 2004, 34–49; Daniel Bell, The Coming of Post-Industrial Society. A Venture in Social Forecasting. New York 1973; Marshall McLuhan, Die Gutenberg-Galaxie. Das Ende des Buchzeitalters (engl. 1962). Düsseldorf/Wien 1968; Helmut F. Spinner, Die Architektur der Informationsgesellschaft. Entwurf eines wissensorientierten Gesamtkonzepts. Bodenheim 1998.
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müll, mithin das beständige Bombardiertwerden mit Überflüssigem assoziierte. 11 Am Tenor der Präsidentenreden seit den ausgehenden 1990er Jahren 12 wird dagegen deutlich, dass die Signatur „Wissensgesellschaft“ Gedanken an die Gestaltbarkeit sozialer Verhältnisse, an die Lösbarkeit von Problemen nahelegte. Der Begriff taugt für einen optimistischen Blick auf die Gegenwart und hat seither als einer von wenigen Konsensbegriffen des Politischen fungiert, als Kernbegriff einer neuen sozialen Utopie. Darauf nahm Roman Herzogs mittelbarer Nachfolger Horst Köhler gleich in der Ansprache nach der Bundespräsidentenwahl von 2004 Bezug, als er bekannte: „Deutschland ist mir zu langsam auf dem Weg in die Wissensgesellschaft“. In Fortführung und indem er einen eigenen Akzent in die Debatte um die Zukunft der deutschen Gesellschaft als Wissensgesellschaft einbringen wollte, fuhr er fort: „Mein Traum geht aber noch weiter. Deutschland soll ein Land der Ideen werden.“ 13 Eine geradlinige Traditionskette hatte Herzogs Aufruf nicht gestiftet: Johannes Rau hatte als Präsident den Glauben antithetisch gegen das Wissen gesetzt, Christian Wulff ließ das Bildungs-Thema nicht unerwähnt, akzentuierte aber stärker die Herausforderungen, die sich aus der ethnisch-religiösen Pluralität der deutschen Bevölkerung ergeben. Der Impuls, der von Herzogs berühmter „Ruck“-Rede von 1997 ausgegangen war, wirkt dennoch gegenwärtig in vielen politischen Kontexten weiter. Ein ganz anderer Wissensbegriff als der der Kulturwissenschaften also – emphatisch, wertbehaftet, ein Ansporn für den Einzelnen, lebenslang zu lernen, wie Roman Herzog dies für das 21.Jahrhundert verkündet hatte. Doch trotz dieser Differenzen bezog das beiderseitige Interesse am ‚Wissen‘ die Kulturwissenschaften und die 11 Das Wortschatz-Portal der Universität Leipzig belegt für „Informationsgesellschaft“ Kookkurrenzen, die unmittelbar in die Brüsseler Europapolitik bzw. in die Weltpolitik führen („Viviane Reding“, „Weltgipfel“, „WSIS“, „EU-Kommissarin“, „Tunis-Agenda“ etc.). Emphatische Begriffe kommen selten vor („zugängliche“ an 32. Stelle). Unter den häufigsten Kookkurrenzen von „Wissensgesellschaft“ finden sich viele, die die Konnotation vereindeutigen; die häufigsten überhaupt sind „modernen“, „Globalisierung“ und „Herausforderungen“; unter anderem folgen „Übergang“, „sozial“, „zukunftsoffene“, „Weiterbildung“, „Hochqualifizierten“ und „Chancen“. http://wortschatz.uni-leipzig.de/ (2011–11–15). 12 S.o. Anm.9. 13 Horst Köhler in seiner Ansprache an die Bundesversammlung nach seiner Wahl am 23.5.2004 (http:/ /www.bundespraesident.de, dort unter „Reden“): „Mit Recht betonen viele in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit, vor allem Bildung und Innovation zu stärken. Deutschland ist mir zu langsam auf seinem Weg in die Wissensgesellschaft. Mein Traum geht aber noch weiter. Deutschland soll ein Land der Ideen werden. Im 21.Jahrhundert bedeutet das mehr als das Land der Dichter und Denker, mehr als Made in Germany, mehr als typisch deutsche Tugenden. Das ist ganz sicher etwas anderes als Großmannssucht und Selbstüberschätzung“ (2012–01–16).
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Politik plötzlich auf neue Weise aufeinander. Das ist nicht weiter erstaunlich, denn Gesellschaftsentwürfe wie der von der Wissensgesellschaft können schwerlich mit dauerhafter Akzeptanz rechnen, wenn sie nicht hinreichend über historischen Tiefgang verfügen. Von Anbeginn war die Rede von der Wissensgesellschaft daher auch eine Rede über die Geschichtlichkeit ihrer selbst.
II. ‚Wissensgesellschaft‘ als Konzept: Historizität und Ausblendungen Dabei hat man im Wesentlichen drei Positionen bezogen. Die Ökonomen und Soziologen (unter anderem auch Stehr selbst) tendierten dazu, diesen Gesellschaftstypus erst für das 20.Jahrhundert zu reklamieren – sei es in den 1920ern oder den 1950ern – und die Zeit davor auszuklammern. 14 Sie begründeten dies damit, dass mit dem quantitativen Aufschwung des „Wissens“-Sektors auf dem Arbeitsmarkt gegenüber dem warenproduzierenden Sektor erst jener neue Zustand erreicht worden sei. In schroffer Antithese dazu haben sich die Angehörigen des Frankfurter Forschungskollegs „Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel“ positioniert: Wissen sei in seiner Bedeutung für menschliche Sozietäten anthropologisch konstant, die „Wissensgesellschaft“, so Johannes Fried und Johannes Süßmann 2001, sei „Millionen Jahre alt“. „Seit es Menschen gibt, leben sie in Wissensgesellschaften.“ 15 Unter diesem Vorverständnis betrieben, dreht sich die Erforschung von „Wissensgesellschaften“ darum, die universalgeschichtlich entscheidenden Schübe in der Schöpfung neuen Wissens samt ihren soziokulturellen Konsequenzen zu studieren. Diejenige Position, die im Gespräch über die Wissensgesellschaft jedoch am häufigsten geäußert wurde, war die von der Geburt der Wissensgesellschaft zu Beginn der Neuzeit. Ihr sind beispielsweise Peter Burkes Buch über die „Social History of Knowledge“ oder ein von Richard van Dülmen und Sina Rauschenbach herausgegebener Band über die „Macht des Wissens“ gewidmet – im Untertitel heißt Letzterer: „Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft“. 16 Van Dülmen, Rauschen-
14
Die Datierungen notiert Stehr, Arbeit (wie Anm.10), 31f.
15
Johannes Fried/Johannes Süßmann, Revolutionen des Wissens – eine Einführung, in: dies. (Hrsg.), Revo-
lutionen des Wissens. Von der Steinzeit bis zur Moderne. München 2001, 7–20, das Zitat auf 13. 16
16
Peter Burke, A Social History of Knowledge: from Gutenberg to Diderot. Cambridge 2000; dt. Übers.:
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bach und ihre Autoren unterstellen dort eine Schwellenzeit in der europäischen Geschichte, während derer die soziale Bedeutung von Wissen – zumal in einer formativen Phase zwischen 1450 und 1580 – einen massiven Aufschwung genommen habe. Wissen habe sich in der frühen Neuzeit „durch einen hohen gestalterischen Anspruch“ ausgezeichnet, „der dem mittelalterlichen Wissen, selbst wenn dieses durchaus weltlich sein konnte, im Großen und Ganzen fremd gewesen war“. 17 Der Co-Autor Hans-Jürgen Goertz hält die Tatsache für „unbestritten“, „dass mit der Reformationszeit ein Säkularisierungsschub ohnegleichen einsetzte und viele Lebensbereiche in einen Modernisierungssog gezogen wurden, in dem sich die Ablösung der Glaubens- durch die Vernunftdominanz anbahnte“. 18 Damals nämlich, so Goertz, habe sich der „Übergang von der spätmittelalterlichen Klerikerkultur zur frühneuzeitlichen Laienkultur“ ereignet. 19 Jenes neue Wissen, das in diesem Prozess entstand, sei für die Ausprägung neuer Mächte und Machtverteilungen verantwortlich gewesen, so abermals die beiden Herausgeber; geprägt sei es durch das zunehmende Vertrauen, das die Gelehrten in ihre Wahrnehmung, ihre Erkenntnisse und ihre Forschung setzten. 20 Ein echter Paradigmenwechsel offenbar, dessen stärkste Signatur ein neues Vertrauen in die durch Wissen geschöpfte Innovation ist, die menschliche Zuversicht, die Welt gestalten zu können! Auch abseits der Geschichtswissenschaft haben viele Interessierte von dieser Lesart der europäischen Geschichte erfahren, insbesondere deshalb, weil der Konstanzer Philosoph Jürgen Mittelstraß ihr eine philosophische Grundlage gegeben hat: Erst in der Welt der Neuzeit (Mittelstraß nennt sie die „Leonardo-Welt“) seien das epistemische und das technische Wesen der Menschen aufeinander bezogen worden, also die besonderen menschlichen Befähigungen, sich einerseits Wissen, andererseits Werkzeuge zu schaffen. 21 Die Grundlagen dieser
ders., Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft. Berlin 2001; Richard van Dülmen/Sina Rauschenbach (Hrsg.), Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Köln/ Weimar/Wien 2004. 17 Dies., Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Macht (wie Anm.16), 1–12, hier 1. 18 Hans-Jürgen Goertz, Von der Kleriker- zur Laienkultur. Glaube und Wissen in der Reformationszeit, in: van Dülmen/Rauschenbach (Hrsg.), Macht (wie Anm.16), 39–64, hier 42. 19 Ebd. 44. Es folgt ein Abschnitt angeschlossen, der überschrieben ist: „Von der Priester- zur Laienkultur“! 20 van Dülmen/Rauschenbach, Einleitung (wie Anm.16), 1. 21 Jürgen Mittelstraß, Leonardo-Welt. Über Wissenschaft, Forschung und Verantwortung. Frankfurt am Main 1992, 14, 105–107.
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Welt, so der Philosoph, seien „in der beginnenden Neuzeit gelegt“ worden, wobei keine bestimmten wissenschaftlichen Innovationen ausschlaggebend waren: das Neue habe vielmehr „in einer fundamentalen methodischen Neuorientierung“ bestanden, die „zwei bisher getrennt verlaufene Traditionen“ zusammengeführt habe: „die (akademische) Welt der Schulen und die Tradition der Werkstätten, die Wissenschaft im klassischen Sinne und die Technik im klassischen Sinne“. 22 Ganz so auch das Bild in der Geschichtswissenschaft: In der Frühen Neuzeit seien die verschiedenen Wissensbereiche, insbesondere das (theoretische) gelehrte Wissen und das Erfahrungswissen, verschmolzen. „Wissenschaftler und Handwerker, Heilkundige und Doktoren der Medizin arbeiteten erstmals zusammen. Alles sollte neu und besser als zuvor begründet, systematisiert und am Ende schriftlich festgehalten werden; die Mathematik sollte als ein Instrument dienen, Natur und Umwelt neu zu interpretieren und darzustellen.“ 23 Es ist evident, dass ältere Epochenimaginationen in dieses Narrativ eingeflossen sind, sei es die Annahme einer frühneuzeitlichen „Scientific Revolution“ 24, seien es technikgeschichtliche Studien, die kulturellen ‚take-off‘ mehr oder weniger monokausal auf bestimmte technologische oder mediale Neuerungen zurückführen wollen. 25 Bemerkenswert an deren Neuformulierung in der Meistererzählung von der frühneuzeitlichen Entstehung der modernen Wissensgesellschaft ist aber insbesondere, wie einsträngig dieser Entwurf auf die soziale Utopie des 21.Jahrhunderts ausgerichtet ist. Widerspruch gegen diese Position sollte also folglich nicht primär damit begründet werden, dass gewisse Phänomene, die die Autoren ansprechen, ‚in Wirklichkeit‘ mittelalterlichen Ursprungs sind. Doch muss man umso nachdrücklicher auf den Umstand hinweisen, dass jene Begeisterung am Neuen und letztlich die Neukonzipierung von Wissenschaft als Forschung während der Neuzeit beständig umstritten und umkämpft war. Auf diesen Umstand wird noch einmal zurück-
22
Ebd. 15 (Hervorhebungen J. M.).
23
van Dülmen/Rauschenbach, Einleitung (wie Anm.16), 4.
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Zuerst bei Alexandre Koyré, Etudes Galiléennes 1: A l’aube de la science classique. Paris 1939, 6: „la ré-
volution scientifique du dix-septième siècle“; vgl. ders., From the Closed World to the Infinite Universe. London 1957, VII. Als Buchtitel bei Alfred R. Hall, The Scientific Revolution 1500–1800. The Formation of the Modern Scientific Attitude. London 1954. Populär wurde das Konzept dank Herbert Butterfield, The Origins of Modern Science [zuerst 1949]. Überarb.Aufl. New York 1957. 25
So etwa Elizabeth L. Eisenstein, The Printing Press as an Agent of Change. Communications and Cultur-
al Transformations in Early-Modern Europe. 2 Vols. in 1 [zuerst 2 Vols. 1979]. Cambridge 2009.
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zukommen sein, denn es wird sich zeigen, dass derlei Unbehagen an der sozialen Relevanz von Fachwissen ein integraler Bestandteil des Phänomens selbst ist und keine bedauerliche, aber letztlich ephemere Begleiterscheinung. Auch muss man darauf hinweisen, dass das Narrativ von der frühneuzeitlichen „Entstehung der modernen Wissensgesellschaft“ sozialgeschichtlich unterdeterminiert ist: Es konzentriert sich auf die Beobachtung der innovativen Wissenschaftler auf der einen und einer sozial nicht weiter differenzierten neugierigen Öffentlichkeit auf der anderen Seite. Der Gedanke, dass jene Gesellschaften, in denen Innovationen ihre Wirkung entfalten, stratifizierte Gesellschaften sind und dass die wissenschaftlich-technologische Innovation diese Stratifikation keineswegs aufhebt, sondern im Gegenteil verstärkt und verkompliziert, ist jedenfalls nicht systematisch in die historische Analyse eingebracht worden. Mit anderen Worten: Das Bild, das die Autoren gezeichnet haben, ist sozialharmonisch und fortschrittsgläubig.
III. Ungleichmäßige Wissensdistribution und ihre sozialen Konsequenzen: Der Experte als Prototyp Wie könnte man die soziale Relevanz von Wissen anders fassen? Mit dieser Frage befassen sich seit einiger Zeit die Angehörigen eines Göttinger Forschungsverbunds, der sich aus Historikern, Literaturwissenschaftlern, Kirchen- und Rechtshistorikern zusammensetzt und der gemeinsam ein neu eingerichtetes DFG-Graduiertenkolleg unterhält. 26 Grundlegend scheinen seinen Mitgliedern einige Überlegungen zu sein, die hier nur in aller Kürze angeführt werden können. Zunächst gilt es herauszustellen, dass soziale Relevanz von Fachwissen, die mit dem gegenwärtigen Schlagwort von der „Wissensgesellschaft“ angesprochen wird, den Europäern nicht nur in Gestalt des forschenden Wissenschaftlers und des Erfinders gegenübergetreten ist. Häufiger noch war man mit dem neu geschöpften Wissen konfrontiert, wenn man es mit den Stäben der Herrscher in Stadt und Staat, mit
26 DFG-Graduiertenkolleg 1507 „Expertenkulturen des 12. bis 16.Jahrhunderts“, Göttingen. Informationen dazu unter http://www.uni-goettingen.de/de/100282.html (2011–11–14). Gefördert werden in seinem Rahmen zwei Postdoktorandinnen bzw. Postdoktoranden und 16 Doktorandinnen bzw. Doktoranden. Die Dozenten entstammen den Fächern Geschichtswissenschaft, Deutsche bzw. Romanische bzw. Lateinische Philologie, Kirchengeschichte und Rechtsgeschichte.
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dem – häufig sogar wissenschaftlich geschulten – Experten der Rechtsprechung, der Verwaltung oder des Gesundheitswesens zu tun hatte. Die technologische Neuerung, Kernelement der Mittelstraß’schen „Leonardo-Welt“, ist lediglich als Teil eines viel weiter reichenden Trends der Überformung des Sozialen durch Expertenwissen zu verstehen. Als Prototyp der davon betroffenen Gesellschaften hat nicht der Erfinder oder der innovative Naturwissenschaftler zu gelten, sondern der Experte schlechthin. Zweitens beruht dieses Expertenwissen auf der Vorstellung einer Art von wissensmäßiger Arbeitsteiligkeit, auf dem Gedanken also, dass es dadurch sozial verfügbar gemacht wird, dass man es an Experten delegiert, die es dann im Auftrag Anderer zum Nutzen des sozialen Ganzen verwalten und anwenden sollen. Explikationen jenes Zustandes betonen daher einen Delegationszusammenhang zwischen der Gesamtgesellschaft und den Expertenmilieus, die im Dienst des Gemeinen Nutzens, der Öffentlichkeit etc. stehen sollen. Drittens ist für die Stabilität dieses Zustands entscheidend, dass die derart ausdifferenzierten Wissensbereiche in neu geschaffenen sozialen Institutionen – und über diese in der Gesellschaft selbst – verankert werden. Indem Wissen geschöpft, an Experten delegiert und in Institutionen festgeschrieben wird, wird daher auch die soziale Welt im Ganzen komplexer. Dieser Umstand wird von weiten Teilen der Bevölkerung keineswegs als eine Erleichterung, sondern im Gegenteil als eine Verkomplizierung ihrer Lebenswelt wahrgenommen, denn sie verlangt ihnen ein Vielfaches an Orientierungsleistungen ab. 27 In Verbindung damit sind die Experten der verschiedenen Wissensbestände in zunehmendem Maß gefordert, ihre Relation zur Gesellschaft, die ihnen gegenüber immer mehr Skepsis entgegenbringt, zu symbolisieren. Man ist also nicht einfach so Experte, sondern wird zum Experten in Kommunikationssituationen, in denen Fremdzuschreibungen und Selbststilisierungen einander bedingen. Viertens hat man das besagte Unbehagen der Menschen an der wissensmäßigen und der institutionellen Komplexität der Welt sehr ernst zu nehmen. Man darf es nicht als eine bedauerliche Begleiterscheinung von Modernisierungsprozessen abtun, sondern muss es als eine Grundbedingung der Gesellschaft selbst mit in die Untersuchung einbeziehen. Schon Max Weber benannte das Dilemma deutlich, als er 27
Frank Rexroth, Expertenweisheit. Die Kritik an den Studierten und die Utopie einer geheilten Gesell-
schaft im späten Mittelalter. (Freiburger mediävistische Vorträge, Bd. 1.) Basel 2008.
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den okzidentalen „Intellektualisierungsprozess“ skizzierte: Der „Wilde“ sei wohl noch in der Lage gewesen, neben der Jagd auch seine Jagd-Werkzeuge selbst herzustellen. 28 Doch schon der, der die Straßenbahn benutzt oder etwas kauft, macht von vielfältigen Wissenssystemen Gebrauch, die ihm gänzlich unbekannt sind. Er wird sich vielleicht sagen, dass er alles über das Funktionieren der Straßenbahn oder das Wesen einer finanziellen Transaktion wissen könnte, wenn er nur wollte, doch ist dies freilich pure Illusion. Die Klagen von Zeitgenossen über die Kompliziertheit der Welt muss man also, wie gesagt, als konstitutives Element historischer Prozesse ansehen. Anzunehmen ist, dass gerade weil dem Einzelnen in der Wissensgesellschaft gar nichts anderes übrig bleibt, als den Wissenssystemen zu vertrauen, auf die er angewiesen ist, die Bereitschaft zur Expertenskepsis, ja Expertenkritik so hoch ist. Es scheint daher geraten, von einer dialogischen Beziehung von Systemvertrauen und Expertenskepsis auszugehen. 29 Fünftens und letztens ist diese Skepsis ihrerseits kulturell schöpferisch, insofern sie der Nährboden für die zahlreichen Einfachheits-, Einheits- und Ganzheitsentwürfe ist, die die europäische Geschichte begleiten. 30 Es sei kein Zufall, so schrieb James Brundage in einer seiner Studien über mittelalterliche Juristen, dass literarische Utopien eine Welt ohne Juristen als bessere Welt zeichneten. 31 Aus dieser Perspektive sieht man unserer Ansicht nach besser, dass die „Leonardo“-Welt, die von Mittelstraß, aber auch von den Frühneuzeit-Historikern in den letzten Jahren beschworen worden ist, und die Welt der sozialharmonischen Utopien, der chiliastischen Radikalentwürfe und der beständigen Rufe nach der Zerschlagung der sozialen Komplexität ein und dieselbe Welt sind.
28 Max Weber, Wissenschaft als Beruf, in: ders., Wissenschaft als Beruf 1917/1919. (Max Weber-Gesamtausgabe, Abt.1, Bd. 17.) Tübingen 1992, 71–111, hier 86. 29 Zum „dialogischen“ Prinzip Edgar Morin, Europa denken. Frankfurt am Main 1991, 126–128. 30 Rexroth, Expertenweisheit (wie Anm.27). 31 John Thomas Noonan, From Social Engineering to Creative Charity, in: Walter J. Ong (Ed.), Knowledge and the Future of Man. New York 1968, 179–198, hier 197f. Vgl. James A. Brundage, The Medieval Advocate’s Profession, in: Law and History Review 6, 1988, 439–464, hier 454 Anm.1.
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IV. Der Experte als kultureller Typus Damit ist zugleich gesagt, dass sich die Definition des Experten nicht primär auf die Beschreibung eines bestimmten Wissensfundus stützen darf. 32 Es ist für die Bezeichnung eines Wissensträgers als Experte nicht entscheidend, ob er über ‚höheres‘, ‚theoretisches‘ oder auf andere Weise hervorgehobenes Wissen verfügt. Konstitutiv für Expertentum ist vielmehr die soziale Interaktionsform, innerhalb derer Einzelne mit ihrer Umwelt kommunizieren. Unter einem Experten verstehen wir im Rahmen unserer Forschungen einen sozialen Rollentypus, der sich durch die Verheißung passgenauen Wissens in einer bestimmten Kommunikationssituation auszeichnet. Diese Kommunikationssituation wird erstens konstituiert durch die Erfahrung, dass Nichtwissen – ebenso wie Nichtkönnen – die Meisterung konkreter Lebensaufgaben behindert, dass es aber durch die gezielte Hinzuziehung von Trägern spezifischen Sonderwissens bzw. spezifischer Fertigkeiten kompensiert werden kann. Sie wird zweitens getragen von der Überzeugung, dass dieses Sonderwissen auch über den aktuellen Einzelfall hinaus relevant ist, mithin etwas zur Bewältigung allgemeiner Herausforderungen, Krisen und Gefahren beiträgt. Drittens sollte man nur in dem Fall von Experten sprechen, wo deren Sonderwissen im Rahmen von sozialen Institutionen weitergegeben, mithin institutionell verstetigt wird. Die Vorstellung vom Experten setzt dabei die Annahme einer wissensmäßigen Arbeitsteiligkeit der Gesellschaft und zugleich das Vorhandensein sozialer Institutionen voraus, die die Verfügung über Sonderwissen verstetigen. Kulturen, in denen solche Verstetigungen erfolgt sind und in denen die sozialen Akteure mit dem Vorhandensein von Experten rechnen, sollen im Folgenden als Expertenkulturen bezeichnet werden. Das Alltagswissen in solchen Expertenkulturen setzt dabei auf der Seite der Ratsuchenden ein Wissen über die Relevanzstrukturen der gesellschaftlichen Wissensdistribution voraus, wie Peter Berger und Thomas Luckmann betont haben: Die Angehörigen von Expertenkulturen sollen über die Kompetenz verfügen
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Helga Nowotny, Experten, Expertisen und imaginierte Laien, in: Alexander Bogner/Helge Torgersen
(Hrsg.), Wozu Experten? Ambivalenzen der Beziehung von Wissenschaft und Politik. Wiesbaden 2005, 33–44; Eric J. Engstrom/Volker Hess/Ulrike Thoms (Hrsg.), Figurationen des Experten. Ambivalenzen der wissenschaftlichen Expertise im ausgehenden 18. und frühen 19.Jahrhundert. (Berliner Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte, Bd. 7.) Frankfurt am Main/Berlin/Bern 2005.
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zu entscheiden, welches Wissensfeld bei der Meisterung einer spezifischen Herausforderung gefragt ist und wo dessen Repräsentanten anzutreffen sind. Sie wissen etwas Besseres, so Berger und Luckmann, als mit dem Arzt über Geldanlagen, mit dem Anwalt über das Magengeschwür oder mit dem Buchhalter über die Suche nach religiöser Wahrheit zu sprechen. 33 Einige Abgrenzungen sollen dieses Verständnis vom Experten verdeutlichen. Geht der Ratsuchende zum Weltweisen, so ist dieser gemäß dem geschilderten Vorverständnis nicht als Experte anzusehen. Denn nicht um Sonderwissen geht es in dieser Situation, sondern um allumfassende Deutungskompetenz – der um Rat Gefragte wird als Träger eines prinzipiell unbegrenzten Wissenspotentials angesehen. Als einen Weisen, so Domenico Gundisalvi in der zweiten Hälfte des 12.Jahrhunderts, habe man in der goldenen Ära der antiken Philosophie nur einen solchen Menschen bezeichnet, „von dem man glaubte, dass er die Wissenschaft aller Dinge mit sicherer Erkenntnis auffasste“; zu seiner eigenen Zeit dagegen könne man zufrieden sein, wenn Menschen „wenigstens von den einzelnen Dingen einige oder etwas von einigem zu kosten bekommen“. 34 Reflektiert wird hier, wenngleich im klagenden Ton des Kulturpessimisten, über die Binnendifferenzierung des Wissbaren, die dem Typus des Experten zugrunde liegt. 35 Ferner gilt für das Wissen der Experten die Bedingung der über den Einzelfall hinausweisenden Relevanz. Die Anwohner, die vor einem Yorker Gericht den fragwürdigen Lebenswandel ihrer Nachbarin Marjorie Gray (alias Cherilippis) bezeugen, sollte man angesichts ihres nur für die ‚Causa Marjorie‘ relevanten Sonderwissens nicht als Experten bezeichnen. 36 Dagegen fungiert der städtische Konstabler, dem die Aufsicht über das nächtliche Treiben in einem bestimmten Stadtbezirk dauerhaft überantwortet ist, als Experte, wenn er vom Gericht als sachverständiger Zeuge
33 Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. 22.Aufl. Frankfurt am Main 2009, v.a. 47. 34 Al-Fārābī, De scientiis secundum versionem Dominici Gundisalvi. Hrsg. v. Jakob Hans Josef Schneider. (Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters, Bd. 9.) Freiburg/Basel/Wien 2006, 120f. (Hervorhebung F. R.). 35 Ganz anders Gundisalvi in seiner eigenen Schrift über die Einteilung der Wissenschaften: Dominicus Gundissalinus, De divisione philosophiae. Hrsg. v. Ludwig Baur. (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, Bd. 4,2/3.) Münster 1903, 3. Vgl. Frank Rexroth, Die Einheit der Wissenschaft und der Eigensinn der Disziplinen. Zur Konkurrenz zweier Denkformen im 12. und 13.Jahrhundert, in: DA 67, 2011, 19– 50, hier 33–35. 36 Martha Carlin, Medieval Southwark. London/Rio Grande 1996, 209 Anm.3.
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für die Kategorisierung dieses spezifischen Falls vor dem Hintergrund der sonstigen nächtlichen Devianz hinzugezogen wird; diese ist ihm aus seiner Tätigkeit heraus vertraut, so dass er vor Gericht weniger als Person denn als Amtsträger und damit als Repräsentant einer sozialen Institution auftritt, die über die physische Existenz des Einzelnen hinaus Wissen speichert und bereithält. 37 Damit ist auch die dritte genannte Bedingung angesprochen. ‚Expertenwissen‘, so verstanden, steht im Gegensatz zu anderen, vor allem zu holistischen Wissenskonzepten, wie sie in der Vorstellung von allumfassender Weisheit gegeben sind. Zumindest in Spannung steht es ferner zu Denkfiguren wie der vom ‚gesunden Menschenverstand‘ als einem letztlich entscheidenden Urteilsvermögen, das jedem Menschen kraft seiner Vernunftbegabung zur Verfügung steht 38, oder der ‚communis opinio‘ bzw. dem Endoxon, also der Annahme, dass der allgemeine bzw. repräsentative Konsens zwischen den Vernünftigen automatisch und ohne die Nutzung von Spezialistentum richtiges Wissen hervorbringt. 39 Und selbstverständlich richten sich von Anbeginn der Expertenkulturen Vorbehalte gegen die Isoliertheit und latente Machtförmigkeit des Spezialistentums, wie sie zum einen in Lichtenbergs Diktum „Wer nichts als Chemie versteht, versteht auch die nicht recht“, zum anderen in der Sorge um die Unterwanderung der egalitären Gesellschaft durch die Kamarilla der herrschaftsnahen Ratgeber zum Ausdruck kommt. 40 37 Frank Rexroth, Deviance and Power in Late Medieval London. Cambridge 2007, 60–67. Zur Spezifik der sachverständigen Zeugen bei Bartolus Susanne Lepsius, Der Richter und die Zeugen. Eine Untersuchung anhand des „Tractatus testimoniorum“ des Bartolus von Sassoferrato. Mit Edition. (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 158.) Frankfurt am Main 2003, 127, 146, 150–152. 38 Peter von Moos, ‚Sensus communis‘ im Mittelalter. Sechster Sinn und sozialer Sinn. Epistemologische, ekklesiologische und eschatologische Aspekte, in: ders., Gesammelte Studien zum Mittelalter. Bd. 3: Öffentliches und Privates, Gemeinsames und Eigenes. Hrsg. v. Gert Melville. Münster 2007, 395–458; vgl. Yujiro Nakamura, Sensus communis [japan. 1979]. München 2003; Robert Nehring, Kritik des Common Sense. Gesunder Menschenverstand, reflektierende Urteilskraft und Gemeinsinn – der Sensus communis bei Kant. Berlin 2008. 39 Susanne Lepsius, Art.„Communis opinio doctorum“, in: Albrecht Cordes/Heiner Lück/Dieter Werkmüller (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. 2 Aufl. Bd. 1. Berlin 2008, 875–877; Peter von Moos, „Was allen, den meisten oder den Sachkundigen richtig scheint“. Über das Fortleben des ‚endoxon‘ im Mittelalter, in: Burkhard Mojsisch/Olaf Pluta (Hrsg.), Historia philosophiae Medii Aevi. Fschr. Kurt Flasch. Amsterdam 1991, 711–744; ders., Die angesehene Meinung. Studien zum ‚endoxon‘ im Mittelalter II, in: Thomas Schirren/Gert Ueding (Hrsg.), Topik und Rhetorik. Ein interdisziplinäres Symposium. Tübingen 2000, 143–163; ders., Die angesehene Meinung. Studien zum ‚endoxon‘ im Mittelalter [III]: Abaelard, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 45, 1998, 343–380; ders., Die angesehene Meinung. Studien zum ‚endoxon‘ im Mittelalter IV: Johann von Salisbury, in: MJb 34, 1999, 1–55. 40 Georg Christoph Lichtenberg, Schriften und Briefe. 5.Aufl. Bd. 1: Sudelbücher 1. Hrsg. v. Wolfgang Pro-
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Günstig für die Durchsetzung von Expertenwissen bzw. seiner gesellschaftlichen Akzeptanz ist dagegen die Tendenz, spezifische Denkstile und Fertigkeiten von den Denkweisen, Kategorien und Fertigkeiten der Alltagswelt abzukoppeln – die Institutionalisierung solcher Abkopplungen lässt Experten, die Träger des entscheidenden Know-hows, als unverzichtbar erscheinen. Als Beispiel kann hier die charakteristisch wissenschaftliche Hochschätzung des Methodischen gelten, d.h. die Ansicht, dass wissenschaftliches Wissen erst dann als gültig akzeptiert wird, wenn es mittels einer approbierten Methode erbracht worden ist. Im Rahmen der scholastischen Wissenschaft samt ihren Institutionen des Curriculums, des Prüfungswesens und der Graduierung wird so der Dialektik als der „Methode [...], nach der wir über jedes aufgestellte Problem aus wahrscheinlichen Sätzen Schlüsse bilden können“ (Aristoteles), diese Potenz zugesprochen. Die Befähigung, ‚wahres‘ Wissen zu generieren, wird auf diese Weise für die verhältnismäßig kleine Gruppe von Männern reklamiert, die wie Novizen durch dialektische Schulung in die Welt der Scholastik initiiert worden sind. 41 Ein weiteres wirkmächtiges Beispiel hierfür ist in der professionalisierten Rechtspraxis zu erkennen: die Fähigkeit, zwischen Sache und Form, zwischen materiellem und formellen Recht zu scheiden. Auch diese Differenzierung wird den angehenden Juristen im Lauf ihres Rechtsstudiums antrainiert. 42 Auch die allmähliche Ersetzung informeller durch standardisierte Kommunikationssituationen leistet der wachsenden gesellschaftlichen Relevanz von Experten Vorschub: Aus konventionellen Gesprächssituationen beim König wird im England des 14. und 15.Jahrhunderts ein parlamentarisches Verfahren mit einer eigenen Geschäftsordnung, die zunehmend nur noch von Kundigen durchschaut wird. 43 Ähn-
mies. Frankfurt am Main 1994, 772 (Sudelbücher H.J, Aphor. 860): „Rousseau hat glaube ich gesagt: ein Kind, das bloß seine Eltern kennt, kennt auch die nicht recht. Dieser Gedanke lässt sich [auf] viele andere Kenntnisse, ja auf alle anwenden, die nicht ganz reiner Natur sind: Wer nichts als Chemie versteht, versteht auch die nicht recht.“ Alexandra Oleson/John Voss, Introduction, in: dies. (Eds.), The Organization of Knowledge in Modern America, 1860–1920. Baltimore 1979, VII–XXI, XIV. 41 Aristoteles, Topik I, 1, 100a 18, hier zitiert nach ders., Philosophische Schriften. Bd. 2. Übers. v. Eugen Rolfes. Hamburg 1995, 1. 42 Peter Oestmann, Die Zwillingsschwester der Freiheit. Die Form im Recht als Problem der Rechtsgeschichte, in: ders. (Hrsg.), Zwischen Formstrenge und Billigkeit. Forschungen zum vormodernen Zivilprozeß. (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 56.) Köln/Weimar/Wien 2009, 1–54; Andreas Kollmann, Begriffs- und Problemgeschichte des Verhältnisses von formellem und materiellem Recht. (Schriften zur Rechtsgeschichte, Bd. 68.) Berlin 1996. 43 Hannes Kleineke, Parliamentarians at Law. Select Legal Proceedings of the Long Fifteenth Century Re-
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liche Lehren hat man wahrscheinlich auch aus der Trennung von Experten- und Laiensemantiken gezogen 44: Der unter Alltagsbedingungen harmlose Ratschlag an einen der Häresie Verdächtigen, seine Aussagen zu „überdenken“ oder zu „verbessern“, wird zu einer furchterregenden Drohung, wenn er vom Inquisitor gegeben wird, denn dann fungiert er als Bestandteil eines Rechtsverfahrens und weist auf die Anwendung der Folter voraus, wie Thomas Scharff gezeigt hat. 45
V. Expertenkulturen: Der „take-off“ des späteren Mittelalters Fragt man unter diesem Vorverständnis erneut danach, wann jene Kommunikationssituation zwischen Experten und Nichtexperten, jene Dialogik zwischen (erzwungenem) Systemvertrauen und latenter Expertenskepsis entstanden ist, dann wird man jedenfalls dann, wenn man sich auf das nach-antike Europa bezieht (über die Antike ist damit folglich nichts gesagt), auf die Jahrhunderte seit ca. 1100 aufmerksam. Denn in ihnen haben sich die entscheidenden institutionellen Grundlegungen für die Expertenkulturen des lateinischen Europas ereignet. 1. Differenzierung der Kompetenzen und des Know-how in der Klerikerkirche Der Ausgang der Kirchenreform seit ca. 1050 gab dem Optimismus der Zeitgenossen Nahrung, dass man Konflikte wie den Streit um Simonie und Priesterehe oder die Investiturkontroverse, die im Inneren jeder einzelnen Kirchengemeinde verheerende Spuren hinterlassen hatten, durch die abstrahierende, mithin intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Streitgegenstand einer Lösung zuführen könnte. 46
lating to Parliament. Malden, Mass. 2008; Gwilym Dodd, Justice and Grace. Private Petitioning and the English Parliament in the Late Middle Ages. Oxford 2007. 44 Jürg Niederhauser, Wissenschaftssprache und populärwissenschaftliche Vermittlung. (Forum für Fachsprachen-Forschung, Bd. 53.) Tübingen 1999; ders./Kirsten Adamzik (Hrsg.), Wissenschaftssprache und Umgangssprache im Kontakt. (Germanistische Arbeiten zu Sprache und Kulturgeschichte, Bd. 38.) Frankfurt am Main 1999; Sigurd Wichter/Albert Busch (Hrsg.), Wissenstransfer. Erfolgskontrolle und Rückmeldungen aus der Praxis. Frankfurt am Main 2006. 45
Thomas Scharff, Seelenrettung und Machtinszenierung. Sinnkonstruktionen der Folter in kirchlichen
Inquisitionsverfahren des Mittelalters, in: Peter Burschel/Götz Distelrath/Sven Lembke (Hrsg.), Das Quälen des Körpers. Eine historische Anthropologie der Folter. Köln 2000, 151–170, hier 156. 46
Hartmut Hoffmann, Ivo von Chartres und die Lösung des Investiturproblems, in: DA 15, 1959, 393–440;
Horst Fuhrmann, Das Reformpapsttum und die Rechtswissenschaft, in: Josef Fleckenstein (Hrsg.), Investi-
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Was die Zeitgenossen seit den letzten Jahren des 11.Jahrhunderts beobachten konnten, war das Praktizieren eines neuen Denkstils, der auf das Herauspräparieren des Streitfalls, auf Abstraktion und Distinktion, auf die Scheidung von geistlichen und weltlichen Rechten etwa, gerichtet war. Dieser Denkstil wurde zu einer Sache von Experten im oben beschriebenen Sinn, seine Prototypen kann man im Kontext der Investiturdebatte ausfindig machen: Bernold von Konstanz handelte so vom Boykott gegen Exkommunizierte, Alger von Lüttich vom Erbarmen, der Gerechtigkeit und den Häresien. 47 Als Bindeglied zwischen dem Reformanliegen selbst und der Ausdifferenzierung der Wissensbestände im 12.Jahrhundert hat Heinrich Fichtenau das Forschen nach vermeintlichen Irrlehren und ihren Propagatoren angesehen. 48 Gleichzeitig wurde der päpstliche Suprematieanspruch in der Kirche in dem Prozess vorangetrieben, den man später als die „Klerikalisierung der Kirche“ 49 bezeichnen sollte: Mit dem Kardinalskollegium und der päpstlichen Kurie entstanden Funktionseliten und Verwaltungsinstanzen, die künftig normsetzend für Zentralisierungs- und Verrechtlichungsprozesse in ganz Europa sein sollten. In Kooperation, aber auch in Konkurrenz dazu erlebten Synoden und Konzilien einen Bedeutungsaufschwung, der abseits der römischen Zentrale des Papsttums zu einer Intensivierung von Verwaltung und damit zu einer Aufwertung des entsprechenden Know-how führte. 50 So entstanden professionell verwaltete Strukturen der Administration, der Ökonomie und der Rechtspraxis.
turstreit und Reichsverfassung. Sigmaringen 1973, 175–203; Ian Stuart Robinson, Zur Arbeitsweise Bernolds von Konstanz und seines Kreises. Untersuchungen zum Schlettstädter Codex 13, in: DA 34, 1978, 51–122; Uta-Renate Blumenthal, Papal Reform and Canon Law in the 11th and 12th Centuries. Aldershot 1998. 47 Bernold von Konstanz, De excommunicatis vitandis, de reconciliatione lapsorum et de fontibus iuris ecclesiastici (Libellus X). Hrsg. v. Doris Stöckly/Detlev Jasper. (MGH Fontes iuris, Bd. 8.) Hannover 2000, dort 9 der Nachweis weiterer einschlägiger Arbeiten Bernolds; Friedrich Merzbacher, Alger von Lüttich und das kanonische Recht, in: ders., Recht – Staat – Kirche. Ausgewählte Aufsätze. Wien 1989, 588–618. 48 Heinrich Fichtenau, Ketzer und Professoren. Häresie und Vernunftglaube im Hochmittelalter. München 1992, 8. 49 Als „clericalisation de l’église“ bei Theodor Schieffer; vgl. Gerd Tellenbach, Die westliche Kirche vom 10. bis zum frühen 12.Jahrhundert. (Die Kirche in ihrer Geschichte, Bd. 2, Lief. F1.) Göttingen 1988, 263. 50 Tellenbach, Kirche (wie Anm.49), 250–258; Stefan Weinfurter, Canossa. Die Entzauberung der Welt. München 2006, 77–100.
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2. Höfisches Wissen als Sonderwissen Zugleich entstand mit der höfischen Kultur seit dem 12.Jahrhundert erstmals ein eigenwertiger Sinnbereich neben der Deutungshoheit der christlichen Religion. 51 Er entfaltete seine eigene Logik, verlangte seinen Teilhabern ganz eigene, zu erlernende Fertigkeiten ab, die beständig umgeschrieben und von Virtuosen der courtoisie vorexerziert wurden. Für den Fürsten bedeutete dies etwa, christliche und höfische, d.h. nach den Regeln höfischen Verhaltens begründete Verhaltenserwartungen miteinander zu korrelieren. Sein Handlungsrepertoire wurde komplexer, die Rolle, die er bei Hof spielte, anspruchsvoller. 52 Indem die höfische Gesellschaft elaborierte Inititationsrituale pflegte, vergewisserte sie sich ihrer eigenen Logik und grenzte sich von ihrer Außenwelt ab. 53 Eigene Verhaltensweisen, der Gebrauch der höfischen Sprache, höfische Gestik – gemeinsam restringierten sie die Möglichkeiten, zum Fürsten als dem Zentrum der Macht vorzudringen. Der Höfling konnte zum Experten dieser Kultur werden. Seine Tätigkeit gründete in der Verpflichtung zum Dienst (etwa: der Beratung des Fürsten) und verpflichtete umgekehrt den Fürsten, auf den Rat des Höflings zu hören und diesen zu entlohnen. Die höfische Literatur kennt viele Träger dieser Expertise, Tristan ist ihr idealtypisches Vorbild. Auch die Widerstände, die die Ausdifferenzierung von Wissen zwangsläufig provozierten, kann man am Hof hervorragend studieren. Die Geschichte der Hofkultur war von Anbeginn die Geschichte der Hofkritik: „In curia sum, et de curia loquor, et nescio, Deus scit, quid sit curia“, klagt Walter Map schon in den 1180ern – enerviert darüber, dass die Regeln für den Zugang zum Hof von den Experten des höfischen Lebens dauernd umgeschrieben wurden. 54
51
Johannes Fried, In den Netzen der Wissensgesellschaft. Das Beispiel des mittelalterlichen Königs- und
Fürstenhofes, in: ders./Thomas Kailer (Hrsg.), Wissenskulturen. Beiträge zu einem forschungsstrategischen Konzept. (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel, Bd. 1.) Berlin 2003, 141–193; Werner Paravicini (Hrsg.), Luxus und Integration. Materielle Hofkultur Westeuropas vom 12. bis zum 18.Jahrhundert. München 2010. 52
Ulrike Graßnick, Ratgeber des Königs. Fürstenspiegel und Herrscherideal im spätmittelalterlichen
England. (Europäische Kulturstudien, Bd. 15.) Köln/Weimar/Wien 2004, 56f. 53
Aloys Winterling, ‚Hof‘. Versuch einer idealtypischen Bestimmung anhand der mittelalterlichen und
frühneuzeitlichen Geschichte, in: ders. (Hrsg.), Zwischen „Haus“ und „Staat“. Antike Höfe im Vergleich. (HZ, Beih. NF., Bd. 23.) München 1997, 11–25. 54
Walter Map, De nugis curialium – Courtiers’ Trifles. Hrsg. v. Montague Rhodes James/ Christopher N.
L. Brooke/Roger A. B. Mynors. Oxford 1983, hier 2. Zur Hofkritik Joachim Ehlers, Hofkultur – Probleme und
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Der Hof wurde zugleich zu einem Labor für die Generierung neuen Wissens und zu einer Relaisstation für dessen Verbreitung. 55 Naturwissenschaftliche und technologische Belange wurden nicht an allen, aber doch an prominenten Höfen zu einem bedeutenden Bestandteil von Hofkultur überhaupt. Ärzte, Astrologen und andere Gelehrte, aber auch Handwerker führten dort Gespräche mit dem Fürsten, dies manchmal im kleinen Kreis, bisweilen aber auch vor der weiteren Hofgesellschaft. Hier trafen 1225 Kaiser Friedrich II. und der Mathematiker Fibonacci aufeinander, 1368 ließ sich Karl V. von Frankreich von dem Theologen Heinrich von Langenstein über seine Gedanken zu Kometen unterrichten, 1432 Sigismund von Ungarn von Mariano Taccola über die Ingenieurskunst. Der ungarische König Matthias Corvinus lauschte 1468 dem Disput zwischen zwei Astronomen, der Mathematiker Luca Pacioli sprach 1498 in der Mailänder Residenz Ludovico „il Moro“ Sforzas. 1485 warb Christoph Columbus in einer gut besuchten Audienz vor Jakob II. von Portugal für seinen Plan einer Fahrt westwärts über den Atlantik. 56 Martina Giese hat nachgewiesen, wie das ursprünglich praktisch und mündlich vermittelte Knowhow der höfischen Jagd seit dem 13.Jahrhundert allmählich ergänzt wurde durch Jagddidaxen in der Volkssprache, Werke, die zum einen von hochstehenden Persönlichkeiten, zum anderen aber zunehmend durch höfische Jagd-Bedienstete verfasst wurden. 57 3. Die Stadt – ein Cluster aus Expertisen Repräsentiert der Hof eine gesellschaftliche Separatkultur, die auf der Ausprägung und Weitergabe raffinierten Sonderwissens beruht, so die kommunal verfasste
Perspektiven, in: Paravicini (Hrsg.), Luxus und Integration (wie Anm.51), 13–24, hier 13; ders., Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 32.) München 1994, 46; Jan Hirschbiegel/Joachim Ehlers (Hrsg.), Der Fall des Günstlings. Hofparteien in Europa vom 13. bis zum 17.Jahrhundert. (Residenzenforschung, Bd. 17.) Ostfildern 2004; Helmuth Kiesel, „Bei Hof, bei Höll“. Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller. (Studien zur deutschen Literatur, 60.) Tübingen 1979. 55 Clelia Arcelli (Ed.), I saperi nelle corti. Knowledge at the Courts. (Micrologus, Vol.16.) Florenz 2008. 56 Summarisch zu diesen Zusammenkünften Steven J. Williams, Public Stage and Private Space. The Court as Avenue for the Discussion, Display, and Demonstration of Science and Technology in the Later Middle Ages, in: Arcelli (Ed.), I saperi (wie Anm.55), 459–486. 57 Martina Giese, Graue Theorie und grünes Weidwerk? Die mittelalterliche Jagd zwischen Buchwissen und Praxis, in: AKG 89, 2007, 19–59.
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Stadt die Sphäre der wissensgestützten Arbeitsteiligkeit: Spezialisierung und Austausch von Leistungen ermöglichten es, die Lebensumstände prinzipiell aller Bewohner zu verbessern. 58 Die Städte, die seit dem hohen Mittelalter in großer Zahl entstanden, waren in ihrem Inneren ganze Cluster aus differenzierten Expertisen, die zu dauerhafter Gruppenbildung führten: der Gilden, deren Zugang zunehmend restringiert und ritualisiert wurde. Nur in ihnen scheint die Differenzierung von Wissensbeständen mit dem Ziel, die Produktion, Qualität und Zirkulation von Gütern zu beschleunigen, dauerhaft und erfolgreich verstetigt worden zu sein. Der Abschließung der Gruppen entsprach die zunehmend restriktivere Handhabung des Zugangs zu Tätigkeiten und Fertigkeiten. Ein Moment dichterer Institutionalisierung war dabei am Ausgang des Mittelalters mit der Einführung des Lehrzwangs, der Meisterprüfung und des Meisterbriefs gekommen. Wer auf legitime Weise ein Gewerbe ausüben wollte, war immer stärker auf die standardisierten Akte verwiesen, mit denen die städtischen Gilden den Zugang zur städtischen Wirtschaft regulierten. 59 Das Wissen der Gruppe sollte exklusives Wissen bleiben 60, und doch inszenierte die Gruppe mit der Teilnahme an einer Vielzahl innerstädtischer Rituale die Botschaft, dass im Dienst des sozialen Ganzen stehe, wer dieses Sonderwissen praktiziere. 61 Wurde die Wissensstruktur der Stadt und ihrer Gewerbe komplexer, so stiegen auch die Anforderungen an den Einzelnen, sich Zugangs- und Überblickswissen zu verschaffen. Das städtische Schulwesen wurde diesen Bedürfnissen angepasst, die
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Felicitas Schmieder, Die mittelalterliche Stadt, Darmstadt 2005; Donald M. Palliser (Ed.), The Cambridge
Urban History of Britain. Vol.1: 600–1540, Cambridge 2000; Eberhard Isenmann, Die deutsche Stadt im Spätmittelalter 1250–1500. Stadtgestalt, Recht, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft. Stuttgart 1988, 312. 59
Arnd Kluge, Die Zünfte. Stuttgart 2007, v.a. 236–238; Rudolf Endres, Handwerk – Berufsbildung, in: Not-
ker Hammerstein/August Buck (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 1. München 1996, 335–424, hier 381, 396; Kurt Wesoly, Lehrlinge und Handwerksgesellen am Mittelrhein. Ihre soziale Lage und ihre Organisation vom 14. bis ins 17.Jahrhundert. Frankfurt am Main 1985, 50–52; Isenmann, Stadt (wie Anm.58); Peter Fleischmann, Das Bauhandwerk in Nürnberg vom 14. bis zum 18.Jahrhundert. (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte, Bd. 38.) Nürnberg 1985, 189–191. 60
Martin Kintzinger, Eruditus in arte. Handwerk und Bildung im Mittelalter, in: Knut Schulz (Hrsg.),
Handwerk in Europa. Vom Spätmittelalter bis zur Frühen Neuzeit. (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, Bd. 41.) München 1999, 155–187, hier 171f. 61
Andrea Löther, Prozessionen in spätmittelalterlichen Städten. Politische Partizipation, obrigkeitliche
Inszenierung, städtische Einheit. (Norm und Struktur, Bd. 12.) Köln/Weimar/Wien 1999; Charles PhythianAdams, Desolation of a City. Coventry and the Urban Crisis in the Late Middle Ages. Cambridge 1979.
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Alphabetisierungsrate stieg. 62 „Es ist noch gar nicht lange her“, schreibt Guibert von Nogent um 1115, „und das gilt selbst für meine eigene Lebenszeit noch, da waren Grammatik-Kundige so selten, dass man in kleineren Burgorten (oppidis) praktisch keinen, in den Städten (urbibus) kaum einmal einen von ihnen finden konnte. Und wenn man doch einmal einen entdeckte, dann waren seine Kenntnisse schütter und ließen sich nicht einmal mit denen der heutigen umherziehenden Kleriker vergleichen.“ 63 Und ein Colmarer Dominikaner kontrastiert um 1300 die Lebensverhältnisse zu seiner Lebenszeit mit denen, die hundert Jahre zuvor geherrscht hätten. Er meint, den Elsässern habe es damals an denjenigen Fertigkeiten gefehlt, die das Leben der Menschen einfacher machten und verschönerten: die der Kaufleute, der Wundärzte und jüdischen Heilkundigen sowie der Baumeister. Nur ein Mangel an Ketzern habe nicht bestanden. 64 In der Tat steigen für die Städte des 13.Jahrhunderts die Belege für das Vorhandensein raffinierteren technischen Wissens. Ist auch in den Jahrhunderten zuvor vereinzelt von einem sapiens architectus (10.Jh.) oder von Ingenieuren (11.Jh.) die Rede, so werden nach 1200 die Städte zum entscheidenden Ort und zugleich zum entscheidenden Agenten für die Vervielfältigung solch anspruchsvoller Fertigkeiten, findet man Experten zuweilen unter den fest besoldeten städtischen Bediensteten. 65 In Regensburg kennt man um 1200 schon 28 organisierte Gewerbe; der städtische Markt fungiert als Drehscheibe für technische Innovation. 66 Gleichwohl wurde die Monopolisierung der Tätigkeiten in den Gewerben niemals vollständig akzeptiert, urbane Neben- und Schattenökonomien entstanden. 67
62 Schätzungen referiert bei Kintzinger, Eruditus (wie Anm.60), 160–162. 63 „Erat paulo ante id temporis, et adhuc partim sub meo tempore, tanta grammaticorum charitas, ut in oppidis prope nullus, in urbibus vix aliquis reperiri potuisset; et quos inveniri contigerat, eorum scientia tenuis erat, nec etiam moderni temporis clericulis vagantibus comparari poterat.“ Guibert von Nogent, Autobiographie. Paris 1981, 26. 64 MGH SS 17 (1861), 232–237, siehe z.B. 236 c. 16: „Mercatores pauci fuerunt, et pene omnes pro divitibus habebantur. Magistri artium mechanicarum pauci fuerunt, et sunt inter divites computati. Chyrurgici pauce, phisici pauciores, Iudei pauci. Heretici in locis plurimis abundabant.“ 65 Gerhard Dohrn-van Rossum, Migration – Innovation – Städtenetze: Ingenieure und technische Experten, in: Mathieu Arnoux/Pierre Monnet (Eds.), Le technicien dans la cité en Europe occidentale, 1250–1650. Rom 2004, 291–307, hier 300. 66 Hagen Keller, Zwischen regionaler Begrenzung und universalem Horizont. Deutschland im Imperium der Salier und Staufer, 1024–1250. Berlin 1986, 263. 67 Rexroth, Deviance (wie Anm.37); Valentin Groebner, Ökonomie ohne Haus. Zum Wirtschaften armer
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Im Hintergrund vieler städtischer Unruhen, die für die Jahre ab ca. 1300 charakteristisch sind, stehen auch Zugangs- und Tätigkeitsbeschränkungen dieser Art. 68 4. Die hohen Schulen, Gelehrte und Studierte Typologisch mit den kommunal verfassten Städten verwandt waren die Universitäten als Schwureinungen von Lehrenden und Lernenden, die in ihrem Inneren ebenfalls wie Cluster unterschiedlicher Expertengruppen aussahen, auch hier mit restringiertem und ritualisiertem Zugang. 69 Frühe Institutionalisierungsprozesse betrafen hier etwa die Festlegung von Curricula: Schon die ersten universitären Statuten wie die von Paris (1215) enthielten im Kern Listen der verbindlich durchzunehmenden, aber auch der zu ächtenden Werke. 70 Aus der Übertragung und Kontrolle der Lehrbefugnis gingen die akademischen Grade hervor, die – zumal seit dem verstärkten Hochschulbesuch des 15.Jahrhunderts und dem daraus resultierenden Konkurrenzdruck auf dem Markt der Ämter und der Beschäftigungen – immer wichtiger wurden. Während seiner Jugend, so erinnert sich ein 1438 geborener Ulmer Dominikaner, habe man einen Magister oder Bakkalaren als ein Wundertier angesehen, heute gebe es in jedem Dorf einen. Und er fügt hinzu, dass als Konsequenz aus diesem Bildungsaufschwung auch die ingeniosae artes wie die Malerei und die Skulptur ihren Aufschwung genommen hätten. Dass ein Mainzer die Druckerkunst ersonnen habe, erfüllte ihn mit Stolz. 71 Leute in Nürnberg am Ende des 15.Jahrhunderts. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 108.) Göttingen 1993. 68 Peter Blickle, Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300–1800. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 1.) 2.Aufl. München 2010; Peter Johanek, Bürgerkämpfe und Verfassung in den mittelalterlichen deutschen Städten, in: Hans Eugen Specker (Hrsg.), Einwohner und Bürger auf dem Weg zur Demokratie. Von den antiken Stadtrepubliken zur modernen Kommunalverfassung. Ulm 1997, 45–72. 69
Walter Rüegg (Hrsg.), Geschichte der Universität in Europa. Bd. 1: Mittelalter. München 1993; Marian
Füssel, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit. Darmstadt 2006; Frank Rexroth, Die Weisheit und ihre 17 Häuser. Universitäten und Gelehrte im spätmittelalterlichen Reich, in: Matthias Puhle/Claus-Peter Hasse (Hrsg.), Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806. Von Otto dem Großen bis zum Ausgang des Mittelalters. Essays. Dresden 2006, 424–437; Otto Gerhard Oexle, Alteuropäische Voraussetzungen des Bildungsbürgertums – Universitäten, Gelehrte und Studierte, in: Werner Conze/Jürgen Kocka (Hrsg.), Bildungsbürgertum im 19.Jahrhundert. T.1: Bildungsbürgertum und Professionalisierung in internationalen Vergleichen. (Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, Bd. 3/1.) Stuttgart 1985, 29–78. 70
Stephen C. Ferruolo, The Paris Statutes of 1215 Reconsidered, in: History of Universities 5, 1985, 1–14.
71
Felix Fabri, Chronicum, in: Suevicarum rerum scriptores aliquot veteres: Hrsg. v. Melchior Goldast.
Frankfurt am Main 1605, 46–314, hier 66–71.
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Diese Entwicklung fußte auf der geistigen Aufbruchsstimmung, die man als die „Renaissance“ der Wissenschaften 72 oder, sozusagen in der Steigerungsform, als die „Revolution“ des Wissenschaftsverständnisses 73 im 12.Jahrhundert bezeichnet hat und die eine weitgehende Autonomisierung der höheren Bildung, mithin die Wiederentdeckung von Wissenschaft als einem weitgehend autonomen sozialen Bereich zur Folge hatte. In ihrem Zusammenhang ging es auch um eine Neubewertung des epistemischen Status, der Erfahrungswissen zukommt – dies nicht mehr in dem von Pierre Duhem emphatisch vertretenen Sinn, dass die moderne empirische Wissenschaft von mittelalterlichen Denkern wie William von Ockham oder Johannes Buridan ausgeht, aber doch so, dass mit der Aneignung des Aristotelismus zugleich in bestimmten Bereichen wie der Mechanik die Loslösung von diesem einherging, und dass dieser Emanzipationsprozess zur Voraussetzung für die spätere empirie-geleitete Wissenschaft geworden ist. 74 Die „Wissensrevolutionen“, von denen man im Hinblick auf die universitäre Welt des späteren Mittelalters so häufig gesprochen hat, bezeichneten die Vervielfältigung und neue Grundlegung höheren Wissens und zugleich dessen Differenzierung in Disziplinen und Felder: die Scheidung von Recht, Politik und Moral, Ethik, Naturphilosophie, Physik und Metaphysik.
VI. Zur Bewusstseinsgeschichte des Expertentums: Wort- und begriffsgeschichtliche Spuren Das hohe und späte Mittelalter des ‚lateinischen‘ Europa ist folglich nicht die Ära, in der in anonymen ‚Prozessen‘ abstrakte ‚Strukturen‘ des Expertentums im ein-
72 Charles Homer Haskins, The Renaissance of the Twelfth Century. Cambridge, Mass. 1927; Gérard Paré/ Adrien Brunet/Pierre Tremblay, La Renaissance du XIIe siècle. Paris/Ottawa 1933; Peter Weimar (Hrsg.), Die Renaissance der Wissenschaften im 12.Jahrhundert. (Zürcher Hochschulforum, Bd. 2.) Zürich 1981; Giles Constable, The Reformation of the Twelfth Century. Cambridge/New York 1996. 73 Belege bei Rexroth, Einheit (wie Anm.35), 30f. 74 Alexander Fidora/Matthias Lutz-Bachmann (Hrsg.), Erfahrung und Beweis. Die Wissenschaften von der Natur im 13. und 14.Jahrhundert. (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel, Bd. 14.) Berlin 2007. Siehe v.a. Gerhard Leibold, Ockham und Buridan – Vorgestalten neuzeitlicher Wissenschaft?, in: ebd.225–231. Vgl. Thomas Bénatouïl/Isabelle Draelants (Eds.), Expertus sum. L’expérience par les sens dans la philosophie naturelle médiévale. (Micrologus Library, Vol.40.) Florenz 2011.
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gangs genannten Sinn entstanden; die Überformung der Kulturen durch Spezialisierung von Wissen und Fertigkeiten, die Selbstinszenierung von Trägern dieses Wissens und die Implikationen von deren Tätigkeit gingen im Gegenteil unmittelbar in die Wissensvorräte der Zeitgenossen selbst ein und veranlassten diese, sich mit den Vor- und Nachteilen der ungleichen Wissensdistribution in ihrer Lebenswelt auseinanderzusetzen. Voraussetzung hierfür war freilich, dass man Träger von Sonderwissen als solche benennen, sie mithin als kulturelle Typen identifizieren konnte. Einige wort- und begriffsgeschichtliche Beobachtungen sollen dies im Folgenden verdeutlichen. 1. „Expertus est“: Wissen durch Erfahrung, und wie man es tradieren kann Erst im 19.Jahrhundert entsteht aus der lateinischen Form expertus endgültig die volkssprachliche Bezeichnung für den „expert“, den „Experten“ im heutigen Wortsinn. 75 Nichts wäre daher irreführender, als hinter jeder der sehr zahlreichen mittelalterlichen Verwendungen von expertus (die digitalen Monumenta Germaniae Historica weisen 608 Stellen aus) eine Referenz auf einen Träger von Sonderwissen zu sehen. Die meisten von ihnen sind Verbformen, gehören zum Deponens experiri und besagen damit schlicht, dass jemand etwas erfahren oder versucht hat. 76 Dennoch bietet die Verwendungsgeschichte des Wortes wertvolle Hinweise dafür, wie sich die Zeitgenossen die Relation zwischen Erfahrung, Wissen und deren sozialer Relevanz gedacht haben. So fällt zunächst auf, dass es bei der Verwendung der Wortfamilie von experior bzw. expertus häufig nicht um Einzelerfahrungen, sondern um akkumuliertes Erfahrungswissen geht, also um Wissen, das auf dem Erfahrungsschatz einer Einzelperson beruht, mithin auf einer Menge von Einzelerfahrungen, die in ein und dieselbe Richtung weisen und somit zu Verallgemeinerungen und Urteilen befähigen. Personen werden dann als ‚Speicher‘ und Operatoren solchen Wissens angesehen. Die Bestimmung einer Person als Träger von Erfahrung wird in diesen Fällen fast immer begleitet von der Nennung des Feldes, auf dem diese gewonnen wurde, seien es die
75
S.dazu den Beitrag von Marian Füssel in diesem Band, bei Anm.4.
76
Petrus Damiani an den Erzbischof von Ravenna (1052): „Hanc inquietudinem expertus est Hieu [Jehu,
4. Reg. 10, F. R.], qui divino zelo ductus ad ulciscendos quidem Dei inimicos [...] incanduit.“ Die Briefe des Petrus Damiani. Hrsg. v. Kurt Reindel. T.1. (MGH Briefe der deutschen Kaiserzeit, Bd. 4,1.) München 1983, Nr.40, 410,10.
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menschlichen Leidenschaften 77 oder die Rechtspraxis 78, die Grammatik 79, die Ökonomik 80 oder die Kochkunst: „Magirus, qui et cocus dicitur, expertus sit circa saporum discreciones, ut sciat, quid eligibilius sit in cibariis condiendis“. 81 Ein Bürgermeister kann sich besonders auszeichnen durch seine Erfahrungen in der Kunst, die Waffen zu führen 82, eine ganze Stadt durch ihre militärische Schlagkraft 83, eine dubiose Gestalt durch ihre Versiertheit in der schwarzen Kunst: Herzog Leopold von Österreich habe 1325 einen expertum nigromanticum hinzugezogen, um seinen Bruder Friedrich den Schönen aus seiner Haft zu entführen, berichtet Matthias von Neuenburg. 84 Diese Denkform von der allmählichen Anreicherung von Erfahrung mag im Alltagswissen verankert gewesen sein, doch stand sie überdies im Einklang mit der aristotelisch begründeten Theorie der experientia als einem Resultat aus einer Mehrzahl von Erinnerungen; so etwa bei Thomas von Aquin: „experientia autem fit ex multis memoriis“ 85, ganz ähnlich noch Thomas Hobbes: „memoria multarum rerum expe-
77 Liber Extra, Buch 3, tit. 5, c. 17: Ein Kleriker, „qui saecularium pondus ante suam vocationem sustinuerat passionum, fragilitatem humanae conditionis expertus, fratribus suis melius compati sciret et commodius misereri [...]“. Corpus iuris canonici. Hrsg. v. Emil Friedberg. Leipzig 1881, Bd. 2, Sp.470. 78 Papst Bonifaz VIII. 1302: „Quadraginta anni sunt quod nos sumus experti in iure, et scimus quod duae sunt potestates ordinatae a Deo [...].“ Pierre Dupuy, Histoire du differend d’entre le pape Boniface VIII et Philippe le Bel, Roy de France. Paris 1655, 77. 79 Eide zum Gebrauch an Pariser Grammatikschulen, ins Französische übersetzt, damit auch die Lehrerinnen sie verstehen (ca. 1357): „que nul maistre d’escole ne présume de lire et enseigner les livres de grammaire, se il n’est souffisant et expert gramarien“. Chartularium Universitatis Parisiensis. Hrsg. v. Heinrich Denifle u. Emile Châtelain. Vol.3. Paris 1894, Nr.1713, 658 Nr.13. 80 „[I]n rebus domesticis tractandis, quamquam duodennis, experitissima“; Lexicon Latinitatis Nederlandicae Medii Aevi. 9 Vols. Leiden 1977–2005, hier Vol.3 (1986), Sp.E 563f. (aus Johannes Brugmann, Vita der Hl. Lidwina von Schiedam). 81 Konrad von Megenberg, Ökonomik, Buch 1. Hrsg. v. Sabine Krüger. (MGH Staatsschriften, Bd. 3,1.) Stuttgart 1973, lib. I, tract. 3, cap. 36, S.192, 15. 82 Konrad Vorlauf war laut Thomas Ebendorfer ein „magister civium vir promptus in armis et expertus“; Thomas Ebendorfer, Chronica Austriae. Hrsg. v. Alphon Lhotsky. (MGH SS n.s. 13.) Berlin 1967, 339. 83 Urkunde Barbarossas für die Cremoneser (1155): „Et quia Cremomensis civitas pre cunctis Ytalie urbibus fide et probitate omnique honestate semper florentissima et in rebus militaribus expertissima nobis [...] servivit“; Die Urkunden Friedrichs I. 1152–1158. Hrsg. v. Heinrich Appelt. (MGH Diplomata, Bd. 10,1.) Hannover 1975, Nr.120, 203,30. 84 Die Chronik des Mathias von Neuenburg. Hrsg. v. Adolf Hofmeister. (MGH SS rer. Germ., Bd. 4.) Berlin 1924–1940, 125,11. 85 Thomas von Aquin, Summa theologiae Ia q. 54 art. 5 arg. 2; ders., Summa Theologiae. Hrsg. von der Commissio Piana. Ottawa 1953, S.336a.
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rientia dicitur“ 86. Der Aggregatzustand, den die derart akkumulierte Erfahrung annimmt, ist das Erfahrungswissen – der expertus ist ein sciens. 87 Ausnahmen bleiben die Verwendungen, in denen keine oder doch nur sehr pauschale Bestimmungen des Feldes vorgenommen werden, auf dem die Erfahrung gesammelt wurde: „approbatur iudicio virorum spiritualium et expertorum“; „virum spectabilem et prudentem in multis expertum“. 88 Expertus kann auf diese Weise zu einem Glied in einer Reihe rühmender Epitheta werden: „A noble, loyal, expert et chevalereux seigneur, messire Robert de la Heuse“. 89 Doch die Regel ist, dass es sich wie in den oben genannten Fällen um die Spezial-Expertise des Arztes, Kriegers, Haushälters etc. handelt. Normalerweise wird die Erlangung des Erfahrungsschatzes von einem Zeugen verbürgt, das heißt, dass expertus in aller Regel als Fremdzuschreibung verwendet wird. Ausnahmen von dieser Regel sind selten und damit ebenso auffällig wie die heutige Selbstbezeichnung von Wissensträgern als Experten (der vielgescholtene „selbsternannte Experte“). Die Denkschrift etwa, mit der sich der französische Jurist Pierre Dubois um 1300 selbst als erfahrenen Rechtsbeistand anpreist, sieht die historische Forschung heute als die Talentprobe eines Gelehrten an, der am Hof Philipps des Schönen reüssieren will und daher mit Anpreisungen seiner Kompetenzen nicht gerade geizt: „Qualiter [...] poterit in hoc diu rogavit expertus advocatus regalis, qui hoc opus scripsit“. 90 In einer auffälligen Defensivposition befindet sich ein Pari-
86
Thomas Hobbes, Leviathan, I, cap. 2, in: ders., Opera philosophica Latina. Ed. by William Molesworth.
Vol.3. London 1841, 9. 87
Marsilius von Padua, Defensor pacis. Hrsg. v. Richard Scholz. (MGH Fontes iuris, Bd. 7.) Hannover 1932,
lib. II cap. II § 8, 151: Es geht um eine sehr weite Begriffsbestimmung von „iudex“: iudex ist der, der unterscheidet und erkennt und dann entsprechend ein „iudicium“ spricht. „Quo modo geometer iudex est et iudicat de figuris et ipsarum accidentibus, et medicus de sanis et egris, et prudens de agendis et fugiendis, et domificator de domibus qualiter construendis. Sic quoque omnis sciens aut expertus dicitur iudex et iudicat de scibilibus aut operabilibus suis.“ 88
Lexicon Latinitatis (wie Anm.80), Sp.E 563f.
89
Chartularium (wie Anm.79), Vol.4, Paris 1897, Nr.1957, 244. Ein interessanter Sonderfall ist die Ver-
wechslung von expertus mit expers (‚nicht teilhabend‘, ‚unkundig‘, ‚ungebildet‘ etc.). Sozusagen die Normalbedeutung zeigt das Beispiel: „novus homo et Anglicae consuetudinis penitus expers; abbas expers humani consilii, confisus tamen de divino“. Vgl. dagegen die Abweichung, die auf der Verwechslung von expers mit expertus beruht: „per aliquos idoneos et expertes viros a cancellario deputatos“; „secundum expertes hujus sciencie“. Dictionary of Medieval Latin from British Sources. Ed. by Ronald E. Latham and David R. Howlett. 2 Vols. London 1975–1997, hier Vol.1, 857f. 90
Petrus de Bosco (Pierre Dubois), Summaria brevis et compendiosa doctrina felicis expedicionis et abbre-
viacionis guerrarum ac litium regnis Francorum. Hrsg. v. Hellmut Kämpf. (Quellen zur Geistesgeschichte
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ser Jude, der sich vor dem Parlament wegen seiner ärztlichen Tätigkeit gegen die medizinische Fakultät, den königlichen Prokurator und die ganze Universität zur Wehr setzen muss: „Macé dist que il est bon médecin et bien expert.“ 91 Eine abermalige Intensivierung des normalen Begriffsgebrauchs liegt in den Fällen vor, in denen expertus gänzlich substantiviert wird. So spricht der Chronist Matthaeus Paris zum Jahr 1253 von einem Mönch namens Wilhelm, „qui tanquam expertus in pericia transalpinandi“ nach Rom geschickt wurde. 92 In Göttingen wirkt in den 1370er oder 1380er Jahren ein Robertus de Autumpno, der ein „magnus in astronomia expertus de Anglia“ gewesen sei. 93 Und nachdem in Paris 1384 eine Lade von Dieben aufgebrochen wurde, beschloss man, diese „juxta ordinem artificum aut expertorum“ mit besseren Verschlüssen versehen zu lassen. 94 Einen nochmals höheren Grad von Bedeutungs-Aufladung erreicht expertus (hier freilich nicht als Substantiv) dort, wo es als Charakterisierung einer Person deren totale soziale Identität einfangen soll: Man beginnt zu Beginn des 15.Jahrhunderts, Albertus Magnus als den doctor expertus zu bezeichnen. 95 Schließlich ist zu fragen, wann – in der Verlängerung dieses Verdichtungsprozesses – der Sprachgebrauch auf die moderne Denkform des Experten im Sinne eines Sachverständigen oder Spezialisten vorausweist, der im Kontext einer ausdifferenzierten Wissensdistribution im Dienst eines gedachten Ganzen Spezialwissen zur Verfügung stellt. Hiernach zu suchen, heißt, nach institutionellen Verstetigungen solchen Sprechens zu suchen. Einschlägig ist dabei die Rede vom sachverständigen Zeugen vor Gericht. Hier kann man ein erhebliches performatives Moment in der Herstellung von Expertise annehmen, denn der Sachverstand der Zeugen wird durch Vereidigung gesichert. Als vor dem Pariser Parlament 1367 ein Konflikt zwischen Scholaren und Städtern untersucht wurde, ließ man die verletzten Hochschulangehörigen „per medicos seu cirurgicos juratos et in talibus expertos“ unterdes Mittelalters und der Renaissance, Bd. 4.) Leipzig/Berlin 1936, 24. Zu dieser Edition vgl. Friedrich Baethgen, Bemerkungen zu der Erstlingsschrift des Pierre Dubois, in: MIÖG 58, 1950, 352–372. 91 Chartularium Universitatis Parisiensis (wie Anm.79), Vol.3, Nr.1595, 545. 92 MGH SS 28 (1888), 440,13. 93 Goswin von der Ropp (Hrsg.), Göttinger Statuten. Akten zur Geschichte der Verwaltung und des Gildewesens der Stadt Göttingen bis zum Ausgang des Mittelalters. (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens, Bd. 25.) Hannover/Leipzig 1907, XXV. 94 Chartularium Universitatis Parisiensis (wie Anm.79), Vol.3, Nr.1484, 318. 95 Franz Ehrle, Die Ehrentitel der scholastischen Lehrer des Mittelalters. (SB Bayer. Akad., Philos.-philol. u. hist. Kl., Bd. 9.) München 1919, Nachweise auf S.38 (I, 21: doctor expertus Albertus Magnus), 42 (II, 38: Doctor expertus magnus Albertus), 44 (III, 26: Doctor expertus Magnus Albertus).
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suchen. 96 Im folgenden Abschnitt, wo es um den Begriff peritus gehen wird, wird dieser Aspekt noch deutlicher werden. Expertus ist ein emphatischer Begriff, seine Verwendung ist positiv konnotiert und scheint die Spezifik derjenigen Ehre festzustellen, die dem konsultierten Wissensträger zukommt. Solche Ehrbarkeitssignale waren sicher dort besonders wichtig, wo es darum ging, heikle, gar intime Sachverhalte durch Zeugenaussagen zu ermitteln. Matronen, die als sachverständige Zeuginnen die Jungfernschaft einer Frau zu untersuchen haben, werden in einer Dekretale Papst Honorius’ III. als „bonae opinionis, fide dignis, ac expertis in opere nuptiali“ bezeichnet. 97 Dasselbe gilt für Männer, die auf peinlich verschwiegenen Wegen die Zeugungsfähigkeit des Ehemanns zu untersuchen haben: „Dic virum inspiciendum [est] per homines expertos et honestos“. 98 Selbst die Probe der Erektionsfähigkeit, die vor englischen Gerichten in Eheauflösungsverfahren anberaumt werden konnte, wurde nominell von ehrbaren Frauen, faktisch aber von Prostituierten vorgenommen, die die Erregung oder Nichterregung vor dem Richter bezeugen sollten. 99 Bei derlei Ehrbarkeits- und ExpertiseEtikettierungen ging es offenbar darum, den epistemischen Status der erlangten und urteils-relevanten Kenntnisse festzulegen: Das Urteil sollte auf wahren Tatsachenermittlungen beruhen, wobei die Wahrheit durch den Experten- (und damit den Ehrbarkeits-) Status der Zeugen verbürgt wurde. Expertise dieser Art, so die allgemeine Vorstellung, stellte sich im Laufe eines Menschenlebens ein, der idealtypische Erfahrungsträger war alt an Jahren: „quia senex erat et expertus ad docendum“. 100 Auch diese Common-sense-Annahme wurde
96
Chartularium Universitatis Parisiensis (wie Anm.79), Vol.3, Nr.1340, 173.
97
Liber Extra, Buch 4, tit. 15, c. 7 „Vos vero, ne id forte confiterentur in fraudem, a matronis bonae opi-
nionis, fide dignis ac expertis in opere nuptiali, dictam fecistis inspici mulierem, quae perhibuerunt testimonium, ipsam adhuc virginem permanere.“ Corpus iuris canonici. Hrsg. v. Emil Friedberg. Leipzig 1878, Bd. 2, Sp.707. 98
Summa Aurea, zit. nach Richard H.Helmholz, Marriage Litigation in Medieval England. Cambridge
1974, 88. 99
Ebd.89 Anm.53: „Ipsa iurata ostendebat mammillas suas denudates [sic] ac manibus suis ad dictam ig-
nem calefactis virgam et testiculos dicti Johannis palpavit et tenuit ac eundem Johannem amplexabatur et sepius osculabatur ac eundem Johannem ad ostendum virilitatem et potentiam suam in quantum potuit excitavit, precipiendo sibi quod pro pudore tunc ibidem probaret et redderet se virum. Et dicit examinata et diligenter requisita quod toto tempore supradicto predicta virga vix fuit longitudinis trium pollicium [...], absque incremento vel decremento aliquali permanens.“ 100 Lexicon Latinitatis (wie Anm.80), Sp.E 563f.
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durch die zeitgenössische Theorie des Erfahrungswissens gedeckt, denn, so Marsilius von Padua (der damit Aristoteles nach Thomas von Aquin zitiert): „iuvenis [...] expertus non est; multitudo enim temporis faciet experienciam“. 101 Folgerichtig betont die Polemik gegen zu junge und unerfahrene Verfasser einer Schrift aus dem Jahr 1394, dass die betreffenden Pariser Magister „juvenculi, inexperti et inpracticati“ und überdies Schwarmgeister seien, „sectatores poetice vanitatis“. 102 In welchem Verhältnis der so imaginierte expertus zum gelehrten Wissen steht, wird ebenfalls im Folgenden bei der Betrachtung von peritus deutlicher werden. Grundsätzlich hält man es für möglich, dass jemand Erfahrungen aus Büchern statt der empirischen Wirklichkeit bezieht. So ist es beispielsweise zu verstehen, wenn Johann von Viktring zum Jahr 1322 von einem Magister Bartholomaeus als einem „in medicinalibus et aliis facultatibus expertus“ spricht. 103 Bei der Bezeichnung gelehrten Wissens kann expertus verwendet werden, um Wissen, das lediglich durch Universitätsstudium ohne Graduierung verbürgt ist, abzusetzen von solchem, das zusätzlich durch den akademischen Grad des Wissensträgers geadelt wurde: Ein Kardinal solle „ein doctor legum und in theoloya expertus und in iure canonico“ sein, heißt es in der „Reformation Kaiser Siegmunds“. 104 Diese absteigende Reihung von Graduierung und Expertise ist vor dem Hintergrund der nur allmählichen Durchsetzung der Graduierung als Norm des Universitätsbesuchs zu verstehen. Schon der reine Aufenthalt an einer Universität galt lange, für Laien bis ins 15.Jahrhundert hinein, als Qualitätsausweis, erst mit dem Ansteigen der Immatrikulationszahlen und dem damit einhergehenden Konkurrenzdruck wurde die Graduierung allmählich zum
101 Marsilius von Padua, Defensor (wie Anm.87), cap. XI, § 3, 55,12. Es geht in der gesamten Textstelle um das Verhältnis von experientia und prudentia! 102 Chartularium Universitatis Parisiensis (wie Anm.79), Vol.3, Nr.1683, 624 im editorischen Apparat. 103 Johann von Viktring, Liber certarum historiarum. Hrsg. v. Fedor Schneider. (MGH SS rer. Germ. 36.) Hannover/Leipzig 1910, Bd. 2, 82,15. Vgl. „in negociis maxime secularibus [...] expertus“; „litterarum scienciis peritus, in spiritualibus et temporalibus expertus“; Lexicon Latinitatis (wie Anm.80), Sp.E 563f. 104 Reformation Kaiser Siegmunds. Hrsg. v. Heinrich Koller. (MGH Staatsschriften, Bd. 6.) Stuttgart 1964, 135,39 Anm.m zu Variante L. Lesart M gibt die Stelle so wieder: „sol ein doctor legum sein und in teolya [!] exparttus [!], daz ist, er sol in der heyligen geschrifft bewertt sein und auch in iure cononico [!], das ist in geistlichen rechten.“ Im Deutschen ist der „Experte“ wahrlich noch ein Fremdwort! S. dazu unten bei Anm.110. Hier wird also unterschieden zwischen der formalen Qualifikation des Doktorgrades im römischen Recht und einer Versiertheit (er hat „bewertt“ zu sein) in der Theologie. Vgl. Lesart N: „ein byschoff soll auch ein doctor sein der heyligen geschrifft, in theoloya bewert und auch in decretis“. Lesart V: „ain cardinal sol sein ain doctor der gesatzt und der heiligen geschrifft gewert und in den rechten“.
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Erfordernis. 105 Das Wort expertus diente dazu anzuzeigen, dass es neben dem Magister- oder Doktorgrad noch weitere Kompetenzen gab, die durch entsprechende Erfahrung verbürgt waren. Folgerichtig konnte man von Medizinstudenten sprechen, die noch nicht graduiert waren, aber dennoch bereits praktische Erfahrung hatten: „pro non graduatis, quia se dicto exercitio immiscuerunt, licet in hac sint experti“. 106 Im Spiegel des Pariser Universitätsschrifttums waren es die Träger medizinischen Wissens, die am häufigsten in diesem Sinne als experti bezeichnet wurden – offenbar, weil hier die Relation zwischen studierten bzw. graduierten und außeruniversitären Wissensträgern immer prekär war. Dies führte dazu, dass die akademischen Mediziner – offenbar ausgelöst durch diesen Konkurrenzdruck – als experti bezeichnet wurden. Im Jahr 1352 beklagt sich die Medizinische Fakultät der Pariser Universität bei König Johann darüber, dass in der Hauptstadt ungelehrte Männer und Frauen – alte Weiblein, Konversen, Bauern, Apotheker und Kräuterhändler – als Ärzte tätig seien; dies geschehe „in dictorum supplicantium, scientie medicine et expertorum in ea irrisionem, prejudicium et gravamen“. 107 Dass gelehrtes Wissen durch Studium erworben wurde, kann auf der anderen Seite durchaus dazu führen, dass man es als steriles Buchstabenwissen abqualifiziert – das Klischee von der ‚bookishness‘ des Gelehrtenwissens arbeitet mit einer emphatischen Vorstellung des unmittelbaren Erfahrungswissens. Dieser Verwendungsweise gemäß raubt das Studium diejenigen Energien, die man besser auf die Erlangung einer ‚authentischen‘, empirisch fundierten Expertise hätte aufwenden können. So sagt man, dass der Kölner Erzbischof Friedrich von Saarwerden (gest. 1414) auf das Regieren schlecht vorbereitet gewesen sei und dass ihm die einschlägige Erfahrung gefehlt habe („non foret admodum expertus“), da er seine ganze Jugend an Hochschulen verbracht habe. 108 Für den (selber hochgelehrten) Bernard Gui (gest.
105 Rainer Christoph Schwinges (Hrsg.), Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16.Jahrhunderts. (ZHF, Beih. 18.) Berlin 1996, dort z.B. 17, 20 (Schwinges), 81 (Svatoš), 197 (Miethke), 216 (Nowak), 229, 247 (Willoweit), 284 (Männl), 298 (Müller), 371 (Kintzinger). 106 Chartularium Universitatis Parisiensis (wie Anm.79), Vol.3, Nr.1360, 191. 107 Ebd.Nr.1211, 16. 108 „Qui licet in mundanis, prout tanti principatus sollicitudo requirit, non foret admodum expertus, cum tota sue iuventutis tempora in studiis sollempnibus, videlicet Parysius et Aurelianis commendabilis sciencie iuris canonici, in qua facultate licenciatus, extitit.“ Die Weltchronik des Mönchs Albert 1273/77–1454/56. Hrsg. v. Rolf Sprandel. (MGH SS rer. Germ. N.S., Bd. 17.) München 1994, 256, 300f. Vgl. zu Walram von Jülich (gest. 1349) die Chronica presulum et archiepiscoporum Coloniensis. Hrsg. v. Gottfried Eckertz, in: Fontes adhuc inediti rerum Rhenanarum. Köln 1864, 39.
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1331) ist die Ansicht, dass Gelehrtenwissen ihren Träger praxis-untauglich machen kann, ein wichtiger Anlass, sein Inquisitorenhandbuch zu schreiben. Er ist überzeugt davon, dass konventionelle Gelehrte, und seien sie auch noch so gebildet, der Verschlagenheit der Ketzer, die es zu überführen gilt, nicht gewachsen seien, ja dass diese rauhen Gesellen während der Befragung Katz und Maus mit ihnen spielten. Daher will er mit seinem Handbuch eine maßgeschneiderte Inquisitions-Kompetenz vermitteln, die es dem Inquisitor ermöglicht, die Raffinesse der Verdächtigen zu durchschauen und für „Manichäer“, Waldenser, Pseudo-Apostel und Beginen die jeweils angemessene Befragungsstrategie auszuwählen. 109 Die Übernahme des Wortes in die Volkssprachen ist abhängig davon, wie nah oder fern diese dem Lateinischen stehen. Im Deutschen bleibt es im Wesentlichen bei der Übernahme der Abstracta experientia bzw. experimentum in den Formen „experienz“ bzw. „experiment“ 110; doch im Englischen, wo man direkt aus dem Anglonormannischen schöpfen kann, finden sich praktisch alle oben genannten Aspekte der Verwendung: der Nexus zwischen Alter und Erfahrungswissen 111, die Expertise auf den klassischen Wissensfeldern, handele es sich um das höhere Wissen 112, Militaria 113, die Jagd 114, den Handel 115, die Musikpraxis 116 – und abermals ganz beson-
109 Bernard Gui, Manuel de l’inquisiteur. Ed. par Guillaume Mollat. (Les classiques de l’histoire de France au Moyen Age, Vol.8/9.) Paris 1964, Vol.1, 4–6: „Set quia moderni heretici querunt et nituntur latenter palliare errores suos magis quam aperte fateri, ideo viri litterati per scientiam Scripturarum non possunt eos convincere, quia per fallacias verborum et per excogitatas astutias dilabuntur“; 6: „videntes quod viri litterati sic a personis rudibus et vilibus illuduntur“. Ebd.8 die Konsequenz daraus. Dabei spricht Gui auch von der experientia, von der sich ein sapiens inquisitor leiten lassen soll. 110 Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung. Bd. 8 (1999), Sp.2509f.: Wohl 13.Jh., chirurgischer Traktat: „die ertzt vahen an zuheiln die wuntten nach seiner expergentz“; Handschrift aus der 2. Hälfte des 15.Jh.s: „so will ich anvahen das groß werck, das geheissen wirt die volkumende kunst der ertzeney, [...] die gearbeit ist durch mich mitt langer zeit vnd experyentz“; 1456 Thüring von Ringoltingen: „daby man prüfen mag, das düse materie durch ir experyentz bewiset, das die hystorien war“; 1500 Brunschwig: „vnd ob du kein artztet haben magst, will ich dir offenbaren aquam vite, in dem ich groß tugent vnd krafft erfunden hab durch mein vnd andere experiment“. 111 Alle folgenden Belege nach dem Middle English Dictionary. Part E3. Ann Arbor 1953, 339f.: Chaucer: „Youre freendes that ben of age, swiche as han seighen and ben expert in manye thynges.“ 112 Ebd.Gower: „Aristotle [...] wys and expert in the sciences“. 113 Ebd.Lydgate: „In actis marcial Ful wel experte“. 114 Ebd.Ranulph Higden-Übersetzung: „Experte [im lateinischen Text an der Stelle: praecipuus] in the arte of huntynge, and specially in geometry“. 115 Rotuli Parliamentorum zu 1433: „Brocours aliens yat been now so prive and expert of Merchandises“. 116 Ranulph Higden-Übersetzung: „Men of Irlonde be experte specially in ij kyndes of musike“.
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ders die Medizin, wobei es hier die Rezeptur bzw. die Behandlung ist, die als „experte“ bezeichnet wird. 117 2. „Peritus“ Expertus kann also einerseits durchaus auf den spezifischen Erfahrungsschatz des Gelehrten oder des Studierten verweisen, andererseits aber im beschriebenen Sinn so eingesetzt werden, dass ein Spannungsverhältnis zwischen der ‚bookishness‘ des Gelehrten und der Lebensnähe des praxisrelevanten Wissens angezeigt wird (wobei expertus dann für das Letztere steht). Eng verwandt damit, aber etwas mehr dem durch Studium erlangten Wissen zugewandt, ist peritus. Ein Literaturverzeichnis aus dem letzten Viertel des 13.Jahrhunderts bezeichnet Fulbert von Chartres als „liberalium artium peritissimus“, Anselms von Canterbury „peritia“ wird gelobt, ebenso die „dialecticae peritia immo omnium liberalium artium“. Simon von Tournai sei „omnium liberalium artium fere sui temporis peritissimus“, Alexander von Hales „liberalium artium et sacrae scripturae peritissimus“, Heinrich von Brüssel ein „calculatoriae artis peritus“. 118 An die Franziskaner und Dominikaner ergeht 1266 die Anweisung, keine neuen Ansichten zu vertreten und nichts zu publizieren, was nicht vorher „per fratres peritos“ überprüft worden sei. 119 Wer wissen wolle, ob der Breisgau alemannisch sei oder nicht, müsse sich an die Mittelalter-Experten wenden, die „mediae aetatis temporum periti“, meint der Schweizer Humanist Joachim Vadianus um 1537. 120 Im gelehrten Recht, wo der Begriff früh (d.h. noch vor dem Wandel des Begriffs doctor von einer Tätigkeitsbezeichnung zu einem akademischen Grad) in den Formen legis peritus und iurisperitus Verwendung findet, wird er zunächst synonym zu doctor, doctus oder causidicus verwendet. 121 117 Chauliac: „Desiccatiuez appropriate & experte by maistrez; Arderne: the medicine schalbe the more expertere [!] in werkynge“. 118 Nikolaus Haering, Two Catalogues of Mediaeval Authors, in: Franciscan Studies 26, 1966, 195–211. 119 Jürgen Miethke, Gelehrte Ketzerei und kirchliche Disziplinierung. Die Verfahren gegen theologische Irrlehren im Zeitalter der scholastischen Wissenschaft, in: Hartmut Boockmann/Ludger Grenzmann/ Bernd Moeller (Hrsg.), Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. T.2. (Abh. der Akad. Göttingen, Philol.-hist. Kl., 3. F., Bd. 239.) Göttingen 2001, 9–45, 41. 120 Peter Schaeffer, The Emergence of the Concept ‚Medieval‘ in Central European Humanism, in: The Sixteenth Century Journal 7, 1976, 21–30, 25f. 121 Johannes Fried, Die Entstehung des Juristenstandes im 12.Jahrhundert. Zur sozialen Stellung und politischen Bedeutung gelehrter Juristen in Bologna und Modena. (Forschungen zur neueren Privatrechtsgeschichte, Bd. 21.) Köln/Wien 1974, 9–24; vgl. Lauro Martines, Lawyers and Statecraft in Renaissance Florence. Princeton 1968, 30. Ein und dieselbe Person heißt in einer Urkunde von 1169 zunächst legis doctor,
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Dabei bleibt es allerdings nicht. Mit dem römisch-kanonischen Prozessrecht und der mit ihm einhergehenden Aufwertung der Zeugenaussagen vor Gericht wird peritus zur dominierenden Bezeichnung für die Abhebung sachverständiger von normalen Zeugen, d.h. von Zeugen, deren beeidete Aussage aufgrund ihres besonderen Wissens ein für den Richter besonders willkommenes, aber auch bindendes Fundament der Urteilsfindung ist. Peritus ist dabei nicht etwa der Zeuge, der über die Identität eines Toten aussagt, sondern ein Träger von Fachwissen. Wegen seines Wissens- und Erfahrungsschatzes ist er in besonderer Weise befähigt, ausgehend von Einzelbeobachtungen richtige Schlüsse zu ziehen. Auf diese Kompetenz im Schließen legt Bartolus von Saxoferrato in seinem Traktat über den Zeugen besonderes Gewicht, wenn es um den forensischen Sachverständigen bzw. den sachverständigen Zeugen geht. 122 Die Ansicht, dass es Wissen gibt, nach dem man nur eine bestimmte, hierfür ausgewiesene Art von Zeugen befragen darf, ist für das Denken des Bartolus konstitutiv. 123 Der archetypische peritus ist dabei vor Gericht abermals der medizinische Experte; doch auch andere Gewerbe sind denkbar, entscheidend ist die artis peritia. 124 So zieht das Gericht von Manosque (Provence) chirurgi, physici und medici als Gutachter zu den Prozessen explizit „juxta ipsorum artis peritiam medicine“ hinzu. 125 Erwartet wird dann von ihnen, dass sie ihre Sachverständigen-Aussagen unter Eid abgeben. Umgekehrt beklagt man vor Gericht einen vermeintlichen Scharlatan gerade deshalb, weil „propter imperitiam ipsius“ der Patient zu Schaden gekommen sei. Schließlich veranlasst man ihn, seine Inkompetenz einzugestehen: „Interrogatus si est peritus in surgia, dixit quod non“. 126 dann legis peritus, s. Fried, Entstehung, 21. Die Rede vom iurisperitus ist freilich älter als das wieder-‚entdeckte‘ gelehrte Recht. Schon Augustinus empfiehlt: „Qui [...] habent causam, et volunt supplicare imperatori, quaerunt aliquem scholasticum jurisperitum, a quo sibi preces componantur“. Augustinus, In Joannis evangelium tractatus 124, in: MPL 35, 1379–1975, hier 1442. 122 Lepsius, Richter (wie Anm.37); vgl. dies., Von Zweifeln zur Überzeugung. Der Zeugenbeweis im gelehrten Recht ausgehend von der Abhandlung des Bartolus von Sassoferrato. (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 160.) Frankfurt am Main 2003. 123 Lepsius, Richter (wie Anm.37), 150. 124 Ebd.146: Eine Oberfläche zu messen, war Experten vorbehalten, und der Richter habe diese zu einer genauen Bestimmung aufzufordern: „Hoc quidem non omnibus notum est, sed consistit in artis peritia. Ideo si res, de cuius quantitate queritur, haberi potest, est per iudicem menssoribus committenda.“ 125 Joseph Shatzmiller (Ed.), Médecine et justice en Provence médiévale. Documents de Manosque, 1262– 1348. Aix-en-Provence 1989, 130 Nr.33 (1314). 126 Ebd.113f. Nr.26 (1310).
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VII. Expertenkulturen als Gegenstand künftiger Forschungen So fundamental auch das jüngere Interesse der historischen Kulturwissenschaften an Wissensformen der Vergangenheit ist, so anspruchsvoll (mitunter auch problematisch) sind die Versuche von Wissenschaftlern, einen strategischen Zugang zum Thema zu finden, der der Universalität des Paradigmas ‚Wissen‘ gerecht wird, ohne in Beliebigkeit zu münden. Die Konzentration der Interessen auf die spezifische Kommunikationssituation zwischen den Experten und ihren Klienten hat sich bereits als eine willkommene Engführung solcher Zugänge erwiesen: Sie ermöglicht, die Fundamentalgröße ‚Wissen‘ in der – gut beschreibbaren – Wissens-Differenz zwischen Ratsuchenden und Trägern von Know-how zu fassen und dabei die Strategien der Selbst- und der Fremdpräsentation auf beiden Seiten im Auge zu behalten. Sie fragt nach der sozialen Relevanz der Experten und gleichzeitig nach den Verlustgefühlen und Ressentiments, die deren Unverzichtbarkeit in zentralen lebensweltlichen Belangen mit sich bringen. Und sie behält die utopischen Dimensionen des Denkens über die res publica im Blick, insofern die Entwürfe einer besseren, in ihrer Wissensdistribution vereinfachten Welt mit ihrer Hilfe besser verstanden werden können.
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Der Fahnenflüchtige lässt sich krönen Petrarca und die Anfänge der humanistischen Kritik am Experten von Matthias Roick
Die humanistische Bewegung nimmt in der Geschichte der vormodernen Expertenkulturen eine zentrale, wenn auch nicht immer leicht zu durchschauende Stellung ein. Im Grunde reagiert sie auf den tiefgreifenden Wandel, der im 12.Jahrhundert seinen Anfang nimmt und – unter Berufung auf im Entstehen begriffene Wissenstechniken wie das römische Recht und die scholastische Philosophie – neue Formen wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Organisation mit sich bringt. 1 Gerade innerhalb dieses Wandels findet aber die Geburt des Experten statt, in dessen Figur die neu entstehenden Konstellationen von Wissen und Macht ihren eigentlichen Ausdruck finden. Auf den ersten Blick ist nicht schwer zu sehen, wie die Humanisten zu dieser Figur stehen: Von Anfang an erheben sie den Anspruch, eine bessere Alternative zu den Expertenkulturen ihrer Zeit darzustellen und konkurrieren mit ihnen um die Schlüsselpositionen der neuen Wissenskulturen an den Universitäten, Höfen, der Kurie und in den Städten – und das mit großem Erfolg: „Humanism swept Italian society in the Quattrocento, to be followed by overwhelming success throughout Europe in the sixteenth century.“ 2 Ein Schlüssel zu diesem Erfolg der Humanisten liegt, wie Gerrit Walther treffend schreibt, in ihrer Fähigkeit, die herrschende kirchlich-theologische und juristische Kultur radikal zu vereinfachen, so dass sie auch für ‚dilettantische Laien‘ verfügbar wird: „Der Humanismus siegte, weil er so simpel war. [...] Er schuf einen kulturellen Code, der einfach genug war, dass ihn auch solche Leute verstehen und handhaben konnten, die weder theologisch noch juristisch gebildet waren“. 3 Mit Frank Rexroth könnte man auch sagen, dass die Humanisten dem „Verlangen nach einer Heilung
1 James Hankins, Humanism, Scholasticism, and Renaissance Philosophy, in: ders. (Ed.), The Cambridge Companion to Renaissance Philosophy. Cambridge 2007, 30–48, hier 33. 2 Robert Black, Humanism, in: Christopher Allmand (Ed.), The New Cambridge Medieval History. Vol.7. Cambridge 1998, 243–277, hier 273. 3 Gerrit Walther, Funktionen des Humanismus. Fragen und Thesen, in: ders./Thomas Maissen (Hrsg.),
oldenbourg DOI 10.1524/9783486717952.45
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der Welt“ entgegenkommen – allerdings nicht, indem sie die Figur des Experten, sondern die des Laien stark machen. 4 Natürlich ist der Laie hier – ebenso wie der Experte – als analytischer Begriff zu verstehen, der den Blick auf die sozialen Dynamiken lenkt, die den neuen Wissenskulturen zu Grunde liegen: Als Expertenkulturen entwickeln sie ein Sonderwissen, das sie organisieren, verwalten und in seinem Zugang regeln. Komplementär entsteht ein neues Laientum, dem dieses Wissen nicht mehr verfügbar ist und das nicht über entsprechende Fertigkeiten verfügt, obwohl dieses Wissen und diese Fertigkeiten – zumindest, was deren Rechtfertigungsstrukturen angeht – dem Allgemeinwohl dienen sollen. 5 Dieser neue Grenzverlauf sorgt für Spannungen und erzeugt einen „dialogischen Widerspruch“, den Frank Rexroth als eine der treibenden Kräfte in der Beziehung zwischen Laien und Experten ausmacht: Auf der einen Seite ist der Laie auf den Experten angewiesen und muss sein Vertrauen in ihn setzen, da er in einer Welt lebt, die in ihrer Komplexität seinen eigenen Wissenshorizont übersteigt; auf der anderen Seite tragen die Experten zu dieser Komplexität bei und werden dadurch zur Zielscheibe einer beständigen Kritik, in der sich das Unbehagen an einer immer komplizierter werdenden Welt ausdrückt. 6 Genau an diesem Widerspruch setzt die Kritik der italienischen Humanisten ein. Denn das Ziel der humanistischen Bildung ist – ihrem Selbstverständnis nach – nicht der Experte, sondern der verantwortungsvolle Laie, der Mensch als Handelnder: Guarino da Verona eröffnet seinen Kurs zu „De officiis“ (1422) mit der rhetorischen Frage, was es wohl Besseres geben könne als diejenigen Künste, Vorschriften Funktionen des Humanismus. Studien zum Nutzen des Neuen in der humanistischen Kultur. Göttingen 2006, 9–17, hier 14. 4 Frank Rexroth, Expertenweisheit. Die Kritik an den Studierten und die Utopie einer geheilten Gesellschaft im späten Mittelalter. (Freiburger mediävistische Vorträge, Bd. 1.) Basel 2008, 19. 5 Im Folgenden bleibt weitgehend ausgeklammert, dass sich die Rede von expertise besonders im englischsprachigen Bereich auch auf handwerkliche Fertigkeiten (skills) im weitesten Sinn bezieht, die eine recht genaue Entsprechung im Begriff der ars haben. In Bezug auf eine solche Definition von Expertise können in der Kognitionspsychologie z.B. Schachspieler und Geigenvirtuosen als ein Standardfall des Experten gesehen werden, in der Anthropologie ein melanesischer Kanubauer. Eine neuere soziologische Untersuchung, die einige Aspekte dieser Art von Expertentum verfolgt, liegt vor in Richard Sennett, The Craftsman. New Haven/London 2008. In einer weit ausgreifenden historischen Perspektive untersucht die Beziehung zwischen artes und anderen Wissenformen Pamela O. Long, Openness, Secrecy, Authorship: Technical Arts and the Culture of Knowledge from Antiquity to the Renaissance. Baltimore 2001. 6 Rexroth, Expertenweisheit (wie Anm.4), 20.
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und Kenntnisse, die uns in die Lage versetzten, uns selbst, unseren Hausstand und unsere öffentlichen Geschäfte zu führen. 7 Die Beschäftigung mit den bonae litterae beschränkt sich in dieser Sicht nicht auf einzelne Fachkenntnisse wie Grammatik und Rhetorik, sondern stellt den Anspruch, eine Anleitung zum guten Leben geben zu können und räumt somit der Moralphilosophie eine zentrale Stellung innerhalb der studia humanitatis ein. 8 Allerdings ist der humanistische Ruf nach Einfachheit und Laientum in sich selbst alles andere als einfach und laienhaft gestrickt. Wie unter anderen Thomas Maissen deutlich gemacht hat, erhöht sich mit den Humanisten die Komplexität der möglichen Weltdeutungen, wenn sie die Antike als Gegenmodell zur eigenen Gegenwart stilisieren. 9 Der Rückgriff auf die Antike, dessen sich die Humanisten bedienen, mag zwar den Eindruck von Einfachheit vermitteln, stellt aber in sich ein äußerst komplexes Vorgehen dar, das den Abgleich verschiedener Autoritäten und Traditionen erfordert. 10 Während also über die kritische Haltung der Humanisten kein Zweifel bestehen kann, sind die Einzelheiten ihrer Kritik und die von ihnen entwickelten Alternativen, die sich aus einem solchen Abgleich ergeben, oft weniger einsichtig. So ist spätestens seit den Arbeiten von Anthony Grafton und Lisa Jardine bekannt, wie wenig haltbar der Anspruch der Humanisten auf ein für die Lebensführung wichtiges Wissen bereits in der Praxis des humanistischen Schulunterrichts war. 11 Und doch, die humanistische „Übernahme der Kompetenz für Moralphilosophie“, von der Sabrina Ebbersmeyer treffend spricht, stellt den vielleicht wichtigsten Zug der humanistischen Bewegung im Spiel um Glaubwürdigkeit und Erfolg dar. Sie versorgt die Humanisten nicht nur, wie Ebbersmeyer es will, mit einem neuen
7 „Nam quid praestabilius cogitare et consequi possumus, quam eas artis [lies: artes] ea praecepta eas disciplinas, quibus nos ipsos quibus rem familiarem quibus civilia negotia regere disponere gubernare liceat.“ Zitiert nach Remigio Sabbadini, La scuola e gli studi di Guarino Guarini Veronese. Catania 1896, 182. Vgl. zu diesem Zitat Anthony Grafton/Lisa Jardine, From Humanism to the Humanities. Education and the Liberal Arts in Fifteenth- and Sixteenth-Century Europe. London 1986, 2. 8 Zur zentralen Bedeutung der Moralphilosophie für die Humanisten und ihre Einordnung in die studia humanitatis vgl. Eckhardt Keßler, Die Philosophie der Renaissance. Das 15.Jahrhundert. München 2008, 18f. 9 Thomas Maissen, Schlußwort. Überlegungen zu Funktionen und Inhalt des Humanismus, in: Walther/ Maissen (Hrsg.), Funktionen des Humanismus (wie Anm.3), 396–402, hier 401. 10 Ebd.400. 11 Zu Guarino siehe Grafton/Jardine, From Humanism to the Humanities (wie Anm.7), 1–28.
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Stil in der Philosophie, der sich von dem ‚professionellen‘ Stil des Philosophierens an den Universitäten abhebt, sondern auch mit einem, Walthers Worte aufgreifend, „kulturellen Code“, der sich für ein Laienpublikum als eingängig und sinnvoll erweist. 12 Anders als manchmal behauptet ist dieser Code weit davon entfernt, eine Ansammlung von „moralistic platitudes and banalities“ darzustellen. 13 Eine solche geringschätzige Haltung scheint sich zum einen aus der seit einiger Zeit diskreditierten, wenn auch eingängigen Annahme zu ergeben, man könne die moralischen Ideale von Akteuren unberücksichtigt lassen, sobald man sie als ‚ideologische‘ Konstrukte entlarvt hätte. 14 Zum anderen mag sie sich von der anthropologischen Annahme herleiten, die eigentlichen Beweggründe menschlichen Handelns seien allein im jeweiligen ‚Eigeninteresse‘ der Handelnden zu suchen, das keiner weiteren Historisierung bedürfe. 15 Gerade um diese Historisierung geht es aber. Die Begrifflichkeit, derer sich die Humanisten bedienen, um sich als Laien darzustellen, deutet die etablierten Grenzverläufe zwischen Experte und Laie, zwischen litteratus und illiteratus um, verhandelt sie neu und besetzt sie mit einer andersartigen Wertigkeit. Denn die Antwort
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Sabrina Ebbersmeyer, Homo Agens. Studien zur Genese und Struktur frühhumanistischer Moralphilo-
sophie. Berlin 2010, 69. Noch David Hume wird von einer Moralphilosophie reden, die ihre Themen „in leichter und einleuchtender Weise“ behandelt. David Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Stuttgart 1967, 17. Anders verhält es sich mit der modernen Moralphilosophie. Nach Peter Singer erfordern schwierige moralische Entscheidungen einen eigens ausgebildeten Moralexperten, der eine größere Autorität als das Laienpublikum besitzt: „the philosopher’s training makes him more than ordinarily competent in assessing arguments and detecting fallacies. He has studied the nature of moral concepts, and the logic of moral argument“; Peter Singer, Philosophers are Back on the Job. The New York Times Magazine, 7.Juli 1974, 19. Gegen diese Auffassung wendet sich mit aller Vehemenz Richard Rorty, der die Zugänglichkeit des moralischen Vokabulars auch und gerade für ein Laienpublikum vertritt: „concepts like ‚right‘, ‚ought‘, and ‚responsible‘ are not technical concepts, and it is not clear what special training could enable you to grasp the uses of these words better than do the laity“; Richard Rorty, Philosophy as Cultural Politics. (Philosophical Papers, Vol.4.) Cambridge 2007, 185. 13
Black, Humanism (wie Anm.2), 275.
14
Zu dieser Problematik vgl. Quentin Skinner, Moral Principles and Social Change, in: ders., Visions of Po-
litics. Vol.1: Regarding Method. Cambridge 2002, 145–157; Kari Palonen, Quentin Skinner. History, Politics, Rhetoric. Cambridge 2003, 47ff. 15
Gegen diese Annahme argumentiert Ronald Witt: „If self-interest is to be introduced as a historical ex-
planation, it too has to be historicized, because what satisfies self-interest depends on whatever constellation of values and ideas a particular group of people holds at a particular time.“ Ronald Witt, In the Footsteps of the Ancients. The Origins of Humanism from Lovato to Bruni. Leiden 2000, 426.
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auf die Frage, wer als Experte und wer als Laie zu gelten hat, steht auf sozialer Ebene niemals fest, sondern muss in einem „Wechselspiel von Eigeninszenierung und Fremdzuschreibung“ (Rexroth) immer erst ausgehandelt werden. 16
I. Petrarca greift an Die Strategie der Um- und Neubewertung, die für die Humanisten charakteristisch ist, wird besonders gut bei Francesco Petrarca (1304–1374) sichtbar. Karlheinz Stierle bezeichnet Petrarca als einen „Intellektuellen im Europa des 14.Jahrhunderts“, ein Titel, der auf ein wichtiges historisches Problem hinweist: Petrarca bewegt sich, zumindest seiner Selbstbeschreibung nach, außerhalb eines jeden institutionellen Rahmens, der seine gelehrten Zeitgenossen sonst bindet. Seinem Selbstverständnis nach ist er ein Heimatloser, ein „peregrinus ubique“, dem Verständnis seiner ehemaligen Lehrer nach ein Fahnenflüchtiger. 17 Petrarcas geistige Heimatlosigkeit und seine schwer zu fassende Stellung – die wiederum Teil einer bewussten Selbstdarstellung sind – zwingen ihn, sich neue Handlungs- und Denkräume zu schaffen. So versucht er, seine Autorität nicht durch Zugehörigkeit, sondern durch Abgrenzung zu erlangen. Kritik ist ein wesentlicher Bestandteil von Petrarcas literarischem Schaffen: Wie Étienne Anheim schreibt, durchzieht diese Kritik sein gesamtes Werk, von den Briefen seiner Jugendzeit bis hin zu seinen Alterswerken. 18 Die polemische Gewaltsamkeit seines Schreibens ent-
16 Rexroth, Expertenweisheit (wie Anm.4), 24. E. Summerson Carr hebt ebenfalls den performativen Aspekt von Expertentum hervor: „expertise is something people do rather than something people have or hold“. Expertise besteht demnach in „enactments of expertise“; E. Summerson Carr, Enactments of Expertise, in: Annual Review of Anthropology 39/1, 2010, 17–32. 17 In Petrarcas Epistulae Metricae 3.19 heißt es in einem an Marco Barbato da Sulmona gerichteten Brief: „Nullaque iam tellus, nullus michi permanent aer, / Incola ceu nusquam, sic sum peregrinus ubique.“ Francesco Petrarca, Epistulae Metricae. Briefe in Versen. Hrsg. u. übers. v. Otto u. Eva Schönberger. Würzburg 2004, 270. Zur Rolle von Petrarcas Heimatlosigkeit in seinem autobiographischen Schreiben vgl. Karl A. E. Enenkel, Die Erfindung des Menschen. Die Autobiographik des frühneuzeitlichen Humanismus von Petrarca bis Lipsius. Berlin 2008, 33. Zur Beschreibung von Petrarca als ‚Fahnenflüchtiger‘ siehe den folgenden Abschnitt. 18 Étienne Anheim, L’humanisme est-il un polémisme? À propos des ‚Invectives‘ de Pétrarque, in: Vincent Azoulay (Ed.), Le mot qui tue. Une histoire des violences intellectuelles de l’Antiquité à nos jours. Seyssel 2009, 116–129, hier 117.
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springt denn auch einem Anspruch auf Räume, die schon von anderen besetzt sind: „Elle est un révélateur mais aussi un producteur de frontières intellectuelles à l’intérieur d’un même espace social et institutionnel.“ 19 Petrarcas Denken stellt einen programmatischen Bruch dar, ohne den der rasche Erfolg der humanistischen Bewegung in Italien nicht denkbar gewesen wäre. Es gelingt ihm, eine argumentative Strategie zu entwickeln, die einerseits traditionelle Motive der Expertenkritik in sich aufnimmt und sie andererseits über den Entwurf alternativer Wissens- und Darstellungsformen weiter entwickelt. Riccardo Fubini zufolge handelt es sich bei Petrarcas Kritik um einen „Frontalangriff“ auf die Autoritäten der ‚mittelalterlichen‘ Kultur. Mehr noch: Wie Fubini präzisiert, wird diese Kultur gerade erst im Zuge der polemisch ausgerichteten Pauschalisierung, die von Petrarca und den Humanisten ausgeht, zur ‚mittelalterlichen‘ Kultur. 20 Dieser Angriff auf die mittelalterliche Kultur findet zum einen in den Invektiven Petrarcas statt. Tatsächlich kann man von einer Wiederentdeckung der Invektive als Schreibform reden, die ihre Kraft aus dem Zusammenspiel aus antikem Vorbild und zeitgenössischer Polemik gewinnt. 21 In der klassischen Invektive steht das ethos einer einzelnen Person auf Grund ihrer Herkunft, ihrer niederen Tätigkeit, ihrer moralischen wie körperlichen Defekte in Frage; in den Invektiven Petrarcas steht dagegen das ethos ganzer Expertengruppen auf dem Spiel. In seiner Polemik geht es ihm letztendlich darum, die Autorität dieser Experten zu untergraben, um sie (zumindest in Teilen) für sich selbst in Anspruch nehmen zu können. Wie Karl Enenkel in Bezug auf die „Invective contra medicum“ feststellt, zielt Petrarca letztlich darauf ab, „unliebsame Konkurrenten aus der Gelehrtenrepublik auszugliedern.“ 22
19
Ebd.129.
20
Riccardo Fubini, Intendimenti umanistici e riferimenti patristici dal Petrarca al Valla. Alcune note sulla
saggistica morale nell’umanesimo, in: ders., Umanesimo e secolarizzazione da Petrarca a Valla. Rom 1990, 137–182, hier 145f. 21
Vgl. David Rutherford, Early Renaissance Invective and the Controversies of Antonio da Rho. (Renais-
sance Text Series, Vol.19.) Tempe, Ariz. 2005, 1ff.; Johannes Helmrath, Streitkultur. Die ‚Invektive‘ bei den italienischen Humanisten, in: Marc Laureys/Roswitha Simons (Hrsg.), Die Kunst des Streitens. Inszenierung, Formen und Funktionen öffentlichen Streits in historischer Perspektive. (Super alta perennis, Bd. 10.) Bonn 2010, 259–294. 22
Karl A. E. Enenkel, Ein erster Ansatz zur Konstituierung einer humanistischen Streitkultur: Petrarcas
‚Invective contra medicum‘, in: Laureys/Simons (Hrsg.), Die Kunst des Streitens (wie Anm.21), 109–126, hier 123.
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II. Der Fahnenflüchtige Und doch sind die Invektiven, die Petrarca seit den 1350er Jahren verfasst, nicht der Beginn, sondern das Ergebnis seiner Auseinandersetzungen mit den Expertenkulturen seiner Zeit. Die Geschichte dieser Auseinandersetzungen beginnt mit einer Entscheidung, die er selbst als einen wichtigen biographischen Bruch inszeniert: Er gibt sein Studium der Rechte auf. In seinem „Brief an die Nachwelt“, der in den 1350er Jahren entsteht, beschreibt Petrarca diesen Bruch folgendermaßen: „Vielleicht hätte ich es, wie viele Leute glaubten, schon in der Jugend zu etwas Großem gebracht, wenn ich bei dem einmal Angefangenen geblieben wäre. Aber nach dem Tod meiner Eltern gab ich dieses Studium ganz auf. Der Grund lag nicht etwa darin, dass ich dem Recht seine Würde und Bedeutung (‚autoritas‘) abgesprochen hätte – es ist ja zweifellos groß und zudem voll von Anklängen an das römische Altertum, das mich so sehr fesselt – sondern deshalb, weil seine Ausübung durch die Schlechtigkeit der Menschen verdorben wird. Es verdross mich, etwas zu erlernen, das ich nicht auf unehrliche Weise gebrauchen wollte und doch ehrlich kaum hätte nutzen können; und hätte ich es ehrlich nutzen wollen, wäre mir meine reine Absicht (‚puritas‘) als Unwissenheit (‚inscitia‘) ausgelegt worden.“ 23
In diesem kurzen Abschnitt klingen mehrere Motive an, die für Petrarcas Kritik an der Jurisprudenz und an den Expertenkulturen seiner Zeit typisch sind: Obwohl er dem Fach selbst nicht seine Bedeutung absprechen will, stellt er doch die – in erster Linie moralische – Autorität derjenigen in Frage, die als Juristen tätig sind. Nicht so sehr das Wissen der Experten, sondern ihr missbräuchlicher Umgang mit diesem
23 „Futurus magni proventus adolescens, ut multi opinabantur, si cepto insisterem. Ego vero studium illud omne destitui, mox ut me parentum cura destituit, non quia legum michi non placeret autoritas, que absque dubio magna est et Romane antiquitatis plena, qua delector, sed quia earum usus nequitia hominum depravatur. Itaque piguit perdiscere, quo inhoneste uti nollem, et honeste vix possem, et, si vellem, puritas inscitie tribuenda esset.“ Karl A. E. Enenkel, A Critical Edition of Petrarch’s Epistola Posteritati with an English Translation, in: ders./Betsy de Jong-Crane/P. Th. M. G. Liebregts (Eds.), Modelling the individual. Biography and Portrait in the Renaissance. Amsterdam 1998, 243–282, hier 266. Der deutsche Text orientiert sich an der Übersetzung in Francesco Petrarca, Brief an die Nachwelt. Gespräche über die Weltverachtung. Von seiner und vieler Leute Unwissenheit. Übers.u. eingel. v. Herman Hefele. Jena 1925, 6. Für eine Problematisierung der bisherigen Forschungsmeinung, der „Brief an die Nachwelt“ setze sich aus zwei nicht miteinander kompatiblen Textteilen zusammen, aber auch für weitere bibliographische Hinweise vgl. Enenkel, Erfindung des Menschen (wie Anm.17), 79–87.
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Wissen sind in Petrarcas Darstellung die Gründe, die ihn dazu veranlassen, sein Studium aufzugeben. 24 Fest steht, dass sich Petrarca für seine Entscheidung, das Studium der Rechte nicht abzuschließen, verteidigen muss. Wie aus einem Brief an den berühmten Bologneser Juristen Giovanni d’Andrea (gest. 1348) hervorgeht, wird Petrarca – unter anderem von Giovanni selbst – vorgeworfen, ein „Fahnenflüchtiger“ („desertor“) zu sein: „Was deinen Vorwurf angeht, ich sei eine Art Fahnenflüchtiger, der seinen Eid gebrochen habe, weil ich von meinem Studium des Rechts abließ und Bologna hinter mir ließ, gerade als ich begann (in diesem Studium) zu glänzen, habe ich eine Antwort rasch zur Hand. Sie wird Dir, einer besonderen Leuchte jener Stadt und jenes Studiums, freilich sehr wenig gefallen. Und weil ich schon zur Genüge gehetzt habe, werde ich von all dem schweigen, was ich sonst zu meiner Verteidigung anzuführen pflege. Dies alles war ja schon häufig Gegenstand eines Streites (‚questio‘) zwischen mir und vielen anderen (‚cum multis‘), vor allem mit Oldrado da Ponte, dem wohl berühmtesten Rechtsgelehrten unserer Zeit.“ 25
24
Natürlich handelt es sich bei der Aufgabe des Studiums der Rechte auch um einen „Vatermord“, wie
Enenkel, Erfindung des Menschen (wie Anm.17), 122, drastisch formuliert. Allerdings ist mit Eckhardt Keßler zu betonen, dass „Ser Petracco kein engstirniger Gesetzesspezialist [war], sondern [...] zu jener Gruppe von Juristen [gehörte], die – wie Lovato Lovati und Albertino Mussato in Padua – als gebildete Laien das Bildungsmonopol des Klerus am Ende des 13. und Beginn des 14.Jahrhunderts in Italien zu brechen begannen.“ Eckhardt Keßler, Petrarca und die Geschichte. Geschichtsschreibung, Rhetorik, Philosophie im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. München 1978, 63. Ähnlich argumentiert Ronald Witt: „Petrarch generously recognized the role of his father in arousing his passion for antiquity“. Er verweist auf den „Ambrosianischen Vergil“ (Biblioteca Ambrosiana, Mailand, Ms. S.P. 10/27), den Vater und Sohn 1325 gemeinsam in Auftrag geben. Witt, Footsteps (wie Anm.15), 213–232; Giuseppe Billanovich, Il Virgilio di Petrarca da Avignone a Milano, in: Studi Petrarcheschi 2, 1985, 15–52. 25
Francesco Petrarca, Familiares, 4.16.13: „Ad id vero quod me velut iurate militie desertorem arguis, quo-
niam cum maxime florere inciperem, studium iuris Bononiamque dimiserim, expedita responsio est, quamvis tibi et civitatem illam et studium singulariter illustranti, minime, ut arbitror, placitura. Quoniam itaque satis exagitavi, id totum silebo quo factum meum tueri soleo; fuit enim hec michi questio sepe cum multis, precipueque cum Oldrado Laudensi iurisconsulto nostra etate clarissimo.“ Ich zitiere die „Familiares“ nach der Ausgabe von Vittorio Rossi: Francesco Petrarca, Le familiari. 4 Vols. Florenz 1933–1942. Die deutsche Übersetzung entnehme ich mit einigen Änderungen aus Francesco Petrarca, Familiaria. Bücher der Vertraulichkeiten. Bd. 1. Berlin 2005, 233. Zu Oldrado da Ponte siehe Tilmann Schmidt, Die Konsilien des Oldrado da Ponte als Geschichtsquelle, in: Ingrid Baumgärtner (Hrsg.), Consilia im späten Mittelalter. Zum historischen Aussagewert einer Quellengattung. Sigmaringen 1995, 53–64. Zur Rolle von Oldrado im Streit zwischen Heinrich VII. und Robert von Anjou siehe Kenneth Pennington, Henry VII and Robert of Naples, in: Jürgen Miethke/Arnold Bühler (Hrsg.), Das Publikum politischer Theorie im 14.Jahrhundert. München 1992, 81–92.
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Der Vorwurf, den Giovanni an ihn richtet, ist Petrarca also nicht unbekannt. Er ist sogar schon so häufig mit ihm diskutiert worden, dass er Giovanni die Einzelheiten seiner Kritik an den Juristen erspart, stehen seine Briefe an den berühmten Juristen doch unter dem Zeichen einer scharfen Polemik gegen dessen literarisch-historische Schriften. 26 Welche Kritikpunkte im Einzelnen gemeint sind, wird in einem Brief deutlich (Fam. 20.4), den Petrarca an einen gewissen Marco aus Genua richtet und der auf den 28. Mai 1355 datiert. 27 Der Brief stellt eine Antwort auf eine Reihe von Briefen dar, die Marco an ihn gerichtet hat und die alle dieselbe Bitte vortragen: Petrarca solle ihn darin bestärken, sein Studium der Jurisprudenz weiter zu verfolgen. Doch von Anfang an ist klar, dass es sich bei Petrarca eigentlich um den falschen Ansprechpartner handelt. Er soll als Ratgeber und Mahner auftreten, wo er doch selbst sein Studium der Jurisprudenz abgebrochen hat und deswegen nicht unbefangen sprechen kann. Auch in diesem Zusammenhang kommt die Rede auf Petrarcas „Fahnenflucht“: „Sie nennen mich ihren Fahnenflüchtigen, und betrachten mich wie einen, der zuerst an den heiligen Altären eingeweiht, die er später entehrt und verachtet hat, die Geheimnisse der eleusinischen Ceres öffentlich ausplaudert. Denn ich war, mein Freund, als Knabe von meinem Vater für dieses Studium ausersehen; kaum dass ich zwölf Jahre alt war, wurde ich nach Montpellier geschickt, dann nach Bologna überwiesen, und habe ganze sieben Jahre darin zugebracht und seine Grundbegriffe, soweit Alter und Begabung es zuließen, gelernt.“ 28
26 John Ahern, Good-Bye, Bologna: Johannes Andreae and ‚Familiares‘ IV 15 and 16, in: Teodolinda Barolini/Wayne Storey (Eds.), Petrarch and the Textual Origins of Interpretation. Leiden/Boston 2007, 185–204. 27 Petrarca, Familiares (wie Anm.25), 20.4. Der vollständige Titel lautet „Ad Marcum Ianuensem, exhortatio ad incepti studii perseverantiam et de antiquis oratoribus ac iurisconsultis deque nostrorum temporum advocatis“. Eine deutsch-lateinische Ausgabe liegt vor in Sabrina Ebbersmeyer/Eckhardt Keßler/ Martin Schmeißer (Hrsg.), Ethik des Nützlichen. Texte zur Moralphilosophie im italienischen Humanismus. München 2007, 56–71, aus der ich die deutschen Übersetzungen entnehme. Für eine knappe Zusammenfassung des Briefes siehe Karlheinz Stierle, Francesco Petrarca. Ein Intellektueller im Europa des 14.Jahrhunderts. Darmstadt 2003, 178. Siehe auch Keßler, Petrarca und die Geschichte (wie Anm.24), 143; George McClure, The Culture of Profession in Late Renaissance Italy. Toronto/London 2004, 7. 28 Petrarca, Familiares (wie Anm.25), 20.4.3: „Desertorem suum vocant, et sic habent quasi qui una sacris initiatus aris, postea violatis aut neglectis, Eleusine Cereris archana vulgaverim. Ego quidem, amice, illi studio puer destinatus a patre, vix duodecimum etatis annum supergressus et ad Montem Pessulanum primo, inde Bononiam transmissus, septennium in eo integrum absumpsi, eiusque quoad per etatem et ingenium licuit, rudimenta percepi.“
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Petrarca nimmt in Bezug auf den Juristenstand eine Mittelstellung ein: Zum einen ist er ein Insider, der sich mit dem Studium der Jurisprudenz auskennt und in die ‚Geheimnisse‘ des Berufs eingeweiht ist. Zum anderen ist er ein Outsider, beinahe ein Verräter, der diese ‚Geheimnisse‘ entweiht hat, indem er das Studium aufgegeben und sich anderen Dingen zugewandt hat. 29 Petrarca nimmt so gesehen eine Mittelstellung zwischen Laien- und Expertentum ein: Der Gruppe der Juristen gehört er nicht an, aber doch kennt er sich aus, er hat – so könnte man in Anlehnung an den religiösen Bereich sagen – die niederen Weihen empfangen. Doch auch wenn Petrarca aus Sicht der Juristen ein Laie ist, wird er von Anderen durchaus als Experte angesprochen: Noch zwanzig Jahre nach der Aufgabe seines Studiums bitten ihn die Bauern von Vaucluse, die wissen, dass er in enger Verbindung zur Kurie steht, um seinen Beistand in Rechtsfragen. 30 Doch gerade auf Grund seiner Mittelstellung und seiner eigentlich ablehnenden Haltung ist Petrarca vielleicht doch der richtige Bezugspunkt für Marco: Als einer, der nicht – oder nicht mehr – vom Fach ist, hat er einen ganz anderen Einblick. Geht es um die Wahl des Lebenswegs, scheint sich Marco nicht auf die Rechtsexperten verlassen zu wollen, unter denen er studiert, sondern sein Vertrauen in den Laien Petrarca legen zu wollen, der ihm als Moralphilosoph ganz anders als seine Kollegen mit Rat und Tat zur Seite stehen kann. 31 29
Wahrscheinlich spielt Petrarca hier auf Macrobius, In Somnium Scipionis, 1.2.19 an. Dort wird von
dem Traum des Philosophen Numenio erzählt, in dem er die eleusischen Göttinnen als Huren gekleidet erblickt. Auf seine Frage hin, was sie in einem Bordell zu suchen hätten, antworten sie, er habe sie dorthin gebracht, indem er ihre Geheimnisse verbreite („Eleusina sacra vulgaverit“). Die Geschichte wird u.a. in Kapitel 77 des Ende des 13.Jahrhunderts entstandenen „Novellino“ nacherzählt. Vgl. Ruedi Imbach, Laien in der Philosophie des Mittelalters. Hinweise und Anregungen zu einem vernachlässigten Thema. Amsterdam 1989, 13; Alison Cornish, Vernacular Translation in Dante’s Italy. Cambridge 2010, 33. 30
Soviel geht jedenfalls aus einigen Zeilen eines Briefes an Kardinal Giovanni Colonna von 1346/47 her-
vor (Ep. metr. 3.5.55–59). Dort berichtet Petrarca, wie sein neuer Hund, den Colonna ihm zum Geschenk gemacht hat, die Bauern der Gegend abschreckt, die ihn sonst um Rat in Rechtsfragen gebeten und damit in seiner Ruhe gestört hatten: „Prospicit hunc medio transversum calle tremiscens / rusticus et legum nodos perplexaque iura / consiliumque domus inopis, connubia nate / me percontari solitus, velut Appius alter / Aciliusve forem, et Musas turbare quietas“. Petrarca, Epistulae Metricae (wie Anm.17), 255. Zur Datierung des Briefes auf die Zeit vor dem Herbst 1347 vgl. die ausführliche Analyse in Juliana Schiesari, Beasts and Beauties. Animals, Gender, and Domestication in the Italian Renaissance. Toronto/London 2010, 33. 31
Einen weiteren Kontext des Briefes, den ich hier nicht berücksichtige, stellt der bekanntere zweite
Brief von Petrarca an Marco dar, „Ad Marcum Ianuensem, posse etiam qui reipublice student innocenter et pie vivere, posse et ex eo strepitu ad altioris vite silentium aspirare“ (Fam. 3.12), der das Verhältnis von vita contem plativa und vita activa diskutiert. Dass Marco die Ratschläge Petrarcas sehr ernst zu nehmen
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Tatsächlich beginnt Petrarca seinen Brief mit einer grundsätzlichen Aussage zur Wahl der Lebensweise: Nicht das Schönste und Beste, sondern das dem Wählenden Angemessenste sei zu bevorzugen. 32 Würde ein jeder danach streben, ein Dichter oder Philosoph zu sein, schreibt Petrarca, würden andere, lebenswichtige Künste zu kurz kommen. 33 Mit dieser allgemeinen Aussage, der das rhetorisch-ethische Ideal des aptum zu Grunde liegt, verteidigt er seinen Studienabbruch und stellt zugleich die Position der Jurisprudenz in Frage. Denn ähnlich wie Bauern, Händler und Handwerker verrichten die Juristen ein nützliches Werk, ohne das die Menschheit nicht auskommen würde. Es sei gut vorgesorgt, bemerkt er spitz, „dass nicht nur das Größere dem Kleineren, sondern auch das Kleinere dem Größeren zu Schmuck und Schutz“ gereichten. 34 Zwischen den Zeilen heißt das nicht nur, dass Dichter über den Juristen stehen, was die ‚Schönheit‘ ihrer Tätigkeit angeht; es heißt auch, dass die Jurisprudenz eigentlich der Navigationskunst und dem Ackerbau, also den artes mechanicae nahe steht. Natürlich ist diese Hierarchisierung im Rahmen einer Wissenskultur, die gerade von der Dominanz juristischen Wissens geprägt ist, erklärungsbedürftig. Deswegen lenkt Petrarca sofort ein und gibt zu, dass das Studium der Jurisprudenz („iuris civilis studium“) zu großem Ruhm führen kann. Allerdings ist dieses Einlenken mit einem für Petrarca typischen Haken verbunden, es steht nämlich in der Vergangenheit: Einst („olim“) habe man großen Ruhm mit dem Studium der Jurisprudenz erwerben können. 35 Petrarca zeichnet in diesem Zusammenhang das Bild eines Urzustands der Einfachheit, in dem „die Gerechtigkeit aus freien Stücken von den Menschen gepflegt
scheint, resultiert aus einem dritten Brief „Ad Marcum Ianuensem, quod qui valde amant male iudicant“ (Fam. 17.9), in dem Petrarca seinen Freund davor warnt, allzu unkritisch mit diesen Ratschlägen umzugehen. 32 Petrarca, Familiares (wie Anm.25), 20.4.4: „neque enim semper in eligendo vite genere pulcherrima rerum sed eligentibus aptissima preferuntur“. 33 Ebd.20.4.6: „Da omnes Platonas aut Homeros, da Cicerones aut Virgilios: quis erit arator, quis mercator, architectus, faber, sutor, caupo, sine quibus magna ingenia esurient tectoque ciboque carentia ab ipsa nobilium studiorum altitudine distrahentur? Bene provisum est ut curarum atque actuum humanorum varietas tanta esset, quo non solum maiora minoribus, sed et minora maioribus ornamento presidioque sint.“ 34 Ebd.: „Bene provisum est ut curarum atque actuum humanorum varietas tanta esset, quo non solum maiora minoribus, sed et minora maioribus ornamento presidioque sint.“ 35 Ebd.20.4.7: „Non sum nescius, amice, de iuris civilis studio multis olim magnam gloriam quesitam“.
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wurde“ („iustitia ultro ab hominibus colebatur“). 36 In diesem Urzustand sind das Rechte und Gute noch in der Natur der Menschen verankert, und die Gesetze dienen, ganz im Gegensatz zu späteren Zeiten, eher als Gedächtnisstütze denn als Zwangsmittel. Die ersten glorreichen Juristen dieses Zeitalters sind die mythischen Gesetzgeber vom Schlage Solons, die „legum civilium repertores et interpretes et magistri“. 37 Petrarca versäumt es nicht, eine Verbindung zwischen sich und diesen Gesetzgebern herzustellen, indem er darauf verweist, dass Solon sich im Alter der Dichtung zugewandt habe. An Hand eines gehörnten Arguments untermauert er seine eigene Autorität, während er die Autorität der Juristen in Frage stellt. Denn entweder ist Solon ganz bewusst („librato iudicio“) zu den Dichtern ‚übergelaufen‘, dann müsse man auf Grund der großen Autorität des Fahnenflüchtigen („tanta autoritas desertoris“) die Einstellung gegenüber Petrarcas Studienabbruch überdenken und die These akzeptieren, die Dichtung stehe höher als die Jurisprudenz. Oder Solon hat die Dichtung allein als Zeitvertreib im Alter gewählt, dann kann er jungen Leuten natürlich nicht als Vorbild dienen, die zum „Dienst an der Gesellschaft“ geboren sind („in reipublice obsequium nati“). 38 Das ändert allerdings nichts an der Einschätzung, dass die Jurisprudenz zwar nützlich für die Gesellschaft ist, aber letztlich zu den niedriger stehenden Wissensformen zählt. Schon ein erster Blick auf den Brief an Marco zeigt also, dass Petrarca sich als einen Außenstehenden sieht, der der Gruppe der Juristen nicht nur nicht angehört, sondern ihr auch nicht angehören will. Als Außenstehender bedarf Petrarca allerdings einer neuen Autorisierung der eigenen Person und des eigenen Schaffens, die er zum einen über eine Neubeschreibung der Juristen und ihrer Tätigkeit, zum anderen über seine Selbstbeschreibung als Dichter zu erlangen sucht.
III. Der Jurist als Redner in Ciceros „De oratore“ Die Neubeschreibung der Juristen bewerkstelligt Petrarca anhand eines Gegenbildes: des Juristen, der zugleich Redner ist, einer Figur, die er in die Zeit verlegt, als
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Ebd.
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Ebd.20.4.8.
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Ebd.20.4.10.
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die Juristen noch in „ungeheurem Ansehen“ standen. 39 Diesem Juristen-Redner gelingt es nicht nur, das durch seine Vielzahl an Fällen verwickelte, ja unentwirrbare und steinige Recht zu bewältigen, sondern auch noch die Fähigkeiten eines echten Redners aufbieten zu können, der Kenntnisreichtum mit kunstvoller Rede zu verbinden weiß und es versteht, seine Zuhörer zu überzeugen. 40 Als Beispiele nennt Petrarca auf griechischer Seite Demosthenes, Isokrates und Äschines, auf römischer Seite Cicero, Crassus und Antonius. 41 Die Nennung der drei römischen Redner verweist in direkter Weise auf das Werk, dem Petrarca die wesentlichen Züge seines Juristen-Redners entnimmt: Ciceros „De oratore“. Einer der Hauptstreitpunkte im ersten Buch von „De oratore“ betrifft ein Problem, das Petrarcas Feder in ein schlagkräftiges Argument gegen die zunehmende Differenzierung des Wissens verwandeln wird, durch die sich die Expertenkulturen seiner Zeit auszeichnen. Es geht um die Kultur des Redners; in Frage steht, ob der Redner sich nur in einem bestimmten Bereich auskennen muss, also der Kunst des Redens im Gerichtssaal, oder ob er über eine umfassende, universale Bildung verfügen soll. Vor allem Crassus vertritt die Meinung, dass der Redner sich in seiner Tätigkeit nicht auf die Gerichtssäle beschränken sollte. Er wisse wohl, dass die Philosophen den Redner von allen wichtigen politischen Tätigkeiten fernhalten und ihn von der Kenntnis aller wichtigen Dinge ausschließen wollten, um ihn mit Prozessen und unbedeutenden Volksversammlungen abzuspeisen und ihn so in die Tretmühle („pistrinum“) des Gerichtsalltags abdrängen zu können. 42 Damit ist Crassus aber nicht einverstanden. Er zeichnet ein Bild des Redners, der in vielen Dingen bewandert ist und sich durch eine gründliche Beschäftigung mit öffentlichen Angelegenheiten („multa pertractatio omnium rerum publicarum“) ebenso auszeichnet wie durch seine 39 Ebd.20.4.11: „id agendum de quo constat: fuisse tempus quo iurisconsultis iisdemque oratoribus laus ingens esset“. 40 Ebd.20.4.12: „Quanti enim ingenii est non modo ius civile – infinitum olim [...] nunc vero latissimum adhuc et multa casuum tenuissime differenti varietate perplexum, inextricabile, confragosum – verum insuper rerum pene omnium notitiam, de quibus in iudicio vel extra dicendum oratori est, cum artificiose orationis copia ac suavitate coniungere!“ 41 Ebd.20.4.16. 42 Cicero, De oratore, 1.11.46: „Multi erant praeterea clari in philosophia et nobiles, a quibus omnibus una paene voce repelli oratorem a gubernaculis civitatum, excludi ab omni doctrina rerumque maiorum scientia ac tantum in iudicia et contiunculas tamquam in aliquod pistrinum detrudi et compingi videbam“.
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Kenntnis der Gesetze, der Sitten und des Rechts („legum, morum, iuris scientia“) und sein Wissen um die Natur der Menschen und ihres Charakters („natura hominum ac mores“). Erst wenn all diese Faktoren zusammenkommen, wird der Redner in der Lage sein, seine Fälle mit der nötigen Gewitztheit und Erfahrung („callide et perite“) behandeln zu können. 43 Crassus stellt sich damit gegen eine Auffassung des Redners, die, wie er selbst sagt, platonischen Ursprungs ist. Offensichtlicher Bezugspunkt ist hier „Gorgias“. 44 Sokrates versucht in diesem Dialog von seinem Gegenüber zu erfahren, worin die eigentliche Tätigkeit des Redners besteht. In seiner Antwort beschreibt Gorgias die Rhetorik als die Kunst des Überredens und weist ihr verschiedene Orte zu, an denen sie ausgeübt wird: Gerichtsstätten, Ratsversammlungen, Gemeinden, generell in jeder Art politischer Versammlung. 45 Im weiteren Verlauf des Gesprächs stellt sich allerdings heraus, dass die Überredungskunst des Redners sich dadurch von anderen Arten des Überredens unterscheidet, dass sie nicht auf Wissen („epistêmê“), sondern auf Glauben („pistis“) abzielt. 46 Aus dieser Unterscheidung schließt Sokrates, dass der Redner keinen guten Ratgeber abgebe. Als Arzt oder Baumeister könne er sich jedenfalls nicht zur Wahl stellen, da es ihm am nötigen Sachverstand fehle. 47 Gorgias ist anderer Meinung. So wisse der Arzt zwar, welcher Art von Behandlung sein Patient bedürfe, er sei aber, anders als der Redner, nicht in der Lage, den Patienten zur Einnahme einer bitteren Medizin oder zur Durchführung einer Operation zu überreden. Zudem weist Gorgias auf Themistokles und Perikles hin, die letztendlich den Bau der mittleren Stadtmauer veranlasst hätten, ohne eine Ahnung von 43
Ebd.1.11.48.
44
Auch für die moderne Expertenforschung scheint der „Gorgias“ ein offensichtlicher Bezugspunkt zu
sein. K. Anders Ericsson schreibt in Bezug auf die hier diskutierte Stelle: „The special status of the knowledge of experts in their domain of expertise is acknowledged even as far back as the Greek civilization.“ K. Anders Ericsson, Introduction, in: ders./Neil Charness/Paul Feltovich/Robert R. Hoffman (Eds.), The Cambridge Handbook of Expertise and Expert Performance. Cambridge 2007, 3–19, hier 5. Ericssons Bemerkung zeigt, dass die historischen und soziokulturellen Eigenheiten von Expertenkulturen eigentlich keine Rolle mehr spielen, wenn man die Figur des Experten, wie in der kognitiven Psychologie üblich, allein über bestimmte Performances, Techniken und Fertigkeiten definiert. So lässt sich – aus der Sicht des Historikers auf sehr unbefriedigende Weise – ohne große Probleme von Sokrates zu den Handwerkergilden des Mittelalters und von dort aus weiter zu Diderot und D’Alembert springen. 45
Platon, Gorgias, 452e. Zitiert nach der Übers. von Friedrich Schleiermacher, in Platon, Sämtliche Wer-
ke. Bd. 2. Hrsg. v. Karlheinz Hülser. Frankfurt am Main 1991.
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46
Ebd.455a.
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Ebd.455b–c.
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Baukunst gehabt zu haben. Der Redner sei dem jeweiligen Fachmann („dêmiourgos“) immer überlegen, da er vor der Menge überzeugender spreche als dieser Fachmann. 48 Auf derselben Linie bewegt sich Crassus in „De oratore“, wenn er behauptet, der Redner erzeuge nicht bloßes Wortgeklingel, sondern sei in der Lage, jedes Argument besser als der jeweilige Fachmann zu behandeln: „Was ist denn so unsinnig wie der leere Schall von großen, anspruchsvollen Worten ohne Sinn (‚sententia‘) und Sachverstand (‚scientia‘)? Über jedwedes Thema, aus welchem Fach, aus welchem Sachgebiet auch immer, wird der Redner besser und wirkungsvoller sprechen als der Erfinder (‚inventor‘) und Urheber (‚artifex‘) selbst, wenn er es wie den Fall eines Klienten kennt.“ 49
Damit lässt sich der Aufgabenbereich des Redners nicht als ein von den Schranken des Gerichts begrenztes Wissen („forensibus cancellis circumscripta scientia“) beschreiben. 50 Im Gegenteil: Während die Philosophen wichtige Probleme „in ihren Winkeln“ („in angulis“) diskutieren, tragen die Redner diese Probleme an die Öffentlichkeit und machen sie allgemein verständlich, indem sie ihnen einen angenehmen Aspekt („iucunditas“) und Gewicht („gravitas“) verleihen. 51 Nach eigener Aussage will Crassus nicht in Frage stellen, „dass es gewisse Spezialgebiete für die Leute gibt, die ihren ganzen Eifer daran setzten, die betreffenden Bereiche zu studieren und abzuhandeln“. Trotzdem bleibe es Aufgabe des vollendeten Redners, über alle Dinge „wortgewaltig und abwechslungsreich“ („copiose varieque“) zu reden. 52 Er muss dazu nicht über alle Wissensbereiche verfügen, aber gut informiert sein. Das gilt insbesondere für Beratungsreden: So kann man nicht für oder gegen einen Feldherren argumentieren, ohne über militärische Erfahrung zu
48 Ebd.455d–456c. 49 Cicero, De oratore, 1.12.51: „Quid est enim tam furiosum quam verborum vel optimorum atque ornatissimorum sonitus inanis, nulla subiecta sententia nec scientia? Quicquid erit igitur quacumque ex arte, quocumque de genere, orator id, si tamquam clientis causam didicerit, dicet melius et ornatius quam ipse ille eius rei inventor et artifex.“ 50 Ebd.1.12.52. 51 Ebd.1.13.57: „Quibus [philosophis] ego, ut de his rebus in angulis consumendi oti causa disserant, cum concessero, illud tamen oratori tribuam et dabo, ut eadem, de quibus illi tenui quodam exsanguique sermone disputant, hic cum omni iucunditate et gravitate explicet.“ Vgl. zu dieser Stelle Platon, Gorgias, 485 d. 52 Ebd.1.13.59: „Numquam enim negabo esse quasdam partis proprias eorum, qui in his cognoscendis atque tractandis studium suum omne posuerunt, sed oratorem plenum atque perfectum esse eum, qui de omnibus rebus possit copiose varieque dicere.“
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verfügen („sine rei militaris usu“) und ohne Kenntnis („scientia“) der Gegebenheiten zu Wasser und zu Lande zu haben. 53 Denn anders als Sokrates will, sind die „artifices“, die Leute vom Fach, nicht von vorneherein redegewandt, wenn es um die Darstellung ihres Wissens geht. 54 Im Licht der Unterscheidung zwischen Experte und Laie wird der Redner hier zu einer Art ‚Über-Experten‘, der die einzelnen Expertisen im Bereich der artes sammelt, anordnet und an ein Laienpublikum kommuniziert. Gerade wegen dieses Status beschränkt sich die Expertise des Redners nicht alleine auf das Reden, obwohl es, wie Crassus zu einem späteren Zeitpunkt zugibt, durchaus „kluge Männer mit Erfahrung“ gibt („homines callidi ac periti“), die sich der Redekunst theoretisch nähern und sie in Klassifikationen und Definitionen fassen. 55 Allerdings betonen Crassus und seine Freunde, dass sie nicht zu diesen Theoretikern gezählt werden wollen. An einer Stelle des Dialogs bemerkt sein Gesprächspartner Antonius explizit, dass er nicht als ein Lehrer oder Fachmann („quidam magister atque artifex“) erscheinen möchte, sondern als ein einfacher römischer Bürger („unus ex togatorum numero“). 56 Was den Redner ausmacht, ist in dieser Perspektive nicht die Kunst des Redens, sondern ein umfassendes Wissen, eine Bildung, die sich nicht in der Enge einer regelgeleiteten, mechanischen Kunst fassen lässt – die bereits erwähnte Tretmühle („pistrinum“) wurde schließlich von Pferden, Eseln oder Sklaven angetrieben. Ein Schwerpunkt dieser Bildung liegt auf der Moralphilosophie. Wie Crassus unmissverständlich zum Ausdruck bringt, kann der Redner naturwissenschaftliche und logische Kenntnisse ohne Weiteres an den Philosophen abtreten; die Moralphilosophie sei dagegen seit jeher dem Redner zu eigen gewesen („semper oratoris fuit“), und gerade in diesem Feld könne er seine Größe beweisen. 57 Diese Anforderung an den Redner, über das Leben und die Sitten der Menschen („de vita et mori53
Ebd.1.14.60
54
Ebd.1.14.63: „Atque illud est probabilius, neque tamen verum, quod Socrates dicere solebat, omnis in
eo, quod scirent, satis esse eloquentis.“ Vgl. die oben erwähnte Stelle in Platon, Gorgias, 455b–c. 55
Ebd.1.23.109.
56
Ebd.1.24.111. Vgl. zu dieser Stelle Aulus Gellius, Noctes Atticae, 17.5.3; dort ist die Rede von einem „rhe-
toricus quidam sophista utriusque linguae callens, haut sane ignobilis ex istis acutulis et minutis doctoribus, qui appellantur“. 57
Ebd.1.15.68: „Sed si me audiet, quoniam philosophia in tris partis est tributa, in naturae obscuritatem,
in disserendi subtilitatem, in vitam atque mores, duo illa relinquamus atque largiamur inertiae nostrae; tertium vero, quod semper oratoris fuit, nisi tenebimus, nihil oratori, in quo magnus esse possit, relinquemus.“
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bus“) Bescheid zu wissen, schließt aber eine noch größere Herausforderung ein: Der Redner muss, wenn es nach Crassus geht, in allen Künsten fein ausgebildet sein, die einem freien Mann zu Gesicht stehen. 58 Dieses Wissen unterscheidet sich von dem regelgeleiteten Wissen der mechanischen artes. Es wirkt sich prägend auf den Habitus des Redners aus: Wie das Geschick von Ballspielern sich nicht in einer bewussten Befolgung der Spielregeln, sondern in ihren Bewegungen und ihrem Umgang mit dem Ball zeigt, so wird sich nicht derjenige als Redner erweisen, der bestimmte Deklamationsübungen beherrscht, sondern derjenige, der in den edlen Künsten („artes ingenuae“) gebildet ist. 59 Diese Künste lassen sich nur bis zu einem bestimmten Grad nach Regeln erlernen. So berichten Antonius und Crassus beide von Rednern, denen es zwar nicht an der Methode und an den Regeln der Redekunst („ratio et via artis dicendi“), wohl aber an einer natürlichen Begabung gefehlt habe. 60 Die Verbindung zwischen Ausübung und perfekter Beherrschung einer Kunst kommt in einem Spruch des Schauspielers Roscius zum Ausdruck: die Hauptsache in der Kunst sei Schicklichkeit, die allerdings das Einzige sei, was man nicht durch Kunst erlernen könne („caput esse artis decere, quod tamen unum id esse, quod tradi arte non possit“). 61
IV. Der Niedergang der Jurisprudenz Vor dieser ciceronianischen Folie kann Petrarca seinen eigenen Standpunkt neu verhandeln. In seinem Brief an Marco übernimmt er eine ganze Reihe von Motiven aus „De oratore“, verleiht ihnen aber eine eigene Dynamik. In Ciceros Fall wird die Figur des Redners in einer rhetorischen Wissenskultur entworfen, die nicht erst in Rom, sondern bereits in Athen von entscheidender Bedeutung war, wie das Beispiel 58 Ebd.1.16.72: „sic sentio neminem esse in oratorum numero habendum, qui non sit omnibus eis artibus, quae sunt libero dignae, perpolitus.“ 59 Ebd.1.16.73: „ut qui pila ludunt, non utuntur in ipsa lusione artificio proprio palaestrae, sed indicat ipse motus, didicerintne palaestram an nesciant [...] sic in orationibus hisce ipsis iudiciorum, contionum, senatus, etiam si proprie ceterae non adhibeantur artes, tamen facile declaratur, utrum is, qui dicat, tantum modo in hoc declamatorio sit opere iactatus an ad dicendum omnibus ingenuis artibus instructus accesserit.“ Ausgeklammert werden muss hier die Frage, wie sich diese Aussage zu Ciceros eigenen Beiträgen zur artes-Literatur verhält, vor allem zu „De inventione“. 60 Ebd.1.25.113. 61 Ebd.1.29.132.
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des „Gorgias“ zeigt. 62 In einer solchen Kultur, die der Redekunst traditionell einen hohen Stellenwert in der Bildung und im politischen Leben zuweist und sie zu den wichtigsten Eigenschaften eines jeden römischen Bürgers zählt, geht es vor allem um Auszeichnung. Die soziale Dynamik, die dieser Suche nach Auszeichnung zu Grunde liegt, ist nicht die einer zunehmenden Differenzierung von Wissen, das dem Großteil der Menschen immer mehr entgleitet, sondern die einer allgemeinen Verfügbarkeit des rhetorischen Know-how, das nur dann soziale Auszeichnung für homines novi wie Cicero verspricht, wenn es in seinen Grundzügen, in seiner ‚Schulcharakteristik‘ hinter sich gelassen und zur Meisterschaft gebracht wird, um eine gesellschaftliche Anerkennung, auctoritas und dignitas, zu erzeugen, die sonst nur den Adligen zustand. Petrarcas Ausgangssituation ist zunächst nicht unähnlich: Auch er wird durch seinen Abbruch des Rechtsstudiums zu einem homo novus, der sich um eine gesellschaftliche Anerkennung bemühen muss, die den Juristen allein durch ihren Titel, durch die auctoritas und die dignitas ihres Studiums zukommt. Und doch verfolgt Petrarca letztendlich eine andere Strategie, wenn er versucht, die Koordinaten des Experten-Laien-Systems zu seinen Gunsten zu verschieben und sich das Ideal des Crassus zu eigen macht, indem er dem Redner-Juristen eine umfassende Sachkenntnis zuschreibt und verlangt, diese Kenntnis mit der Fülle und dem Wohlklang einer kunstvollen Rede zu verbinden. 63 Die Vielseitigkeit des Redner-Juristen kann hier als die Fähigkeit gelesen werden, einzelne Fachgebiete zu bündeln und sie aus ihrer Spezialisierung in die Allgemeinheit und Eingängigkeit der Rede zu überführen. Expertisen können so in klare und verständliche Worte gekleidet werden, die das Publikum nicht ausschließen, son-
62
Zum Begriff der „Wissenskultur“ und im Besonderen einer „rhetorischen Wissenskultur“ vgl. Wolf-
gang Detel, Wissenskulturen und epistemische Praktiken, in: Johannes Fried/Thomas Kailer (Hrsg.), Wissenskulturen. Beiträge zu einem forschungsstrategischen Konzept. Berlin 2003, 119–132. Detel merkt an, die platonische oder philosophische Wissenskultur habe ohne die zeitgenössische rhetorische Wissenskultur nicht entstehen können. Dazu passt die Bemerkung des Crassus in „De Oratore“, Platon gebe die Rhetoren im „Gorgias“ dem Spott preis, erweise sich aber zugleich selbst als ein höchst begabter Redner (1.11.47). Dagegen scheint mir Detels Behauptung, die rhetorische Kultur Roms lebe „in der Renaissance in nahezu unveränderter Gestalt wieder auf“, eher irreführend. Wie der vorliegende Beitrag zu zeigen versucht, nimmt Petrarca die rhetorische Kultur Roms eben nicht in „nahezu unveränderter Gestalt“ auf, auch wenn er sich römischer Begriffe und Argumentationsstrategien bedient. 63
62
Petrarca, Familiares (wie Anm.25), 20.4.12.
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dern in den Prozess der Argumentation einbeziehen. 64 Der Redner-Jurist ist also nicht als ein unerreichbares Ideal misszuverstehen: Das Bild des Redners, das Petrarca in Bezug auf das goldene Zeitalter zeichnet, dient vor allem als Folie für seine Kritik am derzeitigen Zustand des Rechtswesens. Es handelt sich um eine Art Maßstab für die kommenden Generationen von Juristen, die dieses Ideal auf die eine oder andere Art verfehlen und immer mehr von ihm abfallen. So folgt auf das ‚goldene‘ Zeitalter der Redner ein ‚silbernes‘ Zeitalter der Juristen, die sich nicht mehr durch ihre Eloquenz, sondern allein durch ihre Rechtskenntnis auszeichnen: „Dann aber gelangte man [...] auf der absteigenden Bahn zu denen, die den Gipfel der Beredsamkeit verließen und nur das nackte juristische Wissen sich aneigneten, in diesem aber ganz hervorragende Leistungen vollbrachten.“ 65 Hier zeichnet sich zum ersten Mal ein juristischer Wissensbestand ab, eine Art Fachwissen, das zwar eine Verengung des Wissenshorizonts darstellt, aber trotzdem noch in einer erkennbaren Verbindung zum Allgemeinwohl steht. So stellt Petrarca die Wichtigkeit dieser Generation von Juristen nicht in Abrede. Im Gegenteil, er unterstreicht ihre Bedeutung und bezeichnet sie als „die verehrungswürdigen Namen Deines Berufsstandes“ („tue professionis veneranda nomina“). Er lobt die Rechtsgelehrten, die er den verschiedenen römischen Kaisern zuordnet und sie dabei als tadellos in ihrem Denken und aufrichtig in ihrem moralischen Verhalten darstellt. So lässt der grausame Caracalla den Juristen Papinianus hinrichten, weil sich dieser weigert, die Morde des Kaisers an seinen Verwandten zu entschuldigen; Julius Paulus und Domitius Ulpianus stehen dagegen in großem Ansehen und sind als Ratgeber von Alexander Severus gefragt. 66 Allerdings verbindet Petraca sein Lob der Rechtsgelehrten des Kaiserreichs mit einer Spitze gegen die gegenwärtige Jurisprudenz: Während die Juristen diese großen Namen als die ältesten betrachten („antiquissima soletis opinari“), seien sie
64 Man sollte nicht unterschätzen, wie sehr das humanistische Sprachverständnis, gerade auch in seiner vermeintlich ästhetisch-stilistischen Ausrichtung, von diesem Punkt abhängt: So bezieht sich der Begriff der elegantiae, wie ihn Valla im Titel führt, nicht einfach auf eine ‚elegante‘ Schreib- oder Redeweise, sondern bezeichnet eher die Eigenschaft des Redners, die Dinge auf den Punkt bringen zu können. Vgl. zu diesem Problem David Marsh, Grammar, Method, and Polemic in Lorenzo Valla’s Elegantiae, in: Rinascimento 19, 1979, 91–116. 65 Petrarca, Familiares (wie Anm.25), 20.4.17: „Deinde autem [...] ad illos descendendo perventum est, qui fastigio eloquentie relicto, nudam iuris notitiam adepti, in ea quidem excellentissime floruerunt.“ 66 Ebd.20.4.18–20.
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doch beinahe neu und der eigenen Zeit nahe („propemodum nova sint atque recentia“). 67 Zudem kümmere sich ein Großteil der zeitgenössischen Rechtskundigen („pars magna legistarum nostri temporis“) nur wenig oder gar nicht um den Ursprung des Rechts und die Gesetzesgeber vergangener Zeiten. Dieser Vorwurf ist schwerwiegender, als er zunächst scheinen mag. Das mangelnde Interesse der Rechtskundigen erklärt sich nämlich aus einer bedenklichen Interessenverlagerung: Nicht mehr das große Ganze steht im Vordergrund ihrer Bemühungen. In der Sicht Petrarcas sind die Rechtskundigen seiner Zeit damit zufrieden, gerade das zu erlernen, was bei Verträgen, Urteilen und Testamenten im Besonderen zu beachten sei, ziele ihr Studium doch in erster Linie auf Gewinn („lucrum“) ab. 68 In dieser Bemerkung wiederholt Petrarca die Abgrenzungsgeste Ciceros gegen die artes. Während diese Geste bei Cicero allerdings den durchschnittlich begabten, schulgemäßen Rednern und den Theoretikern gilt, richtet sie sich bei Petrarca gegen die Rechtsexperten, die sich auf einen bestimmten Teilbereich juristischen Wissens beschränken und dieses Wissen nicht der Allgemeinheit, sondern ihrem Gewinnstreben unterstellen. Er greift somit das Motiv der „scientiae lucrativae“ auf, das bereits im 12.Jahrhundert zu einem wichtigen Bestandteil der Expertenkritik wird. 69 In den Augen Petrarcas entlarven sich diese Rechtsexperten dadurch, dass es ihnen keinerlei intellektuelles Vergnügen bereitet, die Anfänge und die Gründergestalten der eigenen Kunst zu kennen, was in erster Linie als moralisches Manko gewertet werden muss. Ihr Fokus auf die gewinnbringenden, im engsten Sinn des Wortes ‚praktischen‘ Kenntnisse ihres Fachs offenbart sie als ‚Mechaniker‘, die den An-
67
Ebd.20.4.18.
68
Ebd.20.4.21: „Quod idcirco diligentius feci [gemeint ist die Schilderung des ‚goldenen‘ und ‚silbernen‘
Zeitalters der Jurisprudenz], quia pars magna legistarum nostri temporis de origine iuris et conditoribus legum nichil aut parum curat, didicisse contenta quid de contractibus deque iudiciis ac testamentis iure sit cautum, ut que studii sui finem lucrum fecerit.“ 69
Stephan Kuttner, ‚Dat Galienus opes et Sanctio Justiniana‘, in: Alessandro S.Crisafulli (Eds.), Literary
and Linguistic Studies in Honor of Helmut A. Hatzfeld. Washington, D. C. 1964, 237–246. Siehe auch die Bemerkungen in Jürgen Miethke, Karrierechancen eines Theologiestudiums im Späteren Mittelalter, in: ders., Studieren an mittelalterlichen Universitäten: Chancen und Risiken. Gesammelte Aufsätze. Leiden/ Boston 2004, 97–132; Helmut G. Walther, Learned Jurists and Their Profit for Society. Some Aspects of the Development of Legal Studies at Italian and German Universities in the Late Middle Ages, in: William J. Courtenay/Jürgen Miethke/David B. Priest (Eds.), Universities and Schooling in Medieval Society. Leiden/ Boston 2000, 100–126.
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spruch und das Ziel der freien und ehrenvollen Künste („liberales et honestae artes“) nicht verstehen können. 70 Hier wird, wie Petrarca seinem Adressaten klarmacht, ein weiterer Abstieg der Rechtskunst offenbar, der noch viel schwerer wiegt als der Übergang von der redegewandten zur rechtsgelehrten Jurisprudenz: „So wie der erste Fall vom Gipfel der vielfältigen Gelehrsamkeit und göttlichen Beredsamkeit zur alleinigen Erlernung der Billigkeit und des bürgerlichen Rechts führte, so führte der zweite Schritt von da zur geschwätzigen Ignoranz. Womit, wenn ich nicht irre, bereits völlige Sicherheit erreicht wäre, dass kein weiterer Abfall mehr stattfinden kann.“ 71
Für Petrarca hat die Jurisprudenz seiner Zeit einen Tiefpunkt erreicht. Die Gesetze werden von den Juristen nicht mehr verstanden oder verdreht („leges non intelligunt aut obliquant“). Das Recht sei unter ihren Händen zu einer käuflichen Ware („venale mercimonium“) verkommen. 72 Im Vergleich mit den vergangenen Zeiten erscheint das Rechtswesen zu Petrarcas Zeiten insgesamt als eine Verdrehung, als eine Perversion der Jurisprudenz: „Jene bewaffneten die Gerechtigkeit mit heiligen Gesetzen, diese stellen sie nackt und wehrlos zur Schau, bei jenen war die Wahrheit hoch im Kurs, bei diesen ist es der Betrug. Jene gaben dem Volk sichere und unwiderlegbare Auskünfte, diese nähren durch Listen und Fallstricke die Streitigkeiten und wollen unsterblich werden durch das, was mit der richterlichen Lanze zu vernichten man sie zu Hilfe gerufen hat.“ 73
Das Verhältnis zwischen wahrer und falscher Jurisprudenz hat sich so weit in sein Gegenteil verkehrt, dass derjenige, der das Recht nach Belieben manipuliert, als großer Jurist und Gelehrter gilt, während einer, der ausnahmsweise nicht listig sein,
70 Petrarca, Familiares (wie Anm.25), 20.4.21: „cum tamen artium primordia et auctores nosse et delectatione animi non vacet et ad eius de quo agitur notitiam intellectui opem ferat; cum preterea ille mechanicarum proprius [bezieht sich auf lucrum], liberalium vero et honestarum artium liberalior quidam et honestior sit finis.“ 71 Ebd.20.4.23: „Certe ut primus a doctrine multiplicis et celestis arce facundie ad unam equitatis ac civilis scientie disciplinam, sic secundus inde ad loquacem ignorantiam gradus fuit; unde iam cadendi amplius plena, ni fallor, securitas parta est.“ 72 Ebd. 73 Ebd.20.4.25: „Illi iustitiam sacris legibus armabant, hi exarmatam nudatamque prostituunt; apud illos veritas in precio fuit, apud hos fraus; illi certa et inconvulsa responsa dabant populis, hi dolis et fallaciunculis lites alunt, et quibus iudiciaria cuspide perimendis asciti sunt, fieri cupiunt immortales.“
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sondern den Weg der Wahrheit beschreiten will, als ungebildeter und törichter Mensch gilt – eine Formulierung, die derjenigen im etwa zeitgleich entstandenen „Brief an die Nachwelt“ ähnelt, die reine Absicht („puritas“) werde als Unwissenheit („inscitia“) ausgelegt. 74 Trotzdem will Petrarca seinen Fragesteller nicht enttäuschen. Er erkennt an, auch hier nahe an der Argumentation des „Briefes an die Nachwelt“, dass die Gesetze an sich nicht schlecht und für das öffentliche Wohl geschaffen worden sind, obwohl sie häufig zu seinem Schaden verkehrt werden. 75 Letztendlich stellten die Gesetze ein Instrument dar, das sich zum Guten, aber auch zum Schlechten wenden ließe, ganz nach den Motiven, die den Einzelnen dazu veranlassen, Recht zu studieren: „Zur Rechtsschule treibt den einen die Gier nach Gewinn, den anderen die Liebe zur Gerechtigkeit.“ 76 So wird der eine zum Söldner und Marktschreier, der andere zum Verkünder des Guten und Rechten. 77 Diese versöhnlichen Worte Petrarcas können nicht darüber hinwegtäuschen, dass er eben nicht nur moralisch argumentiert. Die Abgrenzung gegen die artes ist hierarchisch, sie greift letztlich nicht die einzelnen Juristen in ihrem Fehlverhalten, sondern die Stellung der Jurisprudenz selbst an. Dieser Abwertung entspricht der Überbietungsgestus, der von Anfang an den Verlauf der Argumentation kennzeichnet und als eine abgewandelte Form des ciceronianischen Strebens nach Auszeichnung gelten kann. Petrarca beschränkt sich in seiner Kritik nicht auf einzelne Aspekte der Jurisprudenz, sondern setzt ihr im Grunde ein alternatives Modell entgegen, indem er die Tradition des Juristen-Redners entwirft, die nicht nur die mythischen Anfänge, sondern vor allem die ursprüngliche Charakteristik dieses Studiums veranschaulichen soll. Seiner Eigeninszenierung nach steht Petrarca diesen Anfängen wesentlich näher als die Juristen seiner Zeit. An einer Stelle seines Briefes an Marco bemerkt er,
74
Ebd.20.4.26: „Quisquis horum promptius eluctantem et invitam legem ad libidinem suam traxit, is et
iurisconsulti munus implevit et docti viri meruit nomen; siquis autem rarus, procul ab his artibus [man beachte die Verwendung von artes im Sinne von List], rectum nude callem veritatis arripiat, preterquam quod lucri et gratie exors est, rudis insuper et insulsi hominis sit subiturus infamiam.“ 75
Ebd.20.4.27: „Non sunt enim leges male, quamvis ad salutem publicam invente, sepe in perniciem
convertantur“. 76
Ebd.20.4.31: „Iuris ad scolam illum lucri cupiditas, hunc iustitie amor ducit“.
77
Ebd.: „aderit extimator mentium et discretor intentionum et distributor ingeniorum deus, ut ille mer-
cennarius et circumforaneus strepitor, hic preclarus boni et equi professor iustitie patronus evadat“.
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dass es außerordentlich schwierig sei, einen Juristen zu finden, der zugleich ein Redner ist: Dieser Schlag Menschen sei sogar noch seltener als herausragende Dichter. 78 Petrarcas eigene Position ist damit klar ausgedrückt: Ausgerechnet er, der Fahnenflüchtling, steht als Dichter über den Juristen und in der Nähe des Juristen-Redners.
V. Der gekrönte Dichter Petrarcas Anspruch auf eine eigene – und sogar höhere – Autorität als Dichter findet seinen Ausdruck in seiner Krönung zum Dichter, die im April 1341 auf dem Kapitol stattfindet. 79 Dieser Versuch, die Figur des Dichters zu institutionalisieren und ihr Autorität zu verleihen, wendet sich, anders als es in Petrarcas eigener Darstellung der Krönung oft scheinen mag, nicht von vorneherein gegen die Autorität der Universität, sondern unternimmt den – letztendlich scheiternden – Versuch, sich dieser Autorität anzuschließen und zugleich über sie hinauszugehen. Was den Versuch angeht, das eigene Schaffen über universitäre Verfahrensweisen zu autorisieren, betonen alle Gelehrten, die sich mit Petrarcas Dichterkrönung auseinandergesetzt haben, den akademischen Charakter dieser Veranstaltung, angefangen bei Francesco Novati. 80 Wie Dieter Mertens in aller Deutlichkeit herausgearbeitet hat, ist es „das Verfahren der universitären Graduierung“, das die Dichterkrönung Petrarcas steuert. 81 Nicht die Anknüpfung an antike Traditionen, sondern
78 Ebd.20.4.12:„Quod genus certe rarissimum semper fuit, rarius quoque quam poetarum excellentium, quorum hauddubie raritas nota est.“ 79 Zur Frage des Datums siehe Carlo Godi, La ‚Collatio Laureationis‘ del Petrarca, in: Italia Medioevale e Umanistica 13, 1970, 1–27, hier 3–7. Siehe auch Dieter Mertens, Petrarcas ‚Privilegium laureationis‘, in: Michael Borgolte/Herrad Spilling (Hrsg.), Litterae Medii Aevi. Festschrift für Johanne Autenrieth zu ihrem 65. Geburtstag. Sigmaringen 1988, 225–247, hier 233. 80 Francesco Novati, Indagini e postille dantesche. Bologna 1899, 87: „La coronazione poetica era dall’universale considerata come una cerimonia d’alto valore scientifico, d’indole eminentemente accademica, e strettamente collegata al convento, di cui con lievi modificazioni riproduceva il processo, i riti, i particolari simbolici e caratteristici.“ 81 Dieter Mertens, Mont Ventoux, Mons Alvernae, Kapitol und Parnass. Zur Interpretation von Petrarcas Brief Fam. IV, 1 ‚De curis propriis‘, in: Andreas Bihrer/Elisabeth Stein (Hrsg.), Nova de veteribus. Mittel- und neulateinische Studien für Paul Gerhard Schmidt. München 2004, 713–734, hier 715f.
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die „Universität als Institution zur Vergabe von legitimen Auszeichnungen“ bildet nach Albert Schirrmeister ihren wichtigsten Bezugspunkt. 82 Die herausgehobene Rolle König Roberts, der Petrarca einer persönlichen, dreitägigen Prüfung unterzieht, steht dem akademischen Charakter der Krönung nicht entgegen. 83 Das studio in Neapel, das, 1224 von Friedrich II. gegründet, von Anfang an politischen Zwecken dient, zunächst als Gegengewicht zu der guelfisch dominierten Jurisprudenz in Bologna, ist seit jeher eng an den Herrscher gebunden. Mit den Anjou ändern sich zwar die politischen Vorzeichen, nicht aber der Charakter dieser Anbindung. Die Universität dient der königlichen Verwaltung als eine Art ‚Kaderschmiede‘; dementsprechend ist Neapel nicht korporativ organisiert, sondern untersteht der direkten Leitung des Königs. Er ist es auch, der die „licentia“ und den „magistratus“ vergibt. 84 Petrarcas Krönung zum Dichter richtet sich an diesen Gegebenheiten aus. Wie in der Literatur mehrfach vermerkt worden ist, entspricht seine ‚Prüfung‘ durch König Robert formal gesehen der „licentia“ oder „privata examinatio“, in der die Eignung des Kandidaten geprüft werden soll. 85 Im Normalfall fand eine solche Prüfung vor dem Kanzler und einer ganz nach dem Belieben des Königs zusammengestellten Kommission statt, die sowohl nach Zahl als auch Qualifikation ihrer Mitglieder variieren konnte. 86 Auch der König selbst hatte natürlich das Recht, solche Prüfungen vorzunehmen. Es stand ihm weiterhin zu, diese Prüfung ganz ausfallen zu lassen. 87 Der „conventus“ oder „magistratus“ stellt dagegen den öffentlichen Teil der Gra-
82
Albert Schirrmeister, Petrarcas Dichterkrönung: Das Verschwinden des Ereignisses in seiner Erzählung,
in: Ulrike Auhagen/Stefan Faller/Florian Hurka (Hrsg.), Petrarca und die römische Literatur. (Neo Latina, Bd. 9.) Tübingen 2005, 219–232, hier 225. 83
Zu der Prüfung durch Robert vgl. die Beschreibungen und Literaturangaben in Ernest H.Wilkins, Life
of Petrarch. Chicago 1961, 27; Ugo Dotti, Vita di Petrarca. Rom/Bari 1987, 86ff. Vgl. ebenfalls die Bemerkungen in Agostino Sottili, Petrarcas Dichterkrönung als artistische Doktorpromotion, in: Zweder von Martels/ Piet Steenbakkers/Arjo Vanderjagt (Eds.), Limae labor et mora. Opstellen voor Fokke Akkerman ter gelegenheid van zijn zeventigste verjaardag. Leende 2000, 20–31. 84
Darleen Pryds, Studia as Royal Offices: Mediterranean Universities of Medieval Europe, in: Courtenay/
Miethke/Priest (Eds.), Universities and Schooling (wie Anm.69), 83–99, hier 86–92. 85
Vgl. Mertens, Mont Ventoux (wie Anm.81), 715. Zur licentia vgl. Gennaro Maria Monti, L’età angioina,
in: Storia della Università di Napoli. Neapel 1924, 17–150, hier 54. 86
Monti, L’età angioina (wie Anm.85), 55–57.
87
1421 spricht Robert seinem „fisicus familiaris et fidelis noster“ Giacomo de Falco den Titel eines Ma-
gister zu, „omissis in hac parte consuetis sollemnitatibus aliis que in talibus requiruntur“; Monti, L’età angioina (wie Anm.85), 59. Siehe auch Pryds, Mediterranean Universities (wie Anm.84), 88.
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duierung dar, der nur auf ausdrückliche Erlaubnis des Königs stattfinden durfte. 88 Hier wiederholt der Kandidat seine Prüfung öffentlich und greift noch einmal die Punkte der „examinatio“ auf, um dann, als Zeichen seiner Promotion, ein Buch durch den Kanzler (oder einen anderen Abgesandten) überreicht zu bekommen. 89 In Petrarcas Fall handelte es sich natürlich um den Lorbeerkranz. 90 In dieses Bild fügt sich auch die Festrede Petrarcas ein, die „Collatio laureationis“. Schon der Begriff der collatio verweist auf die universitäre Praxis, den Kandidaten eine Ansprache halten zu lassen, in der er, wie in einer Art öffentlicher Vorlesung, einen Text auslegt. 91 Diesen Vorgaben entspricht auch der schon von Mertens bemerkte „akademische“ Aufbau der Rede. 92
VI. Dichter und Herrscher Doch trotz dieser Anlehnung an akademische Bräuche, die sich in der Ausstellung eines „privilegium laureationis“, also einer Promotionsurkunde vollendet, weist Petrarcas Dichterkrönung in verschiedener Weise über das akademische Umfeld hinaus. Dies gilt vor allem für die nachträgliche Darstellung und Kontextualisierung der Krönung in Buch IV der „Familiares“, die ihren institutionell-akademischen Charakter durch ein komplexes System intertextueller Verweise geradezu auslöscht. 93 Schirrmeister spricht in Bezug auf die Dichterkrönung zu Recht von
88 In einer Anordnung von 1277 heißt es: „Nullus in artibus et specialiter in medicinali scientia conventum in Neapoli presumat recipere [...] absque speciali nostri culminis licentia et mandato“; zitiert nach Monti, L’età angioina (wie Anm.85), 57. 89 Ebd. 90 Agostino Sottili, Petrarcas Dichterkrönung (wie Anm.83), 28, beschreibt die Krönung mit dem Lorbeerkranz pointiert als akademische birretatio. 91 So schreibt Rashdall in Bezug auf die Universität Paris: „at the ceremony itself some at least of the candidates were required to give expositions or lectures (known as ,collations‘) after the manner of masters lecturing in the schools upon various portions of the texts“. Diese collationes fanden „at the actual bestowal of the licence“ statt. Hastings Rashdall, The Universities of Europe in the Middle Ages. 3 Vols. London 1969, Vol.1, 457. Auf diese Aussagen bezieht sich auch Olga Weijers, Terminologie des universités au XIIIe siècle. Rom 1987, 375. 92 Mertens, Mont Ventoux (wie Anm.81), 716. 93 Zu diesem Verweissystem, das sich in der Spannung zwischen der berühmten Besteigung des Mont Ventoux (Fam. 4.1) und der Krönung auf dem Kapitol entfaltet, vgl. Mertens, Mont Ventoux (wie Anm.81); Stierle, Petrarca (wie Anm.27), 347–378.
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einem „Verschwinden des Ereignisses“, das die sozialen und kulturellen Implikationen der Dichterkrönung aus der Erzählung herausfiltert. 94 Die Heraushebung der Autorität König Roberts innerhalb dieser Erzählung entspricht dabei einer Neuordnung der Verhältnisse zwischen politischer Gewalt und kultureller Schaffenskraft, zwischen Herrscher und Dichter, eine Neuordnung, die sich besonders im Kontrast zu der anderen bekannten Dichterkrönung des 14.Jahrhunderts zeigt, der des Albertino Mussato in Padua, die im Dezember 1315 stattfindet. 95 In ihrem akademischen Charakter ähnelt Mussatos Krönung derjenigen Petrarcas; was beide Krönungen voneinander unterscheidet, ist ihr Verhältnis zu den politischen Autoritäten. Natürlich ist diejenige Mussatos in einen politischen Kontext eingebunden, hängt aber in ihrer Wertigkeit allein von den universitären Autoritäten ab: Mussato erhält seine Ehrung durch das „collegium artistarum“ der Universität, dessen Doktoren auch sein Krönungsdiplom unterschreiben. 96 Petrarca entscheidet sich bewusst gegen eine solche Zeremonie. Wie bekannt ist, hätte er die Möglichkeit gehabt, sich von der Artistenfakultät in Paris krönen zu lassen, von der er, wie er in einem Brief an Giovanno Colonna schreibt (Fam. 4.4), am gleichen Tag eine Einladung erhält wie aus Rom. 97 Dass Petrarcas Wahl auf König Robert und nicht auf die Pariser Artistenfakultät als ausschlaggebende Referenz fällt, eröffnet die Möglichkeit einer alternativen Autorisierung der eigenen Tätigkeit. Sie vereint den König und den Dichter in einem gemeinsamen Unternehmen, das durchaus militärische Züge trägt. In einem Brief an Robert schreibt Petrarca über seine bereits erfolgte Krönung: „Der Brauch des Lor94
Schirrmeister, Petrarcas Dichterkrönung (wie Anm.82), 230. Nach Schirrmeister ist dieses Verschwin-
den, das er mit dem Problem auktorialer Kontrolle in Verbindung bringt, die „notwendige Bedingung für Petrarca, seine exklusive Identität zu konstruieren“. Im Gegensatz zu späteren Dichterkrönungen, die sich auf den Kaiser als legitime Instanz beriefen, setze Petrarca einen „kaum dauerhaft zu vermittelnden emphatischen Rombegriff“. 95
Zu Mussatos Krönung vgl. Ernest H.Wilkins, The Making of the ,Canzoniere‘ and Other Petrarchan
Studies. (Storia e letteratura, Vol.38.) Rom 1951, 21–23, der sich vor allem auf Novati, Indagini e postille (wie Anm.80), 87–93, bezieht. Vgl. auch Jean-Frédéric Chevalier, Le couronnement d’Albertino Mussato ou la Renaissance d’une célébration, in: Bulletin de l’Association Guillaume Budé 2004, 42–55. 96
Novati, Indagini e postille (wie Anm.80), 108. Chevalier, Le couronnement (wie Anm.95), 51, unter-
streicht zu Recht die politische Dimension von Mussatos Krönung, die sich in eine „politique grandiose de constructions et d’embellissement“ einfüge. 97
Petrarca, Familiares (wie Anm.25), 4.4.1. Für Petrarca handelt es sich bei der Frage, ob er sich in Paris
oder Rom krönen lassen soll, um eine wegweisende Entscheidung, wie die Eröffnung des Briefes zeigt: „Ancipiti in bivio sum, nec quo potissimum vertar scio.“
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beerkranzes, während vieler Jahrhunderte nicht bloß unterlassen, sondern hier schon völlig vergessen, weil ganz andere Sorgen und Neigungen im Gemeinwesen walteten, ist nun zu unseren Lebzeiten – mit dir als Feldherrn und mir als einfachem Soldaten – zurückerobert worden.“ 98 Welches Gemeinwesen genau gemeint ist, lässt Petrarca offen, indem er die Grenzen zwischen ‚literarischer‘ und ‚politischer‘ res publica absichtsvoll verwischt und sich als Soldaten Roberts beschreibt, der, so scheint es, nicht mit dem Schwert, sondern mit der Feder für ihn kämpft. In der Tat hätte Petrarca als Biograph und Hofdichter Roberts ein wirkungsmächtiges Bild seiner Herrschaft über Neapel zeichnen können; ein solches propagandistisches Potential zeichnet sich bereits in dem zur Zeit der Krönung noch im Entstehen begriffenen, später nie vollendeten Epos „Africa“ ab. Diese Pläne, die Petrarca eine wichtige Stelle an Roberts Hof hätten verschaffen können, scheitern letztendlich, als der König am 20.Januar 1343 stirbt. 99 Was bleibt, ist die Autorisierung der eigenen Schreibarbeit durch Anbindung an ein politisches Machtzentrum, das sich im Gegenzug über ein eigens entworfenes kulturpolitisches Programm legitimieren kann, eine Konstellation, die auf die zahlreichen Humanisten des 15.Jahrhunderts vorausweist, die an Fürstenhöfen arbeiten. So arbeitet Lorenzo Valla, dessen Vorwort zu den „Elegantiae“ von einer ähnlichen Ambiguität zwischen der politischen Macht und den kulturellen Errungenschaften des Römischen Reichs geprägt ist, als Sekretär für König Alfonso von Aragon. Sowohl die „Collatio“ als auch das „privilegium“, die beide die Rolle des Dichters in Bezug zu der des Feldherrn oder Herrschers setzen, untermauern den Machtanspruch des Dichters mit Argumenten, die sich in den späteren Polemiken Petrarcas wiederfinden werden und die wichtigsten Kritikpunkte des Briefes an Marco da Genova vorzeichnen. In dem Teil der „Collatio“, die sich mit der Belohnung („premium“) des Dichters auseinandersetzt, kommt die Rede auf die Unsterblichkeit des Namens – sowohl der 98 Ebd.4.7.2: „Lauree morem non intermissum modo tot seculis, sed iam prorsus oblivioni traditum, aliis multum diversis curis ac studiis in republica vigentibus, nostra etate renovatum te duce, me milite.“ Übersetzung nach Petrarca, Vertraulichkeiten (wie Anm.25), Bd. 1, 202, und Stierle, Petrarca (wie Anm.27), 358, der den militärischen Aspekt durch die Wortwahl „Herrscher“ und „Soldat“ noch stärker hervorhebt. 99 Dieses Scheitern von Petrarcas Karriereplänen wird in Stierle, Petrarca (wie Anm.27), 379–381, herausgearbeitet.
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Dichter als auch der Leute, die sie verherrlichen. Man mag so ruhmreich und denkwürdig sein, wie man will – fehlt es an einem Dichter, der die Taten verewigt, wird man dem Vergessen anheimfallen. 100 In diesem Zusammenhang bezieht sich Petrarca auf eine Bemerkung Ciceros im Vorwort zu den „Gesprächen in Tusculum“, die den Grundgedanken des „Gorgias“ aufgreift, Fachleute seien oft nicht selbst in der Lage, ihr Fach zu erklären: „Wie schon Cicero [...] sagt: ‚Es ist ja möglich, dass einer richtig denkt und doch das, was er denkt, nicht fein genug zu formulieren vermag, und den Leser nicht irgendwie unterhalten und dadurch für sich gewinnen zu können, heißt, die eigene Muße und Bildung in ungebührlicher Weise zu missbrauchen‘.“ 101
Der Kontext, in dem Cicero diese Bemerkung macht, ist aufschlussreich, denn es geht um die Überlegenheit der römischen gegenüber der griechischen Kultur. Herausgehoben werden vor allem die Sitten, die politischen Einrichtungen und das Kriegswesen. 102 Eine wichtige Ausnahme bildet jedoch die Gelehrsamkeit („doctrina“). Hier hätten die Griechen einen Vorsprung vor den Römern, den Cicero auf die verspätete Einführung und Geringschätzung der Dichtkunst in Rom zurückführt. So hätte man den Dichtern in der frühen Republik keine Ehre erwiesen, die für die Förderung der Künste unerlässlich sei: „honos alit artes“. 103 Cicero zu zitieren ruft also einen Kontext auf, der sich mit Petrarcas eigener Argumentation kreuzt, hebt doch das Vorwort zu den Tuskulaner Gesprächen die Autorität des Dichters hervor, der, von früheren Generationen verkannt, eine komplementäre Stellung zu den Männern einnimmt, die sich durch ihre Tugend und Tapferkeit auszeichnen. Explizit erwähnt wird Marcus Fulvius Nobilior, der sich auf seinem Feldzug nach Ätolien von dem Dichter Ennius begleiten lässt – von genau
100 Zitiert nach der Ausgabe in Carlo Godi, La ,Collatio Laureationis‘ del Petrarca nelle due redazioni, in: Studi Petrarcheschi 5, 1988, 1–58, hier 45: „Et profecto multi fuerunt in vita gloriosi et memorabiles viri, tam in scripturis quam in re bellica, et quorum tamen nomina lapsu temporum contexit oblivio nullam ob aliam causam nisi quia litterati hominis que in animo habuerunt stilo mansuro et stabili comittere nesciverunt.“ 101 Godi, Collatio (wie in Anm.100), 46: „Nam, ut ait Cicero Tusculanarum primo: ‚Fieri potest ut recte quis sentiat et id quod sentit polite eloqui non possit, nec delectatione aliqua allicere lectorem hominis est intemperanter abutentis et otio et litteris‘; et hec de veris litteratis.“ 102 Cicero, Tusculanae Disputationes, 1.1.2. 103 Ebd.1.1.3–4. Ein weiterer wichtiger ciceronianischer Bezugspunkt ist natürlich die Rede „Pro Archia“.
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dem Ennius, der einen wichtigen Bezug für Petrarcas Dichterkrönung darstellt und eine wichtige Rolle in seinem Epos „Africa“ spielt. 104 Dennoch findet auch eine Verschiebung des Arguments statt. In den „Tusculanae“ bringt Cicero den Redner als eine Art Ersatz für den Dichter ins Spiel. Die römischen Redner seien anfänglich zwar nicht gebildet („eruditus“) gewesen, später aber gelehrt („doctus“) und in den Studien bewandert („studiosus“), so dass sie den griechischen Rednern in nichts nachstünden. Doch auch hier gäbe es eine Ausnahme: die Philosophie, die bis zu seiner Zeit keine Glanzpunkte in der lateinischen Literatur gesetzt habe. 105 In diesem Zusammenhang fällt der Satz, den Petrarca zitiert, allerdings so verkürzt, dass der ursprüngliche Zusammenhang nicht mehr ersichtlich wird. Denn anders als bei Cicero bezieht sich das Zitat im Kontext der Rede Petrarcas nicht auf die Philosophen, die unfähig sind, ihre Gedanken klar und geordnet niederzuschreiben, sondern auf alle ‚Tatmenschen‘, die sich Ruhm zwar verdient haben, aber niemanden finden, der ihre Taten verewigen könnte. Damit verschiebt sich der Fokus von einer Differenz zwischen rhetorischer und philosophischer Expertenkultur, die Cicero anspricht, zu einem gegenseitigen Angewiesensein von politischer und intellektueller Elite. Um dieses Angewiesensein geht es Petrarca, wenn er sich als Soldaten und König Robert als Heerführer beschreibt und seine geistigen Errungenschaften, die in der Krönungszeremonie ihren Ausdruck finden, dem politischen Schutz des Königs unterstellt – ein Schutz, der die akademische Legitimierung bei Weitem zu übertreffen scheint. Die Stärke dieser Verbindung besteht darin, dass sie – in Petrarcas Darstellung – nicht einseitig ist. Nicht nur der Dichter ist auf Unterstützung durch den König angewiesen, auch der König bedarf des Dichters, will er sich Ruhm in der Nachwelt verdienen. So klingen einige Passagen in der „Collatio“ ganz wie eine Warnung oder zumindest Ermahnung: „Heldenhafte und im Krieg bewanderte Männer“, heißt es an einer Stelle, „und auch andere, die es verdient hätten, ihren Namen verewigt zu sehen, gerieten in Vergessenheit, weil sie nicht das Glück hatten, einen guten Schriftsteller zu finden“. 106 104 Ebd.1.1.3. Zur Stilisierung des Ennius als „poeta laureatus et triumphans“ in Petrarcas „Africa“ vgl. Werner Suerbaum, Poeta laureatus et triumphans. Die Dichterkrönung Petrarcas und sein Ennius-Bild, in: Poetica 5, 1972, 293–328, hier 307–309. 105 Cicero, Tusculanae Disputationes, 1.1.5. 106 Godi, Collatio (wie in Anm.100), 46: „Fortes autem et bellicosi, vel alias ethernitatem nominis promeriti, in oblivionem abierunt quia non contigit eis scriptor idoneus.“
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Die Klugen unter den berühmten Männern hätten deswegen die Dichter in großen Ehren gehalten; sei es doch der Dichter, der ihren Ruhm an die Nachwelt vermitteln könne. 107 Der Kronzeuge dieser Konzeption ist – neben Cicero und Horaz – Claudian, aus dessen „De consulatu Stilichonis“ Petrarca folgende Zeilen zitiert: „Gern versammelt der Mut um sich als Zeugen die Musen / Liebt doch, wer des Gesangs Würdiges leistet, Gesang“. 108 Das „privilegium laureationis“ nimmt wesentliche Momente dieser Argumentation auf, bezieht sie aber zunächst nicht auf einzelne Personen, sondern die Stadt Rom. Sie hebt mit der eben erwähnten Unterscheidung zwischen „gloria corporis“ und „gloria mentis“ an, die in eine Erzählung eingebracht wird: Einst, heißt es in der Urkunde, habe Rom unzählige der Erinnerung würdige Persönlichkeiten hervorgebracht, sowohl in Bezug auf ihre Geistesgaben als auch auf die Kriegskünste. 109 Besondere Erwähnung finden die „historici“ und „poetae“, denen hier wie in der „Collatio“ die wichtige Funktion zukommt, die Namen dieser Persönlichkeiten zu verewigen. Nur durch ihre Bemühungen seien das Leben, die Sitten und die Namen der Gründer der Stadt wie vieler anderer berühmter Persönlichkeiten überliefert worden. 110 Deswegen stehen die Dichter den Herrschern in nichts nach: „Einer so großen Ehre hielt sie das Gemeinwesen würdig, dass sie sich dafür aussprachen, man solle den Herrschern und Dichtern ein und dieselbe Zierde des Lorbeers zuteil werden lassen, sofern sie ja sowohl die siegreichen Herrscher und Heerführer nach den Mühen des Kriegs als auch die Dichter auf die gleiche Art nach den Mühen des Studiums mit dem Lorbeer auszeichneten, durch das ewige Grün dieses Baums die Ewigkeit des im Krieg wie im Geist errungenen Ruhmes andeutend. Und dazu brachte sie vor allem folgende Überzeugung: So wie dieser Baum allein nicht vom Blitz getroffen
107 Ebd.: „Quod providentes quidam ex illustribus viris secum in magno honore habuere poetas ut esset aliquis qui eorum laudes transmittere posset ad posteros.“ 108 Claudian, De consulatu Stilichonis, 3. pr.5–6: „Gaudet enim virtus testes sibi iungere Musas; / carmen amat quisquis carmine digna erit“. Petrarca verwendet die Vorrede zu Buch III auch in seiner Scipio-Vita und in „Africa“ 9.5.398ff., eine Passage, die die Krönung des Ennius zum Dichter schildert. Wie Suerbaum, Poeta laureatus (wie Anm.104), 313, betont, geht Petrarca in dieser Schilderung über Claudian hinaus: Während Ennius den Lorbeerkranz ausdrücklich als Mitkämpfer und Soldat erhält, wird ihm diese Ehre bei Petrarca als Dichter zuteil. „Bei Petrarca ist Ennius nicht mehr Soldat, sondern Dichter und feiert als solcher einen ‚studiorum almaeque poesis triumphum‘“. 109 Mertens, Privilegium (wie Anm.79), 236. 110 Ebd.236f.
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werde, so fürchte der Ruhm der Herrscher und Dichter allein nicht den Lauf der Zeit, der nach der Art des Blitzes alles niederstreckt.“ 111
Die res publica ehrt also den Dichter auf Augenhöhe mit dem Feldherrn. Diesem Gedanken entspricht auch die Ausgestaltung der Krönungszeremonie. So schließt die Krönung Petrarcas nach Marion Steinicke nicht nur an akademische Riten an, sondern vor allem an das politisch-religiöse Ritual des triumphus. 112 In dieser Sichtweise führt Petrarcas Dichterkrönung den martialischen Triumph des Feldherrn mit dem apollinischen Triumph des Dichters zusammen – allerdings ohne eine Entsprechung in der antiken Tradition zu haben: „Die Initiation des modernen Dichterfürsten [...] wird durch eine ehrwürdige Tradition autorisiert, die es niemals gegeben hat und die erst mit dem rituellen Einsetzungsakt selbst geschaffen wird.“ 113
VII. Das Spiel der Zeiten Stellt die enge Anbindung des Dichters an den Herrscher einen wichtigen ideologischen Aspekt der Dichterkrönung Petrarcas dar, geht sie auch in einem weiteren Aspekt über die akademische Anlage dieser Veranstaltung hinaus. In seiner Krönungsrede wie in der Krönungsurkunde eröffnet Petrarca ein Spiel der Zeiten, dass ihm nicht nur politisch, sondern auch intellektuell Raum schafft. Der Anspruch des Dichters auf eine grundlegende gesellschaftliche Rolle wird rückgebunden an eine Erzählung, die das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft neu bestimmt. Diese auf einer zeitlichen Ebene stattfindende Modifikation drückt sich allerdings auf räumliche Weise aus. Petrarca bedarf der Schaffung eines ‚wüsten Lands‘, einer, wie Albert Schirrmeister es nennt, Leere, die „als notwendige Voraussetzung für seine 111 Ebd.238 f: „Tanto enim honore dignos illos censuit res publica, ut unum atque idem laureae decus assignandum censeret caesaribus et poetis, siquidem et caesares ducesque victores post labores bellorum et poetas similiter post labores studiorum lauro insignibant, per aeternam scilicet viriditatem arboris illius aeternitatem tam bello quam ingenio quaesitae gloriae designantes. Atque illud imprimis quod sicut arbor haec sola non fulminari creditur, sic caesarum et poetarum gloria illam, quae more fulminis cuncta prosternit, sola non metuit vetustatem.“ 112 Marion Steinicke, Dichterkrönung und Fiktion. Petrarcas Ritualerfindung als poetischer Selbstentwurf, in: dies./Stefan Weinfurter (Hrsg.), Investitur und Krönungsrituale. Herrschaftseinsetzungen im kulturellen Vergleich. Köln 2005, 427–446, hier 436. 113 Steinicke, Dichterkrönung und Fiktion (wie Anm.112), 437.
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durch den Dichter zu realisierende Präsenz“ erscheint. 114 Dieses wüste Land liegt im Herzen der gegenwärtigen Kultur und zugleich im Herzen Roms. In einem Brief an seinen Gönner Robert von Anjou (Fam. 4.7) schreibt Petrarca nach der Krönung, der König habe die „verlassenen Musen (‚desertae Pyerides‘) mit einer neuen Wohltat verpflichtet“ und „die Stadt Rom und das ausgediente Kapitol (‚obsoletum capitolium‘) mit unverhoffter Freude und ungebräuchlichem Blätterkranz verherrlicht“. 115 Wie bereits Wilkins festgestellt hat, nimmt dieser Satz eine Formulierung aus der „Collatio“ auf, der Ansprache, die Petrarca während der Krönungsfeierlichkeiten vorträgt. 116 Die Ansprache legt zwei Zeilen aus Vergils „Georgica“ aus: „Aber mich treibt die süße Liebe durch die steilen Einöden des Parnaß“ („Sed me Parnasi deserta per ardua dulcis / raptat amor“). 117 In diesem Zusammenhang nennt er zunächst drei Schwierigkeiten, mit denen er als Dichter zu kämpfen hat: „natura, Fortuna und die temporum meorum cura“. Der letzte Punkt, die Sorge um die heutige Zeit, greift dabei nicht zufällig das Wort „deserta“ auf: „Zu meinem dritten Punkt werde ich nichts weiter sagen, als das, was auf der Hand liegt. Einst gab es nämlich eine Zeit, ein für die Dichter glücklicheres Zeitalter, da sie in höchsten Ehren gehalten wurden. [...] Heute aber ist alles anders, wie ihr seht. Es ist ganz offensichtlich und bedarf keines Beweises, so dass ich jetzt mit Fug und Recht das anbringen kann, was schon damals Juvenal voll Hass auf den Wandel der Zeiten sagte: ‚Zerbrich deine Feder, Unglücklicher, und lösche deine in so vielen schlaflosen Nächten besungenen Schlachten, der du in deiner kleinen Zelle erhabene Gedichte verfertigest, damit man dich eines Efeukranzes würdig halte‘!“ 118
Im Folgenden geht Petrarca auf die Motive ein, die ihn antreiben, die genannten
114 Schirrmeister, Petrarcas Dichterkrönung (wie Anm.82), 230. 115 Petrarca, Familiares, 4.7.2: „Novo nuper beneficio desertas Pyerides obligasti, quibus hoc meum quantulumcunque est ingenium solemniter consecrasti; ad hec et urbem Romam et obsoletum Capitolii palatium insperato gaudio et insuetis frondibus decorasti.“ 116 Wilkins, Life of Petrarch (wie Anm.83), 42. 117 Vergil, Georgica, 3.292f. 118 Godi, Collatio (wie in Anm.100), 33 f: „Fuit enim quoddam tempus, fuit etas quedam felicior poetis, quando in honore maximo habebantur. [...] Hodie vero, ut videtis, mutata sunt omnia. Res in aperto est et probatione non eget, ut nunc merito dici possit quod iam tunc, mutationem temporum perosus, idem Satiricus dicebat: Frange, miser, calamos, vigilataque prelia dele, / qui facis in parva sublimia carmina cella / ut dignus venias ederis.“
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Schwierigkeiten zu überwinden. Gleich an erster Stelle steht der „honor rei publice“, die Ehre des „Gemeinwesens“, das auch hier wieder zwischen einer politischen und kulturellen Bedeutung changiert. Genau in diesem Zusammenhang fallen die Worte, die auch in Petrarcas Brief an Robert stehen: „Zuerst versetzt es mir einen Stich, daran zu erinnern, dass zwar einst hier in dieser Stadt Rom – ‚aller Länder fester Burg‘, wie Cicero sagt –, hier auf dem römischen Kapitol, wo wir jetzt stehen, so viele und so große Dichter zum Gipfel ruhmreicher Meisterschaft aufgestiegen sind und den verdienten Lorbeer erlangt haben; dass aber jetzt diese Einrichtung nicht bloß ausgesetzt, sondern aufgegeben, ja nicht nur aufgegeben, sondern zu einem Wunderding verkehrt wurde und inzwischen mehr als eintausendzweihundert Jahre lang abgekommen ist.“ 119
Gegen dieses Vergessen setzt Petrarca seine Dichterkrönung und konstruiert sich mit ihr ein Gegenbild zur gegenwärtigen Universitätskultur, auf die er just an dieser Stelle zu sprechen kommt, wenn er seine Einladung nach Paris erwähnt. Wie er selbst zugibt, habe die dortige Universität einen ausgezeichneten Ruf, so dass er sich zunächst nicht entscheiden mochte; dann aber sei seine Wahl auf Rom gefallen. Petrarca nennt seinem Publikum zwei Gründe, die ihn zu dieser Entscheidung gebracht haben: zum einen seine „Vaterlandsliebe“, zum anderen seine Verehrung der antiken Dichter, die in Rom ihre Glanzzeit hatten, hier lebten und begraben liegen. 120 Die Sprache kommt also auf die Vergangenheit Roms, die der Gegenwart von Paris entgegengesetzt wird, und das auf scheinbar paradoxe Weise: In Rom ist die Vergangenheit nämlich nicht vergangen, sondern in der Erinnerung gegenwärtig und hat zudem eine große Zukunft vor sich („non inglorium futurum esse confido“). Um die Wirkung Roms auf seinen Geist zu schildern, zitiert Petrarca eine Passage aus „De legibus“, in der Cicero von der Wirkung berichtet, die der Besuch Athens auf ihn
119 Ebd.36: „Primum me pungit dum recolo quondam in hac eadem urbe Roma – ‚omnium arce terrarum‘, ut ait Cicero – in hoc ipso Capitolio Romano, ubi nunc insistimus, tot tantosque vates, ad culmen preclari magisterii provectos, emeritam lauream reportasse; nunc vero morem illum non modo intermissum, sed obmissum, nec obmissum tantum, sed in miraculum esse conversum, et iam ultra mille ducentos annos obsolevisse.“ Ich zitiere die deutsche Übersetzung aus Mertens, Mont Ventoux (wie Anm.81), 713. 120 Ebd.38: „ego, propter presentem famam Studii illius aliquandiu fluctuassem, ad postremum tamen decrevi huc potissimum me conferre, cur queso, nisi ut Vergilius ait: ‚vicit amor patrie?‘ Nec negaverim plurimum me in hanc sententiam impulisse affectum quemdam et reverentiam veterum poetarum qui excellentibus ingeniis in hac eadem urbe floruerunt, hic vixerunt, hic denique sepulti sunt.“
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macht: „Auf eine Art und Weise, die ich nicht fassen kann, werden wir von den Orten angerührt, an denen sich die Spuren derer finden, die wir lieben und bewundern.“ 121 Im Hintergrund dieses Zitats steht, von Petrarca in der „Collatio“ unerwähnt, eine bekannte Stelle aus „De finibus“. Zu Beginn des fünften Buches beschließen Cicero und seine Gesprächspartner, einen Nachmittagsspaziergang in der Akademie zu machen. Auch hier kommt die Rede auf die „Kraft der Erinnerung“ („vis admonitionis“), die Orten innewohnt. 122 „Wir setzen unseren Fuß ja überall, wohin wir treten, auf ein Stück Geschichte“, sagt einer der Gesprächsteilnehmer. 123 Petrarca kannte diese Passage. Implizit greift er sie in einer zeitlich eng mit der Krönung in Rom verbundenen Schilderung eines Spaziergangs auf, den er in Begleitung Giovanni Colonnas durch die Ruinen der Stadt unternimmt (Fam. 6.2). 124 Die Beschreibung der Ruinen in diesem Brief ist verschieden interpretiert worden: Sie veranschauliche, so Guiseppe Mazzotta, die Differenz zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem – und somit die Uneinholbarkeit des Vergangenen. 125 Gur Zak betont dagegen den Sinn für das Fragmentarische und den Zustand des Exils, der diesen Brief ausmacht und von Petrarca auf den Verlust eines mythischen ‚goldenen Zeitalters‘ zurückgeführt werde. 126 In diesen Interpretationen scheint ein argumentatives Muster auf, das Petrarca in seinem Brief an Marco wieder aufgreifen wird: Dem wüsten Zustand der Gegenwart, dem ein Verfall der Künste und Wissenschaften entspricht, steht ein ‚goldenes Zeitalter‘ entgegen, das sich in den Figuren des Dichters und des Redners konkretisiert, die diesen Zustand kontrapunktieren. Die Gespräche zwischen Petrarca und Colonna drehen sich bezeichnenderweise nicht nur um die geschichtlichen Begebenheiten Roms („de historiis“) und um die Moralphilosophie („de ea parte philosophie que mores instruit“), die Cicero explizit dem Redner zuschreibt; sie behandeln auch die Entstehung der artes liberales und mechanici. 127
121 Cicero, De legibus, 1.11.32: „Movemur enim, nescio quo pacto, locis ipsis, in quibus eorum, quos diligimus aut admiramur, assunt vestigia.“ 122 Cicero, De finibus, 5.1.2 123 Ebd.5.2.5: „quacumque enim ingredimur, in aliqua historia vestigium ponimus“. 124 Wann der Spaziergang tatsächlich stattgefunden hat, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Wilkins, Life of Petrarch (wie Anm.83), 28f., lässt ihn in den Tagen nach der Krönung stattfinden, Dotti, Vita di Dante (wie Anm.83), 46f., während Petrarcas ersten Romaufenthalts 1337. 125 Giuseppe Mazzotta, The Worlds of Petrarch. Durham 1993, 20. 126 Gur Zak, Petrarch’s Humanism and the Care of the Self. Cambridge 2010, 3f.
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Seltsam erscheint auf den ersten Blick, dass Petrarca nicht in der Lage ist, dieses Thema, wie von Colonna verlangt, schriftlich in seinem Brief darzulegen; es fehle ihm an der nötigen Muße, schreibt Petrarca, am Ort und der Zeit ihrer Unterhaltung, an Giovanni als seinem Gesprächspartner. Alles sei verändert, schreibt er, und benützt damit die gleiche Formulierung wie in der „Collatio“. 128 Und doch liegt es nahe, dieses Unvermögen durch den einmaligen Moment der Inspiration zu erklären, der im Zusammenspiel von Zeit und Ort, von einer durch die Anwesenheit der Ruinen und einer im eigenen geschichtlichen Bewusstsein gegenwärtigen Vergangenheit, ausgelöst wird und zu einer ‚Vision‘ der freien und mechanischen Künste führt, die sich der Einfachheit des goldenen Zeitalters zwar annähert, aber unter anderen Umständen nicht wiederholbar ist. Gerade darin scheint aber eine Funktion von Petrarcas Dichterkrönung zu bestehen: Die Vergangenheit durch einen einmaligen Kraftakt der Erinnerung gegenwärtig zu machen, sie als einen neuen Möglichkeitsraum in die Gegenwart einzuschreiben. 129 Letztendlich fällt die Wahl Petrarcas auf Rom, da nur von hier aus der Überschreibungsprozess initiiert werden kann, von dem Dieter Mertens spricht: Petrarcas Entscheidung für Rom bietet ihm einen „ungleich größeren Spielraum für eine andere programmatisch-ideelle Ausgestaltung“. 130 So bricht die Krönung in Rom in gewisser Weise die Autorität König Roberts als Haupt der Universität Neapel; Petrarca entzieht sich den üblichen Vorgaben, dass die neapolitanischen Magister in Neapel verbleiben müssen und dort in die Verwaltung gehen. 131 Des Weiteren bringt sie Rom als eine Art Gegenort, der einen argu-
127 Petrarca, Familiares 6.2.17: „Flagitasti ut dicerem explicite unde putarem liberales et unde mechanicas initium habuisse, quod carptim ex me audieras.“ 128 Ebd.6.2.18: „Redde michi illum locum, illud otium, illam diem, illam attentionem tuam, illam ingenii mei venam: potero quod unquam potui. Sed mutata sunt omnia; locus abest, dies abiit, otium periit, pro facie tua mutas literas aspicio.“ Nach Karl Enenkel in Francesco Petrarca, De vita solitaria. Leiden 1990, 525, lässt sich „De vita solitaria“ 6.8–11 als eine Behandlung dieses Themas lesen: „Petrarca hat hier, im Anschluß an seinen Vortrag in den Diokletiansthermen, gewissermaßen eine Entwicklungslinie ausgesteckt.“ 129 Schirrmeister, Petrarcas Dichterkrönung (wie Anm.82), 228, weist mit Anthony Grafton auf die „ausdrückliche Exklusivität“ von Petrarcas Rombild hin. Er sieht Petrarcas späteres Schweigen über die collatio und das privilegium laureationis in der Textsorte dieser Dokumente begründet, die, da prinzipiell wiederholbar, seine Selbstrepräsentation als „Einzigen“ unterlaufen. 130 Mertens, Mont Ventoux (wie Anm.81), 714. 131 Monti, L’età angioina (wie Anm.85), 57.
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mentativen Raum und damit die ideologischen Voraussetzungen für einen Angriff auf die bestehenden Expertenkulturen schafft, ins Spiel.
VIII. Schluss Die Polemik zwischen Petrarca und den Juristen, die ihren Niederschlag in dem Brief an Marco da Genova findet, entzündet sich also nicht erst in den 1350er Jahren. Der eigentliche Auslöser für Petrarcas andauernde Polemik nicht nur gegen die Juristen, sondern auch gegen die Vertreter anderer Disziplinen ist seine Krönung zum Dichter. Die Dichterkrone, schreibt Petrarca in einem späten Brief (Sen. 17.2) an Giovanni Boccaccio vom 23.April 1373, hätte ihm nichts an Weisheit, nichts an Beredsamkeit gebracht, sondern nur unendlichen Neid. „Diese Ehre spitzte fast alle Zungen und Federn gegen mich, und ich musste beständig Kämpfe bestehen, mich immer verteidigen und zur Linken und zur Rechten die Hiebe der Freunde parieren, die die Eifersucht zu meinen Feinden gemacht hatte.“ 132
Der Unterschied zwischen der Krönung in Rom und Petrarcas späteren Auseinandersetzungen mit Medizinern, Juristen und Philosophen besteht in der immer weiter fortschreitenden Ablehnung der akademischen Wissenskultur. Versucht Petrarca zur Zeit seiner Krönung, sich auf seine eigene Weise in die universitäre Kultur seiner Zeit einzufügen und sich Geltung zu verschaffen, zeigen seine späteren Schriften keinen Willen zur Eingliederung mehr. Deswegen verschwinden die akademischen Elemente aus seiner Erzählung. Am Ende seines Lebens, in seinem Streit mit den Philosophen, bezeichnet sich Petrarca stolz als einen „illiteratus“, der über eine ganz andere Art von Wissen verfügt als die Expertenkulturen seiner Zeit. 133 Er 132 „Et quid putas? Nil prorsus scientie, nil eloquentie illa mihi: inuidie autem infinitum attulit: et quietem abstulit sic inanis glorie et iuuenilis audatie penas dedi: ex illo enim ferme omnes in me linguas et calamos acuere: semper signis erectis in acie standum fuit: semper nunc ad dextram: nunc ad leuam insultantibus obsistendum ex amicis hostes mihi fecit inuidia.“ Ich zitiere nach Wilkins, Making (wie Anm.95), 69. Wilkins zitiert die „Seniles“ nach Francesco Petrarca, Librorum Francisci Petrarche impressorum annotatio. Tomus II. Venedig 1501. Die deutsche Übersetzung stammt, an einer Stelle abgewandelt, aus Stierle, Petrarca (wie Anm.27), 362, der sich an der Ausgabe Francesco Petrarca, Opera quae extant omnia. Vol.2. Basel 1554, orientiert, die orthographisch, aber nicht dem Wortlaut nach von der von Wilkins benutzten Ausgabe abweicht. 133 Dieser Punkt wird ausführlich erläutert in Ruedi Imbach, Virtus illiterata. Zur philosophischen Be-
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stilisiert sich selbst zum Laien; zu einem Laien allerdings, der den Experten überlegen ist, so wie der Dichter und Redner den einzelnen Fachleuten in der Medizin, Jurisprudenz und Philosophie überlegen ist. Die Humanisten des 15.Jahrhunderts nehmen diese verschiedenen Aspekte von Petrarcas Kritik an den Experten auf. So wird Lorenzo Valla (1405/1407–1456) die humanistische Polemik in dem eindrücklichen Bild einer von den Expertenkulturen des Mittelalters verwüsteten Bildungslandschaft auf die Spitze treiben: „Alles durcheinander, gebrandschatzt, zerstört! Kaum steht noch die kapitolinische Burg. [...] Die Philosophie treiben, verstehen nicht die Philosophen, die Anwälte nicht die Redner, die Gesetzeskrämer nicht die Juristen [...]“. 134
Wie Camillus einst Rom von den Galliern befreit habe, schreibt Valla in den „Elegantiae“, so müssten nun die Humanisten dieses Terrain zurückerobern. 135 Allerdings ist Valla einer der letzten, die ihre Kritik noch mit einer ähnlichen Vehemenz und zerstörerischen Kraft wie Petrarca vorbringen. Der sozio-institutionelle Raum, der sich aus Petrarcas Polemik gegen die Experten ergibt, wird immer mehr zu einem, der nicht erstritten werden muss, sondern einfach da ist. In ihm entstehen
deutung der Scholastikkritik in Petrarcas Schrift ‚De sui ipsius et multorum ignorantia‘, in: Jan A. Aertsen/ Martin Pickavé (Hrsg.), ‚Herbst des Mittelalters?‘ Fragen zur Bewertung des 14. und 15.Jahrhunderts. Berlin/New York 2004. 134 Lorenzo Valla, In sex libros Elegantiarum praefatio, in: Eugenio Garin (Ed.), Prosatori latini del Quattrocento. Mailand/Neapel 1952, 594–601, hier 598: „Nam quis litterarum, quis publici boni amator a lacrymis temperet, cum videat hanc [scil. linguam latinam] in eo statu esse, quo olim Roma capta a Gallis? Omnia eversa, incensa, diruta, ut vix capitolina supersit arx. Siquidem multis iam saeculis non modo nemo latine locutus est, sed ne latina quidem legens intellexit: non philosophiae studiosi philosophos, non causi dici oratores, non legulei iurisconsultos, non ceteri lectores veterum libros perceptos habuerunt aut habent, quasi amisso Romano imperio non deceat romane nec loqui nec sapere, fulgorem illum latinitatis situ ac rubigine passi obsolescere.“ 135 Ebd.598–600: „Quousque tandem Quirites (litteratos appello et romanae linguae cultores [...]), quousque, inquam, Quirites, urbem nostram, non dico domicilium imperii, sed parentem litterarum, a Gallis captam esse patiemini? [...] Camillus nobis, Camillus imitandus est, qui signa, ut inquit Virgilius, in patriam referat eamque restituat.“ Wie schwierig sich diese Rückeroberung mitunter gestalten konnte, hatte Valla bereits früh am eigenen Leib erfahren: 1433 war er als Lehrer für Rhetorik an der Universität Pavia entlassen, wenn nicht von wütenden Studenten verjagt worden, weil er es gewagt hatte, die lateinische Begrifflichkeit der Glossatoren zu kritisieren. Vgl. hierzu die Bemerkungen Eckhard Keßlers in der Einleitung zu Lorenzo Valla, Von der Lust oder Vom wahren Guten. Lateinisch-deutsche Ausgabe = De voluptate, sive, De vero bono. München 2004, xxxiv–xxxviii.
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neue Expertenfiguren wie der Kristeller’sche „humanista“, der Lehrer der „studia humanitatis“, aber auch der Hofmann, der Diplomat, der Sekretär. 136 Mit der zunehmenden Einbindung der Humanisten in den frühneuzeitlichen Alltag entstehen zudem neue theoretische Probleme, die vor allem die Abgrenzung der artes honestae und der artes mechanicae betreffen. So gelingt es einem Humanisten wie dem in Neapel wirkenden Giovanni Pontano (1429–1503) in seiner Abhandlung über die Klugheit nicht mehr, der aristotelischen Lehre gemäß eine scharfe Trennlinie zwischen der Tugend der prudentia und der ars im Sinne einer kunstgemäßen Fertigkeit zu ziehen – eine Unfähigkeit, die letztlich auf Machiavellis Politikverständnis vorausweist und ein weiteres Mal die Koordinaten des vormodernen Expertentums verschieben wird. 137
Dieser Beitrag ist im Rahmen meiner Tätigkeit als Postdoktorand am Graduiertenkolleg „Expertenkulturen des 12.–16.Jahrhunderts“ in Göttingen entstanden. Ich danke meinen Kollegen und den am Kolleg beteiligten Dozenten für die vielen anregenden Diskussionen und Gespräche, ohne die dieser Beitrag nicht hätte entstehen können. Auch auf den im Rahmen des Graduiertenkollegs organisierten Symposien kam das Verhältnis von Expertenkulturen und Humanismus immer wieder auf interessante Weise zur Sprache, so in Vorträgen von Eckhard Keßler, Jan-Dirk Müller und Manfred Hinz, denen ich wichtige Hinweise verdanke. Sehr anregend war zudem ein Streitgespräch über „Humanistische Bewegung und Expertenkultur“ am Göttinger Zentrum für Mittelalter- und Frühneuzeitforschung, das ich unter der Leitung von Thomas Kaufmann mit Sabrina Ebbersmeyer und Gerrit Walther führen konnte. Schließlich danke ich Giulia Perucchi, Messina, für ihren Hinweis auf das wichtige Buch von Francesco Bausi, Petrarca Antimoderno. Studi sulle invettive e sulle polemiche petrarchesche. Florenz 2008. Leider konnte es in meinem Beitrag nicht mehr berücksichtigt werden.
136 Für einen ersten Überblick zu den beiden letztgenannten Thematiken vgl. Daniela Frigo, Prudence and Experience: Ambassadors and Political Culture in Early Modern Italy, in: Journal of Medieval and Early Modern Studies 38, 2008, 15–34; Douglas Biow, Doctors, Ambassadors, Secretaries: Humanism and Professions in Renaissance Italy. Ithaca 2002. 137 Zu dieser Problematik vgl. Carlo Ginzburg, Pontano, Machiavelli and Prudence: Some Further Reflections, in: Diogo Ramada Curto/Eric R. Dursteler/Julius Kirshner/Francesca Trivellato (Eds.), From Florence to the Mediterranean and Beyond. Essays in Honour of Anthony Molho. Florenz 2009, 117–125.
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Kyot und Kundrie: Expertenwissen in Wolframs „Parzival“ von Michael Stolz
In der Neuzeit führt die zunehmende Ausdifferenzierung von Wissen zu einer Delegation partikularer Wissensbereiche an die Sozialkategorie des ‚Experten‘. Diese Delegation ist auch im Zusammenhang mit einer zunehmenden Beschleunigungserfahrung 1 zu sehen: der Wahrnehmung von Beschleunigungen in historischen Prozessen, bei interaktiven Abläufen im gesellschaftlichen Bereich, beim Zuwachs von Wissen und beim Umgang mit diesem Zuwachs. Paradigmen dieser Beschleunigung sind soziokulturelle Umwälzungen wie der Buchdruck, die Reformation und besonders die bürgerliche Revolution in Frankreich von 1789. Als spätere Ausläufer wären die ‚samtene Revolution‘ von 1989 und die Medienrevolution der letzten Jahrzehnte zu nennen. Die im Rahmen dieser historischen Veränderungen von den Zeitgenossen wahrgenommene Beschleunigung fördert den Bedarf eines immer weiter ausdifferenzierten Netzwerks von Experten. Im Mittelalter entwickelt sich Wissen hingegen weitgehend unabhängig von solchen Beschleunigungen. Wissen ist in den Jahrhunderten vor der Reformationszeit an den engeren oder weiteren Kontext konventioneller Institutionen wie der Kirche, des Hofes, der Stadt gebunden und findet seine bedeutendste Ausprägung in den hoch- und spätmittelalterlichen Universitäten. 2 Der Typus des über Spezialwissen verfügenden, ‚ad hoc‘ verfügbaren Experten, wie ihn die Neuzeit und vor allem
1 Der Begriff wurde von Reinhart Koselleck in zahlreichen Aufsätzen entwickelt. Stellvertretend sei verwiesen auf Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit, in: Hans Barion u.a. (Hrsg.), Epirrhosis. Festgabe für Carl Schmitt. Berlin 1968, Bd. 2, 549–566, Ndr. in ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 1989, 17–37, hier 19–22; ders., ‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘ – zwei historische Kategorien, in: Ulrich Engelhardt/Volker Sellin/Horst Stuke (Hrsg.), Soziale Bewegung und politische Verfassung. Beiträge zur Geschichte der modernen Welt. (Industrielle Welt, Sonderbd. Werner Conze zum 31.Dezember 1975.) Stuttgart 1976, 13–33, Ndr. in: ders., Vergangene Zukunft, 349–375, hier 368f.; ders., Zeitverkürzung und Beschleunigung. Eine Studie zur Säkularisation, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt am Main 2003, 177–202, bes. 195–202. 2 Vgl. stellvertretend Walter Rüegg (Hrsg.), Geschichte der Universität in Europa. Bd. 1: Mittelalter. München 1993; Rainer Christoph Schwinges (Hrsg.), Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte aka-
oldenbourg DOI 10.1524/9783486717952.83
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unsere Gegenwart kennt 3, ist hier eher selten anzutreffen. Er entsteht vielmehr an den Rändern der genannten Institutionen, etwa in den Bereichen einer sich zunehmend ausdifferenzierenden Laiengesellschaft, wie sie z.B. aus der Verbindung höfischer und klerikaler Interaktionsformen hervorgeht. 4 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach dem ‚realen Status‘, den der Typus des Experten einnimmt. Welche Rolle kommt dem Experten zu als einem Spezialisten, der kompetent einen partikularen Wissensbereich beherrscht, als einem Spezialisten, der sein partikulares Sonderwissen jederzeit abrufbereit zur Verfügung stellen kann und damit die Bedürfnisse einer in ständigem raschen Wandel begriffenen Welt erfüllt? Kurz gefragt: Ist ein solcher Typus tatsächlich existent? Oder entspricht er nicht vielmehr der Projektion eines kollektiven Imaginären, eines Imaginären, das zu der Binarität von ‚Realem‘ und ‚Fiktivem‘ hinzutritt und als solches zwischen beiden Kategorien zu vermitteln vermag? 5 Bezogen auf den Experdemischer Eliten des 14. bis 16.Jahrhunderts. (ZHF, Beih. 18.) Berlin 1996; Martin Kintzinger, Wissen wird Macht. Bildung im Mittelalter. Ostfildern 2003. 3 Vgl. z.B. Helga Nowotny, Experten, Expertisen und imaginierte Laien, in: Alexander Bogner/Helge Torgersen (Hrsg.), Wozu Experten? Ambivalenzen der Beziehung von Wissenschaft und Politik. Wiesbaden 2005, 33–44; Eric J. Engstrom/Volker Heß/Ulrike Thoms (Hrsg.), Figurationen des Experten. Ambivalenzen der wissenschaftlichen Expertise im ausgehenden 18. und frühen 19.Jahrhundert. (Berliner Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte, Bd. 7.) Frankfurt am Main/Berlin/Bern 2005. 4 Vgl. stellvertretend Herbert Grundmann, Litteratus – illitteratus. Der Wandel einer Bildungsnorm vom Altertum zum Mittelalter, in: AKG 40, 1958, 1–65, Ndr. in: ders., Ausgewählte Aufsätze. 3 Tle. (1976–1978). T.3: Bildung und Sprache. (Schriften der Monumenta Germaniae Historica, Bd. 25,3.) Stuttgart 1978, 1–66; Georg Steer, Der Laie als Anreger und Adressat deutscher Prosaliteratur im 14.Jahrhundert, in: Walter Haug/Timothy R. Jackson/Johannes Janota (Hrsg.), Zur deutschen Literatur und Sprache des 14.Jahrhunderts. Dubliner Colloquium 1981. Heidelberg 1983, 354–367; Ludger Grenzmann/Karl Stackmann (Hrsg.), Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981. (Germanistische Symposien. Berichtsbände, Bd. 5.) Stuttgart 1984; Klaus Schreiner, Laienbildung als Herausforderung für Kirche und Gesellschaft. Religiöse Vorbehalte und soziale Widerstände gegen die Verbreitung von Wissen im späten Mittelalter und in der Reformation, in: ZHF 11, 1984, 257–354; Ruedi Imbach, Laien in der Philosophie des Mittelalters. Hinweise und Anregungen zu einem vernachlässigten Thema. (Bochumer Studien zur Philosophie, Bd. 14.) Amsterdam 1989; Eckart Conrad Lutz/Ernst Tremp (Hrsg.), Pfaffen und Laien. Ein mittelalterlicher Antagonismus? Freiburger Colloquium 1996. (Scrinium Friburgense, Bd. 10.) Freiburg, Schweiz 1999; Klaus Wolf, Hof – Universität – Laien. Literatur- und sprachgeschichtliche Untersuchungen zum deutschen Schrifttum der Wiener Schule des Spätmittelalters. (Wissensliteratur im Mittelalter, Bd. 45.) Wiesbaden 2006. 5 Vgl. dazu Cornelius Castoriadis, L’Institution imaginaire de la société. (Collections ‚Esprit‘.) Paris 1975, dt. Übersetzung von Horst Brühmann: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. Frankfurt am Main 1984; Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt am Main 1991.
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ten hieße ‚Projektion eines kollektiven Imaginären‘, dass eine im Wandel befindliche Gesellschaft zu ihrer Selbstvergewisserung der Imagination des über Spezialwissen verfügenden Experten bedarf. In der Tat gibt es ja Spezialisten, die über ein solches Detailwissen verfügen und damit dieser imaginierten Rollenerwartung gerecht werden. Gleichwohl lässt sich die Hypothese formulieren, dass der Experte nicht als Seinsstatus existiert, sondern lediglich eine Rollenzuschreibung und damit eine gesellschaftliche Imagination darstellt. Im Rahmen dieser Imagination können Spannungsfelder entstehen, die sich zwischen den Polen von Expertenvertrauen und Expertenkritik erstrecken. Geht man von der zugegebenermaßen etwas zugespitzt formulierten Hypothese aus, dass der Experte eine gesellschaftliche Imagination darstellt, gerät ein Sonderfall der Manifestation des Imaginären in den Blick: die Literatur mit ihren Möglichkeiten der fiktionalen Darstellung. Für die Literatur, der es vorbehalten ist, das Mögliche zu erzählen 6, lässt sich festhalten, was Jan-Dirk Müller im Hinblick auf spezifisch mittelalterliche Phänomene wie folgt formuliert hat: „Das Imaginäre umfasst fiktive Rollenentwürfe, die in literarischen Texten ausgearbeitet werden können, aber keineswegs nur dort ausgearbeitet werden müssen.“ 7 Unter dieser Voraussetzung lassen sich literarische Texte auch auf die gesellschaftlichen Imaginationen des Experten befragen. Wie Beate Kellner, Überlegungen von Jan-Dirk Müller aufgreifend, betont, haben literarische Texte den Vorteil, dass sie „von unmittelbaren referentiellen Funktionen entlastet sind“ und insofern „Wissensformationen, Kulturmuster, Normen und Leitbilder aus anderen Redeordnungen“ übernehmen, diese im Rahmen eines „‚Handelns als ob‘ [...] rekonfigurieren“ und ausformulieren können. 8 Die Vermutung, dass literarische Texte auf diese Weise helfen können, den Rollenentwurf des Experten zu bestimmen, richtet sich besonders auf das Hochmittelalter, da hier – wenn der Eindruck nicht täuscht – ergiebige Quellen zum Typus des sich erst im Spätmittelalter formierenden Typus des Experten selten sind. Um so aussagekräftiger erscheinen die literarischen Entwürfe von Rollenzuschreibungen und
6 Vgl. zur jüngeren Diskussion Andreas Kablitz, Kunst des Möglichen. Prolegomena zu einer Theorie der Fiktion, in: Poetica 35, 2003, 251–273. 7 Jan-Dirk Müller, Literarische und andere Spiele. Zum Fiktionalitätsproblem in vormoderner Literatur, in: Poetica 36, 2004, 281–311, hier 306. 8 Beate Kellner, „ein mære will i’u niuwen“. Spielräume der Fiktionalität in Wolframs von Eschenbach „Parzival“, in: Ursula Peters/Rainer Warning (Hrsg.), Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Jan-Dirk Müller zum 65. Geburtstag. Paderborn 2009, 175–203, hier 177.
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Imaginationen des Experten. Im Folgenden soll deshalb aus den literarischen Texten des Hochmittelalters eine einschlägige Gattung ausgewählt werden: der Artusroman der Zeit um 1200, in dem nach verbreiteter literaturwissenschaftlicher Meinung Fiktionalität im Kontext des europäischen Mittelalters erstmals ‚entdeckt‘ wird. 9 Fiktionalität ist dabei zu verstehen als Ausprägung eines neuen Bewusstseins, mit dem Fingierten (als Vermittlung zwischen Realem und Imaginären) umgehen zu können – dies in der Weise, dass fiktive Aussagen ihren Geltungs- und Wahrheitsanspruch nicht verlieren, wenn ihr fiktiver Charakter aufgedeckt wird. 10 Häufig geht mit der so verstandenen Fiktionalität auch deren Zurschaustellung und Thematisierung einher, etwa so, dass ein Erzähler über die Verfügbarkeit seines Stoffs reflektiert. 11 Als Beispiel einer den Geltungsanspruch von Fiktionalität reflektierenden Dichtung sei Wolframs von Eschenbach „Parzival“-Roman gewählt, verfasst zwischen 1200 und 1210 nach der Vorlage des altfranzösischen „Le Roman de Perceval ou Le Conte du Graal“ von Chrétien de Troyes (entstanden zwischen 1181 und 1190). 12 Allerdings hat Wolfram seine Vorlage um zahlreiche Erzählstränge, -details und
9 Vgl. die grundlegende Studie von Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13.Jahrhunderts. 2., überarb. und erw.Aufl. Darmstadt 1992, hier bes. 105–107 (anhand des Prologs von Chrétiens de Troyes Roman „Erec et Enide“). Ferner, mit anderen Akzentuierungen Joachim Heinzle, Die Entdeckung der Fiktionalität. Zu Walter Haugs „Literaturtheorie im deutschen Mittelalter“, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 112, 1990, 55–80; Fritz Peter Knapp, Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik. Bd. 1: Sieben Studien und ein Nachwort. (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte.) Heidelberg 1997; Bd. 2: Zehn neue Studien und ein Vorwort. (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. 35.) Heidelberg 2005; Franz Josef Worstbrock, Wiedererzählen und Übersetzen, in: Walter Haug (Hrsg.), Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. (Fortuna vitrea, Bd. 16.) Tübingen 1999, 128–142, bes. 138–141; Rainer Warning, Fiktion und Transgression, in: Peters/Warning (Hrsg.), Fiktion und Fiktionalität (wie Anm.8), 31–55. 10
Vgl. Müller, Literarische und andere Spiele (wie Anm.7), der als Minimalbedingung des Fiktionalen
bestimmt, dass „bei fiktionalen Texten die (jederzeit mögliche) Aufdeckung des Fiktionscharakters den Geltungs- und Wahrheitsanspruch der Aussage nicht nur nicht zerstört, sondern überhaupt nicht tangiert“ (ebd.285). 11
Vgl. ebd.284f.
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Wolframs „Parzival“ wird im Folgenden, sofern nicht anders angegeben, zitiert nach: Wolfram von
Eschenbach, Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert u. kommentiert v. Eberhard Nellmann. Übertragen v. Dieter Kühn. 2 Bde. (Bibliothek des Mittelalters, Bd. 8; Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 110.) Frankfurt am Main 1994 (die neuhochdeutschen Übersetzungen wurden neu vom Verfasser des vorliegenden Beitrags angefertigt, lehnen sich aber mitunter an Kühns Übertragung an). Als Forschungsüberblick grundlegend: Joachim Bumke, Wolfram von Eschenbach. 8., völlig neu bearb.Aufl. (Sammlung Metzler, Bd. 36.) Stuttgart/Weimar 2004. – Ausgabe von Chrétiens Vorlage: Chrétien de Troyes, Le Roman de Per-
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-motive bereichert. Der Plot der Handlung kreist um eine nicht gestellte Frage: Parzival versäumt es beim ersten Besuch auf der Gralburg Munsalvæsche, jene schicksalhafte Frage zu stellen, die seinen todkranken Oheim, den Gralkönig Anfortas, heilen könnte. Er muss deshalb einen mühvollen Aventiure-Weg 13 auf sich nehmen, der ihn nicht nur durch eine der Gattung des Artusromans gemäße imaginäre Welt der Bewährung in ritterlichen Zweikämpfen führt, sondern auch durch eine trostlose Phase der Gottferne, aus der Parzival erst ein weiterer Oheim, der Einsiedler Trevrizent, befreit. Gegen Ende des Romans erhält Parzival eine zweite Chance und kann die von ihm erwartete Mitleidsfrage stellen: Er erlöst Anfortas und wird selbst zum Gralkönig gekürt. Der Gral ist in Wolframs Roman ein wertvoller Edelstein mit magischen, unter anderem lebenserhaltenden Kräften. Diese, hier in den gröbsten Umrissen gezeichnete Haupthandlung ist von einer Vielzahl von Nebenhandlungen begleitet, z.B. den Aventiuren des arturischen Musterritters Gawan sowie den Erlebnissen und Schicksalen von Nebenfiguren, die fast alle wie Gawan mit Parzival verwandt sind. In der Gestalt Parzivals vereinen sich zwei große Sippenverbände: die Gralfamilie mütterlicherseits und die Artusfamilie väterlicherseits. Die fiktionale Eigenart des Erzählten wird in Wolframs „Parzival“ fortlaufend thematisiert, so z.B. im Dialog des Erzählers mit der personifizierten Erzählung („frou Aventiure“, 433,7) oder in an ein fingiertes Publikum gerichteten Einwürfen des Erzählers wie „sol ich des iemen triegen / sô müezt ir mit mir liegen“, („wenn ich jemanden auf diese Weise betrüge, so müsst ihr mit mir lügen“, 238,11f.), „swerz niht geloubt, der sündet“ („wer das nicht glaubt, versündigt sich“, 435,1). Mit Aussagen wie diesen gewinnt die Erzählerfigur in Wolframs „Parzival“ ein starkes Profil, manchen Interpreten des Romans gilt sie sogar als die eigentliche Hauptfigur. 14 Kann, so ließe sich fragen, der Erzähler in Wolframs „Parzival“ als ‚Experte‘ bezeichnet werden? Auffällig ist immerhin, dass sich der Erzähler, anders als etwa seine volkssprachigen Vorgänger Chrétien de Troyes und Hartmann von Aue, nicht zu den Buchgelehrten zählt 15, sondern, möglicherweise in Abgrenzung von diesen, ge-
ceval ou Le Conte du Graal. Édition critique d’après tous les manuscrits par Keith Busby. Tübingen 1993. Zu Chrétien zuletzt Estelle Doudet, Chrétien de Troyes. Paris 2009, mit weiterer Literatur. 13 Vgl. zum Begriff Mireille Schnyder, „Âventiure? waz ist daz?“ Zum Begriff des Abenteuers in der deutschen Literatur des Mittelalters, in: Euphorion 96, 2002, 257–272. 14 Vgl. zusammenfassend die Ausführungen bei Bumke, Wolfram von Eschenbach (wie Anm.12), 215– 232: „Der Erzähler am Werk“. 15 Vgl. z.B. die auf das Buch und die Buchkenntnis bezogenen Aussagen in Chrétiens „Lancelot“ und in
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rade seine Ungelehrtheit hervorhebt: „ine kan deheinen buochstap [...] disiu âventiure / vert âne der buoche stiure“ („Ich verstehe mich nicht auf Buchstaben [bzw. Buchgelehrsamkeit] [...] diese Erzählung kommt ohne die Hilfe der Bücher aus“, 115,27–30). 16 Der Erzähler siedelt sich mithin außerhalb der konventionellen Bildungsinstitutionen an und könnte als solcher als ein unter den Produktions- und Rezeptionsbedingungen der volkssprachigen Literatur des Mittelalters auftretender ‚Experte‘ angesehen werden. Eine weitere Besonderheit des „Parzival“ besteht darin, dass hier neben Chrétien de Troyes ein zweiter Gewährsmann genannt wird: „Kyôt“ der „Provenzâl“ (vgl. 416,25). Wie es im Epilog, bezogen auf Chrétien de Troyes, heißt, habe „von Troys meister Cristjân / disem mære ... unreht getân“ (827,1f.); stattdessen habe Kyot „diu rehten mære“ („die richtige Erzählung“, 827,4/10) dargeboten. Dass der Erzähler dies so ausdrücklich betont, dürfte damit zusammenhängen, dass Chrétien seinen „Perceval“-Roman unvollendet hinterlassen hat. Der Provenzale Kyot hingegen, so heißt es, habe die Erzählung „zu einem Ende“ gebracht („endehaft giht der Provenzâl“, „dirre âventiur endes zil“, 827,5/11). Eine Quelle dieser Art wurde freilich nie gefunden, und so gilt Kyot heute wohl zu Recht als Fiktion. 17 Ähnlich wie dem Erzähler kann auch Kyot eine Expertenrolle zugeschrieben werden, da diese Figur, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, ihrerseits an den Rändern des mittelalterlichen Bildungsbetriebs angesiedelt ist. Auf Kyot wird erstmals inmitten der Gawan-Aventiuren verwiesen. Dort führt der Erzähler den Herzog Liddamus ein, dessen Name vermutlich aus den „Collectanea rerum memorabilium“ des spätantiken Gelehrten Solinus entlehnt ist: „der was geheiHartmanns „Iwein“: „Del Chevalier de la Charrette / Comance Chrestiiens son livre“ (Chrétien de Troyes, Lancelot. Übers.u. eingel. v. Helga Jauss-Meyer. (Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 13.) München 1974, 14, Vers 24f.) – „Ein rîter, der gelêret was / unde ez an den buochen las, / [...] er was genant Hartman / unde was ein Ouwære“ (Hartmann von Aue, Gregorius. Der arme Heinrich. Iwein. Hrsg. u. über. V. Volker Mertens. (Bibliothek des Mittelalters, Bd. 6; Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 189.) Frankfurt am Main 2004, 318, Verse 21f. u. 28f.; ähnlich in Hartmanns Erzählung „Der arme Heinrich“, ebd.230, Verse 1f.). 16
Vgl. Bumke, Wolfram von Eschenbach (wie Anm.12), 53f., 205, 278, mit der einschlägigen Forschungs-
literatur. 17
Kyot wird an sechs Stellen erwähnt: 416,20–30; 431,2; 453,1–455,22; 776,10; 805,10–15; 827,1–18. Vgl.
zuletzt Michael Stolz, „A thing called the Grail“. Oriental ‚Spolia‘ in Wolfram’s „Parzival“ and its Manuscript Tradition, in: Lieselotte E. Saurma-Jeltsch/Anja Eisenbeiß (Eds.), The Power of Things and the Flow of Cultural Transformations. Art and Culture between Europe and Asia. München/Berlin 2010, 188–216, bes. 193–198 u. 208f. (Forschungsüberblick).
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zen Liddamus. / Kyôt in selbe nennet sus“ (416,19f.). 18 Der Erzähler erwähnt dabei nicht nur seinen Gewährsmann, sondern beschreibt einen Übersetzungsvorgang, der von einer arabischen Quelle über die von Kyot vermittelte französische Stufe zu der vom Erzähler verantworteten deutschen Textfassung geführt habe: „Kyôt ist ein Provenzâl, / der dise âventiur von Parzivâl / heidensch geschriben sach. / swaz er en franzoys dâ von gesprach, / bin ich niht der witze las, / daz sage ich tiuschen fürbaz“ („Kyot ist ein Provenzale, der diese Erzählungen von Parzival heidnisch [d.h. arabisch] 19 geschrieben sah. Was er davon in französischer Sprache erzählt hat, das teile ich in deutscher Sprache mit, wenn mein Verstand nicht ermattet“, 416,25–30). Kyots Herkunft aus der Provence steht dabei in einem gewissen Widerspruch zu der Aussage, dass er französisch spreche, denn in der Provence war im Mittelalter (wie noch heute) ein okzitanischer Dialekt gebräuchlich. Auch die eingedeutschte Namenform Kyot verweist auf eine französische Herkunft; sie entspricht nordfranzösisch „Guiot“, während die provenzalische Entsprechung „Guizot“ lauten würde. 20 Ergänzend zu seiner Rolle als Übersetzer trägt Kyot den Beinamen „laschantiure“ (416,21), ein aus dem Altfranzösischen übernommenes Fremdwort, das den Zauberer bezeichnet: „l’enchantëour“ – „derjenige, der einsingt oder besingt“ und damit andere „be-zaubert“. 21 Im Kontext dieser Bezeichnung wird das Singen (zusammen mit dem Erzählen) auch explizit erwähnt: „den sîn kunst des niht erliez, / er ensunge und spræche sô / des noch genuoge werdent frô“ („sein Können verpflichtete ihn, so zu singen und zu sprechen, dass daran noch heute viele Gefallen finden“, 416,22–24). Ob damit die Grundbedeutung des altfranzösischen Worts „l’enchantëour“ wiedergegeben oder nicht vielmehr auf den Topos, dass die Dichter „nützen und erfreuen“ sollen („prodesse et delectare“, nach Horaz, „Ars poetica“, v. 333) angespielt ist, muss freilich offen bleiben. Deshalb ist auch nicht auszuschließen, dass „laschantiure“ (416,21) schlicht „Sänger“ und nicht „Zauberer“ bedeutet. 22 Allerdings wird Kyots Teilhabe an magischen Vorgängen auch an späteren Stellen erwähnt. 23 18 Vgl. Fritz Peter Knapp, „Leien munt nie baz gesprach“. Zur angeblichen lateinischen Buchgelehrsamkeit und zum Islambild Wolframs von Eschenbach, in: ZdtA 138, 2009, 173–184, hier 183; und Stolz, „A thing called the Grail“ (wie Anm.17), 193 mit Anm.33. 19 Vgl. unten S.91 mit Anm.28. 20 Vgl. Stolz, „A thing called the Grail“ (wie Anm.17), 193 mit Anm.37. 21 Vgl. Eberhard Nellmann, Wolfram und Kyot als „vindaere wilder maere“, in: ZdtA 117, 1988, 31–67, hier 54f. 22 Vgl. ebd.und Stolz, „A thing called the Grail“ (wie Anm.17), 193f. mit Anm.38. 23 Vgl. unten S. 91–97.
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Vorab bleibt festzuhalten, dass Kyot in Wolframs „Parzival“ durchaus die Rolle eines über Sonderwissen verfügenden Experten innehat: Er begegnet, wenn auch beiläufig, als Gewährsmann für den Namen der Figur des Herzogs Liddamus. Er übersetzt aus dem Arabischen ins Französische und gibt das, was er gelesen hat („geschriben sach“, 416,27), in mündlicher Rede an den Erzähler weiter, der diese Aussage seinerseits an sein Publikum mündlich vermittelt („gesprach“ – „daz sage ich“, 416,28/30). In der fremdartigen, aus dem Französischen stammenden Bezeichnung „laschantiure“ (416,21) klingen magische Kräfte zumindest an, eine Eigenschaft, die Kyot mit einer weiteren Figur des „Parzival“-Romans teilt: der Gralbotin Kundrie. Ehe auf Einzelheiten dieser Figur näher einzugehen ist, erscheint eine methodische Zwischenbemerkung angebracht: Kyot und Kundrie sind im „Parzival“ auf zwei verschiedenen narrativen Ebenen angesiedelt. Kyot steht als Gewährsmann des Erzählten außerhalb der Erzählhandlung (also auf einer extradiegetischen Ebene), Kundrie hingegen befindet sich mit ihrer Rolle als Gralbotin innerhalb der Erzählhandlung (also auf einer intradiegetischen Ebene). 24 Lassen sich die beiden auf zwei unterschiedlichen Erzählebenen angesiedelten Figuren überhaupt miteinander vergleichen? Oder werden dabei nicht der Erzählakt und der Erzählgegenstand vermengt? – Narrative Grenzüberschreitungen von der einen Ebene zur anderen (so genannte Metalepsen) 25 begegnen im „Parzival“ freilich mehrfach. Dazu gehört, dass der Erzähler mit seiner Erzählung (die, wie erwähnt, personifiziert als „frou Aventiure“ auftritt) in einen Dialog tritt. Ein weiteres metaleptisches Signal scheint die Doppelung von Namen zu sein. So existiert neben der auf einer extradiegetischen Ebene angesiedelten Quelleninstanz Kyot ein zweiter Träger dieses Namens auf intradiegetischer Ebene: Kyot von Katelangen, der Vater von Parzivals Cousine Sigune. 26 Ohne diese Ebenenüberschreitung gibt es auch eine Doppelung beim Namen Kundrie: Neben der Gralbotin wird eine Schwester Gawans so genannt. 27 Ins24
Begriffe nach Gérard Genette, Die Erzählung. Aus dem Franz. v. Andreas Knop. 2.Aufl. München 1998,
162–165. 25
Vgl. ebd.167–169.
26
Herausgearbeitet in der älteren Forschung, die – aus heutiger Perspektive überholt (vgl. oben S. 88) –
von einer tatsächlich existierenden Quelleninstanz Kyot ausging. Vgl. Jan Hendrik Scholte, Kyot von Katelangen, in: Neophilologus 33, 1949, 23–36, bes. 35f.; E[dwin] H[ermann] Zeydel, Noch einmal zu Wolframs Kyot, in: Neophilologus 34, 1950, 11–15, bes. 12. 27
Vgl. Zeydel, Kyot (wie Anm.26), 12, mit weiteren Beispielen: Herzog Liddamus (416,19ff., vgl. oben S.
89) und „künec Liddamus von Agrippe“ als Name in der Triumphliste (770,4); Clauditte als Freundin des Mädchens Obilot (372,24) und als ehemalige Geliebte von Parzivals Halbbruder Feirefiz (771,17) usf. Zu
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gesamt erscheint damit der Vergleich zwischen Kyot und Kundrie nicht abwegig, dies auch deshalb, weil es in den vorliegenden Ausführungen ja um einen Typus des über Sonderwissen verfügenden Experten geht und nicht primär um Kyot als Quelleninstanz. Insofern ermöglicht es die auf intradiegetischer Ebene angesiedelte Kundrie sogar, die anhand der Kyot-Figur gemachten Beobachtungen zum Expertenwissen zu kontrollieren. Als Expertin begegnet Kundrie bereits anlässlich ihres ersten Auftritts vor der Artusgesellschaft. Wie der Erzähler betont, ist sie vertraut mit den Sprachen Latein, Arabisch und Französisch („alle sprâche si wol sprach, / latîn, heidensch, franzoys“, 312,20f.) 28; sie ist gebildet und kultiviert („der witze kurtoys“, 312,22); sie beherrscht Disziplinen aus dem Bereich der sieben freien Künste (Dialektik, Geometrie, Astronomie, vgl. 312,23/25); ihr Beiname ist ausdrücklich derjenige einer Zauberin bzw. Hexe (französisch „surziere“ 312,27). Zudem verfügt sie über Zungenfertigkeit: sie ist „in dem munde niht diu lame (wand er geredet ir genuoc)“ („nicht mundfaul, denn ihr Mund sprach viel für sie“, 312,28f.). Teilweise stimmen die Expertenqualitäten mit jenen des Kyot überein, so im Bereich der Fremdsprachenkenntnisse und der Zauberei; hinzu kommen bei Kundrie die Kenntnisse in den freien Künsten und ihre Redegewandtheit. 29 Das in den Beinamen „laschantiure“ (416,21) bzw. „surziere“ (312,27) anklingende magische Wissen wird auf Seiten Kyots ausdrücklich in dem sogenannten KyotExkurs des neunten Buchs erwähnt (453,1–454,22). Dort berichtet der Erzähler, wie Kyot vom Gral und der Gralerzählung erfuhr: „Kyôt der meister wol bekant ze Dôlet verworfen ligen vant in heidenischer schrifte dirre âventiure gestifte. der karakter â b c muoser hân gelernet ê, ân den list von nigrômanzî“ (453,11–17). den Namendoppelungen auch das Personenverzeichnis in der Ausgabe von Nellmann (wie Anm.12), Bd. 2, 809–817. 28 Die Verse belegen eindeutig, dass der Ausdruck „heidensch“, wenn er nicht als Antonym für „christlich“ verwendet wird, die arabische Sprache bezeichnet; vgl. auch oben S.89 mit Anm.19. 29 Vgl. zu den freien Künsten ausführlicher Michael Stolz, Artes-liberales-Zyklen. Formationen des Wissens im Mittelalter. Bd. 1 (Bibliotheca Germanica, 47, 1.) Tübingen/Basel 2004, 82f.
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(„Kyot, der wohlbekannte Meister fand in Toledo im Verborgenen in heidnischer [arabischer] Schrift den Urtext dieser Erzählung. das Abc der Schriftzeichen musste er zunächst lernen, ohne die Kunst der Nekromantie.“)
Kyots Expertenschaft besteht darin, dass er den „Urtext“ der Erzählung („dirre âventiure gestifte“, 453,14) in Toledo aufgefunden hat, dem bedeutenden hispanischen Zentrum mittelalterlicher Wissenschaft und Übersetzung, in dem sich christliche, arabische und jüdische Gelehrte begegneten und ihre Wissenstraditionen austauschten. 30 Der ‚Urtext‘ war, wie es heißt, in arabischer Sprache verfasst („in heidenischer schrifte“ 453,13). Kyot wird dabei als renommierter Gelehrter bezeichnet, als „meister wol bekannt“ (453,11). Der „meister“-Titel begegnet für Kyot auch noch an anderen Stellen (455,2; 827,14). Er könnte auf den Titel eines „magister (artium?)“ verweisen, wird im Mittelhochdeutschen aber auch für den „Könner“ verwendet, der eine Fertigkeit meisterhaft beherrscht. 31 Irritierend ist der Verweis auf die Bekanntheit des „meisters“ (453,11: „wol bekannt“), denn bislang wurde Kyot nur bei-
30
Vgl. Herbert Kolb, Munsalvaesche. Studien zum Kyotproblem. München 1963, 150–153; Paul Kunitzsch,
Die Arabica im Parzival Wolframs von Eschenbach, in: Werner Schröder (Hrsg.), Wolfram-Studien. Bd. 2. Berlin 1974, 9–35, Ndr. in: ders., Reflexe des Orients im Namengut mittelalterlicher europäischer Literatur. Gesammelte Aufsätze. (Documenta Onomastica Litteralia Medii Aevi, Series B, Vol.2.) Hildesheim/ Zürich/New York 1996, 35–61, hier 60f. (mit weiteren Angaben); ders., Der Orient bei Wolfram von Eschenbach – Phantasie und Wirklichkeit, in: Albert Zimmer/Ingrid Craemer-Ruegenberg (Hrsg.), Orientalische Kultur und europäisches Mittelalter. (Miscellanea Mediaevalia, Bd. 17.) Berlin/New York 1985, Ndr. in: ebd.163f.; Ana María López Álvarez u.a., La Escuela de Traductores de Toledo. Toledo 1996; Charles Burnett, The Coherence of the Arabic-Latin Translation Program in Toledo in the Twelfth Century, in: Science in Context 14, 2001, 249–288; Bumke, Wolfram von Eschenbach (wie Anm.12), 243. 31
Belegsammlungen bietet neben den einschlägigen germanistischen Wörterbüchern (wie Benecke/
Müller/Zarncke, Lexer, Grimm, Deutsches Rechtswörterbuch) das noch unpublizierte Material der Arbeitsstelle „Mittelhochdeutsches Wörterbuch“ der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. – Bausteine zu einer Begriffsgeschichte enthalten u.a. Karl Stackmann, Der Spruchdichter Heinrich von Mügeln. Vorstudien zur Erkenntnis seiner Individualität. (Probleme der Dichtung. Studien zur deutschen Literaturgeschichte, Bd. 3.) Heidelberg 1958, 173–183; Horst Brunner, Die alten Meister. Studien zur Überlieferung und Rezeption der mittelhochdeutschen Sangspruchdichter im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters, Bd. 54.) München 1975; Peter Godman, The Silent Masters. Latin Literature and its Censors in the High Middle Ages. Princeton 2000.
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läufig erwähnt (wie in 416,20). Dass eine Bekanntheit beim Publikum vorauszusetzen wäre, erscheint abwegig, da es dafür im Text keine weiteren Anhaltspunkte gibt. Möglicherweise handelt es sich um eine ironische Bemerkung. 32 Kyot, so behauptet der Erzähler, habe zuvor „der karakter â b c“ erlernt (453,15). Damit sind wohl magische Zeichen gemeint, nicht das arabische Alphabet, das ja keine Zeichen wie „a“, „b“, „c“ beinhaltet. 33 Die Nähe zur Magie deutet auch die Erwähnung der Nekromantie („nigrômanzî“) an, der Kunst der Totenbeschwörung (nach griechisch „νεκρός“, „tot“, und „μαντεία“, „Weissagung“) oder – als Nigro-mantie – Dämonenbeschwörung („schwarze Kunst“, nach lateinisch „niger“ statt griechisch „νεκρός“, als „nigromantia“ belegt ab dem 11.Jahrhundert). 34 Der Erzähler scheint zu sagen, dass Kyot die magischen Zeichen mit Ausnahme der Nekromantie („ân den list von nigrômanzî“, 453,17) beherrscht habe, es sei denn, man verstünde die Präposition „ân“ („ohne“) im Sinne von „außerdem“, „zudem“. Dies allerdings stünde in einem gewissen Widerspruch zu Kyots christlichem Glauben, der in den folgenden Versen erwähnt wird 35: „ez half daz im der touf was bî: anders wær diz mær noch unvernumn. kein heidensch list möht uns gefrumn ze künden umbes grâles art, wie man sîner tougen inne wart“ (453,18–22) („Ihm half, dass er getauft war; andernfalls wäre diese Erzählung noch unbekannt.
32 Vgl. auch den Kommentar in der Ausgabe von Nellmann (wie Anm.12), Bd. 2, 665. 33 Vgl. Nellmann, Wolfram und Kyot (wie Anm.21), 58–65, mit weiteren Belegen für „karakter“ in der mittelhochdeutschen Literatur und weiteren möglichen Bedeutungen wie „heiliges Zeichen“, „magisches Zeichen“, „Zauberspruch“, „Buchstabe“; ferner den Kommentar in der Ausgabe von Nellmann (wie Anm.12), Bd. 2, 666; sowie Peter Strohschneider, Sternenschrift. Textkonzepte höfischen Erzählens, in: Eckart Conrad Lutz/Wolfgang Haubrichs/Klaus Ridder (Hrsg.), Text und Text in lateinischer und volkssprachiger Überlieferung des Mittelalters. Freiburger Kolloquium 2004. (Wolfram-Studien, Bd. 19.) Berlin 2006, 51f. 34 Vgl. Nellmann, Wolfram und Kyot (wie Anm.21), 56f., und den Kommentar in der Ausgabe von Nellmann (wie Anm.12), Bd. 2, 666; ferner Dieter Harmening, Wörterbuch des Aberglaubens. 2., durchges.u. erw.Aufl. Stuttgart 2009, 310–312. 35 Vgl. Carl Lofmark, Zur Interpretation der Kyotstellen im „Parzival“, in: Werner Schröder (Hrsg.), Wolfram-Studien. Bd. 4. Berlin 1977, 33–70, hier 44; Nellmann, Wolfram und Kyot (wie Anm.21), 57f.; Strohschneider, Sternenschrift (wie Anm.33), 52.
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Keine heidnische Kunst könnte uns helfen, die Eigenart des Grals zu offenbaren, wie man sein Geheimnis entdeckte.“)
Kyots Bemühungen um die Gralerzählung, so der Erzähler, seien durch dessen christlichen Glauben unterstützt worden: „ez half daz im der touf was bî“ (453,18) – heidnisches Wissen wäre dafür unzureichend und könnte der Christenheit, welcher sich der Erzähler mit dem inklusiven Personalpronomen „uns“ zuordnet, nicht helfen (453,20). Auf diesen Heilsanspruch dürfte auch das Adjektiv „verworfen“ (453,12) hindeuten, das sich auf die in Toledo ‚verborgenen‘ oder ‚weggelegten‘ arabischen Schriften bezieht. 36 Im folgenden Abschnitt wird sodann eine weitere Quelle eingeführt, von der Kyot abhängig ist: Es handelt sich um den „heiden Flegetânîs“ (453,23), einen kenntnisreichen arabischen Gelehrten, den der Erzähler als „fisîôn“ bezeichnet (453,25), eine sonst nicht belegte (pseudo-griechische?) Wortform, die wohl in Anlehnung an das lateinische „physicus“ („Naturgelehrter“) gewählt ist. 37 Flegetanis stammt aus einem israelitischen Geschlecht, ist „ûz israhêlscher sippe erzilt“ (453,27), wobei das jüdische Volk als seit alten Zeiten („von alter her“, 453,28) existierend vorgestellt wird. Die Zeit des Königs Salomon wird ausdrücklich genannt (453,26), d.h. die Zeit vor dem Christentum (erwähnt als „der touf“, 453,29). 38 Väterlicherseits ist Flegetanis ein Heide (454,1), der ein Kalb angebetet haben soll (454,2), was der Erzähler als teuflische Sünde anprangert (454,4f.). 39 Flegetanis besitzt außerdem reiche Kenntnisse in Astronomie 40 und ist damit der ‚Expertenrolle‘ von Kundrie vergleichbar. Er sieht den Namen des Grals in den Sternen: 36
Vgl. Lofmark, Kyotstellen (wie Anm.35), 44f.
37
Vgl. Kunitzsch, Arabica (wie Anm.30), 58–60; ders., Erneut: Der Orient in Wolframs Parzival, in: ZdtA
113, 1984, 79–111, Ndr. in: ders., Reflexe (wie Anm.30), 125–157, hier 150–156; den Kommentar in der Ausgabe von Nellmann (wie Anm.12), Bd. 2, 666f.; Strohschneider, Sternenschrift (wie Anm.33), 53; Knapp, „Leien munt“ (wie Anm.18), 182f. 38
Dieser schwer verständliche Textabschnitt wird ausführlich behandelt bei Lofmark, Kyotstellen (wie
Anm.35), 37–39, und im Kommentar der Ausgabe von Nellmann (wie Anm.12), Bd. 2, 667. 39
Die gemischte Herkunft ist ein in der Literatur der Zeit verbreiteter Topos, der in Chroniken und dich-
terischen Texten u.a. auch für den Propheten Mohammed Verwendung findet. Vgl. Kunitzsch, Arabica (wie Anm.30), 59; ders., Erneut: Der Orient (wie Anm.37), 151. Die Erwähnung des angebeteten Kalbs folgt vermutlich dem Buch Exodus, 32,1–35, und seiner Exegese; vgl. den Kommentar in der Ausgabe von Nellmann (wie Anm.12), Bd. 2, 667. 40
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Möglicherweise ist der Name in Anlehnung an den arabischen Astronomen Al-Fergânî (9. Jh.) ge-
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„Flegetânîs der heiden sach, dâ von er blûweclîche sprach im gestirn mit sînen ougen verholenbæriu tougen. er jach, ez hiez ein dinc der Grâl: des namen las er sunder twâl inme gestirne, wie der hiez“ (454,17–23). („Der Heide Flegetanis sah – wovon er mit Scheu sprach – in den Sternen mit seinen Augen ein verhohlenes Geheimnis. Er sagte, dass ein Ding ‚der Gral‘ heiße; dessen Namen las er ohne Verzug in den Sternen, so wie er hieß.“)
Die Verse scheinen, auch wenn einzelne Passagen des Abschnitts in ihrer Bedeutung recht dunkel bleiben, Folgendes zu besagen: Der Heide Flegetanis „sach [...] mit sînen ougen / verholenbæriu tougen“ – er sah mit seinen Augen 41 ein verborgenes Geheimnis, d.h. wohl eine Art Schriftzug in den Sternen (454,17/19). Darin „las“ er den Gralnamen (454,22), und zwar „sunder twâl“ („ohne Verzug“, „ohne Säumnis“, vielleicht auch: „unmittelbar“?). Ob Flegetanis verstanden hat, was er las, bleibt ungewiss. 42 Manches deutet darauf hin, dass die Taufe Voraussetzung des Verständnisses ist – dies scheint der auf den Christen Kyot bezogene Vers zu besagen: „ez half daz im der touf was bî“ (453,18). Gleichwohl scheint von Flegetanis gesagt zu werden, dass er den Gralnamen so lesen konnte, wie er „hiez“ bzw. lautete („wie der hiez“,
wählt. Vgl. Ulrich Ernst, Kyot und Flegetanis in Wolframs „Parzival“. Fiktionaler Fundbericht und jüdischarabischer Kulturhintergrund, in: Wirkendes Wort 35, 1985, 176–195, hier 184f., und den Kommentar in der Ausgabe von Nellmann (wie Anm.12), Bd. 2, 666f. 41 Das von weiteren syntaktischen Bestandteilen unterbrochene Syntagma „(er) sach [...] mit sînen ougen“ ist im Mittelhochdeutschen verbreitet; vgl. z.B. Walther von der Vogelweide, Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neubearb.Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein u. Horst Brunner hrsg. v. Christoph Cormeau. Berlin/New York 1996, 13: „Ich sach mit mînen ougen“ (Reichston, 3. Strophe, Vers 1). 42 Darauf zielt die Interpretation von Strohschneider, Sternenschrift (wie Anm.33), 54f.; zurückhaltender Beate Kellner, Wahrnehmung und Deutung des Heidnischen in Wolframs „Parzival“, in: Ludger Grenzmann u.a. (Hrsg.): Wechselseitige Wahrnehmung der Religionen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, NF.4.) Berlin/New York 2009, 23–50, hier 45.
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454,23). Jedenfalls war Flegetanis in der Lage, das Gelesene niederzuschreiben („der schreip“, 453,30; ähnlich: „sus schreip dervon Flegetânîs“, 455,1). Eine weitere Information, die Flegetanis aus den Sternen bezieht, ist der Vorgang, dass der Gral von einer nicht näher bestimmten „schar“ zur Erde gebracht worden sei (454,24–26). Vielleicht handelt es sich um den Chor der neutralen Engel, der wenig später in den klärenden Reden des Einsiedlers Trevrizent erwähnt wird (vgl. 471,15– 21). 43 Seither würden Christen („getouftiu fruht“, 454,27) den Gral hüten. Diese Angabe bezieht sich auf die Gralfamilie, der Parzival mütterlicherseits angehört, vielleicht auch auf die „templeise“ genannten Gralritter (dazu Trevrizents Erläuterungen 468,23–30). Im Hinblick auf Kyot fügt der Erzähler an, dass dieser nicht nur den „Urtext“ der Erzählung in Toledo aufgefunden, sondern auch die Familienverhältnisse Parzivals genau studiert habe (455,2–22). In „latînschen buochen“ (455,4) habe Kyot von der Gralfamilie („ein volc dâ zuo gebære / daz ez des grâles pflæge“ – „ein Geschlecht, berufen, den Gral zu hüten“, 455,6f.) gelesen, und in „der lande chrônicâ“ (455,9) von der Artusfamilie, der auf Mazadan zurückgehenden Sippe (455,13), der Parzival väterlicherseits angehört. Die erwähnten Chroniken werden mit den Ländern Britannien, Frankreich, Irland und „Anschouwe“ (wohl Anjou) 44 in Zusammenhang gebracht. Dabei handelt es sich um Territorien, die zur Entstehungszeit des Romans im beginnenden 13.Jahrhundert dem angevinischen Herrscherhaus der Plantagenet unterstehen. 45
43
Vgl. den Kommentar in der Ausgabe von Nellmann (wie Anm.12), Bd. 2, 668f., 683.
44
Vgl. ebd.456.
45
Die genannten Chroniken könnten sich auf Geoffrey von Monmouths „Historia regum Britanniae“
(um 1138) oder Waces „Roman de Brut“ (um 1155) beziehen. Letztere entstand im Umkreis des angevinischen Königshofs Heinrichs II. Plantagenet. Vgl. den Kommentar in der Ausgabe von Nellmann (wie Anm.12), Bd. 2, 669f. – Gemäß Waces „Roman de Brut“ hat König Artus die Tafelrunde während einer zwölfjährigen Friedenszeit eingerichtet. Auffällig ist, dass die Ritter, die sich zur Tafelrunde begeben, aus ähnlichen Gegenden kommen, wie jene, die im Zusammenhang mit „der lande chrônicâ“ in „Parzival“, 455,9–12, erwähnt werden: aus Schottland, Britannien, Frankreich, der Normandie, dem Anjou, Flandern, dem Burgund und Lothringen; vgl. Wace, Arthur dans le Roman de Brut. Extrait du manuscrit BN fr. 794. Introduction, notes et glossaire par Ivor Arnold et Margaret Pelan. (Bibliothèque française et romane, Série B: Textes et documents, Vol.1.) Paris 1962, Ndr. (Librairie Klincksieck, Série Textes, Vol.2.) Paris 2002, 74, Verse 1221–1232. Das Motiv der Tafelrunde wurde zuletzt ausführlich behandelt von Lori Walters, Re-Examining Wace’s Round Table, in: Keith Busby/Christopher Kleinhenz (Eds.), Courtly Arts and the Art of Courtliness. Selected Papers from the Eleventh Triennial Congress of the International Courtly Literature Society. University of Wisconsin-Madison, 29 July–4 August 2004. Woodbridge 2006, 721–744.
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Kyot begegnet in den zitierten Aussagen als Vermittler eines Arkanwissens über den Gral. Er hat Wissensbestände entschlüsselt, die der Heide Flegetanis – möglicherweise ohne deren tieferen Sinn zu erfassen – enkodiert hat. Dabei vollzog sich ein Sprachenwechsel: die Enkodierung erfolgte in arabischer Sprache (vgl. die Angabe „in heidenischer schrifte“, 453,13, sowie die Bemerkung, dass Kyot die „âventiur von Parzivâl / heidensch geschriben sach“, 416,26f.); die Dekodierung scheint in französische Sprache überführt worden zu sein (vgl. den Hinweis, dass Kyot „en franzoys dâ von gesprach“, 416,28). In Fortführung des Übersetzungsvorgangs verdeutscht der Erzähler diese Angaben, und er tut dies – an sein Publikum gewandt – offenbar in einem mündlichen Gestus: „daz sage ich tiuschen fürbaz“ (416,30). Im Gegensatz dazu wird Kyot mehrmals ausdrücklich als Lesender vorgeführt: er „las“ (vgl. 455,9/13, ferner 431,2, 805,10), und zwar „in heidenischer schrifte“ (453,13). 46 Diese Orientierung an der Schriftlichkeit zeichnet auch den heidnischen Vorgänger Flegetanis aus: er „las [...] inme gestirne“ (454,22f.), er „schreip“ (453,30, 455,1). Anders verhält es sich mit dem Kontakt zwischen Kyot und dem Erzähler, der von mündlichen Kommunikationsformen geprägt ist. Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass der Erzähler, der seine Schriftlosigkeit ja deutlich herausstellt („ine kan decheinen buochstap“, 115,27), seinen Gewährsmann Kyot schriftlich zur Kenntnis genommen hätte. Im Gegenteil, es finden sich Floskeln wie „Kyot [...] gesprach“ (416,25/28), „ob Kyôt die wârheit sprach“ (776,10), „endehaft giht der Provenzâl“ (827,5) oder „mich batez helen Kyôt“ (453,5). In diesem letzten Fall erscheint Kyot gar als Verbündeter des Erzählers, indem er diesen auffordert, dem Publikum Informationen vorzuenthalten. Der Informationsaustausch zwischen dem Erzähler und Kyot ist jedenfalls so dargestellt, als habe er (anders als jener zwischen Kyot und Flegetanis) auf mündlichen Bahnen stattgefunden. 47
46 Die Belegstellen 455,9/13 verweisen eindeutig auf einen Lesevorgang; vgl. auch Bumke, Wolfram von Eschenbach (wie Anm.12), 6. Weniger zwingend ist dies in den Versen 431,2 („ich sage iu als Kyôt las“) und 805,10 („op der Provenzâl die wârheit las“); hier könnte „lesen“ auch „erzählen“ oder „berichten“ bedeuten. Vgl. Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Zugleich als Supplement und alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuch von Benecke-Müller-Zarncke. 3 Bde. Leipzig 1872–1878. Reprographischer Ndr. Stuttgart 1979, Bd. 2, Sp.1889: „oft ist lësen gleichbedeutend mit sagen, erzälen [sic], berichten“; ferner D[ennis] H[oward] Green, Medieval Listening and Reading. The Primary Reception of German Literature, 800–1300. Cambridge 1994, 135: „the verb ‚lesen‘ is essentially ambiguous: it could mean ‚to recite to others‘, but it can also be used of the individual reading to himself“. 47 Vgl. zu den Belegstellen auch Zeydel, Kyot (wie Anm.26), 14f. Zur behaupteten Schriftlosigkeit des Erzählers, die früher oft leichtfertig mit Fragen nach Wolframs Bildung verknüpft wurde, zuletzt Eberhard
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An dieser Stelle ist eine Bemerkung zu Kyots Rolle als Quelleninstanz unerlässlich: Lange Zeit interpretierte man die Angaben als Hinweis auf eine verlorene französische Gralerzählung, die Wolfram als zweite Quelle neben Chrétiens „Perceval“ gedient habe. Doch gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass eine solche Quelle je existiert hat. Alles deutet darauf hin, dass es sich bei Kyot und Flegetanis um Wolframs Erfindungen handelt. 48 Möglicherweise hat Wolfram Quellen, deren er sich bedient hat, hinter den Namen von Kyot und von dessen Informanten Flegetanis versteckt. Verschiedentlich wurde der an „Kyot“ anklingende Name des jüdischen Gelehrten Abraham bar Chija ins Spiel gebracht, welcher im 12.Jahrhundert in Spanien und Südfrankreich tätig war. 49 Aus Abrahams Feder stammen astronomische und philosophische Abhandlungen sowie Übersetzungen arabischer Texte. Denkbar wäre als Quelle auch ein Schreiber namens Guiot aus der nordfranzösischen Stadt Provins. Wolfram hätte diesen Städtenamen als Provence missverstehen und daraus den Namen Kyot der Provenzale („Provenzâl“) formen können (vgl. 416,25; 805,10; 827,5). Dieser nicht mit dem gleichnamigen Dichter Guiot de Provins identische Guiot 50 wird als Schreiber in einer Handschrift erwähnt, welche unter anderem den „Roman de Brut“ des Wace und Chrétiens Artusromane enthält (Paris, Bibliothèque Nationale, fr. 794; Champagne, zweites Viertel des 13.Jahrhunderts; Chrétien-Handschrift A). Auf ein etwas älteres Manuskript dieses Typs könnte die Bemerkung anspielen, dass Kyot in „der lande chrônicâ“ (455,9) gelesen habe. 51
Nellmann, Zu Wolframs Bildung und zum Literaturkonzept des „Parzival“, in: Poetica 28, 1996, 327–344; Bumke, Wolfram von Eschenbach (wie Anm.12), 5–7, 243; Knapp, „Leien munt“ (wie Anm.18). 48 49
Vgl. zuletzt den Forschungsüberblick bei Stolz, „A thing called the Grail“ (wie Anm.17), 208f. So von Joannes Cornelius Daniels, Wolframs „Parzival“, S.Johannes der Evangelist und Abraham Bar
Chija. (Disquisitiones Carolinae, Bd. 11.) Nijmegen 1937; Ernst, Kyot und Flegetanis (wie Anm. 40); und zuletzt Albrecht Classen, Noch einmal zu Wolframs ‚spekulativer‘ Kyôt-Quelle. Im Licht jüdischer Kultur und Philosophie des zwölften Jahrhunderts, in: Studi medievali 46.1, 2005, 281–308. 50
Eine Beziehung zwischen dem Dichter Guiot und Kyot behauptet noch Wolfgang Mohr, Wolframs
Kyot und Guiot de Provins, in: Festschrift Helmut de Boor zum 75. Geburtstag am 24.März 1966. Hrsg. v. den Direktoren des Germanischen Seminars der Freien Universität Berlin. Tübingen 1966, 48–70. 51
Vgl. zur Handschrift Istvan Frank, Le manuscrit de Guiot entre Chretien de Troyes et Wolfram von
Eschenbach, in: Annales Universitatis Saraviensis. Philosophie – Lettres 1, 1952, 169–183; Mario Roques, Lemanuscrit fr. 794 de la Bibliothèque nationale et le scribe Guiot, in: Romania 73, 1952, 177–199; Maurice Delbouille, A propos du Graal. Du nouveau sur Kyôt der Provenzâl, in: Marche romane 3.1, 1953, 13–32; T.B. W. Reid, Chrétien de Troyes and the Scribe Guiot, in: Medium Aevum 45, 1976, 1–19; Lori Walters, Le rôle du scribe dans l’organisation des manuscrits des romans de Chrétien de Troyes, in: Romania 106, 1985, 303– 325, bes. 313–317; Terry Nixon, Catalogue of Manuscripts, in: Keith Busby u.a. (Eds.), Les Manuscrits de
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Die Figur des Kyot lässt sich vielleicht am besten als eine Art von ‚Maske‘ beschreiben, hinter der sich Quellen der erwähnten Art und vielleicht auch ein mündlicher Gewährsmann verbergen. Sicherheit wird in dieser Frage wohl nicht zu gewinnen sein. Unter der Voraussetzung, dass man Kyot als ‚Maske‘ für nicht mehr weiter erschließbare Quelleninstanzen und deren Fiktionalisierung betrachtet, gerät der literarische Konstruktionscharakter dieser ‚Maske‘ in den Blick. Ihre auf der Textoberfläche erscheinende Eigenart kann – im Gegensatz zu den nicht mehr fassbaren Quellen und Kommunikationsvorgängen – untersucht und beschrieben werden. Dieser Typus der ‚Maske‘ wäre mit anderen zu vergleichen, welche im Umfeld von Wolframs „Parzival“ begegnen, etwa dem Autorbild in den Erzählungen Hartmanns von Aue, wo der schriftkundige Erzähler ohne einen in der Mündlichkeit agierenden Zuträger wie Kyot auskommt und ausdrücklich erklärt, dass er „an den buochen las“. 52 Mit dem Ethnologen Claude Lévi-Strauss, der primär an der materiellen Beschaffenheit der Masken und deren Transformationen interessiert ist und weniger daran, was sich dahinter verbirgt, ließe sich von der ‚Maske‘ der Kyot-Figur sagen, dass sie „nicht in erster Linie das ist, was sie darstellt, sondern das, was sie transformiert, d.h. absichtlich nicht darstellt [...]. Sie besteht nicht nur aus dem, was sie sagt oder zu sagen meint, sondern auch aus dem, was sie ausschließt.“ 53 Lévi-Strauss knüpft daran die Frage, ob dies nicht für jedes Kunstwerk, für jeden Stil gelte und erklärt: „Die Originalität jedes einzelnen Stils schließt also Entlehnungen nicht aus; sie erklärt sich vielmehr durch einen bewußten oder unbewußten Wunsch, sich anders darzustellen und unter allen Möglichkeiten einige auszuwählen.“ 54 Den Künstlertypus, der Chrétien de Troyes. The Manuscripts of Chrétien de Troyes. Vol.2. (Faux titre, Vol.72.) Amsterdam 1993, 1–85, hier 28–31; Nellmann, Zu Wolframs Bildung (wie Anm.47), 338–340; Bumke, Wolfram von Eschenbach (wie Anm.12), 246; Jürgen Wolf, Buch und Text. Literatur- und kulturhistorische Untersuchungen zur volkssprachigen Schriftlichkeit im 12. und 13.Jahrhundert. (Hermaea, Bd. 115.) Tübingen 2008, 269–272. Der Schreiber nennt sich auf Bl. 105r der Handschrift: „Cil qui lescrist guioz a non“ („derjenige, der sie geschrieben hat, heißt Guioz“). – Wiederholt wird in der Forschung (z.B. von Nellmann und Wolf) auch auf die Handschrift Paris, Bibliothèque Nationale, fr.1450 (Nordostfrankreich, zweites Viertel des 13.Jahrhunderts; Chrétien-Handschrift R) verwiesen, in der Waces „Brut“ genau an der Stelle, an der von der Errichtung der Tafelrunde während der zwölfjährigen Friedenszeit (vgl. Anm. 45) die Rede ist, unterbrochen wird, und zwar von Chrétiens Romanen „Perceval“, „Cligés“, „Yvain“ und „Lancelot“; vgl. zur Handschrift Nixon, Catalogue of Manuscripts (wie oben in der Anm.), 31–33. 52 Vgl. oben S. 87f. mit Anm.15. 53 Claude Lévi-Strauss, Der Weg der Masken. Frankfurt am Main 2004, 131. 54 Ebd.
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„ein originales Werk [...] schaffen“ will, entlarvt Lévi-Strauss als Illusion, denn er „erwidert [...] nur anderen Schöpfern, sei es vergangenen oder gegenwärtigen, aktuellen oder potentiellen“. 55 Vielleicht lässt sich die ‚Maske‘ des Gewährsmanns Kyot auf diese Weise fassen: Kyot erlaubt es Wolfram, eine Quelleninstanz zu schaffen, die es seinem Erzähler ermöglicht, sich von dem Erzähler Hartmannscher Prägung abzusetzen. Zugleich gestattet die Kyot-Figur dem Erzähler des „Parzival“-Romans eine ‚Erwiderung‘ auf ‚andere Schöpfer‘, die jedoch – als tatsächliche oder potentielle – hinter Kyots ‚Maske‘ verborgen bleiben. Der so verstandene Begriff der ‚Maske‘ kann im Kontext der vorliegenden Ausführungen dazu dienen, Eigenschaften einer frühen Stufe des Expertenwesens zu beschreiben. Hierzu gehören im Kontext der Kyot-Figur: 1. unverstellte Augenzeugenschaft, wie sie die Vision des Flegetanis kennzeichnet, 2. Kenntnisse, die am Rand der vertrauten Welt angesiedelt sind, hier im Bereich des Prä-Informanten Flegetanis, der heidnische Kultformen praktiziert, 3. die genealogische Hybridität des Flegetanis, der von jüdisch-arabischen Vorfahren abstammt, 4. die Kenntnis fremder Zeichensysteme wie der arabischen Sprache und magischer Formeln (die Fremdheit wird dabei mitunter über den ‚Ruch‘ der Zauberei und der Magie unterstrichen), 5. eine Stoff- und Wissensvermittlung, die nicht im Rahmen gattungskonformer Kommunikationsstrukturen erfolgt (so bei dem mündlich geprägten Austausch zwischen Kyot und dem Erzähler). Gerade in diesem letzten Merkmal unterscheidet sich Wolframs „Parzival“ mittels der ‚Maske‘ Kyot von Legitimationsverfahren des zeitgenössischen höfischen Romans, der – wie im Falle Hartmanns – die Authentizität der Quelle über das Argument der Schriftlichkeit absichert. Auffällig ist, dass sich mit der im „Parzival“ über Kyot als mündlich ausgewiesenen Quellenberufung sogar ein direkter Bezug zwischen Flegetanis und dem Erzähler herstellt. Dieser erfolgt zwar nicht in der Weise, dass Flegetanis als mündlicher Informant des Erzählers auftritt, jedoch derart, dass der Erzähler die mündliche Rede des Flegetanis nachgerade zu zitieren scheint. So besteht eine auffällige Übereinstimmung zwischen den zwei weit auseinanderliegenden Versen:
55
100
Ebd.135.
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„daz was ein dinc, daz hiez der Grâl“ (235,23) („das war ein Ding, das ‚der Gral‘ hieß“) und „er jach, ez hiez ein dinc der Grâl“ (454,21) („er sagte, dass ein Ding ‚der Gral‘ hieß“)
Vers 235,23 beschreibt, was Parzival anlässlich seines ersten Besuchs auf der Gralburg sieht, als er es versäumt, die Mitleidsfrage zu stellen. Der Erzähler gewährt hier gleichsam einen direkten Blick auf den Gral: Er übernimmt Parzivals Perspektive und beschreibt, was vor dessen unwissenden Augen bei der Gralprozession abläuft. Wiederholte Einschübe im Kontext der Verse wie „seht“ (233,12) oder „hœrt“ (232,12; 234,30; 238,2) verdeutlichen, dass die Beschreibungen des Erzählers auch an das Publikum adressiert sind. Der (im Erzählverfahren inszenierte) unverstellte Blick entspricht jener Unmittelbarkeit, welche auch die geheimnisvolle Vision des Flegetanis kennzeichnet: er „sach [...] mit sînen ougen / verholenbæriu tougen“ (454,17/19f.). Dem Heiden Flegetanis jedoch gerät die Vision unvermittelt in einen Sprechakt, der sich mit der Vision verschränkt, ja sich in der Sprachgestaltung der Verse regelrecht zwischen das thematisierte Sehen schiebt: Noch ehe das Syntagma „(er) sach [...] mit sînen ougen“ (454,17/19) endet, wird Flegetanis’ Sprechen erwähnt: „dâ von er blûweclîche sprach“ (454,18). Die enge Verbindung von Sehen und Sprechen wird im Übrigen durch die lautlich nahezu identischen Reimwörter „sach“ und „sprach“ deutlich gemacht. In den folgenden Versen setzen sich die durch den Kurzvokal „a“ erwirkten Assonanzen in den Wörtern „jach“ (454,21) und „las“ (454,22) fort. Eine besondere Funktion kommt dabei dem Wort „jach“ („er sagte“) zu, denn es leitet jenen Sprechakt ein, mit dem Flegetanis den in den Sternen geschauten Gralnamen erstmals artikuliert: „er jach, ez hiez ein dinc der Grâl“ (454,21). In diesem Vers (und nur in diesem) wird der Gral im Verlauf der Erzählung ein weiteres, zweites Mal nach Vers 235,23 als „dinc“ bezeichnet – und zwar in einem fast identischen Wortlaut. Der Unterschied zwischen den beiden Textstellen besteht darin, dass in der Flegetanis-Passage der Benennungsakt hinzutritt. In Vers 454,21 kommen dabei zwei näher zusammengehörige Handschriftengruppen dem Wortlaut des vorausgehenden Verses 235,23 noch näher, da sie diesen mit der Ersetzung des Verbums „hiez“ durch „wære“ in indirekte Rede setzen. Vers 454,21 lautet dort 56: 56 Die Angabe beruht auf Material des Berner „Parzival“-Projekts. Vgl.: http://www.parzival.unibe.ch.
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„er jach, ez wære ein dinc der Grâl“
In dieser Version liegt mit dem vom Verbum „jach“ abhängigen Nebensatz eine Ellipse gegenüber der direkten Rede von Vers 235,23 („daz was ein dinc, daz hiez der Grâl“) vor, da das die Benennung anzeigende Syntagma „daz hiez“ getilgt ist. Umgekehrt zielt die Version „er jach, ez hiez ein dinc der Grâl“ 57 gerade auf die Benennung des „Dings“ als Gral, der bei Wolfram, anders als in der französischsprachigen Tradition, als Edelstein beschrieben wird. 58 Zu beachten ist, dass die beiden Benennungsvorgänge im Hinblick auf den narrativen Inhalt (Histoire-Ebene) und die narrative Aussage (Discours-Ebene) jeweils gegenläufig angeordnet sind. 59 Auf der Histoire-Ebene benennt Flegetanis den Gral als erster (454,21). Er schafft damit eine Vorzeitigkeit des Erzählten, so dass später auch der Erzähler den Gral als solchen benennen kann, wenn er Parzivals Besuch auf der Gralburg schildert (235,23). Auf der Discours-Ebene hingegen geht diese Szene der erst später nachgetragenen Flegetanis-Passage voraus. Mittels der sprachlichen Korrespondenzen der beiden Verse (genauer: der in direkte bzw. in indirekte Rede gesetzten und damit als Sprechakt markierten Aussage über den Gral) stellt sich ein Bezug zwischen den Aussagen des Erzählers und des Flegetanis her: Beide sprechen denselben Satz aus. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass Flegetanis die Aussage in ‚heidnischer‘ (arabischer) Sprache macht, auch wenn dies der Text im Rahmen des mittelhochdeutschen Idioms nicht zum Ausdruck bringt. Insofern bleibt Kyot als Übersetzer, Gewährsmann und Experte implizit auch an diesem Kommunikationsvorgang beteiligt. Welche Konsequenzen die Verwendung der arabischen Sprache in Wolframs Der Wortlaut wird überliefert in den Handschriftengruppen GIOLM (an dieser Stelle Repräsentanten der Fassung *G) und QRTUVW (an dieser Stelle Repräsentanten der Fassung *T). Vgl. zu den Textfassungen unten, S.103, zum Siglensystem der „Parzival“-Handschriften die genannte Projektseite sowie Robert Schöller, Die Fassung *T des „Parzival“ Wolframs von Eschenbach. Untersuchungen zur Überlieferung und zum Textprofil. (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, NF., Bd. 56 [290].) Berlin/New York 2009, 55–59. 57 Vertreten durch die Handschriften D (an dieser Stelle einziger Repräsentant der Fassung *D) und mno (an dieser Stelle die einzigen Repräsentanten der Fassung *m). 58
Vgl. oben S.87, und ausführlicher zuletzt Stolz, „A thing called the Grail“ (wie Anm.17), 189–192.
59
Die Begriffe „Histoire“ und „Discours“ nach Tzvetan Todorov, Les catégories du récit littéraire, in: Com-
munications 8, 1966, 125–151, bes. 126, übernommen von Genette, Die Erzählung (wie Anm.24), 16, als „histoire“ und „récit“ bzw. deutsch „Geschichte“ („Signifikat“, „narrative(r) Inhalt“) und „Erzählung“ („Signifikant[en]“, „Aussage“, „narrative(r) Text“, „Diskurs“).
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„Parzival“ hat, zeigt sich an einer anderen Textstelle (782,1–30). Sie soll in einer Mehrtextedition vorgestellt werden, wie sie derzeit im Rahmen einer neuen „Parzival“-Ausgabe an der Universität Bern vorbereitet wird (vgl. Anhang). 60 Darin werden die bereits in der zuvor behandelten Textpassage genannten Handschriftengruppen als Textfassungen ersichtlich: Insgesamt können vier Fassungen unterschieden werden, wobei *D und *G die Hauptfassungen darstellen, denen *m bzw. *T jeweils als Nebenfassungen zuzuordnen sind. Fassung *D basiert auf Handschrift D, dem St. Gallener Codex 857 (südostalemannisch-südwestbairischer Raum, Mitte des 13.Jahrhunderts). Fassung *G orientiert sich an Handschrift G, dem Münchener Cgm 19 (ostalemannisch-bairischer Raum, ebenfalls Mitte des 13.Jahrhunderts). 61 Der erwähnte Textabschnitt enthält eine Szene aus dem vorletzten Buch der Dichtung (Buch XV), in der die Gralbotin Kundrie die glückliche Wendung von Parzivals Schicksal in den Sternen angekündigt sieht. Wie es im Text heißt, benennt sie die sieben Planeten mit ihren arabischen Namen: „Siben stern si dô nante / heidensch“ (782,1f., nach Fassung *D). Die Sterne fungieren als „des firmamentes zoum“ (782,14; ebd.), indem sie mit der Bewegung ihrer Kreisbahnen die gegenläufige Bewegung des über den Planeten befindlichen Fixsternhimmels hemmen: „die enthalten sîne snelheit“ („sie zügeln seine Geschwindigkeit“, 782,15; ebd.). 62
60 Zu Einzelheiten vgl. Michael Stolz, Intermediales Edieren am Beispiel des „Parzival“-Projekts, in: Wernfried Hofmeister/Andrea Hofmeister-Winter (Hrsg.), Wege zum Text. Beiträge des Grazer Kolloquiums über die Verfügbarkeit mediävistischer Editionen im 21.Jahrhundert (17.–19.September 2008). (Beihefte zu editio, Bd. 30.) Tübingen 2009, 213–228; sowie ders., Benutzerführung in digitalen Editionen. Erfahrungen aus dem Parzival-Projekt, in: Bibliothek und Wissenschaft 44, 2011, 49–80. 61 Vgl. zu beiden Handschriften Peter Jörg Becker, Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen. „Eneide“, „Tristrant“, „Tristan“, „Erec“, „Iwein“, „Parzival“, „Willehalm“, „Jüngerer Titurel“, „Nibelungenlied“ und ihre Reproduktion und Rezeption im späteren Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Wiesbaden 1977, 78f., 82–85; Karin Schneider, Gotische Schriften in deutscher Sprache. Bd. 1: Vom späten 12.Jahrhundert bis um 1300. Text- und Tafelbd. Wiesbaden 1987, Textbd. 133–142 und 150–154; sowie Michael Stolz, Der Codex Sangallensis 857 – Konturen einer bedeutenden mittelhochdeutschen Epenhandschrift, in: Stiftsbibliothek St. Gallen und Basler Parzival-Projekt (Hrsg.), Die St. Galler Nibelungenhandschrift [Epenhandschrift]: „Parzival“, „Nibelungenlied“ und „Klage“, „Karl“, „Willehalm“. Faksimile des Codex 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen und zugehöriger Fragmente. CD-ROM mit einem Begleitheft. (Codices Electronici Sangallenses, 1.) St. Gallen 2003. 2., erw.Aufl. St. Gallen 2005, 9–62; ders., Die Münchener Wolfram-Handschrift Cgm 19. Profile einer volkssprachigen ‚Autorhandschrift‘ des 13.Jahrhunderts, in: ders. (Hrsg.), Die Münchener Wolfram-Handschrift (Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 19.). Mit der Parallelüberlieferung zum „Titurel“. DVD mit einem Begleitheft. Simbach/Inn 2008, 7–71. 62 Vgl. zu den Hintergründen ptolemäischer Astronomie den Kommentar von Nellmann (wie Anm.12), Bd. 2, 769f.
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Wie die Verse 782,2–4, verdeutlichen, ist nur Parzivals Halbbruder, der mächtige orientalische Fürst Feirefiz, in der Lage, die von Kundrie genannten arabischen Planetennamen zu verstehen: „die namen bekante / der rîche, werde Feirefiz“ (782,2f.; ebd.). Da seine Mutter Belakane eine afrikanische Königin (und Heidin) war, ist Feirefiz’ Hautfarbe gescheckt: „swarz und wîz“, wie es im Text heißt (782,4; ebd.). 63 Anders als Feirefiz dürfte die übrige Zuhörerschaft, an die Kundrie ihre Worte richtet, die Planetennamen nicht verstehen. Diese Besonderheit der Kommunikationssituation ist nicht zu unterschätzen, denn immerhin findet Kundries Auftritt vor der Versammlung des Artushofes statt. Nach dieser vom Erzähler vorgetragenen Einleitung beginnt Kundrie zu sprechen: Sie bittet Parzival, die besondere Planetenkonstellation und deren Bedeutung zu beachten. Wie sie hervorhebt, zeigen die Sterne an, dass Parzival das Ziel, das ihm bestimmt (bzw. „abgesteckt“) sei, erreicht habe und dass sein Leiden beendet sei: „des sint dir zil gestecket / ze reichen und zerwerben / dîn riwe muoz verderben (782,20–22; ebd.). Die in den vorausgehenden Versen (782,6–12) angeführten Planetennamen stimmen mit arabischen Ausdrücken überein, wie sie in zeitgenössischen lateinischen Übersetzungen astronomischer Abhandlungen und Verarbeitungen begegnen (etwa dem Lehrgedicht Richers von Metz, um 1135). 64 Sie folgen der ptolemäischen Sphärenordnung, beginnend mit dem äußersten Planeten (der Saturn entspricht) und endend mit dem innersten Planeten, dem Mond. Im Vergleich der arabischen Planetennamen (hier wiedergegeben nach Fassung *D) mit den lateinischen bzw. deutschen Äquivalenten bestehen folgende Korrespondenzen:
63
„Zval“
(nach arabisch: „zuhal“):
Saturn
„Almustri“
(nach arabisch: „al-muštari“):
Jupiter
„Almaret“
(nach arabisch: „al-mirrih’ oder ‘al-ahmar“):
Mars
„Samsi“
(nach arabisch: „aš-šams“):
Sonne
Vgl. zu Feirefiz ausführlicher die Überblicksdarstellung bei Stolz, „A thing called the Grail“ (wie
Anm.17), 210, mit ausführlichen Literaturangaben. 64
Vgl. Christian Friedrich Seybold, Die arabischen Planetennamen in Wolframs „Parzival“, in: Zeitschrift
für deutsche Wortforschung 8, 1906/07, 147–151; Wilhelm Deinert, Ritter und Kosmos im „Parzival“. Eine Untersuchung der Sternkunde Wolframs von Eschenbach. (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters, Bd. 2.). München 1960, bes. 39–69; Paul Kunitzsch, Die Planetennamen im „Parzival“, in: Zeitschrift für deutsche Sprache 25, 1969, 169–174, Ndr. in: ders., Reflexe (wie Anm.30), 1–6 (zu Richer von Metz 3 Anm.8); und – kritisch gegenüber Deinerts symbolisierender Interpretation – Kunitzsch, Arabica (wie Anm.30), 54f.
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„Alligafir“
(nach arabisch: „az-zuhara“, vielleicht über eine spanisch-lateinische Ersetzung von „h“ durch „f“): 65
Venus
„Alkiter“
(nach arabisch: „al-katib“):
Merkur
„Alkamer“
(nach arabisch: „al-qamar):
Mond
Wie ein Publikum, das des Arabischen nicht mächtig war, auf diese fremden Namen reagiert haben mag, soll im Folgenden gezeigt werden. Dabei ist zwischen zwei Kategorien von Publikum zu unterscheiden: dem Artushof auf der intradiegetischen Ebene und Wolframs Publikum des früheren bzw. mittleren 13.Jahrhunderts, das auf einer (nun nicht mehr extradiegetischen, sondern) extratextuellen Ebene anzusiedeln ist. 66 Die Reaktionen des Letzteren werden ansatzweise in den Missverständissen der handschriftlichen Überlieferung fassbar. In der Textfassung *G zeichnet sich ein aussagekräftiger Fehler in der Anordnung der Planeten ab: Während einer frühen Phase der Überlieferung, die bereits in den Handschriften G und I (München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 61; mittelbairisch, zweites Viertel des 13.Jahr-hunderts) belegt ist 67, hat ein Schreiber – vermutlich in einer Vorlage der beiden genannten Handschriften – den ersten Namen „Zval“ verlesen als „zal“ („Zahl“): „der hôhesten planeten zal“ („die Zahl der höchsten Planeten“, 782,6; Fassung *G). Aufgrund dieses Missverständnisses musste er die in Vers 10f. für die betreffenden Planeten angeführten Ordnungszahlen anpassen. Er änderte „der vünfte“ und „der sehste“ (so Fassung *D und die anderen Fassungen) in „der vierde“ und „der vünfte“. Dies führte zu einer reduzierten Reihe von sechs Planeten, da die Liste unmittelbar danach in Vers 12 mit dem letzten Planeten abgeschlossen wird: „uns nâhest Alchater“ (782,12; Fassung *G). In den Handschriften G und I scheinen dabei die Planetennamen der Verse 11 und 12 vertauscht zu sein; statt „Alkiter“ und „Alkamer“ (wie in Handschrift D bzw. Fassung *D) begegnen die Namen „Alchumer“ und „Alchater“ (in Handschrift G) bzw. „Alcumer“ und „achater“ (in Handschrift I), was zu der irritierenden Aussage führt, dass „Alchater“ bzw. „achater“ (entsprechend „Alkiter“ bzw. Merkur in Handschrift D) der „uns“, d.h. der Erde, nächste Planet sei. Ein jüngerer, auf 1451 datierter Textzeuge, welcher der Fassung *G zuzuordnen ist (Handschrift L, Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek, Cod. germ. 6, in 65 Vgl. Kunitzsch, Planetennamen (wie Anm. 64), 5 f. 66 Zu den Begriffen ‚intradiegetisch‘ und ‚extradiegetisch‘ s. oben S. 90. 67 Vgl. zu Handschrift G oben S. 103 mit Anm.61, zu Handschrift I Becker, Handschriften (wie Anm.61), 86f.; Schneider, Gotische Schriften (wie Anm.61), 127–129.
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rheinfränkischer Schreibsprache) 68, dokumentiert, dass ein Redaktor – sei es der Schreiber der Handschrift oder, wahrscheinlicher, jener einer Vorlage – versuchte, die korrekte Ordnung zu rekonstruieren, indem er nach den Versen 782,9 und 782,10 jeweils einen Zusatzvers anfügte. Auf diese Weise schuf er ab Vers 9 einen Dreireim auf „-ir“, gefolgt von zwei Versen mit dem diphthongierten Paarreim „-ier“ und einem Vers mit Waise („Alchater“). Diese Anpassungen erfolgten, obwohl in Vers 782,6 das Syntagma „der hoheste planete“ im Singular steht, also nicht mehr – wie in den Handschriften G und I – eine Ergänzung im Genitiv Plural zu „zal“ darstellt: 782,6
Der hoheste planete zal
782,7
Vnd der snelle Alnwsteri
782,8
Alnwret vnd lieht samsi
782,9
Die erzeigten salicheit an dir
782,9-1
Daz gelovbe dv gantzliche mir
782,10
Der vierde heiszet Gofir
782,10-1
Der fvnfte alligofier
782,11
So heiszet der sehste alohvnier
782,12
Nach dem der nahste Alchater
(„Der höchste[n?] Planet[en?] Zal [Zahl?] und der schnelle Alnwsteri, Alnwret und der helle Samsi, die zeigten dir Glück an, das magst du mir ruhig glauben. Der vierte heißt Gofir, der fünfte Alligofier, und der sechste heißt Alohvnier und danach der nächste Alchater.“)
Nach Vers 9 fügte der Textbearbeiter einen phrasenhaften Satz ein: „Daz gelovbe dv gantzliche mir“ (782,9-1) und nach dem gemäß Textfassung *G ‚vierten‘, hier „Gofir“ genannten Planeten (782,10) ergänzte er als „fünften“ den fast homonymen „alligofier“, der nunmehr die Siebenerreihe vervollständigt (782,10–1). Der im 68
Vgl. Becker, Handschriften (wie Anm.61), 92–94; Eva Horváth/Hans-Walter Stork (Hrsg.), Von Rittern,
Bürgern und von Gottes Wort. Volkssprachige Literatur in Handschriften und Drucken aus dem Besitz der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. Ausstellungskatalog. (Schriften aus dem Antiquariat Dr. Jörn Günther, Hamburg, Bd. 2.) Kiel 2002, 64–67 (Nr.23), 136–141.
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nächsten Vers folgende „alohvnier“ (782,11) wurde, die Zählung weiterführend, als der „sechste“ Planet benannt. Die den Planeten „Alchater“ (entsprechend Merkur) betreffende Aussage wurde in der Weise angepasst, dass dieser nun als „der nahste“ (im Sinne von „der nächstfolgende“) und nicht mehr als der „uns“ bzw. der Erde nächste Planet erscheint. 69 Das Beispiel bezeugt einen Akt misslungener Expertentätigkeit: Wo der Experte bzw. in diesem Fall die Expertin Kundrie, jenem Bereich zu sehr verhaftet bleibt, den er bzw. sie allein beherrscht, ist die Vermittlungsleistung gefährdet. Die Bezugnahme auf den fremdsprachigen Ausgangscode riskiert Missverständnisse, dies selbst dann, wenn Kundrie, wie sie in ihrer Rede zum Ausdruck bringt, die für Parzival günstige Bedeutung der Sternenkonstellation korrekt interpretiert („des sint dir zil gestecket [...]“, Verse 782,20–22). Die in der Überlieferung in Unordnung geratene Planetenreihe bekundet hier einen missglückten Kommunikationsakt, der sich freilich nicht zwischen Kundrie und ihrer Zuhörerschaft, sondern unter den Schreibern der Handschriften abspielt. In einem letzten Schritt soll nunmehr gefragt werden, inwiefern das eingangs erwähnte Spannungsverhältnis von Expertenvertrauen und Expertenkritik 70 auch in
69 Zwei ebenfalls zu Fassung *G gehörige Handschriften weisen folgende Lösungsansätze zur Wiederherstellung der Siebenerreihe auf: In Handschrift M (Schwerin, Landesbibliothek Mecklenburg-Vorpommern, ohne Signatur, mitteldeutsch, um 1435–1440) beschränkt sich die Ergänzung auf Vers 782,10–1 („Der funffte alligofir“). In der Folge der Verse 782,9/10, 782,10–1 und 782,11 wird hier ein Vierreim hergestellt, dies mit den Reimwörtern „dir“ – „kaligofir“ – „alligofir“ – „allobvmir“ (die Endsilbe des letztgenannten Planetennamens, der in Handschrift M ebenfalls an sechster Stelle geführt wird, ist also anders als in Handschrift L nicht diphthongiert). Der folgende Vers 782,12 bietet mit dem siebten Planetennamen „alkater“ wiederum eine Waise. Handschrift Z (Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg 364, ostfränkisch, erstes Viertel des 14.Jahrhunderts), deren Text stark kontaminiert ist, d.h. zwischen den einzelnen Fassungen schwankt, entspricht in Vers 782,6 dem Wortlaut von Fassung *G („Der hosten planeten zal“); während Vers 782,10 mit der Angabe eines ‚vierten‘ Planeten fehlt, bieten die Verse 782,10–1f. die Ordnungszahlen der Fassungen *D und *m: „Der fvnfte heizzet Aligofir / So heizt der sehste Alkvmer“ (was eine unkorrekte Zählung ergibt). – Die zu Fassung *T gehörigen Handschriften deuten mit dem darin überlieferten Wortlaut an, dass Vers 782,6 einen Planetennamen (und nicht das Substantiv ‚Zahl‘) anführt. Vgl. Handschrift Q (Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Codex Donaueschingen 70, hessisch, drittes Viertel des 15.Jahrhunderts): „Der hochste planete zal“; Handschrift R (Bern, Burgerbibliothek, Cod. A A 91, hochalemannisch, datiert auf 1467): „Der höchsten planeten zval“. Einzig die Handschrift U (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2775, rheinfränkisch, erstes Viertel des 14.Jahrhunderts) tendiert – bei Beibehaltung der Zahlwörter gemäß Fassung *D und *m in Vers 782,10f. – in Vers 782,6 zum Wortlaut von Fassung *G und ähnelt damit insgesamt dem Verfahren von Handschrift Z: „Der hohesten planeten zal“. 70 Vgl. oben S. 84 f.
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Wolframs „Parzival“ Geltung hat. Zu diesem Zweck ist auf die Figur Kyots zurückzukommen, genauer: auf Spuren der Rezeption dieser Figur bei Wolframs Zeitgenossen und Nachfolgern. Ein Zeugnis dafür, dass Kyot wie auch Flegetanis als Gewährsleute Akzeptanz fanden, bietet der sogenannte „Jüngere Titurel“ aus der zweiten Hälfte des 13.Jahrhunderts. Dieser hybride Text, der Teile aus Wolframs „Parzival“ und „Titurel“ zu einer umfangreichen neuen Dichtung zusammenfügt, stammt von einem Verfasser namens Albrecht, dem man heute – anders als noch im Titel der maßgeblichen Ausgabe – den Beinamen „von Scharfenberg“ abspricht. 71 Unmittelbar nach dem 85 Strophen umfassenden Prolog findet sich dort eine Erwähnung der beiden Gewährsleute Kyot und Flegetanis: „Der von Provenzale
und Flegetanis parlůre
heidenisch von dem grale daz wil ich diutsch,
und franzoys tůnts kunt vil aventůre. an iz mir got, hie kunden.
swaz Parzival da birget,
daz wirt zu liehte braht an vakel zunden.“
(Strophe 86) 72 („Der parleur Flegetanis und der [parleur?] Provenzale [‚aus‘ Provenzale?] berichten viele Aventiuren vom Gral in arabischer und französischer Sprache. Das will ich hier auf Deutsch verkünden, so es mir Gott erlaubt. Was Parzival da verbirgt, wird mit dem Feuer einer Fackel ans Licht gebracht.“)
In der Nachfolge von Wolframs Erzähler und später in der Rolle Wolframs auftretend („Ich, Wolfram“, 2867,1), beruft sich der Erzähler des „Jüngeren Titurel“ auf den Provenzalen (gemeint ist Kyot) und auf Flegetanis. An den drei Erzählinstanzen von Flegetanis, Kyot und sich selbst macht er den Übertragungsvorgang vom Arabi-
71
Vgl. zur Forschung zuletzt: Thomas Neukirchen, Die ganze ‚aventiure‘ und ihre ‚lere‘. Der „Jüngere Titu-
rel“ Albrechts als Kritik und Vervollkommnung des „Parzival“ Wolframs von Eschenbach. (Euphorion, Beih. 52.) Heidelberg 2006; Annette Volfing, Medieval Literacy and Textuality in Middle High German. Reading and Writing in Albrecht’s „Jüngerer Titurel“. (Arthurian and Courtly Cultures.) New York 2007; Martin Baisch u.a. (Hrsg.), Der „Jüngere Titurel“ zwischen Didaxe und Verwilderung. Neue Beiträge zu einem schwierigen Werk. (Aventiuren, Bd. 6.) Göttingen 2010; Britta Bussmann, Wiedererzählen, Weitererzählen und Beschreiben. Der „Jüngere Titurel“ als ekphrastischer Roman. (Studien zur historischen Poetik, Bd. 6.) Heidelberg 2011. 72
Albrechts von Scharfenberg Jüngerer Titurel. Bd. 1. Nach den ältesten und besten Handschriften hrsg.
v. Werner Wolf. (Deutsche Texte des Mittelalters, Bd. 45.) Berlin 1955, 22.
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schen („heidenisch“, 86,2) ins Französische und weiter ins Deutsche fest. Auffällig ist der wohl zu Flegetanis gehörige, vielleicht aber auch auf Kyot beziehbare Beiname „parlůre“ (86,1). Das in normalmittelhochdeutscher Form „pareliure“ lautende Substantiv stellt eine Entlehnung aus altfranzösisch „parlëor“ bzw. „parlier“ dar und bedeutet „Sprecher“, „Verkünder“, „Prophet“. Es begegnet neben der erwähnten Stelle im „Jüngeren Titurel“ nur noch in Wolframs „Parzival“ und ist dort auf den Philosophen Plato bezogen („der pareliure Plâtô / sprach bî sînen zîten dô“, 465,21f.). In Wolframs „Willehalm“ (218,13) wird derselbe Plato – wohl synonymisch – als „wîssage“ („Weissager“, „Prophet“) bezeichnet, dies wie im „Parzival“ im Kontext der Sibylle. 73 In beiden Fällen ist dabei über die etymologische Herleitung (altfranzösisch „parler“, mittelhochdeutsch „sagen“) auch die mündliche Rede zum Ausdruck gebracht. Im „Jüngeren Titurel“ dürfte sich der Beiname auf Flegetanis‘ ‚prophetische‘ Vision des Gralnamens beziehen, aber wohl auch darauf, dass Flegetanis den Gral im Zuge dieser Vision benennt („er jach“, 454,21). Wenn sich der Beiname auch auf Kyot als den „von Provenzale“ (den „parleur Provenzale“, „aus Provenzale“?) bezieht, klingt vielleicht auch dessen sprachliche Interaktion mit dem Erzähler an. Die Mitteilung der Parzival betreffenden Geheimnisse („swaz Parzival da birget“) wird metaphorisiert als das Ans-Licht-Bringen im Feuerschein einer Fackel. Eine weitere Bezugnahme deutet sich im sogenannten literarischen Exkurs des „Tristan“ Gottfrieds von Straßburg an, eines Zeitgenossen Wolframs von Eschenbach. Gottfried polemisiert dort bekanntlich gegen die „vindære wilder mære / der maere wilderaere“ (Vers 4665f.), die Finder „wilder Erzählungen“, welche ihre Texte wie Wilderer aufspüren und zurichten. 74 Es ist nicht auszuschließen, dass sich Gottfried mit dieser Polemik gegen Wolframs Erzähler und seinen Gewährsmann Kyot richtet, dies indem er sprachliche Wendungen aus dem „Parzival“ aufgreift. Im Prolog des „Parzival“ wird (in Anspielung an die Trinität?) eine ins Dreifache gesteigerte Erzählinstanz evoziert, zu deren Fähigkeiten unter anderem ein „wilder funt“ gehört
73 Im Kontext der Verse geht es jeweils um Erklärungen der Erbsünde. Vgl. auch den Kommentar von Nellmann (wie Anm.12), Bd. 2, 676. Zum Wort „pareliure“ auch Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch (wie Anm.46), Bd. 2, Sp.207. 74 Der mittelhochdeutsche Text wird hier und im Folgenden zitiert nach der Ausgabe: Gottfried von Straßburg, Tristan und Isold. Hrsg. v. Walter Haug † u. Manfred Günter Scholz. Mit dem Text des Thomas, hrsg., übers. u. komm. v. Walter Haug †. 2 Bde. (Bibliothek des Mittelalters, Bd. 10/11; Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 192. ) Berlin 2011. Vgl. zur Stelle auch – stellvertretend für die umfangreiche Forschungsliteratur – den Kommentar zu dieser Ausgabe: Bd. 2, 374–376; Nellmann, Wolfram und Kyot (wie Anm.21), bes. 44–54.
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(„wilde Auffindung bzw. Erfindung [oder besondere Gestaltungskraft?]“, 4,5). Im Kyot-Exkurs ist immerhin davon die Rede, dass Kyot den Urtext der Gralerzählung in Toledo „verworfen ligen vant“ (453,12). An späterer Stelle heißt es bei Gottfried, dass diese „wilderære“ einen offenbar so verrätselten Text produziert hätten, dass sie der „tiutære“ („Ausdeuter“, Vers 4684) bedürften. Der „Tristan“-Erzähler hält es aber nicht der Mühe wert, „daz wir die glôse suochen / in den swarzen buochen“ („dass wir die Glossen bzw. Kommentare in den Büchern der schwarzen Magie suchen“, Vers 4689f.). Die „swarzen buochen“ könnten sich auf die als „nigromantia“ verstandene Nekromantie beziehen, von der im Kyot-Exkurs ja tatsächlich die Rede ist. 75 Wenn Gottfrieds Kritik tatsächlich auf Wolfram und Kyot zielt, wäre beachtenswert, dass diese nicht wie die affirmative Bezugnahme im „Jüngeren Titurel“ bei der mündlichen Rede („parlůre“) ansetzt, sondern medial auf den Bereich der Schriftlichkeit weist („die glôse suochen / in den swarzen buochen“), diese zumindest mit im Blick hat. Darauf deutet auch die Aussage, dass man die „wilderære“ nicht verstehen („niht verstân“) könne, wenn „man si hœret unde siht“ („[...] und geschrieben sieht“?, Vers 4686f.). Jedenfalls geht die von Gottfried geübte Expertenkritik davon aus, dass „Wolfram einer ‚Quelle‘ folgt, deren ‚Verfasser‘ sich am Rande der Magie bewegt hat“. 76 „Was im Dunstkreis der Magie entstand“ 77, so ließe sich Gottfrieds Position zusammenfassen, führt zu einer Gefährdung des Verstehens, wie sie beispielsweise auch im Zusammenhang mit den von Kundrie genannten arabischen Planetennamen zu beobachten ist. An dieser Stelle soll ein kurzes Fazit aus den angestellten Betrachtungen gezogen werden. Fragt man nach der Imagination eines Expertentyps im hohen Mittelalter, so können Figuren in Wolframs „Parzival“ wie die im Kontext geheimer Wissenschaften angesiedelten Gestalten Flegetanis, Kyot und Kundrie Aufschluss geben. An ihnen werden im Medium des Erzählens der Erwerb, der Besitz und die Vermittlung von Wissen verhandelt. Komponenten des zur Darstellung gebrachten Expertentums sind wie oben erwähnt: Augenzeugenschaft (Flegetanis und Kundrie lesen in den Sternen, wobei die Christin Kundrie auch in der Lage ist, zu interpretieren, was sie sieht – bei Flegetanis bleibt dies unsicher); Herkunft und Kenntnisse, die am Rand der vertrauten Welt angesiedelt sind (Heidentum, aber auch fremde Sprachen
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75
Vgl. oben S. 93 und Nellmann, Wolfram und Kyot (wie Anm.21), 54–57.
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Ebd.65.
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Ebd.
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und Schriftzeichen, Magie); Vermittlungsweisen, die sich außerhalb oder am Rande konventioneller Kommunikationsbahnen bewegen (bei Flegetanis, Kyot und bis zu einem gewissen Grad auch bei Kundrie eine explizit herausgestellte Mündlichkeit, die im Gegensatz zu dem Schriftlichkeitsanspruch des höfischen Romans Hartmannscher Prägung steht). Die Kommunikationsleistung des Experten kann sich dabei als gefährdet erweisen, wenn der Experte seinem Ausgangscode zu stark verhaftet bleibt oder wenn er seinen Erzählgegenstand in der Nähe zur Magie ‚verwildern‘ lässt. Genau an diesem Punkt dürfte die Wolfram entgegengebrachte Kritik anzusetzen sein, wie sie in Gottfrieds Literaturexkurs aufscheint. Warum, so lässt sich fragen, wird Expertenwissen dieser Art in Wolframs „Parzival“ eingebracht? Im lebensweltlichen Umfeld des Dichters und dem gattungsgeschichtlichen Kontext seiner Texte ist wenig von jener Beschleunigungserfahrung zu erkennen, die eingangs als eine der Motivationen für die Entstehung des neuzeitlichen Expertentypus namhaft gemacht wurde. Wohl aber lässt sich aus Wolframs „Parzival“ ein Bewusstsein für die um 1200 bestehenden Kulturkontakte mit der arabischen (als ‚heidnisch‘ bezeichneten) Welt ablesen. Diese Kontakte machten eine, wenn auch häufig ebenso unvollkommene wie gefährdete sprachliche und interkulturelle Verständigung nötig. Nicht zuletzt spricht aus Wolframs „Parzival“ das Bewusstsein eines Wissensvorsprungs dieser fremden Welt, etwa in Bereichen der Astronomie. Erkennbar wird in Wolframs „Parzival“ auch das Bewusstsein, dass die höfische Welt des Imaginären bedarf, um sich ihrer selbst zu vergewissern. Dies zeigt sich in kritischen Reflexionen über die Ideale des Rittertums („schildes ambet“, 115,11) und des Minnewesens („minne[n] umbe sanc“, 115,13), die sich im „Parzival“ wiederholt finden. Dies zeigt sich aber auch an den ‚Masken‘ von Gewährsleuten wie Flegetanis und Kyot. Aus den Gattungskonventionen des Artusromans und dessen pseudohistoriographischen Ursprüngen erwachsen, dienen diese ‚Masken‘ dazu, den fiktionalen Status des Romans um 1200 zu reflektieren und zur Schau zu stellen. In diesem Kontext findet eine fiktive Quelleninstanz wie die Figur des Kyot ihren Ort und ermöglicht es zugleich, frühe Ausprägungen von Imaginationen des Expertenwesens abzulesen.
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Anhang
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Abb.: Wolfram von Eschenbach, „Parzival“, Abschnitt 782; Edition der Fassungen *D, *m, *G, *T (Berner Parzival-Projekt).
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Der Kaiser als Experte? Eine Spurensuche mit Ausblick auf die Wissensinszenierung in Maximilians I. „Weißkunig“ von Björn Reich und Christoph Schanze
In Sir Arthur Conan Doyles Roman „A Study in Scarlet“, in dem geschildert wird, wie sich Sherlock Holmes und Dr. Watson kennenlernen, erstellt Letzterer, beeindruckt von dem extravaganten Genius seines neuen WG-Partners, eine Liste mit dem Wissen und den Fähigkeiten von Holmes: SHERLOCK HOLMES – his limits 1. Knowledge of 2. " " 3. " " 4. " " 5. " " 6.
"
Literature. Philosophy. Astronomy. Politics. Botany.
– – – – –
" Geology.
–
7. Knowledge of Chemistry. 8. " " Anatomy. 9. " " Sensational Literature.
– – –
Nil. Nil. Nil. Feeble. Variable. Well up in belladonna, opium,and poisons generally. Knows nothing of practical gardening. Practical, but limited. Tells at a glance different soils from each other. After walks has shown me splashes upon his trousers, and told me by their colour and consistence in what part of London he had received them. Profound. Accurate, but unsystematic. Immense. He appears to know every detail of every horror perpetrated in the century.
10. Plays the violin well. 11. Is an expert singlestick player, boxer, and swordsman. 12. Has a good practical knowledge of British law. 1
Diese Liste charakterisiert nicht nur grundlegend die Figur Holmes mit ihren leicht exzentrischen Zügen, sie liefert zudem ein prägnantes Bild von dem, was der größte Experte auf dem Gebiet der Verbrechensbekämpfung weiß bzw. wissen muss. 2 Holmes’ Kenntnisse sind dabei, das verwundert nicht, in bestimmten Bereichen hochgradig beschränkt – sie beziehen lediglich praktisches, auf sein spezifisches Fachgebiet anwendbares Wissen mit ein. Das gibt Holmes freimütig zu, wie 1
Sir Arthur Conan Doyle, A Study in Scarlet, in: The Complete Sherlock Holmes. With a Preface by Chris-
topher Morley. Garden City 1938, 11.
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oldenbourg DOI 10.1524/9783486717952.114
Watson einleitend zu seiner Liste bemerkt: „He said that he would acquire no knowledge which did not bear upon his object. Therefore all the knowledge which he possessed was such as would be useful to him.“ 3 Eine Ausnahme hiervon bildet das Geigenspiel von Holmes. Darauf geht Watson im nächsten Absatz ein und fügt hinzu: „I see that I have alluded above to his powers upon the violin. These were very remarkable, but as eccentric as all his other accomplishments.“ 4 Der Verweis auf das Geigenspiel dient folglich nicht dazu, die besonderen Fähigkeiten von Holmes, sondern seine Exzentrik und damit auch seine gesellschaftliche Sonderstellung hervorzuheben, und trägt dazu bei, die Figur Holmes als Faszinosum zu kennzeichnen. Watsons Bemerkungen zeigen jedenfalls deutlich, dass es anscheinend nur unter Vernachlässigung oder gar Ausblendung anderer Wissensgebiete möglich ist, die Expertise (im Sinne eines Status) auf einem Gebiet zu erreichen. Dies wird kurz zuvor auch von Holmes selbst thematisiert: „,You see‘, he [Holmes] explained, ,I consider that a man’s brain originally is like a little empty attic, and you have to stock it with such furniture as you choose. A fool takes in all the lumber of every sort that he comes across, so that the knowledge which might be useful to him gets crowded out, or at best is jumbled up with a lot of other things, so that he has a difficulty in laying his hands upon it. Now the skilful workman is very careful indeed as to what he takes into his brain-attic.‘“ 5
I. Die Spur des Experten Die Spezialisierung auf ein bestimmtes Wissensgebiet allein ist selbstredend kein hinreichender Grund dafür, eine Person als ‚Experten‘ zu bezeichnen. Jedenfalls erweisen sich Ansätze, die versuchen, den Experten lediglich über sein spezifisches
2 Zu Holmes’ Expertentum vgl. André Didierjean/Fernand Gobet, Sherlock Holmes – An Expert’s View of Expertise. British Journal of Psychology. Unter: http://bura.brunel.ac.uk/bitstream/2438/854/1/SherlockHolmes-and-Expertise.pdf (letzter Zugriff: 25.8.2011). 3 Doyle, Study in Scarlet (wie Anm.1), 11. 4 Ebd. 5 Ebd.10. Es scheint sogar möglich, allein durch Spezialisierung zum ‚Experten‘ zu werden; so hat sich etwa Prinz Philip, der Gatte der englischen Königin Elisabeth II., mit typisch britischem Understatement als den „weltgrößte[n] Experte[n] für das Enthüllen von Gedenktafeln“ bezeichnet (FAZ Nr.134 vom 10.Juni 2011, 25).
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Sonderwissen oder seine charakteristischen Fähigkeiten zu bestimmen, nicht als befriedigend. 6 Im Forschungsprogramm des Göttinger Graduiertenkollegs „Expertenkulturen des 12. bis 16.Jahrhunderts“ wird daher zu Recht nicht nur auf das Wissen abgehoben, der Expertenstatus wird vielmehr ganz wesentlich über die kommunikative Situation, in der der Experte als solcher auftritt, definiert. Nicht primär ein bestimmtes Sonderwissen macht eine Person zu einem Experten, sondern vielmehr die Nachfrage nach diesem Wissen und die Erwartungshaltung der sozialen Gruppe, in der sich die entsprechende Person bewegt: Ohne Verbrechen ist der Verbrechensexperte Sherlock Holmes daher kein Experte, weil seine Expertise nicht benötigt wird, so dass er, bleiben die Konsultationen seitens des Yard oder anderer Klienten aus, auch folgerichtig in Depression und Lethargie versinkt. Wenn es in London überhaupt keine Verbrechen mehr gäbe, ja selbst dann, wenn die Verbrechen so unbedeutend oder leicht aufzuklären wären, dass die besonderen Fähigkeiten und das besondere Wissen von Holmes nicht mehr benötigt würden, wäre sein Expertenstatus hinfällig. 7 Ohne den Bedarf an einem spezifischen Sonderwissen fehlt nämlich die Zuschreibung des Expertenstatus von außen 8, und diese wiederum resultiert natürlich nicht nur aus dem Bedarf, sondern wesentlich aus der Erwartungshaltung,
6 Die Frage nach dem Experten scheint zunächst hauptsächlich in der Psychologie gestellt zu werden, wo immer wieder versucht wird, die Frage zu beantworten, inwiefern sich die mentalen Strukturen von Experten von denen von ‚novices‘ und Laien unterscheiden – gedacht wird hier freilich hauptsächlich an Schachprofis oder herausragende Mediziner; vgl. dennoch A. Binet, Psychologie des grands calculateurs et joueurs d’échecs. Paris 1894, Ndr. Paris 1981; William G. Chase/Herbert A. Simon, Perception in Chess, in: Cognitive Psychology 4, 1973, 55–81; Adrianus Dingeman de Groot, Het denken van den schaker. Amsterdam 1946; Fernand Gobet, Expert Memory: Comparison of Four Theories, in: Cognition 66, 1998, 115–152; Marina Myles-Worsley u.a., The Influence of Expertise on X-Ray Image Processing, in: Journal of Experimental Psychology 14, 1988, 553–557; Geoffrey R. Norman u.a., Recall by Expert Medical Practitioners and Novices as a Record of Processing Attention, in: Journal of Experimental Psychology 15, 1989, 1166–1174; Remy M.J.P. Rikers u.a., On the Constraints of Encapsulated Knowledge: Clinical Case Representations by Medical Experts and Subexperts, in: Cognition and Instruction 20, 2002, 27–45; James J. Staszewski, Skilled Memory and Expert Mental Calculation, in: Michelene T.H.Chi u.a. (Eds.), The Nature of Expertise. Hillsdale 1988, 71–128. 7 Nach dem Tod von Professor Moriarty wird dies in der Tat durch Holmes’ Klage, es gäbe nun keine nennenswerten Aufgaben mehr für ihn, angedeutet; vgl. Sir Arthur Conan Doyle, The Adventure of the Norwood Builder, in: The Complete Sherlock Holmes (wie Anm.1), 575. 8 Im Übrigen ist klar, dass der Bedarf an einem spezifischen Wissen auch erst von einem Experten für dieses Wissen geweckt werden kann – etwa, wenn er sein Wissen in einer Publikation darlegt und diese bewirbt. Hier deutet sich bereits die zentrale Rolle der (Selbst-)Inszenierung für die Konstitution des Expertenstatus an.
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die das soziale Umfeld der betreffenden Person im Hinblick auf das Wissen und die Fähigkeiten dieser Person hat. 9 Entscheidend für den Expertenstatus ist also, ob man eine Person für einen Experten hält, wenn man sie in ihrer Experteneigenschaft konsultiert. Solche Zuschreibungen resultieren, wie Frank Rexroth deutlich gemacht hat, aus einem komplizierten Zusammenspiel von Institutionalisierungs- und Inszenierungsmechanismen. 10 ‚Institutionalisierung‘ meint dabei nicht unbedingt die Anbindung an eine bestimmte Institution (im Sinne eines Amtes o. ä.), sondern den Prozess einer gesellschaftlichen Geltungssicherung, wie beispielsweise Peter Strohschneider ausführt: „‚Institutionalität‘ [...] zielt in dem hier gemeinten Sinn nicht auf eine Analyse von ‚Institutionen‘ als historischen Entitäten im Sinne von einzelnen ‚Organisationen‘, ‚Körperschaften‘, ‚Anstalten‘. Es geht vielmehr um etwas, das sich als das ‚Institutionelle‘ an gesellschaftlichen Strukturen des Kommunizierens und Handelns analysieren läßt: Formen der Geltungssicherung und Stabilisierung, die in sozialen Ordnungen auch gewissermaßen ‚unterhalb‘ der Ebene von durchgebildeten Organisationen oder Institutionen (im traditionellen Wortsinne) wie Ehe, Kirche, Staat, Universität usw. begegnen.“ 11
Am einfachsten gewinnt eine Person ihren Expertenstatus allerdings durch ihre Zugehörigkeit zu einer bereits etablierten Institution, die sie in ihrem Wissen oder ihren Vermittlungsfertigkeiten legitimiert und so die Erwartungshaltung des Umfelds erzeugt. Zumindest sichert eine Institution bestimmte Grundfähigkeiten einer 9 Dass dabei nicht selten die Vorstellungen von angeborenen Expertenfähigkeiten eine wichtige Rolle spielen, wird nicht nur durch die psychologische ‚Expertenforschung‘ belegt, sondern auch durch das literarische Beispiel Holmes: Methodisch gesehen liegt seinem Vorgehen zwar jeweils nur ein spezifisches Deduktionsverfahren zugrunde, das Holmes auch nicht müde wird an Dr. Watson zu vermitteln – allein diese Vermittlung schlägt fehl, denn Watson zeigt sich auch nach unzähligen Geschichten nicht in der Lage, Holmes’ Methode fehlerfrei anzuwenden. „But, none the less, my turn that way is in my veins“, erklärt Holmes Watson seine Talente in „The Greek Interpreter“, und als dieser fragt „but how do you know that is hereditary?“, verweist er auf seinen ebenso begabten Bruder Mycroft: „Because my brother Mycroft possesses it in a larger degree than I do“. Sir Arthur Conan Doyle, The Greek Interpreter, in: The Complete Sherlock Holmes (wie Anm.1), 502; vgl. Didierjean/Gobet, Sherlock Holmes (wie Anm.2), 14f. 10 Vgl. Frank Rexroth, Expertenweisheit. Die Kritik an den Studierten und die Utopie einer geheilten Gesellschaft im späten Mittelalter. (Freiburger mediävistische Beiträge, 1.) Basel 2008. 11 Peter Strohschneider, Institutionalität. Zum Verhältnis von literarischer Kommunikation und sozialer Interaktion in mittelalterlicher Literatur. Eine Einleitung, in: Beate Kellner/Ludger Lieb/Peter Strohschneider (Hrsg.), Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur. (Mikrokosmos 64.) Frankfurt am Main 2001, 1–26, hier 3.
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Person: So verbürgt die Zugehörigkeit zur Institution Kirche dem Pfarrer eine grundlegende theologische Versiertheit, durch die er in bestimmten Situationen Experte ist, und dem Bankangestellten kann in der Regel – allein durch sein Angestelltenverhältnis bei der Bank – ein mindestens basales Wissen im Finanzbereich bescheinigt werden. 12 Innerhalb einer sozialen Gruppe kann aber auch ein Nicht-Pfarrer als Theologie- oder ein Nicht-Bankangestellter als Finanzexperte gelten. Entscheidend ist dann, dass die Legitimation entweder durch Dritte erfolgt oder sich die fragliche Person selbst als Experte inszeniert. 13 Dazu gehört – um nur ein Beispiel zu nennen – ein bestimmter Habitus, der je nach Expertenbereich verschieden ausgeprägt sein kann. 14 Insgesamt lässt sich als grobe Faustregel festhalten: Je stärker die institutionelle Einbindung einer Person gesichert ist, desto kleiner ist der Aufwand an Inszenierung, den sie betreiben muss, um ihren Expertenstatus in der Öffentlichkeit durchzusetzen. Dass all diese Zuschreibungen letztlich nicht in erster Linie auf das konkrete Wissen einer Person rekurrieren, ist evident. Das tatsächliche Wissen kann vom Laien nicht eingesehen oder gar beurteilt werden. Das heißt natürlich nicht, dass man als Experte nicht über ein bestimmtes Wissen verfügen muss – es bedeutet aber, dass der Laie als Nicht-Wissender gezwungen ist, sich auf die Legitimation durch die verschiedenen Institutionalisierungs- und Inszenierungsmechanismen zu verlassen. Diese dienen letztlich dazu, den Expertenstatus einer Person zu plausibilisieren.
12
Diese Legitimation ‚qua Amt‘ trägt allerdings auch immer die Möglichkeit der ‚Amtsanmaßung‘ in
sich, wie die immer wieder auftretenden Fälle von betrügerischen Ärzten, Rechtsanwälten o. ä. zeigen. Gerade solche Fälle können aber auch ein deutlicher Hinweis auf die zentrale Funktion dieser Legitimation ‚qua Amt‘ für die Konstitution eines Expertenstatus sein, nämlich dann, wenn z.B. Kranke von ‚falschen‘ Ärzten tatsächlich geheilt werden. Dieser Heilungserfolg beruht dann nicht in erster Linie auf dem Expertenwissen des ‚Arztes‘ (selbst wenn dieser aus Erfahrung oder sonstigen Gründen über rudimentäre medizinische Kenntnisse verfügen sollte), sondern auf dem Glauben des Kranken an den Expertenstatus des ‚Arztes‘: Wer Arzt ‚ist‘, ‚kann‘ auch Arzt. Anders gesagt: Wenn jemand überzeugend vorgibt, ein Arzt zu sein, dann kann er auch heilen (Placebo-Effekt), auch wenn er eigentlich nicht über die entsprechenden Fähigkeiten verfügt. 13
Bisweilen kommt es auch zur Konkurrenz von institutionalisierten und nicht-institutionalisierten
Experten, wie immer wieder in den Auseinandersetzungen zwischen Holmes und den Inspektoren des Yard deutlich wird. 14
Vgl. die derzeit entstehende Arbeit von Ingo Trüter: Wie ein Gelehrter zum Gelehrten wurde – oder:
Habitus im gelehrten Feld der Zeitwende (Arbeitstitel). Solche Inszenierungsmittel und -riten sind dabei selbst wieder institutionell gesichert (etwa durch Amtseide, Amtskleidung etc.) und von Institutionen aufrechterhalten, um deren institutionellen Status als ‚Expertenmacher‘ hervorzuheben.
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So oder so ist die Lage des Experten eine prekäre – entweder ist er auf den guten Ruf einer Institution angewiesen, von der er abhängt, oder aber auf den Erfolg seiner Expertisen (im Sinne eines mündlichen oder schriftlichen Gutachtens), so dass schon ein einzelner Misserfolg seinen Expertenstatus nachhaltig erschüttern kann. Außerdem lässt sich der Expertenstatus immer nur situativ aufrechterhalten – er bezieht sich auf die aktuelle Zusammensetzung des sozialen Umfelds, in dem sich der Experte bewegt, sowie auf die Bedürfnisse dieses Umfelds. So mag der Dorfpfarrer einer kleinen Gemeinde innerhalb seines sozialen Umfelds als Experte für theologische Fragen gelten, während er an der theologischen Fakultät der Sorbonne möglicherweise nicht über den Status des Dorftrottels hinausreichen würde. Das Misstrauen gegenüber dem Experten ist letztendlich, wie Rexroth dargelegt hat, stets hoch – gerade weil ihn sein Sonderwissen aus der Gemeinschaft herausheben kann und es für die Laien möglicherweise nicht ohne weiteres ersichtlich ist, wie der Expertenstatus zustande gekommen ist. 15 Sein Sonderstatus grenzt ihn daher aus und macht ihn zur Zielscheibe von Kritik. Sherlock Holmes kann hier vielleicht als eine Art Muster des Experten dienen: Sein Wissen und seine Fähigkeiten sind spezifisch genug, um ihn von seinem Umfeld deutlich abzuheben. Holmes wird in der Regel um Rat gefragt – sowohl von absoluten Laien auf dem Gebiet der Verbrechensbekämpfung als auch vom Yard, der in Doyles Geschichten eine in dieser Hinsicht mittlere Stufe repräsentiert. Er wird in politisch brisanten Fällen selbst vom Königshaus konsultiert und erhält so eine mehr als hinreichende Legitimation von außen. Zudem trägt Holmes durch seine Expertisen selbst entscheidend zur Verstetigung neuer Wissensbestände bei, wenn er – etwa durch seine umfassende Publikation über verschiedene Arten der Zigaretten-/Zigarrenasche – neue Methoden der Verbrechensaufklärung einführt. Dieser Punkt ist deshalb wichtig, weil die Notwendigkeit von Expertisen vor allem dort auftritt, wo ein spezifischer Wissensbestand von Laien nicht mehr bewältigt werden kann. In der zunehmenden Institutionalisierung von Experten zeigt sich damit eine Verstetigung neuer relevanter Wissensbestände. Nun sind Holmes’ Methoden wesentlich empirisch geprägt, und Forschungsansätze, die vor allem die Weiterentwicklung der Gesellschaft durch zunehmende naturwissenschaftliche Kenntnisse seit dem Beginn der Frühen Neuzeit hervorhe-
15 Vgl. Rexroth, Expertenweisheit (wie Anm.10), 20f.
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ben 16 und die Geburt des ‚modernen‘ Menschen mit der Entwicklung der empirischen Naturwissenschaft gleichsetzen 17, könnten schon bei der etymologischen Herleitung des ‚Experten‘ als ‚Erfahrenem‘ dem Fehlschluss verfallen, der Experte sei notgedrungen ein Empiriker – so dass es wenig Sinn ergeben würde, für die Vormoderne überhaupt von Experten zu reden. Insofern darf das Holmes-Beispiel nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich nicht nur im Bereich des empirischen Wissens ein Expertenstatus erreichen lässt: Die Art des Wissens – mag es sich dabei um Bildungsoder Handlungs- 18, Orientierungs- oder Verfügungswissen 19 handeln – ist im Prinzip irrelevant. 20 Experten treten stets dort auf, wo sich Wissen neu ausdifferenziert und verstetigt – und für die Vormoderne bedeutet das, wie auch Rexroth betont, in den neuen und komplexer werdenden Feldern gesellschaftlichen Lebens: den Höfen, den Klöstern, den Universitäten sowie den Stadtgemeinschaften. 21 Da die neuen Wissensbestände nicht mehr von Einzelnen bewältigt werden können, wird der Ruf nach Experten notgedrungen immer lauter. 22
16
Jürgen Mittelstraß hat diesen Umbruch mit dem Schlagwort der „Leonardo-Welt“ gekennzeichnet:
Jürgen Mittelstraß, Die Leonardo-Welt. Über Wissenschaft, Forschung und Verantwortung. Frankfurt am Main 1992. 17
Vgl. z.B. Peter Burke, A Social History of Knowledge. From Gutenberg to Diderot. Cambridge 2000, oder
den Sammelband: Richard van Dülmen/Sina Rauschenbach (Hrsg.), Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Köln u.a. 2004; dagegen: Marian Füssel, Auf dem Wege zur Wissensgesellschaft. Neue Forschungen zur Kultur des Wissens in der Frühen Neuzeit, in: ZHF 34, 2007, 273–289; Jakob Vogel, Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte. Für eine Historisierung der ‚Wissensgesellschaft‘, in: GG 30, 2004, 639–660.
18
Vgl. Martin Kintzinger, Wissen wird Macht. Bildung im Mittelalter. Darmstadt 2003, 25–30.
19
Dieses Gegensatzpaar geht auf Jürgen Mittelstraß zurück, vgl. z.B. Jürgen Mittelstraß, Hat Wissenschaft
eine Orientierung?, in: ders., Wissen und Grenzen. Frankfurt am Main 2001, 13–32; ders., Wissenschaft als Lebensform. Reden über philosophische Orientierungen in Wissenschaft und Universität. Frankfurt am Main 1982, 11–36. 20
Überhaupt sind solche Aufspaltungen nicht unproblematisch, wie Gil erläutert: „‚Orientierungswis-
sen‘ und ‚Verfügungswissen‘, ‚theoretisches‘ und ‚praktisches Wissen‘, ‚propositionales‘ und ‚praktisches Wissen‘, ‚wissenschaftliches‘ und ‚Alltagswissen‘ sind nur einige der gängigen Begriffspaare, die man überall in der Wissensliteratur findet. Sie sind auf eigensinnige Weise perspektiviert und nur im Rahmen einer solchen Perspektivierung bedeutungsvoll“. Thomas Gil, Die Praxis des Wissens. (Aufklärung und Moderne, 13.) Saarbrücken 2006, 18. 21
Vgl. Rexroth, Expertenweisheit (wie Anm.10), 24. Das bedeutet auch, dass, wenn etwa bei Rexroth oder
im Forschungsprogramm des Göttinger Graduiertenkollegs von zu Beginn des Hochmittelalters einsetzenden Expertenkulturen gesprochen wird, damit sicherlich nicht gemeint ist, dass es ‚Experten‘ davor nicht gegeben hätte. Die Behauptung, dass es „den sozialen Typus ‚Experte‘“ erst „seit dem Spätmittelalter gab“ (Rexroth, Expertenweisheit [wie Anm.10], 43) und dass ab dem 11.Jahrhundert „erstmals nicht nur die Schöp-
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II. Heldenepisches Expertentum? Der Blick in die mittelalterliche Epik ist unter diesen Gesichtspunkten besonders interessant, weil dort die Suche nach literarischen Expertenfiguren zunächst weitgehend ergebnislos verläuft. Für die hochhöfische Phase des 12. bis 14.Jahrhunderts findet man zumindest in der Erzählliteratur kaum Figuren, die man nach den oben genannten Kriterien als Experten bezeichnen könnte. Das Modell des ‚Wissenden‘ bleibt vorherrschend. Literarische Figuren, die mit der Verwaltung von Wissen betraut sind, wie etwa die Ratgeberfiguren in der Heldenepik 23, zeichnen sich gerade nicht durch Sonderwissen aus, sondern können prinzipiell in allen Situationen konsultiert werden. Über das spezifische Wissen des wohl prominentesten Ratgebers der deutschen Heldenepik, Dietrichs von Bern Waffenmeister Hildebrand, erfährt man daher in den Texten, in denen er auftritt, nichts: In der aventiurehaften Dietrichepik etwa kann er in sämtlichen Belangen um Rat gefragt werden und gibt sowohl Auskunft über das Wesen der Aventiure als auch über die Minne. 24 fung und Ausdifferenzierung neuer Wissensbestände gelang, sondern zugleich dank der erfolgreichen Überführung in soziale Institutionen auch deren Verstetigung“ (Das Forschungsprogramm des Göttinger Graduiertenkollegs „Expertenkulturen des 12. bis 16.Jahrhunderts“, zum Download unter: http:// www.uni-goettingen.de/de/100753.html – letzter Zugriff: 24.2.2011), kann sich hier nur auf die Entwicklung der abendländischen Kultur seit dem Mittelalter beziehen und blendet wohl bewusst Prozesse wie etwa die Institutionalisierungsvorgänge in der römischen Stoa zur ‚Staatsphilosophie‘ oder das Entstehen des Christentums als anerkannte Religion in der Spätantike aus. 22 Man könnte meinen, dass in einer Zeit des Summendenkens und des Strebens nach universalem Wissen das Ideal eines ‚Spezialisten‘ möglicherweise noch gar nicht denkbar war. Eine solche Vorstellung unterschätzt aber nicht nur die Vielfältigkeit der verschiedenen vormodernen Wissensbereiche, sondern neigt ebenso zu einer Überbewertung der Summa als Textform, die im Mittelalter immer nur eine durchaus kommentierungsbedürftige und also erweiterbare Gattung neben vielen anderen (wie etwa den Quaestiones) war. 23 Vgl. dazu Jan-Dirk Müller, Ratgeber und Wissende in heroischer Epik, in: FMSt 27, 1993, 124–146, der mit Blick auf Ratgeber-Szenen außerhalb von regulären Ratsversammlungen zum Verhältnis ‚Wissender‘ – Ratgeber anmerkt, dass „die Rolle des Wissenden mit der des Ratgebers eng zusammen[hängt]“ (ebd.130). 24 Diese Allwissenheit des Ratgebers kann auch komisch gebrochen werden, etwa wenn der alte Haudegen Hildebrand in der „Virginal“ des „Dresdner Heldenbuches“ dem unerfahrenen Dietrich in Minnefragen zur Seite steht und ihm, unter dem Bett liegend, Tipps für den ersten Liebesvollzug gibt (vgl. Sonja Kerth, Helden en mouvance. Zur Fassungsproblematik der Virginal, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 14, 2004, 141–157). Aber auch diese komische Rolle kann Hildebrand nur spielen, weil er der Ratgeber schlechthin und damit als Wissender fest etabliert ist – und eben nicht als Experte für einen spezifischen, eingeschränkten Wissensbereich.
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Wie heldenepische Ratgeber als Wissende auftreten und inszeniert werden, wird beispielsweise in der dritten Aventiure des „Nibelungenliedes“ deutlich. Bei seiner ersten Ankunft am Wormser Hof wird Siegfried von der Hofgesellschaft nicht erkannt, sein sozialer Status ist für die Burgundenkönige zunächst prekär: Es ist nicht einmal auszumachen, ob es sich um einen Freund oder Feind handelt. Zwar fällt der glanzvolle Aufzug des Neuankömmlings auf, dennoch bleiben die Burgundenkönige ratlos, bis Ortwin von Metz vorschlägt, Hagen um Rat zu ersuchen, dessen besonderen Status als Wissender Ortwin wie folgt umschreibt: „Dem sint kunt diu rîche und ouch die vremden lant“ (Nibelungenlied 82,1). 25 ‚Weltkunde‘ erscheint hier als grundlegende Eigenschaft eines Ratgebers 26, was deutlich darauf hinweist, dass es sich hierbei um ein umfassendes, aber unspezifisches Wissen handelt, das vom spezifischen Sonderwissen eines Experten zu unterscheiden ist. Doch der eigens herbeigerufene Hagen scheitert zunächst ebenfalls, auch er kennt die Ankömmlinge nicht: „si wâren im vil vremde in der Búrgónden lant“ (Nibelungenlied 84,4). Dennoch ist die Konsultation Hagens nicht vergebens, denn Hagens allgemeingültiges und umfassendes Wissen verleiht ihm eine Deutungskompetenz und damit wîsheit 27, die es ihm gestattet, auch in Unkenntnis der Gäste deren Herkunft zu ‚erraten‘: „Alsô sprach dô Hagene: ‚ich wil des wol verjehen, swie ich Sîvriden nimmer habe gesehen,
25
Hier und im Folgenden zitiert nach: Das Nibelungenlied. Nach dem Text von Karl Bartsch und Helmut
de Boor ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse. 2., durchges. und verb.Aufl. Stuttgart 2002. Dass Hagen am Wormser Hof eine besondere Stellung innehat, wird schon früher deutlich: In der ersten Aventiure wird Hagen im Gefolge der drei Könige unter den „besten recken“ (Nibelungenlied 8,3) als erster genannt (vgl. Nibelungenlied 9), er steht also im wahrsten Sinne des Wortes an der Spitze der recken; in der dritten Aventiure greift Sigemunt, Siegfrieds Vater, Hagen aus dem Gefolge Gunthers heraus, um seinen Sohn von der Werbung um Kriemhilt abzuhalten: „der kan mit übermüete der hôhverte pflegen, / daz ich des sêre fürhte, ez müg’ uns werden leit“ (Nibelungenlied 54,1f.). Hier steht Hagen als der am meisten zu Fürchtende stellvertretend für die „hôhverten“ (Nibelungenlied 53,4) Helden an Gunthers Hof. 26
Vgl. den Kommentar von de Boor zur Stelle (Das Nibelungenlied. Nach der Ausg. von Karl Bartsch
hrsg. von Helmut de Boor. 22., rev. und von Roswitha Wisniewski erg.Auflage. Mannheim 1988, 19). 27
Dass wîsheit mehr meint als eine Art Gegenbegriff zum Wissen findet sich ausführlich bei: Hans Jürgen
Scheuer, wîsheit. Grabungen in einem Wortfeld zwischen Poesie und Wissen, in: Gerd Dicke/Manfred Eikelmann/Burkhard Hasebrink (Hrsg.), Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter. (Trends in Medieval Philology, 10.) Berlin/New York 2006, 83–106.
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sô wil ich wol gelouben, swie ez dar umbe stât, daz es sî der recke, der dort sô hêrlîchen gât.‘“ (Nibelungenlied 86) („Aus diesem Grund sprach Hagen: ‚Ich möchte behaupten: Obwohl ich Siegfried noch nie gesehen habe, so will ich wohl glauben, wie es sich damit auch verhalte, dass er der Held ist, der dort so prächtig heranzieht.‘“) (Übersetzung B. R./C. S.)
Die Burgundenkönige brauchen Hagen, der diesen Siegfried einordnen kann in ein genealogisches System und eine res gestae-Geschichte, die Hagen auch sogleich vor seinen Herren ausbreitet (Nibelungenlied 87–101). Dabei hebt er insbesondere die Unverwundbarkeit Siegfrieds und seine daraus resultierende Gefährlichkeit hervor, aber auch den Adelsrang des Neuankömmlings („er ist von edelem künne, eines rîchen küneges sun“ – Nibelungenlied 103,2). Die Burgunden können sich vorbereiten, sie sind einerseits gewarnt, andererseits können sie die adäquate Begrüßung des Neuankömmlings initiieren. Hagen trägt damit grundlegend zur Herrschaftssicherung der Burgundenkönige bei. 28 Die Szene ist zudem auf der narrativen Ebene funktional motiviert. Sie dient nicht nur dazu, Hagens zentrale Rolle als Ratgeber und seine Sonderstellung an Gunthers Hof zu zeigen, sie eröffnet auch die Möglichkeit, Siegfrieds Jugendgeschichte situationsgebunden ‚nachzureichen‘. Indem der Erzähler sie Hagen in den Mund legt, lädt er den Rezipienten dazu ein, gemeinsam mit Gunther und seinem Gefolge von Siegfrieds wundersamen Taten zu hören. Dass von diesen ausgerechnet hier erzählt wird, ist ebenfalls funktionalisiert: Die Geschichte von Siegfried unterstreicht seine Stärke und damit die Gefahr, die möglicherweise von ihm ausgeht. Das weiß auch Hagen, und genau das ist der Grund, aus dem er zu einem freundlichen Empfang rät: „Wir suln den herren enpfâhen deste baz, daz wir iht verdienen des jungen recken haz. sîn lîp der ist sô küene, man sol in holden hân. er hât mit sîner krefte sô menegiu wunder getân.“ (Nibelungenlied 101)
28 Grundlegend dazu: Bruno Quast, Wissen und Herrschaft. Bemerkungen zur Rationalität des Erzählens im Nibelungenlied, in: Euphorion 96, 2002, 287–302, insbes. 288.
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(„Wir müssen den Herrn möglichst gut in Empfang nehmen, damit wir uns nicht die Feindschaft des jungen Helden zuziehen. Er ist so tapfer, dass man ihn als Freund haben sollte. Er hat mit seiner Stärke so vielfältige Wundertaten vollbracht.“) (Übersetzung: B. R./C. S.)
Hagen steht auch sonst den Burgunden in allen Lebenslagen mit seinem Rat zur Seite. 29 Wie bei Hildebrand ist auch hier das Ideal des Ratgebers nicht das eines Spezialisten, vielmehr ist ein allumfassendes Wissen gefordert – und über dieses Wissen hinaus wîsheit. 30 Was den Ratgeber qualifiziert, ist daher nicht ein besonderer Ausbildungsgang. Zum Tragen kommen vielmehr allgemeine Parameter: Erfahrung, die durch das meist hohe ‚Alter‘ der Ratgeberfiguren angedeutet wird 31, die verwandtschaftliche Bindung an den Herrn und wesentlich die triuwe 32. Ein spezifisches Sonderwissen wird von den Ratgeberfiguren nicht erwartet. Hildebrand und Hagen sind bereits am Hof institutionalisiert. Eine besondere Inszenierung als Wissende, die der (Selbst-)Inszenierung eines Experten zumindest ähneln könnte, ist hier nicht zu beobachten 33, wohl, weil eine solche nicht notwendig ist, denn für den Rezipienten beanspruchen diese Figuren ihren Rang 29
Ein weiteres Beispiel sind die Beratungen über die Reaktion auf Brünhilds ‚Beleidigung‘ durch Kriem-
hilt bzw. Siegfried: Hagen rät zu dessen Ermordung (Nibelungenlied 860–876). Allerdings ist dieser Rat bekanntlich äußerst ambivalent zu betrachten, führt er doch letztendlich zum Untergang der Burgunden. 30
Ähnliches ließe sich leicht an weiteren heldenepischen Ratgeber-Figuren zeigen, etwa an Wate in der
„Kudrun“. 31
Zum ‚Alter‘ der Ratgeber vgl. Georges Duby, Die ‚Jugend‘ in der aristokratischen Gesellschaft, in: ders.,
Wirklichkeit und höfischer Traum. Zur Kultur des Mittelalters. Frankfurt am Main 1990, 103–116, und Müller, Ratgeber (wie Anm.23), 132. 32
Zu beobachten ist dies bei allen guten und schlechten Ratgebern, egal ob bei Hagen, Hildebrand, Wate,
Berhter oder Berhtung (oder als Gegenbeispiel Saben und Sibeche). Dass dabei gerade im „Nibelungenlied“ auch immer wieder Treuekonflikte thematisiert und durchgespielt werden (vgl. Quast, Wissen und Herrschaft [wie Anm.28], 294), widerspricht dem natürlich nicht. 33
Am deutlichsten ist noch die Inszenierung Hagens als eines Wissenden in der dritten Aventiure des
„Nibelungenliedes“: Sein Auftritt wird nämlich vom Erzähler besonders hervorgehoben. Inszeniert wird dabei aber auch hier zunächst eher die Absenz, dann die Ankunft von ‚Wissen‘ am Hof, weniger Hagen selbst: „Wieder aber ist der einzige, der Auskunft geben kann, nicht da. Er muß abwesend sein, damit jedermann das Defizit an Wissen spürt. Und sein Wissen erhält den gebührenden Auftritt: man sach in hêrlîche mit recken hin ze hove gân (82,4). [...] Die Szene wiederholt sich, wenn Rüedeger in Worms erscheint und man ihn und seine Leute nicht kennt; wieder wird ‚Abwesenheit von Wissen‘ Ausgangspunkt einer Inszenierung: der wirt nâch Hagene sande, ob si im kündec möhten sîn (1177,4)“. Müller, Ratgeber (wie Anm.23), 130.
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einerseits aus ihrer von Anfang an gegebenen Stellung, andererseits aus der Texttradition. Auch wenn über die Verbreitung des Nibelungenstoffes vor dem „Nibelungenlied“ keine gesicherten Aussagen getroffen werden können, legt bekanntlich schon die kurze Abhandlung der ‚Jugendgeschichte‘ Siegfrieds, die sich innerhalb des „Nibelungenliedes“ dezidiert als mündliche Erzählung gibt und damit auf die orale Verbreitung des Stoffes Bezug nimmt 34, nahe, dass die Rezipienten, für die der Text primär konzipiert war, mit dem Stoff bereits vertraut waren. Das bedeutet, dass Hagen durch seine Sonderstellung, die er im späteren Verlauf der Geschichte einnimmt und auf die – implizit – zusätzlich am Anfang verwiesen wird 35, schon von Beginn an als Ratgeber und Wissender legitimiert ist, eben weil diese Geschichte bereits bekannt ist. Diese ‚Legitimation von hinten‘ macht eine jeweils aktualisierte spezifische Inszenierung Hagens in seiner Sonderfunktion für den Leser unnötig. In der Heldenepik finden sich also auf der Ebene der Erzählung keine Ansätze für die Darstellung von Expertenfiguren. Das Ideal des Ratgebers ist das des Wissenden, der in jeder Lebenslage zur Verfügung steht und sich nicht auf einen Spezialbereich des Wissens beschränkt. 36 Eine Ausdifferenzierung der Wissensbestände am Hof und eine Differenzierung und Verteilung auf verschiedene Personen ist in der traditionellen Gattung der Heldenepik demzufolge auch nicht zu erwarten: Hier werden keine ‚modernen‘ Höfe geschildert, es wird vielmehr ein Hofmodell aufrechterhalten, das noch wesentlich durch das Ideal des ‚Gesellenbundes‘ und der Kriegergesellschaft geprägt ist. 37
34 Vgl. Jan-Dirk Müller, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes. Tübingen 1998, 125–136. 35 Vgl. Anm.25. Auch hier ist davon auszugehen, dass der Erzähler auf das (möglicherweise sogar intertextuelle) Vorwissen seiner Rezipienten zurückgreifen kann. 36 Zudem handelt es sich bei diesem ‚Lebenswissen‘ in der Regel um Wissensbestände, deren Bedarf vom Text jeweils von Fall zu Fall (narrativ) konstruiert wird (vgl. oben), und nicht um exklusives Wissen, das auch ohne Bindung an die aktuelle Situation von Nutzen, Bestand und/oder Relevanz wäre. 37 Das zeigt sich auch daran, dass heldenepisches Beraten in der Regel als gemeinschaftlich erfolgende Beratung dargestellt ist: „Einzelner und Kollektiv werden als Ratgeber nahezu ununterscheidbar. [...] Rat wird meist als einträchtiges Gemeinschaftshandeln erzählt“. (Müller, Ratgeber [wie Anm.23], 136). Dennoch gehen die einzelnen Ratgeberfiguren nie in einem Ratgeberkollektiv auf.
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III. An Expert at King Arthur’s Court? Anders könnte dies in der in Deutschland etwa parallel aufblühenden Gattung des Artusromans sein, denn der Hof im Artusroman ist viel stärker von einer neuen, durch französischen Einfluss geprägten Vorstellung von courtoisie durchdrungen. Er ist damit stärker abhängig von den strengen Regeln und Riten der höfischen Gesellschaft, wie etwa die zahlreichen tischzuht-artigen Passagen in einigen ‚nachklassischen‘ Romanen belegen. 38 Insofern könnte man erwarten, dass hier auch Figuren auftreten, die sich als Spezialisten für die neuen Wissensbestände und für Fragen etwa des Hofzeremoniells ausweisen und von den Mitgliedern des Artushofes als Experten für diese Wissensbereiche wahrgenommen werden. Allerdings wird man bei näherem Hinsehen auch hier kaum fündig. Die beiden herausragenden Figuren unter den Artusrittern, die jeweils auch zu den höfischen Normen Stellung nehmen – nämlich Gawan 39 und Keie 40 – lassen sich allenfalls ansatzweise mit dem hier zu diskutierenden Expertenbegriff fassen. 41
38
Zu denken wäre etwa an die Artusromane des Pleier; vgl. Björn Reich, Garel Revisited. Die Auflösung
der Artusherrlichkeit beim Pleier, in: Friedrich Wolfzettel/Cora Dietl/Matthias Däumer (Hrsg.), Artusroman und Mythos. (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft, Bd. 8.) Berlin/Boston 2011, 109–126. Zum Problem des Begriffs ‚nachklassisch‘ vgl. z.B. Björn Reich, Name und maere. Eigennamen als narrative Zentren mittelalterlicher Epik. Mit exemplarischen Einzeluntersuchungen zum Meleranz des Pleier, Göttweiger Trojanerkrieg und Wolfdietrich D. (Studien zur historischen Poetik, 8.) Heidelberg 2011, 94–97. 39
Die Forschungsarbeiten zur Gawan-Figur sind so zahlreich, dass hier nur eine kleine repräsentative
Auswahl genannt werden kann: Vgl. v.a. Raymond H. Thompson/Keith Busby (Eds.), Gawain. A Casebook. (Arthurian Characters and Themes, 8.) New York 2006, in dem einige ältere, wegweisende Aufsätze von Whiting oder Nitze erneut zu finden sind; vgl. außerdem Bonnie Cleo Buettner, Gawan in Wolfram’s Parzival. Diss. phil. Ithaca, N. Y.; Keith Busby, Gauvain in Old French Literature. Amsterdam 1980; Daniela Gantner, Diu Crône Heinrichs von dem Türlîn: Gâwein – Sklave seiner Wege, in: Alois M. Haas/Ingrid Kasten (Hrsg.), Schwierige Frauen – schwierige Männer in der Literatur des Mittelalters. Bern u.a. 1999, 91–107; Dietrich Homberger, Gawein. Untersuchungen zur mittelhochdeutschen Artusepik. Bochum 1969; Bernd Lampe, Gâwân. Dürnau 1987; Sandra Linden, Spielleiter hinter den Kulissen? Die Gawanfigur in Wolframs von Eschenbach Parzival, in: Gisela Vollmann-Profe u.a. (Hrsg.), Impulse und Resonanzen. Tübinger mediävistische Beiträge zum 80. Geburtstag von Walter Haug. Tübingen 2007, 151–166; Matthias Meyer, It’s Hard to Be Me, or Walewein/Gawan as Hero, in: Bart Besamusca/Erik Kooper (Eds.), Originality and Tradition in the Middle Dutch Roman van Walewein. (Arthurian Literature, 17.) Cambridge 1999, 63–78; Bernhard Anton Schmitz, Gauvain, Gawein, Walewein. Die Emanzipation des ewig Verspäteten. Tübingen 2008; Marianne Wynn, Parzival und Gâwân: Hero and Counterpart, in: Arthur Groos/Norris J. Lacy (Eds.), Perceval/ Parzival. A Casebook. (Arthurian Characters and Themes, 9.) New York/London 2002, 175–198. 40
Vgl. Martin Baisch, „Welt ir: er vervellet; / Wellent ir: er ist genesen!“ Zur Figur Keies in Heinrichs von
dem Türlin Diu Crône, in: ders. (Hrsg.), Aventiuren des Geschlechts. Modelle von Männlichkeit in der Lite-
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Keie bekleidet durch seine Stellung als Truchsess eine Beraterfunktion, die sich nicht grundlegend von der der heldenepischen Ratgeber unterscheidet. Immerhin meldet er sich vornehmlich dort zu Wort, wo es um Fragen der höfischen Regeln geht, etwa wenn er die arthurischen costumes (wie etwa das Gewähren des rash-boonVersprechens) kritisiert. In seiner „Funktion als Kritiker [wird] seine herausragende Stellung unter den übrigen Rittern deutlich“ 42; eine Sonderstellung hat Keie also durchaus inne. Insgesamt aber ist auch Keies Funktion umfassender. Er ist nicht nur ‚Experte‘ für die Regeln der höfischen Gesellschaft und die Abläufe des Hofzeremoniells, letztendlich tritt er dem König als eine Art von Narrenfigur bei allen Arten von Problemen an die Seite. Bei Gawan scheint man zunächst eher fündig zu werden. Er besitzt zweifelsohne ein besonderes Wissen im Bereich von Minnefragen und wird immer wieder vorgestellt als einer, der Minnesymptome erkennen und zuordnen kann. So diagnostiziert er in der Blutstropfenszene Parzivals Minneverfallenheit (Parzival 299–
ratur des 13.Jahrhunderts. Göttingen 2003, 149–173; Albrecht Classen, Keie in Wolframs von Eschenbach, Parzival. ‚Agent provocateur‘ oder Angeber? In: Journal of English and Germanic Philology 87, 1988, 382– 405; Matthias Däumer, Truchsess Keie. Vom Mythos eines Lästermauls, in: Wolfzettel/Dietl/Däumer (Hrsg.), Artusroman und Mythos (wie Anm.38), 69–109; Alfred Ebenbauer, Der Truchseß Keie und der Gott Loki. Zur mythischen Struktur des arthurischen Erzählens, in: Matthias Meyer/Hans-Jochen Schiewer (Hrsg.), Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Tübingen 2002, 105–131; Jürgen Haupt, Der Truchseß Keie im Artusroman. Untersuchungen zur Gesellschaftsstruktur im höfischen Roman. (Philologische Studien und Quellen, 217.) Berlin 2009, besonders das Kapitel „Topische Aspekte der Keie-Figur“, ebd.32–34; Stefan Seeber, Keie der ,arcspreche‘: Spott und Verlachen im höfischen Roman um 1200, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 57, 2010, 8–22; Berndt Volkmann, Costumiers est de dire mal. Überlegungen zur Funktion des Streites und zur Rolle Keies in der Pfingstszene in Hartmanns Iwein, in: Dorothee Lindemann/ Berndt Volkmann/Klaus-Peter Wegera (Hrsg.), bickelwort und wildiu maere. Festschrift für Eberhard Nellmann zum 65. Geburtstag. (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 618.) Göppingen 1995, 95–108; Franziska Wenzel, Keie und Kalogrenant. Zur kommunikativen Logik höfischen Erzählens in Hartmanns Iwein, in: Kellner/Lieb/Strohschneider (Hrsg.), Literarische Kommunikation und soziale Interaktion (wie Anm. 11), 89–109. 41 Gawan und Keie formieren dabei zwei Extreme des Artushofes, indem Gawan als dessen vorbildlicher Repräsentant, Keie als Verkehrer der Werte, als Narrenfigur und vielleicht als eine Art Anti-Experte die arthurischen Werte beständig thematisieren, die Schwachstellen offenlegen, dadurch das Hofgleichgewicht aber auch festigen; vgl. Phillip C. Boardman, Middle English Arthurian Romance: The Repetition and Reputation of Gawain, in: Thompson/Busby (Eds.), Gawain (wie Anm.39), 255–272, hier 259. „Darüber hinaus verkörpern Gawein und Keie in ihrer Polarität das Spannungsgefüge der Artusgemeinschaft zwischen Musterhaftigkeit und deren Negation“ (Wenzel, Keie [wie Anm.40], 93). 42 Schonert, Figurenspiele (wie Anm.40), 33.
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302) 43, sieht in der Unruhe seines nêven Meleranz dessen Minnesehnsucht (Meleranz 2598–2602) 44 und warnt Iwein vor der Gefahr des verligens (Iwein 2770– 2794). 45 Gawan ist der „perfect lover“ 46, und auch die ‚dunkle Seite‘ der Minne ist ihm vertraut, wenn etwa im „Wigalois“ berichtet wird, Gawan habe eine maget „über ir willen“ angerührt (Wigalois 1512). 47 Er hat sein Wissen folglich aus eigener Erfahrung gewonnen und könnte damit unter diesem Gesichtspunkt auch tatsächlich als Experte bezeichnet werden – allerdings ist sein Expertenstatus unter anderem deshalb nicht deutlich ausgeprägt, weil er ebenso wie Keie seine Sonderstellung auch in anderen Situationen behauptet und bei allen Fragen des Hofes zu Rate gezogen wird. 48 Gawan als Minneexperten zu bezeichnen, wäre vielleicht nicht ganz falsch, würde ihn aber lediglich auf einen kleinen Teil seiner Funktionen beschränken. Auch er ist ein Wissender in allen Bereichen – wobei erneut die (ethische) Vorbildlichkeit (vergleichbar dem triuwe-Ideal der heldenepischen Berater) den Status als Wissender sichert – nicht etwa eine spezielle Ausbildung oder dergleichen. In ihrer allgemeinen Funktion ist daher auch für Keie und Gawan ihre wîsheit wichtiger als ihr spezielles Wissen 49, wie auch in der Forschung im Hinblick auf die Gawan-Figur immer wieder betont wird: „Being wîs becomes the governing feature of Gâwân’s
43
Wolfram von Eschenbach, Parzival. Studienausgabe hrsg. v. Bernd Schirok. Mittelhochdeutscher Text
nach der sechsten Ausgabe v. Karl Lachmann, übers. v. Peter Knecht. Berlin/New York 1998. 44
Der Pleier, Meleranz. Hrsg. v. Karl Bartsch. Mit einem Nachwort v. Alexander Hildebrand. Ndr. der Aus-
gabe Stuttgart 1861. Hildesheim/New York 1974. 45
Hartmann von Aue, Iwein. Text der siebten Ausgabe v. G. F. Benecke, Karl Lachmann u. Ludwig Wolff.
Übers.u. Nachwort v. Thomas Cramer. 4. Aufl. Berlin/New York 2001; vgl. Douglas Kelly, Gauvain and Fin’Amors in the Poems of Chrétien de Troyes, in: Thompson/Busby (Eds.), Gawain (wie Anm.39), 117– 123, hier 117. 46
Fanni Bogdanow, The Character of Gauvain in the Thirteenth-Century Prose Romances, in: Thompson/
Busby (Eds.), Gawain (wie Anm.39), 173–181, hier 173. 47
Zitiert nach: Wirnt von Grafenberg, Wigalois. Text der Ausg. v. J. M. N. Kapteyn. Übers., erläutert und
mit einem Nachwort versehen v. Sabine Seelbach u. Ulrich Seelbach. Berlin/New York 2005. 48
Ein Beispiel hierfür ist die Eröffnungssequenz der Elternvorgeschichte im „Wigalois“, in der die Köni-
gin Ginovere Gawan um Rat fragt, wie sie auf das Gürtel-Geschenk von König Joram reagieren soll; vgl. dazu Christoph Schanze, Die Konstruktion von höfischer Öffentlichkeit im Welschen Gast Thomasins von Zerklære und ihre Funktionalisierung in Wirnts von Gravenberg Wigalois, in: Matthias Däumer/Cora Dietl/Friedrich Wolfzettel (Hrsg.), Artushof und Artusliteratur. (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft, Bd. 7.) Berlin/New York 2010, 61–92, hier 77–83; ders., Jorams Gürtel als ‚Ding‘. Zur Polysemie eines narrativen Requisits [in Vorbereitung]. 49
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Bzw. im Falle Keies dann auch manchmal die in wîsheit verkehrte tôrheit.
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subsequent behaviour“. 50 „He is renowed for his courtesy, his modesty and above all his sens and wisdom“. 51 Ausdifferenzierungen von Wissen finden sich im Artusroman immerhin ansatzweise. Wenn der sonst eher unbekannte Artusritter Dodines um Rat gefragt wird, wenn es darum geht, einen Weg durch ungangbares Gelände zu finden (Lanzelet 7084–7086/Tandareis 8276–8278) 52, könnte man ihm in seiner Sonderstellung als ‚Pfadfinder‘ der Tafelrunde einen Status als Verwalter eines spezifischen Sonderwissens zusprechen, das er durch wechselseitige Zuschreibungen erlangt. Allerdings scheint dieser Status nur punktuell auf, Dodines ist weit davon entfernt, ein hauptberuflicher ‚Scout‘ zu sein. Zudem gewinnt er seine Sonderstellung ohnehin nur durch den Verweis der verschiedenen Artusromane aufeinander: Der Rezipient weiß um seine Sonderfunktion erst dann, wenn er sowohl den „Lanzelet“ als auch den „Tandareis“ kennt und die Gemeinsamkeit im Status des Dodines selbständig wahrnimmt. Solche Beispiele fallen aber kaum auf, und ein wirkliches ‚Expertentum‘ kommt in ihnen auch nicht zum Ausdruck.
IV. Ein Betrüger als Experte? Im höfischen Roman sind zwar ansatzweise Änderungen zu spüren, wenn verschiedenen Figuren bestimmte Zuständigkeitsbereiche zugewiesen werden, insgesamt ist aber keine deutliche Ausprägung von Expertenfiguren erkennbar. Das Ideal des versierten Wissenden als Berater prägt beide Höfe – den der Heldenepik und den des höfischen Romans – noch wesentlich. Angesichts der sich ausprägenden Expertenmodelle im 12. und vor allem 13.Jahrhundert ist der Umstand, dass die Erzählliteratur darauf nicht reagiert und dass Expertenfiguren dort fast völlig fehlen, sicher kein Zufall. In Heldenepik und Artusroman spiegelt sich wohl die erwartbare Skepsis gegenüber den neuen Wissensmodellen, und das Festhalten an alten Idealen kann angesichts der Tatsache, dass sich sowohl Heldenepik als auch Artusroman auf eine mythische Vergangenheit – sei es der Erzählhorizont eines vergangenen Heroenzeitalters, das in den alten maeren erneut präsent wird, sei es der klassischerweise 50 Wynn, Parzival und Gâwân (wie Anm.39), 178. 51 Bogdanow, The Character of Gauvain (wie Anm.46), 173. 52 Ulrich von Zatzikhoven, Lanzelet. Hrsg. v. Florian Kragl. 2 Bde. Berlin/New York 2006; Der Pleier, Tandareis und Flordibel. Ein Höfischer Roman von dem Pleiaere. Hrsg. v. Ferdinand Khull. Graz 1885.
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mit einer laudatio temporis acti eingeleitete Verweis auf die mythische Artusherrlichkeit – beziehen, nicht verwundern. Gerd Althoff und Jan-Dirk Müller haben mehrfach betont, dass Literatur Wirklichkeit nicht einfach abbildet, sondern vielmehr als komplexe Reflexion von Wirklichkeit zu begreifen ist. 53 Die bruchlose Annahme neuer Wissensorganisationen darf wohl, gerade im Medium der Literatur, nicht erwartet werden, und so ist der zunächst einzige Bereich in der Epik, wo im 13.Jahrhundert so etwas wie eine literarische Auseinandersetzung mit Expertentum begegnet, nicht zufällig der Schwank. Ein frühes Beispiel dafür findet sich in Strickers Schwankzyklus „Der Pfaffe Amis“. Herausgegriffen sei hier zunächst nur eine Episode, der Schwank von den unsichtbaren Bildern. 54 Amis wird vom König von „Kerlingen“ (Amis 496) 55 der Auftrag erteilt, einen Raum seines Palastes mit Wandmalereien auszustatten, nachdem Amis von sich selbst zuvor behauptet hat, ein Meistermaler zu sein, der sich durch ein spezifisches Sonderwissen auszeichne: „Herre, ich kan molen wol, daz ez die werlt loben sol, wan ich kan malen einen list, der allen leuten vremde ist, die nu lebent ane mich Den selben list vand ich.“ (Amis 505–509)
53
Vgl. Gerd Althoff, Spielen die Dichter mit den Spielregeln der Gesellschaft?, in: Nigel F. Palmer/Hans-
Jochen Schiewer (Hrsg.), Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Tübingen 1999, 53–71; Jan-Dirk Müller, Sage – Kultur – Gattung – Text. Zu einigen Voraussetzungen des Verständnisses mittelalterlicher Literatur am Beispiel des Nibelungenliedes, in: Klaus Zatloukal (Hrsg.), 6. Pöchlarner Heldenliedgespräch. 800 Jahre Nibelungenlied. Rückblick – Einblick – Ausblick. (Philologica Germanica, 23.) Wien 2001, 115–133; ders., Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007, 6–45. 54
Vgl. dazu Christiane Ackermann, „How come, he sees it and you do not?“ Die Rationalität der Täuschung
im Pfaffen Amis und im Eulenspiegel, in: Wolfram-Studien 20, 2008, 387–413; Mario Klarer, Spiegelbilder und Ekphrasen. Spekulative Fiktionspoetik im Pfaffen Amis, in: Das Mittelalter 13, 2008, 80–106; Ruth Sassenhausen, Das Ritual als Täuschung. Zu manipulierten Ritualen im Pfaffen Amis, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 144, 2006, 55–79, hier 68–71. 55
Hier und im Folgenden zitiert nach: Der Stricker, Der Pfaffe Amis. Mittelhochdeutsch/Neuhoch-
deutsch. Nach der Heidelberger Handschrift cpg 341 hrsg., übers.u. komm. v. Michael Schilling. Stuttgart 1994.
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(„Herr, ich kann so gut malen, dass es die Welt loben muss. Denn ich beherrsche beim Malen eine Kunst, die außer mir allen Menschen, die heutzutage leben, unbekannt ist. Diese Kunst habe ich erfunden.“) (Übersetzung: B. R./C. S.)
Bei Amis’ list handelt es sich darum, dass er angeblich Bilder malen kann, die nur für rechtmäßig ehelich gezeugte Personen sichtbar sind: „Ich mole ouch wol uber al ein haus oder einen sal und male daran die pilde beide zam unde wilde, die iemant lebendick hat gesehen. [...] so ist niman so gut, so wise noch so wol gemut, die daz gemelde kunnen sehen, wan den so wol ist geschen, daz si rehte ekint von vater und von muter sint.“ (Amis 511–515 u. 521–525) („Ich male ein Gebäude oder einen Saal vollständig aus, und zwar mit vertrauten und fremdartigen ‚Bildern‘, wie sie noch kein Lebender gesehen hat. [...] Niemand ist so tüchtig, so klug oder rechtschaffen, dass er die Bilder sehen kann, bis auf die, die das Glück haben, von ehelicher Geburt seitens des Vaters und der Mutter zu sein.“) (Übersetzung: B. R./C. S.)
Das Erzählschema ist hinlänglich bekannt: Amis rührt keinen Finger („Beide er saz unde lac / und malet niht uber al“ – Amis 600f.), da aber niemand zugeben möch-
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te, dass gerade er ein Bastard sei, der die Malereien nicht sehen könne, steht die Hofgesellschaft bewundernd vor seinen Gemälden und zahlt ihm einen fürstlichen Lohn. Der König fällt auf die Selbstinszenierung des vermeintlichen Experten herein, und erst „ein tumber“ (Amis 759) sagt offen, was er sieht, nämlich nichts, und deckt dadurch den Betrug („truge“, Amis 784) auf. Dabei ist Amis natürlich kein wirklicher Experte auf dem Gebiet der Malerei 56 – aber indem er die Hofgesellschaft narrt, wird doch eine scharfe Kritik an der Leichtgläubigkeit gegenüber solchen selbsternannten Experten und ihrer Inszenierung fassbar. In den beiden großen Konstantinopel-Schwänken am Ende des Werks („Der Maurer als Bischof“, Amis 1351–1818; „Der Edelsteinhändler“, Amis 1819–2244) wird dieser Ansatz zur Kritik noch deutlicher. Amis bewegt sich hier in Händlerkreisen und bringt zunächst einen Seidenhändler, dann einen Edelsteinverkäufer um ihre gesamte Ware. Dem Seidenhändler gaukelt er vor, er sei der Kaplan eines reichen Bischofs, der ein großes Pfingstfest veranstalten und bei dieser Gelegenheit viele Ritter einkleiden wolle. Als falscher Bischof dient ihm ein kahlköpfiger fränkischer Maurer, dem er weismacht, er würde ihn tatsächlich zum Bischof von Griechenland machen. Amis betrügt hier also gleich doppelt, und beide Opfer tragen Schaden davon: Der Händler verliert seinen Warenbestand und ist „gar vertriben“ (Amis 1714) 57, der Maurer wird am Ende blutig geschlagen (Amis 1698f.), weil sein vermeintlicher Kaplan nicht mit dem Geld erscheint. In der Szene, in der Amis den Maurer davon überzeugt, zum Bischof berufen zu sein, weil er aufgrund seiner Kahlköpfigkeit „ze bisschof wol gestalt“ (Amis 1466) sei, klingt deutliche Kritik am Wissen und an der Selbstinszenierung der Geistlichkeit an. Laut Amis müsse man nämlich für das Bischofsamt keinerlei Kenntnisse besitzen, es sei nicht einmal nötig, die Messgesänge zu beherrschen, da die Griechen sie ohnehin nicht verstünden (Amis 1456–1463). Er solle nur immer „Iz ist war“ (Amis 1481) sagen. Dadurch wird die klerikale Selbstinszenierung mit ihren oft unverständlichen Phrasen als hohl und sinnleer entlarvt, denn bereits die Glatze und der Wahrheitsanspruch der eigenen „autoritative[n] Wahrheitsformel“ 58 machen den Maurer zum Bischof. Diese Kritik an der substanz56
Amis ist eher ,Experte‘ auf dem Gebiet des Betrügens. Das ist, abgesehen vom ökonomischen Rahmen
(vgl. dazu unten Anm.72), das konsistente Element, das die einzelnen Schwänke verbindet. Dieses Expertentum wird ihm allerdings durch die narratio und damit quasi ‚außerfiktional‘, nämlich im Akt des Erzählens und somit durch den Erzähler zugeschrieben.
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57
Schilling übersetzt „gar vertriben“ mit „völlig ruiniert“ (Amis 1714).
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Maria E. Müller, Vom Kipp-Phänomen überrollt. Komik als narratologische Leerstelle am Beispiel zyk-
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losen (Selbst-)Inszenierung des Klerus wird im weiteren Verlauf des Schwankes gerade durch das Gelingen des Plans fortgesetzt, denn es gelingt dem Händler nicht, den falschen Bischof als solchen zu entlarven. Erst ein „purger“ (Amis 1708), der den Maurer bereits kennt, weil er für ihn gearbeitet hat, kann den Schwindel aufdecken. Beim Betrug des Edelsteinhändlers wird in ähnlicher Weise ärztliches Wissen und Expertentum der Lächerlichkeit preisgegeben. Amis überwältigt den betrogenen Edelsteinhändler, als dieser sein Geld einfordern will, und gibt den Händler einem Arzt gegenüber als seinen eigenen schwachsinnigen Vater aus, der Wahnvorstellungen habe, immer nur „Herre, geldet mir min gut“ (Amis 2007) sage und in jeder Stadt behaupte, er sei dort zuhause. Als der vermeintliche Vater dem Arzt vorgeführt wird, zeigt er natürlich genau dieses Krankheitsbild und muss eine qualvolle Behandlung über sich ergehen lassen, die die ganze Nacht dauert (Amis 2049–2139) und selbstverständlich erfolglos bleibt. Erst am nächsten Tag kann der Händler den Arzt davon überzeugen, dass beide betrogen wurden, und sich freikaufen. Das Wissen und die Fähigkeiten des Arztes werden auf mehreren Ebenen durch eine komische Darstellung als falsches Expertentum entlarvt. Einerseits macht Amis sich diese zunutze, um dem Edelsteinhändler zusätzlich zu seinem finanziellen Schaden eine schmerzhafte Nacht zu bereiten und ihn lächerlich zu machen (was zudem Amis die ungestörte Abreise ermöglicht), andererseits stellt sich der Arzt – unwissentlich, weil er in Amis’ Falle getappt ist – selbst bloß, indem er seinem Opfer gegenüber anmerkt, dass die Entlohnung der Hauptgrund für die Behandlung sei: „Ir werdet nimmer von mir vrei, di wile ir jehet, daz er euch sei schuldick eines lotes wert. Daz ist, des ewer sun gert, daz ir euch der rede abetut. Dar umbe gibt er mir sin gut, daz ich erzeige miner kunste kraft und euch mit rechter meisterschaft,
lischen Erzählens, in: Harald Haferland/Matthias Meyer (Hrsg.), Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven. (Trends in Medieval Philology, 19.) Berlin/New York 2010, 69–97, hier 84. Als Bischof ist der Maurer per se „Instanz wahrheitsfähiger Rede“; vgl. Peter Strohschneider, Kippfiguren. Erzählmuster des Schwankromans und ökonomische Kulturmuster in Strickers Amis, in: Jan-Dirk Müller (Hrsg.), Text und Kontext. Fallstudien und theoretische Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik. (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, 64.) München 2007, 163–190, hier 177.
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so daz ir die rede begebet, oder ich quele euch, die wil ir lebet.“ (Amis 2157–2166) („Ihr werdet mich nicht mehr los, solange ihr behauptet, dass er [Amis] euch auch nur das Geringste schuldet. Das ist es, was euer Sohn wünscht: Dass ihr diese Behauptung unterlasst. Er bezahlt mich dafür, dass ich an euch 59 die Wirksamkeit meiner Fertigkeit in Vollendung erweise, so dass ihr die Beschuldigung unterlasst. Sonst plage ich euch für den Rest eures Lebens.“) (Übersetzung B. R./C. S.)
Der Erzähler verstärkt diese Tendenz, indem er – beinahe schon schadenfroh, jedenfalls mit offensichtlicher Lust an seinem Schicksal – überhaupt von der ‚Behandlung‘ des Edelsteinhändlers erzählt. 60 Zudem nimmt er am Beginn des Epilogs explizit nochmals auf den verkehrten Heilungserfolg des Arztes Bezug, betont allerdings Amis’ ‚Schuld‘ daran und unterstreicht so, dass sich der Arzt zum Werkzeug der „Amoralität und Skrupellosigkeit seiner [Amis’] Gewinnmethoden“ 61 hat machen lassen: „Do der pfaffe Ameis zu Kriechen den gesunden zu einem siechen alsust gemachet hatte, do fur er haim vil drate und brachte wider vil gutes.“ (Amis 2245–2249)
59
V. 2164 ist entweder „Ellipse des Prädikats (z.B. überwinde) oder fehlerhafte Überlieferung (und statt
an), wie in den übrigen Handschriften“ (Schilling, Kommentar zu V. 2164 [wie Anm.55], 170); die Übersetzung folgt hier der zweiten Möglichkeit. 60
„Und wie der koufman genas / und welche not er muste doln, daz wer schedelich verholn“ (Amis
1974–1976; „Es wäre schade, nicht zu erzählen, wie der Kaufmann geheilt und gerettet wurde und welche Qualen er erdulden musste“, Übersetzung B. R./C. S.). 61
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Müller, Vom Kipp-Phänomen überrollt (wie Anm.58), 84.
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(„Nachdem der Pfaffe Amis in Griechenland auf diese Weise einen Gesunden krank gemacht hatte, reiste er sehr schnell nach Hause und brachte großen Reichtum zurück.“) (Übersetzung B. R./C. S.)
Der Arzt, der sich seiner Fähigkeiten brüstet (Amis 2163f.) und sicher ist, auf seinem Gebiet ein Experte zu sein, wird auf diese Weise lächerlich gemacht, gerade weil sein Heilungsversuch gelingt, er dabei aber nicht bzw. zu spät erkennt, dass er einen eigentlich Gesunden von einer Erkrankung befreit hat, die ihm nur vorgegaukelt wurde. In Strickers Schwankzyklus werden freilich nicht nur die selbst- oder fremdinszenierten Experten im Vergleich mit institutionalisierten Expertenformen kritisiert; der Pfaffe Amis tritt nicht nur als falscher Freskenmaler, Kaufmann oder Kaplan auf, sondern er missbraucht auch wiederholt seinen eigenen klerikalen Rang, um seine Mitmenschen zu betrügen, sei es, indem er sich vor seinem Bischof als scholastischer Tausendsassa aufspielt, ihm die Breite des Himmels vorrechnet (Amis 164– 180) und sogar einem Esel das Lesen beibringt (Amis 181–308) 62, sei es, indem er sich im Schwank von der Kirchweihpredigt selbst zum Wunderprediger stilisiert (Amis 335–495) oder gar ein Fischwunder inszeniert (Amis 1069–1146), um seine ‚Opfer‘ um ihr Hab und Gut zu bringen. Die Beispiele machen deutlich, dass die Kritik an Experten bzw. an deren gehaltloser Selbstinszenierung in Strickers Schwankzyklus zwar thematisiert wird, es ist aber auch offensichtlich, dass sie nur einen Aspekt des „Pfaffen Amis“ darstellt. Weit mehr als eine spezifische Kritik an Expertentum und Expertenfiguren ist hier eine allgemeine Ständekritik spürbar, eine Kritik an verschiedenen Berufsklassen, wie beispielsweise dem Klerus, an der Schulbildung oder an bestehenden Ordnungssystemen: Die ansatzweise aufscheinende Thematisierung von Expertentum wird für 62 Vor allem dieser Beweis größter Klugheit („Nu duht der pfaffe Ameys / die leute also weis“, Amis 309f.), der noch nicht darauf zielt, andere um ihr Hab und Gut zu betrügen, trägt zu Amis’ Ruhm bei, der wiederum so viele Gäste anlockt, dass Amis deren Bewirtung nicht mehr finanzieren kann: „Die Eselsepisode verselbständigt sich und generiert die Keimzelle der Folgeschwänke“ (Müller, Vom Kipp-Phänomen überrollt [wie Anm.58], 80); erst diese haben dann ausschließlich den Erwerb neuer finanzieller Mittel zum Zweck, erst hier „geht es um knappes Geld, um Lug und Trug“ und um „die Akkumulation von Reichtümern“ (Strohschneider, Kippfiguren [wie Anm.58], 175).
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die Ständekritik funktionalisiert, der Protagonist Amis ist in den verschiedenen Rollen, in denen er erscheint, nie primär Expertenfigur. 63 Am ehesten erscheint er noch als ‚Experte‘ für alle möglichen Formen des Betrügens 64, und so wird er auch gleich zu Beginn des Werks am Ende des Prologs in die Erzählung eingeführt: „Nu saget uns der Stricker, wer der erste man wer, der liegen triegen aneviench, und wie sin wille fur giench, daz er niht widersazzes vant.“ (Amis 39–43) („Nun erzählt uns der Stricker, wer der erste war, der log und betrog, und wie seine Pläne umgesetzt wurden, ohne dass ihn jemand daran hinderte.“) (Übersetzung B. R./C. S.)
Ganz ähnlich heißt es auch in dem ‚Zwischenprolog‘, der vor den beiden letzten Schwänken eingeschoben ist: „Er was der erste man, der sulches triegens ie began. Man was sin dannoch ungewon. Des wart er rich da von.“ (Amis 1321–1324) („Er war der erste, der mit solchem Betrug anfing. Das kannte man damals noch nicht, deshalb wurde er damit reich.“) (Übersetzung B. R./C. S.)
63
„Der Rahmen, in dem der Held agiert, ist die bestehende Ordnung mit ihren Grundsätzen einer vor-
neuzeitlichen Kultur, die nicht zwischen Glauben und Wissen unterscheidet“; Peter Strohschneider, Die doppelte Ökonomie des mittelalterlichen Lebens, in: David Wellbery/Judith Ryan u.a. (Hrsg.), Eine Neue Geschichte der deutschen Literatur. Berlin 2007, 172–177, hier 174; eine solche Kultur kann, so scheint es, noch keine effektive Expertenkritik betreiben. 64
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Vgl. auch Anm.56.
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Amis’ außerordentliche Begabung als Betrüger liegt „nicht so sehr in einer allgemeinen intellektuellen Dominanz (wisheit) begründet [...] als vielmehr in der Fähigkeit, bei seinen Gegenspielern bestimmte Denkschemata, Deutungsmuster und gewissermaßen programmierte Handlungsabläufe abzurufen“. 65 Diese grundlegende Eigenschaft seines ‚Expertentums für Betrügereien‘ wird aber, wie der Status selbst, nicht kritisch hinterfragt. Der Erzähler bezeichnet Amis zwar als den Ur-Betrüger schlechthin, weist aber auch immer wieder auf seine Klugheit hin 66 und unterstreicht vor allem seine milte, die ja auch der einzige Auslöser für sein Verhalten ist. Auch Amis’ Bekehrung am Ende und sein dadurch in Szene gesetzter sozialer Aufstieg 67 sind uneingeschränkt positiv dargestellt: Die Figur ist insgesamt ambivalent gezeichnet, ohne dass diese Ambivalenzen in eine eindeutige Richtung aufzulösen wären. 68 Immerhin finden sich im „Pfaffen Amis“ wie auch in den anderen StrickerSchwänken (sowie in den Schwänken der Stricker-Nachfolge) zumindest erste Ansätze dessen, was man als Expertenkritik bezeichnen könnte 69, eine Tradition, die sich dann im Spätmittelalter fortsetzt – etwa auf höchst komplexe Weise in Heinrich Wittenwilers „Ring“ 70 oder in den zahlreichen Schwankerzählungen und Narrengeschichten des 15. und 16.Jahrhunderts, die in vielen Fällen vom „Pfaffen Amis“ beeinflusst sind. 71
65 Schilling, Nachwort (wie Anm.55), 196. 66 „Das mit Abstand häufigste Reimwort auf Ameys ist weis (167f., 309f., 341f. u.ö.)“; Schilling, Nachwort (wie Anm.55), 190. 67 Vgl. dazu Strohschneider, Kippfiguren (wie Anm.58), 173–175. 68 Vgl. dazu Schilling, Nachwort (wie Anm.55), 190–199. 69 Es widerspricht dem hier konstatierten Ansatz zu einer Expertenkritik nicht, dass es in den mittelalterlichen Schwänken wohl nicht primär um Expertenkritik gegangen sein dürfte. Dennoch ist zu vermuten, dass etwa im oben genannten Maler-Schwank aus dem „Pfaffen Amis“ die Frage nach der Visualisierbarkeit und Greifbarkeit von gerade Nicht-Visualisierbarem zentraler sein dürfte und dass hier versucht wird, eine auch in den Schwankmären wirksame spezifische Form religiöser Kommunikation zu inszenieren; vgl. Hans Jürgen Scheuer, Schwankende Formen. Zur Beobachtung religiöser Kommunikation in mittelalterlichen Schwänken, in: Peter Strohschneider (Hrsg.), Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006. Berlin/New York 2009, 733–770. 70 Vgl. grundlegend Hartmut Bleumer/Caroline Emmelius, Vergebliche Rationalität. Erzählen zwischen Kasus und Exempel in Wittenwilers Ring, in: Wolfram-Studien 20, 2008, 177–204; Tobias Bulang, Enzyklopädische Dichtungen. Fallstudien zu Wissen und Literatur in Spätmittelalter und früher Neuzeit. (Deutsche Literatur. Studien und Quellen, 2.) Berlin 2011, sowie derzeit in Arbeit: Annika Goldenbaum, Von den Grenzen des Expertenwissens – Eine Untersuchung zu Heinrich Wittenwilers Ring (Arbeitstitel). 71 Das ist etwa bei den Geschichten um Till Eulenspiegel der Fall, vgl. z.B. Der Stricker, Der Pfaffe Amis (wie Anm.55), 142–152, bzw. Nachwort, 200–204.
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V. Teuflisches Expertentum Eine interessante und für die vorliegende ‚Spurensuche‘ aufschlussreiche ‚Experten-Konstellation‘ findet sich am Ende des 16.Jahrhunderts auch in einem Werk, das in Teilen ebenfalls den Strukturen eines Schwankromans folgt, dort allerdings scheinbar ohne die innere Kohärenz, die den „Pfaffen Amis“ auszeichnet. 72 Die „Historia von D. Johann Fausten“ 73, deren dritter Abschnitt hauptsächlich den besagten Schwankteil bildet 74, erschien anonym 1587 in der Frankfurter Offizin von Johann Spies. Sie besteht insgesamt aus vier Teilen 75: Der erste schildert knapp Fausts Karriere vor dem Teufelspakt, seinen Abfall von Gott sowie mehrere Gespräche zwischen Faust und seinem Geist Mephostophiles über die Hölle und die Welt, der zweite erzählt von Fausts Tätigkeiten als „Astrologus vnd Calendermacher“ (Faust 881) und von verschiedenen Reisen, der dritte stellt in einer Reihe von Schwänken das Unwesen vor, das Faust als Teufelsbündler treibt, der vierte schließlich berichtet von den Ereignissen im letzten Jahr des Teufelspak-
72
Vgl. dazu u.a. Strohschneider, Kippfiguren (wie Anm.58), der passim auf den durch das ,Rahmenthema‘
Ökonomie hergestellten Zusammenhalt zwischen der Rahmenhandlung (Amis’ milte und sein Widerstand gegen die Zinsforderung des Bischof am Anfang; Eintritt ins Kloster und Berufung zum Abt aufgrund seines vorbildlichen und gottgefälligen Verhaltens am Ende) und den einzelnen Schwänken, deren Zweck einzig in der Beschaffung von Geld für die Bewirtung von Amis’ Gästen liegt, hinweist. Zur Kritik an Strohschneiders These der Zusammenhanglosigkeit der Schwankreihe vgl. Müller, Vom Kipp-Phänomen überrollt (wie Anm.58), 84 u. insbes. 88. 73
Im Folgenden zitiert nach Jan-Dirk Müller (Hrsg.), Romane des 15. und 16.Jahrhunderts. Nach den Erst-
drucken mit sämtlichen Holzschnitten. (Bibliothek der Frühen Neuzeit, Bd. 1; Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 54.) Frankfurt am Main 1990, 829–986, Kommentar 1319–1430. Vgl. auch Stephan Füssel/Hans Joachim Kreutzer (Hrsg.), Historia von D. Johann Fausten. Text des Drucks von 1587. Kritische Ausgabe. Mit den Zusatztexten der Wolfenbütteler Handschrift und der zeitgenössischen Drucke. Stuttgart 1988. 74
Der Schwankteil umfasst im Erstdruck die Kapitel 33–59 (die in der Erstausgabe nicht durchgeführte
Kapitelzählung ist bei Füssel/Kreutzer [Hrsg.], Historia [wie Anm.73], ergänzt). Auch die meisten Zusatzkapitel späterer Fassungen entfallen auf den Schwankteil, vgl. dazu Müller, Romane (wie Anm.73), 1348– 1362, bzw. Füssel/Kreutzer (Hrsg.), Historia (wie Anm.73), 131–163. 75
Die ersten drei Teile sind durch Zwischenüberschriften vor dem zweiten und dritten Abschnitt klar
markiert: „Folget nun der ander Theil dieser Historien / von Fausti Abenthewren vnd andern Fragen“ (Faust 881), bzw. „Folgt der dritt vnnd letzte Theil von D. Fausti Abenthewer / was er mit seiner Nigromantia an Potentaten Höfen gethan vnd gewircket. Letzlich auch von seinem jämmerlichen erschrecklichen End vnnd Abschiedt“ (Faust 923). Entgegen der Ankündigung in der Überschrift des dritten Teils ist der Bericht von Fausts Ende durch eine weitere Überschrift abgesetzt: „Folget nu was Doctor Faustus in seiner letzten Jarsfrist mit seinem Geist vnd andern gehandelt / welches das 24. vnnd letzte Jahr seiner Versprechung war“ (Faust 964).
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tes und von Fausts abschreckendem Ende. Dabei demonstrieren „die ersten drei Teile [...] verschiedene Formen des Wissenserwerbs, der vierte Teil das Resultat“ 76, und im Zusammenhang mit der Präsentation dieser Wissensformen und dem darin verhandelten Sonderwissen finden sich im Text immer wieder Elemente, an denen sich ablesen lässt, wie ein Expertentum, an das diese exklusiven Wissensbestände gebunden sind, konstruiert wird. In der „Historia“ treten zwei Figuren auf, die im oben genannten Sinn als Experten bezeichnet werden können: Mephostophiles und Faust. Der erste Teil führt zunächst den Wissenserwerb durch Bücher vor, thematisiert also die Wissensform des „Buchwissens“ 77. Faust erarbeitet sich in den ersten beiden Kapiteln durch das Studium nigromantischer Bücher die Voraussetzungen dafür, „daß er auff eine zeit etliche zäuberische vocabula, figuras, characteres vnd coniurationes, damit er den Teufel vor sich möchte fordern / ins Werck zusetzen / vnd zu probiern jm fürname“ (Faust 845). Nachdem Faust erfolgreich den Teufel beschworen und Mephostophiles als seinen persönlichen Geist gewonnen hat, löchert er ihn so lange mit Fragen nach dem Wesen der Hölle, bis Mephostophiles Faust am Ende des ersten Teils verbietet, weiterhin solche Fragen zu stellen. 78 Mephostophiles erscheint in diesem Abschnitt als Experte für alle nur denkbaren Fragen im Hinblick
76 Annette Gerok-Reiter, Tradition und Transformation. Polyphone Wissensfigurationen in der Historia von D. Johann Fausten, in: KulturPoetik 11, 2011, 1–20. Die Beobachtungen von Gerok-Reiter zur Abfolge der Präsentation verschiedener Wissenstypen treffen zwar im Prinzip zu, sind aber vielleicht etwas zu trennscharf formuliert, was die Verfasserin selbst einräumt: „Die Grenzen zwischen den Teilen und damit auch zwischen den unterschiedlichen Wissensfigurationen sind nicht immer scharf“ (9); das ‚Konzept‘ der „Historia“ ist nicht ganz kohärent, der Text ist relativ offen, wie die späteren Einschübe zeigen; vor allem im Schwankteil wirkt die Reihung der Kapitel teils beliebig, weil nur wenige Passagen narrativ kohärent sind, so z.B. die sogenannte „Erfurter Reihe“ der Ausgabe von 1589, vgl. Müller, Romane (wie Anm.73), 1351– 1362. Andreas Kraß, Am Scheideweg. Poetik des Wissens in der Historia von D. Johann Fausten, in: Robert Seidel/Regina Toepfer (Hrsg.), Frankfurt im Schnittpunkt der Diskurse. Strategien und Institutionen literarischer Kommunikation im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. (Zeitsprünge, Bd. 14.) Frankfurt am Main 2010, 221–234, sieht als Gliederungsprinzip ein „bibliothekarische[s] Prinzip“ (232), einen „bibliothekarische[n] Code“ (231): „Die in der Historia zitierten Schriften sind, wie in einer Bibliothek, tendenziell nach Sachgebieten sortiert. Theologische, astrologische, geographische und karnevaleske Schriften stehen jeweils in Gruppen beieinander“ (232); zur Anlage der „Historia“ vgl. auch Andreas Kraß, Schwarze Galle, schwarze Kunst. Poetik der Melancholie in der Historia von D. Johann Fausten, in: Zeitsprünge 7, 2003, 537–559. 77 Gerok-Reiter, Tradition und Transformation (wie Anm.76), 7. 78 „Dem gab der Geist auff keine Frage Antwort / vnd sprach: Herr Fauste / dein Fragen vnd Disputation von der Hell vnd jrer Wirckung möchstu wol vnterlassen / Lieber was machstu auß dir selbs?“ (Faust 871; ähnlich auch ebd.879).
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auf die Hölle und ihre Bewohner, ihre ‚Geschichte‘ und ihr Wesen. Sein Expertenstatus für dieses Wissensgebiet kommt ihm einerseits qua Amt zu, andererseits wird er ihm durch Faust zugeschrieben, indem sich Faust mit seinen Fragen an ihn wendet. Natürlich bedingen sich diese beiden Legitimationsformen gegenseitig, schließlich hat Faust genau deshalb einen ‚teuflischen‘ Experten beschworen, weil er sich von ihm Auskünfte über die Hölle erhofft. Auf der Ebene der Faktur der „Historia“ tritt dieser handlungsinternen eine formale bzw. textstrukturelle Zuschreibung des Expertenstatus zur Seite: Ab dem 11. Kapitel, an dessen Beginn Faust von Mephostophiles ein „grosses Buch / von allerley Zauberey vnnd Nigromantia“ (Faust 863) erhält, wird die bisher vorherrschende Form des Wissenserwerbs aus Büchern durch in Dialogform vermitteltes Autoritätenwissen abgelöst: Fausts Fragen an Mephostophiles sind in Form von (pseudo-)wissenschaftlichen Disputationen zwischen den beiden mit Mephostophiles in der Rolle des Experten dargestellt. Mephostophiles übernimmt hier die Rolle, die Faust vor der Beschwörung den nigromantischen Büchern zugesprochen hatte, beide Konstellationen zusammengenommen repräsentieren zwei Seiten bzw. Aspekte der ‚wissenschaftlichen‘ Wissenspräsentation und Wissensvermittlung. 79 Mephostophiles’ Expertentum wird aber gleich zweifach unterlaufen, wenn auch nicht primär handlungsintern, sondern hauptsächlich auf der Ebene der Kommunikation zwischen ‚Erzähler‘ und Rezipienten: Einerseits scheint der teuflische „Geist“ (Faust, passim) in seiner Autoritäten-Rolle natürlich eine Anti-Autorität par excellence zu sein, wodurch die Situation der Disputation ad absurdum geführt ist. Andererseits nutzt Mephostophiles seine von Faust nicht hinterfragte Rolle als Experte immer wieder dazu, Faust zu belügen und hinters Licht zu führen; seine Expertise ist nicht immer zuverlässig (was nicht weiter verwundert). Deutlich wird dies etwa im zweiten Teil, in dem die Disputationsstruktur zunächst fortgesetzt wird. Im 22. Kapitel drängt sich Mephostophiles, nachdem er sich zuvor weitere Fragen über das Wesen der Hölle verbeten hatte, wieder als Informant auf, woraufhin ihn Faust um Auskunft darüber bittet, „wie Gott die Welt erschaffen hette / vnd von der ersten Geburt deß Menschen“ (Faust 887). Mephostophiles gibt „Doctor Fausto hierauff einen Gottlosen vnd falschen Bericht“ (Faust 887), indem er von der Ewigkeit der
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Durch das Zauberbuch, das Faust von Mephostophiles erhält, wird die am Anfang thematisierte Form
des Buchwissens, die Faust die Beschwörung des Teufels erst ermöglichte, mit der für den folgenden Abschnitt prägenden Form des Wissenserwerbs, der Disputation, verknüpft.
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Welt und des Menschengeschlechts erzählt. 80 Diese Falschaussage von Mephostophiles ist gleich dreifach gekennzeichnet: Erstens durch die eben zitierte Einleitung, zweitens bereits durch die Kapitelüberschrift 81, drittens durch eine Marginalie, deren Funktion zwar in den meisten Kapiteln darin besteht, den jeweiligen Inhalt kurz zusammenzufassen, die gelegentlich aber auch kommentiert 82, wie hier: „Teuffel du leugst / Gottes Wort lert anders hievon“ (Faust 887). Durch die dreifache Markierung ist die Falschinformation überdeutlich als solche entblößt. Auch auf der Textebene erhält die ansonsten kohärente Zuschreibung der Expertenrolle an Mephostophiles einen feinen Riss, denn Faust zweifelt hier an der Auskunft des Teufels: „Doctor Faustus speculierte dem nach / vnnd wolte jhme nicht in Kopff / Sondern wie er Genesis am Ersten Capitel gelesen / daß es Moyses anders erzehlet“ (Faust 887). Er wagt es aber nicht, Mephostophiles zu widersprechen, und nimmt die falsche Information klaglos hin: „also daß er Doct. Faustus nicht viel darwider sagte“ (Faust 887). Mephostophiles’ Expertenstatus ist damit aus Fausts Perspektive nicht erschüttert. Außerhalb der erzählten Welt ist sein Expertentum aber als falsches Expertentum entlarvt, obwohl es innerfiktional eindeutig konstruiert und nicht in Frage gestellt, sondern im Gegenteil mehrfach abgesichert ist. Im zweiten Teil verschiebt sich der Fokus allmählich auf andere Formen des Wissenserwerbs, obwohl die Disputationsstruktur des ersten Teils zunächst fortgeführt wird. 83 Es geht jetzt um praktisches Erfahrungswissen, das Faust zunächst von Mephostophiles vermittelt bekommt 84, dann aber auf ausgedehnten Reisen auch visuell „er-fährt“. 85 Im Verlauf des zweiten Teils tritt die Expertenrolle von Mephosto-
80 Vgl. dazu den Kommentar von Müller, Romane (wie Anm.73), 1396. 81 „Ein Frag Doctor Fausti / wie Gott die Welt erschaffen / vnd von der ersten Geburt deß Menschen / darauff jme der Geist / seiner art nach / ein gantz falsche Antwort gab“ (Faust 886). Hier wird zudem – wiederum außerhalb der historia – unterstrichen, dass die Lüge fester Bestandteil des teuflischen Wesens und Mephostophiles folglich kein verlässlicher Informant ist. 82 Z.B. bei der Besiegelung des Paktes (Kapitel 6): „O HERR Gott behüt“ (Faust 855). 83 Vor allem aufgrund dieser Überlagerung ist die Trennung, die Gerok-Reiter vornimmt (vgl. Anm.76), zu scharf. 84 Das wird gleich in den einleitenden Zeilen des zweiten Teils deutlich: „Doct. Faustus / als er von Gottseligen Fragen vom Geist keine Antwort mehr bekommen kondte / mußt ers auch ein gut Werck seyn lassen / Fienge demnach an Calender zu machen / ward also derselben zeit ein guter Astronomus oder Astrologus, gelehrt vnd Erfahren / von seinem Geist in der Sternkunst / vnd Practicken schreiben“ (Faust 881). 85 Gerok-Reiter, Tradition und Transformation (wie Anm.76), 8. Gerok-Reiter bezeichnet diese Art des Wissenserwerbs daher als „visuelles Erfahrungswissen“ (8 u. 16).
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philes zunehmend in den Hintergrund und wird von einer Darstellung von Fausts Expertentum abgelöst, die sich im dritten Teil, dem Schwankteil, fortsetzt. 86 Auch endet mit dem 23. Kapitel zunächst die Disputationsstruktur, und die „Historia“ berichtet von Fausts Reisen und seiner Höllen- und Himmelsfahrt. Fausts Expertenrolle konstituiert sich auf verschiedenen Ebenen. Zunächst wird sie ihm immer wieder vom Erzähler zugesprochen, etwa gleich zu Beginn des zweiten Teils, wo Faust als „ein guter Astronomus oder Astrologus“ (Faust 881) bezeichnet wird 87, dessen Kalender und Voraussagen sich dadurch besonders auszeichnen, dass sie stets zutreffen: „So lobte man auch seine Calender vnd Allmanach vor andern / denn er setzte nichts in Calender / es war jhm also / als wann er setzte Nebel / Windt / Schnee / Feucht / Warm / Donner / Hagel etc. hat sichs also verloffen“ (Faust 881f.). Der Erzähler verschränkt diese Zuschreibung wie hier grundsätzlich mit der Anerkennung von Fausts Expertise auch auf der ‚Handlungsebene‘, was etwa zu Beginn des dritten Teils deutlich wird: Faust ist als „erfahrner der schwartzen Kunst“ (Faust 923) so angesehen, dass sogar der „KEyser Carols der Fünfft“ (Faust 923) davon erfahren hat und eine Probe seiner Kunst verlangt. Ein besonders komplexes Beispiel für diese Art der ‚Fremdzuschreibung‘ liefert das 25. Kapitel. Es besteht aus dem Konzept eines Briefs 88 von Faust an den namentlich genannten, gleichwohl vermutlich fiktiven Leipziger Freund und ehemaligen Kommilitonen Jonas Victor 89, in dem Faust offensichtlich auf einen vorausgegangenen Brief reagiert 90 und der Bitte nachkommt, von seiner „Himmelfart vnter das Ge-
86
Laut Gerok-Reiter, Tradition und Transformation (wie Anm.76), geht es im dritten Teil „um Hand-
lungswissen im pragmatischen Sinn“ (9). Allerdings steht hier nicht mehr der Wissenserwerb durch Faust im Vordergrund, der die beiden ersten Teile geprägt hat. Faust führt hier vielmehr die Früchte seines Wissenserwerbs in extenso vor. 87
Vgl. Anm.84.
88
Zur Faktur der „Historia“ gehört es, das eigentlich genuin fiktionale Erzählmodell der historia an eine
historisch-biographische Darstellungsweise heranzuschreiben; vgl. dazu Hans Joachim Kreutzer, Nachwort, in: Füssel/Kreutzer (Hrsg.), Historia (wie Anm.73), 326f.; Kraß, Am Scheideweg (wie Anm.76), 224–227, indem mittels einer ‚Archiv-Fiktion‘ bzw. einer „Quellenfiktion“ (ebd.224) immer wieder pseudo-reale Zeugnisse anderer für das Leben und Wirken Fausts wie etwa Briefe oder sonstige Berichte in die „Historia“ eingefügt werden. Im vierten Teil wird die Existenz eines Teils dieser Zeugnisse rückwirkend damit erklärt, dass Faust seinem Famulus Wagner seine Schriften vermacht hat. 89
„Ionae Victor, Medico zu Leiptzig“ (Faust 896).
90
Der Brief erweckt den Anschein, dass Faust auch zuvor in einem regen Briefkontakt mit Jonas Victor
stand. Dieser hatte offensichtlich mehrmals seine Expertise eingeholt, denn Faust schreibt: „so bin ich euch doch in dieser Kunst [gemeint ist die Astrologie] noch gleich worden / demnach jr mich etlicher sachen
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stirn“ (Faust 897) zu berichten. In der Einleitung zu diesem Brief bedankt sich Faust für das Lob, das sein Briefpartner seinen Vorhersagen spendet: „Ewers Ruhms vnd Lobs / so jr mir zumeßt vnd gebt / thu ich mich gleichsfalls bedancken / nemlich daß mein Calender vnd Practicken so weit in das Lob kommen / daß nit geringe Priuat Personen / oder gemeine Bürgerschafft / sondern Fuorsten / Graffen vnd Herren meiner Practica nachfragen / dieweil alles / was ich gesetzt vnd geschrieben / also wahrhafftig sol vberein stimmen“ (Faust 897).
Gleich drei unabhängige Instanzen beglaubigen also Fausts Expertenstatus: der Freund in seinem Brief, die Meinung der „Fuorsten / Graffen vnd Herren“, die der Freund in seinem Brief wiedergibt, und schließlich Faust selbst, der die Zuschreibung aus dem nicht wiedergegebenen Brief des Freundes wiederholt und sie dadurch einerseits bestätigt, andererseits ihre Aufnahme in die „Historia“ innerhalb der Archiv-Fiktion (vgl. Anm.88) ermöglicht. Aber nicht nur Freunde und Bekannte, auch Fremde konsultieren Faust immer wieder, schreiben ihm ein spezifisches Sonderwissen zu und belegen dadurch, dass er als Experte für bestimmte Wissens- und Handlungsbereiche bekannt und angesehen ist. So ermöglicht er es beispielsweise im 37. Kapitel drei Grafen aus Wittenberg, an einer fürstlichen Hochzeit in München teilzunehmen, indem er mit ihnen dorthin fliegt, nachdem die Grafen ihn zuvor als Experten für solche Unternehmungen um Hilfe gebeten hatten. 91 Auch textstrukturell wird Faust bereits am Ende des zweiten Teils vollends in seiner Rolle als Experte präsentiert: In drei Disputationen, die auf fünf Kapitel verteilt sind (Kapitel 28–32), gibt Faust Freunden und „andern Medicis“ (Faust 921) Auskunft über Kometen und weitere astronomische Besonderheiten, das Wesen der Geister sowie die Ursachen des Donners. Die Ausgangskonstellation der Disputationen im ersten Teil der „Historia“ hat sich also grundsätzlich verschoben: Nun ist Faust, nicht mehr Mephostophiles derjeni-
vmb Bericht rahts gefragt“ (Faust 897). „Im gelehrten Briefwechsel erweist Faustus sich als angesehenes Mitglied der Gelehrtengemeinschaft, dank seinem Bund mit dem Teufel ihr an Wissen weit überlegen“; Müller, Romane (wie Anm.73), Kommentar S.1400. 91 Einer der Grafen schlägt seinen Freunden vor: „Vnd ist diß mein fürschlag / daß wir zu D. Fausto schicken / jme vnser fürhaben eröffnen / ein Verehrung thun / vnd ansprechen / daß er vns hierinnen verhülflich seyn wolte / er wirdt vns das gewiß nit abschlagen“ (Faust 929). Als ähnlich kompetenter Reiseführer erweist sich Faust in einem Kapitel der Widman’schen Fassung der „Historia“ von 1599; vgl. Richard Benz (Hrsg.), Historia von D. Johann Fausten. Stuttgart 1964, 124f.
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ge, der um seine Expertise gebeten wird und diese in Form einer Disputation darlegt. Die einzige Stelle, an der Fausts Expertentum in solchen Wissensgebieten und Künsten ansatzweise hinterfragt wird 92, ist ein Kapitel in der „Erfurter Reihe“ (vgl. Anm.74 und Anm.76), das davon berichtet, wie Faust während seiner Tätigkeit an der Erfurter Universität anbietet, alle verlorenen Komödien von Terenz und Plautus zu beschaffen. Seine Kollegen reagieren skeptisch auf das Angebot, nicht, weil sie grundsätzlich an seinen Fähigkeiten zweifeln 93, sondern weil diese sich hier als beschränkt erweisen. Faust könne die Schriften nämlich nicht dauerhaft zurückbringen, sondern „nur auff etliche Stunden lang“ (Faust 1355), weswegen die „Herren Theologen vnnd fürnembsten des Raths“ (Faust 1355) dankend verzichten: Man habe „gnugsam Autores vnnd gute Bücher“ (Faust 1355). Fausts Gastspiel an der Erfurter Universität endet dann auch mit seiner Vertreibung durch den Rektor der Universität und den Rat der Stadt, nachdem ein Barfüßermönch vergeblich versucht hatte, Faust zu bekehren und ihn daraufhin angezeigt hatte. Anscheinend ist Fausts Expertenstatus im universitären Kontext fragwürdig und nicht dauerhaft tolerierbar, und dass diese Form von Expertentum auch generell keinen Bestand haben kann, zeigt das grausame Ende, das Faust im 24. Jahr seines Teufelsbundes nach Ablauf des Pakts ereilt: „Als es nun Tag ward / vnd die Studenten die gantze Nacht nicht geschlaffen hatten / sind sie in die Stuben gegangen / darinnen D. Faustum gewesen war / sie sahen aber keinen Faustum mehr / vnd nichts / dann die Stuben voller Bluts gesprützet / Das Hirn klebte an der Wandt / weil jn der Teuffel von einer Wandt zur andern geschlagen hatte. Es lagen auch seine Augen vnd etliche Zän allda / ein greulich vnd erschrecklich Spectackel. Da huben die Studenten an jm zubeklagen vnd zubeweynen / vnd suchten jn allenthalben / Letzlich aber funden sie seinen Leib heraussen bey dem Mist ligen / welcher greuwlich anzusehen war / dann jhme der Kopff vnnd alle Glieder schlotterten“ (Faust 978).
92
Indem Faust hier die Position des unzuverlässigen Experten einnimmt, die zuvor Mephostophiles in-
nehatte, ist seine Expertenrolle auch strukturell und damit prinzipiell in Frage gestellt. 93
Diese stellt er ungefragt unter Beweis, indem er „von beyden Poeten viel vnnd mehr / dann die andern
alle / zu reden gewust / auch etliche schöne Sententz vnd Sprüche aus den verlornen Comœdien angezogen / vber welcher / als sich jederman vnter jhnen hefftig verwunderte / vnd jhn gefragt / wo er wüste / was in denselben Comœdien stünde“ (Faust 1355).
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In der „Historia von D. Johann Fausten“ findet sich gleich doppelt eine Darstellung von verkehrtem Expertentum. Weil Faust nach dem Falschen strebt 94 und sich daher für seine ‚Ausbildung‘ den falschen ‚Experten‘ gewählt (bzw. diesen ‚beschworen‘) hat, ist auch sein Expertentum, das in der zweiten Hälfte der „Historia“ ausgebreitet wird, von Grund auf falsch und kann nicht von Dauer sein. Faust ist der Prototyp des Gelehrten, „der die Grenzen seines Wissens und Könnens überschreitet“ 95, und eben dieses Streben nach falschem Wissen und falschem Expertentum wird in der „Historia“ aufs Schärfste kritisiert, wobei es außer Frage stehen dürfte, dass sich Mephostophiles und Faust mit dem hier diskutierten Begriff des ‚Experten‘ in den jeweiligen Konstellationen treffend beschreiben lassen. Die geäußerte Kritik wird jedoch im vierten Teil ansatzweise unterlaufen, dann nämlich, wenn in der Beschreibung von Fausts letzten Tagen 96 sowie in seinen Monologen und den Gesprächen mit seinen Studenten seine Verzweiflung angesichts der Ausweglosigkeit des Teufelspaktes ständig wiederholt wird. Hier scheint zumindest ansatzweise das Mitleid des Erzählers mit seinem Protagonisten angesichts des bevorstehenden schrecklichen Endes durch, das dann auch das Mitleid der
94 Fausts Erkenntnisinteresse, das zeigt sich im Laufe seiner ‚Ausbildung‘ immer wieder, ist hauptsächlich von einer illegitimen curiositas geprägt, wie sie schon Augustinus in den „Confessiones“ (X, 34) verurteilt hat. Primär für diese muss Faust am Ende dann auch büßen. „Nach dem ius talionis wird Faustus an den Körperteilen bestraft, die gesündigt haben“; Müller, Romane (wie Anm.73), Kommentar S.1426; „harmlos im Handeln, furchtbar in Gedanken, ist Faust kein Tatsünder, er sündigte und sühnte mit dem Kopf“; Friedrich Ohly, Der Verfluchte und der Erwählte. Vom Leben mit der Schuld. (Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge G, Bd. 207.) Opladen 1976, 102. Die Augen, „Organ der curiositas (Augenlust)“ (Müller, Romane [wie Anm.73], Kommentar S.1426), liegen auf dem Boden herum; das Gehirn als „Erkenntnismedium des gelehrten Teufelsschülers“ (Gerok-Reiter, Tradition und Transformation [wie Anm.76], 11) ist an die Wand gespritzt; die Zähne, die auf das beständige Fressen und Saufen auf Kosten anderer vor allem im Schwankteil verweisen könnten, sind verstreut; der Körper, „Protagonist des Schwankteils“ (Gerok-Reiter, Tradition und Transformation [wie Anm.76], 11) und primärer Träger des „Säuwisch vnnd Epicurisch leben“ (Faust 962) in Fausts letzten Jahren, liegt auf dem „Mist“ (Faust 978). 95 Kreutzer, Nachwort, in: Füssel/Kreutzer (Hrsg.), Historia (wie Anm.73), 325. 96 Über weite Strecken der „Historia“ werden, bezogen auf die Gesamtdauer des Teufelspaktes von 24 Jahren, nur hin und wieder vage Zeitangaben gemacht. Gegen Ende des dritten Teils aber „drängt sich die Zeit unabweisbar ins Bewußtsein: Das 17., das 19. und 20., das 22., das 24. Jahr. Fixpunkte, die in immer rascherem Stakkato den nahen Untergang anzeigen. Gegen Ende verlangsamt sich das Erzähltempo wieder. Mit quälender Ausführlichkeit werden die letzten Verfügungen geschildert, die Klagen im letzten Monat, der letzte Abend“; Müller, Romane (wie Anm.73), Kommentar S.1336. Faust erlebt „die letzten Stunden vor seiner theologischen Hinrichtung durch den Teufel mit dem Stundenglas“; Ohly, Der Verfluchte (wie Anm.94), 101f..
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Rezipienten erregt. Die „Historia“ weist nicht nur eine Polyphonie der Wissensfigurationen 97, sondern ebenso eine Polyphonie der Deutungsangebote auf. Im hermeneutischen Zugriff auf den Text gibt es immer wieder Bruchstellen und Kipp-Punkte; die Sinn-Festschreibung durch das drastische Ende und die christlich-moralisierende Rahmung durch eine Vorrede 98 und eine Schlussbemerkung des Erzählers 99 bleibt dadurch letztlich unverbindlich.
VI. „Wie gelert mueß ain sölicher kunig sein“– Der Kaiser als Experte Dass sich Ansätze eines literarischen Niederschlags von Expertentum und Expertenkritik wie die bisher diskutierten vor allem im Spätmittelalter und zu Beginn der (Frühen) Neuzeit finden, liegt sicher nicht nur daran, dass die Literatur so gemächlich auf die Zunahme von Expertenkulturen reagiert, sondern ist auch dadurch bedingt, dass der Höhepunkt an Institutionalisierungsprozessen von Experten und Expertenwissen ebenfalls im Spätmittelalter einsetzt und damit neue gesellschaftliche Relevanz erhält. 100 Dies wird nicht nur dort sichtbar, wo die Literatur die Höfe verlässt und einer breiteren Schicht des Bürgertums verfügbar wird, so dass sich ein Rezipientenkreis erschließt, der sich zumindest teilweise von traditionellen Werten wie etwa dem (Geburts-)Adel abgrenzen will und offener ist für Wissensspezialisierungen. Auch die Höfe selbst sind dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen. Als
97
Vgl. Gerok-Reiter, Tradition und Transformation (wie Anm.76), 18.
98
Die „Historia“ soll „der gantzen Christenheit zur warnung“ dienen und ist ein „schrecklich Exempel
deß Teufflischen Betrugs / Leibs vnd Seelen Mords allen Christen zur Warnung“ (Faust 833), sie ist ein „schrecklich Exempel [...] / darinnen man nicht allein deß Teuffels Neid / Betrug vnd Grausamkeit gegen dem Menschlichen Geschlecht / sehen / sonder auch augenscheinlich spüren kan / wohin die Sicherheit / Vermessenheit vnnd fürwitz letzlich einen Menschen treibe“ (Faust 833). 99
„Also endet sich die gantze warhafftige Historia vnd Zäuberey Doctor Fausti / darauß jeder Christ zu
lernen / sonderlich aber die eines hoffertigen / stoltzen / fürwitzigen vnd trotzigen Sinnes vnnd Kopffs sind / GOtt zu förchten / Zauberey / Beschwerung vnnd andere TEuffelswercks zu fliehen / so Gott ernstlich verbotten hat / vnd den Teuffel nit zu Gast zu laden / noch jm raum zu geben / wie Faustus gethan hat“ (Faust 979). 100 Von den derzeit 15 Dissertationen am Göttinger Graduiertenkolleg „Expertenkulturen des 12. bis 16.Jahrhunderts“ beschäftigen sich daher wohl auch nicht zufällig 12 Arbeiten mit der Zeit ab dem 14.Jahrhundert, 10 davon mit einem Schwerpunkt auf dem 15. und 16.Jahrhundert.
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letztes und vielleicht besonders prägnantes Beispiel sei hier der ‚Autor‘ Kaiser Maximilian I. herausgegriffen, der schon zu Lebzeiten als eine Mischung von „letzte[m] Ritter“ 101 und humanistischem Neuerer 102 angesehen wurde und in dessen eigenen literarischen Werken sich sowohl traditionelle Vorstellungen als auch moderne Ansätze vereinen. Unter dem Aspekt des Wissens und der Wissensspezialisierung ist vor allem der pseudo-autobiographische „Weißkunig“ interessant. 103 Während sich der dritte Teil des Textes in einem unauflösbaren Wirrwarr an historischen Hand-
101 Jörg Jochen Berns, Maximilian und Luther. Ihre Rolle im Entstehungsprozeß einer deutschen National-Literatur, in: Klaus Garber (Hrsg.), Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit. Akten des I. Internationalen Osnabrücker Kongresses zur Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit. Tübingen 1989, 640– 668, hier 642; vgl. dazu auch Clemens Biener, Entstehungsgeschichte des Weisskunigs, in: MIÖG 44, 1930, 83–102, hier 88; Folkhard Cremer, „Kindlichait, Junglichait, Mandlichait, Tewrlichait“. Eine Untersuchung zur Text-Bild-Redaktion des Autobiographieprojektes Kaiser Maximilians I. und zur Einordnung der Erziehungsgeschichte des Weisskunig. Egelsbach u.a. 1995, 117; Heinz Engels, Der Theuerdank als autobiographische Dichtung, in: Kaiser Maximilians Theuerdank. Kommentarband. Plochingen/Stuttgart 1968, 5– 12, hier 6; Stephan Füssel, Kaiser Maximilian und die Medien seiner Zeit. Der Theuerdank von 1517. Eine kulturhistorische Einführung. Köln u.a. 2002, 38; Gerold Hayer, Teuerdank auf der Bühne. Maximilians Brautfahrt in Schauspiel und Oper des 19.Jahrhunderts. Eine Bestandsaufnahme, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 17, 2008/2009, 439–451, hier 441; Manfred Hollegger, Maximilian I. (1459– 1519). Herrscher und Mensch einer Zeitenwende. Stuttgart 2005, 248; Peter Moraw, Kaiser Maximilian I. (1493–1519). Bewahrer und Neuerer, in: Georg Schmidt-von Rhein (Hrsg.), Kaiser Maximilian I. Bewahrer und Reformer. Ramstein 2002, 17–29, hier 17; Jan-Dirk Müller, Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I. (Forschungen zur Geschichte der Älteren Deutschen Literatur, 2.) München 1982, 82; Meinrad Pizzinini, Kaiser Maximilian I. – Ein Porträt, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 17, 2008/2009, 473–480, hier 11f. u. 212f.; ders., Kaiser Maximilian I. und Runkelstein, in: Schloss Runkelstein. Die Bilderburg. Hrsg. v. der Stadt Bozen unter Mitwirk. des Südtiroler Kulturinstitutes. Bozen 2000, 459–468, hier 460; ders., Literatur und Kunst unter Maximilian I., in: Schmidt-von Rhein (Hrsg.), Kaiser Maximilian I., 141–150, hier 141; ders., Maximilian und die Hybridisierung frühneuzeitlicher Hofkultur. Zum Ludus Diane und der Rhapsodia des Konrad Celtis, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 17, 2008/2009, 3–21, hier 4; Horst Wenzel, Höfische Geschichte. Literarische Tradition und Gegenwartsdeutung in den volkssprachigen Chroniken des hohen und späten Mittelalters. (Beiträge zur Älteren Deutschen Literaturgeschichte, 5.) Bern u.a. 1980, 308; Hermann Wiesflecker, Kaiser Maximilian I. Das Reich, Österreich und Europa an der Wende zur Neuzeit. Bd. 5: Der Kaiser und seine Umwelt; Hof, Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. München 1986, 306. 102 Zur historischen Bewertung Maximilians vgl. grundlegend Müller, Gedechtnus (wie Anm.101), 11– 21; vgl. auch Björn Reich, Maximilian und die Leerstelle. Einige Gedanken zur Poetik von Maximilians gedechtnus-Werken, erscheint in: Johannes Helmrath u.a. (Hrsg.), Maximilians Welt. Göttingen 2012. 103 Der Weiß Kunig. Eine Erzehlung von den Thaten Kaiser Maximilian des Ersten. Von Marx Treitzsaurwein auf dessen Angeben zusammengetragen, nebst den von Hannsen Burgmair dazu verfertigten Holzschnitten. Hrsg. aus dem Manuscripte der kaiserl. königl. Hofbibliothek. Wien 1775, 70.
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lungsepisoden verzettelt und Fragment geblieben ist 104, besteht die im zweiten Teil geschilderte Jugendgeschichte im Wesentlichen aus einer Aneinanderreihung verschiedener fachlicher Disziplinen, für die sich der junge Weißkönig interessiert und in denen er es in jeweils kürzester Zeit zur Meisterschaft bringt. Als Beispiel sei hier die kurze Episode herausgegriffen, in der der junge Weißkönig demonstriert, dass er nicht nur Schreiben gelernt hat und dies nun beherrscht, sondern dass er fast sofort in der Lage ist, schneller und besser zu schreiben als seine angestellten Hofschreiber. Es wird ein Wettkampf inszeniert, in dem der Weißkönig einen seiner Schreiber düpiert und seine eigenen Fähigkeiten triumphal unter Beweis stellt: „Auf ainen tag, als derselb Secretari [gemeint ist wohl Marx Treitzsaurwein], bey Ime was, schrib der Jung weiß kunig, mit Ime zu wet, vnd mit der peldung, uberschrib der Jung weiß kunig, denselben Secretarien, Daraus ist zu mercken des Jungen weiß kunigs Eerlich gemuet, das Er in allen dingen gehabt, des Er sich zulernen understannden hat, vnd in der zeit seiner Regirung, hat Er in dem schreiben kain verdrieß gehab, Er hat auch mit seiner hanndt sovil geschriben, Wann Ich ungeverlich die Antzahl seines schreibens hierinn antzaigen solle, so wurde mir nit wol glauben geben“ (Weißkunig 62).
Die außerordentlichen und vor allem für seinen Stand anscheinend ungewöhnlichen 105 Schreibkünste des Weißkönigs, deren Schilderung am Beginn der Darstellung seiner Ausbildung steht 106, werden als herausragendes Beispiel für die positive Einstellung des jungen Weißkönigs gegenüber jeder Herausforderung besonders betont: „Daraus ist zu mercken des Jungen weiß kunigs Eerlich gemuet, das Er in allen dingen gehabt, des Er sich zulernen understannden hat“ (Weißkunig 62). Die Kapitelüberschrift („Wie der Jung Weiß kunig, aus aigner bewegung, lernt schreiben“, ebd.), die den eigenen Antrieb für das Schreibenlernen hervorhebt, unterstreicht diese positive Eigenschaft noch zusätzlich. Damit ist gleich zu Beginn der Grund dafür
104 Vgl. Holleger, Maximilian I. (wie Anm.101), 245, Müller, Gedechtnus (wie Anm.101), 130–132, sowie Reich, Maximilian und die Leerstelle (wie Anm.102). 105 Es war „Ime nit not [...], sondere guete schrifft zu lernen“ (Weißkunig 62). 106 Dem voraus geht lediglich seine Unterweisung in der „heilig geschrifft“ durch „etlich hochgelert maister“ (Weißkunig 60), die er ebenso in Windeseile absolviert und mit einer „Redt“ mit anschließender moralischer „auslegung“ (Weißkunig 61) vor seinem Vater abschließt (vgl. dazu Cora Dietl, Zwischen Christus und Tristan: Bilder einer kaiserlichen Kindheit, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 17, 2008/2009, 35–45, hier 38f.). Diese bringt ihm den Ehrentitel „der Jung Weiß kunig“ (Weißkunig 61) ein, und damit ist schon von Beginn der Ausbildung an die universale Meisterschaft des jungen Königs nicht mehr hinterfragbar.
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benannt, dass der junge Weißkönig im Folgenden auch alle weiteren Ausbildungsschritte äußerst erfolgreich absolviert. Auf dem Bildungsplan des jungen Weißkönigs stehen insgesamt die unterschiedlichsten Disziplinen: Astrologie (Weißkunig 65), Arzneikunst (70), verschiedene Sprachen 107, Malerei (75), Steinwerk (76), Zimmermannshandwerk zum Bauen von Befestigungsanlagen (77), Nahrungsmittelkunde (79), Münzerei (81), Bergbau (82), Harnischmeisterei (97) und Artillerie (98). Daneben werden verschiedene Kampfund Jagdtechniken ausführlich genannt: „Die Schilderung der Ausbildung Maximilians kommt einer Fürstenlehre gleich und übertrifft zugleich alle übliche Darstellung der Ausbildung eines literarischen Ritters.“ 108 Bemerkenswert ist, dass diese Disziplinen in ihrer Werthaftigkeit nicht voneinander differieren: Ob man im Schnellschreiben oder im Schwertkampf triumphiert, macht keinen Unterschied, was die êre des Siegers angeht. Wichtiger aber scheint noch, dass die verschiedenen Bildungsdisziplinen, in denen der Weißkönig brilliert, stets an praktischen Zwecken ausgerichtet sind. 109 Zwar stehen am Beginn seiner Erziehung auch die ArtesDisziplinen, sie werden aber gesammelt in einem einzigen kurzen Kapitel abgehandelt, das mit der fast schon lakonisch-lapidaren Überschrift „Wie der Jung Weyß Kunig, die siben freyen kunst, in kurtzer zeit lernet“ (Weißkunig 63) versehen ist. Das gelehrte theoretische Wissen der Artes scheint zwar im Anschluss an die Erlernung der Schreibkunst nach wie vor die Grundlage der Ausbildung zu sein, ist aber nicht mehr wichtig bzw. nur dann, wenn es zweckorientiert ist 110: Wenn sich der Weiß-
107 Darunter „Windisch, vnd Behamisch“ (Weißkunig 74), „flemisch“ (118), Englisch (119), Spanisch (120) und Welsch (121). 108 Dietl, Zwischen Christus und Tristan (wie Anm.106), 40. 109 Müller, Gedechtnus (wie Anm.101), 241. Die reine scholastische argumentatio lehnt Maximilian ab: Der Teufel, der in seinem „Theuerdank“ als Scholar verkleidet („Ein Buoch das truog er in der Hand, / Bekleidt wie ein glerter Doktor“ – Kaiser Maximilian I., Teuerdank. Die Geferlichkeiten und eins Teils der Geschichten des loblichen streitbaren und hochberümbten Helds und Ritters Herr Teurdanks. Hrsg. v. Helga Unger. München 1968, 27) den jungen Helden belehren will, wird abgewiesen. Maximilians – richtiges – Vorgehen ist grundverschieden von den falschen Zielen und Mitteln, die Fausts Streben nach Wissen in der „Historia“ kennzeichnen (vgl. oben). 110 Zudem wird das Artes-Wissen abgewertet, indem darauf verwiesen wird, dass zuviel davon andere „werk“ (Weißkunig 63) verhindere, nachdem der junge Weißkönig auch in diesen Disziplinen in kürzester Zeit alle anderen in den Schatten stellt: Er „lernet anfengclichn, die Gramatica, als den grundt der anndern Sechs freyen kunst, darnach die Loigica, darnach die andern funf freyen kunst, vnd wurde in kurtzer Zeit, in denselben Siben freyen kunsten, ubertreffenlichen gelert, Dann Er verstundt, die weiter, wann die durch die geschrifft begriffen sein, des sich seine maister, vnd die gelerten leut verwundertn, Seine maister be-
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könig später mit Musik beschäftigt, ist damit – neben der Funktion des Gotteslobes in Nacheiferung der Figur des biblischen David – der Umgang mit Militärmusik gemeint, „in nachfolgung kunig Alexanders, mit dem frölichen saitenspil der streitperkait“ (Weißkunig 78). Er eignet sich musikalische Fähigkeiten an, um sie praktisch verwerten zu können 111, was er – wie nicht anders zu erwarten – mit überragendem Erfolg tut. Kein mittelalterlicher oder frühneuzeitlicher Text scheint der neuzeitlichen Darstellung von Sherlock Holmes’ Wissensbeständen in „A Study in Scarlet“ näher als der „Weißkunig“: Wie bei Holmes ist das Wissen des jungen Weißkönigs höchst spezialisiert: In den für ihn und seine Herrschaft notwendigen Disziplinen erweist er sich als unübertrefflicher Meister, praktisch nicht anwendbare Wissensbestände werden rigoros ausgeblendet oder marginalisiert. Auch führt kein anderer Text den Ausbildungsgang des Protagonisten in derart umfassender Breite vor. Maximilians Selbstinszenierung ist dabei vor allem eines: Herrschaftsinszenierung – und die Grundlage dafür, dass der Weißkönig jeden seiner jeweiligen Meister in ihrer eigenen Disziplin mühelos übertrifft, liegt maßgeblich darin, dass er der Herrscher ist. Der Kaiser stellt sich hier selbst als Tausendsassa dar, der nicht nur alles, sondern kraft seines durch Gott legitimierten Status auch alles besser kann. Diese Gottesgnadenherrschaft wird durch zwei Vergleiche mit der Jugendgeschichte Christi bekräftigt. 112 Dass die Parallelisierung insgesamt nicht ‚konsequent durchgehalten‘ wird 113, dürfte wohl Absicht sein. Herausgegriffen werden zwei Episoden: Die außerordentliche Geburt des Heilsbringers, angezeigt im Kometen und dem Bewegen des Kindes im Mutterleib 114, und die Episode vom zwölfjährigen Jesus im Tempel 115. Während die erste Episode betont, dass Maximilian ein Auserwählter Gottes wegten auch, das nit guet oder Nutzlichen were, Ine mit diser lerung weiter zu beladn, dann wann man ainen menschen, mer lernen wil, dann not thuet, das ist ain uberfluß, vnd ain verhinderung annderer werck“ (ebd.). 111 „Die Musik steht ebenso wie die Jagd für den Krieg und für den Dienst an Gott sowie die Abwehr des Widergöttlichen“; Dietl, Zwischen Christus und Tristan (wie Anm.106), 42. 112 Vgl. Cremer, Kindlichait (wie Anm.101), 92; Martin Schubert, Funktionen der Vergangenheit in Maximilians medialer Selbstdarstellung, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 17, 2008/2009, 275–289; hier 276; Wiesflecker, Kaiser Maximilian I. (wie Anm.101), 316. 113 Vgl. Müller, Gedechtnus (wie Anm.101), 147f. 114 Vgl. Cremer, Kindlichait (wie Anm.101), 92; Dietl, Zwischen Christus und Tristan (wie Anm.106), 38; Müller, Gedechtnus (wie Anm.101), 147; Joseph Strobl, Studien über die literarische Tätigkeit Kaiser Maximilian I. Berlin 1913, 33. 115 Cremer, Kindlichait (wie Anm.101), 93; Strobl, Studien (wie Anm.114), 33.
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ist, streicht die andere heraus, dass sich der Auserwählte Gottes durch besondere Weisheit auszeichnet: 116 So wie Jesus die Schriftgelehrten im Tempel belehren kann, belehrt auch der noch jugendliche Weißkönig seine Lehrer – und dies zunächst ebenfalls auf dem Gebiet der Schriftauslegung: „[Er] het darynn kain Rue, vnd lernet in der heiligen Schrifft dermassen, sovil, das Er vil maln seinen meistern frag furleget, die Sy Ime nit verantwurten kundten, wiewol Er in dem rechten grundt der heiligen geschrifft genugsamlichen gelert was, so vbertraff dannoch sein verstandt, den Ime got geben het, die lerung, das mag aus dem genommen werden, das Er seinen maistern dermassn frag furleget, die Sy Ime nit kunden verantwurden“ (Weißkunig 60).
Dass er alles besser kann, wird plausibel gemacht durch den Verweis auf den Heilsbringerstatus des Herrschers. 117 Er wird kraft seines Status zu einer Art „uomo universale“ 118, einem uomo universale, der freilich durch seine Herrschaft nur in den Disziplinen ein Meister ist (und sein will), die seiner Herrschaft nützlich sind. Insgesamt reagiert der Text auf den zunehmenden Wandel der Führungsschicht am Hof bzw. auf die fortschreitende Institutionalisierung von ‚einfachen‘ Bürgern in hochrangigen Hofämtern. 119 Bei diesen Bürgern wird die Gelehrsamkeit häufig als Gegensatz zur adligen Geburt inszeniert, sie „wird zum Ausweis der neuen bürgerlichen Führungselite und rechtfertig ihre Stellung neben dem Adel“. 120 Maximilian beschreitet dabei einen doppelten Weg: Einerseits hebt er sich deutlich von einer Bürgerelite ab, wenn er die Tatsache betont, dass er als Herrscher (und Auserwählter Gottes) qua Geburt besondere Fähigkeiten besitzt, die ihn in jeder Disziplin hervortreten lassen, andererseits grenzt er sich auch von den Adligen ab, wenn erzählt wird, wie er beispielsweise das Aufzäumen von Pferden oder die Sekretärskunst erlernt, Fertigkeiten, die dem adligen Selbstbild noch 116 Wieder werden damit auch hier Weisheit und Wissen zusammengedacht. 117 Vgl. Müller, Gedechtnus (wie Anm.101), 238–250. 118 Vgl. Holleger, Maximilian I. (wie Anm.101), 247; Müller, Gedechtnus (wie Anm.101), 242. 119 „Amtleute bürgerlicher Herkunft gehören schon seit dem 13.Jahrhundert zu den wichtigsten Helfern der fürstlichen Territorialmacht. Um 1500 prägen sie in bis dahin ungekanntem Ausmaß den Regierungsstil und – im Gegensatz zum 17.Jahrhundert – auch das Erscheinungsbild des Fürstenhofes“; Müller, Gedechtnus (wie Anm.101), 34; vgl. Hermann Wiesflecker, Österreich im Zeitalter Maximilians I. Die Vereinigung der Länder zum frühmodernen Staat. Der Aufstieg zur Weltmacht. Wien/München 1999, 13–17. 120 Müller, Gedechtnus (wie Anm.101), 37.
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immer fundamental widersprachen. Mit seinem Bildungskatalog überschreitet Maximilian letztlich die Grenzen auf beiden Seiten, wenn er sich zudem Fertigkeiten aneignet, „die [nicht nur] dem Adel als standeswidrig, [sondern auch] den Gelehrten als inferior galten“. 121 Der Weißkönig als Alleskönner ist ebenfalls kein Experte, aber er unterscheidet sich signifikant von den literarischen Ratgeberfiguren des 13.Jahrhunderts. Sein Alles-Können resultiert gleichermaßen aus seiner Herkunft, die ihm als Herrscher den Heilsbringerstatus sichert, und aus seiner Bildung, bei der das erworbene Wissen sorgfältig ausgewählt und auf praktisch anwendbare Bereiche beschränkt wird. 122 Und trotz seines allesvermögenden Protagonisten ist der „Weißkunig“ ein Text, der die Spezialisierung in einzelnen Disziplinen nicht nur vorstellt, sondern sogar entschieden befürwortet – der junge Weißkönig ist nicht mehr von all-potenten Ratgebern umgeben, sondern von Fachmännern. 123 Diese verschiedenen Experten, mit denen sich der Protagonist misst – die Bergbauspezialisten, die Architekten, die sich mit Befestigungsanlagen beschäftigen, oder die Kanonengießer, die in der Tat über ein so abgegrenztes Spezialwissen verfügen, dass sie es ausschließlich an den Weißkönig weiterreichen – werden vom Weißkönig in ihrer Sonderstellung und mit ihrem verwalteten Sonderwissen wahrgenommen und aus Ausbildungsgründen auch konsultiert. Wenn diese Experten, die sich nun plötzlich geradezu selbstverständlich an diesem literarischen Hof finden, letztendlich vom jungen Weißkönig übertroffen werden, wird der zu etwas, was es prinzipiell überhaupt nicht geben kann: zum ‚All-Experten‘. Unabhängig vom durchaus akzeptierten Expertentum setzt sich damit auch hier das (letztendlich auf die besondere, adlige Geburt zurückzuführende) Ideal des Alleskönners und Alleswissers durch. Dennoch sind die Unterschiede evident: Einmal ist es nicht mehr der Ratgeber, der hier als Allwissender auftritt, sondern der Herrscher selbst, dessen besondere Stellung auch besondere Fähigkeiten 121 Ebd.244. 122 Zudem unterscheidet er sich von den Ratgeberfiguren dadurch, dass sein Alles-Können und seine Meisterschaft in verschiedensten Disziplinen quasi von Anfang an ‚gesetzt‘ sind und sich damit grundlegend von der situativen Abrufbarkeit des Berater-Wissens unterscheiden. 123 Auch die oft erzählte Anekdote um Maximilian, nach der der Kaiser einem Adligen, der sich weigerte, die Leiter des malenden Dürer zu halten, entgegnete, Adlige könne er jeden Tag machen, einen Dürer aber nicht, macht ja – unabhängig von ihrem historischen Wahrheitsgehalt – ebenfalls deutlich, dass Maximilian das besondere Wissen oder die besonderen Fertigkeiten wenigstens teilweise über althergebrachte Werte stellte. Vgl. Wiesflecker, Kaiser Maximilian I. (wie Anm.101), 358, sowie Müller, Gedechtnus (wie Anm.101), 254–259.
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fordert, andererseits ist das ‚Allwissen‘ kein unspezifisch-willkürliches mehr, das situations- und handlungsgebunden aufscheint, wie dies bei den Ratgeberfiguren der Fall ist, sondern ein klar definiertes, technisch durch den Bildungsgang gesichertes und konkret benennbares. Es ist nicht mehr das Ideal des alterserfahrenen Weisen, sondern das Ideal des gebildeten uomo universale, das für das Menschenbild der Renaissance und des Humanismus maßgeblich ist. ‚Literarisches Expertentum‘ bzw. die Darstellung und kritische Verhandlung von Experten, Expertentum und Expertenwissen in der (erzählenden) Literatur des Mittelalters ist – so zeigt die vorliegende ‚Spurensuche‘ – als Phänomen nur schwer zu fassen. 124 Dass die Literatur des Mittelalters insgesamt nur wenige Expertenfiguren kennt und dass anscheinend erst mit dem Beginn der Frühen Neuzeit ein deutlicher Umschwung in der Reaktion auf die neuen Bildungssysteme und Prozesse der Wissensspezialisierung zu verzeichnen ist, muss nicht unbedingt bedeuten, dass es eine Institutionalisierung von Expertentum und Systematisierungen von Expertenwissen erst ab dem Spätmittelalter gegeben hat. Wenn solche neuartigen Wissenskonzepte und Expertenmodelle bereits im frühen oder hohen Mittelalter existierten (diese Frage zu klären ist in erster Linie Sache der Historiker) 125, dann ist zu konstatieren, dass das ‚System‘ Literatur anscheinend auf derartige gesellschaftliche und soziale Veränderungen und Neuerungen nur sehr langsam reagiert. Die erzählende Literatur hält über erstaunlich lange Zeit das jeweils unterschiedlich ausgeprägte Ideal des (alles) Wissenden hoch. 126 Aber darin kommt, und dies wäre weiter zu ver-
124 Dennoch kann eine solche ‚Spurensuche‘ fruchtbar sein, dann nämlich, wenn sie – zumindest in Ansätzen – eine Zugriffsmöglichkeit auf die spezifische Poetik oder Faktur des jeweiligen Textes ermöglicht und damit eine neue Interpretationsperspektive anbietet; das hat sich etwa in der Beschäftigung mit der „Historia von D. Johann Fausten“, beim „Weißkunig“, aber auch beim „Pfaffen Amis“ gezeigt. 125 Diese Fragestellung ist ein zentraler Aspekt des Göttinger Graduiertenkollegs „Expertenkulturen des 12. bis 16.Jahrhunderts“ (vgl. Anm.21). 126 Dass der Alles-Wissende zunächst bevorzugt wird und anscheinend weniger in der Kritik steht als der Experte, mag dabei vielleicht zunächst erstaunen, da auch der Alles-Wissende nur eine Randfigur der Gesellschaft ist. Sein Wissen aber ist unspezifisch, während es beim Experten gerade die strikte Spezialisierung zu sein scheint, die den „cold-blooded“ Detektiv Holmes (vgl. Doyle, A Study in Scarlet [wie Anm.1], 5), der seine Expertise nach eigenen Angaben einer weitgehenden Emotionslosigkeit schuldet („whatever is emotional is opposed to that true cold reason which I place above all things“ – Sir Arthur Conan Doyle, The Sign of Four, in: The Complete Sherlock Holmes [wie Anm.1], 172) ebenso wie den hochspezialisierten Weißkönig zu nicht gerade ‚sympathischen‘ Figuren macht. Dass Holmes trotzdem eine so große Beliebtheit erlangt hat, liegt – neben der Darstellung seiner Exzentrik und seiner ‚Fehler‘ – nicht zuletzt daran, dass er unbeachtet des engen Wissenskanons, der ihm in „A Study in Scarlet“ zugeschrieben wird, in den
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folgen, vielleicht nur das Missbehagen gegenüber den neuen Wissensdifferenzierungen und Institutionalisierungen sozialer Handlungsrollen zum Ausdruck, womit auch darin eine Form der Expertenkritik zu sehen wäre. Holmes zieht sich zuletzt aus seiner Laufbahn als Detektiv und damit aus seiner Expertenrolle zurück, nachdem er – mit Watsons literarischen Darstellungen seines Expertentums unzufrieden – selbst an dieser gescheitert ist. 127 Er lebt als gesellschaftlicher Außenseiter „the life of a hermit“ als Imker. 128 Dass er dabei in kürzester Zeit zum Experten für Bienenzucht wird, indem er das Buch „Practical Handbook of Bee Culture, with Some Observations upon the Segregation of the Queen“ veröffentlicht 129, ist eine feine ironische Pointe von Doyle, die zum Ausdruck bringt, dass der Experte allen Bemühungen zum Trotz seiner angestammten Rolle anscheinend niemals entkommen kann.
späteren Geschichten ein doch etwas breiteres Interessengebiet aufzuweisen hat. Vgl. Didierjean/Gobet, Sherlock Holmes (wie Anm.2), 7. 127 Vgl. Sir Arthur Conan Doyle, The Adventure of the Blanched Soldier, in: The Complete Sherlock Holmes (wie Anm.1), 1179. 128 Sir Arthur Conan Doyle, His Last Bow, in: The Complete Sherlock Holmes (wie Anm.1), 1152. 129 Ebd.
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Teuflische Rhetorik vor dem Gericht des Herrn Verhandlungen zwischen Recht und Literatur am Beispiel von Ulrich Tenglers „Laienspiegel“ von Hartmut Bleumer
I. Verhandlungen zwischen Rechts- und Literaturwissenschaft? Die folgenden Überlegungen zielen auf ein transdisziplinäres Experiment zwischen Rechtsgeschichte und Literaturwissenschaft. Sie bemühen sich damit um zwei Wissenschaftsmentalitäten, die zusammenzubringen deshalb so attraktiv sein dürfte, weil sie sich in höchst auffälliger Weise spiegelbildlich zueinander verhalten. In dieser Spiegelbildlichkeit scheint nämlich jede Disziplin eine latente Implikation ihres Gegenübers auszuspielen, was insgesamt heißen könnte, dass sich zwischen juristischem und literaturwissenschaftlichem Diskurs eine Denkfigur konstituiert, die hier wie dort zwar unterschiedlich akzentuiert wird, eigentlich jedoch eine gemeinsame ist. Wissenschaftsgeschichtlich ist es gewiss nicht überraschend, eine solche gemeinsame Denkfigur zu postulieren. Solange der Weg in die Juristenfakultät durch die Artistenfakultät hindurch führt, bleibt die Bezogenheit von juristischer Rhetorik und Hermeneutik auf die Möglichkeiten der Poetik unproblematisch und selbstverständlich. Damit ist die strukturelle Gemeinsamkeit der Jurisprudenz mit den Disziplinen, aus denen später die Literaturwissenschaft werden wird, noch kein eigenes Thema: Sie bleibt unauffällig. Erst durch die weitergehende disziplinäre Spezialisierung verliert die gemeinsame Wissensfiguration ihr Selbstverständnis. Und das heißt: Gerade durch die Distanz der Diskurse wird die sich zwischen ihnen aufspannende Denkfigur überhaupt erst einer genaueren Beobachtung zugänglich. 1 Darum könnte man 1 Vgl. die theoretischen Annäherungen in Manfred Fuhrmann/Hans Robert Jauß/Wolfhart Pannenberg (Hrsg.), Text und Applikation. Theologie, Jurisprudenz und Literaturwissenschaft im hermeneutischen Gespräch. (Poetik und Hermeneutik, Bd. 9.) München 1981, hier mit Blick auf den methodischen Schwer-
oldenbourg DOI 10.1524/9783486717952.155
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über sie ein eigenes Forschungsfeld konturieren, das sich im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahren zwar herausbildet, in der Mediävistik aber überhaupt erst zu konstituieren wäre. Dazu wäre an das sogenannte ‚Law and Literature-Movement‘ im englischsprachigen Raum anzuschließen 2, denn es ginge dann nicht mehr nur um die traditionelle Frage vom Ort des Rechts in der Dichtung oder der Dichtung im Recht, die in der Mediävistik seit Jakob Grimm bekannt ist und vielfältig ausdifferenziert wurde. 3 Vielmehr müsste im transdisziplinären Austausch nach den lite-
punkt der folgenden Überlegungen vor allem der Diskussionsbeitrag von Reinhart Herzog, Zum Verhältnis von Norm und Narrativität in den applikativen Hermeneutiken, 435–455. Als seltenes Beispiel für die interessierte Behandlung der juristischen Hermeneutik aus literaturwissenschaftlicher Sicht Eberhard Lämmert, Zum Auslegungsspielraum von Gesetzestexten, in: Helmut Brackert/Jörn Stückrath (Hrsg.), Literaturwissenschaft. Grundkurs 1. Reinbek bei Hamburg 1981, 90–105; Vgl. dagegen aus juristischer Perspektive die Beschreibung des historischen Übergangs der juristischen in die allgemeine Hermeneutik durch Jan Schröder, Entwicklungstendenzen der juristischen Interpretationstheorien 1500 bis 1850, in: Jörg Schönert/Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen. (Historia Hermeneutica, Series Studia, Bd. 1.) Berlin/New York 2005, 203–219, der für die juristische Hermeneutik als Abstiegsweg angesehen wird (219). 2 Vgl. die beiden Eckpositionen: einerseits das Studienbuch von James Boyd White, The Legal Imagination. Abridged Edition. Chicago/London 1985 (zuerst 1973); andererseits die Monographie von Richard A. Posner, Law and Literature. Third Edition. Cambridge/London 2009 (zuerst 1988), XII–XIV mit einer einleitenden Skizze zur internationalen Expansion des Forschungsfeldes. Daraus sei nur aus literaturwissenschaftlicher Sicht hervorgehoben Peter Brooks, Troubling Confessions. Speaking Guilt in Law and Literature. Chicago/London 2000. Als Import der amerikanischen Anregungen ist der kursorische Überblick bei Klaus Lüderssen, Produktive Spiegelungen. Recht in Literatur, Theater und Film. (Juristische Zeitgeschichte, Abteilung 6: Recht in der Kunst, Bd. 12.) 2., erw.Aufl. Baden-Baden 2002, hier besonders der Abschnitt „Methodologische Grundlagen“, 3–85, wirksam geworden. Unter den verschiedenen Forschungsbilanzen vgl. zusammenfassend: Birgit Maria Lachenmaier, Die Law as Literature-Bewegung. Entstehung, Entwicklung und Nutzen. (Schriften zur Rechtswissenschaft, Bd. 98.) Berlin 2008, sowie Hartmut Bleumer, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Recht und Literatur. Unter Mitarb. v. Susanne Kaplan. (Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, H. 163.) Stuttgart/Weimar 2011, 5–17. 3 Vgl. das klassische Plädoyer für den gemeinsamen sittlichen Ursprung von Poesie und Recht am Beispiel von Sprache, Rechtsformeln und -symbolen bei Jacob Grimm, Von der Poesie im Recht, in: ders., Kleinere Schriften. VI. Recensionen und vermischte Aufsätze. 3. Teil. Berlin 1882, Ndr. Hildesheim 1965 (zuerst 1815), 152–191. Für die germanistische Mediävistik die älteren Gesamtdarstellungen von Erich Klibansky, Gerichtsszene und Prozeßform in erzählenden deutschen Dichtungen des 12.–14.Jahrhunderts. (Germanische Studien, Bd. 40.) Berlin 1925; Friedrich Wilhelm Strothmann, Die Gerichtsverhandlung als literarisches Motiv in der deutschen Literatur des ausgehenden Mittelalters. (Deutsche Arbeiten der Universität Köln, Bd. 2.) Jena 1930; daneben als Materialdurchgang Hans Fehr, Das Recht in der Dichtung. (Kunst und Recht,Bd. 2.) Bern o.J. [1931], und das Gegenstück: ders., Die Dichtung im Recht. (Kunst und Recht, Bd. 3.) Bern 1936. Vorausgehend als früher rechtsgeschichtlicher Überblick Roderich von Stintzing, Geschichte der populären Literatur des römisch-kanonischen Rechts in Deutschland am Ende des fünfzehnten und im An-
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rarischen Epistemologien im juristischen und den juristischen Epistemologien im literarischen Diskurs gefragt werden – und dies in historisch-systematischer Hinsicht. Anstatt dazu ein theoretisches Elaborat vorzustellen, sei an dieser Stelle die Relevanz dieser erweiterten Fragestellung zum Verhältnis von Recht und Literatur über eine Beobachtung angedeutet, die sich offenbar immer dort einstellt, wo Juristen und Literaturwissenschaftler in ein Gespräch über ihre Gegenstände eintreten. Pointiert gesagt, hat es für Literaturwissenschaftler den Anschein, als ob Juristen auf eine faszinierende Weise anders denken. Umgekehrt sieht es dafür aus der Sicht mancher Juristen so aus, als ob Literaturwissenschaftler über geradezu unerlaubtproduktive Imaginationsstrukturen verfügen. Gerade weil hinter diesen wechselseitigen Eindrücken eine gemeinsame Grundprozedur des Interpretierens zu stecken scheint, kann es in dem Gespräch zwischen den Disziplinen zu erbitterten Auseinandersetzungen kommen, wo die gemeinsame Teilhabe an dieser Grundfigur als Grenzverletzung interpretiert wird. Nicht zuletzt im Streit um die Grenze zwischen rechts- und literaturwissenschaftlichem Diskurs taucht damit aber eine Gemeinsamkeit auf, die der institutionellen Abgrenzung sowohl theoretisch wie auch historisch vorausliegt. „Don’t know much about the middle ages“ – dies könnte man einer frühen Polemik Stanley Fishs zufolge jedenfalls denjenigen auch heute noch entgegenhalten, die im Interesse der institutionellen Eigenständigkeit des Rechts deren historische Bedingtheit ebenso übersehen, wie sie den theoretischen Zusam-
fang des sechszehnten Jahrhunderts. Leipzig 1867. In späterer Zeit den umfassenden Artikel von Klaus Kanzog, Art.„Literatur und Recht“, in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. 2.Aufl. Bd. 2. Berlin/ NewYork 1965, 164–195, der in der Neubearbeitung dieses Handbuches als „Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft“ keine Nachfolge mehr gefunden hat. Ferner den Band: Ulrich Mölk (Hrsg.), Literatur und Recht. Literarische Rechtsfälle von der Antike bis in die Gegenwart. Göttingen 1996, hier besonders die Beiträge von Fidel Rädle, Wolfgang Sellert und Ruth Schmidt-Wiegand. Dass der Herausgeber des Bandes auf die „Law and Literature“-Debatte deshalb von ferne abgrenzend verweist, weil er deren Potential auf die Rechtswissenschaft begrenzen möchte, während er für die deutsche Forschungsentwicklung das interdisziplinäre Gespräch prinzipiell als realisiert ansieht, ist festzuhalten (Ulrich Mölk, Vorwort, 9–12, hier 9). Vgl. ferner für die germanistische Mediävistik die Arbeiten von Rüdiger Schnell, bes. ders., Rechtsgeschichte, Mentalitäten und Gattungsgeschichte. Zur literarischen Autonomie im Mittelalter, in: Joachim Heinzle (Hrsg.), Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991. (Germanistische Symposien Berichtsbände, Bd. 14.) Stuttgart/Weimar 1993, 401–430; und zur Forschungsgeschichte den Artikel aus dem generell einschlägigen Oeuvre von Ruth Schmidt-Wiegand, bes. dies., Art.„Recht und Dichtung“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 4. Berlin 1990, 232–249.
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menhang bestreiten, der aktuell verdeckt sein mag, im historischen Prozess zwischen Mittelalter und Neuzeit jedoch gut sichtbar wird. 4 Dieser Hinweis muss hier ausreichen, um den folgenden Versuch vorläufig zu begründen, der dazu anregen möchte, juristische Rationalität und poetische Produktivität in Recht und Literatur des Mittelalters systematisch-gegenläufig zu verhandeln. Zu diesem Zweck wären zwei unterschiedliche Lektürestrategien zu vertreten. Ein solcher doppelter Ansatz sowohl aus literaturwissenschaftlicher wie juristischer Sicht hat insbesondere mit Blick auf das Expertenthema seinen guten Grund: Wie es scheint, wird nämlich gerade der Experte zwischen Recht und Literatur in besonderer Weise anschaulich. Umgekehrt muss dieser Typus damit auch besonders dazu geeignet sein, das Verhältnis von Recht und Literatur zu behandeln.
II. Die Geburt des Experten aus dem Geiste des Rechts? – Kritik und Inszenierung Der Experte darf als signifikantes Phänomen bei den kulturellen Umstellungsprozessen auf dem Weg in die sogenannte Wissensgesellschaft gelten: Diese Annahme vorausgesetzt, muss die Kritik am Experten für diese Umstellungsprozesse besonders aufschlussreich sein. Sucht man nach Beispielen für eine solche Expertenkritik, so fällt bald auf, dass gerade der Expertentypus des Juristen eine paradigmatische Funktion für das Expertenthema besitzt. 5 Die Kritik am Juristen ist seit dem Spätmittelalter sprichwörtlich, wobei das Sprichwort den Vorwurf an den Rechtsexperten bereits höchst pointiert auszudrücken vermag: Weil sich die Sentenz „Jurist, böser Christ“ zur Variante „Der beste Jurist, der schlimmste Christ“ 6 zuspitzen lässt, kreuzen sich nämlich zwei unterschiedliche Ansprüche, die im Typus des Juristen
4 Vgl. die Argumentationslinie in Stanley Fish, Don’t Know Much about the Middle Ages: Posner on Law and Literature, in: The Yale Law Journal 97/5, 1988, 777–793. 5 Vgl. zur Extension des Begriffs des ‚Rechtsexperten‘ für das folgende Eva Schumann, Beiträge studierter Juristen und anderer Rechtsexperten zur Rezeption des gelehrten Rechts, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 2007, 443–461, hier 447f. 6 Vgl. zum Aussagewert des Sprichworts für rechts- und institutionsgeschichtliche Positionsveränderungen des Juristen seit dem 13.Jahrhundert die Skizze von Michael Stolleis, Juristenbeschimpfung, oder: Juristen, böse Christen, in: Theo Stammen/Heinrich Oberreuter/Paul Mikat (Hrsg.), Politik – Bildung – Religion. Hans Maier zum 65. Geburtstag. Paderborn u.a. 1996, 163–170. Die Belege und weiteren Belegsamm-
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offenbar in besonderer Weise konfligieren. Rechtsexperten, die ihr Geschäft zur Perfektion vorantreiben und beanspruchen können, in ihrer Disziplin die ‚Besten‘ zu sein, laufen zugleich Gefahr, als gänzlich unmoralisch, d.h. unchristlich und böse zu erscheinen. Kurz: Am Beispiel des Rechtsexperten tritt jene Spaltung zwischen technischem Verfügungswissen einerseits und Moral bzw. Orientierungswissen andererseits zutage, auf deren Basis die ‚Erfindung‘ des Experten als Signum der neuzeitlichen Wissensgesellschaft proklamiert werden konnte. 7 Der besondere Aussagewert der Juristenkritik für das Expertenthema wird vielleicht noch deutlicher, wenn man weiter bedenkt, dass der Experte erst durch den juristischen Diskurs ausdrücklich auf seinen Begriff kommt. Dabei ist die Wortgeschichte des deutschen Lehnwortes ‚Experte‘ gewiss nicht mit der Begriffsgeschichte des dahinter stehenden Konzeptes zu verwechseln, gleichwohl ist sie deren Symptom. Der wortgeschichtliche Befund lautet: Das Wort ‚Experte‘ kommt erst im 18.Jahrhundert auf, es stammt nicht etwa aus dem Lateinischen, sondern aus dem Französischen und bezeichnet den Gutachter vor Gericht, mithin den unabhängigen Fachmann im juristischen Kontext. 8 Das sich im Wort abzeichnende Begriffskonzept ist freilich älter, denn es zeigt sich: Nicht allein der Rechtsgutachter ist ein Experte, sondern jeder Sachverständige, der als unabhängige Wissensinstanz im juristischen Urteilsfindungsprozess eingesetzt wird. Das heißt genauer: Der Experte entsteht nicht einfach in der Jurisdiktion, sondern sein Begriff ergibt sich durch eine bestimmte Urteilsstruktur, die dann insbesondere in juristischen Entscheidungsverfahren zur Anwendung kommt. Dieser Unterschied zwischen der juristischen
lungen sind zugänglich über: Thesaurus Proverbiorum Medii Aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters. Hrsg. v. Kuratorium Singer der Schweizerischen Akademie der Geistesund Sozialwissenschaften. Bd. 6. Berlin/New York 1998, 392–395, vgl. ferner den Artikel von Maximilian Herberger, Art.„Juristen, böse Christen“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 2. Berlin/New York 1978, 481–484. 7 Vgl. Jürgen Mittelstraß, Hat Wissenschaft eine Orientierungsfunktion?, in: ders., Wissen und Grenzen. Philosophische Studien. Frankfurt am Main 2001, 13–32; ders., Wissenschaft als Lebensform. Zur gesellschaftlichen Relevanz und zum bürgerlichen Begriff der Wissenschaft, in: ders., Wissenschaft als Lebensform. Reden über philosophische Orientierungen in Wissenschaft und Universität. Frankfurt am Main 1982, 11–36. Vgl. den Ansatz ferner in: ders., Die Möglichkeit von Wissenschaft. Frankfurt am Main 1974. 8 Vgl. zur Wortgeschichte das Lemma „Experte“ in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 8. Stuttgart 1999, 2512f. Vgl. zur Begriffsgeschichte auch Friedrich Landwehrmann, Art.„Experte“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2. Basel 1972, 875f.
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Disziplin in der in ihr verwendeten diskursiven Prozedur ist festzuhalten. Überall dort also, wo in einem Beurteilungsprozess die Instanz eines unabhängigen Sachverstandes postuliert wird, kommt es bereits zum Begriff des Experten. Dabei ist die Unabhängigkeit des Experten paradoxerweise eine abhängige: Sie ist abhängig von der Prozesslogik, die den Experten kreiert. Für den Experten in der Spezifikation des juristischen Diskurses heißt das wiederum: Nur weil das Wort ‚Experte‘ hier erstmalig auftaucht, kann dieser Diskurs durchaus noch keine Exklusivrechte auf das Expertenthema geltend machen. Was diesen Diskurs für das Expertenthema so interessant macht, ist etwas anderes: Es hat den Anschein, als würde die juristische Epistemologie den Expertenbegriff besonders deutlich werden lassen und käme zugleich an ihm zum Vorschein. Denn der Rechtsexperte potenziert noch einmal das Paradox der abhängigen Unabhängigkeit im Kontext des Rechtsfindungsprozesses. Dieser Rechtsfindungsprozess ist damit für den Experten ebenso interessant, wie umgekehrt der Experte für den Prozess signifikant ist. Freilich wird man dann auch für diesen Rechtsfindungsprozess Wort und Begriff des Experten tunlichst auseinander halten müssen. Daher empfiehlt es sich, historisch dort anzusetzen, wo die Gefahr der Verwechslung von Wort und Begriff noch nicht gegeben ist: an der Juristenkritik des Mittelalters und der frühen Neuzeit, also dort, wo der Expertenbegriff bereits immer wieder verhandelt wird, bevor er ins Wort kommt. Im Rahmen der Kritik am Juristen von einer solchen ‚Verhandlung‘ zu sprechen, meint dann sehr genau: Der Rechtsexperte wird in der Juristenkritik zu einer Art Angeklagtem. Er wird zum Teil eines Rechtskasus zweiter Ordnung, in dem sich jenes System selbst beobachtet, das sich seinen Experten geschaffen hat. Denn wie sonst sollte man die Juristenexperten gerecht beurteilen, als mit der Denkweise des Rechts? Was diese rhetorische Frage insinuiert, ist indes nicht nur ein juristisches Prüfungsverfahren, sondern auch ein Dilemma. Den Juristen nach Rechtsmaßstäben zu beurteilen, ist nämlich gewiss fair, aber ebenso zirkulär. Wiederum verallgemeinert ausgedrückt, steht hinter diesem Zirkel das Problem der Selbstbeobachtung des Expertentums. Wenn man das Expertentum, so wie dies Frank Rexroth getan hat 9, unter anderem auf der Grundlage eines systemtheoretischen Ansatzes zu den-
9 Vgl. unter den verschiedenen Beiträgen zum Thema besonders Frank Rexroth, Expertenweisheit. Die Kritik an den Studierten und die Utopie einer geheilten Gesellschaft im späten Mittelalter. (Freiburger mediävistische Vorträge, Bd. 1.) Basel 2008, wo 20f. der Begriff des „Systemvertrauens“ den Angelpunkt bildet.
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ken versucht, dann muss man nämlich zugeben, dass in einer juristischen Selbstbeobachtung des Experten das klassische Problem des Systemdenkens auftaucht: Die Beobachtung eines Systems ist im System selbst nicht möglich. Darum ist es notwendig, einen künstlichen Beobachtungspunkt zu finden, in dem sich das System gleichsam von außen betrachten lässt. Die Möglichkeit solcher Selbstbeobachtung, die dann Kritik und Systemveränderung ermöglicht, hat Niklas Luhmann bekanntlich als „Autopoiesis“ beschrieben. 10 Auf den Rechtsexperten angewandt, lautet dazu die literaturwissenschaftliche These, dass die Rechtsliteratur immer dann die Möglichkeit zu solcher Autopoiesis gewinnt, wenn sie narrativ wird. 11 Für diese These wird ein rein strukturaler Begriff von Narrativität verwendet, der sich also nicht auf Erzähltexte bzw. erzählende Textpassagen beschränkt. Konkret hieße dies demnach: Im Recht entsteht überall dort die Möglichkeit der Selbstbeobachtung, wo Handlungen gemäß des narrativen Dreischrittes aus Anfang, Mitte und Schluss mit seiner besonderen axiologischen Dynamik strukturiert werden. 12 In
Das Problem, dass der Systembegriff nach Niklas Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. 4.Aufl. Stuttgart 2000, gerade für eine historische Hermeneutik Schwierigkeiten macht und damit etwa mit der Sinnbildungsleistung narrativer Strukturen konkurriert, die Rexroth entsprechend kritisch sieht, ist zuzugestehen, aber hier nicht zu vertiefen. Vgl. nur die theoretischen Hinweise bei Harmut Bleumer, Das Vertrauen und die Vertraute – Aspekte der Emotionalisierung von gesellschaftlichen Bindungen im höfischen Roman, in: FMSt 39, 2005, 253–270, Anm.3, sowie unten das Resümee zur Leistung des Erzählens für den Expertenbegriff am Beispiel des Teufelsprozesses. 10 Vgl. den Begriff bei Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main 1984, v.a. 60, sowie die Wiederanwendung auf Kunst oder Poesie: ders., Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1995, 41–48 u. 398f. 11 Vgl. Rolle der Narrativität als Verbindungsglied zwischen Recht und Literatur die Anregungen in Jörg Schönert (Hrsg.), Literatur und Kriminalität. Die gesellschaftliche Erfahrung von Verbrechen und Strafverfolgung als Gegenstand des Erzählens. Deutschland, England und Frankreich 1850–1880. Interdisziplinäres Kolloquium der Forschergruppe „Sozialgeschichte der Deutschen Literatur 1770–1990“. München 15./ 16.Januar 1981. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 8.) Tübingen 1983, dann den konkreten Forschungsschwerpunkt des Bandes: ders. (Hrsg.), Erzählte Kriminalität: Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. Vorträge zu einem interdisziplinären Kolloquium. Hamburg 10.–12.April 1985. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 27.) Tübingen 1991. 12 Vgl. zum axiologischen Problem der strukturalistischen Geschichtskonzeption die für die germanistische Mediävistik wichtige Kritik von Rainer Warning, Formen narrativer Identitätskonstitution im Höfischen Roman, in: Odo Marquardt/Karlheinz Stierle (Hrsg.), Identität. (Poetik und Hermeneutik, Bd. 8.) München 1979, 553–589, vor allem aber die darin nicht berücksichtigten, weiterführenden Lösungsvorschläge von Algirdas Julien Greimas, Actants, Actors, and Figures, in: ders., On Meaning. Selected Writings in Semiotic Theory. Translation by Paul J. Perron and Frank H.Collins. Foreword by Fredric Jameson. Intro-
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diesem Sinne hätte dann etwa ein Prozessverlauf eine narrative Struktur: Es gibt einen Anfangskonflikt, der im Prozessverlauf verhandelt und schließlich in einem Urteil und seiner Vollstreckung beendet werden soll. Darum kann man bis zum Urteil von einem Prozessgeschehen sprechen, durch das Urteil verwandelt sich rückwirkend der gesamte Prozessablauf in eine Prozessgeschichte. Entsprechend kann man aus einem laufenden Prozess berichten, jedoch erst nach dem Abschluss eines Verfahrens von diesem erzählen. 13 Die weiteren Implikationen dieser narrativen Interpretation des juristischen Urteilsprozesses sind hier noch nicht theoretisch zu erörtern, vorerst sei nur noch auf ein Indiz für die Wirksamkeit der Geschichtsstruktur hingewiesen: Wie zur Bestätigung der aus ihr folgenden autopoietischen Möglichkeit systemischer Selbstbeobachtung hat auch der Prozess Zuschauer oder muss in einer sekundären medialen Umsetzung publik werden. Der Prozess dient damit als Modell einer narrativ initiierten Autopoiesis im juristischen Diskurs. Die Folgen dieses Modells liegen auf der Hand: Wo der Experte in einem solchen Prozess auftaucht, wird er automatisch beobachtbar und kann schon damit zum Gegenstand latenter Kritik werden. Prekär wird diese Beobachtungsmöglichkeit freilich erst dann, wenn sich der Experte aktiv in die Narration verstrickt und damit gewissermaßen selbst auf die Anklagebank zu geraten scheint. Will man diesen Effekt der systemischen Selbstbeobachtung mit Hilfe eines typischen juristisch-literaturwissenschaftlichen Übergangsbegriffs fassen, dann müsste man wohl sagen: Wo der Experte zum Teil einer Geschichte wird, können das Expertentum und seine Probleme schon im juristischen Diskurs wie ein eigener Kasus verhandelt werden. 14 Dazu gibt es insbesondere eine Textform, die erkennbar fiktiv und damit geradezu modellhaft autopoietisch ist. Und in ihr kehrt nun das Problem des guten Juristen als schlimmem Christen wieder: im Teufelsprozess.
duction by Paul J. Perron. (Open Linguistics Series.) London 1987, 106–120; ders., Elements of a Narrative Grammar, in: ebd.63–83; ders., A Problem of Narrative Semiotics: Objects of Value, in: ebd.84–105. 13
Vgl. zur terminologischen Orientierung das Modell der Erzählebenen nach Wolf Schmid, zuerst ders.,
Die narrativen Ebenen „Geschehen“, „Geschichte“, „Erzählung“ und „Präsentation der Erzählung“, in: Wiener slawistischer Almanach 9, 1982, 83–110, in der letzten Fassung ders., Elemente der Narratologie. (Narratologia, Bd. 8.) Berlin/New York 2005, bes. 241–272. 14
Vgl. den Begriff des „Kasus“ nach André Jolles, Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch,
Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft, Bd. 15.) 7., unveränd. Aufl. Tübingen 1999, 171–199.
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III. Verhandlungen mit dem Teufel – Erzählung und Rechtspragmatik 1. Die Prozesserzählung – eine literaturwissenschaftliche Lektüre In der Hölle herrscht Krisenstimmung. Die Teufel haben durch Christi Erlösungshandeln die Gewalt über die Menschheit verloren. Durch die Verdammung der Menschen infolge des Sündenfalls hatten sie diese Gewalt zuvor innegehabt, und nun wollen die Teufel das Menschengeschlecht zurück. Aus ihrer feindseligen und missgünstigen Grundhaltung heraus sinnen sie darum auf eine List. Dies führt zu dem Entschluss, die Menschheit bei Gott als dem obersten Richter zu verklagen. Es beginnt ein Prozess, in dem sich die Teufel als ausgesprochene Rechtskenner erweisen. Sie wählen einige von sich als Anwälte aus, und diese werden die Klage gegen die Menschheit im Folgenden formal sehr korrekt vorantreiben. Ob hingegen Gott bzw. Christus als oberster Richter die gleiche Rechtstreue aufweist, ist durchaus zweifelhaft. So setzt Christus den Verhandlungstermin irritierenderweise auf den Karfreitag fest. Schon formaljuristisch ist dieser Termin anfechtbar. Die Teufelsanwälte monieren darum auch ausdrücklich, dass an diesem Feiertag nicht verhandelt werden darf. Literarisch scheinen indes die heilsgeschichtlichen Konnotationen des Karfreitags schwerer zu wiegen, die für das Anliegen der Teufel wenig ermutigend sein dürften: Ob sich nämlich ausgerechnet an jenem Tag, an dem das Urteil des weltlichen Gerichts des Pontius Pilatus an Christus vollstreckt wurde, nun umgekehrt vor einem Gericht Gottes das Erlösungshandeln Christi revidieren lässt, scheint mehr als zweifelhaft. Gleichwohl wird der Karfreitag von Christus als Termin festgelegt. Und sofort gibt es weitere formale Schwierigkeiten: Als nächstes versäumen es die Menschen, fristgerecht zu erscheinen. Doch auch dieser Lapsus der Menschheit nützt den teuflischen Anwälten wenig, denn Christus bestimmt nun kurzerhand Maria zur Anwältin der Menschheit. Natürlich legen die Teufel als gute Juristen auch dagegen Widerspruch ein. Erstens ist Maria mit dem Richter verwandt, was sie als Verteidigerin ausschließt, und zweitens ist sie als Frau auch gar nicht berechtigt, als Prozessvertreterin aufzutreten. Aber auch diese teuflischen Einwände werden durch eine ausgeklügelte Argumentation Mariens entkräftet. So kommt es denn zwischen den teuflischen Anwälten und Maria zu einer ersten Verhandlung, an deren Ende ein Zwischenurteil steht, das auch vor dem theologischen Hintergrund der Rolle Marias als Fürsprecherin der Sünder nicht sehr überraschend wirkt: Christus weist die Kla-
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ge der Teufel auf Restitution ihres Verlustes ab. Immerhin wird den Teufeln aber das Recht eingeräumt, weiter zu prozessieren. Daraufhin kommt es erst zur Hauptklage, in der nun die teuflischen Anwälte die neuerliche Verdammung der Menschen fordern. Doch obwohl man sich jetzt in der entscheidenden Prozessphase befindet, wird es in formaler Hinsicht für die Teufel nicht besser. Während die teuflischen Anwälte sich weiter äußerst korrekt an die Spielregeln des Rechts halten, argumentiert Maria nicht nur gegen sie, sie trumpft auch noch rhetorisch mit einem neuen Register auf. Sie fällt vor Gott bzw. Christus auf die Knie und hält so Fürbitte für die Menschheit. Die Wirkung der Rhetorik der Mutter auf den Sohn zeigt sich sofort: Marias Rede bewegt Christus so sehr, dass er die Teufel anweist zurückzuweichen. Natürlich legen die versierten Juristen gegen eine solche unlautere emotionale Beeinflussung des Richters durch seine Verwandte Widerspruch ein. Doch obwohl die Teufel sich weiterhin präzise an alle juristischen Spielregeln halten, gibt es für sie vor diesem Gericht offenkundig nichts zu gewinnen. Schließlich wird auch die Hauptklage abgewiesen, und Christus verdammt nicht, wie von den Teufeln verlangt, die Menschen, er verdammt die Teufel in die Hölle zur ewigen Pein. Das Ende des Prozesses erweist dann nochmals in aller Deutlichkeit den ambivalenten Charakter der Darstellung. Denn einerseits sichert man das Ergebnis des Rechtsverfahrens auf formaljuristisch korrekte Weise: Das Urteil wird schriftlich fixiert, durch Zeugen bestätigt und unterzeichnet. Andererseits endet die Darstellung des Prozesses jedoch auch mit symbolischen Handlungen, die in die geistliche Literatur verweisen: mit dem Lamento der Teufel, einem Lobgesang auf Maria und einem Lob der göttlichen Trinität durch die Engel als Ausklang. Für den juristischen Laien erscheint der soeben geschilderte Prozess der Teufel gegen die Menschheit wie eine literarische Erzählung. Der Prozess findet sich jedoch in dem „erfolgreichsten Versuch in der ersten Hälfte des 16.Jahrhunderts, ein umfassendes deutsches Rechtsbuch für die alltäglichen Bedürfnisse der zivil- und strafrechtlichen Amtspflege durch Ungelehrte, im ‚Regiment‘ zum Handeln verpflichtete juristische ‚Laien‘ zu schaffen“ 15: im „Laienspiegel“ Ulrich Tenglers. Dessen Karri-
15
Erich Kleinschmidt, Art.„Tenngler, Ulrich“, in: Burghart Wachinger u.a. (Hrsg.), Die deutsche Literatur
des Mittelalters. Verfasserlexikon. Zweite, völlig neu bearb.Aufl. Bd. 9. Berlin/New York 1995, 690–696, hier 692; fußend auf dem grundlegenden Beitrag von dems., Das ‚Epitaphium Ulrici Tenngler‘, ein unbekannter Nachruf auf den Verfasser des ‚Laienspiegels‘ von 1511, in: Daphnis 6, 1977, 41–64. Zu den dem-
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ere dokumentiert schon die Druckgeschichte. Er wurde zuerst 1509 bei Johann Rynmann und Johann Othmar in Augsburg gedruckt, dann sehr rasch noch einmal in überarbeiteter Form als „Neuer Laienspiegel“ 1511 und 1512 vorgelegt. In Konkurrenz zur Augsburger Offizin druckt Mathias Hupfuff in Straßburg 1510 den „Laienspiegel“ nach, auf die Ausgabe des „Neuen Laienspiegels“ reagieren dann wiederum Hupfuffs Nachdrucke von 1511 und 1514. Hinzu kommen noch neun weitere Drucke von anderen Straßburger Offizinen. Wenn man dann noch die nachgewiesene Benutzung des „Laienspiegels“ in mehreren städtischen Verwaltungen bedenkt 16, hat es ganz den Anschein, dass der Text auch seinen Adressatenkreis genau erreicht hat. Sein „Teütsch buechlin genant Layenspiegel“ (2v) wendet sich nämlich an nicht studierte, womöglich nicht einmal lateinkundige Rechtspraktiker: an die „schlechten Layen / es seyen weltlich richter / vorgeer / beysitzer / urtaylsprecher / radtgeben / schreyber / clager / antwurter / zeügen / gewalthaber / redner vnd ander gerichtz / oder radts person“ (12v). 17 Der Autor Ulrich Tengler musste wissen, worauf es in der Rechtspraxis ankam. 1447 in Rottenacker in der Nähe von Ehingen an der Donau geboren, hatte er wie der intendierte Benutzer seines Buches nicht studiert. Er besuchte zunächst die Lateinschule in Ehingen und zuletzt, nach einer Zeit als wandernder Scholar, im fortgeschrittenen Alter von 22 Jahren, als Chorschüler die Stiftsschule in Blaubeuren. Vermutlich durch eine entsprechend günstige Heirat gelangte er in das Amt des Kastengegenschreibers in Heidenheim, stand außerdem als Rentschreiber im Dienste des bayerischen Herzogs Ludwig IX. und wurde nach dessen Tod 1479 Ratsschreiber in Nördlingen. Dieses Amt verließ Tengler 1483 und wurde u.a. 1485 Kastner in Heinächst zu erwartenden Korrekturen des bisherigen Forschungsstandes vgl. vorerst Steffen Seybold, Tagungsbericht „500 Jahre Tenglers ‚Laienspiegel‘ (1509) – Ein Rechtsbuch zwischen Humanismus und Hexenwahn. 04.03.2009–06.03.2009, Heidelberg, in: H-Soz-u-Kult, 20.04.2009, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2579 (18.1.2012). Aus dem anschließenden Sammelband ist für die folgende Argumentation zu verweisen auf Eva Schumann, Von „Teuflischen Anwälten“ und „Taschenrichtern“. Das Bild des Juristen im Zeitalter der Professionalisierung, in: Andreas Deutsch (Hrsg.), Ulrich Tenglers „Laienspiegel“ – Ein Rechtsbuch zwischen Humanismus und Hexenwahn. (Akademiekonferenzen, Bd. 11.) Heidelberg 2011, 431–474. 16 Wolfgang Schmitz, Der Teufelsprozeß vor dem Weltgericht nach Ulrich Tenglers „Neuer Layenspiegel“ von 1511 (Ausgabe von 1512). Hrsg. u. eingel. von dems. Köln 1980, 17. 17 Zitiert wird nach dem Druck VD16 T 342: Ulrich Tengler, Der neü Layenspiegel Von rechtmässigen ordnungen in Burgerlichen und peinlichen Regimenten; mit Addition; auch der guldin Bulla, Künigklich Reformation, Landfriden; Auch Bewärung gemainer recht un[d] andern antzaigen, Augspurg 1512. München, BSB, Rar. 2311 (Digitalisat unter http://daten.digitale-sammlungen.de/~db//0001//bsb00011171/images/).
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denheim und 1496 Landvogt in Graisbach. 1511 dürfte Tengler gestorben sein. Er mag sein Buch am Ende seiner Karriere aus der eigenen praktischen Erfahrung heraus zusammengestellt haben. Am pragmatischen Anspruch von Tenglers Handbuch kann auch von seiner Anlage her kein Zweifel sein. Schon das Texterschließungsinstrumentarium zielt ganz auf pragmatische Belange: Ein ausführliches Register aller Überschriften mit ihren Seitenzahlen geht dem Haupttext voran. Es macht die Gliederung des Buches leicht zugänglich, das sich im Grundaufbau an Durantis „Speculum judicale“ orientiert. Der „Laienspiegel“ hat dementsprechend drei Teile. Der erste (fol.Irff.) gilt den an Rechtsverfahren beteiligten Personen, der zweite Teil (fol.LXXXIIrff.) liefert Elemente eines zivilen Prozessrechts, wobei hier zahlreiche Musterformulare zur praktischen Anwendung geboten werden. Der dritte handelt von „peinlichen sachen“ (fol.CLIIrff., Zitat fol.CLIIv), d.h. es geht um den Bereich des Strafrechts. Im Rahmen dieser Gliederung kompiliert Tengler u.a. Elemente des „Schwabenspiegels“, des „Klagspiegels“ und der „Bambergischen Halsgerichtsordnung“ – und bietet eben auch am Ende des zweiten Abschnittes die Erzählung vom besagten Teufelsprozess. Dass der Text in der Erstausgabe mit 30 Holzschnitten versehen ist, die einzelne Aspekte der Texte artifiziell visualisieren, unterstreicht den repräsentativen Anspruch des Buches, dessen Pragmatik die Differenz zwischen Recht und Poesie damit augenscheinlich nicht kennt. 2. Forschungsprobleme zwischen Rechts- und Literaturwissenschaft Weil auch die Prozesserzählung trotz ihres auffälligen narrativen Eigenwertes ebenfalls einem pragmatischen Anspruch dient, wird sie genau wie die übrigen Abschnitte des „Laienspiegels“ in ihren einzelnen Passagen über das Register erschlossen. Dennoch hat sich die rechtsgeschichtliche Forschung mit dem Abschnitt des Buches bisweilen schwergetan und die Erzählung wie einen Fremdkörper behandelt. Selbst der Herausgeber und Übersetzer des Teufelsprozesses hat den Passus lediglich als „literarisches Beiwerk des zweiten Teils“ 18 bezeichnet, und dies, obgleich die pragmatische Verwendung von Teufelsprozessdarstellungen in Rechtskontexten bereits vor Tengler Tradition hat. 19 Diese Forschungsschwierigkeit der histori-
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Schmitz, Der Teufelsprozess (wie Anm.16), 40.
19
Vgl. zur Kritik dieser Urteile Norbert H.Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte. Zu Überlieferung, Iko-
nographie und Gebrauchssituation des deutschen „Belial”. (Münchener Texte und Untersuchungen zur
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schen Rechtswissenschaft ist deshalb so bemerkenswert, weil sie in der Literaturwissenschaft ebenfalls, und zwar unter genau umgekehrten Vorzeichen auftritt. Dies gilt für den Umgang mit dem Genre des Teufelsprozesses insgesamt: In den Fokus der Literaturwissenschaft konnten diese Prozesserzählungen durch den sogenannten ‚erweiterten Literaturbegriff‘ geraten, der sich auch auf die pragmatische Schriftlichkeit erstreckte. 20 Die historischen Erkenntnisfortschritte, die in der Germanistik durch diesen Literaturbegriff angeregt wurden, sind kaum zu überschätzen. Dies beginnt mit der enormen philologischen Erschließungstätigkeit, die er ins Werk gesetzt hat, und findet gegenwärtig in den Einsichten in die tiefgreifenden medialen Wechselwirkungen von Pragmatik und Ästhetik der ‚Texte vor dem Zeitalter der Literatur‘ ihren Höhepunkt. 21 Dennoch wird man zugeben müssen, dass die literaturwissenschaftliche Forschung zu den Teufelsprozessen durch den besagten Paradigmenwechsel in eine irritierende Schieflage geraten ist: Trotz der sorgfältigen Materialaufarbeitungen und den pragmatischen Kontextualisierungen der Teufelsprozesse geriet die Frage nach deren ästhetischer Wirkung in den Hintergrund. Insgesamt bleibt merkwürdigerweise der rechtlich-pragmatische Anspruch der Erzählung in der Rechtswissenschaft ebenso schwierig, wie der ästhetische Anspruch des Genres ‚Teufelsprozess‘ in der Literaturwissenschaft unterrepräsentiert erscheint. 22 Tengler kennt sich im Kontext des Genres gut aus und weiß offenkundig beide Ansprüche zu bedienen: Er verwendet für seinen Teufelsprozess den „Processus deutschen Literatur des Mittelalters, Kommission für deutsche Literatur des Mittelalters der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 80.) München 1983, 4–15. Zum pragmatischen Anspruch des Genres grundsätzlich Schumann, Von „Teuflischen Anwälten” (wie Anm.15), hier Abschnitt II, an deren Skizze deutlich wird, dass die rechtsgeschichtlichen Begriffe von Pragmatik und ‚Pragmatikerliteratur‘ für den sogenannten ‚erweiterten Literaturbegriff‘ in der germanistischen Mediävistik bzw. seine jüngeren Auflösungen unter dem Stichwort der ‚Medialität‘ (s.u.) interessant sein müssten. 20 Als Ausgangspunkt Kurt Ruh, Überlieferungsgeschichte mittelalterlicher Texte als methodischer Ansatz zu einer erweiterten Konzeption der Literaturgeschichte, in: ders. (Hrsg.), Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung. (Texte und Textgeschichte, Bd. 19.) Tübingen 1985, 262–272. 21 Vgl. dazu besonders die Ansätze bei Christian Kiening, Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur. Frankfurt am Main 2003; zu den verschobenen Forschungsparametern und -desideraten mit kritischer Tendenz Ursula Peters, „Texte vor der Literatur“? Zur Problematik neuerer Alteritätsparadigmen der Mittelalter-Philologie, in: Poetica 39, 2007, 59–88; summarischer Christian Kiening, Medialität in mediävistischer Perspektive, in: Poetica 39, 2007, 285–352. 22 Vgl. den umfassenden Artikel von Gustav Bebermeyer, Art.„Teufelsliteratur“, in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 4. Berlin/New York 1984, 367–403. Die hier festgestellten erheblichen Forschungsdesiderate bestehen fort.
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Sathanae contra genus humanum“ von Bartolus de Saxoferrato, den er frei bearbeitet 23; er bezieht sich daneben aber auch ausdrücklich auf den „Belial“ des Jacobus von Teramo, dessen Inhalt im Laufe des Verfahrens zusammengefasst und wie in einer Fortsetzungserzählung ergänzt wird. Die Erzählung tut so, als ob es sich bei diesem Teufelsprozess um einen früheren Rechtsstreit handelt, von dem der aktuelle Prozess nun abzusetzen sei. Und so wie diese beiden lateinischen Texte den Teufelsprozess als ästhetisch einprägsames Musterbeispiel für Prozessordnungen verwenden, so scheint auch für Tengler der pragmatische Anspruch deutlich, der wiederum ästhetisch markiert wird: nicht nur durch die formale Integration der Erzählung in das Gesamtwerk, sondern auch durch die Tatsache, dass in der Bearbeitung des „Laienspiegels“ zum „Neuen Laienspiegel“ sogar noch eine zweite Gerichtsdarstellung in das Werk aufgenommen wird, die sich in der Wiederholung der Struktur des zweiten Buches am Ende des dritten Buches zu den „peinlichen Sachen“ findet. Hier schließt sich ein thematisch passendes, wenn auch gekürztes, geistliches Spiel, nämlich ein Weltgerichtsspiel an. 24 Dass die literarische Form der Inserate dem pragmatischen Zweck gerade nicht zuwiderläuft, sondern ihm in ihrer ästhetischen Wirkung verpflichtet ist, macht Tengler übrigens auch ausdrücklich klar. Dabei bedient er sich einer trivialen, d.h. jedem Lateinkundigen vertrauten Basisdefinition der lateinischen Gattungspoetik. Die Erzählung vom Teufelsprozess – „Ain kurtz gedichter process verteütscht“ (fol.CXXXVIIIr) – sei nämlich die Übersetzung eines zu Unterrichtszwecken verfassten, lateinischen Textes, den man gerade nicht glauben solle, „das dieser krieg zwischen den Teüfeln hellischer poßhait / vnd der hochglobten junckfrauw Marie / von des menschlichen geschlechts wegen vor dem allmechtigen got also beschehen. Sunder das sich ain schlechter ainfaltiger lay dest baß erkunden“ (fol.CXXXVIIIv). Mit anderen Worten: Weil das Erzählte erkennbar nicht real, sondern gänzlich erfunden ist, kann es zur modellhaften Orientierung dienen. Tengler nennt Bartolus de Saxoferrato nur am Rande. Er interpretiert das Anliegen seiner Vorlage vielmehr
23
Vgl. Carmen Cardelle de Hartmann, Lateinische Dialoge 1200–1400. Literaturhistorische Studie und Re-
pertorium. (Mittellateinische Texte und Studien, Bd. 37.) Leiden 2007, 319f. 24
Zum Zwischenstatus des „Laienspiegels“ zwischen Rechtspragmatik und geistlich-moralischen An-
sprüchen Ursula Schulze, „Das des Jungsten Gerichts Einbildungen nutzlich sein“. Zur Adaptation eines Weltgerichtsspiels in Ulrich Tenglers „Laienspiegel“, in: Daphnis 23, 1994, 237–286, bes. 238–248, mit der These, dass Tengler „mit der Darstellung des Jüngsten Gerichts die Identitätsbildung des Richters durch ein religiöses Bezugsmodell zu fördern versucht“ (ebd.285).
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sogleich mit Hilfe einer Begriffsauffassung, mit der in der lateinischen Gattungspoetik normalerweise zwischen der wirklich geschehenen historia, dem wahrscheinlichen argumentum und der gegen die Natur verstoßenden und damit erkennbar unmöglichen fabula differenziert wird. 25 Die Fabel ist in diesem Verständnis als erkennbar fiktionale Gattung besonders gut zur lehrhaften Verdeutlichung geeignet. Weil sie aufgrund ihrer Figurenwahl ohne Umschweife als irreal erkennbar ist, lassen sich über sie in exemplarischer Weise allgemeine Grundsätze vermitteln. 26 Nimmt man hinzu, dass sich in der klassischen Rhetorik die Gerichtsredner darin üben, fiktive Fälle zu behandeln 27, und dass die Disputationsübung an Fiktionen dann für das Mittelalter sogar „zu den Grundpfeilern des mittelalterlichen Bildungswesens“ 28 zählen darf, so wirft dies ein bezeichnendes Licht auf den Fiktionsstatus, der, wie schon die Fiktionalität der Fabel, nicht mit dem der neuzeitlich-fiktionalen Literatur zu verwechseln ist. Er gleicht dem klassischen Status der Fiktion im römischen Recht, das gerade an fiktiven Kasus verbindliche Normen weiterentwickeln konnte. 29 Was seine Verbindlichkeit angeht, verwendet Tenglers Teufelserzählung sogar einen recht prominenten Fall, nur wurde dieser nicht im Recht, sondern in der 25 Vgl. die einschlägigen Definitionen bei Isidor, Etymologien, I, 44,5 (Isidori Hispalensis Episcopi Etymologiarum sive Originum. Libri XX. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit W. M. Lindsay. 2 Vols. Oxford 1911. Ndr. 1962); sowie in der „Rhetorica ad herennium“ I, 8, 13 (Marcus Tullius Cicero ad. C. Herenium. De ratione dicendi [Rhetorica ad Herennium]. With an English Translation by Harry Caplan. [The Loeb Classical Library.] Cambridge, Mass./London 1964). 26 Vgl. zum ‚fictio‘-Begriff Peter von Moos, ‚Poeta‘ und ‚historicus‘ im Mittelalter. Zum Mimesis-Problem am Beispiel einiger Urteile über Lucan, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 98, 1976, 93–130, hier 117–120; dazu den Vorschlag einer Abstufung von Wahrheitstypen bei Benedikt Konrad Vollmann, ‚Pulchrum et verum convertuntur‘. Zur Wahrheit des Ästhetischen in der Poetik des Mittelalters, in: Thordis Hennigs u.a. (Hrsg.), Mittelalterliche Poetik in Theorie und Praxis. Festschrift für Fritz Peter Knapp zum 65. Geburtstag. Berlin/New York 2009, 169–178, hier 173–175. Zum hermeneutischen Eigenwert litterater Dichtung grundsätzlich Peter von Moos, Was galt im lateinischen Mittelalter als das Literarische an der Literatur? Eine theologisch-rhetorische Antwort des 12.Jahrhunderts, in: Joachim Heinzle (Hrsg.), Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991. (Germanistische Symposien. Berichtsbände, Bd. 14.) Stuttgart/Weimar 1993, 431–451, bes. 445–451. 27 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 6.Aufl. Bern/München 1967, 77–80. 28 Peter von Moos, Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im „Policratus“ Johanns von Salisbury. (Ordo, Bd. 2.) Hildesheim/Zürich/New York 1988, 254, mit zahlreichen Literaturnachweisen. 29 Vgl. zur Funktion der Fiktion im Recht als Freiraum der Gesetzesentwicklung Manfred Fuhrmann, Die Fiktion im Römischen Recht, in: Dieter Henrich/Wolfgang Iser (Hrsg.), Funktionen des Fiktiven. (Poetik und Hermeneutik, Bd. 10.) München 1983, 413–415.
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Theologie geprägt: Die Beurteilung von Sünde und Erlösung scheint dogmengeschichtlich ein regelrechter Paradefall zu sein, dessen Interpretationsgeschichte mit Gregor von Nyssa beginnt und dessen Widersprüche Anselm von Canterbury aufgelöst hat. 30 Damit ergibt sich für die Teufelserzählung schon von den Gattungsvorgaben her eine spannungsvolle Ausgangssituation, denn heilsgeschichtlich geht es bei diesem Fall um Werte, die nicht verhandelbar sind. Auch ist der Teufel für die christliche Heilslehre keine Fiktion, und die Frage der Erlösungsfähigkeit des Menschen ist keine rhetorische Fingerübung. Dagegen wird in Tenglers Rechtshandbuch die Fiktion nicht nur als solche markiert, sie wird auch als ein fiktiver Kasus in einer fiktionalen Erzählung präsentiert. Dass damit eine Verschiebung von theologisch verbindlichen Werten zu juristisch verbindlichen Normen angezielt ist, scheint auf der Hand zu liegen. Aber sie gelingt nicht vollständig und erzeugt unversehens einen eigenen Freiraum. Tenglers Teufelserzählung erscheint als ein fiktionales Exemplum auf dem Weg zur Poesie. Auf den Begriff des Exemplums und sein Spannungsverhältnis zum Kasus kommt es dabei besonders an. Aus diesem Begriffsgegensatz ergeben sich nämlich jene axiologischen Spannungen des Textes, die zumindest auf den literaturwissenschaftlichen Laien höchst irritierend wirken. Dass in der Erzählung ausgerechnet von den guten Vertretern des Heils gegen formale Prinzipien des Rechts verstoßen wird, die zuvor in Tenglers juristischem Handbuch erörtert wurden, hinterlässt jedenfalls einen zwiespältigen Eindruck. Fast scheint es so, als hätten die Teufel der Erzählung Tenglers die Ausführungen ihres Autors zuvor genau studiert, um sie nun in ihrer Geschichte anzuwenden – nur nützt ihnen das juristische Handbuchwissen vor dem Gericht des Herrn gerade nichts. Die Teufel wissen zwar, wie man einen Kasus richtig behandelt. Aber im vorliegenden narrativen Exemplum geht es auch um etwas anderes, nämlich die Frage, ob das formal Richtige auch das Gute ist. Gleichwohl zeichnet es den Guten nicht aus, wenn er gegen die Regeln verstößt, die er garantieren soll. „Der beste Jurist, der schlimmste Christ“ – dieses Sprichwort bekommt damit vor dem Hintergrund dieser Prozesserzählung einen ganz eigentümlichen Klang. An den Teufelsanwälten gibt es formaljuristisch nichts auszusetzen, sie halten sich in pragmatischer Fairness an die Spielregeln des juristischen Diskurses. Gott dagegen 30
Vgl. Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.19), 139–141; allgemeine Hinweise auch bei
Stintzing, Geschichte der populären Literatur (wie Anm.3), 259f.
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mogelt. 31 Damit entwickelt die Darstellung des Teufelsprozesses in den Augen des literaturwissenschaftlichen Laien unversehens ein geradezu verteufelt kritisches Potential, das sich ausgerechnet gegen Christus als obersten Richter und Garanten des Heils richtet. Die Teufel dürfen im technischen Sinne als ‚gute‘ Juristen gelten, das Etikett des ‚schlimmen Christen‘ scheint sich dagegen in gewisser Weise auf Christus selbst beziehen zu lassen. Für den Anspruch des Handbuches muss dieser Effekt prekär sein: Da es sich ausdrücklich um ein Rechtshandbuch für Laien handelt, erscheint die literaturwissenschaftliche, d.h. juristisch laienhafte Leserdisposition geradezu als Testfall für eine sich offenbar unfreiwillig einstellende narrative Selbstkritik. 3. Vorläufiges Modell einer narrativen Selbstkritik des juristischen Diskurses Zur genaueren Erklärung dieses verwirrenden Effektes ist es hilfreich, zunächst einerseits seine narrativen und diskursiven Parameter theoretisch weiter abzusichern und sich dann andererseits seiner weiteren motivgeschichtlichen Grundlagen zu vergewissern. Erzähltheoretisch ist festzuhalten: Die Erzählung vom Prozess ist eine narrative Form, deren Diskurs von der Struktur einer Geschichte abhängig ist. Vom Prozess zu erzählen heißt demnach, einen narrativen Dreischritt aus Anfang, Mitte und Schluss zu vollziehen, an dessen Anfang eine axiologische Störung steht und die in der Mitte über eine Handlung ausgeglichen wird, so dass sich am Ende ein Wertegewinn ergibt, der die Störung des Anfangs nicht nur ausgleicht, sondern einen eigenen semantischen Ertrag abwirft. Das moralische Exemplum darf als eine historische Modellform dieser narrativen Struktur gelten. Denn in ihm wird besonders deutlich, wie sehr der semantische Ertrag an die Axiologie der Geschichte gebunden ist. Die Erzählung vom Prozess generiert damit zwangsläufig Werte, der Prozess selbst weiß von diesem semantischen Effekt dagegen nichts. Seiner Eigenlogik nach ist der Prozess nämlich, im Unterschied zur Erzählung, in
31 Vgl. dazu symptomatisch die Irritation bei Strothmann, Die Gerichtsverhandlung als literarisches Motiv (wie Anm.3), 37, zum ersten Teil des Texttypus: „Daß übrigens die Abweisung der Spolienklage juristisch berechtigt ist, glaube ich nicht. Bei der offensichtlichen Parteilichkeit des Richters und bei der juristischen Fehlerhaftigkeit des Satansprozesses wäre eine falsche Entscheidung durchaus möglich. Aber schließlich: der Teufel darf ja nicht gewinnen.“ Dass Christus überhaupt als Richter fungiert, wo er sich im Verfahren schnell als Prozessgegner erweist, moniert schon Stintzing, Geschichte der populären Literatur (wie Anm.3), als „prozessualischen Grundfehler“ (263). Von rechtlicher Inkonsequenz spricht Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.19), 159.
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der er auftaucht, gerade kein narrativer Diskurs, der eine Geschichte erzählt; er beansprucht vielmehr, ein juristisch-rationaler Diskurs zu sein, der einen Kasus verhandelt. 32 Dieser Unterschied zwischen narrativem und rationalem Diskurs ist axiologisch höchst folgenreich: Der Kasus enthält zwar ein konfliktträchtiges Geschehen, das auf juristische Normen bezogen und von diesen her beurteilt werden soll. Doch auch wenn sich der Prozess mit dem Urteil schließlich auf den klassischnarrativen Dreischritt aus Anfang (Klage), Mitte (Verhandlung) und Schluss (Urteil/ Strafe) bringen lässt, heißt das nicht, dass der Prozess für seine Beteiligten schon narrativ wäre. Vielmehr scheint der zentrale rationale Diskurs in dem Maße, wie er die Frage nach dem Normenkonflikt des Kasus betont, die narrative Bewältigung des konfliktträchtigen Geschehens in den Hintergrund zu drängen. Er beurteilt den Fall nicht über die Frage von Werten, sondern vor dem Hintergrund von Normen, d.h. aufgrund der Basisopposition von richtig und falsch. Das Ergebnis dieser Abwägung führt am Prozessende zu einem Urteil, mit dem der rationale Diskurs im Prozess an genau jener Stelle zu Ende ist, an der er im Erzählen eigentlich erst beginnt. Denn erst mit dem abschließenden Urteil kann man den Prozess als Geschichte begreifen, der nun von Anfang an einer zusätzlichen narrativen Axiologie unterlegt werden kann, die nach gut und böse unterscheidet. Das hieße aber insgesamt: Während ein narrativer Diskurs eine Geschichte primär über den Gegensatz von Gut und Böse entwirft, begreift der formaljuristisch-rationale Diskurs ein Geschehen primär über die Opposition von richtig und falsch. Und während der narrative Diskurs die Geschichte mit diesen Werten als Ganzes präsentiert, nachdem sie narrationslogisch bereits zu Ende ist, wird der rationale Diskurs während des Prozesses zwischen Kasus und Urteil auf der Grundlage von Normen wirksam. Im narrativen Modell ist der Diskurs daher eine narrative Ebene, im juristischrationalen Modell ist er dagegen eine Prozessphase. Eine Prozesserzählung wäre dann ein Sonderfall, der das juristische Modell in das narrative einträgt. In dieses Doppelmodell lässt sich nun die Motivtradition zum Teufel vor Gericht einsetzen. Zwar ist der Teufel im Mittelalter eine derart ubiquitäre kulturelle und literarische Erscheinung, dass er erzähltypologisch kaum noch fassbar zu sein
32
Zum im Folgenden explizierten Modell bereits Hartmut Bleumer/Caroline Emmelius, Vergebliche Rati-
onalität. Erzählen zwischen Kasus und Exempel in Wittenwilers „Ring”, in: Klaus Ridder u.a. (Hrsg.): Reflexion und Inszenierung von Rationalität in der mittelalterlichen Literatur. Blaubeurener Kolloquium 2006. (Wolfram-Studien, Bd. 20.) Berlin 2008, 177–204, mit weiterer Literatur zu ‚Kasus‘ und ‚Exempel‘.
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scheint: Schon im biblischen Paradigma ist das Teufelsphänomen mehrdeutig, was sich dann potenziert in Erzählformen wie Legende, Mirakel, Märe oder Schwankroman ausprägt und im frühen geistlichen und weltlichen Drama diskursiviert und medialisiert wird. 33 Immer geht es dabei um Varianten des heilsgeschichtlichen Basisnarrativs, das von der Überwindung des Bösen durch das Gute mit Hilfe der Vorstellung von Schuld und Erlösung handelt. Eines ist dabei jedoch festzuhalten: formal-juristisch gesehen ist der Teufel von Anfang an ein absolut verlässlicher Vertragspartner. Das Böse ist in einer diskursiven Rationalität aus richtigem und falschem Verhalten gebunden, die es ermöglicht, mit dem Teufel zu paktieren, und die ebenso die Versuche denkbar macht, das Böse schlicht zu überlisten. Weil aber diese Rationalisierung des Bösen zugleich eine Entdämonisierung bedeutet, ist der formalisierte Sieg über das Böse stets zweifelhaft. So mag es möglich sein, den Teufel nicht nur zu überlisten, sondern etwa in den verschiedenen frühen Dramenformen zu verlachen. 34 Aber die verlachten Teufel sind als Produkte eines rationalen Denkens viel eher dumm als böse. Darum sind die Teufel vor dem Gericht des Herrn auch kaum noch furchterregend. Besorgnis wecken dagegen im Gegenzug die Vertreter des Guten. Denn was ist von einem Richter zu halten, der seine eigene Mutter als Anwältin bestimmt, sich von ihr beeinflussen lässt und schließlich die Anwälte der Gegenseite für etwas bestraft, was sie nicht getan haben? Offenkundig besitzt der Prozess, neben den formaljuristischen Diskursregeln, noch ein zweites Register, aus dem sich dieser illegal anmutende Regelbruch legitimiert. Dieses zentrale Register besitzt eine grundsätzliche narrative Anbindung. Vor allem über die Fürbitte Marias klingt es an. Es dürfte aus dem Bereich des weltlichen Dramas, genauer: aus der Tradition des Weltgerichtsspiels stammen, also jener Gattung, die im „Neuen Laienspiegel“ noch einmal durch ein entsprechendes Inserat
33 Vgl. zu den erzähltypologischen Schwierigkeiten im Überblick von Marco Frenschowski/Daniel Drascek, Art.„Teufel“, in: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Bd. 13. Berlin/New York 2010, 383–413, zu den literarischen Erscheinungsformen ebd.394–403. 34 Stellvertretend Werner Röcke, Die Freude am Bösen. Studien zu einer Poetik des deutschen Schwankromans im Spätmittelalter. (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur, Bd. 6.) München 1987. Zu den exemplifizierenden narrativen Inseraten in der Schwabenspiegel- und Deutschenspiegelüberlieferung Norbert H.Ott, Bispel und Mären als juristische Exempla. Anmerkungen zur Stricker-Überlieferung im Rechtsspiegel-Kontext, in: Klaus Grubmüller/L. Peter Johnson/Hans-Hugo Steinhoff (Hrsg.), Kleinere Erzählformen im Mittelalter. Paderborner Colloquium 1987. (Schriften der Universität-Gesamthochschule-Paderborn, Reihe Sprach- und Literaturwissenschaft, Bd. 10.) Paderborn u.a. 1988, 243–252.
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am Textende nachträglich akzentuiert wird. Diese Herkunft belegt insbesondere die zitathafte Aufnahme zweier Marianischen Antiphonen der katholischen Liturgie. 35 Zugleich lässt sich typologisch das Weltgericht vom Ende der Heilsgeschichte auf deren Wendepunkt, das heißt die weltliche Verurteilung Christi durch Pontius Pilatus zurückbeziehen. Und auch dies führt zu einem Anknüpfungspunkt im Spiel. Da sich Oster- und Passionsspiele zunehmend auf das apokryphe „Evangelium Nicodemi“ mit den Pilatusakten auf der einen Seite und der Erzählung vom Descensus Christi in die Vorhölle auf der anderen Seite beziehen, gehören hier Teufelsszenen zum Inventar, die sich zu regelrechten ‚Teufelsspielen‘ auswachsen können. Jedoch kennen die geistlichen Spiele durch ihre Bindung an den biblischen Text keine ausgesprochene juristische Prozessform. Vielmehr diskursivieren sie einen bestimmten Punkt des heilsgeschichtlichen Narrativs. Eine eher juristische Verhandlungsordnung wird erst im weltlichen Spiel möglich und tritt hier geradezu auffällig zutage: So sind allein von den Nürnberger Fastnachtsspielen 25 an die Form des Prozesses angelehnt. 36 Dabei hat es die ältere Forschung bereits irritiert, dass diese Prozesse zumeist ein offenes Ende haben, d.h. insofern fragmentarisch wirken, als dem Publikum ein abschließendes Urteil vorenthalten wird. Wie aber nun im Umgang mit dem Bösen ein solches Urteil überhaupt auszusehen hätte, wird wiederum in den Weltgerichtsspielen thematisiert. Das heilsgeschichtliche Dogma sieht bekanntlich vor, dass die Menschheit am Ende der Geschichte erlöst und der Teufel in die Hölle gestoßen wird. Die narrative Struktur der Geschichte entscheidet demnach letztlich in der Streitfrage um Verdammnis und Erlösung. Was auf der Basis der Apokalypse des Johannes im geistlichen Weltgerichtsspiel gut sein mag, ist im juristischen Drama Tenglers offenbar billig. Denn das Weltgerichtsspiel handelt vom Endpunkt des Narrativs der Heilsgeschichte, und dieses Ende entstammt nicht der normativen Rationalität des Rechts. Darum wirkt die Ver-
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„ave regina caelorum“ (CXLIv), „salve regina misericordie“ (CLIv), vgl. zu den erstmaligen Bezeugun-
gen zusammenfassend Andreas Heinz/Wolfgang Bretschneider, Art.„Marianische Antiphonen“, in: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 6. Heidelberg 1997/2006, Sp.1357–1359. Zur Rolle Marias als Gnadenvermittlerin in diesem Genre Ursula Schulze, Erlösungshoffnung der Verdammten. Zum ‚Salve regina‘ im ‚Luzerner Weltgerichtsspiel‘ und Marias Rolle im Jüngsten Gericht, in: ZdtPhil 113, 1994, 345–369, zu Tengler 359. 36
Vgl. Rebekka Nöcker, „vil krummer urtail“. Zur Darstellung von Juristen im frühen Nürnberger Fast-
nachtsspiel, in: Klaus Ridder (Hrsg.), Fastnachtspiele. Weltliches Schauspiel in literarischen und kulturellen Kontexten. Tübingen 2009, 239–283, 250–259, 272 u. 278f., zum juristenkritischen Potential des Geschichtsspiels mit weiterer Literatur.
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urteilung der Teufel mit Blick auf Christus und Maria heilsgeschichtlich korrekt, streng formaljuristisch gesehen aber ziemlich prekär. Die Erwartung an das narrative Muster wird erfüllt, jedoch auch einer rationalen Kritik zugänglich. In dieser Sicht hieße das weiter: Die juristische Rationalität bindet auch Christus und lässt ihn nicht nur als ungerecht erscheinen, sie deckt zugleich noch einen christlichen Entlastungsmechanismus im Narrativ der Heilsgeschichte auf. Dem Teufel wird am Ende die Schuld der Menschheit förmlich zugeschoben. Nachdem der Teufel durch das Recht rationalisiert wurde, nimmt Christus der Menschheit zwar vorübergehend die Sünde ab, aber nur, um sie schließlich dem Teufel aufzubürden und ihn damit in die Hölle zu verstoßen. Eigentlich wird damit die Menschheit nicht durch Christus, sie wird durch den Teufel erlöst, der alle Schuld auf sich nehmen muss. Und so fungiert der Teufel auch bei Tengler als klassischer Sündenbock, an dem Christus zudem einen frommen Betrug begeht. So beruhigend diese Lektüre für den an seinem Heil interessierten Laien auch sein mag, dürfte doch spätestens hier auffallen, dass an der bisherigen laienhaften Auffassung des Rechts im Teufelsprozess etwas nicht stimmt. Denn nirgendwo im Text wird erkennbar, dass es ein Bewusstsein von einer etwaigen Ungerechtigkeit Christi gibt. Vielmehr erscheint das heilsgeschichtliche Erzählmuster einen zweiten Aspekt des Rechts zu repräsentieren, der sich gerade nicht an starren Rechtsnormen messen lässt, aber als Korrektiv zu den Normen hinzutreten muss, um Gerechtigkeit erst herzustellen. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht wäre dies als hermeneutischer Freiraum zu bezeichnen, in dem die Normen des Rechts durch die Werte der christlichen Gesellschaft interpretiert werden. Über das heilsgeschichtliche Narrativ tritt damit zum Recht ein Aspekt hinzu, der im Recht als ‚Billigkeit‘ (aequitas) bezeichnet wird. 37 Das technische Wissen über das Recht mag also zu formal korrekten Prozessabläufen führen, aber es vermag keine guten Entscheidungen zu begründen. Was diese guten Entscheidungen ausmacht, was Billigkeit oder aequitas bedeutet, kann im Erzählen exemplarisch erfahren werden. Um ein richtiges Urteil demnach auch zu einem gerechten, das heißt auch guten Urteil zu machen, bedarf es eines interpretatorischen Spielraums, der es ermöglicht, im Sinne des werthaltigen Narrativs vom einfachen, nur normativen Verständnis des Gesetzes abzuweichen und paradoxerweise gerade damit den Sinn des Gesetzes zu erfüllen. Genau diese Ab37 Christoph Becker, Art.„Billigkeit“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. 2., völlig überarb. und erw.Aufl. Bd. 1. Berlin 2008, Sp.587–592.
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weichung zeigt Tenglers Teufelsprozess in forcierter Weise. Damit zeigt er aber auch ihre Risiken. Denn die Konsequenzen des Verfahrens sind deutlich, sobald man es aus seinem fiktionalen Rahmen auf die Realität anwendet: Wenn der Glaube an die Wahrheit eines Narrativs nur stark genug ist, kann man das Recht beugen.
IV. Der Rechtsexperte als Sündenbock? Zur Kybernetik kritischen Erzählens Worin liegt der Aufschlusswert dieses narrativen Phänomens für die Expertenkritik? Und umgekehrt: Was indiziert das Expertenphänomen im Rahmen kritischer Narrative? In der Geschichte des Teufelsprozesses scheinen sich modellhaft Antworten auf diese beiden Fragen abzuzeichnen. Als eine Erzählung, die notwendig der Struktur einer Geschichte mit ihren Axiologien bedarf, kommt Tenglers Darstellung nicht ohne Wertzuweisungen aus. Diese Wertzuweisungen sind heilsgeschichtlich über jeden Zweifel erhaben, sie begründen das gute Ende mit der Errettung der Menschheit durch die Gnade Gottes, für die Maria als Gnadenmittlerin schon im Prozessverlauf steht. Durch diese Gnade rundet sich die Struktur der Geschichte aus, sie führt konkret zum moralisch-exemplarischen Charakter der Erzählung – und sie ist billig. Der Text folgt damit einem fundamentalen Prinzip der christlichen Rechtsprechung, dessen zentrale Wirksamkeit in der Gattung des Teufelsprozesses schon Norbert H.Ott am Beispiel des „Belial“ klar herausgearbeitet hat. „Das Vorgehen nach dem aequitas-Prinzip scheint ein zentrales Gebrauchsangebot des mit dem ‚Belial‘ vorgeführten kanonischen Verfahrens zu sein“. 38 Im Zusammenhang des Tengler’schen Handbuches tritt dieses Prinzip jedoch forciert in den Vordergrund, und zwar in einer Weise, die es in der Teufelserzählung zum Problem werden lässt. Am Umgang mit dem Teufel bricht dieses Problem auf. In dem Sinne, wie das Handbuch die juristischen Laien mit seinen Musteranweisungen, Regeln und Handlungsnormen darüber informieren will, was die Bestandteile eines formaljuristisch korrekten Verfahrens sind, wie das Handbuch ferner sein Wissen über ein Register zergliedert und als Nachschlagewerk in seinen Details ver-
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Vgl. Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.19), 54, zusammenfassend 145–158.
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fügbar macht, in diesem Sinne scheint auch der Teufelsprozess ein Beispiel für normgerechtes Verhalten vor Gericht zu geben. Deshalb wird der Prozess ganz entsprechend über das Texterschließungsinstrumentarium des Handbuches verfügbar gemacht. Die Figuren, die im Prozess für das so akzentuierte Verfügungswissen geradezu in Reinkultur stehen, sind die Teufel. Sie folgen einer formalen Rationalität rechtlicher Normanwendungen, die sie vor dem Gericht des Herrn durchsetzen möchten. Mit dieser Rationalität behandeln sie ihren Kasus, messen ihn an den ihnen zu Gebote stehenden Normen und argumentieren im Sinne einer Gerechtigkeit, die nur normative Richtigkeit kennt. Die teuflische Rationalität hat die angedeuteten Folgen für die Erzählung. Die Rationalität des Kasus wirkt kritisch auf das Exempel, in das sie eingespannt ist. Am Beispiel des Teufels wird dieser Effekt evident: Der nur rationale Teufel ist nicht mehr böse, er ist schlicht ein Gegenspieler in einem argumentativen Antagonismus. Das hat wiederum Konsequenzen für sein Gegenüber: Denn wenn der Teufel nicht mehr der Böse ist, dann ist Christus auch nicht mehr einfach der Gute. Rationalität entwertet. In dem Maße also, wie die Figuren zu rationalen Spielmarken des Verfahrens werden, verlieren sie ihre kulturell angestammte Axiologie. Ebenso greift dann diese Rationalität auf das Erzählen und die Geschichte insgesamt über. Damit stellt das kasuistisch-formale Denken so ausgerechnet jene Werte in Frage, ohne die keine Geschichte erzählt werden kann. Durch die teuflische Rationalität, die keine böse, sondern nur eine normative ist, wird das Erzählen sich selbst gegenüber kritisch. Konkret fällt darum in der Erzählung vom Teufelsprozess auf, dass Maria und Christus mit dem von ihnen vertretenen Erlösungsgedanken Lizenzen haben, die einer bloß normativen Rationalität des Rechts fremd sind, ja ihr als falsch erscheinen. Würde diese Rationalität allein gelten, hätten die Teufel recht, Christus wäre ungerecht. Möchte man das Rechtshandbuch wie ein modernes Nachschlagewerk nutzen, also als ein über Register verfügbar gemachtes Archiv rechtlichen Verfügungswissens betrachten, so müssen die Teufel demnach geradezu als Rechtsexperten erscheinen. Sie wirken so gesehen wie juristische Musterknaben, die mit genau der Rationalität eines juristischen Sachverstandes ausgestattet sind, die das Handbuch verfügbar machen will. Immerhin sind die Teufel tüchtige, formal korrekte, in diesem Sinne ‚gute‘ Juristen. Nur will das Handbuch auch orientieren, und insofern tritt es sehr deutlich vom Primat des Verfügungswissens zurück. Und an dieser Stelle zeigt sich, dass der korrekte Jurist noch kein guter Jurist ist. Der kritische Impetus kehrt
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sich um. Nicht nur die Rationalität der Experten wirft ein kritisches Licht auf die formale Unzulänglichkeit des Richters, nicht nur das kasuistische Denken kritisiert die Geschichte, in der es vorkommt, sondern umgekehrt wird auch das bloß normative Verhalten wiederum durch die Geschichte zurückgewiesen. Die Geschichte setzt die Werte, ohne die sich kein gutes Urteil finden lässt. Das heißt letztlich auch: die narrative Struktur verteufelt den Experten. Das Erzählen vom Guten folgt in dieser radikalen Einseitigkeit jener zweiten Tendenz des Tengler’schen Handbuches, die sich wie im Gegenzug zu seiner rationalen Pragmatik schon in seiner repräsentativen Ausstattung durch die anschaulich-erbaulichen Holzschnitte geltend macht, die aber auch ausdrücklich immer wieder angesprochen wird. Sofort in der Vorrede geht es Tengler um die „natürlich weißhait“ (2r) des Menschen, die wie das Recht göttlichen Ursprungs ist und zur Unterscheidung zwischen guten und bösen Menschen führt. Und so ist es auch keine rhetorische Floskel, wenn es zu den bestehenden Rechtsverordnungen heißt, sie seien „vngetzweyfelt / auß götlichem einsprechen vnd genaden des hailigen gaystes / zuo ettwo menigen reichßtagen“ (2r) erlassen worden. Das Recht ist prinzipiell religiös orientiert, und so bedarf es auch zur richtigen Entscheidungsfindung solcher religiöser Orientierung. Diese ist bei den weltlichen Gewalthabern generell nötig, damit diese „zwischen der gerechtikait vnd barmhetrzigkait“ (fol.Ir) abwägen können, sie prägt dann auch konkret das Bild des gerechten und tugendhaften Richters, das im Handbuch einleitend entworfen wird (fol.IIvf.). Das Handbuch will denn auch ausdrücklich eine Hilfe zu einem gerechten Urteil sein (fol.LXXXIIv), wobei ein solches Urteil ohne Tugendhaftigkeit des Urteilenden nicht möglich ist. Denn Gerechtigkeit sei eine Tugend, das Recht bestehe im Vollzug dieser Tugenden, und demnach sei „des rechtens weißhait / die kunst des selben rechtens“ (ebd.). Weil dieses tugendhafte Urteil das „natürlich recht“ (fol.LXXXIIIrf.), d.h. das christlich fundierte Rechtsverständnis befolgen soll, ist das Ziel des gerechten Urteils ausdrücklich das Gute: „wann es ist nit genuog des bösen abtzusteen / es beschehe dann auch das guot ist“ (fol.LXXXIIv). Kurz: Der „Laienspiegel“ will nicht nur technisches Wissen vermitteln, er will vor allem auch orientieren. Er zielt auf die christlichen Wertmaßstäbe, die den formal Rechtskundigen jenseits der bloßen Kenntnis der Rechtsnormen letztlich überhaupt erst zu einem guten Juristen machen. 39 39
Vgl. zum Typus des ‚gerechten Richters‘ in souveräner Auswahl aus der juristischen Praktikerliteratur
Schumann, Von ‚Teuflischen Anwälten‘ (wie Anm.15), hier Abschnitt III.
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Damit verdeutlicht schon die Anlage des “Laienspiegels“, was im Teufelsprozess prekär wird, nämlich, dass es vor Gericht kein wertneutrales Urteil gibt. Diese Wertgebundenheit dominiert nicht nur in der Erzählung vom Teufelsprozess, sie macht auch das Erzählen überhaupt erst möglich. Denn ohne Axiologie gibt es keine Geschichte und ohne Geschichte keine Erzählung. Und das heißt insgesamt: Vom Expertenwissen vor Gericht lässt sich nicht neutral erzählen. Der Frage von Gut und Böse kann der Experte nicht entgehen, wenn er zum Teil einer Erzählung wird. Damit ist jene Unabhängigkeit in Frage gestellt, die den Experten konstituiert. Gleichwohl lässt die vom Expertentum verkörperte Rationalität das Erzählen kritisch werden. Denn sobald die Rationalität der Normen als formales Prinzip einmal eingeführt ist, gibt es keinen Rückweg mehr zu einer Art paradiesischen Unschuld des Guten. Mit diesem modern anmutenden Problem scheint schon der Teufelsprozess zu kämpfen. Dass Christus sich nicht an die formalen Spielregeln hält, wird jedenfalls derart sichtbar, dass man sich zur Erklärung dieses Phänomens deutlich Mühe geben musste. Die frühe Erklärung: „Das Rechtsempfinden der Zeit hat sich [...] an dieser Parteilichkeit [Christi] durchaus nicht gestoßen, denn juristische und ethische Gerechtigkeit wurden noch nicht voneinander geschieden“ 40, befriedigt nämlich gerade nicht. Denn sie bringt ausgerechnet das historische Aufschlusspotential des formalen Regelbruchs zum Verschwinden. Dieses Potential liegt gerade in der radikalen Einseitigkeit begründet, mit der jeweils Recht und Billigkeit als zwei Seiten einer Medaille begriffen, dann aber künstlich in Normen und Werte getrennt werden und sich schließlich nicht mehr einfach zusammenfügen lassen. Recht und Billigkeit geraten vielmehr in eine dynamische Bewegung, auf die es im Feld der Expertenkritik ohnehin besonders ankommt. Der Historiker Frank Rexroth hat diese Dynamik am Beispiel des sozialen Typus des Experten als eine ‚kybernetische‘ Figur beschrieben 41: Der Experte wird von einem sozialen System auf der Basis eines neuzeitlichen Rationalitätskonzeptes geschaffen und dann symbolisch kontrolliert, indem er einerseits mit einem systemischen Vertrauensvorschuss ausgestattet, andererseits aber immer auch kritisiert wird. Weil die Expertenkritik dabei auch jene Rationalität verwendet, die den Experten erzeugt hat, bleibt eine Expertenkultur stabil; weil sie zugleich aber auch immer die durch die Rationalität abgedrängten Aspekte des Wertens und Urteilens an40 Strothmann, Die Gerichtsverhandlung als literarisches Motiv (wie Anm.3), 39. 41 Rexroth, Expertenweisheit (wie Anm.9).
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mahnt, versucht sie, die kulturelle Begrenztheit des Expertenkonzepts auszugleichen. Rexroth hat sich mit dieser systemischen Erklärung gegen einen affirmativen Gebrauch der ‚Meistererzählung‘ von der Wissensgesellschaft gewandt, die dem Experten den Rang eines Protagonisten zuweist. Rexroths Skepsis gegenüber dem naiven Vertrauen in die große Erzählung ist ebenso berechtigt wie die Skepsis gegenüber dem Experten selbst. Freilich erweisen die kleinen Gegenerzählungen in der Kultur des Spätmittelalters etwa am Beispiel Tenglers, dass gerade auch die Expertenskepsis eine narrative Grundlage hat. Der „Teufelsprozess“ zeigt denn auch die von Rexroth postulierte systemkritische Figur auf all seinen Ebenen. Die Prozesserzählung separiert das technische Verfügungswissen über juristisch korrektes Verhalten (Recht) und das kulturelle Orientierungswissen über den christlichen Wert der göttlichen Gnade (Billigkeit) in zwei Instanzen 42, sie erzählt von der Verhandlung eines Kasus mit exemplarischem Anspruch, und sie erzeugt damit eine kritische Form, in der die Rationalität zu einer Krise der Werte führt, dann aber im Namen dieser Werte diese Rationalität selbst abgewiesen wird. Der „Teufelsprozess“ Tenglers scheint so nicht nur die Kybernetik der Expertenkritik zu narrativieren, er erhellt vielleicht sogar das Narrativ der Expertenkritik selbst. Als abschließende These lässt sich zu diesem Expertennarrativ dann formulieren: Vom Experten muss man erzählen, um ihn sichtbar zu machen, von ihm zu erzählen heißt aber auch notwendig, ihn zu kritisieren. Für diese Kritik kann der Experte jedoch nichts, sie wird seiner formalen Rationalität über die Werte seiner Geschichte nachträglich oktroyiert. Damit beginnt für den Experten im narrativen Kontext ein Dilemma: Es gibt keinen guten Experten, das Prädikat des Guten bringt den Experten um seinen Begriff. Darum ist der Experte als Heilsbringer im großen Narrativ der Wissenschaftsgeschichte unglaubwürdig, aber auch seine Verteufelung in den kleinen kritischen Erzählungen ist zweifelhaft. Denn seinem eigenen Selbstverständnis nach ist ebenso festzuhalten: Es gibt keinen bösen Experten. Das fällt vor allem im juristischen Kontext auf. Vor Gericht bleibt der Experte unschuldig, weil er schon
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Zur Gnade im Recht wäre vertiefend heranzuziehen Andreas Bauer, Das Gnadenbitten in der Straf-
rechtspflege des 15. und 16.Jahrhunderts. Dargestellt unter besonderer Berücksichtigung von Quellen der Vorarlberger Gerichtsbezirke Feldkirch und des Hinteren Bregenzerwaldes. (Rechtshistorische Reihe, Bd. 143.) Frankfurt am Main 1996, 33–96, sowie zusammenfassend ders., Art.„Gnade“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. 2., völlig überarb. und erw.Aufl. Bd. 2, 9. Lieferung. Berlin 2009, Sp.424–430.
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dem Begriff nach wertneutral ist. Wer dennoch von den bösen Experten wie von den Teufeln vor Gericht erzählt und ihnen eine Schuld gibt, der meint in Wahrheit etwas anderes. Er folgt einer Entlastungsstrategie und erzählt gegen eine doppelte Gefahr an. Diese Gefahr droht nicht erst durch den Experten, sie droht durch das partikulare Wissen; sie soll durch die Kybernetik der Expertenkritik gebannt werden, aber ohne das Erzählen greift diese Kritik immer zu kurz. Darum ist auch aus der formalen Sicht des Rechtsexperten ein solches Erzählen immer unangemessen. Immerhin führt es in dieser Unangemessenheit aus dem engen Bezirk des juristischen Diskurses hinaus – auf einen Raum zwischen Recht und Literatur.
Es handelt sich bei diesem Beitrag um den literaturwissenschaftlichen Teil eines Doppelvortrages, der gemeinsam mit der Rechtshistorikerin Eva Schumann gehalten wurde. Den intensiven Diskussionen und grundlegenden Hinweisen Eva Schumanns hat er mehr zu verdanken, als sich über Fußnoten nachweisen lässt.
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Wissensvermittlung leicht gemacht Die Vermittlung gelehrten Rechts an ungelehrte Rechtspraktiker am Beispiel der volkssprachigen Teufelsprozesse von Eva Schumann
I. Einführung Das auffälligste Merkmal der Teufelsprozesse ist ihre „Multifunktionalität“ 1: Die Geschichte hat einen theologischen Hintergrund (Klage der Teufelsgemeinde auf Herausgabe der aus der Hölle entrissenen sündigen Menschheit) 2, in die Handlung sind zahlreiche dramatische Wendungen, aber auch humorvolle Abschnitte eingebaut, die didaktische Qualität ist beachtlich und gattungsmäßig gehören die Texte zur juristischen Fachliteratur. Auch wenn der letztgenannte Aspekt im Vordergrund steht, so werden doch die anderen Elemente geschickt für juristisch-didaktische Zwecke genutzt und es steht außer Frage, dass der große Erfolg der im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehenden volkssprachigen „Belial“-Fassungen auf der besonderen Ausgestaltung der Wissensvermittlung beruht: der Verrechtlichung des Heilsgeschehens, der Besetzung der Rollen im Verfahren mit biblischem Personal, dem Einbau zahlreicher dramatischer und humorvoller Passagen in das Prozessgeschehen sowie der Darstellung der Rede- und Argumentationskunst der Prozessvertreter mit der Funktion, gerade noch zulässige Taktiken im Verfahren vorzuführen. 3
1 Der Begriff „Multifunktionalität“ stammt von Carmen Cardelle de Hartmann, Die ‚Processus Satanae‘ und die Tradition der Satansprozesse, in: Mittellateinisches Jahrbuch 40, 2005, 417–430, hier 426–428. 2 Bezüglich des theologischen Hintergrundes sei nur darauf hingewiesen, dass sich die Heilsgeschichte schon aufgrund der Fülle der in ihr enthaltenen Rechtsfragen besonders gut für eine Verarbeitung im Rahmen eines juristischen Lehrbuches eignet. Eine juristische Verarbeitung des biblischen Stoffes lag somit nahe und fällt – wohl kaum zufällig – in eine Zeit, in der das Studium des römischen Rechts in Norditalien auch von Klerikern betrieben wurde. 3 Zum letztgenannten Aspekt vgl. Cardelle de Hartmann, Die ‚Processus Satanae‘ (wie Anm.1), 426f. Vgl. weiter Eva Schumann, Von „Teuflischen Anwälten“ und „Taschenrichtern“ – Das Bild des Juristen im Zeitalter der Professionalisierung, in: Andreas Deutsch (Hrsg.), Ulrich Tenglers Laienspiegel. Ein Rechtsbuch zwischen Humanismus und Hexenwahn. (Akademiekonferenzen, Bd. 11.) Heidelberg 2011, 431–473, hier 456–463.
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Fast spielerisch werden auf diese Weise alle denkbaren Verfahrensstationen des neuen römisch-kanonischen Zivilprozesses aufbereitet. 4 Als Bestandteil der sogenannten Praktikerliteratur dienten die volkssprachigen „Belial“-Fassungen der außeruniversitären Vermittlung gelehrten Wissens an ungelehrte Rechtspraktiker im Zeitalter der praktischen Rezeption des römisch-kanonischen Rechts in Deutschland. Diese Phase zeichnet sich dadurch aus, dass die im Spätmittelalter von gelehrten Juristen vor allem in Italien auf der Grundlage des römischen und kanonischen Rechts entwickelten Verfahrensgrundsätze den zu Beginn der Frühen Neuzeit im deutschsprachigen Raum noch ganz überwiegend ungelehrten Rechtspraktikern, d.h. den in der Rechtspflege tätigen Richtern, Prokuratoren, Anwälten, Notaren und Schreibern in geeigneter Weise beigebracht werden mussten. 5 Die Gründe für das Interesse der Rechtspraktiker am gelehrten Wissen sind vielfältig und können hier nur angerissen werden: die Einführung eines Instanzenzugs mit der Möglichkeit der Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils, die Anwendung des sogenannten gemeinrechtlichen (d.h. römisch-kanonischen) Verfahrens vor den Appellationsgerichten und die Besetzung dieser Gerichte auch mit gelehrten Juristen, die daraus resultierende Notwendigkeit, das Verfahren vor den unteren Gerichten an das der höheren anzupassen, die Einbeziehung von Rechtsgutachten gelehrter Juristen in das Verfahren vor Gericht sowie die mit der zunehmenden Professionalisierung der Rechtspflege verbundene Konkurrenzsituation durch die Tätigkeit studierter Anwälte, die ihren Wissensvorsprung zur Gewinnung von Mandanten einsetzen konnten. 6 4 Dazu auch Norbert H.Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte. Zu Überlieferung, Ikonographie und Gebrauchssituation des deutschen „Belial“. München 1983, 102–106; Hans-Rudolf Hagemann, Der Processus Belial, in: Juristische Fakultät der Universität Basel (Hrsg.), Festgabe zum siebzigsten Geburtstag von Max Gerwig. (Basler Studien zur Rechtswissenschaft, Bd. 55.) Basel 1960, 55–83, hier 69f.; Hans Fehr, Das Recht im Bilde. München 1923, 75. 5 Unter Rechtspraktikern werden hier alle Fachleute im Recht verstanden, die Funktionen in den Tätigkeitsfeldern der Rechtspflege wahrnahmen. Zu Beginn der Frühen Neuzeit waren in der Rechtspflege neben Rechtspraktikern mit juristischem Studienabschluss auch ungelehrte Rechtspraktiker tätig, die durch praktische Tätigkeit und Selbststudium einschlägiger Werke das für die Tätigkeit in der Rechtspraxis notwendige Wissen erworben hatten. 6 Zur praktischen Rezeption des gelehrten Rechts vgl. Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung. 2.Aufl. Göttingen 1967, 124–189; Wolfgang Sellert, Zur Rezeption des römischen und kanonischen Rechts in Deutschland von den Anfängen bis zum Beginn der frühen Neuzeit: Überblick, Diskussionsstand und Ergebnisse, in: Hartmut Boockmann/ Ludger Grenzmann/Bernd Moeller/Martin Staehelin (Hrsg.), Recht und Verfassung im Übergang vom
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Die Vermittlung gelehrten Wissens außerhalb der Universität geschah in erster Linie mit Hilfe von volkssprachigen Praktikerhandbüchern 7, etwa mit dem von Sebastian Brant werbewirksam vermarkteten „Laienspiegel“ von Ulrich Tengler 8, aber auch mit den „Belial“-Bearbeitungen 9, die Grundzüge des römisch-kanonischen Rechts in deutscher Sprache vermittelten und somit nicht nur für die Übernahme des gelehrten Rechts in die Praxis, sondern auch für die Übertragung einer Fachsprache in die Volkssprache stehen.
Mittelalter zur Neuzeit. T.1. (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-Hist. Klasse, Dritte Folge, Nr.228.) Göttingen 1998, 115–166, hier 131–144; Eva Schumann, Beiträge studierter Juristen und anderer Rechtsexperten zur Rezeption des gelehrten Rechts, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 2007. Berlin 2008, 443–461. 7 Zur volkssprachigen Praktikerliteratur vgl. Schumann, Beiträge studierter Juristen (wie Anm.6), 450– 456. 8 Ulrich Tengler, Laÿen Spiegel. Von rechtmässigen ordnungen in Burgerlichen vnd peinlichen regimenten. Augsburg 1509. Zu Ulrich Tengler (um 1440–um 1521), selbst ein ungelehrter Rechtspraktiker, und seinem Werk vgl. Wolfgang Schmitz, Der Teufelsprozeß vor dem Weltgericht nach Ulrich Tenglers „Neuer Layenspiegel“ von 1511 (Ausgabe von 1512). Köln 1980, 25–48; Andreas Deutsch, Klagspiegel und Laienspiegel – Sebastian Brants Beitrag zum Ruhm zweier Rechtsbücher, in: Klaus Bergdolt/Joachim Knape/Anton Schindling/Gerrit Walther (Hrsg.), Sebastian Brant und die Kommunikationskultur um 1500. Wiesbaden 2010, 75–98, hier insbes. 79–90; Reinhard H.Seitz, Zur Biographie von Ulrich Tengler (ca. 1441–1521) – Landvogt zu Höchstädt a. d. Donau und Verfasser des „Laienspiegels“ von 1509, in: Deutsch (Hrsg.), Ulrich Tenglers Laienspiegel (wie Anm.3), 55–98, mit neuen Erkenntnissen zum Leben Tenglers. 9 Nach überwiegender fachübergreifender Auffassung handelt es sich bei den volkssprachigen „Belial“Fassungen um Prozessrechtslehrbücher. Vgl. dazu aus der Literaturwissenschaft etwa Hans Rupprich, Die deutsche Literatur vom späten Mittelalter bis zum Barock, in: Helmut de Boor/Richard Newald (Hrsg.), Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, 4/I: Das ausgehende Mittelalter, Humanismus und Renaissance 1370–1520. 2.Aufl. München 1994, 371: „Vermutlich in Anlehnung an antike Vorbilder brachte das Mittelalter eine Literaturgattung hervor, die mit dem Rechtswesen eng verbunden ist. Dazu gehören [...] prozessuale Lehrbücher in Gestalt eines erdichteten Rechtsstreites zwischen allegorisch-personifizierten Begriffen und Einrichtungen. Die bekanntesten Zeugnisse dieser Literaturgattung sind die sog. Satansprozesse.“ Ähnlich Barbara Weinmayer, Prosasprachliche Schriftkultur im 15.Jahrhundert. (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters, Bd. 77.) München 1982, 55 („Lehrbuch des Prozeßrechts“); Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 6f. u. 35–37. Vgl. weiter aus der rechtshistorischen Literatur Roderich Stintzing, Geschichte der populären Literatur des römisch-kanonischen Rechts in Deutschland am Ende des fünfzehnten und im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts. Aalen 1959 (Ndr. der Ausgabe Leipzig 1867), 259 („prozessualische Lehrbücher“); Hagemann, Der Processus Belial (wie Anm.4), 70 („Charakter eines Prozeßrechtslehrbuches“).
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II. Überlieferung Die volkssprachigen Bearbeitungen der Teufelsprozesse 10 beruhen auf zwei verschiedenen lateinischen Vorlagen aus dem 14.Jahrhundert, dem Satansprozess („Processus Satanae contra genus humanum“) sowie dem „Belial“-Prozess des Kanonisten Jacobus de Theramo (um 1350–1417). 11 Der etwas ältere Satansprozess, der – in einer Fassung – dem berühmten Juristen Bartolus de Saxoferrato (um 1314–1357) zugeschrieben wird 12 und später von Ulrich Tengler für den „Laienspiegel“ verarbeitet wurde, orientiert sich mit Christus als Richter und der Menschheit in der Rolle der
10 Die Idee, dass Satan vor Gericht als Ankläger auftritt, geht nach Fehr bis in die babylonische Zeit zurück. Hans Fehr, Tod und Teufel im alten Recht, in: ZRG GA 67, 1950, 50–75, hier 67. Die Überlieferung der Teufelsprozesse beginnt im 12.Jahrhundert und dauert bis Mitte des 18.Jahrhunderts an. Bereits früh finden sich neben den lateinischen auch volkssprachige Fassungen – die älteste rein literarische Fassung als Episode im Werk „Historie van den Grale und Boek van Merline“ (1262) des Niederländers Jacob van Maerlant. Seit dem 14.Jahrhundert sind weitere volkssprachige (katalanische, französische und deutsche) Fassungen überliefert. Dazu und insbesondere zu den verschiedenen Fassungen der Teufelsprozesse und ihrer Verbreitung vom 12. bis 16.Jahrhundert Cardelle de Hartmann, Die ‚Processus Satanae‘ (wie Anm.1), 417–430, hier 428f. 11 Jacobus de Theramo, Litigatio Christi cum Belial sive Consolatio peccatorum (um 1382); die Titel variieren in den Handschriften, u.a. finden sich auch die Titel „Lis Christi et Belial coram judice Salomone“ und „Processus Luciferi contra Ihesum coram iudice Salomone“. Jacobus wurde um 1350 in Theramo (Abruzzen) geboren, studierte kanonisches Recht in Padua und war seit 1391 Bischof in verschiedenen Diözesen Italiens (Monopoli/Apulien, Florenz und Spoleto). Zu Leben und Werk vgl. Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 16–20; ders., Jacobus de Theramo, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 4. 2.Aufl. Berlin 1983, 441–447, hier 441f. 12 Die beiden deutschen Bearbeitungen des Satansprozesses nehmen ausdrücklich auf den berühmtesten Juristen der Zeit als Referenz Bezug; vgl. den Titel des ältesten deutschen Drucks von Georg Alt, Ein nützlicher gerichteshandel vorgot dem almechtigen vnserm herren durch die gloriwirdigsten Junckfrawen mariam fursprecherin deß menschlichen geschlechts an einen. vnd vermaledegten sathan am anwalt der hellischen schalckeit am andern teil geübet. durch den hochgelarten doctorez Bartholum begriffenn. Leipzig 1493. Tengler, Laÿen Spiegel (wie Anm.8), Bl. 114v leitet den Teufelsprozess folgendermaßen ein: „Ain process durch ainen hochgeleerten / zuo vnnderricht seinen junngern im latein geformiert / ist im bessten zuo mer verstentnuß dess hieuor angetzaigten tails / doch nit gleich nach dem lateinischen buochstaben / Sonnder mit ettlicher zuolegung geteütschet / zuo beschluss ditz tails eingefürt.“ Der Randvermerk verweist auf Bartolus. Auch Melchior Goldast schreibt in einer späten lateinischen Ausgabe aus dem Beginn des 17.Jahrhunderts den Satansprozess Bartolus zu (dazu unten Anm.32). Zweifel an der Urheberschaft von Bartolus äußert Moritz August von Bethmann-Hollweg, Der Civilprozeß des gemeinen Rechts in geschichtlicher Entwicklung. Bd. 6/3: Der germanisch-romanische Civilprozeß im Mittelalter. Vom zwölften bis fünfzehnten Jahrhundert. Aalen 1959 (Ndr. der Ausgabe Bonn 1874), 244–246. Vgl. dazu auch Carmen Cardelle de Hartmann, Lateinische Dialoge 1200–1400. (Literaturhistorische Studie und Repertorium, Mit-
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Beklagten formal am Jüngsten Gericht. 13 Die klagende Teufelsgemeinde lässt sich durch mehrere „teuflische Anwälte“ vertreten, während Maria als advocata generis humani auftritt. 14 Im Gerichtsverfahren agiert Maria – im Gegensatz zu den teuflischen Anwälten – jedoch nicht als juristisch geschulte Prozessvertreterin, sondern nimmt als Fürsprecherin der Menschheit – ebenso wie in den spätmittelalterlichen Weltgerichtsspielen – die Rolle der regina/mater misericordiae ein 15: Während die teuflischen Anwälte für ein dem Recht gemäßes Urteil streiten, bittet Maria ihren Sohn um Barmherzigkeit 16 und erreicht, dass dieser Gnade vor Recht ergehen lässt. Im „Belial“-Prozess erscheint hingegen Christus in der Rolle des Beklagten, Gott rückt an seiner Stelle in die Rolle des Richters ein, und das Menschengeschlecht ist nur noch Gegenstand der von der Teufelsgemeinde geführten Herausgabeklage gegen Christus. Alle Beteiligten lassen sich vertreten: Gott setzt Salomon als iudex delegatus ein, Belial tritt als Prozessvertreter der Teufelsgemeinde auf, und Christus benennt Moses als seinen Prozessvertreter. Insgesamt präsentiert der „Belial“-Prozess
tellateinische Studien und Texte, Bd.37.) Leiden 2007, 305–308 u. 318–320; dies., Die ‚Processus Satanae‘ (wie Anm.1), 421. 13
Zum Inhalt des Satansprozesses vgl. Cardelle de Hartmann, Lateinische Dialoge (wie Anm.12), 309f.;
dies., Die ‚Processus Satanae‘ (wie Anm.1), 421–425. 14
Nach Digesten 3, 1, 1, 11 darf eine Frau nur ausnahmsweise als Prozessvertreterin für Familienange-
hörige auftreten; insbesondere ist eine Mutter zur Vertretung ihrer Kinder vor Gericht berechtigt. Auch bei Tengler, Laÿen Spiegel (wie Anm.8), Bl. 120v, beruft sich Maria darauf, dass Frauen, auch wenn sie „zuom ambt der postulacion nit zuo gelassen / so mögenn sy doch erpermlich person / auch ir verwandten witibn vnd waisen vertreten vnd verantwurrten“. 15
Dazu Ursula Schulze, Erlösungshoffnung der Verdammten. Zum ‚Salve regina‘ im ‚Luzerner Weltge-
richtsspiel‘ und Marias Rolle im Jüngsten Gericht, in: ZdtPhil 113, 1994, 345–369, hier 355–369. Zur Rolle Marias als Prozessvertreterin vgl. auch Cardelle de Hartmann, Die ‚Processus Satanae‘ (wie Anm.1), 422–425 u. 427. 16
Maria wird dabei in doppelter Weise in ihrer Mutterrolle angesprochen, als Mutter Gottes, die ihren
Sohn mit dem Hinweis auf ihr Leiden als Mutter durch den Tod des eigenen Kindes milde zu stimmen sucht und als mater misericordiae (in Tenglers Teufelsprozess: „muoter aller barmhertzikait“), die mit ihrer Fürbitte die Sünder vor der Hölle beschützen will. Zur Marienfrömmigkeit und zur Rolle Marias in den Weltgerichtsspielen vgl. auch Schulze, Erlösungshoffnung der Verdammten (wie Anm.15), 356–369, insbes. 360: „Der Mutterrolle kommt in diesem Prozeß eine doppelte Funktion zu: Als Mutter des Erlösers wird Maria auch als Mittlerin der Heilsqualitäten ihres Sohnes angesehen und ihre Mütterlichkeit macht sie in der Schar der Heiligen zur bevorzugten Ansprechpartnerin der menschlichen Beter, die um Fürsprache bei ihrem Sohn und durch ihn bei Gott nachsuchen. Marias corredemptio wird vor allem durch ihr Mitleiden (compassio) und ihre selbst Christus übertreffende Barmherzigkeit begründet.“ Vgl. weiter Schmitz, Der Teufelsprozeß vor dem Weltgericht (wie Anm.8), 70–72; ders., Der Teufelsprozess zwischen Theologie und Jurisprudenz, in: Deutsch (Hrsg.), Ulrich Tenglers Laienspiegel (wie Anm.3), 405–429, hier 421–424.
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die Heilsgeschichte in Form eines Rechtsstreits bis ins letzte Detail so stimmig, dass der Ablauf des Verfahrens einschließlich Appellationsinstanz und Schiedsverfahren geradezu zwingend erscheint (zum Ablauf siehe unten Abschnitt IV). 17 Tenglers Teufelsprozess 18 zeichnet sich dadurch aus, dass Tengler im Wesentlichen den Satansprozess von Bartolus verarbeitet, jedoch in den Haupthandlungsstrang sehr geschickt den „Belial“-Prozess als Bestandteil einer Einrede einführt: Im Prozess der Teufelsgemeinde gegen das Menschengeschlecht wird von Seiten der Beklagten die Einrede der materiellen Rechtskraft erhoben, weil bereits vor vielen Jahren die Teufelsgemeinde vertreten durch Belial auf Rückgabe des Menschengeschlechts vor Gott (der König Salomon als iudex delegatus eingesetzt hatte) geklagt habe und dieses Verfahren mit einem Schiedsspruch beendet worden sei. Dieser Einrede begegnen die teuflischen Anwälte mit dem Argument, dass die Parteien der beiden Prozesse nicht identisch seien: Während im „Belial“-Prozess Beklagter Christus (vertreten durch Moses) gewesen sei, stehe nun auf der Beklagtenseite das Menschengeschlecht (vertreten durch die Jungfrau Maria). 19 Sollte sich diese Variante (Verknüpfung beider Prozesse) – wie in der Literatur behauptet – tatsächlich nur im „Laienspiegel“ finden 20, so zeugt dies – ebenso wie die Anordnung von Teufelsprozess und Weltgerichtsspiel (dazu unten Abschnitt IV am Ende) – von der Genialität des ungelehrten Rechtspraktikers Ulrich Tengler. 21 Ebenso wie der Satansprozess, der in der Bearbeitung von Tengler mit dem „Laienspiegel“ ein großes Publikum erreichte, waren auch die volkssprachigen „Belial“Fassungen stark verbreitet: Aus dem 15. und frühen 16.Jahrhundert sind rund 80 Handschriften bekannt und rund 20 Drucke überliefert 22, die mit einer Ausnahme
17 Zur Handlung des Belial ausführlich Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 41–135; ders., Jacobus de Theramo (wie Anm.11), 443–446; Hagemann, Der Processus Belial (wie Anm.4), 55–83. Vgl. weiter Friedrich Wilhelm Strothmann, Die Gerichtsverhandlung als literarisches Motiv in der deutschen Literatur des ausgehenden Mittelalters. Jena 1930, 34–36. 18 Tenglers Teufelsprozess findet sich am Ende des zweiten Teils des Laienspiegels seit der ersten Aufl. von 1509 (Bl. 114v–131r) bis zur Ausgabe von 1518. 19 Dazu insgesamt Tengler, Laÿen Spiegel (wie Anm.8), Bl. 121v–130v. Vgl. auch Schmitz, Der Teufelsprozeß vor dem Weltgericht (wie Anm.8), 67f.; Ursula Schulze, Das des Jungsten Gerichts Einbildungen nutzlich sein. Zur Adaption eines Weltgerichtsspiels in Ulrich Tenglers Laienspiegel, in: Daphnis 23, 1994, 237– 286, hier 282. 20 Schmitz, Der Teufelsprozeß vor dem Weltgericht (wie Anm.8), 67f. 21 Zur Verbindung beider Prozesse vgl. auch den Beitrag von Hartmut Bleumer in diesem Band, 168ff. 22 Norbert H.Ott, Handschriftenillustration und Inkunabelholzschnitt. Zwei Hypothesen zu den Bildvor-
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alle aus dem süddeutschen Raum stammen 23; in Augsburg gehörte der deutsche „Belial“ sogar zu den meistgedruckten Werken am Ende des 15.Jahrhunderts. 24 Zu den lateinischen Vorlagen 25 bestehen deutliche Unterschiede: Erstens wird der Text in der Regel nicht wörtlich übersetzt, sondern frei übertragen, und zweitens sind etlichen volkssprachigen Handschriften und fast allen Drucken Illustrationen zu den einzelnen Verfahrensabschnitten beigegeben. 26 Die Parallelen zu den Illustrationen der Bilderhandschriften des Sachsen- und Schwabenspiegels 27 dürften kaum zufäl-
lagen illustrierter ‚Belial‘-Drucke, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 105, 1983, 355–379, mit Hinweis darauf (355), dass die deutschen „Belial“-Versionen zu den breitestüberlieferten Werken des Spätmittelalters gehören. Eine Zusammenstellung sämtlicher frühen deutschen Bearbeitungen des „Belial“ (Handschriften und frühe Drucke) findet sich bei Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 289–343. Vgl. weiter Kurt Ohly, Eggestein, Fyner, Knoblochtzer. Zum Problem des deutschsprachigen Belial mit Illustrationen, in: Gutenberg-Jahrbuch 35, 1960, 78–92 und ebd.37, 1962, 122–135. 23 Der einzige niederdeutsche „Belial“-Druck mit dem Titel „Dyt bock holt inne van der clage und ansprake de Belyal“ erschien 1492 bei Moritz Brandis in Magdeburg. 24 Dazu Weinmayer, Prosasprachliche Schriftkultur (wie Anm.9), 54. In Augsburg wurde der „Belial“ von verschiedenen Druckern mehrfach aufgelegt, so wurde beispielsweise „Der Teutsch Belial“ bei Hans Schönsperger in Augsburg achtmal aufgelegt (1482, 1484, 1487, 1488, 1490, 1493, 1497 u. 1500); weitere „Belial“-Ausgaben erschienen bei den Augsburger Druckern Johann Bämler (1473 u. ca. 1478), Anton Sorg (1479 u. 1481) und Günther Zainer (1472). Dazu Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 340– 343. Hans-Joachim Koppitz, Zur deutschen Buchproduktion des 15. und 16.Jahrhunderts. Einige Beobachtungen über das Vordringen deutschsprachiger Drucke, in: Gutenberg-Jahrbuch 62, 1987, 16–25, hier 22f., weist darauf hin, dass süddeutsche Städte, insbesondere Augsburg und Straßburg, im Spätmittelalter die Zentren der Verbreitung deutscher Literatur waren. Dort seien im Gegensatz zu anderen Druckorten deutlich weniger lateinische Werke gedruckt worden, weil es sich nicht um Universitätsstädte handelte und daher die Gelehrten als Abnehmer vor Ort fehlten. Ein weiteres Kennzeichen beider Druckorte ist die Verbindung von Text und Illustration (Holzschnitt), die ganz wesentlich zum Erfolg der deutschsprachigen Werke beitrug. Interessanterweise gehörten zu den ersten Texten, die in deutscher Sprache gedruckt wurden, sowohl das „Weltgerichtsspiel“ (Mainz um 1445) als auch der „Belial“ (Bamberg um 1461); dazu Koppitz, Buchproduktion, 16. 25 Neben mindestens 50 lateinischen Handschriften (meist Folio, Umfang ca. 70–120 Blatt) sind neun lateinische Inkunabeln bekannt; dazu Ott, Jacobus de Theramo (wie Anm.11), 442; Gero Dolezalek, Verzeichnis der Handschriften zum römischen Recht bis 1600. 4 Bde. Frankfurt am Main 1972 (nicht paginiert, unter dem Eintrag „Processus Belial“). 26 Dazu Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 210–224, 240–276 u. 344–498 (Ikonographischer Katalog); ders., Handschriftenillustration und Inkunabelholzschnitt (wie Anm.22), 355. Vgl. auch Franziska Prinz, Der Bildgebrauch in gedruckten Rechtsbüchern des 15. bis zum Ausgang des 18.Jahrhunderts. (Gesellschaft und Recht, Bd. 5.) Hamburg 2006, 137–147. Zu den Illustrationen in einzelnen Handschriften und Drucken vgl. Heribert Hummel, Der Heilbronner „Belial“. Zu einer illustrierten Handschrift des 15.Jahrhunderts im Stadtarchiv, in: Jahrbuch für schwäbisch-fränkische Geschichte 29, 1979/ 81, 27–44, hier 37–40. 27 Vgl. dazu auch Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 232–235.
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lig sein, denn nicht selten findet sich der Text in Sammelhandschriften mit partikularen Rechten wie dem Schwabenspiegel oder verschiedenen süddeutschen Stadtund Landrechten. 28 Die Ikonographie und die Überlieferung mit einheimischen Rechten sind weitere Belege dafür, dass sich mit dem Sprachwechsel vom Lateinischen zur Volkssprache auch der Adressatenkreis (von gelehrten Juristen zu ungelehrten Rechtspraktikern) änderte. 29 Gegen Ende des 16.Jahrhunderts 30 feierte dann nochmals der Nürnberger Advokat Jakob Ayrer (der Jüngere, 1569–1625) 31 mit einer neuen „Belial“-Bearbeitung große Erfolge. 32 Das durch die Beigabe zahlreicher Formulare und Mustertexte auf rund 750 Seiten angeschwollene Werk mit dem Titel „Historischer Processus Juris“ (erstmals Frankfurt 1597) erreichte bis 1737 mindestens neunzehn Auflagen 33 und be-
28 Zu den Sammelhandschriften, die den „Belial“ mit weiteren (Rechts-)Texten überliefern, vgl. Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 165–178. Auch die lateinischen Handschriften sind häufig mit anderen juristischen, insbesondere kanonistischen Texten überliefert; dazu Cardelle de Hartmann, Die ‚Processus Satanae‘ (wie Anm.1), 425f. 29 So auch Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 35f.; vgl. weiter 195–202. Zustimmend Cardelle de Hartmann, Lateinische Dialoge (wie Anm.12), 239–241 im Hinblick auf den Überlieferungskontext und mit Hinweis auf die unterschiedlichen volkssprachigen Fassungen: „Dabei weisen die mit dem lateinischen Belial überlieferten Texte eher auf einen theologisch-kanonistisch ausgebildeten Rezipientenkreis, die Mitüberlieferung der deutschen Übersetzung auf die Verwendung durch juristische Laienpraktiker hin. [...] In Deutschland hat die Teilnahme von juristischen Laienpraktikern an der Rechtspflege Übersetzungen entstehen lassen, die die juristischen Aspekte der Texte herausstellen. In anderen Volkssprachen überwiegen hingegen die religiösen Aspekte.“ 30 Im Laufe des 16.Jahrhunderts ließ – möglicherweise bedingt durch die Reformation – das Interesse an den Teufelsprozessen vorübergehend nach. So sind in den Ausgaben von Tenglers „Laienspiegel“ ab 1527 der Teufelsprozess ebenso wie die Darstellung des Jüngsten Gerichts, die seit der Ausgabe von 1511 den Abschluss des dritten Teils des „Laienspiegels“ bildete, nicht mehr enthalten. Cardelle de Hartmann, Die ‚Processus Satanae‘ (wie Anm.1), 429, vermutet, dass „die Auseinandersetzungen der Reformation und Gegenreformation die Darstellung der Jungfrau heikler machten“. Dies erklärt aber nicht, warum auch der „Belial“ kaum noch gedruckt wurde. Mitte des 16. Jahrhunderts wurde der „Belial“ zudem auf den Index der verbotenen Bücher der katholischen Kirche gesetzt. Dazu Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 25f. Vgl. weiter Schmitz, Der Teufelsprozess zwischen Theologie und Jurisprudenz (wie Anm.16), 424–428. 31 Jakob Ayrer der Jüngere (sein Vater, Jakob Ayrer der Ältere, 1544–1605, war in Nürnberg Dichter, Notar und Prokurator) war Doktor beider Rechte und Advokat in Nürnberg. Dazu Willi Flemming, Ayrer, Jakob u. Hans Müller-Lobeda, Ayrer, Jakob d. J., in: Neue Deutsche Biographie. Bd. 1. Berlin 1953, 472f. 32 Weiterhin gab Melchior Goldast von Haiminsfeld (1578–1635) zu Beginn des 17.Jahrhunderts in dem Sammelband „Processus iuris ioco-serius“ (1611) sowohl den „Belial“-Prozess von Jacobus de Theramo („Processus Luciferi contra Jesum coram Iudice Salomone“) als auch den Satansprozess von Bartolus („Processvs Satanae contra D. Virginem coram Iudice Iesu“) nochmals in Latein heraus. 33 Für diesen Beitrag wird folgende Ausgabe benutzt: Jacob Ayrer, Historischer Processus Juris. In wel-
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zweckte ausweislich des Widmungsbriefs ebenso wie die älteren Übersetzungen des „Belial“-Prozesses die Vermittlung der gemeinrechtlichen Verfahrensgrundsätze an Rechtspraktiker („darneben die gantze Historia inn vnderschiedliche Capita, alle sehr lieblich / kurtzweilig vnd lustig / auch also verfasset worden / daß sich solchen Buchs auch die Aduocaten, Procuratores, Notarii, Schreiber / Rahts vnd GerichtsHerrn vnd andere mit gutem Nutzen wol gebrauchen können“). In Juristenkreisen scheint das Werk noch in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts bekannt gewesen zu sein – jedenfalls notiert der Jurastudent Johann Wolfgang Goethe in seinem Straßburger Tagebuch im Jahre 1770 den vollständigen Titel der Erstauflage von Ayrers Teufelsprozess. 34
III. Das Urteil der Rechtsgeschichte: „pedantisch – geschmacklos – unjuristisch“ Die Rechtsgeschichte hat bislang nur wenig Interesse an den Teufelsprozessen gezeigt. 35 Dies mag auch daran liegen, dass die Urteile über diese Literaturgattung im 19.Jahrhundert nicht sehr günstig ausfielen. Der bedeutende Rechtsgelehrte Friedrich Carl von Savigny strafte sie in seiner „Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter“ vor allem mit Missachtung und sah in ihnen nur einen „pedantische[n], breit durchgeführte[n] Spaß“. 36 Ähnlich äußerten sich Vertreter der Deutschen
chem sich Lucifer vber Jesum / darvmb / daß er jhm die Hellen zerstöret / eingenommen / die Gefangene darauß erlöst / vnd hingegen jhn Lucifern gefangen und gebunden habe / auff das allerhefftigste beklaget. Darinnen ein gantzer ordentlicher Proceß / von Anfang der Citation biß auff das Endvrtheil inclusiue, in erster und anderer Instantz / darzu die Form / wie in Compromissen gehandelt wirdt / einverleibt. Frankfurt am Main 1625. 34 Johann Wolfgang von Goethe, Ephemerides und Volkslieder. Hrsg. v. Ernst Martin. (Deutsche Litteraturdenkmale des 18. und 19.Jahrhunderts, Bd. 14.) Stuttgart 1883, 5; Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 5f. (Anm.9). 35
Dies gilt allerdings – von Ausnahmen abgesehen – auch für die Literaturgeschichte. So werden in dem
rund 35 Seiten umfassenden Artikel „Teufelsliteratur“ von Gustav Bebermeyer, Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. 2.Aufl. Bd. 4. Berlin 1984, 367–403, die Satansprozesse lediglich an einer Stelle (396) kurz erwähnt. In der dritten Auflage des „Reallexikons“ fehlt der Eintrag „Teufelsliteratur“ ganz (stattdessen findet sich ein Eintrag „Teufelsbuch“, der die Teufelsprozesse nicht behandelt). 36
Friedrich Carl von Savigny, Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter. Bd. 6. Aalen 1986 (Ndr. der
Ausgabe Heidelberg 1850), 180.
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Rechtsgeschichte; so handelt es sich nach Otto Stobbe um „Schriften, in denen die Processlehren und die einzelnen Rechtshandlungen in der geschmacklosen Einkleidung eines Streits zwischen dem Teufel und Christus oder der Jungfrau Maria zur Darstellung gebracht werden“. 37 Immerhin widmete Roderich Stintzing in seiner „Geschichte der populären Literatur des römisch-kanonischen Rechts in Deutschland“ von 1867 den Teufelsprozessen zwanzig Seiten. Da Stintzing aber den Satansprozess für juristisch unstimmig hielt, nahm er an, dass dieser weder von einem Juristen stammen noch juristisch-didaktischen Zwecken gedient haben könne. 38 Obwohl er in der Handlung des „Belial“-Prozesses eine „wesentliche juristische Verbesserung“ erkannte, nahm er auch für diesen an, dass „der Zweck, welchen der Verfasser im Auge hatte, vorzugsweise ein theologischer“ gewesen sei. 39 Immerhin stellte auch schon Stintzing für die volkssprachigen „Belial“-Fassungen fest, dass für die deutschen Übersetzer der „juristische Zweck [...] der wesentliche“ gewesen sei. 40 In den rechtshistorischen Standardwerken, Lehr- und Handbüchern des 20.Jahrhunderts finden die Teufelsprozesse regelmäßig überhaupt keine Erwähnung mehr
37 Otto Stobbe, Geschichte der deutschen Rechtsquellen. Bd. 2. Aalen 1965 (Ndr. der Ausgabe Braunschweig 1864), 178. Auch Bethmann-Hollweg, Der Civilprozeß (wie Anm.12), 252, bezeichnet den „Belial“ des Jacobus de Theramo als geschmackloses Werk. 38 Stintzing, Geschichte der populären Literatur (wie Anm.9), 263. Kritisch dazu Cardelle de Hartmann, Die ‚Processus Satanae‘ (wie Anm.1), 425f. In der Literatur werden – nicht nur von Stintzing – juristische Unstimmigkeiten geltend gemacht, weil die Menschheit – wie im „Belial“ – Objekt der Herausgabeklage sein müsse und nicht – wie im Teufelsprozess – Beklagte sein könne. Mein Kollege Johannes Platschek hat mich in diesem Zusammenhang auf die römisch-rechtliche vindicatio in servitutem aufmerksam gemacht. Es handelt sich dabei um einen Prozess, bei dem durch Feststellungsurteil entschieden wird, ob eine Person im Eigentum eines anderen steht oder frei ist. Im Prozess steht dem Eigentumsprätendenten als Kläger der sog. adsertor in libertatem gegenüber – eine freie Person, die sich für den vermeintlich Unfreien, der selbst nicht als Partei vor Gericht auftreten kann, einsetzt und dessen Freiheit behauptet; dazu Max Kaser/Karl Hackl, Das römische Zivilprozessrecht. 2.Aufl. München 1996, § 14 V.2. u. § 29 VI. Auch wenn bei Zugrundelegung dieser Klage die juristische Konstellation im Teufelsprozess stimmig wäre, so legen doch die beiden deutschen Fassungen von Tengler, Laÿen Spiegel (wie Anm.8), und Alt, Ein nützlicher gerichteshandel (wie Anm.12), sowie ein von mir überprüfter lateinischer Druck (Bartolus de Saxoferrato, Processus Satanae contra genus humanum, nach 1500, Digitale Sammlungen der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt) eher eine Klage der Teufelsgemeinde auf Rückgabe des durch verbotene Eigenmacht erlangten Besitzes (actio spolii) nahe. 39 Stintzing, Geschichte der populären Literatur (wie Anm.9), 275. Ähnlich auch Bethmann-Hollweg, Der Civilprozeß (wie Anm.12), 251f. Vgl. weiter Fehr, Tod und Teufel (wie Anm.10), 68f. 40 Stintzing, Geschichte der populären Literatur (wie Anm.9), 277.
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oder werden – wie in Franz Wieackers „Privatrechtsgeschichte der Neuzeit“ – mit einem Satz abgehandelt. 41 Die bislang umfangreichste Darstellung stammt von dem Germanisten Norbert H.Ott: Seine rund 500 Seiten umfassende, 1983 erschienene Dissertation „Rechtspraxis und Heilsgeschichte. Zu Überlieferung, Ikonographie und Gebrauchssituation des deutschen ‚Belial‘“ besteht zu einem Drittel aus einer Analyse des juristischen Inhalts und der Einordnung des Textes in den Vorgang der Rezeption des römisch-kanonischen Rechts.
IV. Maßgeschneidertes Wissen für ungelehrte Rechtspraktiker Bereits in den Vorreden der volkssprachigen „Belial“-Fassungen wird nicht nur der Zweck der Schriften, die Vermittlung der Grundsätze des neuen römisch-kanonischen Verfahrens an ungelehrte Rechtspraktiker formuliert, sondern auch das didaktische Vorgehen bei der Wissensvermittlung detailliert erläutert. Im Folgenden beziehe ich mich im Wesentlichen auf den 1508 in Straßburg bei Johannes Prüss erschienenen Druck „Belial zu teutsch“ (Abb.1); weitere vergleichsweise herangezogene Inkunabeln und Frühdrucke 42 weisen lediglich sprachliche, aber kaum inhaltliche Unterschiede auf. In allen Fassungen wird dem Leser jeweils am Ende der Vorrede – wie auch bei Tengler – versichert, dass sich der Rechtsstreit nicht wirklich zugetragen habe, vielmehr das Buch nur deshalb verfasst worden sei, damit man daraus lerne, einen Rechtsstreit zu führen. 43
41 Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (wie Anm.6), 172f. Zuletzt hat der Basler Rechtshistoriker Hans-Rudolf Hagemann, Der Processus Belial (wie Anm.4), vor fünfzig Jahren einen fast 30 Seiten umfassenden Beitrag zum „Belial“-Prozess vorgelegt: Ausgehend von den in der Basler Universitätsbibliothek vorhandenen vier Handschriften und fünf Frühdrucken des „Belial“-Prozesses gibt Hagemann vor allem einen Überblick über den Inhalt des Textes, geht aber auch auf dessen Bedeutung für die Vermittlung des gelehrten Rechts ein. 42 Herangezogen wurden folgende weitere Drucke: Hie hebt sich an eyn guott nuczlich buoch von der rechtlichen uberwundung cristi wider sathan den fursten der helle vnd des sunders betröstung. Augsburg 1472 (Günther Zainer); Hie hebt sich an das buoch Belial genant von des gerichts ordnung. Augsburg 1473 (Johannes Bämler); Hie hebt sich an ein guot nüczlich buoch von der rechtlichen überwindung Christi wider Sathan den fürsten der hell vnd des sünders betröstung. Augsburg 1479 und 1481 (Anton Sorg); Das buoch Belleal genant von des gerichtes ordenung. Straßburg 1483 (Heinrich Knoblochtzer); Dyt bock holt inne van der clage und ansprake de Belyal. Magdeburg 1492 (Moritz Brandis). 43 Belial zu teutsch. Straßburg 1508 (Johannes Prüss), Bl. 2v: „Auch sol niemant diß nachgeschriben
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Abb.1: Belial zu teutsch. Straßburg 1508 (Johannes Prüss), Titelblatt.
Weiterhin informiert die Vorrede darüber, dass die in den lateinischen Fassungen enthaltenen Verweise auf die Quellen und die lateinischen Fachbegriffe zwar wiedergegeben werden, weil sich der Text nur so von einem „ander gedicht“, d.h. der erzählenden Literatur, unterscheiden lasse, jedoch die Verweise, um den ungelehrten Leser nicht unnötig zu verwirren, mit roter Farbe durchgestrichen 44 oder – im Text mit einem Handzeichen markiert (siehe Abb.2) – an den Rand verwiesen buoch / also einfeltigklich versteen / das er glaub das das nach geschriben recht vnd krieg / also sichtigklich geschehen sy. Das buoch ist nun durch des willen gemacht / das man darjnn lerne wie man ein geistlichs recht sol anfahen / füren vnd volenden / vnd das man künn erkennen vnrecht vnd geferig inwürff / vnd sich mit recht weren.“ Tengler, Laÿen Spiegel (wie Anm.8), Bl. 114v: „Doch soll es nyemmand darfür versteen oder glauben / das diser krieg zwischen den Teüfeln / hellischer boßhait / vnd der hochgelopten junckfrawen Marie / von des menschlichen geschlechts wegen vor dem allmechtigen got allso beschehen Sonnder das sich ain schlechter ainfeltiger lay destbaß erkunden So yemannds in seinem abwesen vmb bekerung personlicher diennstperkait / oder in annder weg vor ainem richter beklagt vnd zuo kurtzem außtrag für gehayschen wurden / wie man den selben entschuldigen vnd veranntwurten mög.“ 44 Hie hebt sich an ein guot nüczlich buoch. Augsburg 1479 (Anton Sorg), Vorrede: „Doch durch des willen das man deßter mynder müg gesprechen / daz daz buoch ein ander gedicht sey als man von teütschen buochern offt redt. darumb will ich eüch die selben außzeygung mit gewonlicher juristen geschrifft darein schreiben / vnd mit rot nach der lenge durchstreichen / darüb das es den einfältigen nit ein jrrung sey / die es nit künden lesen vnd sein nit versteen / vnd doch der meynung ein vnderscheyd / so will jch also die selben außzeygung mit rot durchfaren / das ein yegklicher der es nit lesen kann deßter leichter übersehen kann.“ (Hervorh. d. Vf.) Vgl. auch Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 36f.
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sind. 45 Durch dieses Vorgehen, d.h. durch die Aufnahme der Verweise auf Quellen und lateinische Fachbegriffe, die gleichzeitig wieder optisch ausgesondert werden, erhält der Text einerseits das Etikett „Fachliteratur“, andererseits wird dem ungelehrten Rechtspraktiker das Verständnis für den Inhalt nicht unnötig erschwert. 46 Um die Funktion eines Nachschlagewerkes zu erfüllen, werden Zwischenüberschriften und Randvermerke mit den wichtigsten Schlagworten zum jeweiligen Verfahrensstand eingefügt; der Straßburger Druck von 1508 lässt sich zudem durch ein Register erschließen. 47 Ohnehin wird die Arbeit mit dem Text erheblich dadurch erleichtert, dass die Handlung weitgehend dem Aufbau der damaligen Lehrbücher zum gelehrten Prozess (ordines iudiciarii) 48, der auch den Prozessordnungen der Städte und Territorien zugrunde lag 49, folgt. 50 Weiterhin sind in den Text immer wieder
45
Belial zu teutsch (wie Anm.43), Bl. 2r (mit Bezug auf ältere Fassungen): „Doch durch des willen / das
man dester minder müg sprechen / das diß buoch ein gedicht / vnd nit vß geschribnen rechten sy / als man von tütschen buochern offt redet. Darumb will ich die selben vßtzeigung die vor alwegen zwischen den tütschen gestanden / den lesenden / an den synn vnd vermerckung geirret / mit gerecht wysender juristen geschrifft / vßwendig den tütschen / doch mit disem zeichen setzen. Uff das / das es den einfeltigen nit ein irrung sy die es nit künden lesen oder versteen.“ (Hervorh. d. Vf.). 46
Auch dies wird im Belial zu teutsch (wie Anm.43), Bl. 1r f. (Vorrede), ausdrücklich hervorgehoben:
„Nun der meister der dises buoch gemacht hat vßgezeichnet mit gewonlicher iuristen geschrifft / wo / vnd an welchen enden er die sinn vnd vrteil diß buochs / vß den haubtbüchern der rechten hat genommen vnd vßgezogen. Nit darumb das die einfeltigen die meinung / vnd den synne möchten versteen. Nun darumb das die gelerten möchten erkennen das er dises buoch vß den rechtbüchern habe getzogen vnnd nit selbs erdichtet. Vnd wer das nit wölt gelauben der möcht es nach der antzeigung in den selben büchern wol vinden / ob er dieselben rechtbücher hette / oder künde suochen / oder sich darnach richten / als da sint dise bücher der gesatzt genant Codices / das man also zeichnet C. digestum novum vnd verus das also zeichnetff. Instituta.decretum.decretales. vnd andere bücherr. Wenn ich aber die selben vßrichtung oder antzeigung wölt zetütsch beschriben / also das es die einfeltigen möchten gelesen / so würd das buoch garvast gelengert. [...] wann die sich nach der iuristen geschrifft künden richten den ist es nit not / die es aber nit künden nützet es nit anders dann das sie die wort möchten lesen / vnd künden sich nichtz desterbaß verrichten.“ Vgl. dazu insgesamt auch Weinmayer, Prosasprachliche Schriftkultur (wie Anm.9), 57f. 47
Dazu auch Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 37–40.
48
Dazu Wiesław Litewski, Der römisch-kanonische Zivilprozeß nach den älteren ordines iudiciarii. Kra-
kau 1999. 49
Zu den frühesten Prozessordnungen der Niedergerichtsbarkeit bis Mitte des 16.Jahrhunderts, den Ge-
richtsordnungen von Mainz (1534), Trier (1537), Köln (1537/38) und Jülich (1555), vgl. Gerhard Marquordt, Vier rheinische Prozeßordnungen aus dem 16.Jahrhundert. Ein Beitrag zum Prozeßrecht der Rezeptionszeit. Bonn 1938. Marquordt (4f.) weist insbesondere darauf hin, dass die neu eingeführte Appellation ein wesentlicher Aspekt für den Erlass und die Ausgestaltung der Gerichtsordnungen war. Marquordt (80) zufolge liegen den Prozessordnungen – ebenso wie der deutschsprachigen Praktikerliteratur – vor allem fol-
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Merksätze und Handlungsanweisungen eingeschoben, die dem Rechtspraktiker eine thematisch einschlägige Rechtsregel oder ein bestimmtes Vorgehen im Verfahren einschärfen sollen 51; zu einzelnen Verfahrensabschnitten und Rechtsakten sind sogar Mustertexte beigegeben (dazu Abb.2) 52 – ein Service, den nicht alle Prozessrechtslehrbücher der Zeit boten. Entsprechend der Bedeutung der einzelnen Verfahrensabschnitte sind etwa zwei Drittel des Textes dem erstinstanzlichen Verfahren, das restliche Drittel dem Appellationsverfahren und einem abschließenden Schiedsverfahren gewidmet. 53 Der erste Teil beginnt mit einem kleinen Vorspiel, der Schilderung der Befreiung der Menschheit aus der Hölle 54 und damit aus juristischer Sicht mit der Schilderung des Klagegrundes. Dass die Höllengemeinde, um wieder in den Besitz der sündigen Menschheit zu gelangen, den Rechtsweg beschreitet, wird ebenfalls kurz erläutert. Die Teufel schätzen die Erfolgsaussichten ihrer Klage hoch ein: zum einen, weil – so die Begründung – sich in der Hölle zahlreiche rechtskundige Teufel befänden, die sich der Sache annehmen könnten 55, und zum anderen, weil sie Gott für einen ge-
gende Werke zugrunde: das „Speculum iudiciale/iuris“ von Guilelmus Durantis (um 1230–1296), die „Additiones ad speculum“ von Johannes Andreae (um 1270–1348) sowie die „Practica“ (um 1414) von Johannes Petrus de Ferrariis. Zu den drei genannten Werken und ihren Verfassern vgl. Knut Wolfgang Nörr, Die Literatur zum gemeinen Zivilprozess, in: Helmut Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte. Bd. 1: Mittelalter (1100–1500). München 1973, 383–397, hier 394f. 50 So auch Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 103–106. 51 In dem mir vorliegenden Druck des Straßburger Belial von 1508 (http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/bsb00009041/images/) haben Nutzer – offensichtlich um das Nachschlagen zu erleichtern – zusätzlich die Merksätze im Text am Rand mit Zeichen markiert (vgl. etwa Bl. 13v, 19v, 23v, 29r–30r, 32r; besonders hübsch: Bl. 13r). 52 Dazu insgesamt auch Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 37–40 u. 101–103. 53 Im Belial zu teutsch (wie Anm.43) umfasst das Verfahren in erster Instanz ca. 60 Blätter und die Berufungsinstanz und das Schiedsverfahren insgesamt ca. 30 Blätter im Quartformat. 54 Teilweise wird der Klagegrund bereits in den Vorreden genannt, so etwa in dem „Belial“-Druck: Hie hebt sich an eyn guott nuczlich buoch von der rechtlichen uberwundung cristi wider sathan den fursten der helle. Augsburg 1472 (Günther Zainer): „Ich hab gedacht ich wöll mich versuochen ob ich tzuo tewtsch müg bringen das buoch das da trachtet / ob Jhesus marie Sun des recht hab gehebt das er die Hell vnd die tewfel hab berowbet / an dem tag da gott für alle menschen gelitten hat mit dem bitteren tod des creuczes.“ Vgl. dazu auch Cardelle de Hartmann, Lateinische Dialoge (wie Anm.12), 234f.; Schmitz, Der Teufelsprozeß vor dem Weltgericht (wie Anm.8), 62–68; Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 41f. 55 Belial zu teutsch (wie Anm.43), Bl. 7vf. (die teuflischen Ratgeber werden als der „recht wol kündig“ und als „wysen der rechten“ bezeichnet).
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rechten Richter halten, der ohne Ansehen der Person urteile und somit selbst den Teufeln Gerechtigkeit widerfahren lasse. 56 Da die Höllengemeinde als „Gemeinschaft“ nicht vor Gericht auftreten kann, wird der rechtskundige Teufel Belial als Prozessvertreter eingesetzt. 57 Dieser Vorgang wird „mit getzügnuß eines offnen schribers“ festgehalten, d.h. notariell beurkundet (dazu Abb.4, oben links). Bereits an dieser Stelle zeigt sich, dass die heutige, auf der Grundlage des gelehrten Rechts beruhende deutsche Rechtsterminologie noch nicht voll ausgebildet ist: So findet sich nicht nur für „notarielle Urkunde“ die umständliche Formulierung vom „Zeugnis eines öffentlichen Schreibers“, vielmehr werden – um nur zwei weitere Beispiele zu nennen – der Prokurator als „verweser“ und „verantwurtter“ 58 und das dem Prozessvertreter erteilte mandatum als „gewalt“ bezeichnet. 59 Das eigentliche Prozessgeschehen beginnt dann mit der Einreichung der Klage gegen Christus, die Belial mit dem Hinweis verbindet, dass Gott als Vater des Beklagten befangen sei. 60 Daraufhin wird Salomon als iudex delegatus 61 eingesetzt (die Einsetzung des Richters ist als Mustertext „Form einer commission“ abgedruckt), und Salomons Hofnotar Daniel übernimmt fortan das Amt des Gerichtsschreibers. 62 Da der Beklagte trotz ordnungsgemäßer Ladung durch einen Gerichtsboten (dazu 56
Belial zu teutsch (wie Anm.43), Bl. 7v (zur Entscheidung der Teufel den Rechtsweg einzuschlagen):
„wir wissen all wol das got gerecht ist vnd jm niemant weder zelieb noch zeleid ist / er laß jm das recht widerfarn.“ Entsprechend Tengler, Laÿen Spiegel (wie Anm.8), Bl. 114v: Die Teufel „haben die ganntzen hellische gemaind mit ainem gewonlichem zaichen zusamen beruofft / nach solhem mit listen betracht vnd geratschlagt Ob sy jr fürnemen mit recht erobern / vnnd dabey ermessen / das Ine gar wissenntlich gewesen / wie der allmechtig got ain gerechter vrtayler vnd richter über lebendig / tod / vnd was in hymel / auff erden vnd der hellen begriffen ist / dem nyemands so lieb oder widerwertig ist / er lass Jm recht widerfarn.“ Vgl. dazu insgesamt auch Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 42f. 57
Belial zu teutsch (wie Anm.43), Bl. 7vf.: „Dann so ein gemein / oder samlung hat etwas zeschaffen vor
dem rechten. das sol geschehen durch verweser / oder verantwurtter / die do gantz gewalt habent ze thon / vnd zelassen.“ 58
Hingegen wird im Magdeburger „Belial“ von 1492 (wie Anm.42) Belial als Prokurator bezeichnet. Vgl.
weiter Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 54–58. 59
Belial zu teutsch (wie Anm.43), Bl. 12v. Zur Terminologie in den Prozessordnungen vgl. Marquordt,
Vier rheinische Prozeßordnungen (wie Anm.49), 27f. 60
Zur Ablehnung des Richters vgl. auch Marquordt, Vier rheinische Prozeßordnungen (wie Anm.49),
19f.
196
61
Zum iudex delegatus vgl. auch Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 46–49.
62
Zum gesamten Abschnitt Belial zu teutsch (wie Anm.43), Bl. 9v–11r. Zu den Funktionen des Gerichts-
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Abb.4, oben rechts) nicht zum festgesetzten Termin erscheint, könnte Salomon aufgrund der Säumnis des Beklagten bereits der teuflischen Klage stattgeben 63, er lässt jedoch „Gnade vor Recht“ ergehen und gewährt Fristaufschub um einen Tag (dazu Abb.4, unten links). Für den Rechtspraktiker folgt der Merksatz, dass der Richter aus Billigkeit vom Recht abweichen könne: „Ein richter mag von gnad wegen ein recht wol schieben“. 64 Am nächsten Tag erscheint Moses vor dem Richter, legt – ebenso wie Belial – eine notariell beurkundete Prozessvollmacht vor 65 und greift sogleich die Klage aus prozessualen Gründen an 66: Belial stände als Teufel im Bann und dürfe daher nicht als Prozessvertreter vor Gericht auftreten. Belial hält dem entgegen, dass Moses eines Totschlags schuldig und daher ebenfalls kein geeigneter Prozessvertreter sei. Daraufhin verzichten beide Seiten auf die gegenseitige Ablehnung. 67 Im weiteren Fortgang des Verfahrens macht Moses nun unter Heranziehung zahlreicher Bibelstellen geltend, dass der Anspruch in der Sache unbegründet sei, weil die Menschheit Christus gehöre und dieser mit deren Befreiung aus der Hölle rechtmäßig gehandelt habe; denn Gott habe seinem Sohn sein gesamtes Erbe, d.h. die ganze Welt einschließlich der Hölle und aller Menschen vermacht. Die Teufel, denen lediglich die Pflegschaft über die sündige Menschheit eingeräumt worden sei, hätten die Forderung Christi, die Höllentore zu öffnen, treuwidrig verweigert, so dass Christus in rechtmäßiger Selbsthilfe gegen die verbotene Eigenmacht der Teufel die Höllentore aufbrechen und die Menschen als sein Erbe mitnehmen durfte. 68 Da Moses die Beweislast für seine Einrede gegen den Herausgabeanspruch trägt,
personals (Gerichtsschreiber, Gerichtsbote) im frühneuzeitlichen Verfahren vgl. auch Marquordt, Vier rheinische Prozeßordnungen (wie Anm.49), 20f. 63 Zur Säumnis trotz ordnungsgemäßer Ladung vgl. auch Marquordt, Vier rheinische Prozeßordnungen (wie Anm.49), 30–34 u. 73–77. 64 Belial zu teutsch (wie Anm.43), Bl. 13r. Vgl. auch Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 53f. 65 Belial zu teutsch (wie Anm.43), Bl. 13v. 66 Zur Bedeutung der Einreden im gemeinrechtlichen Verfahren vgl. Marquordt, Vier rheinische Prozeßordnungen (wie Anm.49), 36 u. 40–44; Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 62–73. 67 Dazu insges. Belial zu teutsch (wie Anm.43), Bl. 13v–15r. Vgl. auch Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 57f. 68 Dazu insges. Belial zu teutsch (wie Anm.43), Bl. 20r–22r. Vgl. auch Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 67f.
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wird der Abschnitt zur detaillierten Darstellung des Zeugenbeweises, insbesondere der Vernehmung der Zeugen und der Protokollierung ihrer Aussagen 69 sowie zum Abdruck eines Mustertextes zur Ladung der Zeugen („Form eins ladbriefs“) genutzt. 70 Belial lehnt die von Moses benannten Zeugen, u.a. Abraham, Isaac, Jakob und David, wegen Befangenheit ab, weil sie zu den Personen gehörten, die Christus aus der Hölle befreit habe, sie also ein eigenes Interesse an der Abweisung der Klage hätten. Moses kann den Einwand der Befangenheit mit dem Hinweis entkräften, dass dann überhaupt keine Augen- und Ohrenzeugen zur Verfügung ständen, weil für ein Zeugnis nur diejenigen in Frage kämen, die in der Hölle gewesen seien und die Befreiung selbst miterlebt hätten. 71 Die Zeugenaussagen fallen für die Klägerseite nicht günstig aus, widerlegen insbesondere die für den Erfolg der Klage notwendige verbotene Eigenmacht Christi bei der Befreiung der Menschheit. Belial erhält daraufhin Gelegenheit, die Höllengemeinde über den bisherigen Prozessverlauf zu informieren und ihr die Abschriften der Zeugenaussagen vorzulegen. Da die possessorische Klage auf Herausgabe des Besitzes nicht mehr aussichtsreich erscheint, machen die Teufel nun – um den Prozess nicht zu verlieren – als Eigentümer die Herausgabe der Menschheit geltend. 72 Dieser Übergang von der possessorischen zur petitorischen Klage stellte die deutschen Übersetzer vor eine echte Herausforderung: Die Unterschiede beider Ansprüche dürften den ungelehrten Rechtspraktikern nicht vertraut gewesen sein, denn beide Ansprüche setzten sich erst im Laufe des 18.Jahrhunderts in der partikularen Gesetzgebung durch. 73 Daher existierten um die Wende zur Neuzeit in der deut-
69
Belial zu teutsch (wie Anm.43), Bl. 25r–26r.
70
Ebd.Bl. 22r f. Zum Zeugenbeweis vgl. auch Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 68–73.
Marquordt, Vier rheinische Prozeßordnungen (wie Anm.49), 55–58, weist darauf hin, dass auch in den untersuchten Prozessordnungen das Beweisrecht und insbesondere der Zeugenbeweis ausführlich dargestellt werden; auch hier galt es, Grundsätze der gemeinrechtlichen Beweislehre den ungelehrten Rechtspraktikern zu vermitteln. 71
Belial zu teutsch (wie Anm.43), Bl. 24r.
72
Belial zu teutsch (wie Anm.43), Bl. 26r f. Dazu auch Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie
Anm.4), 73f.; Schmitz, Der Teufelsprozess zwischen Theologie und Jurisprudenz (wie Anm.16), 410–413. 73
Vgl. die Lemmata „petitorisch“, „Petitorium, Petitorie“ u. „Possessorium, Possessorie“ in: Deutsches
Rechtswörterbuch. Bd. 10. Weimar 1997–2001, 627f. u. 1158f. Lediglich die stark an das gemeine Recht angelehnte Wormser Reformation von 1499 (Buch 1, Tit. 24, 1–2) erwähnt beide Klagen, geht aber nicht ausführlich auf sie ein.
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schen Rechtssprache auch noch keine Begriffe, mit denen die Unterschiede zum Ausdruck gebracht werden konnten. Die spannende Frage ist nun, wie die Verfasser der volkssprachigen Ausgaben das gelehrte, für die damalige Rechtspraxis jedoch unnütze Wissen maßgerecht zuschneiderten. Sie wählten einen Mittelweg zwischen der vollständigen Aussonderung dieses Handlungsstrangs, in den verschiedene prozessuale Fragen eingebettet sind, und der aufwendigen Erläuterung des gelehrten Rechts: Die beiden Klagen werden beibehalten und die Herausgabeklage des Besitzers mit „sprechen umb gewere“, die Herausgabeklage des Eigentümers mit „sprechen umb eygenschafft“ übersetzt. 74 Unter Rückgriff auf zwei Rechtsinstitute des einheimischen Rechts („gewere“ und „eigen“) wird somit dem Leser deutlich gemacht, dass es sich um zwei unterschiedliche Ansprüche handelt, jedoch werden die Voraussetzungen der beiden gemeinrechtlichen Ansprüche schlicht übergangen: Die ungelehrten Rechtspraktiker konnten und sollten die materiell-rechtliche Bedeutung des Klagewechsels nicht erfassen. 75 Gegen die durch Zwischenurteil festgestellte Zulässigkeit der neuen Klage erhebt nun Moses den Einwand, ihm sei Unrecht geschehen, weil die Besitzklage aufgrund der Zeugenaussagen hätte abgewiesen werden müssen. Dem hält Belial wiederum entgegen, dass die Aussagen aufgrund der Verbrechen der biblischen Zeugen (Abraham sei ein Ehebrecher, Isaac ein Lügner und Meineid-Schwörer, Jakob ein Betrüger und Dieb, David ein Blutvergießer und Ehebrecher) ohnehin nicht wirksam gewesen wären. 76 Diese Stelle belegt deutlich, dass das notwendige Abarbeiten sämtlicher Prozessstationen die Handlung bestimmt und zu diesem Zweck auch gewisse Brüche in der Erzählstruktur in Kauf genommen werden müssen. Denn dem Leser wurde nur wenige Seiten zuvor vermittelt, dass der Erfolg der Besitzklage aufgrund der Zeugenaussagen überaus fraglich sei, während sich nun herausstellt, dass die Klage keineswegs schon verloren war. Immerhin wirkt vor diesem Hintergrund die Zulassung der neuen Klage durch den Richter besonders billig. 77
74 Belial zu teutsch (wie Anm.43), Bl. 26r f. 75 Dazu auch Hagemann, Der Processus Belial (wie Anm.4), 74; Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 76–81 (hier insbes. Anm.212) u. 107. 76 Dazu insges. Belial zu teutsch (wie Anm.43), Bl. 27v–28r. 77 Dazu insges. auch Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 74–81.
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Beide Seiten schwören erneut den aus dem römischen Recht rezipierten Kalumnieneid, der nun ausführlich beschrieben wird 78: Der Kalumnieneid, auf Deutsch ‚Gefährdeeid‘ („eid für geferde / das man nennet Iuramentum calumnie“), war eine Voraussetzung für die weitere Durchführung des Verfahrens und beinhaltete das gegenseitige Versprechen beider Prozessvertreter, dass sie von der Wahrheit (d.h. der Rechtmäßigkeit) ihres Vorbringens überzeugt seien, keine falschen Beweise vorlegen und den Prozess nicht verschleppen werden. Im Text folgt an dieser Stelle der Merksatz zur Eidesformel in Reimform. 79 Im Anschluss wird der gelehrte Artikelprozess dargestellt. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass die Klage in einzelne Positionen zerlegt wird, die Stück für Stück abgearbeitet werden, wobei nur die von der anderen Seite bestrittenen Positionen zu beweisen sind. 80 Als die Sache im weiteren Fortgang des Prozesses wieder schlecht für die Teufel aussieht, beschließen diese, das Urteil abzuwarten und im Falle einer Klageabweisung in die zweite Instanz zu gehen. 81 Wie erwartet wird die Klage abgewiesen und das Urteil als Mustertext in vollem Wortlaut unter Nennung der Parteien und ihrer Prozessvertreter, des Richters, der Schilderung des Anspruchs, des Verfahrensablaufs und des Urteilsspruchs abgedruckt. 82 Der bisherige Prozessverlauf, in dem die Teufel durchaus keine aussichtslose Position vertreten haben und sich die beiden Rechtsexperten Belial und Moses auf Au-
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Dass der römischrechtliche Kalumnieneid relativ schnell rezipiert wurde, dürfte auch an den Paralle-
len zum deutschrechtlichen Voreid liegen. Dazu Wolfgang Sellert, Faires Verhalten im gerichtlichen Prozeß und Schikane. Zur Geschichte des Kalumnieneids, in: Martin Avenarius/Rudolf Meyer-Pritzl/Cosima Möller (Hrsg.), Ars Iuris. Festschrift für Okko Behrends zum 70. Geburtstag. Göttingen 2009. 485–505, hier 494– 502. Zur Verbreitung des Gefährdeeids in den frühneuzeitlichen Prozessordnungen vgl. Marquordt, Vier rheinische Prozeßordnungen (wie Anm.49), 49f. Zum Kalumnieneid im „Belial“ vgl. Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 84–87. 79
Belial zu teutsch (wie Anm.43), Bl. 29v: „Merck dise sprichwort. Ein yeder teil sol schweren schlecht
/ er hoff er hab des krieges recht. Vnnd wes man in frage / das er on geferde die warheit sage. Er sehe an kein verheissung / vnd wöll myden falsche wysung. Vnd wöl in geferds pflicht / das recht verlenger nicht.“ 80
Belial zu teutsch (wie Anm.43), Bl. 30v–32r (auf Bl. 31v findet sich ein Merksatz zum Artikelprozess).
Dazu auch Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 87–90. Vgl. weiter Peter Oestmann, Artikelprozess, in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte. 2.Aufl. Bd. 1. Berlin 2008, 313f.; Marquordt, Vier rheinische Prozeßordnungen (wie Anm.49), 51f. Zu den Gefahren des Artikelprozesses, insbesondere zur Prozessverschleppung vgl. Hagemann, Der Processus Belial (wie Anm.4), 76f.
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81
Belial zu teutsch (wie Anm.43), Bl. 54v.
82
Ebd: Bl. 55r–57r. Vgl. dazu auch Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 99f.
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Abb.2: Belial zu teutsch. Straßburg 1508 (Johannes Prüss), Appellation.
genhöhe begegneten 83, verlangt geradezu nach einer Berufung. 84 Aus didaktischen Gründen, d.h. zur vollständigen Abbildung eines Prozesses durch zwei Instanzen im Rahmen eines Lehrbuchs, war die Darstellung der Appellation ohnehin erforderlich, zumal das Rechtsmittel der Berufung ebenfalls erst mit dem gelehrten Verfahren in Deutschland eingeführt worden war und um die Wende zur Neuzeit den ungelehrten Rechtspraktikern noch nicht in allen Einzelheiten bekannt gewesen sein dürfte. Im Zusammenhang mit der Appellation heißt es in der abgebildeten Stelle (Abb. 2): „Mer ist zemercken. We man sich berüfft von einer vrteil so sol der richter die bottenbrieff geben dem appellierenden. vnd die brieff nennet man in latein apo-
83 Moses wird schon beim ersten Auftritt vor Gericht von Belial als „behender iurist“ bezeichnet. Belial zu teutsch (wie Anm.43), Bl. 14r. 84 Da Belial im Wesentlichen die Befangenheit König Salomons geltend macht (ungerechtes Urteil aufgrund der Verwandtschaft zwischen dem Richter und einer Partei), setzt Gott als obersten Richter nun Joseph von Ägypten als iudex delegatus ein (erneut folgt die „Forma einer ander commission); Belial zu teutsch (wie Anm.43), Bl. 57r f., 60r f. u. 61r.
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stolos oder litteras dimissoriales. das hab ich hie bottenbrieff genent. Die selben brieff sol man nemen / vnd flyßigklich darumb bitten jnner halb XXX tagen / nach dem dingen. das ist das gemein recht.“ 85 Als Mustertext folgt eine „Form der bottenbrieff einer appellacion“ (Abb.2, siehe Randvermerk „Forma apostolorum“ unten rechts), der als Vorlage für jedes beliebige Verfahren genutzt werden konnte. 86 Als die Klage der Teufel auch in der zweiten Instanz 87 zu scheitern droht, schlägt Belial nach erneuter Rücksprache mit der Teufelsgemeinde der Gegenseite vor, die Sache im Rahmen eines Schiedsverfahrens zu Ende zu bringen. 88 Nachdem sich Christus damit einverstanden erklärt hat, benennen beide Prozessvertreter jeweils zwei Schiedsleute (Belial nennt Kaiser Octavian und den Propheten Jeremias, Moses nennt Aristoteles und den Propheten Jesaja), die nach langer Beratung der Sache zu folgendem Schiedsspruch kommen 89: Am Tag des Jüngsten Gerichts werden die Gerechten von den Ungerechten geschieden, die Gerechten werden in den Himmel, die Ungerechten, die ohne Reue sündigten, in die Hölle kommen. Beide Seiten sind mit diesem Schiedsspruch zufrieden: Die Teufel können weiterhin alles tun, um die Menschen zu verführen 90, während Christus seinen Jüngern den 85
Belial zu teutsch (wie Anm.43), Bl. 58v f. Zur Appellation, insbesondere zur Ausstellung der sog. Apo-
stel (Bericht des Richters der ersten Instanz über die Zulässigkeit der Appellation) vgl. auch Marquordt, Vier rheinische Prozeßordnungen (wie Anm.49), 66–70, insbes. 68; Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 114–117. Die Übergabe der Apostel (Botenbrief) ist dargestellt in Abb.4, unten rechts. 86
Belial zu teutsch (wie Anm.43), Bl. 59r f.: „Form der bottenbrieff einer appellacion. Dem almechtige
herren! herren aller herren / vn künig aller künig. em büt Salomon künig zuo Hierusalem / ein geschaffter richter von üwerm götlichen stuol. das er gern küssen wölt die füß üwer gotheit. Almechtiger herr ich thuo üwer gotheit zewissen / das mir mit üwerm brieff empfohlen ist / wie ich verhörn / vnd richten sol / ein sach zwischen Belial der hellischen gemein ein verweser als kleger / vnd Jesu von nazareth antwurtter also lutende. Anfang vnd end. Hie solt der empfelch brieff oder commission gantz geschriben werden. Nun haben sich beideteil des krieges eelich vnderwinden / vnd hab verhört ir wysung ir meldung / ir jnwürff / vnd ir yehung das sie gegen einander gethon haben vnd darinn gehandelt nach ordnung des rechten. vnd hab nun geurteilt entlich wider den selben Belial. dauon hat er gedingt / vnd sich berüfft / vnd mich darnach flissigklich gebeten vm die bottenbrieff. darumb so sag ich in von meinem gericht ledig vnd loß mit dem gegenwürtigem brieff / vnd send in zuo den füssen üwer gotheit. Vnd des zuo einer bessern sicherheit vnd kuntschafft / hab ich versigelt den brieff mit mein eigen insigel.“ 87
Eingeschoben wird an dieser Stelle der Streit der vier Töchter Gottes (Gerechtigkeit, Barmherzigkeit,
Wahrheit und Friedsamkeit). Belial zu teutsch (wie Anm.43), Bl. 64r–72v (dazu unten Anm.122). 88
Belial zu teutsch (wie Anm.43), Bl. 68r–69r.
89
Ebd.Bl. 71r–91r. Dazu auch Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 122–129 u. 154–157.
90
Belial zu teutsch (wie Anm.43), Bl. 91v: „Und do Belial mit seinem brieff gen hell kam vnd der gelesen
ward / vnd die tüfel horten das jnnen erlaubt was / das sie die lüth möchten reitzen. vnd wer jn volgete irer boßheit / vnd also mit dem tod erfunden würd on reüwe der solt ir sein. do freüten sie sich.“
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Auftrag erteilt, in die Welt zu gehen und zu predigen, um die Menschen zu retten 91. Mit dem Bezug auf das Jüngste Gericht wird ein Motiv aufgegriffen, das die Rechtspraxis der Zeit prägte wie kaum ein anderes. Die beiden bedeutendsten Rechtsbücher des Mittelalters, der Sachsen- und der Schwabenspiegel, stellen – unter Rückgriff auf das Weltgericht in Matthäus Kap. 25, Verse 31ff. – die weltliche Rechtspflege in den Dienst Gottes: Der weltliche Richter leitet seine Macht von Gott ab, steht unter dessen Aufsicht und muss sein Handeln vor dem Jüngsten Gericht rechtfertigen. 92 Diese höchste und letzte Instanz, die über jeden ein gerechtes Urteil fällt, war somit einerseits das Vorbild eines gerechten Richters und andererseits stete Mahnung für den weltlichen Richter, dass er selbst unter dem Gericht Gottes steht. Auch die frühneuzeitliche Praktikerliteratur ist voll von Ermahnungen dieser Art. 93 Zudem schmückten Bilddarstellungen vom Jüngsten Gericht zahlreiche Gerichtsstuben; eine der prominentesten Darstellungen ist diejenige des Grazer Stadtge-
91 Belial zu teutsch (wie Anm.43), Bl. 93v: „Geet hyn in alle welt / vnd leret wie das hymelrych nahent sy / ich gib üch den gewalt.“ Zum Jüngsten Gericht im Belial vgl. auch Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 129–133 u. 157–159. 92 Sachsenspiegel, Prologus (Sachsenspiegel, Landrecht und Lehnrecht. Hrsg. v. Friedrich Ebel. Stuttgart 1999): „Got ist selber recht. Dar umme ist im recht lip. Dar umme sen se sich vor all, den gerichte von gotishalben bevolen si, daz si also richten, daz gotis zorn unde sin gerichte genedicliche obir se gen muze.“ Schwabenspiegel, Landrecht Vorwort c (Der Schwabenspiegel nach einer Handschrift vom Jahr 1287. Hrsg. v. Friedrich Leonhard Anton Freiherr v. Laßberg. Tübingen 1940, Ndr. Aalen 1972): „vnd dar vmbe wil man an disem bvoche leren. alle die gerihtes phlegen svln. wie si zerehte svln rihten. [...] vnd swer och anders rihtet. wan alz dis bvoch leret. der sol wizzen daz got wil zornlichen vber in rihten andem ivngesten tage.“ 93 Christoph Zobel, Sachsenspiegel. Leipzig 1582, Bl. 350v (Glosse zu Sachsenspiegel Landrecht III 30): „Der Richter sol gleich Richter sein allen leuten / etc. Hie höre zu der du ein Richter bist / vnd siehe / das du ein gleicher vnd rechter Richter seiest / vnd gedenck an das strenge Gericht vnsers Herrn Jhesu Christi. Dann Gott ist zu derselbigen zeit vnd stunde / auch an dem ort / wann vnd do du richtest ein gestrenger Richter / vnd richtet vber dich / gleicher massen als du vber andere richtest.“ Vgl. weiter Joos de Damhouder (in der Übersetzung von Johannes Vetter), Practica Gerichtlicher Handlunge in Bürgerliche Sachen. Frankfurt am Main 1575, cap. 2 („Von Richtern“): „Die Richter tragen in Gerichten nicht jr selbst / sonder Gottes vnd der Gerechtigkeit Ampt vnd Person.“ In cap. 9 („Vom Richterlichen Ampt“) heißt es: „Vnnd bedencken / in was für gefahr sie stehen / vnnd sich dessen gantz vnnd gar bereden werden / vnd gewiß glauben / daß sie im Rechtsprechen vnd Vrtheil geben / nicht jhre eigne / sonder Gottes / der die Warheit vnd Gerechtigkeyt selbst ist / person vnd Ampt führen vnd tragen. Vnd sollen noch mögen der halben anders nichts richtenvnd sprechen / dann was recht / wahr vnd gerecht ist / dieweil sie Gott allezeit zugegen / vnd einen scharpffen vnd fleißigen Auffseher haben / jhres Spruchs und Vrtheils / ob sie recht / oder vnrecht richten vnd vrtheilen werden. Dann Gott wirt jhnen mit derselben Maß wider messen / damit sie werden gemessen haben.“
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Abb.3: Holzschnitt vom Jüngsten Gericht aus der Bambergischen Halsgerichtsordnung von 1507. Über dem Bild steht „Gedenck allezeit der leczten ding. So wirt dir rechtun gar gering“. Außerdem zwei Spruchbänder „In dem vrteil darinnen ir vrteilt / werdet ir geurteilt. Mathei am vij.“ (Mat. 7, 2) und „Der herr thut die Barmherczigkeit vnd das vrteil / Allen den die erleiden das vnrecht, Ps. C.j.i.j.“ (Psalm 103, 6).
richts von 1478, in der göttliches und irdisches Gericht vollkommen parallel erscheinen. 94 Aber auch in Gesetzbüchern wie der Bambergischen Halsgerichtsordnung von 1507 finden sich Bilddarstellungen vom Jüngsten Gericht (Abb. 3). 95 Der „Laienspiegel“, der seit der Auflage von 1511 mit einer dramatischen, den spätmittelalterlichen Weltgerichtsspielen nachgebildeten Darstellung des Jüngsten Gerichts endet 96, zeichnet sich hier erneut durch einen genialen Schachzug seines Verfassers aus. So wie es Tengler gelungen ist, durch die Erwähnung des „Belial“-Prozes 94
Dazu Barbara Stollberg-Rilinger, Die Würde des Gerichts. Spielten symbolische Formen an den Höchs-
ten Reichsgerichten eine Rolle? in: Peter Oestmann (Hrsg.), Zwischen Formstrenge und Billigkeit. Forschungen zum vormodernen Zivilprozeß. (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 56.) Köln 2009, 191–216, hier 195. Eine Abbildung des Grazer Stadtgerichts (Gerichtstafel des Stadtrichters Niclas Strobel) nebst Erläuterung findet sich auch bei Ingrid Scheurmann (Hrsg.), Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht von 1495 bis 1806. Mainz 1994, 55 u. 241 (Abb.). 95
Auch bei Ulrich Tengler, Der neü Layenspiegel. Von rechtmässigen ordnungen in Burgerlichen vnd
peinlichen Regimenten. Augsburg 1511, Bl. 222r findet sich eine Bilddarstellung des Jüngsten Gerichts (Holzschnitt von Hans Schäufelein). 96
Die Darstellung des Jüngsten Gerichts findet sich am Ende des „Laienspiegels“ in den Ausgaben ab
1511 bis 1518 und erscheint einmal separat: Ulrich Tengler, Ein schon buchlen vom iungsten gericht. Leipzig 1512; zu diesem Sonderdruck vgl. Schulze, Das des Jungsten Gerichts Einbildungen nutzlich sein (wie Anm.19), 257. Die zwölf bekannten Weltgerichtsspiele sind überwiegend handschriftlich überliefert. Bei Tenglers Darstellung vom Jüngsten Gericht handelt es sich um eine der wenigen Textadaptionen, die als Druck vorliegt; vgl. dazu Dieter Trauden, Gnade vor Recht? Untersuchungen zu den deutschsprachigen
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ses in seinem Teufelsprozess die beiden unterschiedlichen Überlieferungen geschickt zusammenzuführen, indem er im aktuellen Klageverfahren der Teufel gegen das Menschengeschlecht auf den angeblich früher geführten Rechtsstreit der Teufel gegen Christus verweist, benutzt er jetzt die Darstellung des Jüngsten Gerichts nicht nur als Abschluss des „Laienspiegels“, sondern auch als Fortsetzung seines Teufelsprozesses. In der Einleitung „Vom iungsten gericht“ stellt Tengler zunächst ausdrücklich den Bezug zu den anderen Teilen seines Praktikerhandbuchs und zur Rechtspraxis her: Mit den Bilddarstellungen vom Jüngsten Gericht in den Gerichtsstätten solle allen Gerichtspersonen vor Augen geführt werden, dass sie am Tag des Jüngsten Gerichts über ihr Handeln und Unterlassen Rechenschaft ablegen müssten. Um auch die Nutzer seines Buches, die ungelehrten Rechtspraktiker, zur Gerechtigkeit anzuhalten, habe er daher am Schluss des „Laienspiegels“ eine Darstellung des Jüngsten Gerichts in Versform beigefügt. 97 Im letzten Abschnitt „Das des jungsten gerichts einbildungen nützlich sein“ stellt Tengler dann nochmals die
Weltgerichtsspielen des Mittelalters. (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur, Bd. 142.) Amsterdam 2000, 75–86. Vgl. weiter Schmitz, Der Teufelsprozeß vor dem Weltgericht (wie Anm.8), 44–48; Wolf-Friedrich Schäufele, Zur theologischen Bedeutung der deutschen Weltgerichtsspiele des Spätmittelalters im Allgemeinen und des Weltgerichtsspiels in Ulrich Tenglers „Neuem Laienspiegel“ (1511) im Besonderen sowie Ursula Schulze, Das Weltgerichtsspiel als literarisches Konzept und seine Adaption in Ulrich Tenglers „Layenspiegel“, beide in: Deutsch (Hrsg.), Ulrich Tenglers Laienspiegel (wie Anm.3), 491–520 (Schäufele) u. 475–490 (Schulze). 97 Tengler, Der neü Layenspiegel (wie Anm.95), Bl. 222v: „Vom iungsten gericht. Als hieuor / besonder im ersten tail angetzaigt / auch an mer enden ain löblicher gebrauch ist / das man gewonlich in den radts stuben / vnd bey gerichts stetten / da über das bluot vnd ander sachen geurtailt / ayd gesworn / vnd ander gerichtlich / peinlich vnd burgerlich sachen gehandelt / die figurn des jungsten gerichts tuot fürpilden / auf das ain yeder, es sein richter, vrtailer, ratgeben, zeügen oder ander gerichtz person / allain die gerechtikait so am jungsten tag gebraucht vnd erscheinen wirt / vor augen haben vnd betrachten sol wie er am jungsten tag volkommen rechnung vnd antwurt geben müß / vmb all vnd yed haimlich vnd offenlich handlungen vnd vesaumnus biß auf den minsten quadranten bey der peen ewiger verdamnuß So nu bey den ordnungen / so hyeuor in peinlicher rechtuertigung angezaigt sein / etlich aigenschafft des jungsten gerichts / mögen als prefiguriet vnd bedeüt / auf das dann die slechten layen des ee zuo der gerechtigkait geraitzt / so werden zuo beschluß des dritten tails / bey der figur vnd vorbildung des jungsten gerichts etlich mainung durch teütsch verss oder sprüchweiß eingefürt. Wie es den verdampten / so schnell grausam / mit erschrocklichen angsten vnuersehenlich vnd ewiger peen / aber den frommen gerechten vnd säligen zuo vnaussprechlichen vnd ymmerwerenden fröden sein / vnd als augenblichs vollendet / auf das sich ain yeder verwalter richter, vrtailer, regent, ratgeb, vnd die besonder in peinlichen sachen über des menschen leib vnd leben och sunst vmb eern vnd guot vrtailn, raten vnd richten / sollen zuo zeiten erspiegeln vnd des ee den weg der waren gerechtikait suochen vnd alle zeit betrachten / wie swärlich all sachen / vor dem allmechtigen got am jungsten tag müssen verantwurt vnd gericht werden.“ Dazu auch Schulze, Das des Jungsten Gerichts Einbildungen nutzlich sein (wie Anm.19), 254–256.
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weltliche Rechtsprechung unter das Gericht Gottes. 98 Beide Teile (Einleitung und Schluss) bilden den Rahmen für die Darstellung des Jüngsten Gerichts und die Begründung für dessen Aufnahme in den „Laienspiegel“. 99 Darüber hinaus stellt das Jüngste Gericht als Abschluss des dritten und letzten Teils des „Neuen Laienspiegels“ von 1511 (Bl. 222v–234v) auch die letzte Instanz für den Teufelsprozess (Ende des zweiten Teils des „Neuen Laienspiegels“, Bl. 165r– 181r) dar. Zwar konnten in diesem Verfahren die Teufel ihr Recht nicht durchsetzen, weil Christus Gnade vor Recht ergehen ließ, jedoch findet sich im letzten Abschnitt vor dem Urteilsspruch folgender Satz: „darumb ist zuogewarten biß auff den tag des jungsten gerichts. Als dann werden wir die bösen übel vrtailen vnnd die guoten in hymelischen freuden ewiglich ansiglich machen“. 100 Zahlreiche weitere Bezüge zwischen Teufelsprozess und Jüngstem Gericht ließen sich herstellen: Der neunte Abschnitt des Jüngsten Gerichts „Von göttlichem radt vor dem vrteil“ behandelt ein Streitgespräch zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit 101 und knüpft damit an die Fürbitten Marias aus dem Teufelsprozess an, wobei diese Parallele noch durch den zehnten Abschnitt „Von fürbit vmb die sünder“ gesteigert wird, denn jetzt tritt Maria erneut – diesmal aber vergeblich – als Fürbitterin der Sünder auf. 102 Ein letztes Mal werden hier personifiziert Barmherzigkeit (Maria) und Gerechtigkeit (Christus als gerechter Richter), Gnade und Recht, gegenübergestellt. 103 Im elften Abschnitt „Vom vrteil des jungsten gerichts“ weist Tengler darauf hin,
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Tengler, Der neü Layenspiegel (wie Anm.95), Bl. 234v: „Das des jungsten gerichts einbildungen nütz-
lich sein. [...] Wann es geben zuo zeiten die vrtailer ainer parthey nach jrem ansehen recht / der im hertzen nach götlicher erkantnuß vnrecht hat. darumb sol ain yeder richter das aller grausamlichst gericht gottes wol bedencken vnd vor augen haben / das ob jm ist / der gerecht zornig richter. [...] Wie soll oder mag ain zeitlicher richter ain annder vrtail am jungsten gericht empfahen / dann nach dem er im zeit geurtailt / vnd gericht / also würt er auch vmb das vnrecht in ewige peen / aber von der gerechtigkait wegen die er hye gesuocht vnd gebraucht hat / mit ewigen fröden belonet / da die englisch scharen / auch alle ausserwelten on vnderloß got loben vnd singen.“ 99
So auch Trauden, Gnade vor Recht (wie Anm.96), 79.
100 Tengler, Laÿen Spiegel (wie Anm.8), Bl. 128v. 101 Tengler, Der neü Layenspiegel (wie Anm.95), Bl. 228v: „Die ewig weißhait ist kains rats notdürftig / aber zuo versteen das am jungsten gericht allain die gerechtikait fürgang haben so wirdet hie nach zwischen götlicher barmhertzigkait vnd seiner gerechtikait ain disputation eingefürt.“ 102 Tengler, Der neü Layenspiegel (wie Anm.95), Bl. 230v–232r. Dazu insgesamt auch Trauden, Gnade vor Recht (wie Anm.96), 81–83. 103 Dazu auch Schulze, Das des Jungsten Gerichts Einbildungen nutzlich sein (wie Anm.19), 269–277; dies., Erlösungshoffnung der Verdammten (wie Anm.15), 359–369.
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dass das göttliche Urteil diesmal unwiderruflich sei („Das göttlich vrtail ist vnwiderruoflich / auch da von nit zuo appelliern“). Die Verdammten werden jetzt an den teuflischen Nachrichter übergeben („Teüflisch volziehung götlicher vrtail“), wobei Tengler diesen Abschnitt auch zur detaillierten Darstellung der Höllenqualen nutzt („Der sünder jämerlich klag“). 104 Zu Recht wird in der Literatur darauf hingewiesen, dass die von den Weltgerichtsspielen leicht abweichende Darstellung des Jüngsten Gerichts bei Tengler zu einer Konzentration auf „das Verfahren gegen die zu verdammenden Sünder“ führt. 105 Auf diese Weise gelingt es Tengler, den kompositorischen Bogen vom Teufelsprozess am Ende des zweiten Teils (die Herausgabeklage der Teufel gehört zum Zivilprozess im zweiten Teil des „Laienspiegels“) über den im dritten Teil dargestellten Strafprozess bis hin zum Jüngsten Gericht am Ende des Werkes zu spannen und dem ungelehrten Rechtspraktiker einfach, aber dennoch eindringlich die notwendigen Zusammenhänge vor Augen zu führen. 106
V. Fazit Abschließend sollen zwei Aspekte aufgriffen werden, nämlich zum einen die technische Umsetzung der Wissensvermittlung im „Belial“ und zum anderen die mit der Verhandlung des teuflischen Begehrens verbundene Botschaft. Ich beginne mit der maßgeschneiderten Vermittlung des gelehrten Wissens an ungelehrte Rechtspraktiker und verweise nochmals auf das Aussondern der Quellen und lateinischen Fachbegriffe, um den Lesefluss nicht zu beeinträchtigen, auf das Weglassen von Rechtsinstituten des römischen Rechts, die zum damaligen Zeitpunkt noch nicht in der Praxis rezipiert waren, auf die sinngemäße, nicht wörtliche Übersetzung der lateinischen Rechtsterminologie unter Rückgriff auf die deutsche
104 Dazu insges. Tengler, Der neü Layenspiegel (wie Anm.95), Bl. 232r. 105 Trauden, Gnade vor Recht (wie Anm.96), 85. Vgl. auch Schulze, Das des Jungsten Gerichts Einbildungen nutzlich sein (wie Anm.19), 279–282. 106 Ähnlich auch Schulze, Das des Jungsten Gerichts Einbildungen nutzlich sein (wie Anm.19), 256f., die mit Bezug auf die Umstrukturierungen und Ergänzungen des als Vorlage genutzten Münchener Weltgerichtsspiels „Tenglers darstellende Souveränität und sein Adaptionskonzept, das auf die Gesamtintention des Laienspiegels abgestimmt und auf die Bewußtseinsbildung von Richtern und Schöffen ausgerichtet ist“, hervorhebt (281). Vgl. dazu insges. auch den Beitrag von Schäufele, Zur theologischen Bedeutung der deutschen Weltgerichtsspiele (wie Anm.96).
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Abb.4: Dyt bock holt inne van der clage und ansprake de Belyal. Magdeburg 1492 (Moritz Brandis)
Rechtssprache sowie auf das Einfügen von Merksätzen, Handlungsanweisungen und Mustertexten. Darüber hinaus unterstützte auch die Ikonographie die Vermittlung des neuen Grundsatzes der Schriftlichkeit des Verfahrens 107, der nicht nur das Vorbringen der beiden Parteien, sondern auch die Handlungen des Richters und des sonstigen Gerichtspersonals betraf. 108 Besonders gut belegen etwa die Abbildungen in dem niederdeutschen „Belial“-Druck aus dem Ende des 15.Jahrhunderts (Abb.4), wie die Bedeutung der Schriftlichkeit im gemeinrechtlichen Verfahren in den Illustrationen umgesetzt wurde. 109 107 Dazu Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 110–113. 108 Insgesamt werden die Rollen und Funktionen der Prozessbeteiligten – Richter, Anwälte, Notare, Gerichtsschreiber, Gerichtsbote – in den Illustrationen stark thematisiert. Welche Bedeutung den Bildern, die jeweils in engem Bezug zum Text stehen, zukommt, muss an dieser Stelle offenbleiben. Überlegungen zu den Zwecken der Ikonographie in Rechtsbüchern finden sich bei Norbert H.Ott, Vorläufige Bemerkungen zur „Sachsenspiegel-Ikonographie“, in: Ruth Schmidt-Wiegand (Hrsg.), Text-Bild-Interpretationen. Untersuchungen zu den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels. Textbd. 1. München 1986, 33–43, hier 43.
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Neben dieser technischen Umsetzung der Wissensvermittlung war eine weitere, gewaltige Aufgabe von den Übersetzern und Bearbeitern zu leisten: Sie mussten erstens entscheiden, welche Teile des gelehrten Rechts für die damalige Rechtspraxis nützlich waren, wobei in einem Entwicklungsprozess wie der Rezeption auch eine gewisse Prognose für die Zukunft zu treffen war, und zweitens musste der Empfängerhorizont berücksichtigt werden. Die richtige Einschätzung der Bedürfnisse der Rechtspraxis einerseits 110 und der Vorkenntnisse der Empfänger andererseits müssen wir dabei als eine ganz wesentliche Voraussetzung für den Erfolg eines Werkes begreifen. 111 Es überrascht daher nicht, dass vor allem Rechtspraktiker, gelehrte wie Justin Gobler 112, aber auch ungelehrte wie Ulrich Tengler, Bestseller verfassten. 113 Das Ergebnis ist eine Veränderung der Inhalte: Nicht das gelehrte Recht kommt in der Rechtspraxis an, es wird vielmehr für die Bedürfnisse der Rechtspraxis maßgeschneidert, d.h. Elemente des überkommenen einheimischen Rechts werden mit
109 Zu den Illustrationen im Magdeburger „Belial“-Druck von 1492 vgl. Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 222–224. Zur Betonung der Schriftlichkeit des Verfahrens durch die Illustrationen vgl. ebd.252–255; ders., Ikonographische Signale der Schriftlichkeit. Zu den Illustrationen des Urkundenbeweises in den ‚Belial‘-Handschriften, in: Johannes Janota (Hrsg.), Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger. Bd. 2. Tübingen 1992, 995–1010, mit zahlreichen Abbildungen; Dittmar Heubach (Hrsg.), Der Belial. Kolorierte Federzeichnungen aus einer Handschrift des 15.Jahrhunderts. (Studien zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. 251.) Straßburg 1927. 110 So nimmt beispielsweise Tengler in die Neuauflage seines „Laienspiegels“ von 1511 mehrere wichtige Reichsgesetze (Goldene Bulle von 1356, Bl. 79v f.; Reformation Kaiser Friedrichs III. von 1442, Bl. 150r– 153v; den Ewigen Landfrieden von 1495 und die Augsburger Landfriedenserklärung von 1500, Bl. 157r– 161v) auf, nicht aber die Reichskammergerichtsordnung von 1495, vermutlich weil die Gerichtsorganisation des Reichskammergerichts für die ungelehrten Rechtspraktiker der Untergerichtsbarkeit zu Beginn des 16.Jahrhunderts nicht von Interesse war. Soweit einzelne Teile der Reichskammergerichtsordnung (etwa die Eidesformeln) auch für die unteren Instanzen von Bedeutung waren, werden diese an den entsprechenden Stellen eingearbeitet. Dazu auch Schmitz, Der Teufelsprozeß vor dem Weltgericht (wie Anm.8), 40. 111 Allerdings dürfen auch andere Faktoren nicht unterschätzt werden: Welchen Bildungshorizont und welche Rechtskenntnisse hatte der Übersetzer? War er ein ungelehrter Rechtspraktiker wie Tengler oder ein gelehrter Jurist? Hat er versehentlich falsch übersetzt oder bewusst angepasst? Welche lateinischen Werke standen ihm für seine Arbeit zur Verfügung? 112 Zu Gobler vgl. Andreas Deutsch, Gobler, Justin (1503–1567), in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. 2.Aufl. Bd. 2. Berlin 2012, 438–440; Schumann, Beiträge studierter Juristen (wie Anm.6), 455. 113 Tengler, Der neü Layenspiegel (wie Anm.95), betont ausdrücklich, dass es in seinem Praktikerhandbuch nicht um eine Wiedergabe des geschriebenen, d.h. gelehrten Rechts gehe, sondern um eine Zusammenstellung des Rechts aus praktischer Erfahrung (Bl. 235r): „so ist auch ditz püchlin nit gentzlich nach dem buochstaben der geschriben recht / sunder am maisten auß erfaren übungen zuo sammen getzogen.“
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solchen des römisch-kanonischen Rechts gemischt. 114 Entsprechendes gilt auch für die juristische Fachsprache – auch hier entsteht etwas Neues, das nicht einfach nur als „Übersetzung“ zu begreifen ist. 115 Untersuchungen zur Bedeutung dieses Transfers für die praktische Rezeption des gelehrten Rechts stehen noch aus 116 – nicht zuletzt auch deshalb, weil die Forschung lange Zeit diese Veränderungen nur als „Vereinfachungen“ oder „Verfälschungen“ betrachtet hat. 117 In der Praxis behalf man sich zudem mit einer weiteren Technik, die ebenfalls im „Belial“ beschrieben ist, und auch bei Tengler mehrfach angeführt wird: Die Praktikerhandbücher sollen den ungelehrten Rechtspraktikern nur Grundzüge des gelehrten Rechts vermitteln, für alles, was darüber hinausgeht, sind hingegen die gelehrten Juristen zuständig, die in schwierigen Fragen zu Rate zu ziehen sind. 118 Außerdem gilt der Grundsatz, dass im konkreten Rechtsfall primär das partikulare, dem ungelehrten Rechtspraktiker vertraute einheimische Recht gilt; nur wenn dieses keine Lösung bereit stellt, darf auf das subsidiär geltende gemeine Recht zurückgegriffen werden. Somit darf sich der Rechtspraktiker primär auf seine eigenen Rechtskenntnisse und Erfahrungen verlassen; erweist sich die Sache aber rechtlich
114 Ähnlich auch Hagemann, Der Processus Belial (wie Anm.4), 72, zur Nachfrage der Rechtspraxis: „Was sie brauchten, wenn sie sich als Träger des Rechts- und Gerichtslebens, der Zeitströmung folgend, mit dem neuen Rechte und Rechtsdenken vertraut machen sollten, das waren zunächst einmal praktische Hilfsmittel, faßliche Wegleitungen, die ihnen in einfacher, ihrem juristischen Bildungsstande angepaßter Form das für die Praxis Bedeutsame präsentierten.“ Vgl. weiter Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 101–106. 115 So im Ergebnis auch Weinmayer, Prosasprachliche Schriftkultur (wie Anm.9), 55f. Zur Bedeutung des Sprachtransfers vgl. auch Hagemann, Der Processus Belial (wie Anm.4), 74, sowie Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 106–110. 116 Hagemann, Der Processus Belial (wie Anm.4), 71, beschränkt sich auf den Hinweis: „Wiewohl nun diese Wissenschaft des römischen und kanonischen Rechtes zweifellos von einer geistigen Elite ins Leben gerufen worden ist und von dieser getragen wurde, so hätte sie doch ihre ‚Breitenwirkung‘, eine Beherrschung des Rechtslebens, nicht erreichen können, wenn sie nicht auch die kleineren Geister, die bisherigen, ‚ungelehrten‘ Träger des Rechts- und Gerichtslebens, hätte in ihren Bann zu ziehen vermögen.“ 117 Etwa Stintzing, Geschichte der populären Literatur (wie Anm.9), XXIII; Adalbert Erler, Populäre Rechtsliteratur, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 3. Berlin 1984, 1825; Knut Wolfgang Nörr, Romanisch-kanonischer Zivilprozess im Laienspiegel, in: Deutsch (Hrsg.), Ulrich Tenglers Laienspiegel (wie Anm.3), 233–242, hier 236–241. Vgl. weiter Schumann, Beiträge studierter Juristen (wie Anm.6), 450–460. 118 Belial zu teutsch (wie Anm.43), Bl. 7v („Die wysen der rechten wurden für gefordert / die gabent den rat / vnd sprachen“); Bl. 19v („Nun habe wir vns wol bedacht vnd iuristen rat gehabt davon“). Zu den Nachweisen bei Tengler vgl. die folgende Anm.
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als zu schwierig oder das partikulare Recht als lückenhaft, so dass die eigenen Kenntnisse für eine Lösung nicht ausreichen, so ist der Rat gelehrter Juristen einzuholen. Diese Verfahrensweise wird den ungelehrten Rechtspraktikern in den einschlägigen Praktikerhandbüchern ausdrücklich empfohlen 119 und in den Gesetzbüchern teilweise sogar mit Nachdruck gefordert. 120 Und nicht zuletzt wird auch das Einholen von Rechtsrat den ungelehrten Rechtspraktikern mit Hilfe von Illustrationen – etwa in der Bambergischen Halsgerichtsordnung – nahegebracht (Abb. 5). Als Botschaft nimmt die Rechtspraxis mit, dass jede Partei, selbst der Teufel, ihre Sache vor Gericht bringen kann und ihr Gehör zu gewähren ist. Denn zu den ersten Tugenden eines gerechten Richters gehört, dass er ohne Ansehen der Person die Sache verhandelt und sein Urteil spricht. Auch der Anwalt darf eine noch so schlechte Sache vertreten, sein Vorbringen wird ernst genommen, wenn er sich den Regeln des Rechts unterwirft. Beim „Belial“ wird dieser Aspekt dadurch verstärkt, dass im Gegensatz zu den Satansprozessen mit Maria als Fürsprecherin der Beklagtenseite 121
119 So legt Tengler dem ungelehrten Richter nahe, nicht auf sich selbst zu vertrauen, sondern bei „rechtweisen rat“ einzuholen; Tengler, Der neü Layenspiegel (wie Anm.95), Bl. 137v (diese Stelle finde ich nicht in der ersten Ausgabe von 1509): „Der ander tail, Von richters bedacht vnd radtsuochen. [...] so getzimbt ainem yeden richter der rechtweisen rat zuohaben / vnd beratenlich zuo vrtailen [...] wann die weißhait vnd vernunft nit allweg ainem yeden richter vrtailsprecher / oder ratsitzer von natur anhengig [...] darumb ainem yeden richter gepürt nit zuo vil in sein aigen vernunft vertrauen.“ Allerdings betont Tengler an dieser Stelle auch, dass der Ratschlag nicht als Urteil zu verkünden sei, vielmehr der Richter auf der Grundlage der Rechtsauskunft zu einem eigenen Urteil kommen müsse. Dazu auch Schulze, Das des Jungsten Gerichts Einbildungen nutzlich sein (wie Anm.19), 285f. Vgl. weiter Justin Gobler, Gerichtlicher Process. Frankfurt am Main 1536, in der Vorrede: „Derhalb so wil ich alle Procuratores / so jre tag nit studiret / sonder auß solichen Teutschen Büchern jre Practic lernen vnd gründen wöllen / diß orts fleissig ermanet vnd gebetten haben / das sie sich vff dises vnd dergleichen verteutschtes Recht / nit allweg verlassen / noch wenen wöllen / sie habens eben wol vnd genuog verstanden / sonder so offt von nötten / vnnd sonderlich so die Sach ettwas weitleufftig / scharpff oder wichtig / sich zu den gelerten fügen / vnnd dieselbe mit rath vnd beistand der Aduocaten / handeln.“ 120 Vgl. etwa die Ermahnung in der Peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 (hrsg. v. Friedrich Christian Schroeder. Stuttgart 2000), am Ende von Art.150: „Sie sollen wissen, daß sie sich schwerlich darmit verschulden, vnnd sein den anklägern derhalber vor gott vnd der welt widerkerung schuldig, wann eyn jeder richter vnd vrtheyler ist bei seinem eydt vnd seiner seel seligkeyt schuldig, nach seinem besten verstehn gleich vnd recht zu richten, Vnd wo eyn sach über sein verstentnuß ist, bei den rechtuerstendigen, vnd an enden vnd orten wie hernach zu end diser vnser ordnung gemeldt wirdet, radts pflegen, wann zu grossen sachen als zwischen dem gemeynen nutz vnd der menschen blut zurichten grosser ernstlicher fleiß, gehört vnnd angekeret werden soll.“ Dazu auch Eberhard Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege. 3.Aufl. Göttingen 1965, § 118. 121 Zum Kompetenzgefälle zwischen den teuflischen Anwälten und Maria vgl. Carmen Cardelle de Hart-
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Abb.5: Holzschnitt zu Art.276 Bambergische Halsgerichtsordnung von 1507: Von Ratgebung der weltlichen Räte. „Vor einem Kollegium von fünf Männern, den weltlichen Hofräten, stehen zwei Rat Suchende in demütiger Haltung. [. . .] die Laienrichter [. . .] bitten: Lieben herren rat vns schlechten / Wie halt wir vns gemeß dem rechten. Die Räte werden ermahnt: Ir herren denckt an ewer pflicht / Und rat das yedem recht geschicht / Förchtet got vnd seine gericht.“ Josef Kohler/Willy Scheel (Hrsg.), Die Bambergische Halsgerichtsordnung. Halle an der Saale 1902, LXII.
ganz offensichtlich kein Kompetenzgefälle zwischen den beiden Prozessvertretern besteht. Moses und Belial sind Rechtsexperten, die sich mit demselben Mittel – der juristischen Argumentation auf höchstem Niveau – bekämpfen. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Begehren der Teufel umfasst zudem etwa ein Viertel des Textes, man nimmt den Kläger und seine Argumente also sehr ernst: In der Berufungsinstanz kommen die vier Töchter Gottes „Gerechtigkeit“ und „Wahrheit“ einerseits und „Barmherzigkeit“ und „Friedsamkeit“ andererseits als Vertreterinnen pro und contra einer Bestrafung der sündigen Menschheit ausführlich zu Wort 122, und noch länger diskutieren die vier Schiedsleute unter Einbeziehung zahlreicher Bibelstellen über das Für und Wider der teuflischen Klage.
mann, Satan vor Gericht: Die Processus Satanae als Inszenierung juristischer Rhetorik, in: Wolfgang Kofler/ Karlheinz Töchterle (Hrsg.), Pontes III: Die antike Rhetorik in der europäischen Geistesgeschichte. (Comparanda. Literaturwissenschaftliche Studien zu Antike und Moderne, Bd. 6.) Innsbruck 2005, 191–202, hier 197–200 und im Ergebnis: „Der Teufel ist eindeutig der überlegene Jurist und der gewieftere Anwalt. [...] Der Verdienst der Anwältin Maria liegt gerade nicht in ihren juristischen Fähigkeiten, sondern in ihrem Mut und ihrer Liebe“ (200). Vgl. aber auch den Hinweis bei Bethmann-Hollweg, Der Civilprozeß (wie Anm.12), 244f., dass Maria von einzelnen mittelalterlichen Autoren (so etwa bei Albertus Magnus, Summa de laudibus christifere virginis Marie. Köln 1509, Bl. 63v) auch als rechtskundige Anwältin des Menschengeschlechts beschrieben wird. Dazu auch Schmitz, Der Teufelsprozeß vor dem Weltgericht (wie Anm.8), 71. 122 Belial zu teutsch (wie Anm.43), Bl. 63r–72v. Zum Streit der vier Töchter und den personifizierten Eigenschaften „Iustitia, Veritas, Misericordia und Pax“ vgl. auch Strothmann, Die Gerichtsverhandlung als
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Und schließlich könnte der Schiedsspruch, der als Ergebnis „grosser weißheit“ gefeiert wird, nicht gerechter ausfallen; beide Seiten sind daher auch mit dem Ergebnis voll zufrieden. Der Spruch erscheint als bindender Vergleich für alle Zeiten, der beiden Seiten die Perspektive eröffnet, um die Seelen der Menschen bis zum Tag des Jüngsten Gerichts zu wetteifern. Zweifel, dass die Teufel sich an diese Vereinbarung zwischen Himmel und Hölle nicht halten könnten, kommen auch deshalb nicht auf, weil diese für ihr Anliegen nicht nur den Rechtsweg gesucht, sondern sich auch während des gesamten Verfahrens im Rahmen des Rechts bewegt haben, d.h. durch ihr Verhalten bewiesen haben, dass sie dieses als verbindlich anerkennen. Vor diesem Hintergrund wirkt der Prolog im Himmel zu Beginn von Goethes Faust fast schon als literarische Fortsetzung des Teufelsprozesses. 123 Gott empfängt – scheinbar zum wiederholten Male – den jammernden Mephisto mit den Worten: „Hast Du mir weiter nichts zu sagen? Kommst du nur immer anzuklagen? Ist auf der Erde ewig dir nichts recht?“ Gott selbst bringt sodann Faust ins Spiel und schon nach wenigen Zeilen ist dieser Gegenstand einer Wette, die Gott mit dem Hinweis versieht, dass es dem Teufel nicht verboten sei, den Menschen, solange er auf Erden lebt, zu verführen. Und mehr: Gott versichert Mephisto, dass er ihn und seinesgleichen nie gehasst habe, sind doch die Teufel ihm Mittel zum Zweck, denn nur wer der Verführung widersteht, ist ein geeigneter Anwärter für das Himmelreich. Der Prolog schließt mit dem Abgang Mephistos und den bekannten Worten: „Von Zeit zu Zeit seh’ ich den Alten gern, / Und hüte mich, mit ihm zu brechen. / Es ist gar hübsch von einem großen Herrn, / So menschlich mit dem Teufel selbst zu sprechen.“ 124
Die Verfasserin dankt den Herausgebern dieses Tagungsbandes für das Einverständnis zu einer in Teilen doppelten Verwertung dieses Beitrags; der andere Beitrag ist unter dem Titel „Seltzsame Gerichtshändel – Fiktive Prozesse als Bestandteil der juristischen Praktikerliteratur“, in: LiLi 163, 2011, 114–148, erschienen.
literarisches Motiv (wie Anm. 17), 45–69; Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm.4), 119–122 u. 145–147. 123 Weitere Bezüge finden sich im Faust, etwa beim Auftritt Marias und der Bitte der Sünder um Gnade in Faust II (5. Akt, Bergschluchten); als Andachtsbild erscheint Maria bei der Bitte Gretchens um Gnade in Faust I. Vgl. weiter Schmitz, Der Teufelsprozeß vor dem Weltgericht (wie Anm.8), 72. 124 Beide Zitate aus dem Prolog des „Faust“ in: Goethes Werke. Bd. 3: Dramatische Dichtungen I. Hamburger Ausgabe. Hrsg. v. Erich Trunz. 15.Aufl. München 1993, 18 u. 19.
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Johannes Keplers Apologie Wissensproduktion, Selbstdarstellung und die Geschlechterordnung von Gadi Algazi
1612, vielleicht erst 1613, aber auf jeden Fall nach dem Tod seiner Ehefrau Barbara, verfasste Johannes Kepler, damals 42 Jahre alt, einen an eine ungenannte Frau adressierten Text, offenbar eine Dame höheren Standes 1; ein eigenhändiges Konzept befindet sich in der Nationalbibliothek in Wien. 2 Es handelt sich um eine ausführliche Widerlegung von Beschuldigungen und Gerüchten wegen seines Verhaltens gegenüber seiner kürzlich verstorbenen Frau. Kepler verteidigt sich darin als Ehemann, Wissenschaftler und als Protestant, dessen Ansichten in Religionssachen einigen suspekt waren. Hier verbinden sich auf eine komplexe Art und Weise seine Ansprüche auf Anerkennung, seine Hoffnungen auf künftigen Ruhm und seine gelehrte Identität mit einer eingehenden Darstellung der Struktur seines Haushalts und des ehelichen Beziehungsgeflechts. Diesen Text, der in der bisherigen Forschung nicht die nötige Aufmerksamkeit erfahren hat 3, möchte ich ins Zentrum unserer Betrachtung stellen. Weder Person noch Text können in irgendeinem einfachen Sinn als typisch oder repräsentativ gelten. Kepler war zum Zeitpunkt der Abfassung des Briefes ein prominenter Hofgelehrter; dieser Spezies vormoderner Wissenschaftler ist in der Forschung viel Aufmerksamkeit geschenkt worden. Nur wenige Gelehrte waren aller1 Zur Identität der Adressatin s. unten bei Anm.66. 2 Johannes Kepler, Gesammelte Werke. Hrsg. v. Max Caspar u.a. Bd. 1ff. München 1937ff. (künftig zitiert: KGW), hier Bd. 17, Nr.643. Im Folgenden werden einzelne Textstellen durch Verweise auf die Zeilennum-
mer nachgewiesen. Eine gescannte Kopie des Originals, das sich in der Nationalbibliothek Wien befindet, Cod. 10703, Bl. 181–186, wurde mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Erst bei der Durchsicht des Originals habe ich gesehen, dass am linken oberen Rand der ersten Seite dem Text eine Überschrift gegeben wurde: „Apologia Kepleri ad vitam referenda“; einige Worte sind gestrichen; vielleicht stand da zuvor „Apologia pro Astronomia [Kepleri] ad vitam referenda.“ 3 Der Text wird eher unkritisch referiert in Max Caspars immer noch unerlässlicher Biographie Keplers (zitiert im Folgenden nach der amerikanischen Ausgabe, die einige wichtige Ergänzungen enthält): Max Caspar, Kepler. Ed. and transl. by Clarisse Doris Hellman. New York 1993, 175f.; vgl. auch neuerdings James A. Connor, Kepler’s Witch. An Astronomer’s Discovery of Cosmic Order amid Religious War, Political Intrigue, and the Heresy Trial of His Mother. San Francisco 2004, 199–202.
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oldenbourg DOI 10.1524/9783486717952.214
dings am Hof tätig; repräsentativ sind sie nicht. 4 Doch wirkten sie, und sicherlich die prominentesten unter ihnen, wie Musterbeispiele, an denen sich nicht wenige orientierten, auch wenn ihnen eine solche Position unerreichbar blieb. Es handelt sich zudem um einen außergewöhnlichen Text. In mehreren Jahren – zu vielen Jahren – der Beschäftigung mit Ego-Dokumenten von Gelehrten, mit Briefen und Vorreden, autobiographischen Fragmenten, akademischen Lebensläufen und Tagebuchaufzeichnungen, beim Versuch, die Variationen des Gelehrtenhabitus und die Strukturen ihres Familienlebens zwischen 1450 und 1630 zu rekonstruieren, ist mir kaum ein Text begegnet, in dem ein Gelehrter so eingehend und zuweilen widersprüchlich über sich selbst und seine Familienverhältnisse, über die komplexen Beziehungen zwischen Haushalt und Ruhm schreibt. Es handelt sich sicherlich nicht um eine schmucklose Wiedergabe dessen, was eigentlich gewesen ist, und dennoch weist seine Darstellung einige Besonderheiten auf, die erst im Kontext von Keplers außergewöhnlichem Gebrauch der Schrift verständlich werden. Johannes Kepler besaß zweifelsohne die Fähigkeit, witzige, hochbrillante Texte zu verfassen, die ihm einen festen Platz unter den Humanisten sichern 5, doch gelegentlich sind uns auch Texte von ihm überliefert, deren Abfassungsprozess mit dem Vorgang der Selbstbeobachtung weitgehend zusammenzufallen scheint. In diesen Fällen scheint er während des Schreibens und durch den Schreibvorgang selbst zu denken; auf diese Weise sind Texte entstanden, die nicht unbedingt fertige, geschliffene Produkte eines vorangegangenen, abgeschlossenen Denk- und Gestaltungsprozesses sind, sondern selbst Media dieses Prozesses waren: In ihnen wird hin und her gedacht, es werden Möglichkeiten aufgeworfen, skizziert und wieder verworfen, es wird umformuliert und neu gedacht; Widersprüche bleiben gelegentlich offen und unvermittelt an der Textoberfläche sichtbar. Von rhetorischen Gesten und literarischen Kniffen sind diese Texte nicht frei, vielmehr liefert die rhetorische Tradition Kepler oft seine ei4 Zu Kepler im Kontext der rudolfinischen Hofkultur s. Robert J. W. Evans, Rudolf II and his World: A Study in Intellectual History, 1576–1612. Oxford 1973, bes. 136ff., 151ff., 187–190, 245ff., 279f.; Barbara Bauer, Die Rolle des Hofastrologen und Hofmathematicus als fürstlicher Berater, in: August Buck (Hrsg.), Höfischer Humanismus. (Mitteilung der Kommission für Humanismusforschung, Bd. 16.) Weinheim 1989, 93–117; Mario Biagioli, Galileo’s Instruments of Credit. Telescopes, Images, Secrecy. Chicago 2006, 21–76. 5 Nicholas Jardine, The Birth of History and Philosophy of Science. Kepler’s „A Defence of Tycho against Ursus“ with Essays on its Provenance and Significance. Cambridge 1984, 74–79; Anthony T.Grafton, Humanism and Science in Rudolphine Prague. Kepler in Context, in: ders., Defenders of the Text. The Traditions of Scholarship in an Age of Science, 1450–1800. Cambridge, Mass. 1991, 178–203; Peter Pešic, Labyrinth. A Search for the Hidden Meaning of Science. Cambridge, Mass. 2000, 97–99.
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gentlichen Denkmittel; Selbstinszenierung geht unbemerkt in kritische Selbstanalyse über und umgekehrt. Dazu gehört auch unser Text. In der Forschung ist er oft als Briefkonzept beschrieben worden, aber beim näheren Hinsehen erweist er sich eher als eine Art Denkschrift, von Kepler vorbereitet im Hinblick auf kursierende Gerüchte und mögliche Beschuldigungen, welche seiner erneuten Verehelichung im Wege stehen könnten. Dem Schreiben gingen allem Anschein nach Gespräche voraus, denn Kepler verspricht der offensichtlich in seine Brautschau involvierten Adressatin, „dißmahl schrifttlich [...] zuverstehen“ zu geben, wie er gedenkt, den Vorwürfen künftig zu begegnen (Z. 4). Vielleicht hatte ihn die Vermittlerin gebeten, einiges klarzustellen. Wir wissen allerdings nicht, ob der Text später die Grundlage eines ausformulierten und tatsächlich verschickten Briefes geworden ist; mir scheint es wahrscheinlicher, dass es sich um einen informellen Text handelte, der seiner Adressatin und dabei auch Kepler selbst Argumente liefern sollte. 6 Wenn im Folgenden auch von den kleinsten Details des Beziehungsalltags die Rede sein wird, so geschieht das nicht aus bloßem Interesse an der Biographie eines singulären Individuums, sondern weil ich sie als spezifische Artikulationen allgemeiner Strukturen zu entziffern versuche, anders gesagt: das Besondere, Einmalige als einen Erkenntnisort sehe, an dem sich soziale Kräfte und kulturelle Modelle gut beobachten lassen. Nicht immer werde ich allerdings in der Lage sein, die anhand der seriellen Beobachtung von Gelehrtenhaushalten und Lebensläufen gewonnenen Einsichten hier in aller Breite darzustellen. Deshalb mag die eine oder andere interpretative Entscheidung vielleicht arbiträr erscheinen. Ich bitte um Nachsicht. In seinem wichtigen Buch „A Social History of Truth“ stellt Steven Shapin die Frage nach der Herstellung von Vertrauen und Glaubwürdigkeit ins Zentrum der soziologischen Analyse der wissenschaftlichen Revolution. Netzwerke von Vertrauen zwischen Gentlemen zu etablieren – darauf kam es in der wissenschaftlichen Revolution an. Geschlecht spielt in Shapins Darstellung ausdrücklich keine Rolle; es gilt ihm als Derivat von sozialem Status. Der weitgehende Ausschluss von Frauen aus der Wissenschaft, argumentiert er, war eigentlich selbstverständlich und zudem
6 In dieser Hinsicht ähnelt er etwa Keplers sog. „Selbstcharakteristik“ (KGW, Bd. 19, Nr.7.30) und seiner „Deliberatio de mora Bohemica“ (KGW, Bd. 19, Nr.2.1), die er vor seiner Anstellung bei Tycho Brahe geschrieben hatte (April 1600), um für sich selbst die Problemlage und die Implikationen seines Schritts zu klären, und um Brahe präzise Forderungen schriftlich stellen zu können.
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nicht geschlechtsspezifisch, denn Wissenschaft – wie Politik – galt allgemein als Männersache, als das Geschäft von unabhängigen, ehrenhaften und deshalb vertrauenswürdigen Männern – also von Haushaltsvorstehern im Gegensatz zu allen abhängigen Personen wie Frauen, Dienern und dergleichen. Die gegenseitige Anerkennung zwischen Männern hing nicht von der Geschlechterbeziehung ab. 7 Diese Ansicht soll anhand der eingehenden Beobachtung von Keplers Text kritisch überprüft werden. Zu der effektiven Konstruktion einer gelehrten Persona gehörte es wohl, einem Familienhaushalt erfolgreich vorzustehen – und ebendies war keine Selbstverständlichkeit, wie uns die anthropologisch ausgerichtete neuere Geschichte von Familie und Verwandtschaft anschaulich vor Augen geführt hat. Familienhaushalte waren weder abgeschlossene, der Öffentlichkeit und Politik entzogene Welten, noch waren sie immer hierarchisch stabil und gefestigt. Die Einbettung von Gelehrsamkeit in den Haushalt machte die Geschlechterbeziehungen in der Familie und somit fließende, gelegentlich konfliktbeladene Formen häuslicher Arbeitsteilung relevant für die Aufrechterhaltung der Figur des Gelehrten. Familienhaushalte und Geschlechterverhältnisse konnten erst dann aus der Sicht entschwinden, wenn sie ‚gut funktionierten‘, das heißt, wenn Strukturen häuslicher Arbeitsteilung, familiärer Sozialisation und Heiratsallianzen als gesichert gelten konnten. Wenn dies nicht der Fall war, kamen intime Abhängigkeiten in den Blick: eine Peinlichkeit für manche historische Akteure, eine aufschlussreiche Gelegenheit für Historiker.
I. Kepler heiratete Barbara Müller 1597, zwei Jahre nach seiner Ankunft in Graz, als junger Landschaftsmathematicus an der Stiftsschule. 8 Er war 25 Jahre alt; mit 23 war Barbara Müller, die erstgeborene Tochter des wohlhabenden Jobst Müller, schon zweimal verwitwet. Vom Standpunkt seines Schwiegervaters aus hatte der unbe7 Steven Shapin, A Social History of Truth. Civility and Science in Seventeenth-Century England. Chicago 1994, 87–95. Shapins gesamtes Argument scheint wesentlich auf normativen Quellen zu beruhen, auch wenn es etwa um die vermeintliche Unabhängigkeit und Verlässlichkeit von Gentlemen geht. 8 Zu Keplers Situation in Graz s. Johann Andritsch, Gelehrtenkreise um Johannes Kepler in Graz, in: Paul Urban/Berthold Sutter (Hrsg.), Johannes Kepler 1571–1971. Gedenkschrift der Universität Graz. Graz 1975, 159–195.
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kannte Kepler gar nicht so viel anzubieten. 9 Betrachtet man Keplers erste Ehe wiederum vor dem Hintergrund der unter Gelehrten verbreiteten Modelle von Familiengründung, ergibt sein Schritt durchaus einen Sinn: Es war typisch für angehende Gelehrte im späten 16.Jahrhundert, erst nach ihrer Anstellung zu heiraten und sich dadurch lokal zu integrieren, wenn möglich durch Eheschließung mit einer Tochter angesehener und gut bemittelter Mitglieder der lokalen Elite. 10 Zunächst spielte Kepler sogar mit dem Gedanken, von Barbaras Einkommen zu leben und sich der Wissenschaft relativ frei widmen zu können, aber diese Hoffnung musste er bald aufgeben. 11 Es war keine akademische Allianz, sondern eine lokale Verbindung, welche einem Fremden, einem Akademiker, den Eintritt in die gute Gesellschaft der Stadt ermöglichen sollte. Kepler wurde allerdings lokal stärker eingebunden, als er gedacht hatte 12: Er entdeckte, dass der agrarische Besitz seiner Frau nicht so leicht flüssig gemacht werden konnte 13; Konflikte um die Verehelichung seiner Stieftochter und um ihren Erbteil begleiteten ihn jahrelang. Kepler blieb nicht lange in Graz. Er musste den Ort verlassen, und um 1600 nahm er eine Position bei Tycho Brahe als Assistent in dessen Observatorium bei Prag an 14; 9 Als angehender Lehrer bezog Kepler ein mäßiges Salär von 150 Gulden jährlich, das nach seiner Eheschließung auf 200 angehoben wurde. Kepler sprach davon, dass Jobst Müller, sein Schwiegervater, ihn verachtete und verschmähte (KGW, Bd. 19, Nr.7.30, 336), gestand sich selbst aber ein, dass er nicht unbedingt der beste Heiratskandidat war. Sein Verwandter, der landschaftliche Sekretär Stephan Speidel, schrieb Kepler, hatte seiner Verehelichung mit Barbara Müller nicht nur aus eigennützigen Motiven im Wege gestanden, sondern auch, weil er für sie eine bessere Partie wünschte: ebd.335; vgl. Caspar, Kepler (wie Anm.3), 71–77. 10
Gadi Algazi, Scholars in Households. Refiguring the Learned Habitus, 1480–1550, in: Science in Con-
text 16, 2003, 9–42, bes. 20–25. 11
Kepler an Mästlin, 9.4.1597: KGW, Bd 13, Nr.64 (S.239); auch später wird Kepler noch erzählen, wie er
durch seine Heirat reich zu werden gehofft hatte: Kepler an Mästlin, 9.9.1600: KGW, Bd. 14, Nr.175. Zwar blieb diese Hoffnung unerfüllt, Kepler scheint jedoch oft – vor allem beim Ausbleiben seiner Besoldung – von den Einkünften seiner Frau gelebt zu haben; s. Caspar, Kepler (wie Anm.3), 157–159; Kepler, Bedingungen für seine Anstellung bei Tycho Brahe, 5.4.1600: KGW, Bd. 19, Nr.2.3 (44); ders., Bericht zum Vermögensstand seiner verstorbenen Frau, 1611: KGW, Bd. 19, Nr.8.35. 12
Auch die Schulinspektoren in Graz meinten, durch seine Ehe sei Kepler „stattes vnd immer nutzlicher
alhie zu continuirn gleichsam verbunden“: Gesuch der Schulinspektoren, zwischen 30.6 und 10.7.1597 (KGW, Bd. 19, Nr.1.31) 13
Kepler an Herwart von Hohenburg, 14.7.1600: KGW, Bd. 14, Nr.168; an Mästlin, 9.9.1600: KGW, Bd. 14,
Nr.175; an Herwart, 12.1.1603: KGW, Bd. 14, Nr.242, 343. 14
Zu Keplers Anstellung bei Tycho Brahe aus der Perspektive des letzteren s. Victor E. Thoren, The Lord
of Uraniborg. A Biography of Tycho Brahe, with contributions by John R. Christianson. Cambridge 1990, 430–453.
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ein Jahr später, nach Brahes unerwartetem Tod, ist er sein Nachfolger und kaiserlicher Hofmathematicus geworden. Über sein Eheleben haben wir einseitige, oft bruchstückhafte Berichte. In einer lateinisch verfassten, gedruckten Epistel lobte Kepler Barbaras Ehrbarkeit und Rechtschaffenheit, ihre „Frömmigkeit gegenüber Gott und der Wohltätigkeit gegenüber den Armen“, schrieb aber auch, dass sie nicht selten geistig verwirrt und von Sinnen war. 15 Sie litt offenbar an Epilepsie. Kepler erwähnte Zornausbrüche und schrieb ihr eine melancholische Komplexion zu. 16 Von ihr sind jedoch kaum schriftliche Zeugnisse überliefert; ein einziger Brief an Kepler aus der ersten Zeit in Prag ist erhalten. Neben einigen Nachrichten aus Tycho Brahes Umfeld, dringenden Haushaltsfragen und sogar einem kurzen Bericht vom Besuch im „khaiser garten“ kommen darin vor allem die finanzielle Abhängigkeit von Brahe und Barbaras Unterlegenheit gegenüber den Frauen in Brahes Haushalt zur Sprache. 17 In Keplers Briefen wird Barbara gelegentlich kurz genannt – vor allem im Zusammenhang mit Erbschaftsangelegenheiten, doch bezeichnenderweise erwähnt er sie zweimal im Zusammenhang mit Essen. Einmal begründet Kepler seine Frage an Mästlin nach der Versorgung der Stadt Tübingen mit feinen Lebensmitteln damit, dass seine Frau „nicht an Bohnenessen gewöhnt“ sei (woraufhin ihm sein ehemaliger Lehrer versichert, er wüsste nichts von einfachen, gewöhnlichen Lebensmitteln, geschweige denn von den feineren). 18 Ein anderes Mal führt Kepler die Figur seiner Ehefrau in einer berühmten Passage in seiner „Stella Nova“ (1606) an. Hier serviert er seinen Lesern sein Bestes. Kepler argumentiert, der neue Stern könne nicht durch
15 Kepler, Widmung der „Eclogae Chronicae“ an Tobias Scultetus, 13.4.1612: KGW, Bd. 12, 216f.; zu der Schrift s. Anthony T.Grafton, Chronology, Controversy, and Community in the Republic of Letters. The Case of Kepler, in: ders., Worlds Made by Words. Scholarship and Community in the Modern West. Cambridge, Mass. 2009, 114–136, bes. 124. 16 Bericht Keplers über den Vermögensstand seiner Frau, 1611: KGW, Bd. 19, Nr.8.35 (S.455). 17 Im Rahmen der Vorbereitungen auf die Hochzeit von Tycho Brahes Tochter Elisabeth und seinem Assistenten, dem adligen Franz Tengnagel (1576–1622), fühlte sich die verheiratete Barbara Kepler anscheinend durch die zudringlichen Aufforderungen zu Näharbeiten seitens der unverheirateten Jungfrauen herabgewürdigt: „Die junckhfran plagn mih[,] ich soll inen helfen nän [nähen] auf die hohzeit[.] sie göben mier nuer zu nän das[, was] sie niht mögen. Die hanß Millerin hats sein angeweist auf mih[,] sie laufen jmer herauf zu mier[;] ich gib inen immer wol zuuerstehen[,] das ich jnen niht gern näh.“ Barbara Kepler an ihren Mann, 31.5.1601: KGW, Bd. 14, Nr.188 (Z. 16–19). 18 Kepler an Mästlin, 19./29.8.1599: KGW, Bd. 14, Nr.132 (Z. 635); Mästlin an Kepler, 15.1.1600: KGW, Bd. 14, Nr.153.
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Zufall an den Ort der großen Konjunktion geraten sein. Er stützt sich auf Ciceros Autorität und seine eigenen jugendlichen Versuche mit Würfeln und Kartenspielen 19, um seine Ansicht zu untermauern, dass Ordnung nicht durch Zufall entstehen könne. Dann stellt er unerwartet sich selbst als von der gegnerischen Ansicht überzeugt dar und fragt, ob der Zufall auf lange Dauer doch Ordnung hervorbringen könne. Die Widerlegung dieser Meinung legt er keiner anderen als seiner Frau in den Mund. Er malt eine kleine Familienszene, die zwischen den bekannten entgegengesetzten Polen des Gelehrtenlebens – Studierzimmer und Küche, Büchern und Essen – angesiedelt ist, in der er, der von langer Betrachtung müde gewordene Gelehrte zur Mahlzeit gerufen wird 20: „Gestern rief sie mich, als ich müde vom Schreiben war und in innerster Seele ganz staubig von der Betrachtung jener Atome, zur Mahlzeit. Und die, von der ich sprach, stellte mir die Salatschüssel hin. ‚Also‘, sagte ich, ‚wenn Massen von Zinnschalen in der Luft herumschwebten, dazu Salatblätter, Salzkörnchen, Tropfen von Wasser, Essig und Öl, dazu gehackte Eier, und wenn dieser Vorgang seit Ewigkeit anhält, dann muss doch irgendwann einmal durch Zufall so eine Schüssel mit Salat zustande kommen.‘ Darauf entgegnete meine Schöne: ‚Aber nicht so schön, nicht so geordnet.‘ “ 21
Mit großem Können spielt Kepler hier mit althergebrachten Versatzstücken gelehrter Folklore: Seine Frau steht für das Essen, er für die Betrachtung; sie ist seine in19
Über seine Hingebung zum Spiel in seiner Jugend s. Kepler, Selbstcharakteristik (wie Anm.6), 330.
20
Vgl. zu solchen Szenen Algazi, Scholars in Households (wie Anm.10), 26f.; ders., At the Study: Notes
on the Production of the Scholarly Self, in: Malina Stefanovska/David W. Sabean (Eds.), Space and Self in Early Modern European Cultures. Toronto 2012, 17–50. 21
„Heri dum fessus à scribendo, animoque intus pulverulento ab atomorum istarum considerationibus,
ad coenam vocor: apponit mihi ea, quam dixi, acetarium. Ergo, inquam ego, si toto aëre confertae volitarent patinae stanneae, folia lactucae, micae salis, guttae aquae, aceti, olei, ovorum decusses, idque ab aeterno duret: futurum est tandem aliquando, ut fortuitò tale coeat acetarium: respondit bella mea: Sed non hoc decore, neque hoc ordine.“ Johannes Kepler, De stella nova in pede Serpentarii..., in: KGW, Bd. 1, 147–390, hier 285; zitiert im Folgenden nach der neueren deutschen Übersetzung, mit kleinen Abweichungen: Johannes Kepler, Über den neuen Stern im Fuß des Schlangenträgers. Übers. Otto Schönberger, Eva Schönberger u. Eberhard Knobloch. Würzburg 2006, 164. Der Hinweis auf die Ordnung und Schönheit des Salats habe ich belassen, so wie er in Keplers Text steht (in der neuen Übersetzung ist der Salat „schön angemischt“ und „schön geordnet“); im Text ist lediglich von ordo und decor des Salats die Rede, aber die Attribute, besonders die Ordnung, passen nicht ganz zum Objekt; sie wurden möglicherweise von Kepler benutzt, damit die Verbindung mit Ciceros Argumentation aufrechterhalten bleibt, wonach Ordnung (der Zahlen) und Schönheit (von Statuen) nicht durch Zufall entstehen. Robert S.Westman sei hier herzlich für den freundlichen Hinweis auf diese Stelle gedankt.
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time „lästige und schwierige Widersacherin“, der er alleine nicht gewachsen ist, weshalb er die Hilfe der Lehrer braucht. 22 Er kehrt aber diese bekannten Diskurselemente in ihr Gegenteil um, denn in diesem inszenierten Streit der Autoritäten vertritt der gelehrte Astronom die Meinung seiner Gegner, um deren vergebliche Hilfe gegen das triftige Argument seiner Frau ironisch zu erbitten. Die literarisch ausgemalte Mahlzeit wird zum Ort der scherzhaften Belehrung und der Salat seiner Frau, dessen Zutaten verspielt der Reihe nach aufgezählt werden, zum Beweis der kosmischen Ordnung. Zuallerletzt stellt Kepler aber seine Frau doch als eine hin, die weiß, ohne es zu wissen, um dann zurück zu seinen Büchern und gelehrten Autoren zu gelangen: „Was sollte da ich Armer zu Verteidigung meiner Ansicht vorbringen? Meine Frau schien ja etwas Wahrscheinliches zu sagen. Natürlich hat sie dies von Cicero höchstselbst gelernt” – und es folgt gleich das ihr in Wahrheit nicht zugängliche Zitat aus Ciceros „De Divinatione“, mit welchem Kepler die Diskussion über Zufall und Ordnung ursprünglich eingeleitet hatte. 23 Wichtiger als literarisierte Darstellungen von Keplers häuslichen Verhältnissen werden uns im Folgenden die sozialen Grundgegebenheiten sein, von welchen die unzähligen Interaktionen und Konflikte des ehelichen Alltags vorgeprägt sind. In Graz war Kepler ein Fremder; in Prag waren beide in der Fremde und daher in besonders hohem Maß aufeinander angewiesen. In einem an Tycho Brahe adressierten Brief verwies Kepler ausdrücklich auf die gegenseitige Abhängigkeit zwischen ihm und seiner Frau: Nachdem er während seines ersten langen Besuchs bei Brahe fünf Monate lang von zuhause fernblieb, kehrt Kepler zunächst zu seiner Frau und Stieftochter zurück. Er beabsichtigt, erneut ohne sie nach Prag zu fahren, um die Bedingungen seiner festen Anstellung bei Brahe zu klären. Schließlich entscheidet er sich doch anders und kommt zusammen mit seiner Familie nach Prag. Brahe gegenüber erklärt der kranke, um sein Leben besorgte Kepler, er habe es aus der in ihm aufstei-
22 „[I]dque ideò, quia inductus ipsorum rationibus jam modò concessi, ordinem casu effici posse, quod non videtur meae: ut igitur me doceant, sententiam à se suppeditatam, contram molestum et gravem hunc adversarium defendere.“ Kepler, De stella nova (wie Anm.21). 23 „[N]imirum ab ipsissimo Cicerone dedicit. Sic enim et ille casui largitur Figuram aliquam non dissimilem verae, sed certè non talem, ut eam factam à Scopa diceres.“ Cicero, de Divinatione, I, 13; Kommentar: David Wardle, Cicero on Divination: Book 1. Oxford 2006, 161–163. Mit Ciceros Text ist Keplers Passage vielleicht nicht nur durch das Beispiel des Würfelspiels verbunden, sondern noch spezieller durch Ciceros Hinweis auf den ‚Venuswurf‘ (iactus Venerius, ein Siegeswurf im Würfelspiel), der Keplers Gedanken möglicherweise zum geworfenen Salat seiner bella hinführte.
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genden Furcht heraus getan, „es könnte einer von uns [er und Barbara] in Abwesenheit des anderen unter Fremden krank werden“. 24 Die unmittelbare Situation suggeriert, dass er dabei vor allem sich selbst meint. Vor diesem Hintergrund scheint seine Aussage noch aufschlussreicher, man habe ihm damals geraten, allein nach Italien zu reisen, um Medizin zu studieren, da er schon durch die eigene Erfahrung – nämlich durch seinen langen Aufenthalt in Prag – bewiesen habe, dass er dazu fähig sei, sein Zuhause zu entbehren. 25 Daraus sind wiederum Keplers Vorbehalte gegen ein Leben allein, ohne seine Ehefrau, in der Fremde herauszuhören, und in der Tat hat er sich dagegen entschieden. Gegenseitiges aufeinander Angewiesensein bei größer werdender struktureller Diskrepanz – so lässt sich die Beziehungslage nach Keplers steilem Aufstieg beschreiben. Prag war für Kepler der geeignetste Ort für seine Studien. Anders sah das für seine Frau aus: Schon bevor er Graz endgültig verließ, war sich Kepler darüber im Klaren, dass dies für seine Frau eine Trennung von ihren Freunden und Verwandten, ein Herausfallen aus dem Netz ihrer sozialen Beziehungen bedeuten würde. 26 Er wusste auch um die bei Hof zu erwartenden Schwierigkeiten mit der Bezahlung, und auch, dass dies besonders für seine Frau schmerzhaft sein würde. 27 Zu diesem strukturellen Ungleichgewicht kamen die Folgen von Keplers kaum vorhersehbarem Aufstieg vom unbekannten Lehrer zum kaiserlichen Mathematicus hinzu. Ob Kepler selbst für das Leben bei Hof geschaffen war, ist fraglich; er wurde als Experte angestellt 28, aber, wie noch zu sehen sein wird, verstand er sich eher als Gelehrter und Forscher. Angesichts der sich daraus ergebenden Spannungen konnte sich Kep24
Kepler an Tycho Brahe, 17.10.1600: KGW, Bd. 14, Nr.177; Barbaras Sorge um die Krankheit ihres Man-
nes kommt in ihrem einzig erhaltenen Brief an Kepler zum Ausdruck. 25
Kepler an Herwart, 12.7.1600: KGW, Bd. 14, Nr.168.
26
Dabei hoffte er, dass die „unter Menschen deutscher Zunge vorherrschende Annehmlichkeit“ in Prag
sie darüber hinwegtrösten würde: „Praga meis studijs apta est, isthic est frequentia nationum, isthic rectissimè rebus meis prospicere possem: isthic est aliqua inter homines germanicam linguam callentes amoenitas, qua soletur uxor mea amicorum et cognatorum absentiam.“ Kepler, Deliberatio (wie Anm.6), 39; s. auch seinen Brief an Herwart, 12.7.1600: KGW, Bd. 14, Nr.168, 129 („An non me meosque in extremas angustias loco peregrino conjicerem“). 27
„Deinde salaria aulica, ut audio, valde sunt impedita. Conjiceretur ergo familia crebrò in difficultates:
quod uxori meae summae miseriae instar videretur.“ Kepler, Deliberatio (wie Anm.6), 40. Recht früh nach seiner Übersiedlung schrieb Kepler an Mästlin, es tue ihm leid wegen seiner Frau, die bei ihm sei: 6/16.12.1600: KGW, Bd. 14, Nr.180. 28
S.hierzu Frank Rexroth, Expertenweisheit. Die Kritik an den Studierten und die Utopie einer geheilten
Gesellschaft im späten Mittelalter. (Freiburger Mediävistische Vorträge, Bd.1.) Basel 2008.
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ler allerdings unterschiedlicher Elemente der vorgefertigten Gelehrten-Persona bedienen. Barbara ihrerseits war nicht vorbereitet auf das Hofleben und besonders auf die strukturelle Kluft zwischen Keplers Statusansprüchen am Hof und den tatsächlichen Einnahmen seines Haushalts. Sie starb am 3. Juli 1611 an Fleckfieber, nachdem sie fünf Kinder zur Welt gebracht hatte, von denen nur zwei die ersten Jahre überlebten. Offenbar hatte sie der Tod des sechsjährigen Friedrich, mit dem sie besonders verbunden war, am stärksten getroffen. Kepler siedelte dann nach Linz um und wurde Mathematiker an der Landschaftsschule. Gleichzeitig versuchte er, sich erneut zu verheiraten. Es folgten komplizierte Verhandlungen, in deren Verlauf er elf unterschiedliche Heiratskandidatinnen in Betracht zog. In diesem Kontext scheint Keplers Brief an die uns namentlich unbekannte Frau entstanden zu sein. 29 Dem wenden wir uns jetzt zu.
II. Barbara Kepler litt darunter, dass sie ‚die Sternseherin‘ genannt wurde – des Sternsehers Frau. Es geht in Keplers Apologie also zunächst um Ruf und Beruf – genauer, um die Beziehung zwischen Keplers beruflicher Identität und dem Ruf seiner Frau. Als Sternseher wurde jeder bezeichnet, der sein Geld mit Astronomie und Astrologie verdiente, speziell durch die Anfertigung von Kalendern und Horoskopen – „ein practickschreiber“, sagen die Wörterbücher. 30 Andere Quellen lassen keinen Zweifel daran, dass Sternseher ein Schmähwort blieb, das Täuschung und Betrug sugge-
29 Möglicherweise wurde der Text zwischen dem 18.3.1612 und Anfang April 1612 geschrieben. Friedrich Seck schlug eine Datierung zwischen Februar und April 1612 vor, d.h. nach Rudolfs Tod und vor Keplers Übersiedlung nach Linz: Johannes Kepler, Selbstzeugnisse. Ausgewählt u. eingel. v. Franz Hammer, übers. v. Esther Hammer, erläutert v. Friedrich Seck. Stuttgart-Bad Cannstatt 1971, 92. Der Text enthält allerdings weitere Anhaltspunkte für eine Datierung: Kepler bezieht sich auf den verstorbenen Kaiser Rudolf II. und schreibt, er diene nun „dem König“ als Mathematicus (Z. 85); der Text müsste also nach Keplers Bestätigung als Mathematicus durch den neuen König Matthias II. am 18.3.1612 und mit Sicherheit vor der Krönung von Matthias II. zum Kaiser am 13.6.1612 – und wenn man Secks terminus ad quem akzeptiert, vor April 1612 – entstanden sein. 30 Theophilus Golius, Onomasticon Latinogermanicum. Straßburg 1579, Sp.155: „Astronomus, erfahrner des gestirns vnd himmels lauff; Astrologus, sternseher / practick schreiber / außleger des gestirns“; vgl. auch Hadrianus Junius, Nomenclator octilinguis: omnium rerum propria nomina continens. Paris 1606, s.v. „Astrologus“.
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rierte. 31 1644 scheint Jacob Comenius eine wankende Unterscheidung festigen zu wollen, indem er insistiert, dass ein Sternseher einer ist, der die Sternkunst beherrscht, den Lauf der Sterne beobachtet, während ein Sterndeuter oder Sterngucker ihren Einfluss interpretiert. 32 Eine solche Unterscheidung zwischen Sehen und Betrachten einerseits und bloßem Gucken und vermeintlichem Deuten andererseits dürfte ganz im Sinne Keplers gewesen sein. Er lehnt die astrologia iudiciaria ab, die den Kunden spezifische Prognosen verspricht, distanziert sich vom „sternguckerischen Aberglauben“ und hält fest an seiner Art der wissenschaftlichen Astrologie. 33 Zugleich fertigt er regelmäßig Kalender und Horoskope an. 34 Es liegt auf der Hand, dass der „dicke Trennungsstrich“, den „Kepler zwischen sich und der üblichen Figur des Astrologen“ zieht, für viele gar nicht sichtbar war. 35 Keplers Antwort beginnt mit einem Stück Lebenserinnerung: Er bestreitet nicht die Wirksamkeit des Spottes, vielmehr führt er zunächst die eigene Empfindlichkeit 31
S.etwa Andreas Alciatus, Emblematum libellus. Hrsg. v.August Buck. Darmstadt 1991, 122f. („In astro-
logos / Wider die sternseher“), und die Belege bei Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch. Bd.18. München 1984, Sp.2519–2522, s. v. „Sternseher“, „Sternseherei“. 32
„[D]er sternseher oder der sternkunst erfahrne betrachtet den lauff der sterne; der sternendeuter oder
sternengucker derselben einflusz, krafft und wirckung.“ Johann Amos Comenius, Janua linguarum reserata (1644), Sp.248, zitiert bei Grimm, Deutsches Wörterbuch (wie Anm.31), Bd. 18, Sp.2519 s.v. „Sternseher“. Vgl. dagegen den Eintrag bei Johannes Serranus, Dictionarium Latinogermanicum. Nürnberg 1539: „Astronomus, Ein Sternenseher.“ Vgl. Robert S.Westman, The Astronomer’s Role in the Sixteenth Century: A Preliminary Study, in: History of Science 18, 1980, 105–147; Mario Biagioli, The Social Status of Italian Mathematicians, 1450–1600, in: History of Science 27, 1989, 41–95; Stephen Johnson, The Identity of the Mathematical Practitioner in 16th-Century England, in: Irmgard Hantsche (Hrsg.), Der „mathematicus“: Zur Entwicklung und Bedeutung einer neuen Berufsgruppe in der Zeit Gerhard Mercators. (Duisburger MercatorStudien, Bd. 4.) Bochum 1996, 93–120, bes. 107–111. 33
Vor dem „Sternguckerischen Aberglauben“ warnt Kepler die Leser seiner Schrift „Tertius Interveni-
ens, das ist Warnung an etliche Theologos, Medicos vnd Philosophos, sonderlich D. Philippum Feselium, dass sie bey billicher Verwerffung der Sternguckerischen Aberglauben nicht das Kindt mit dem Badt außschütten vnd hiermit jhrer Profession vnwissendt zuwider handlen“. Frankfurt am Main 1610 (KGW, Bd. 4, 147–258). 34
Nach der Schätzung von Friederike Boockmann enthält Keplers Sammlung der von ihm für unter-
schiedliche Personen angefertigten Horoskope zwischen 900 und 1000 Horoskopfiguren: Friederike Boockmann, Die Horoskopsammlung von Johannes Kepler, in: dies./Daniel A. Di Liscia/Hella Kothmann (Hrsg.), Miscellanea Kepleriana. Festschrift für Volker Bialas zum 65. Geburtstag. (Algorismus. Studien zur Geschichte der Mathematik und Naturwissenschaften, Bd. 47.) Augsburg 2005, 183–203, hier 184. 35
Franz Hammer, Die Astrologie des Johannes Keplers, in: Sudhoffs Archiv 55, 1971, 113–135, Zitat 115;
vgl. Edward Rosen, Kepler’s Attitude toward Astrology and Mysticism, in: Brian Vickers (Ed.), Occult and Scientific Mentalities in the Renaissance. Cambridge 1984, 253–272; Patrick J. Boner, Kepler’s Early Astrological Calendars. Matter, Methodology and Multidisciplinarity, in: Centaurus 50, 2008, 324–328.
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ins Feld, um die unleugbare Verletzung seiner Frau zu relativieren. Ein „so zart gemüeth“ habe er zu seiner „profession gebracht, als khain weibsbild nimmer mehr haben mag“ (Z. 8–9). Offenbar bezieht sich Kepler auf seine Jugend, auf seine Studienzeit, und bietet hier eine aufschlussreiche, ambivalente Beschreibung von sich selbst als einem jungen Gelehrten an, dessen Verletzbarkeit diejenige einer Frau übertrifft: Gegen den Spott der Leute und besonders seiner Mitgesellen war er keineswegs gefeit. Der Hohn habe ihn sehr geschmerzt, schreibt er, aber nachdem er darüber nachgedacht habe, sei er zu dem Schluss gekommen, dass er unverschuldet sei. Deshalb habe er „ein ding gethan“ und sich selbst Sternseher zu nennen begonnen. 36 So habe er die Schmäher gestoppt, und wenn er weiterhin doch zuweilen Sternseher genannt wurde, habe es ihm nie mehr wehgetan – es sei für ihn keine Schmach mehr gewesen (Z. 13–14). Anders war es offenbar für seine Frau. Was Kepler für sich selbst zu leisten vermocht hatte, nämlich sich mit der aufgesetzten Rolle voll und ganz zu identifizieren und die abfällige Bezeichnung umzudeuten, war für seine Frau unmöglich und konnte auch in der Hofgesellschaft nicht ohne weiteres geltend gemacht werden. Deshalb versucht Kepler nun, die Position von Sternsehern am Hof neu zu bestimmen, wenn auch nur auf dem Papier: Er skizziert eine Karte des sozialen Status von Sternsehern und anderen Amtsträgern am Hof, schwankend, wie oft in seiner Apologia, zwischen nachdrücklichem Insistieren auf dem eigenen Selbstverständnis und einer widerwilligen Berücksichtigung der sozialen Gegebenheiten. Wie es einem Astronomen gebührt, stellt Kepler eine Reihe von Berechnungen der relativen Positionen, der sozialen Distanz und Anziehungskraft von Personen und Berufen an: Ein Sternseher steht ihm zufolge viel höher als ein Hantwerksman, besser als ein Kaufmann, an Ehre einem Schulmeister überlegen, und als potentieller Bräutigam – viel besser als ein Prediger (später werden Prediger als Verleumder von Kalendermachern explizit genannt). Nun wendet sich Kepler einem Vergleich mit einem gelehrten Beruf zu: Ein Sternseher ist einem Arzt an Ehre gleich, doch lebt er viel ruhiger – wenn sein Erwerb gesichert ist (Z. 15–18). Der Vergleich des Astronomen mit dem Arztberuf ist naheliegend, schließlich stellten sie parallele, gelegentlich kombinierbare Karrieren dar; Kepler war zudem nicht der Einzige unter
36 Dass Kepler schon zu seiner Studienzeit in Tübingen für jemand gehalten wurde, der in der Astrologie bewandert ist, zeigt der Brief Melchior Schärers an Kepler vom 27.1.1593. Der Brief ist nun verschollen (KGW, Bd. 13, 375); Zusammenfassung: Gustav Keppler, Familiengeschichte Keppler. 2 Bde. Görlitz 1930/31, hier Bd. 2, 88.
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den Humanisten, der an einem entscheidenden Punkt seines Lebens, als seine Zukunft noch ungewiss war, überlegte, ob er bei aller Hingabe zur Astronomie nicht doch ein Arzt werden sollte. 37 Doch nun, mit einem relativ gesicherten Einkommen, kann er die Vorteile seiner Profession unterstreichen: Sein Leben ist sesshafter, ruhiger, also mit dem gelehrten Lebensideal viel kompatibler als dasjenige eines praktizierenden Arztes, der sich ständig um seine Patienten kümmern muss. Der Anspruch auf Ruhe und Sesshaftigkeit hat anscheinend einen besonderen symbolischen Wert. 38 Ehre, Heiratsfähigkeit und Lebensweise: Weder bringt Kepler in diesem Kontext seine eigentliche Gelehrsamkeit ins Spiel, noch bezieht er sich auf seinen akademischen Grad. Vom vermeintlichen Adel des Doktors kein Wort – offenbar, weil im höfischen Zusammenhang um 1600 dies an sich nicht viel gilt. In Hofkreisen kam der Spott vor allem aus dem Munde von Schreibern und deren Frauen, wobei ‚Schreiber‘ in diesem Zusammenhang ein breites Spektrum von Positionen bezeichnen konnte – von kleinen Schreibdienern bis zu höchsten Hofbeamten. Kepler nützt diese semantische Breite der Bezeichnung aus und schlägt um sich, um den Hohn zu relativieren: Schreiber plagen zwar die Sternseher, aber werden selbst von Soldaten und Offizieren verspottet. Eines Doktors Tochter empfindet sich als zu erhaben, um einen Schreiber zu heiraten; ein mit dem Studium nicht fertig gewordener Student wird Schreiber, weshalb, wenn Studenten als künftige Schreiber gelten, der Spott auch die Universitäten trifft (Z. 18–22). Nachdem er die Ströme von Spott und Hohn zwischen beiden Gruppen skizziert hat, um die Vorurteile von Schreibern gegenüber Sternsehern zu relativieren, bleibt Kepler noch eine Erklärung schuldig, wieso die Meinung der Schreiber am Hof doch dominiert. Er bietet eine simple soziologische Erklärung an: Am Hof gibt es viele Schreiber; in den Kanzleien kennt man nichts Besseres als einen Schreiber. Weil sie so zahlreich sind, setzt
37
Kepler an Mästlin, 9/19.9.1599: KGW, Bd. 14, Nr.132; an Herwart, 12.7.1600: KGW, Bd. 14, Nr.168; an
Mästlin, 9.9.1600: KGW, Bd. 14, Nr.175. Auch Keplers Korrespondent und Gesprächspartner Johannes Brengger (1559–1613) wirkte als Arzt in Kaufbeuren; s. Nicholas Jardine, The Places of Astronomy in EarlyModern Culture, in: Journal for the History of Astronomy 29, 1998, 49–62, hier 49. 38
Mit seinem Bedürfnis nach Ruhe begründet Kepler dem Kaiser gegenüber seine Umsiedlung nach
Linz („vmb besserer rhue vnd mehrern nutzes willen“): Kepler an den Kaiser, Ende Mai 1613; KGW, Bd. 19, Nr.52; siehe auch seinen Brief an die kaiserlichen Kommissare, 4.10.1612: KGW, Bd. 9, Nr.2.47 (S.73). 1619 wird Kepler in seinem „Harmonice Mundi libri V“ noch deutlicher von der übermäßigen Unruhe am Hof sprechen: KGW, Bd. 6, 5–377, lib. IV, cap. vii, 280. Hinweise auf die Sorgen des Hoflebens lassen sich aber schon in seiner Prager Zeit finden; s. etwa Keplers Briefe an Edward Bruce, 4.9.1603 (KGW, Bd. 14, Nr.268) und an Longomontanus, 1605: KGW, Bd. 15, Nr.323, Z. 93–109.
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sich ihre Meinung durch, wobei Kepler den Etablierungsprozess eines neuen Berufs grob umreißt: „Vor Zeitten hatt man alle glehrte vexirt [verhöhnt] und hatt sie schuler gehaissen, weil irer damahlen weniger gewest dan heütt zu Tag. Jetzo vexirt alle welt einen Sternseher, weil irer nit so vil sein dörfen als deren Ärzte, oder deren procuratorn oder der Prediger, und allhier [am Hof] der Schreiber“ (Z. 24–27).
Um die Mengen, nicht um das Gewicht der Meinungen, geht es seiner Meinung nach. Im Spiel um Ehre und Status am Hof kann Kepler sein eigentliches, gelehrtes Wissen nicht ins Feld führen, aber auch mit dieser Taktik, der Relativierung der sozialen Positionen der Spötter, kommt er nicht sonderlich weit. Denn die Tatsache, dass die Meinung der Schreiber vorherrschend bleibt, kann er dadurch nicht ändern. Um dem Wirrwarr der sich widersprechenden Urteile unterschiedlicher Gruppen über die Ehre ihrer Konkurrenten zu entkommen, greift der kopernikanische Astronom 39 einen absoluten Maßstab von Status auf – Königsnähe. 40 Man müsse den Blick ganz anders ausrichten, argumentiert er, nämlich auf das Zentrum des Systems schauen: „Wan man aber, wie billich, auff Kayser, Könige, Fürsten vnd Herren sehen will, von denen alle stende Ire Würde haben, da gilt ein glehrter Sternseher neben einem reichen schreiber seinen pfenning: offt ist Inen [den Fürsten] ein glehrter sternseher lieber dan alle Schreiber. Allain das sie Irer [der Schreiber] nit entperen khönden [entbehren können]“ (Z. 28–31).
Kepler ist wohlgemerkt nicht in der Lage, eine bessere Belohnung etwa als Beweis für seine höhere soziale Stellung anzuführen, denn es muss vielen am Hof bekannt sein, wie schwierig es für den Hofmathematicus ist, die ihm zustehende Bezahlung einzufordern, und wie oft er bei Hofbeamten darum bitten muss. Er spielt deshalb eher auf kaiserliche Gunst an, aber die beständigere, unentbehrliche Position der
39 Auch in einem früheren Brief an seinen Lehrer Mästlin, noch bevor er selbst an den Prager Hof gekommen war, interpretierte Kepler die politische Handlungsweise des Kaisers mit astronomisch-physikalischen Metaphern: der Kaiser habe eine „archimedische Art der Bewegung“ – so sacht, dass sie kaum spürbar sei, dennoch bringe sie allmählich „die ganze Masse in Bewegung“: 1./11.6.1598, KGW, Bd. 13, Nr.199. 40 Zur Intensität des Verkehrs zwischen Rudolf II. und Kepler s. Caspar, Kepler (wie Anm.3), 152f.; wie sehr es Kepler gelegen war, sich dem Kaiser anzunähern, geht aus seinen Überlegungen vor dem Umzug nach Prag hervor: Deliberatio (wie Anm.6), 39. Über Tycho Brahes Nähe zum Kaiser und seine Position bei Hof s. Thoren, Lord of Uraniborg (wie Anm.14), 443–446, 465f.
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„Schreiber“ – er muss hochgestellte Hofbeamte im Sinne haben – kann er letztendlich nicht leugnen.
III. Kepler weiß allerdings, dass der schlechte Ruf von Sternsehern auch andere Quellen hat. Wenn man der Frage nachgeht, schreibt er, warum Sternseher für lächerliche Figuren gehalten werden, kommt man darauf, dass „vnder diesen namen mancher ime selbst einbildet[,] ein Wunderthier [zu sein], das die augen nit wie ander leütte, für sich, sondern nur gehn himmel richtet, in summa, es lauttet fast als wan man den Nelle [Narr] nennete“ (Z. 46– 49).
Nicht oft hallt das Gelächter aller Welt über die Gelehrten durch den gelehrten Diskurs. Die Figur des Weisen, der so sehr in die Beobachtung der Sterne vertieft ist, dass er das, was vor sich geht, nicht sieht, ist antiken Ursprungs. In der Äsopischen Fassung handelt es sich um einen namenlosen Astronomen, aber bei Platon bezieht sich die Geschichte auf Thales von Milet: „wie auch den Thales, o Theodoros, als er, um die Sterne zu beschauen, den Blick nach oben gerichtet in den Brunnen fiel, eine artige und witzige thrakische Magd soll verspottet haben, dass er, was am Himmel wäre, wohl strebte zu erfahren, was aber vor ihm läge und zu seinen Füßen, ihm unbekannt bliebe.“ 41
Hans Blumenberg hat das lange Nachleben dieser Geschichte nachgezeichnet. 42 Möglicherweise spielte sogar Nicolaus Copernicus auf eben diese Geschichte an, als er seine Leser warnte, immer zu untersuchen, welche Stellung die Erde zum Himmel hat, damit wir, während wir das Erhabenste erforschen wollen, nicht das Nächste außer Acht lassen. 43 Näher noch zum zeitgenössischen Bild des Astronomen und be-
41
Platon, Theaitetos, 174a. Nach der Übers. von Friedrich Schleiermacher, in: Platon, Werke. Bd. 6. Hrsg.
v. Gunther Eigler. Darmstadt 1977. 42
Hans Blumenberg, Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie. Frankfurt am Main 1987;
s. aber auch ders., Der Sturz des Protophilosophen. Zur Komik der reinen Theorie – anhand einer Rezeptionsgeschichte der Thales-Anekdote, in: Wolfgang Preisendanz/Rainer Warning (Hrsg.), Das Komische. (Poetik und Hermeneutik, Bd. 7.) München 1976, 11–64, mit anschließender Diskussion. 43
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„Quam ob causam ante omnia puto necessarium, ut diligenter animadvertamus, quae sit ad coelum
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zogen auf Kepler selbst erscheint der Kernsatz der Geschichte in einem Brief von Keplers Freund Johannes Memhard (1544–1613): Bekanntlich sind die Studiosi der Philosophie und der Mathematik, schreibt er an einen gemeinsamen Freund und spielt dabei auf Kepler an, nicht so gut im Haushalten, denn sie betrachten nicht das, was zu ihren Füßen liegt, sondern die höchsten Dinge – entweder in der Luft oder in ihren Gedanken. 44 Daraus wird erkennbar, dass die antike Anekdote Gemeingut geworden ist, ihrer Vieldeutigkeit beraubt 45 und nun als bekanntes Beispiel für die Unbeholfenheit von Gelehrten und speziell von Astronomen („Mathematici“) kursiert. Sie entspricht einem fest verwurzelten Urteil, das noch bei der Aufzählung der typischen Symptome und Krankheiten der Gelehrten bei Bernardino Ramazzini (1633– 1714) am Ende des Jahrhunderts nachklingt: Für „Mathematici“, schreibt Ramazzini, sei es notwendig, dass ihr Geist den Sinnen und dem Leib entfremdet sei, damit sie „res abstrusissimas“ kontemplieren könnten, welche von der Materialität ganz entfernt sind; daher seien sie fast alle schwerfällig, träge und lethargisch; ihnen seien menschliche Dinge ganz fremd. 46 Vor diesem Hintergrund sollten wir Keplers Aussage lesen: Diese Disposition wird so sehr mit der kodifizierten Persona eines Sternsehers assoziiert, dass einige, die für Astronomen gehalten werden möchten, sie sich zu eigen machen: sich einbilden, ein „Wundertier“ zu sein, wodurch sie Spott ernten und das allgemeine Urteil bestätigen. 47 Doch Keplers Ablehnung dieses Bildes vom sonderbaren Astronoterrae habitudo, ne dum excelsissima scrutari volumus, quae nobis proxima sunt, ignoremus, ac eodem errore quae telluris sunt attribuamus coelestibus.“ Nicolaus Copernicus, De revolutionibus, lib. 4, c. 4. Raz Chen-Morris sei hier für seinen freundlichen Hinweis sehr herzlich gedankt. 44 „Est enim tibi notum, quam non bene rem domesticam tractent uel mathematum uel philosophiae studiosi: qui non quod ante pedes est, sed summa contemplantur, quae uel in aëre sunt, uel in phantasia.“ Memhard an Matthias Bernegger, 16.10.1613: KGW, Bd. 19, Nr.7.70. 45 Werner Jaeger, Über Ursprung und Kreislauf des philosophischen Lebensideals, in: ders., Scripta minora I. Rom 1960, 347–393, bes. 348–352. 46 „Mathematici porrò quibus animum à sensibus & corporis ferè commercio sejunctum esse necessum est, ut res abstrusissimas & à materialitate remotas contemplentur, ac demonstrent, omne ferè stupidi sunt, ignavi, veternosi, ac in humanis rebus semper hospites.“ Bernardino Ramazzini, Diatribae de morbis artificum, in: Bernardini Ramazzini, Carpensis philosophi, ac medici... Opera omnia medica et physiologica. Hrsg. v. Bartholomeus Ramazzini. 3.Aufl. London 1718, 377. Es ist nicht ganz klar, wen Ramazzini mit „mathematici“ meint, aber der wiederholte Verweis auf Finsternis im weiteren Verlauf der Passage macht es wahrscheinlich, dass er eher Astronomen im Sinne hat. 47 Vgl. Gadi Algazi, Gelehrte Zerstreutheit und gelernte Vergesslichkeit: Bemerkungen zu ihrer Rolle in der Formierung des Gelehrtenhabitus, in: Peter von Moos (Hrsg.), Der Fehltritt: Vergehen und Versehen in der Vormoderne. Köln/Weimar/Wien 2001, 235–250.
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men reicht nicht aus, das Verhaltensmuster als bloße Narrheit abzutun und ihm seine Ambivalenz und Anziehungskraft zu nehmen, wie die beiläufige Anwendung dieses Bildes durch seinen Freund Memhard zeigt, um Keplers eigenes Verhalten zu deuten. Ob Kepler in Haushaltsfragen tatsächlich so unbeholfen war, sei dahingestellt; ihm und seinen Freunden war dieses Selbstbild jedenfalls als kodifizierte Entschuldigung, als vorgefertigte Charaktermaske zugänglich. 48 Deshalb kann Kepler auch in diesem Fall das kulturell vermittelte Bild nicht ganz abschütteln. Er kann nur entgegnen, es gebe seiner Meinung nach Narren in allen Ständen; man müsse doch schauen, wie ein Astronom sich tatsächlich verhält und sich nicht auf Hörensagen verlassen (Z. 49–51). Damit scheint er aber den Versuch aufgegeben zu haben, das allgemeine Urteil über Astronomen ganz zu entkräften, und bestreitet nur seine Gültigkeit für sich selbst. Eine akzeptable Persona des Sternsehers kann er also als Einzelperson nicht schaffen. Sein Frust ist unverkennbar: Diese Meinung muss des Teufels sein, „das einer das sternsehen nit lehrnen khönte, er wäre dan geschossen [närrisch, verrückt]“ (Z. 51–52). Mögen Sternseher sich auch sonderbar verhalten, welche Art von Wissen produzieren sie aber? Machen Sternseher etwa nicht Kalender, „die liegen [lügen] sovil, das man ein sprichwort aus Inen macht“? Obwohl ich selbst keine Kalender anfertige, sagt Kepler, so stimmt es, dass diese Arbeit einem Sternseher wohl zukommt. Ich hätte auch welche gemacht, wenn es nicht so viele Kalendermacher gegeben hätte – warum nicht? Kepler wiederholt das Argument, dass Kalender nur über die Voraussetzungen menschlichen Handelns informieren, wie decreta und mandata, sagt er, „daß man sich darnach richten khönde“. Doch gebe es heutzutage viele verlogene Kalender, gibt er zu, die den Predigern Stoff für Spott gäben. Schuld daran seien aber nicht die Sternseher, sondern vor allem die an sie herangetragenen Erwartungen: Der gemeine Mann, Schreiber, Höflinge und andere unverständige Leute redeten auf die Sternseher ein, sie sollten ihnen die Zukunft voraussagen. Dieser ‚Vorwitz‘ – curiositas, die übermäßige Neugier der Fragenden – werde mit den Lügen der Sternseher gebührend bestraft. 49 An diesem Punkt kann er seinen eigenen Standpunkt theologisch etwas breiter und nachdrücklicher vorbringen:
48
Vgl. seine Selbstbeschreibung als ein Mann, der in praktischen Affären und vom Manövrieren nichts
versteht und allein seinen Studien ergeben ist: Kepler an einen anonymen Adeligen, 23.10.1613: KGW, Bd. 17 Nr.669 (Z. 49). 49
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„Item hatt under dem gmainen Man, ja wol auch under den schreibern und hofleütten so vil grober
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„Gleich als wan die werckhe gottes anderst nit würdig wären, das man sie anschauen und Inen nachrechnen sollte, sie haben dan alwegen etwas zu bedeütten, da sich auff sollicher unverstendiger leütte selzame humores richten müste. O du armer David[,] du bist schabab [unnütze] mit deinem sternsehen[,] das du hin und her in deinem psalter einführet, warzu nutzet es? Sagstu doch nit was es bedeütte“ (Z. 66–70). 50
Die Werke Gottes, sagt Kepler, sind an sich würdig, betrachtet und berechnet zu werden, auch wenn sie nichts spezifisches ‚bedeuten‘. Er liefert zwar einerseits eine halbherzige Verteidigung vom Kalendermachen, schreibt aber andererseits so, als ob er nie Kalender und Horoskope selbst erstellt hätte und distanziert sich so weit wie möglich von den praktischen Aspekten seiner besonderen Expertise. Welche professionelle Identität bleibt ihm also zugänglich? Seine Versuche, im eigenen Schreiben das Image vom Sternseher zu rehabilitieren, bleiben zaghaft. Er kann weder die relative Position von Sternsehern sozial aufwerten, noch ihr Bild neu gestalten. So zieht er es schließlich vor, als Buchgelehrter zu gelten, als wahrer Humanist 51, und verschanzt sich hinter den lateinischen, in der universitären Tradition fest etablierten und durch die Vertreter des Landes ob der Enns sogar schriftlich anerkannten Namen: „Ich bin ein Mathematicus[,] Philosophus und Historicus, der tausente Schreiber waist sich nit zu besinnen, was diß für wörter seind oder wie weit sie raichen, und bin von einer Er: [ehrsamen] Landt. [Landschaft] ob der Ens under disen dryen Namen zu eim diener auffgenommen. Sie gelten sovil als ein Gelehrter, der allerhand sachen gelesen und in zimlicher gedächtnis hatt, derselbingen auch sich gebrauchen kann zum nutzen deren[,] die Jne bestellen“ (Z. 71– 76). 52
Himmelsbeobachtungen und aufwendige Berechnungen werden hier stillunverstendiger knebeln, das sie immerzu einem sternseher in ohren ligen, und mainen[,] sie sollen inen vil von künfftigen dingen sagen, geben also den sternsehern Ursach, das sie sich underwinden [sich darauf einlassen] Inen [den Leuten] Iren Fürwitz zu büessen“ (Z. 62–65). 50 Vgl. etwa Psalmen 8:3; 19:1–6; „du bist schabab“: dich will ich nicht mehr haben, du bist mir nichts mehr wert; vgl. Burkhard Waldis, Esopus. 400 Fabeln und Erzählungen nach der Erstausgabe von 1548. Hrsg. v. Ludger Lieb/Jan Mohr/Herfried Vögel. 2 Bde. (Frühe Neuzeit, Bd. 154.) Berlin 2011, hier Bd. 2, 149. 51 Zu Kepler als Humanist s. vor allem Grafton, Humanism and Science (wie Anm.5). 52 Dieselbe Umschreibung für sein Amt verwendete Kepler, als er den Ständen Oberösterreichs seine Dienste „in studijs Mathematicis, Philosophicis et Historicis“ anbot: Kepler an die Stände, 10.6.1611: KGW, Bd. 16, Nr.617. Nach dem Tod Rudolfs II. bot sich Kepler als Historiograph seiner Regierungsjahre an: Kepler an die kaiserlichen Kommissare, 4.10.1612: KGW, Bd. 19, Nr.2.47 (S.72).
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schweigend übergangen. Vielmehr wird eine alte Formel zur Umschreibung legitimer und wahrer Buchgelehrsamkeit in den Vordergrund gestellt: breite Lektüre als die Hauptgrundlage von Wissen, das im Gedächtnis gut bewahrt und zum Nutzen anderer gebraucht wird. 53 Der adligen Frau, an welche Keplers Brief gerichtet ist, erklärt er sogleich kurz, was Mathematica, Philosophia und Historica sind. Die Astronomia ist demzufolge Teil der Mathematica – und ihretwegen diene er dem König als Mathematicus und arbeite an den Rudolfinischen Tafeln. Mit diesen Titeln wolle er sich begnügen. 54 Aus dieser etwas gefestigteren Position heraus erlaubt sich Kepler nun eine positive Bestimmung seiner Lebensweise, indem er sie einem imaginierten Leben als ‚Schreiber‘ entgegenstellt. Wenn es ein guter Tausch wäre, schreibt er, wäre er vielleicht auch einer geworden, der schreiben und „schrifften stellen“, Geld zählen und aufbringen kann – offenbar ein hoher Hofbeamter. Ihm sind die Vorteile wohl bewusst: Vielleicht wäre ihm dann sogar ein Ratstitel verliehen worden, denn die Mächtigen brauchen in der tat „allerley leütte“ wie diese. 55 All dies hätte er allerdings nur gemacht, wenn er dabei seine „rhue zum studirn“ hätte beibehalten können (Z. 88–92). 56 Das ist der springende Punkt: Kepler insistiert zwar auf dem sozia-
53
Hier lässt sich gut erkennen, dass Kepler sich eines tradierten Gelehrtenbildes bedient, auch wenn die-
ses ihm nicht ganz passt: Gedächtnis wird hier kurzerhand als die Fähigkeit verstanden, das Gelesene gut zu behalten, doch an eben dieser Fähigkeit, beobachtet Kepler sonst an sich selbst nicht ganz ohne Stolz, mangelt es ihm, denn sein Geist funktioniert anders: sein Gedächtnis, im Sinne der Fähigkeit, Vorstellungen (species) allein durch Hören oder Lesen zu behalten, war nie gut: Kepler, Selbstcharakteristik (wie Anm.6), 332. 54
Barbara Bauer sieht einen Wandel vom synonymen Gebrauch der Titel „Astrologus“ „Astronomus“
und „Mathematicus“ am Hof hin zur Dominanz der Bezeichnung „Mathematicus“ im 17.Jahrhundert: Bauer, Die Rolle des Hofastrologen (wie Anm.4), 93f. Ein etwas anderes Bild zeichnet für die Grazer Stiftsschule Johann Andritsch: bei drei Generationen von Landschaftsmathematikern vor Kepler beobachtet er eine Verlagerung des Schwerpunkts von der mathematischen Astronomie hin zur praktischen Astrologie: Andritsch, Gelehrtenkreise um Kepler (wie Anm.8), 167–169. 55
Den begehrten Ratstitel erhielten in der Tat manche an Höfen tätige Gelehrte, jedoch eher Juristen.
Beispiele aus dem späten Mittelalter: Peter Moraw, Gelehrte Juristen im Dienst der deutschen Könige des späten Mittelalters (1273–1493), in: Roman Schnur (Hrsg.), Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates. Berlin 1986, 77–142; zu den Aufstiegschancen von Gelehrten im brandenburgischen Hof im 17.Jahrhundert und den Folgen der Titelverleihung, s. Peter Bahl, Der Hof des Großen Kurfürsten. Studien zur höheren Amtsträgerschaft Brandenburg-Preußens. (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Beih. 8.) Köln 2001, bes. 29f., 57, 193f. 56
Zur symbolischen und praktischen Funktion der ‚Ruhe‘ s. oben Anm.38. In seinen Überlegungen vor
der Übersiedlung nach Prag bemerkt Kepler, dass er langfristig keinen Platz in Tychos Haushalt finden
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len Nutzen seines Wissens, definiert sich gleichwohl an erster Stelle durch Buchwissen, Ruhe und relative Freiheit, das heißt eher durch ostentative Bestandteile seines Habitus als durch seine Expertise. Dabei handelt es sich um ein tradiertes Bild vom Gelehrten, das er nach außen hin einsetzt, und zugleich um ein intimes Bedürfnis, relativ frei – nicht durch schwere und dringliche Aufgaben belastet – zu leben, das er auch sonst als eine unentbehrliche Voraussetzung seiner spezifischen Art zu forschen erkannt hat, seiner Leidenschaft für Neues, cupiditas nova tractandi. 57 Zu seiner Rolle als Experte hat Kepler ein ambivalentes Verhältnis 58; im defensiven Kontext seiner Apologie hält er am humanistischen Gelehrtenbild fest, doch anderswo wird klar, dass er sich über die Aneignung dieses Bildes hinaus als Forscher im Bereich der philosophia naturalis zu definieren sucht, als einer, dessen scharfer Geist sich vor allem zur „Erforschung der Geheimnisse der Natur“ eignet. 59 Schreiber, gelehrter Rat – all dies, fährt er fort, hätte er nur „einem Weib [...] zu gefallen“ getan, denn er selbst bräuchte nichts dergleichen. Bei dieser aus der gelehrten Tradition gut bekannten Geste der Abweisung niederer Interessen und ihrer Zuschreibung auf ‚die Frau‘ 60 lässt es Kepler doch nicht bewenden; darin zeigt sich erneut sein bemerkenswerter Umgang mit dem Schreiben als Medium der unnachgiebigen Selbsterforschung. Denn schon im nächsten Satz schreibt er dieses Motiv sich selbst zu: An Ehre liegt im schon sehr viel. 61 Nur aus Ehrgeiz hätte er so etwas gemacht, gesteht Kepler, aber dann stünde er nicht besser da als in seiner jetzigen Lage, und zudem hätte er in diesem Fall noch einen Amtseid ablegen kann: Tychos Haus, führt er als Begründung an, sei eng und es herrsche darin „ein großes Getümmel der Familie“ (magna turba familiae) vor. Kepler möchte die Seinen mit ihr nicht vermischen, denn sie sind an Ruhe und Bescheidenheit gewöhnt (tranquilitatj et modestiae assueverunt). Sicherlich mischt sich hier mit dem betonten Bedürfnis nach Ruhe auch eine Furcht um die allzu große Diskrepanz zwischen den Lebensstandards der beiden Familien. Kepler, Deliberatio (wie Anm.6), 39. 57 Siehe Kepler, Selbstcharakteristik (wie Anm.6), 332. 58 Siehe hierzu besonders Bauer, Die Rolle des Hofastrologen (wie Anm.4), die allerdings eher die Spannung zwischen den Rollenerwartungen an Kepler als Hofastrologen und seinem heranreifenden Selbstverständnis als consiliarius und politicus hervorhebt. 59 „quia nimirùm majus requiritur acumen, major solertia ad eruenda Naturae arcana, quàm ad reliqua vitae negocia, studiaque ijs deservientia.“ Kepler, Harmonice Mundi (wie Anm.38), lib. iv, cap. 7, 279. 60 Vgl. Gadi Algazi, ‚Sich selbst Vergessen‘ im späten Mittelalter: Denkfiguren und soziale Konfigurationen, in: Otto Gerhard Oexle (Hrsg.), Memoria als Kultur. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 121.) Göttingen 1995, 387–427, hier 412–421. 61 In seiner „Selbstcharakteristik“ behandelt Kepler unter verschiedenen Blickpunkten seine „incredibilis amor gloriae“: Kepler, Selbstcharakteristik (wie Anm.6), 334.
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müssen und wäre stark gebunden gewesen: In meiner jetzigen Position, resümiert er für sich selbst – denn danach wurde er bei den Heiratsverhandlungen gar nicht gefragt –, bin ich „vil freyer, hab weniger gefahr vnd weniger verantwortung“ (Z. 96– 99). Kein Schreiber also, nur bedingt Sternseher – aber immer ein Mathematicus, Philosophus und Historicus: in dieser fest stehenden, traditionellen Persona nimmt Kepler Zuflucht, findet Sicherheit vor Schmähung und Schutz vor Ansprüchen an seine Person. Es handelt sich jedoch nicht bloß um ein nach außen hin, als Schutzschild getragenes Bild, sondern um Keplers eigenstes, widersprüchliches Selbstverständnis. Vorgegebene kodifizierte Formen – in diesem Fall eine wissenschaftliche Persona – sind nicht einfach deshalb wirksam, weil sie in kulturellen Repertoires vorhanden sind; sie werden in spezifischen sozialen Situationen relevant, und erst dann auch bewohnbar und unentbehrlich. 62 Zu dieser Persona des Gelehrten gehört auch, dass Ruhe und Muße zum Studium über allem anderen stehen; gleichzeitig werden Ambitionen und Statuserwägungen ‚der Frau‘ oder den eigenen, von sich gewiesenen und niederen Motiven zugeschrieben; Dinge, die man eben macht – genauer, zu machen vorgibt, um ‚einer Frau zu gefallen‘.
IV. Zu Keplers eigenem Bild gehört also auch die komplementäre Konstruktion des Bildes seiner Frau. Neben dem in den Anfängen steckengebliebenen Versuch, eine akzeptable, bewohnbare Persona für sich selbst zusammenzusetzen, geht es in Keplers Text um das damit eng verschränkte Bemühen, eine geschlechtsspezifische, stark getrennte Ökonomie der Ehre zu entwerfen, die auf einer gemeinsamen Familienökonomie beruht. Es werde behauptet, seine Frau habe darunter gelitten, die Sternseherin genannt worden zu sein. Aber seine Ehre als Gelehrter genauso wie seine Verschmähung als Sternseher, insistiert Kepler, hätten mit der Ehre seiner Frau nichts zu tun. Nicht sei-
62
Vgl. Lorraine Daston/H.Otto Sibum, Introduction: Scientific Personae and their Histories, in: Science in
Context 16, 2003, 1–8; Gadi Algazi, Food for Thought: Hieronymus Wolf Grapples with the Scholarly Habitus, in: Rudolf Dekker (Hrsg.), Egodocuments in History: Autobiographical Writing in its Social Context since the Middle Ages. Hilversum 2002, 21–44.
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ne Tätigkeit habe ihrem Ruf geschadet; es sei vielmehr ihre schwache Gesundheit an Leib und Gemüt gewesen, welche sie verletzbar gemacht habe. Denn „Vexiren würget nit. Wer sich [durch] die fliegenbiß will Irren lassen, der muss offt nit essen.“ Er sei bereit gewesen, für das große Essen – seine exponierte Stellung – die Zeche zu bezahlen; seine Frau, insinuiert er, eben nicht: Wenn sie nur stärker gewesen wäre und er ein besseres Einkommen gehabt hätte, hätte sie das Herz – also den Mut – und auch die Mittel gehabt, sich in Hofkreisen bekannt zu machen, eben als Frau, nicht als seine Hausfrau: durch seine Sternseherei hätte sie dann nichts an Ehre eingebüßt (Z. 32–36). Eine Frau, so Kepler, sollte sich einen Namen in Hofkreisen durch ihre eigene Herkunft, ihr Verhalten und Aussehen machen; sein Beitrag dazu besteht demnach vor allem darin, die nötigen Mittel zu besorgen. Auch deshalb konnte ihr seiner Meinung nach die Bezeichnung ‚die Sternseherin‘ gar nicht anhaften: Ich habe nie gehört, schreibt er, dass meine Frau ‚die Sternseherin‘ genannt wird, außer im Scherz; sie wurde immer ‚die Kepplerin‘ genannt. Denn Reputation funktioniert aus Keplers Sicht bei Männern und Frauen unterschiedlich: Er hat nichts dagegen, wenn die Bezeichnung ‚Sternseher‘ auf seine Schüler ausgeweitet wird. An dieser Stelle führt er das Beispiel von Herrn Helmhard Jörger dem Jüngeren von Tollet (1572–1631) an, einem seiner wichtigsten und einflussreichsten Patrone, der eine maßgebliche Rolle bei Keplers Berufung in Linz gespielt hatte. 63 Jörger hatte wie Kepler in Tübingen studiert (und später in Padua) und war an den Wissenschaften stark interessiert 64; in ihrer Korrespondenz lässt sich nachlesen, wie Jörger Kepler von den Büchern berichtet, die er bestellt hat, von einem
63 Am 20.12.1610 mahnte Helmhard Jörger Kepler an, auf seinen vorherigen Brief wegen der Berufung nach Linz zu antworten: KGW, Bd. 16, Nr.602; Martha List, Die Wohnstätten von Johannes Kepler in Linz, in: Kunstjahrbuch der Stadt Linz 1970. Linz 1971, 24–32, bes. 25; List erwähnt auch eine im Nachlass Keplers befindliche Figur eines Horoskops für Helmhard Jörger und eine Leichenrede, die er für dessen Vater, Wolfgang Jörger, verfasste (ebd.26f.). Weitere Hinweise: Hella Kothmann, Die Reisen des Johannes Kepler, in: Boockmann/Di Liscia/Kothmann (Hrsg.), Miscellanea Kepleriana (wie Anm.34), 229–246, hier 245 Anm.31. 64 Zu Jörger von Tollet, dem Hofkammerpräsidenten Kaiser Rudolfs II., s. Heinrich Wurm, Die Jörger von Tollet. Graz/Köln 1955, 110–114; Liselotte Westmüller, Helmhard Jörger und die protestantische Gemeinde zu Hernals, in: Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 81, 1965, 151–182; Elisabeth Gruber, Die Familie Jörger und ihre Rolle in der konfessionellen Geschichte Österreichs, in: Karl Vocelka/Rudolf Leeb/Andrea Scheichl (Hrsg.), Renaissance und Reformation. Katalog zur Oberösterreichischen Landesausstellung 2010. Linz 2010, 67–73; Karl Dinklage, Kärnten um 1620. Die Bilder der Khevenhüller-Chronik. Unter Mitarb. v. Friedrich Kornauth. Wien 1980, Tafel Nr.29, Text 137.
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Globus, den er anfertigen ließ und von seiner Freude an geometrischen Problemen. 65 Halb scherzend, doch mit offensichtlichem Stolz versucht Kepler nun die bestehende Patronagebeziehung zwischen Herrn Jörger und sich selbst, dem gelehrten Schützling, herunterzuspielen und dreht sie in eine geistige Filiation um. Jörger sei vielleicht schon Mitglied „unserer Orden“, der Orden der Astronomen, geworden: „Der Herr Helmhard Jörger würt schon allberait zu Wien der Junge Keppler genennet, vielleicht auch der Junge sternseher“ (Z. 40–41).
Jörger und Kepler waren fast altersgleich; von der Nähe zwischen den beiden zeugt ihre Korrespondenz. Wenn Kepler sich erlaubt, seinen wichtigsten Gönner als seinen Jünger darzustellen, so setzt dies eine ebenso große Nähe zu der uns namentlich unbekannten Adressatin seines Textes voraus. Deshalb würde ich vorschlagen, sie als Helmhard Jörgers Frau zu identifizieren, Maria Magdalena geb. Herrin von Polheim. Dafür spricht darüber hinaus sowohl die Tatsache, dass sie Kepler tatsächlich bei der Brautschau beriet 66 als auch die später noch zu diskutierende Stelle, in der er sich erlaubt, auf eine häusliche Szene zwischen seiner Adressatin und ihrem Mann anzuspielen. Mag der Herr Jörger „der junge Sternseher“ genannt werden – für eine Frau, und auch für Keplers Hausfrau, ist so etwas undenkbar. Ihre Ehre, erklärt Kepler, ist ganz anderer Natur: Eine Frau verdankt ihre Ehre ihrer Herkunft und ihrem tugendhaften Verhalten; beim Sternsehen darf sie dem Mann nicht helfen (Z. 42–43). Wie später noch zu sehen sein wird, stand manchmal die tatsächliche Arbeitsteilung in Astronomenhaushalten des 17.Jahrhunderts im Widerspruch zu dieser Aussage. Manche Astronomenfrauen nahmen gelegentlich Teil am Sternsehen – durch Betrachten, Zeichnen und Rechnen. Doch Keplers starke Behauptung ist performativer Natur – es darf nicht sein – und mit der Regulierung von Ansprüchen auf Ruhm aufs Engste verbunden:
65
Helmhard Jörger an Kepler, 20.12.1610: KGW, Bd. 16, Nr.602. Wenn Jörger Kepler, seinen „lieben gu-
ten Freund“, dazu ermuntert, nach Linz zu gehen und den österreichischen Ständen gegenüber zu erklären, wie hoch sein jährliches Salär sein soll, tut er das, so schreibt er, weil „er allein“ Keplers Willen kennt. 66
Kepler an Baron Heinrich von Strahlendorf, 23.10.1613: KGW, Bd. 17, Nr.669; ihre Schwester wird
1617 die Taufpatin von Keplers Tochter Katharina sein: KGW, Bd. 19, Nr.7.79; s. auch Georg Wacha, Keplers Trauung in Eferding, in: Oberösterreichische Heimatblätter 25, 1971, H.3/4, 3–25, hier 6; Caspar, Kepler (wie Anm.3), 223; Wurm, Die Jörger von Tollet (wie Anm.64), 111f.; nach Martha List deuten verschiedene Indizien darauf hin, dass Kepler im Freihaus der Jörger in Linz wohnte: List, Die Wohnstätten von Kepler (wie Anm.63), 27.
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„Ein Weib hatt und behelt Ir ehr besonder, Irer geburt vnd tugentlichem verhalten nach, sie darff dem Man nit helffen sternsehen: Wie hingegen auch meine Weiber [sic] 67 an dem jenigen namen khainen thail haben, den Ich in ferren [fernen] landen habe, oder nach meinem todt lasse“ (Z. 43–45).
Diese Aussage geht über den vorliegenden Fall hinaus; Keplers Ruf als Gelehrter hängt aus seiner Sicht offenbar mit der Aufrechterhaltung einer klaren Separation der Sphären in seinem Haushalt zusammen. Nicht umsonst betrachtet er sich selbst aus dem imaginierten Jenseits heraus und stellt sich vor, wie sein Name in fernen Ländern und nach seinem Tod konstituiert wird. Dahinter scheint die Überlegung zu stehen, dass in seiner nahen sozialen Umgebung seine Ehre doch zum Teil von dem gemeinsamen Ruf des Ehepaars abhängt; doch je ferner man ist, räumlich wie zeitlich, desto mehr würden seine wissenschaftlichen Leistungen bei der Produktion seiner Reputation wiegen, während ihre alltäglichen Voraussetzungen in seinem Familienhaushalt allmählich in der Ferne verschwinden würden. Soziologisch und wissenschaftshistorisch gesehen wird er ohne Zweifel Recht behalten.
V. Die andere Beschuldigung, die Kepler zu widerlegen versucht, ist die, dass er seine arme Frau „übel gehalten“ und mit „hochsinnigen Dingen“ gepeinigt hätte, was ihre Melancholie nur verschlimmerte. Er habe sie nie geschlagen, versichert Kepler, nie geflucht, und nie habe sie über Untreue geklagt. Er ist sich sicher, dass sie ihn immer lobte wegen seiner Treuherzigkeit, Ehrerweisung und Liebe. Allerdings weiß er, dass man von ständigen Zwistigkeiten in seinem Haushalt hörte; abgeschirmt war er nicht. Wiederkehrende Konflikte, Gerüchte über sein häusliches Verhalten und die Stabilität seines Haushalts sind nicht nur für seinen Ruf auf dem Heiratsmarkt von Belang; sie tangieren auch seinen Ruf als Mann. Um 1600 sind die Tage längst vergangen, als nordeuropäische Gelehrte sich ohne weiteres mit der Behauptung rechtfertigen konnten, als Philosophen verstünden sie ja nichts vom Hauswesen. Schon
67 Die Verwendung des Plurals ist nicht ganz klar. Vielleicht möchte Kepler seine Position prinzipiell klarstellen und bezieht sich daher auf seine ‚Weiber‘ im Allgemeinen, sowohl auf seine verstorbene als auch seine künftige Ehefrau. Wenn dem so ist, mag es ein weiteres Indiz dafür sein, dass der Text während Keplers Brautschau entstanden ist.
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1599 beschrieb Kepler in einem Brief seine Sorge um das wirtschaftliche Wohl seiner Familie als eine ebenso philosophische wie religiöse Pflicht und wünschte sich einen Habitus, „der einem Ehemann geziemt“. 68 Im Gegenzug stellt er zwei Probleme in den Vordergrund: Erstens, dass seine Besoldung häufig gesperrt worden sei – also, dass er, obwohl ihm Geld versprochen worden war, oft jahrelang auf dessen Erhalt warten musste; zweitens, dass Barbara stets krank „und mit Melancholey beladen“ (Z. 109–110) gewesen sei. Beides scheint zu stimmen. Gleichwohl bleibt Keplers Antwort oft widersprüchlich und ausweichend; seine Apologie verwandelt sich sehr schnell in eine Liste von Anschuldigungen gegen seine verstorbene Frau: Sie war es, die seine Versuche verhinderte, ihr Vermögen zu verwenden, als sie knapp bei Kasse waren; sie lehnte es ab, „die hand an Ir geringes schatzgeltlin [zu] legen“, als wäre sie dadurch „an bettelstab khommen“ (Z. 111–115). Strukturell gesehen ging es also um den Widerspruch zwischen Keplers sozialem Status am Hof und den zur Erhaltung des entsprechenden Lebensstils erforderlichen Ausgaben einerseits und den begrenzten Ressourcen eines Aufsteigers andererseits, dessen Einkommen unsicher und schwankend blieb und von Herrschergunst und Unregelmäßigkeiten höfischer Haushaltung abhing. Hinzu kam der Konflikt mit seiner Frau um die Verfügungsgewalt über den Besitz, der mit Barbara Keplers besonderer, aber keineswegs außergewöhnlicher Stellung als Erbin zusammenhing. Daher seine Frustration: Er litt wegen ihrer „vergeblichen sparsamkhaitt“; durch ihre Unart sei er veranlasst worden, behauptet er, sie „zu straffen mit zornigen worten“ (Z. 115–116). Kepler schwankt zwischen der Tendenz, seine verstorbene Frau als aufrührerisch, und dem Versuch, sie als schwachsinnig darzustellen – und dies sogar im selben Satz: „Vnd weil sie nebens stettiger Krankhaitt halber von Irer gedächtnus kommen, hab Ich Ir mit anmahnungen und erinnerungen vil yberdruss [Überdruss] angethan, dan sie hatt wollen ungemaistertsein [nicht geschulmeistert werden], und hatt es doch nit alweg verstanden“ (Z. 116–119).
Aber auch an dieser Stelle bleibt Kepler nicht konsequent apologetisch und gibt gleich zu:
68
„Etenim speculationes interitu familiae redimere neque in philosophia honestum est, neque pium in
religione. Inde peteretur coena Platonica, habitusque qui maritum decet.“ Kepler an Herwart, 14.9.1599: KGW, Bd. 14, Nr.134. Wenn er an seinen posthumen Ruf denkt, notierte er am folgenden Jahr, so muss er
die Güter seiner Frau fleißig hüten: Deliberatio (wie Anm.6), 39.
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„Offt hab Ichs weniger verstanden dan sie, und bin auß unwissenhaitt auff meinem streit berhuehet“ (Z. 119–120).
Sie hätten sich zwar nicht gegenseitig vor Gericht angeklagt, auch sei er nicht gewaltsam mir ihr umgegangen, versichert Kepler, aber der Streit blieb allem Anschein nach endemisch. Zentral für Keplers Darstellung ist die Relation zwischen häuslichen Zornausbrüchen und der nicht nur im höfischen Kontext verlangten Selbstbeherrschung. Eigentlich war sie, meinte er, „zorniger art“ und stritt nicht nur mit ihm, sondern auch mit anderen; hatte sie sich einmal an einen Mitmenschen gewöhnt, „hat sie all Ir begehrn mit zorn fürgebracht“: „da hab Ich mich hingegen zum streitt auffbringen lassen und sie geraitzet, ist mir laid, hab mich wegen meins studirens nit alweg besunnen“ (Z. 122–123).
Ob Kepler, wie er dann apologetisch meint, tatsächlich in den Streit nur hineingezogen wurde und ihn selbst bloß weiter eskalieren ließ, braucht uns nicht weiter zu beschäftigen. Schon in seiner sogenannten „Selbstcharakteristik“ (1597) erwähnt er seine Unbeherrschtheit im Reden. 69 Kepler behauptet, er habe seiner Frau doch „lehrgelt“ gezahlt, gelernt „gedult zu haben“ und es bereut, als er einsah, „das es ir zu hertzen gehet, und [ihrerseits] nit ein zorn darbey“ war (Z. 124–125). Diese und weitere Stellen im Text, in denen Kepler sich darauf beruft, seine Frau habe ihn immer so sehr gerührt, dass er „treuhertzig und gutt mit ir“ war, ihr „all mügliche ehr“ erzeigte und „sie hertzlich“ liebte (Z. 107–108), sind in der Forschungsliteratur in der Regel wohlwollend, gelegentlich mit hagiographischer Ehrfurcht referiert worden, wobei zugegeben wurde, dass Barbara Keplers Sicht aus den überlieferten Quellen kaum zu rekonstruieren ist. Mir liegt aber nicht daran, die diametral entgegengesetzte Haltung einzunehmen und Urteile zu fällen. Wenn im vorherigen Abschnitt aufzuzeigen versucht worden ist, wie Kepler eine nach Geschlechtern klar getrennte Ehrenökonomie des höheren Wissens auf der Basis eines gemeinsam geteilten Gelehrtenhaushalts konstruiert, so soll nun dieses widersprüchliche Unterfangen von innen her betrachtet werden – wie Grenzen im Haushalt des Astronomen errichtet und untergraben wurden. Die gegenseitigen Beschuldigungen und Vorfälle möchte ich als Teil häuslicher Grenzkriege verstehen – etwas friedlicher ausgedrückt, als Teil des ständigen Prozesses der Etablierung von Grenzen und Interdependenzen im Haushalt eines Gelehrten. 69 „Mea dicendi intemperantia“: Kepler, Selbstcharakteristik (wie Anm.6), 336 u. passim; s. auch Keplers Hinweise zu seiner Unmäßigkeit beim Reden: Bedingungen für seine Anstellung (wie Anm.11), 43.
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Umfang und Struktur von Keplers Einkommen beeinträchtigten seine Position in der höfischen Gesellschaft. Seine Frau, berichtet Kepler, beklagte sich bei ihren Bekannten, dass er sich in ihre Sachen einmischte – etwa welche Kleider sie trug. Dies war aus ihrer Sicht keine Männersache: „Etwa hatt sie in meim beysein gegen[über] Iren bekanten geclagt, Ich neme mich um Ire sachen an, als klaidung und dergleichen, Ich sey wüderwärtig, soll auff meine bücher schauen. Mich aber hatt hingegen gedunckht, sie sehe zu wenig auff sich, es sey mir ein spott zu leiden, hingegen hab Ich gewolt[,] sie sol villieber an andern orten sparen, nämlich an Kindern, hatt offt auch nit sein khönden“ (Z. 132–137).
Kepler bestreitet die Beschuldigung nicht. Seiner Meinung nach hat er Spott und Hohn im Hof erfahren, weil seine Frau zu wenig auf ihr Aussehen achtete. Seine Stellung am Hof hing also doch zum Teil vom Statusverhalten seiner Frau ab. Hier lässt sich ganz klar sehen, wie die Aufrechterhaltung einer gemeinsamen Ehrenökonomie nach außen hin tendenziell zur Überschreitung der häuslichen Grenzen führen kann: Barbara verweist ihn in seine Grenzen – statt sich einzumischen, solle er lieber seine Nase in die Bücher stecken 70; aus seiner Perspektive wiederum sollte sie weniger für die Kinder und mehr für Kleider ausgeben. Als Mutter, wird er später schreiben, sei sie ein „von Kinderlieb gantz vnd gar gefangenes weib“ gewesen und habe deshalb an Kosten für ihr kleines Kind „gar nit gespart“. 71 Libri aut liberi? Bücher, Frauenkleider und Kinder sind allesamt in der Schultradition als entgegengesetzte Pole im Gelehrtenhaushalt dargestellt worden. 72 Hier begegnen sie uns nicht als feste Größen, sondern als bewegliche Einsätze in einer umkämpften, verschränkten Ehrenökonomie. In Keplers Augen überschritt auch seine Frau die unsichtbaren Grenzen, die um seine Person als Gelehrten gezogen sind. Er wird beschuldigt, sie unverständlich, „mit kurzen Worten“ angesprochen zu haben, doch die Kürze, meint er, kam daher, dass sie ihn während des Studierens mit Haushaltsfragen belästigte:
70
Vielleicht meint sie eher, Kepler sollte nicht auf ihre Ausgaben schauen, sondern auf das, was er für
seine Bücher ausgibt. Als Kepler Prag verlässt und nach Linz übersiedelt, bittet er die Stände in Linz um ein Darlehen von 500 fl. zur Zahlung seiner Schulden bei einem Prager Buchhändler: KGW, Bd.19, Nr.3.6 (20.7.1613). 71
Bericht Keplers über den Vermögensstand seiner Frau, 1611: KGW, Bd. 19, Nr.8.35 (S.455).
72
Ein frühes Beispiel bei Richard de Bury, Philobiblon. A cura di Pino Di Branco. Mailand 1998 (nach der
kritischen Edition von Antonio Altamura), cap. iv, 68–78.
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„[Das] Khompt villeicht nur allain daher, das sie geclagt haben mag, Ich sag Ir meine mainung mit gar zu kurtzen worten, sie khönde mich nit vernemen, und wan sie weitter frag, so antworte Ich nichts mehr“ (Z. 143–145).
Das gibt er wieder zu: „Das ist wol offt geschehen[,] wan Ich gestudirt hab und sie mich zu unzeitten von haussachen angeredt hatt, dan sie halt [hat] khain ordnung gehalten und Ich hab auch streng studiren müessen“ (Z. 145–147).
So sehr scheint dieser Text in einem vertraulichen Verhältnis zwischen dem Autor und seiner Adressatin entstanden zu sein, dass Kepler glaubt, sie auf ihre tägliche Erfahrung mit dem eigenen Mann verlässlich verweisen zu können: „Ich glaub[,] die fraw selber erfahr dergleichen von Irem herren, wann er sitzen und etwas concipiren solle[,] und die fraw Ine Irr [ihn irre] machet mit haussachen“ (Z. 147–148).
Gleichzeitig beruht seine Anspielung auf bekannten und anerkannten Mustern: Die Fragilität männlicher Konzeptionsbemühungen gilt als legitimer Grund für Zurechtweisung; die selbstauferlegte Disziplin („streng studiren müessen“) scheint Ungeduld und Strenge im Umgang mit anderen zu rechtfertigen. Er sei ebenfalls, fährt Kepler fort, ungeduldig gewesen, als sie sich nicht habe merken können, was er sagte, und weiter gefragt habe. Er habe sie aber nie als Närrin beschimpft, insistiert er – oder doch? „[Ich] habe hab sie aber nie khain Närrin gescholten“, schreibt er, fügt aber am linken Seitenrand hinzu: „ob sie es wol etwa also von mir auffgenommen haben mag, als halt Ich sie für ein Närrin, dan sie ist gar empfindtlich gewest“ (Z. 151–152).
Kepler möchte gegenseitige Abhängigkeit mit strikter Separation kombinieren; er wünscht, von Haushaltssorgen verschont zu bleiben, nicht mit kleinen Fragen geplagt zu werden, eine Frau zu haben, die in der Lage ist, „Ordnung zu halten“, so dass seine Ruhe garantiert wird, genau wie er nach Ruhe und Freiheit vor der Last politischer und sozialer Pflichten im Äußeren strebt. Zugleich mischt er sich in Haushalts- und Frauensachen ständig ein: Tycho Brahe gegenüber beschrieb er sich selbst als „in häuslichen und politischen Angelegenheiten von neugieriger und cholerischer Natur“. 73 Schon 1597 charakterisierte er sich als einen, der alles herausfinden wolle, „nicht nur in allen Wissenschaften, sondern auch im Staate und sogar in häuslichen Angelegenheiten, in den geringsten Arbeiten“; er sei „zäh in Geldsachen, 73 „Ad negocia domestica et politica curiosâ et cholericâ naturâ“ (1600): KGW, Bd. 19, Nr.2.2, 42.
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unbeugsam im Wirtschaften und bis ins kleinste nachrechnend“. Seine Ambivalenz ist unverkennbar, denn es ist ihm klar, dass ihm gerade dadurch kostbare Zeit geraubt wird. 74 Er insistiert also auf seiner häuslichen Autorität, möchte aber zugleich das Geschäft des Regierens und die Last des Kommunizierens auf ein Minimum reduzieren. Dieser Widerspruch war für solche Gelehrtenhaushalte konstitutiv, auch wenn sie je nach Fall unterschiedliche Formen annehmen konnten; denn hier stießen Anspruch und Wunsch, der eigentlichen Berufung des Gelehrten entsprechend, von Haushaltssorgen und Familienfragen frei zu sein, auf das Fehlen der Mittel, über diesen Sorgen frei zu schweben, sie ruhigen Gewissens ignorieren zu können. Zudem war ständige Kontrolle, eine immer wiederkehrende Einmischung in Haushaltsfragen, doch nötig, um die eigene Position als männlicher Haushaltsvorsteher aufrechtzuerhalten. Ein Familienoberhaupt mit freiem Kopf, ein Haupt, das frei ist, um den Körper und dessen Sorgen vergessen zu können – auch dies ein Bild vom Gelehrtenglück: Damit erhält ein altes Ideal gelehrter Askese eine neue Relevanz als Modell einer wohlgeordneten sozialen Welt – der Gelehrtenfamilie.
VI. Eine andere Grenze verteidigt Kepler mit fast unverständlicher Vehemenz. Über die Idee, seine verstorbene Frau hätte irgendetwas mit seiner Wissenschaft zu tun, kann er sich nur wundern. Häusliche Grenzen sind durchlässig, weshalb ihre Überschreitung durch seine Frau Grund genug war, sie abzuweisen. Er bestreitet aber jede Andeutung, dass er Barbara Kepler mit „hochsinnigen Dingen“ geplagt hätte. Mit seiner Gelehrsamkeit habe sie nichts zu tun gehabt. Er fragt: Hätte sie etwa für mich berechnen, Sterne beobachten, Kalender machen oder studieren helfen müssen? Hätte ich ihr etwa als Gehilfin einen Tagelohn bezahlt, wenn ihre Berechnungen aufgingen, oder falls sie falsch lag – den Lohn von ihrem Essen abgezogen? 75 Wie ernst ist Kepler dabei? Muss er dies wirklich bestreiten – oder gilt ihm eine 74
„Per se omnia rimatur in disciplinis, in politia, in re domestica etiam vilissimas operas.“ Kepler, Selbst-
charakteristik (wie Anm.6), 336; „Tenax in re pecuniaria nimium, in oeconomia rigidus, minutissimorum censor, quibus omnibus tempus extrahitur.“ Ebd.329. 75
„Villeicht würt sie mir etwas haben müessen helffen rechnen, sternsehen, Calender machen, studiren,
oder hab Ich Ir etwa das taglohn gefrümmet, was sie jedesmahls errathen, oder im widerligen nicht essen solle?“ (Z. 139–141).
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solche Arbeitsteilung als derart unvorstellbar, dass er sich hier auf eine Selbstverständlichkeit berufen kann, um die Beschuldigung abzuweisen? Er mag zwar hier die Vorstellung als lächerlich abtun, seine Frau hätte irgendeinen Anteil an seiner Wissenschaft gehabt, dennoch ist es schon bezeichnend, dass Kepler an Schlüsselstellen seiner Apologia seinen professionellen Stolz und seine öffentliche Persona wiederholt dadurch definiert, dass er seine Fähigkeiten einem vermeintlich weiblichen Nicht-Können entgegenstellt. Dabei geht es Kepler keineswegs darum, seine Angewiesenheit als Wissenschaftler auf die Arbeit anderer prinzipiell zu verleugnen. Er empfand die Rechnerei als eine lästige Aufgabe; es war zwar die Aufgabe, die ihm Tycho Brahe zu seiner Zeit anvertraut hatte, doch schon damals war Kepler eigentlich bestrebt, sich anderen Aufgaben zu widmen. Noch bevor er nach Prag kam, wünschte er selbst Assistenten anzustellen, um Zeit zu sparen, denn es war ihm klar, dass er „beim Lesen und Rechnen zu viel geistige Kraft ausgibt, im Spekulieren zu wenig“. 76 Mit dem Geld, das er später vom Kaiser erhalten sollte, wollte er Schreibhelfer und Rechner anstellen 77; anders als die „speculation und invention“ oder die „concipirung des Text“ galten ihm die „deduction und calculation der Observationum“ als „vnser stainmetzen- und Zimmerarbaitt“. 78 Seine Art ‚Sternseherei‘ basierte also durchaus und ganz explizit auf Arbeitsteilung, doch es war ihm wichtig darauf zu bestehen, dass sogar diese sekundären Aufgaben keine Frauensache waren. Nicht um das Syndrom des ‚unsichtbaren Technikers‘ geht es also, nicht um die grundsätzlich geschlechtsneutrale Nichtbeachtung und Unsichtbarmachung der Rolle von Gehilfen und Dienern, sondern spezifisch darum, dass seine Wissenschaft keine Frauensache sein kann. Für Kepler ist der Geschlechterunterschied (sexus discrimen) für die eigene Beschaffenheit als Gelehrter zentral. 79
76 „Nam legendo, computando plurimum effundo spirituum, speculando parum.“ Kepler an Herwart, 14.9.1599: KGW, Bd. 14, Nr.134. 77 Nach dem Tod Rudolfs II. bat Kepler um die Bezahlung seiner ausstehenden Hofbesoldung, um „entlich taugliche gehülffen zu mir ziehen und vnd vnterhalten“ zu können: 4.10.1612: KGW, Bd. 19, Nr.2.47, 73; an den neuen Kaiser schrieb er im folgenden Jahr, er habe „einen tauglichen gelehrten Studiosum“ zu sich gezogen, denn ohne „aushaltung nothwendiger Gehülffen“ könne er seine Arbeit nicht fortsetzen: Kepler an den Kaiser, Ende Mai 1613: KGW, Bd. 19, Nr.52; den Verordneten der Stände in Österreich berichtete er am 25. Juli desselben Jahres, dass er seine Studien auch durch seinen Studiosus fortsetzen ließ: KGW, Bd. 17, Nr.659; vgl. ebenfalls Keplers Brief an Vincenzo, 17.2.1619: KGW, Bd. 17, Nr.827. 78 Kepler an die Stände: KGW, Bd. 17, Nr.734 (Z. 77–79). 79 Hier kann ich nur tentativ vorschlagen, dass dies mit Keplers Versuch zusammenhängt, sich eine Wissensgenealogie anzulegen, in welcher seine Mutter eine ambivalente Stellung zu haben scheint (unver-
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Nach Londa Schiebinger waren zwischen 1650 und 1720 etwa 14 Prozent der deutschen Astronomen Frauen. 80 In den wenigen bisher ans Licht gebrachten Wissenschaftler-Haushalten der frühen Neuzeit, in denen Frauen an der eigentlichen wissenschaftlichen Arbeit ihrer Männer, Brüder oder Väter sichtbar mitwirkten, scheinen Astronomenfamilien auffällig überrepräsentiert zu sein: Von Tycho Brahes Schwester Sophie (1559–1643) 81 über die Tochter Wilhelm Schickards, Ursula Margaretha (1618–1634) 82, Elisabetha Koopmann (1643–1697) und Johannes Hevelius um die Mitte des 17.Jahrhundert 83, Maria Cunitz (1610–1664) und Eliae von
kennbar in seinem „Somnium“). Im Kontext der Diskussion über Astrologie in der „Weltharmonik“ vergleicht er sich selbst mit seiner Mutter, zählt wichtige Gemeinsamkeiten auf, setzt sich aber von ihr durch den nachdrücklichen Hinweis auf den Geschlechterunterschied ab: (1) Mit seiner Mutter teile er den unruhigen, wachsamen Geist, und sie sei auch unter einer fast identischen Planetenkonstellation geboren. Kepler führt jedoch die Unterschiede an, die seiner Meinung nach ihre sehr verschiedenen Schicksale erklären: (2) Während seine Mutter mit ihm schwanger war, hatte sie dauernd Einbildungen, die ihn – so wird suggeriert – zur Wissenschaft prädisponierten, denn für seine Mutter war ihre gelehrte Schwiegermutter „ein Gegenstand der Bewunderung“ (s. unten Anm.90). Damit stellt sich Kepler in die Linie seiner Großmutter väterlicherseits. Zweitens, schreibt er, „kommt hinzu, dass ich als Mann geboren bin, nicht als Frau; den Geschlechterunterschied (sexus discrimen) suchen die Astrologen vergebens im Himmel“. Zu diesen Faktoren fügt er noch (3) seine zur gelehrten Lebensart (genus vitae) geeignete Körperbeschaffenheit (corporis temperatura) hinzu, die ihm seine Mutter gegeben hat, (4) die ökonomische Lage seiner Eltern und (5) die institutionelle Förderung, die ihm zuteil war. Kepler, Harmonice Mundi (wie Anm.38), lib. iv, cap. 7, 279; hier folge ich der Übersetzung von Caspar: Johannes Kepler, Weltharmonik. Übers. v. Max Caspar. München 1990, 269. Siehe dazu auch weiter unten bei Anm.89–92. 80 Londa Schiebinger, The Mind Has no Sex? Women in the Origins of Modern Science. Cambridge, Mass. 1989, 66. 81
John Robert Christianson, Tycho and Sophie Brahe: Gender and Science in the Late Sixteenth Century,
in: Tycho Brahe and Prague. Crossroads of European Science. Ed. by John Robert Christianson, Alena Hadravová, Petr Hadrava and Martin Šolc. (Acta Historica Astronomiae, Vol.16.) Frankfurt am Main 2002, 30– 45. 82
Schickard an die Universität Tübingen, 21.10.1634: Wilhelm Schickard, Briefwechsel. Hrsg. v. Friedrich
Seck. 2 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, Bd. 2, 300f.; Friedrich Seck, Leben und Werk im Überblick, in: ders. (Hrsg.), Wilhelm Schickard 1592–1635. Astronom – Geograph – Orientalist – Erfinder der Rechenmaschine. Tübingen 1978, 13–40, hier 37; Ulrich Neumann, „Olim, da die Rosen Creutzerij noch florirt, Theophilus Schweighardt genannt.“ Wilhelm Schickards Freund und Briefpartner Daniel Mögling (1596–1635), in: Friedrich Seck (Hrsg.), Zum 400. Geburtstag von Wilhelm Schickard. Zweites Tübinger Schickard-Symposium, 25. bis 27.Juni 1992 (Contubernium. Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 41.) Tübingen 1995, 93–115, hier 112 Anm.85. 83
Der Fall wird oft kurz und idealisierend erwähnt, aber es fehlt noch eine eingehende Untersuchung.
Hevelius, der lange nach geeigneten Mitarbeitern gesucht hatte, bevor er seine Frau in seine Arbeiten einbezogen hat, begründet dies zwar damit, dass Frauen genauso wie Männer zu Beobachtungen fähig sind, unterstreicht aber, dass dazu Luchsaugen und unermüdliche Übung unerlässlich sind, nicht die höchste
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Löwen 84, Maria Einmart (1676–1707), die erst mit ihrem Vater Georg Christoph Einmart und später mit ihrem Mann, Johann Heinrich Müller zusammenarbeitete, bis hin zu Gottfried Kirch, seiner Frau Maria Winkelmann (1670–1720) und deren Töchtern Christine und Margarete am Ende des Jahrhunderts 85. Die Gründe für dieses Phänomen sind bisher nicht eindeutig festgemacht worden. Es liegt allerdings auf der Hand, dass bei Astronomen das praktische Bedürfnis, die Sterne ständig, gegebenenfalls tags und nachts zu betrachten, dazu Anlass gegeben haben mag, eine besondere Zeitökonomie zu etablieren und alle Familienmitglieder einzubeziehen. Es ließe sich weiter argumentieren, dass im 17.Jahrhundert gerade die Kombination von Betrachtung und mathematischer Berechnung zu geläufigen Annahmen über die intellektuellen Fähigkeiten von Frauen passten; als Vergleich wäre vielleicht die Rolle der geschulten Betrachtung bei Botanikern heranzuziehen. 86 Wie dem auch sei: Für Kepler bleibt diese Trennung der Wissenswelten – real oder nur gedacht, selbstverständlich oder gefährdet – ein zentraler Aspekt seiner Selbstdarstellung, seines self-fashioning als Wissenschaftler, oder vielleicht genauer – als Gelehrter humanistischer Prägung. Es wäre allerdings voreilig, in diesem Fall vom Ausschluss der Frauen aus der Wissenschaft als einem undifferenzierten Bereich zu sprechen, denn anscheinend wurde dabei den Litterae eine besonders markante und markierende Stellung im Wissensfeld zugewiesen 87; um sie herum scheint sich die Abgrenzung von Frauen Gelehrsamkeit und Geistesschärfe („Quippe ad Observationes Mulieres aeque ut Viri sunt idoneae: quandoquidem negotium istud non a summa eruditione, & acri ingenio, sed ab indefessa exercitatione, lynceoque oculo dependet“). Johannes Hevelius, Machina coelestis pars prior. Danzig 1673, Ndr. Leipzig 1969, Bd. 1, 224. 84 Schiebinger, The Mind (wie Anm.80), 80f.; Ingrid Guentherodt, Frühe Spuren von Maria Cunitia und Daniel Czepko in Schweidnitz 1623, in: Daphnis 20, 1991, 547–584; dies., Maria Cunitia. Urania propitia: Intendiertes, erwartetes und tatsächliches Lesepublikum einer Astronomin des 17.Jahrhunderts, in: Daphnis 20, 1991, 311–353. 85 S.Monika Mommertz, Schattenökonomie der Wissenschaft. Geschlechterordnung und Arbeitssysteme in der Astronomie der Berliner Akademie der Wissenschaften im 18.Jahrhundert, in: Theresa Wobbe (Hrsg.), Frauen in Akademie und Wissenschaft: Arbeitsorte und Forschungspraktiken 1700–2000. Berlin 2002, 31–63. 86 Vgl. Schiebinger, The Mind (wie Anm.80), 41–44. 87 Vgl. Walter J. Ong, Latin Language Study as a Renaissance Puberty Rite, in: Studies in Philology 56, 1959, 103–124; Ingrid Guentherodt, Urania Propicia (1650) – in zweyerlei Sprachen: lateinisch- und deutschsprachiges Compendium der Mathematikerin und Astronomin Maria Cunitz, in: Sebastian Neumeister/ Conrad Wiedemann (Hrsg.), Res Publica Litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit. 2 Bde. (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 14.) Wiesbaden 1987, Bd. 2, 619–640.
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stärker gebildet zu haben 88. Tycho Brahe stellte gerade die mangelnde Beherrschung des lateinischen Buchwissens als das Haupthindernis dar, das seiner äußerst gelehrten Schwester Sophie im Wege stand. 89 Kepler seinerseits konnte seine Bewunderung erregende Großmutter ohne weiteres als „in der Volksmedizin gelehrt“ („medicinae popularis [...] studiosa“) beschreiben 90, doch in Bezug auf seine Mutter fast beiläufig erwähnen, dass sie mit ihrem wachsamen Geist doch „nichts auf dem Gebiet der literae“ erreichte, „was bei einer Frau nicht verwunderlich ist“ 91. Dem entspricht auch, dass Kepler keine Probleme hat zu bestreiten, seine Frau sei je mit seinen theologischen Ansichten in Berührung gekommen. Es werde behauptet, er hätte seine Frau durch seine theologischen Spekulationen und vielleicht sogar mit calvinistischen Prädestinationslehren in die Schwermut getrieben. Hier fühlt er sich auf sicherem Grund, denn die calvinistischen Positionen habe er ja gründlich widerlegt in seinem „großen Buch“. Darüber hinaus habe es auf diesem Gebiet der Gelehrsamkeit gar keine Kommunikation zwischen ihm und seiner Frau gegeben: „So sey die Fraw versichert und gewiss, das mein weib umb meine disputationes nit ein wort Jemals gewust, gehöret oder gelesen; es wäre auch nit schad gewesen, wan sie so vil verstandes gehabt und mein gantzes grosses buch wider der Calvinisten lehr von der Vorsehung 92 gelesen hette“ (Z. 160– 164).
88
Dieser besonderen Stellung der „Litterae“ entspricht auch, dass die Beherrschung von Latein oder so-
gar des Griechischen mancher gelehrter Töchter und Frauen durch die Humanisten als mirakulös gefeiert oder als monströs abgewiesen wurde: Margaret L. King, Book-Lined Cells: Women and Humanism in the Early Italian Renaissance, in: Patricia H.Labalme (Ed.), Beyond their Sex. Learned Women of the European Past. New York 1980, 66–90; Lisa Jardine, ‚O decus Italiae virgo‘ or The Myth of the Learned Lady in the Renaissance, in: Historical Journal 28, 1985, 799–819; Holt N. Parker, The Magnificence of Learned Women, in: Viator 38, 2007, 265–289; Jean M. Woods, Das ‚Gelahrte Frauenzimmer‘ und die deutschen Frauenlexika 1631–1743, in: Neumeister/Wiedemann (Hrsg.), Res Publica Litteraria (wie Anm.87), Bd. 2, 577–587, bes. 579. 89
Christianson, Tycho and Sophie Brahe (wie Anm.81), 41f.
90
Der Vergleich zwischen seiner Version der Astrologie und der Medizin zieht sich durch seine gesamte
Schrift, vgl. „Tertius Interveniens“ (wie Anm.33). S.auch Boner, Kepler’s Early Astrological Calendars (wie Anm.35). Zu Frauen in der Medizin vgl. auch Debra L. Stoudt, Medieval German Women and the Power of Healing, in: Lilian R. Furst (Ed.), Women Healers and Physicians: Climbing a Long Hill. Lexington, Ken. 1997, 13–42. 91
„Inqietissimo sane ingenio, sed quo non tantum nihil proficit in literis (non mirum hoc est in foemi-
na)“: Kepler, Harmonice Mundi (wie Anm.38), lib. IV, cap. vii, 279.
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Nein: Sie habe „nie den Kopff gehabt“, sich für diese Schriften zu interessieren, keine Lust auf Historiae, von theologischen Streitschriften ganz zu schweigen. Tag und Nacht habe sie sich nur in Gebetsbücher vertieft, die sie nicht allein zur Erbauung, „von andacht”, sondern auch „von lust wegen“ gelesen habe (Z. 169–172). Wurden die Grenzkriege um Haushalt und Ruhe auf Deutsch geführt, so soll hier trotz aller räumlichen Nähe eine totale Abtrennung des gelehrten Redeflusses vorgeherrscht haben: Frau Kepler habe schon gewusst, versichert ihr Mann, dass er mit den Predigern streite, habe aber nicht mitbekommen, worum: „Ich hab auch nie in meinem haus mit niemand verstendtlich oder teütsch disputirt, das sie es hette anhören könden“ (Z. 167–168).
Bei dieser klaren Separation zwischen hoher Spekulation und einfacher Andacht in seinem Haus, zwischen Latein und Deutsch – wie konnte seine Frau überhaupt von seinen unorthodoxen theologischen Ansichten gehört haben? Theologie, sagt Kepler, gehört seiner Meinung nach sowieso „einer höhere ort, für fürsten und Herren“ an (Z. 195). Kepler schließt diesen Abschnitt seines Textes, indem er für sich und seine Leserin eine hypothetische weibliche Kommunikationssituation heraufbeschwört 93: Die Verdächtigungen gegen ihn beruhten auf Unverständnis und seien vielleicht durch die Hofprediger und ihre Frauen verursacht worden – „fürwitzige weiber, die alles wissen müessen, was Ich mit Iren Herren habe“. Als seine Frau sie besuchte, mögen sie zu ihr gesagt haben, „das Ich diss und Jens [jenes] mit Iren Herrn habe“. Darauf, spekuliert er, mag seine Frau geantwortet haben: „es ist mir zu hoch[,] er [Kepler] ist mir zu spitzfindig“ (Z. 173–179). Aus dem Zusammentreffen erdachter weiblicher Stimmen könnte sich nach Kepler die Behauptung verdichten, er habe seine arme Frau mit „hohen Religionssachen“ geplagt. 94
92 Zu Versuchen, Keplers Schrift „wider der Calvinisten lehr“ zu identifizieren, s. Jürgen Hübner, Die Theologie Johannes Keplers zwischen Orthodoxie und Naturwissenschaft. (Beiträge zur historischen Theologie, Bd. 50.) Tübingen 1975, 20–22. 93 Auch in seinem Bericht über den Verlauf seiner Brautschau erwähnt Kepler mehrmals, dass er in Weiberstuben schlecht gemacht und seine Rechtgläubigkeit in Zweifel gezogen wurde. Vgl. Brief an einen anonymen Adeligen (wie Anm.48). 94 In einem kurzen letzten Abschnitt, der in der Handschrift nach einer Unterbrechung auf einer neuen Seite anfängt, verteidigt Kepler seine Position in Religionssachen. Für unseren Zusammenhang ist wichtig, dass er erneut betont, dass, obwohl er in Theologie durchaus kompetent ist und seine Ansichten hat, er nie seine Frau und Kinder „jemahls im wenigsten geirret oder jnen frembde bücher eingeschoben“ hätte (Z. 188–189).
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VII. Wir müssen Keplers raffinierten Versuch, den „fürwitzigen weibern“ die Schuld zu geben, nicht unbedingt akzeptieren; genauso wenig sollten wir seine Darstellung der Fähigkeiten und Schwächen seiner Frau für bare Münze nehmen. Mag es im Einzelnen gelegentlich doch anders gelaufen sein, als wir es aus Keplers Darstellung zu eruieren versucht haben: darauf kommt es nicht an. Wichtiger sind die sichtbar gewordenen strukturellen Spannungen und Figurationen, die die täglichen Praktiken und Interaktionen in seinem Haushalt ausprägten. Keplers Ehrenökonomie, das hoffentlich ist deutlich geworden, hing nicht nur von männlichen Vertrauensnetzwerken und gegenseitiger Anerkennung in geschlossenen gelehrten Kreisen ab; sie beruhte zugleich auf einem gemeinsamen Familienhaushalt und war durch die ihm innewohnenden strukturellen Spannungen gefährdet. Wichtiger noch: In dieser Familienwelt waren die Grenzen – je nach Kontext und Sachverhalt – weder klar noch gefestigt; sie wurden verhandelt, umkämpft und blieben höchst ambivalent. Trennung und Interdependenz – getrennte männliche Ehre, exklusive Ansprüche auf wissenschaftlichen Ruhm, separate Kommunikationskanäle – bei gleichzeitiger physischer Nähe, gegenseitiger ökonomischer Abhängigkeit und ständiger direkter sozialer Kontrolle: Diese Artikulation entgegengesetzter Kräfte wurde in Gelehrtenfamilien unterschiedlich ausgehandelt. Keplers erste Ehe liefert dafür nur ein Beispiel. Am 30. Oktober 1613 heiratete Kepler Susanna Reuttinger. Anders als Barbara wird Susanna in seinen Schriften kaum erwähnt; für moderne Biographen ein sicheres Zeichen, dass diesmal alles gut ging. 95 Das ist aber schon eine andere, wenn auch vielleicht nicht ganz andere Geschichte.
Unterschiedliche Versionen des Textes wurden im Rahmen der Vorlesungsreihe „Expertenkulturen des 12. bis 16.Jahrhunderts“ in Göttingen, des Basler Renaissance-Kolloquiums und der Konferenz „Making Science: Inspiration & Reputation, 1400–1600“, an der Huntington Library, Los Angeles, vorgestellt. Den Teilnehmern danke ich an dieser Stelle herzlich für ihre hilfreichen Kommentare und Kritiken.
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„In that security of his new home which he needed, Kepler found a peaceful place, where he could feel
sufficiently free form worries to complete his scholarly works. To be sure, in his letters and in the other documents of his lifetime, there is barely any further talk of his wife. This may, however, certainly be deemed a good thing, if it is true that those wives are the best who are least spoken of.“ Caspar, Kepler (wie Anm.3), 223; ähnlich auch Wacha, Keplers Trauung (wie Anm.66), 23: „Sie verstand es [...], Kepler die Ruhe zur Vollendung großer Werke zu schenken. Ihr Name wird immer mit diesem großen Geist und seinem Ruhm verbunden bleiben.“
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Expertenkulturen, Wissenskulturen und die Risiken der Kommunikation von Martin Mulsow
I. Wissenskulturen können Kulturen des Wissenserwerbs sein – ich nenne sie epistemische Kulturen – oder auch Kulturen der Wissensorganisation und -verwaltung. 1 Faktisch gibt es viele Übergänge; man denke nur daran, dass im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit Wissenszuwachs meist im Rahmen (oder unter dem Deckmantel) von Kommentierung geschah: Dann kommentierte man die aristotelische Physik oder Meteorologie, aber probierte im Kommentar neue Theorien aus. Expertenkulturen haben mit Wissensanwendung und Wissensvermittlung zu tun: Träger von Sonderwissen beraten Entscheidungsträger, applizieren allgemeine Orientierung auf einzelne Fälle, schreiben Rezepte für Patienten. Auch hier ist es nicht ausgeschlossen, dass Experten Teile von epistemischen Kulturen sind, etwa Universitäten oder Labors, aber im Regelfall fungieren sie eher als Extension von Wissensverwaltung: Das gesicherte Wissen wird angewendet. Die Experten sind als Juristen, Theologen, Mediziner ausgebildet und arbeiten nun so, dass sie stückweise ihr Wissen in der Praxis einsetzen. 2 Das Göttinger Graduiertenkolleg „Expertenkulturen des 12. bis 16.Jahrhunderts“ diagnostiziert zu Recht einen Prozess der Überformung von Kultur durch Expertenwissen, der sich seit dem 12.Jahrhundert durch das Mittelalter zieht und sich in der
1 Der Text basiert auf einem am 28.Oktober 2009 anlässlich der Eröffnung des Graduiertenkollegs „Expertenkulturen des 12. bis 16.Jahrhunderts“ gehaltenen Vortrag. 2 Zu Wissenskulturen vgl. Karin Knorr-Cetina, Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen. Frankfurt am Main 2002. Zur historischen Anwendung des Begriffs: Johannes Fried/ Thomas Kailer (Hrsg.), Wissenskulturen. Beiträge zu einem forschungsstrategischen Konzept. Berlin 2002; Johannes Fried/Michael Stolleis, Wissenskulturen. Über die Erzeugung und Weitergabe von Wissen. Frankfurt am Main 2009. Zu Expertenkulturen: Frank Rexroth, Expertenweisheit. Die Kritik an den Studierten und die Utopie einer geheilten Gesellschaft im späten Mittelalter. (Freiburger Mediävistische Vorträge, Bd. 1.) Basel 2008.
oldenbourg DOI 10.1524/9783486717952.249
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Frühen Neuzeit nur fortsetzt, nicht etwa dort erst einsetzt. Es geht innerhalb dieses Prozesses um die „Veränderung in den Kommunikationsbedingungen zwischen den Trägern von Sonderwissen und ihrer Umgebung“, vor allem um die institutionelle Einbettung, die Inszenierungsformen und die Ambivalenzen. 3 Bezüglich der Ambivalenzen wird als Grundmuster – auch wiederum seit dem Mittelalter – eine dialogische Beziehung zwischen Systemvertrauen und Kritik an den Experten festgestellt. Solche Grundmuster im Sinne von Spannungsfeldern sind es zunehmend, die in der Forschung an die Stelle von suspekt gewordenen teleologischen Modernisierungserzählungen treten. So stellt der Münchener SFB 573 etwa ein Spannungsfeld zwischen Pluralisierung und Autorität fest, also zwischen dem Aufbrechen von immer mehr alternativen Wissensansprüchen und Weltwahrnehmungen auf der einen Seite und den Versuchen, der Vielfalt durch Dezision und autoritative Setzung Herr zu werden. Für die Betrachtung von Wissenskulturen heißt das: Man muss nicht eine Abfolge von epistemischen Kulturen konstruieren, die „immer effektiver“ werden, sondern darf durchaus die einzelnen Milieus in ihrem Eigenrecht wahrnehmen, in ihrer je eigenen Durchmischung von Komponenten, und auch in ihrer synchronen Vielfalt: als Universitäten, Höfe, Akademien, Wunderkammern. Solche epistemischen Milieus können zueinander in Konkurrenz treten und können auch Bestrebungen unterworfen sein, per Dekret und Dezision wieder vereinheitlicht zu werden. Wir dürfen also nicht beim Begriff der „Wissenskultur“ oder der „Expertenkultur“ einer suggestiven Sicht des Kulturbegriffs verfallen, die monolithisch und harmonisch wäre. Kulturen können voller innerer Konflikte sein. Davon vor allem will ich im Folgenden reden: von Sonderwissen, das potentieller Konfliktstoff ist, von Teilungen des Wissens, die problematisch sind und Folgen zeitigen. Ich mache sozusagen die Gegenprobe zum Unternehmen des Graduiertenkollegs: Nicht institutionell verankerte Wissensbereiche interessieren mich, sondern prekäres Wissen. Prekäres Wissen ist notorisch unsicher, muss zuweilen zurückgenommen werden, kann leicht vernichtet werden, nur schwer für Nachhaltigkeit sorgen. 4 Welches sind die
3 Vgl. das Forschungsprogramm des Kollegs: http://www.uni-goettingen.de/de/100754.html (Zugriff 16.1.2012). 4 Vgl. Martin Mulsow, Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit (im Erscheinen).
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„Experten“ für solches Wissen – wenn man hier überhaupt von Experten reden kann und sie nicht Anti-Experten nennen muss? Oder sind es Gegenexperten? Das wohl eher nicht, denn Gegenexperten spielen im gesellschaftlichen Spiel um die Verteilung von Wissen und Macht mit, während die Träger prekären Wissens das Spiel unterlaufen. 5 Wie wird solches Wissen in seiner unsicheren Stellung symbolisiert? In welchem Verhältnis steht es zum Vertrauen zur Gesellschaft – und der Gesellschaft zu ihm? Das, was ich also anbieten möchte, ist: die Betrachtung von Expertenkulturen in die weitere Perspektive von Wissenskulturen zu setzen, die Formen des Wissens einschließt, welche im Gegensatz zu institutioneller Verankerung stehen, weil der epistemische Aspekt bei ihnen den der Wissensverwaltung und -anwendung negiert. Es geht um die prekäre Stellung der Wahrheit in Wissenskulturen, und ich werde meinen Versuch daher in Form der Skizze einer Kulturgeschichte der Wahrheit präsentieren.
II. Expertentum lässt sich am besten an den oberen Fakultäten festmachen, an Jurisprudenz, Theologie und Medizin. Was aber ist mit der unteren Fakultät? Sind Philosophen auch Experten? Odo Marquard hat die Philosophen einmal als Stuntmen für das Allgemeine bezeichnet. 6 Stuntmen müssen stark sein, sie müssen einiges aushalten können. Die eigentlichen Stuntmen sind aber nicht die braven Professoren, die Kommentierer, sondern diejenigen, die eigene Wege gehen, jenseits der liebgewordenen Ansichten und Werte der normalen Leute. Im 16.Jahrhundert ist für diese Philosophen ein Name gefunden worden, vor allem bei Pierre Charron: Esprit fort. Der ‚starke Geist‘, der Esprit fort, kann sich über die „erreurs populaires“ erheben, die Vorurteile und liebgewordenen Irrtümer, von denen sich die Menge ernährt. 7 Aver-
5 Zum Begriff der Gegenexperten vgl. Ulrich Beck, Die Erfindung des Politischen – zu einer Theorie reflexiver Modernisierung. Frankfurt am Main 1993. 6 Odo Marquard, Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien. Stuttgart 1986. 7 Zu Charron vgl. Tullio Gregory, Etica e religione nella critica libertina. Neapel 1986; Michel Adam, Études sur Pierre Charron. Talence 1991; Christian Belin, L’œuvre de Pierre Charron, 1541–1603. Littérature et théologie de Montaigne à Port-Royal. Paris 1995; Vittorio Dini/Domenico Taranto (Eds.), La saggezza moderna. Temi e problemi dell’opera di Pierre Charron. Rom 1987.
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roes hat einmal gesagt, Philosophen müssten einen großen Magen haben. Sie könnten Dinge verdauen, die für andere völlig unverdaulich wären. 8 Der Esprit fort kann gefährliche Wahrheiten denken, Wahrheiten, die, würden sie verbreitet, Schock und Ablehnung hervorrufen würden. Der Esprit fort ist kein Experte für Sonderwissen im Sinne einer Region von Wissensbereichen, sondern für einen bestimmten Modus des Wissens: ungewöhnliches, gefährliches, unterminierendes Wissen. Das kann Wissen „von unten“ sein, das politische Verhältnisse bedroht, das kann aber auch ein Wissen „von oben“ sein – und das ist es im 16. und 17.Jahrhundert öfter gewesen: staatliches Herrschaftswissen, etwa solches, dass sich bewusst ist, dass religiöse Gefühle sich politisch funktionalisieren lassen, weil Untertanen gehorsamer sind, wenn sie denken, dass der Herrscher dies von Gottes Gnaden ist. Daher wird auch verständlich, dass die Gruppe von Intellektuellen, die man in Frankreich libertins érudits nennt, sich vorzugsweise an der Staatsspitze im Umkreis von Richelieu angesiedelt hat. 9 Ich habe in einem Heft der „Zeitschrift für Ideengeschichte“ versucht, diese Beratergruppen anachronistisch als „Think Tanks“ zu bezeichnen. 10 Es ist aber an dieser Stelle nachzufragen, inwiefern es sich bei solchen Libertins um Berater, um Experten handeln kann. Sicherlich, sie können politische Informationen verwalten, Bibliotheken aufbauen, Ratschläge zur Beherrschung des Volkes geben. Zugleich aber bleiben sie, insofern es sich um Esprits forts handelt, immer auch unsichere Kandidaten. So ist aus dem weiteren Umkreis dieser Gruppe offenbar jener uns unbekannte Autor hervorgegangen, der um 1650 das clandestine Manuskript mit dem Titel „Theophrastus redivivus“ verfasst hat. 11 Es ist das erste erhaltene, explizit atheistisch argumentierende Werk überhaupt. Darin wird der atheistische Philosoph im Stile eines antiken Weisen porträtiert, der der Natur folgt und sich vom gemeinen Volk fernhält. Es ist nicht so sehr eine Grenze zwischen privater und öffentlicher Sphäre gezogen, sondern zwischen dem „Weisen“ und dem Volk. Sein Wissen macht ihn einsam. Wonach ich jetzt fragen möchte, ist die emotionale Komponente solcher Wissensverhältnisse: Angriff, Verspottung, Verachtung, Verfolgung auf der einen Seite, 8 Averroes, Commentarius in physicam Aristotelis, Prolog zu Buch III. 9 Vgl. René Pintard, Le libertinage érudit dans la première moitié du XVIIe siècle. Paris 1943; Gerhard Schneider, Der Libertin. Zur Geistes- und Sozialgeschichte des Bürgertums im 16. und 17.Jahrhundert. Stuttgart 1970.
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10
Zeitschrift für Ideengeschichte 3/3, 2009: Think Tanks. Hrsg. v. Martin Mulsow/Tim B. Müller.
11
Theophrastus redivivus. Hrsg. v. Guido Canziani/Gianni Paganini. 2 Vols. Florenz 1981/82.
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und Abwehr, Schutz, Rückzug, Reaktion, Verstecken auf der anderen Seite. Solche Emotionen – hier als epistemische Emotionen – sind nicht leicht aufzuspüren. 12 Da ich eine Kulturgeschichte der Wahrheit verfolge, erlaube ich es mir, ihnen durch Fragen nach symbolischen Repräsentationen der Wahrheit, nach Metaphern und bildlichen Darstellungen nachzugehen. Ich suche daher ganz direkt nach einem Maler, der sich vorzugsweise mit der Darstellung von Experten beschäftigt hat, von Wissenden, ja sogar von Wahrheit als solcher. Und der zudem ein Maler ist, der sich selbst im Kontakt zu prekären Wissenskulturen befunden hat, nämlich zu einer Akademie, die von Esprits forts bewohnt war.
III. Einen solchen Maler gibt es: Er heißt Pietro della Vecchia, ist nicht sehr bekannt, und lebte im Venedig der ersten Hälfte des 17.Jahrhunderts, im Kontakt zur Accademia degli Incogniti, einer dieser eher privaten italienischen „Akademien“, die so etwas wie Freundeszirkel und Netzwerke waren, keineswegs aber staatliche Großunternehmungen wie später die Nationalakademien im 18.Jahrhundert. 13 Über die Auftraggeber von della Vecchias Bildern wissen wir fast nichts, aber es ist anzunehmen, dass Professoren und andere Gelehrte – Padua war nicht weit – zur Klientel des Malers gehört haben. Unterrichtsstunden: Das ist eines der Lieblingsmotive della Vecchias. Zum Beispiel Mathematikstunden (Abb.1). Ein Lehrer schaut dem Jüngling über die Schulter, der in kompliziertes Wissen initiiert wird. Ein eher dumpfer Beobachter, links im Bild, bleibt außen vor, während der Schüler große Augen macht ob der Wahrheiten, die ihm zuteil werden. Dass dies nicht ganz alltäg-
12 Vgl. allg. Barbara Rosenwein, Worrying about Emotions in History, in: AHR 107, 2002, 821–845. 13 Zu della Vecchia vgl. Bernard Aikema, Pietro della Vecchia and the Heritage of the Renaissance in Venice. Florenz 1990; ders., Marvellous Imitations and Outrageous Parodies. Pietro della Vecchia Revisited, in: Mary Jane Harris (Ed.), Continuity, Innovation and Connoisseurship. Old Master Paintings at the Palmer Museum of Art.University Park 2003, 111–133. Zur Accademia degli Incogniti: Giorgio Spini, Ricerca dei libertini. La teoria dell’ impostura delle religioni nel seicento italiano. 2.Aufl. Florenz 1983. Außerdem die neueren bibliographischen Recherchen von Tiziana Menegatti, Ex ignoto notus. Bibliografia delle opere a stampa del principe degli incogniti. Giovan Francesco Loredano. Padua 2000; Monica Miato, L’Accademia degli Incogniti di Giovan Francesco Loredan a Venezia (1630–1661). Florenz 1998; Paolo Marangon, Aristotelismo e cartesianesimo. Filosofia accademica e libertini, in: Girolamo Arnaldi/Manilio Pastore Stocchi (Eds.), Storia della cultura veneta. Vol.4/2: Il Seicento. Vicenza 1984, 95–114.
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liche Wahrheiten sind, verraten die Finger des Lehrers. Die linke Hand zeigt die Dreizahl an (die Trinität), während die rechte auf das Blatt zeigt oder auch die Eins symbolisiert. Die Pyramide aus Punkten auf dem Bild erweist denn auch, dass bei der „Mathematikstunde“ in Wirklichkeit die Erzeugung des Vielen aus dem Einen, der Realität aus dem Punkt zur Sprache kommt, dass Mathematik also philosophische Mathematik, Pythagoreismus ist, und auch die Trinität hier nicht weit ist. Der Lehrer ist auch nicht als standesgemäßer Professor angezogen, sondern als antiker Weiser mit Bart und einfachem Umhang, ebenso wie Salvator Rosa zur gleichen Zeit Philosophen imaginiert. Es gibt ein anderes Bild della Vecchias, ein Porträt, das ich genauer untersucht habe, auf dem ein junger Mann zu sehen ist, der eine pansophische Tafel hält, auf der es um Techniken geht „inaccessibilem veritatem apprehendere“, die unzugängliche Wahrheit zu fassen zu bekommen. 14 Ich halte den Porträtierten für Otto Tachenius oder einen seiner Schüler. Tachenius lebte in Venedig und war chemischer Arzt und Anhänger der Idee einer prisca sapientia, einer ursprünglichen Weisheit. Ein Experte mit philosophischen Neigungen und Gründen, die Details seines chemisch-kabbalistischen Wissens zu verbergen. Zum anderen gibt es Unterrichtsbilder von della Vecchia, die nicht auf höheres Wissen gehen, sondern auf reflexives Wissen (Abb.2). Wieder ist hier der Lehrer eine Art antiker Weiser, doch kein Pythagoras, sondern ein Sokrates. Er lehrt „Erkenne Dich selbst“, indem er seinen kleinen Schüler aus noblen Kreisen vor einen Spiegel stellt. Wieder ist die Nähe des Lehrers zum Schüler näher als vom Anstand geboten, es ist die sokratische, fast homoerotische Nähe des pädagogischen Eros. Neben den initiierten Jüngling setzt della Vecchia wieder, wie so oft, ein karikiertes Gegenbild: den rohen Dümmling mit groben Gesichtszügen. Dieser ist es, der das Sonderwissen, das Buchwissen, lernt, in diesem Falle ein philosophisches Lehrbuch zur Schlusslehre mit logischem Quadrat. Insofern lässt sich dieses Bild in die Tradition der Expertenkritik, in den Riss im Systemvertrauen, einordnen: Experten sind Pedanten, sie wissen nichts von ihrem eigenen Nichtwissen, sie kennen sich nicht selbst. Und noch eine dritte Szenerie im Kontext von Unterricht findet sich bei della Vecchia. Ich möchte sie den „unterbrochenen“ oder „bedrohten Unterricht“ nennen (Abb.3). Dort nämlich kommt ein Soldat frech in die Stube und zückt sein Schwert.
14
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Martin Mulsow, Die Tafel in der Hand, in: ders., Prekäres Wissen (wie Anm.4).
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Er greift sich das Buch, das Schüler und Lehrer halten, und schaut spöttisch auf die Seiten. Will er sie herausreißen? Will er das Geschriebene und dessen Wahrheit herausfordern? „Jus in Armis“ steht auf seinem Schwert, eine Kurzform des Satzes „Ius est in armis, opprimi leges timor“ (Das Recht liegt in den Waffen, Furcht unterdrückt die Gesetze), eine sprichwörtliche Sentenz aus Senecas Tragödie „Hercules furens“. 15 Wissen kann also auch bedroht sein, bedroht durch Gewalt. Der Soldat zerstört das fragile pädagogisch-erotische Zusammenspiel, in dem der Lehrer den Schüler in die Wahrheit initiiert. Die Geste des Weisen nach oben, auf die höhere Wahrheit, nützt ihm momentan nichts. Stellen wir uns die venezianischen und paduanischen Besitzer dieser Bilder vor. Es werden Gelehrte, Professoren, Gebildete gewesen sein. Die Bilder konnten in Räumen hängen, in denen Adelsknaben der venezianischen Gesellschaft Privatunterricht bekamen, in den Salons der Professorenhäuser, neben der Bibliothek, in Stätten der Lehre. Je nach Auftraggeber konnte della Vecchia Insignien der Astronomie, Mathematik oder anderer Wissenschaften einsetzen, konnte den gerade noch sichtbaren Inhalt der aufgeschlagenen Bücher variieren. Die Grundbotschaft blieb dennoch ähnlich. Es ist dabei das Interessante an della Vecchia, dass seine Expertenbilder zugleich Spannungen und Ambivalenzen verraten: zwischen Wissen und Gewalt, Wissbegierde und Verlachen, Selbstwissen und Pedanterie. Das macht die Frage umso brennender: Wie stellt, jenseits des Expertentums, della Vecchia den Philosophen dar, nicht nur als Lehrer, sonders als ihn selbst, in seinem Verhältnis zur Wahrheit? Oder nennen wir ihn nicht den Philosophen, sondern – mit Cardano und dem „Theophrastus redivivus“ und in Anbetracht von della Vecchias antikisierender Darstellung: den Weisen. 16
15 Hercules furens, v. 251/253. Vgl. den Kommentar in Seneca, Hercules furens. Hrsg. v. Margarete Billerbeck. Leiden 1999, 301. 16 Zur Figur des Weisen in diesen Kontexten vgl. Alfonso Ingegno, Saggio sulla filosofia di Cardano. Florenz 1980; Lorenzo Bianchi, Sapiente e popolo nel Theophrastus redivivus, in: ders., Tradizione libertina e critica storica. Da Naudé a Bayle. Mailand 1988, 107–140.
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IV. In der Accademia Carrara in Bergamo hängt ein rätselhaftes Gemälde della Vecchias aus dem Jahr 1654 (Abb.4). 17 Es ist offenbar eine Allegorie der Wahrheit: Eine fast nackte Frau, spärlich mit einem Schleier bedeckt und einen Zirkel in der Hand haltend, wird von hinten von einem alten Mann umfasst, während neben ihr eine andere Person kauert und sie ansieht. Das Ungewöhnliche ist, dass der alte Mann und die Nebenperson – die Invidia oder Fortuna repräsentieren könnte – scheinbar obszöne Gesten miteinander austauschen: das Cornuto-Zeichen der Mann, die FicoGeste die Nebenperson. Wird die Wahrheit hier verspottet? Ist dies das Ergebnis einer intellektuellen Wahrheits-Akrobatik? Fast scheint es so. Della Vecchia hat in diesem Bild gleich mit mehreren ikonographischen Traditionen gebrochen. Die personifizierte Wahrheit, kenntlich vor allem an der Sonne, die wie ein Diadem über ihrer Stirn schwebt, ist nicht wie gewöhnlich abstrakt und unberührbar, sondern wird von dem begehrenden alten Mann in eine intime, erotische Lage gebracht. Der Mann, der im Gemälde die Position hat, die in vergleichbaren Bildern der entschleiernde Chronos einnimmt – eben „Veritas filia temporis“ – ist jetzt eher ein Philosoph, der die Wahrheit begehrt. Und obszöne Spottgesten haben in einer philosophischen Allegorie normalerweise nichts zu suchen. Nun kann man folgende Überlegung anstellen: Da della Vecchia offenbar der Accademia degli Incogniti nahestand, die aber mit Schülern von Cesare Cremonini durchsetzt war, einem der geistigen Nachfolger Pomponazzis, und von beiden das Gerücht ging, sie hätten die berüchtigte Lehre von der doppelten Wahrheit vertreten (eine Behauptung, die für die Philosophie wahr sei, könne für die Theologie falsch sein, und umgekehrt 18), daher könnte es sein, dass sich in della Vecchias Bildern der libertine Geist der Accademia ausdrückt, der sozusagen Kehraus mit der Wahrheit betreibt. 19
17
Vgl. für eine ausführlichere Deutung des Bildes: Martin Mulsow, Bedrohtes Wissen, in: ders., Prekäres
Wissen (Anm.4). Aus diesem Text sind eine Reihe von Passagen übernommen. 18
Zu Cremonini vgl. Heinrich Kuhn, Venetischer Aristotelismus im Ende der aristotelischen Welt. As-
pekte der Welt und des Denkens des Cesare Cremonini (1550–1631). Bern/Frankfurt am Main 1996. Zum komplizierten Problem der doppelten Wahrheit vgl. etwa Martin Pine, Pomponazzi and the Problem of ‚Double Truth‘, in: Journal of the History of Ideas 29, 1968, 163–176. 19
In diese Richtung geht die Deutung, die Bernard Aikema an della Vecchias Allegorie vorgenommen
hat. Er geht sogar so weit zu spekulieren, die Allegorie könne im Versammlungsraum der Incogniti gehan-
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Das ist, glaube ich, eine Überinterpretation, vor der wir uns hüten sollten. Ich glaube nicht, dass die Wahrheit auf dem Gemälde verspottet wird. Vielmehr geht es, meine ich, um ein sehr komplexes Verhältnis des Philosophen – des Experten für prekäres Wissen – zur Wahrheit und zum Schicksal. Verständlich wird dieses Verhältnis, wenn wir zwei ähnliche Allegorien della Vecchias hinzuziehen: ein Gemälde von – wahrscheinlich – 1666 aus einer Privatsammlung in Moskau und ein Gemälde aus dem Museo Civico in Vicenza. Stellt man aus den drei Bildern eine Bilderfolge zusammen, so würde sich ergeben: 1. (Moskauer Allegorie): ein alter Mann mit Bart – wohl ein Philosoph – flüchtet sich vor einer Frau mit Rad, der Fortuna, in die Arme einer jungen Frau, die nur mit einem Mantel bekleidet ist. 20 2. (Vicenza-Allegorie): der Philosoph umfasst die junge Frau, die sich jetzt als Sapientia oder Veritas herausstellt, mit der linken Hand in der gleichen Weise wie im Bild zuvor, doch die rechte ist jetzt nicht mehr so schutzsuchend, sondern im Gestus nun eher begehrlich. 21 Der Mantel ist nun offen und gibt die Brust der Frau frei, die ihn ansieht. Sie hält eine Schriftrolle, auf der zu lesen ist: „Saepe sub sordido pallio magna latet Sapientia“ – oft verbirgt sich große Weisheit unter einem schmutzigen Gewand. 22 Der Philosoph hat sich also der Weisheit zugewandt und möchte ihre Geheimnisse ergründen. 3. Nehmen wir nun die Allegorie von Bergamo hinzu, so können wir das Bild jetzt so verstehen, dass der Philosoph, der nunmehr hinter die Weisheit oder Wahrheit getreten ist, sie aber immer noch umfasst, sich geradezu hinter ihr verschanzt. Dem ungünstigen Schicksal, dem er entflohen war und das ihn immer noch mit einer Fico-Geste verspottet, tritt er jetzt – sicher hinter der Wahrheit – entgegen, indem er seinerseits dem Schicksal eine Geste macht, das Cornuto-Zeichen, gleichsam als seine Antwort. Warum aber macht der Philosoph das Cornuto-Zeichen? Dieses Zeichen kann ähnlich wie die Fico-Geste eine sexuelle Beleidigung, ein obszöner Angriff sein, aber gen haben, ähnlich wie Tizians Allegorie der Weisheit an der Decke der alten Markus-Bibliothek thronte, wo sich im 16.Jahrhundert die Accademia della Fama versammelt hatte. Vgl. Aikema, Pietro della Vecchia (wie Anm.13), 111. 20 Pietro della Vecchia: Allegorie, Moskau, Privatsammlung; Abb.in: V. Markova, Inediti della pittura veneta nei musei dell’ URSS, in: Saggi e Memorie di Storia dell’ Arte 13, 1982, 11–31, Abb.23. 21 Pietro della Vecchia: Allegorie, Vicenza, Museo Civico; Abb.in: Aikema, Pietro della Vecchia (wie Anm.13), cat. 151, Abb.112. Von diesem Bild gibt es eine Variante in einer italienischen Privatsammlung, bei der der alte Mann Flügel hat und somit noch als Chronos sichtbar ist. Die Haltung ist aber ebenso begehrlich. Vgl. die Fig. 22 in: Aikema, Marvellous Imitations (wie Anm.13), hier 122. 22 Das Motto ist aus Caecilius Statius.
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es kann auch etwas anderes bedeuten. Ich glaube, dass sich della Vecchia nicht nur anhand von Giovanni Bonifacios Gesten-Buch „Arte de’ cenni“ rein theoretisch mit der Bedeutung von Gesten beschäftigt hat, sondern auch ein aufmerksamer Beobachter der Handzeichen der Menschen in Venedig war, einschließlich der auswärtigen Besucher, die sich dort aufhielten. Insbesondere in Süditalien war man magiegläubig, aber diese Tendenzen reichten bis weit in den Norden, wie auch della Vecchias Bilder über Zauberei und Chiromantie zeigen. Im Kontext der Magiegläubigkeit haben manche der Handzeichen die Funktion eines Amuletts, sollen also Abwehrzauber gegenüber dem „bösen Blick“ bewirken. Das machen vor allem Andrea de Jorios Beobachtungen der Gesten in Neapel deutlich. 23 Die Cornuto-Geste ist in diesem Kontext ein Amulett. So verstanden, beschützt der alte Mann, der Philosoph, sich und die nackte Frau, nuda veritas, die er entschleiert hat, vor Angriffen und Profanierungen von außen. Dieses Außen ist die schwer deutbare weitere Person, wohl Fortuna, die ihrerseits eine magische Geste vollführt, die „Mano in fica“, die auch Abwehrfunktion besitzen kann, doch spielt della Vecchia hier offenbar mit der aggressiven und obszönen Bedeutungsebene, die diese Gesten auch haben können. 24 Sie kann sowohl ein beleidigendes „Zieh Leine“ als auch eine obszöne sexuelle Einladung meinen. Derjenige, der Gesten versteht, kann also einen Eindruck davon bekommen, wie gefährdet und prekär Wahrheit ist, wenn sie dem Schicksal, dem Außen, den einfachen Leuten ausgesetzt wird. Wahrheit muss sich verbergen – unter dem sprichwörtlichen „schmutzigen Mantel“ (sub sordido pallio), und ihr Liebhaber, der Philosoph, der sie entbirgt, muss sie zugleich beschützen und verstecken. 25 Della Vecchia spielt erstens mit den Metaphern des Verbergens und Entbergens, zweitens mit einem Verhältnis von Schutz und Bedrohung und drittens mit der „erotischen“ Nähe als Bild für das Begehren der Wahrheit, für epistemic virtue, um es modern zu sagen. Diese Metaphern haben alle ihre sexuelle Seite, ganz nach dem Geschmack der venezianischen Libertins, im Stile von Marinos Lyrik. Doch ihr Kern ist keine Libertinage, sondern – so glaube ich – sehr ernsthafte Reflexion über die prekäre Stellung von Wahrheit und Erkennen.
23
Andrea de Jorio, La mimica degli antichi investigata nel gestire napoletano. Neapel 1832; ich benutzte
die engl. Neuausgabe: Gesture in Naples and Gesture in Classical Antiquity. Bloomington 2000, 171.
258
24
Ebd.215.
25
Vgl. die Allegorie von Vicenza (wie Anm.21).
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Das Komplizierte an della Vecchias Allegorie der Wahrheit und ihrer Bedrohung, wie ich sie nennen möchte, ist, dass er beide Seiten, die des beschützenden Philosophen wie auch die des bedrohenden Außen, mit Positionen besetzt, die selbst Wahrheit und Philosophie darstellen können. Beispielsweise gibt es ein Bild von ihm, auf dem Demokrit die Welt verlacht, und zwar mit einer Fico-Geste auf der Weltkugel: „Du kannst mich mal!“ (Abb.5). Dieses Verlachen, auch mit angedeuteter Weltkugel, ist in unserer Allegorie die bedrohende Seite. Zum anderen gibt es ein Bild von della Vecchias engem Kollegen Francesco Ruschi, auf dem Chronos der Wahrheit den Schleier wegzieht, während die Wahrheit die Weltkugel hält, erschienen im Jahr vor della Vecchias Gemälde (Abb.6). Nur ist die Wahrheit bei Ruschi genau in der Position, in der die bedrohende und verlachende Figur bei della Vecchia ist, und der hochgezogene Schleier ist in der von della Vecchia aus Ruschi kopierten Figur sogar noch geblieben. Dieses Recycling von Figuren will ich nicht übermäßig mit Bedeutung aufladen; es zeigt zunächst die Praxis eines Malers, der sich der Vorlagen bedient, wo er kann. Aber es zeigt zumindest auch, wie sehr man mit den Motivkomplexen und Positionen experimentiert hat: Entschleierung, Nähe, Wahrheit, Verlachen, Beschützen. Das waren nicht nur Verkaufsexperimente, es waren auch tastende Positionierungsversuche des jeweiligen Wissens in der venezianischen Gesellschaft. Wann ist „höheres Wissen“ um eine kabbalistische Weisheit verlacht worden? Wie haben die Incogniti ihre Kritik an der Religion getarnt? Warum musste man in Padua Aristoteliker sein, konnte aber in privaten Lektionen in Venedig den Platonismus vertreten? Wann hat die Staatsmacht in den Unterricht gefunkt, weil er ihr bedrohlich schien?
V. Ich bin den Umweg über die bildlichen Darstellungen von Wahrheit, Wissen und Expertentum gegangen, um einen Einblick in die emotionale Grundierung des Umgangs mit Wissen – und vor allem von Wissensteilungen – in einer so komplexen frühneuzeitlichen Wissenskultur wie Venedig zu bekommen. Wissensteilungen: unter diesem von Michael McKeon übernommenen Begriff 26 verstehe ich die 26 Michael McKeon, The Secret History of Domesticity. Public, Private, and the Division of Knowledge. Philadelphia 2006.
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Differenzsetzungen zwischen erlaubtem/unerlaubtem Wissen, okkulter/manifester Kausalität, privatem/öffentlichem Wissen und eben, bei della Vecchia, bedrohtem und beschütztem Wissen. Um solche Differenzen in den Griff zu bekommen, gehe ich auf ein Projekt zurück, das Stephen Shapin 1994 exemplarisch ausgeführt hat: eine Sozialgeschichte der Wahrheit. Shapin zentriert seine Sozialgeschichte um den Begriff des Vertrauens. Vertrauen ist – mit Luhmann und Giddens – das Medium, in dem soziales Handeln und auch wahrheitsorientierte Kommunikation erst möglich werden. 27 Heute benötigt die hochdifferenzierte Gesellschaft mit ihren abstrakten Institutionen und Expertensystemen das Vertrauen der Akteure in das Funktionieren dieser Institutionen, wenn diese sich auf sie einlassen wollen. Das gilt auch und in höchstem Maße für Wissenskulturen. In der frühen Neuzeit aber, so Shapins These, war das Verhältnis von Vertrauen (trust, credibility, fides) zu Wahrheit und Erkenntnis anders geartet. Es war Bestandteil einer Face-to-FaceKommunikation zwischen dem Wissenschaftler und dem, der mit ihm Umgang hatte, und diese Kommunikation schloss eine Erfahrung des Arbeitsortes (etwa des Labors), der helfenden Techniker und der Materialen mit ein. 28 Schlüsselkonzept der frühneuzeitlichen Wahrheitskultur, wie Shapin sie an Robert Boyle und der englischen Naturwissenschaft der zweiten Hälfte des 17.Jahrhunderts exemplifiziert, war die civility, die soziale Anerkennung als Gentleman, als tugendhafter Bürger. Denn erst der Wissenschaftler als Gentlemen konnte seine Glaubwürdigkeit als ein Wissenschaftler verbürgen, der kein Charlatan ist, sondern wahrhaftige Aussagen macht. Shapin hat eingeräumt, dass seine Sozialgeschichte der Wahrheit auf das England der Scientific Revolution und ihrer virtuosi zugeschnitten ist. Daher mag es nicht ohne den Reiz der Differenz sein, wenn man eine Kulturgeschichte der Wahrheit, wie ich sie anstrebe, – zumindest zum Teil – als Gegenentwurf zu Shapin präsentiert und stärker auf das Misstrauen abhebt. Das gilt nur zum Teil, weil der Bezug auf Vertrauen als solches von Shapin mit Recht gleichsam als ein „transzendentales Argument“ gemeint ist, in dem Sinne, dass Vertrauen für jede Form von Wissenspro-
27
Stephen Shapin, A Social History of Truth. Civility and Science in Seventeenth Century England. Chi-
cago 1994; Niklas Luhmann, Trust and Power. Chichester 1979; Anthony Giddens, The Consequences of Modernity. Stanford 1989. 28
Vgl. auch die Weiterentwicklung im Hinblick auf Körpergeschichte und „material culture“ durch Pa-
mela H.Smith, The Body of the Artisan. Art and Experience in the Scientific Revolution. Chicago 2004.
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duktion notwendig ist. Oder noch allgemeiner – das hat Jan Philipp Reemtsma kürzlich klargestellt: Misstrauen kann nicht das Gegenteil von Vertrauen sein, sondern Vertrauen und Misstrauen sind „zwei komplementäre Modi der Thematisierung unseres Befindens in der Welt [...], die demselben Ziel dienen: der Reduktion von Erwartungsunsicherheit.“ 29 Von Vertrauen sollte also erst dann gesprochen werden, wenn es eine soziale Praxis des Misstrauens gibt. Und genau darauf kommt es mir an: Was Shapin nicht erörtert – just der Punkt, an dem kulturwissenschaftliche Überlegungen ins Spiel kommen – ist die historisch und lokal spezifische „Verunreinigung“, in der Vertrauen mit sozialen Praktiken des Misstrauens durchmischt ist. Dieser Punkt gilt sowohl für frühneuzeitliche als auch für mittelalterliche Milieus. Für viele solche Milieus – Venedig ist nur eines von ihnen – kann man eine Geschichte der Wahrheit in Wissenskulturen rekonstruieren, deren Grundbegriff also nicht nur Vertrauen, sondern ebensosehr Misstrauen ist: vor allem dann, wenn sich kleine private, domestikale oder auch libertine Räume von Vertrautheit aufbauen, die sich – zum Teil dissimulierend – gegen eine Gesamtkultur absetzen, der gegenüber Misstrauen vorherrscht. Misstrauen gegenüber Wahrheitsansprüchen hat Brendan Dooley ganz generell als eine Ursache für den Erfolg des Skeptizismus im 17.Jahrhundert ausgemacht. 30 Nach Dooley ist die Unverlässlichkeit der Nachrichten in den privat finanzierten Avvisi schuld gewesen, dass sich niemand mehr auf Informationen einfach verlassen wollte; auch nicht auf historische. Es ist daher kein Wunder, wenn sich der Skeptizismus gerade gegen die fides gerichtet hat, sei es als aktuelle fides oder als fides historica. Das ist die auf die frühe Neuzeit bezogene externe Geschichte. Die interne Geschichte des Skeptizismus dagegen hat mit der Rezeption des antiken Pyrrhonismus und mit der Gegenbewegung gegen einen zu selbstbewussten neuzeitlichen Rationalismus zu tun 31 und setzt lange vor den von Dooley beschriebenen Phänomenen ein. Doch wie lassen sich externe und interne Geschichte – nicht nur der Skepsis, sondern auch der Wahrheit – möglichst eng zusammenführen? Das ist sicherlich nur möglich in einer dichten Beschreibung. Mit „dichter Beschreibung“ meine ich zum 29 Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne. Hamburg 2008, 37. 30 Brendan Dooley, The Social History of Skepticism. Baltimore 1999. Vgl. für die kritische Rezeption von Avvisi auch Cornel Zwierlein, Discorso und Lex Dei. Die Entstehung neuer Denkrahmen im 16.Jahrhundert und die Wahrnehmung der französischen Religionskriege in Deutschland und Italien. Göttingen 2006. 31 Vgl. Richard H.Popkin, The History of Scepticism from Erasmus to Spinoza. Berkeley 1979.
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einen eine enge Fokussierung auf ein spezifisches Milieu, eine mikro- oder mesohistorische Ebene, und zum anderen eine Analyse dieser Kultur als Ensemble sozialer Beziehungen und symbolischer Praktiken, wobei die symbolischen Praktiken Teil und Ausdruck der sozialen Beziehungen sind. 32 Beispiel nochmals: die venezianische Gesellschaft in der Mitte des 17.Jahrhunderts. Oder besser noch: die Kultur der Libertins in dieser Gesellschaft. Denn der venezianische Libertinismus der Kreise der Incogniti, so meine Vermutung, könnte heuristisch als Schlüssel- und Kerngebiet benutzt werden, um in die Umgangsformen mit Wahrheit in Venedig einzudringen. 33 Die Kultur der venezianischen Libertins als eine Kultur des Misstrauens also, eines Misstrauens, das externe und interne, reale und symbolische Momente vereinigt. Was kann das bedeuten? Eine Kultur des Misstrauens entwickelt Kommunikationsweisen, die Mitgliedern des inneren Zirkels andere Verständnismöglichkeiten eröffnet als Außenseitern. Sie entwickelt und bevorzugt Ausdrucksweisen der Ambivalenz und Mehrdeutigkeit. Das sollte nicht als negativ und als Zeichen mangelnder Courage bewertet werden, sondern deskriptiv und neutral als Stil von Simulation und Dissimulation. Der doppeldeutige, äquivoke Schreibstil gehört hierhin, und auch die Vorliebe der Incogniti für Paradoxa und paradoxe Enkomia. 34 Indes: Keine Kultur des Misstrauens kann ohne Momente des Vertrauens auskommen; ja man kann argumentieren, dass intern, in den libertinen Zirkeln, das Vertrauen untereinander um so größer sein muss, will man lasziv und blasphemisch
32
Vgl. auch Martin Mulsow, Zum Methodenprofil der Konstellationsforschung, in: ders./ Marcelo
Stamm (Hrsg.), Konstellationsforschung. Frankfurt am Main 2005, 74–97. Beispielhaft für die Analyse symbolischer Praktiken: Peter Burke, Städtische Kultur in Italien zwischen Hochrenaissance und Barock. Eine historische Anthropologie. Berlin 1986. Für den Begriff der dichten Beschreibung verweise ich auf das bekannte Buch von Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main 1983. 33
Zum Venezianer Ambiente vgl. jetzt auch Filippo di Vivo, Information and Communication in Venice.
Oxford 2007. 34
Für eine Analyse des Libertinismus vom Stil aus vgl. Martin Mulsow, Libertinismus in Deutschland?
Stile der Subversion im 17.Jahrhundert zwischen Politik, Religion und Literatur, in: ZHF 31, 2004, 37–71. Zum paradoxen Stil hier nur einige wenige Literaturangaben: Patrick Dandrey, L’Éloge paradoxal de Gorgias à Molière. Paris 1997; Adolf Hauffen, Zur Litteratur der ironischen Enkomien, in: Vierteljahresschrift für Litteraturgeschichte 6, 1893, 161–185; Jon R. Snyder, Writing the Scene of Speaking. Theories of Dialogue in the Late Italian Renaissance. Stanford 1989; Letizia Panizza, The Semantic Field of ‚Paradox‘ in 16th and 17th Century Italy. From Truth in Appearance False to Falsehood in Appearance True. A Preliminary Investigation, in: Marta Fattori (Ed.), Il vocabolario della République des Lettres. Florenz 1997, 197–220.
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sein, ohne denunziert zu werden. 35 Wenn wir uns also auf unser Bemühen zurückwenden, die Bilder della Vecchias zu verstehen, dann ginge es darum, sie so zu kontextualisieren, dass sowohl der soziale und symbolische Raum des Vertrauens als auch der soziale und symbolische Raum des Misstrauens sichtbar werden. In diesem Sinne würde ich die erotische Nähe zur Wahrheit, die della Vecchia und die Incogniti so gern in ihrer obszönen Dimension ausgekostet haben 36 und die in der Allegorie als körperliche Berührung zwischen dem Philosophen und der Wahrheit sichtbar wird, auf die Seite des Vertrauens buchen wollen. Das Vertrauen betrifft die zugleich naturalistische wie platonisierende Utopie, dass Geistiges und Körperliches keine Gegensätze bilden. 37 Auf der anderen Seite scheinen die aggressiv obszönen Gesten, die in della Vecchias Allegorie aufscheinen, zur Sphäre des Misstrauens zu gehören – Veritas odium parit, die Wahrheit ruft Hass hervor. Der Philosoph setzt sich vom Schicksal, vom Äußeren, von der Missgunst der Menge ab, um seinen Raum von Freiheit und Intimität zu bewahren. „Sapiens“ und „populus“ sind Gegensätze. Daher hat Wahrheit immer auch verhüllt zu sein. 38 Die naturalistische Utopie kann aus zwei Gründen nicht offen sichtbar auftreten. Zum einen wäre dann ihr Reiz verflogen; denn das Erotische, auf das Loredano, Bonifacio oder Pallavicino zielen, konstituiert sich erst durch die Übertretung des Verbotenen und die Enthüllung des Verborgenen. Zum anderen wusste man in den Venezianer Kreisen sehr gut, dass man als Libertin eine Verhaftung riskierte, ja den Verlust von Ehre und Ansehen. 39 Eine Kulturgeschichte
35 Dieser Gedanke ließe sich mit Reinhart Kosellecks Argument von der Entwicklung der modernen Staaten über den „gesellschaftlichen Innenraum“ der Sozietäten verbinden (Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt am Main 1973), oder auch mit Klaus Garbers emphatischen Thesen zur demokratisierenden Rolle der Sozietäten in: ders./Heinz Wismann (Hrsg.), Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition. 2 Bde. Tübingen 1996, Bd. 1, 1–39. 36 Vgl. vor allem Antonio Rocco, Della brutezza, in: Discorsi academici de’ signori Incogniti, havuti in Venezia nell’ accademia dell’ illustrissimo signor Gio. Francesco Loredano. Venedig 1645; ders., L’Alcibiade fanciulla a scola. D.P.A., ‚Oranges‘ 1652; dt. Übers.: Der Schüler Alkibiades. Ein philosophisch-erotischer Dialog. Hrsg. v. Wolfram Setz. Hamburg 2002. Zu Rocco vgl. Spini, Ricerca dei libertini (wie Anm.13), 164– 168. 37 Vgl. in diesem Sinne etwa auch Thomas Mores epikurisierende Utopia. Allg. Edgar Wind, Heidnische Mysterien in der Renaissance. Frankfurt am Main 1981, 86f. 38 Vgl. zu diesem Topos allg. Aleida Assmann/Jan Assmann (Hrsg.), Schleier und Schwelle. Geheimnis und Offenbarung. München 1998; Hans G. Kippenberg/Guy G. Stroumsa (Eds.), Secrecy and Concealment. Leiden 1995. 39 Vgl. für das vergleichbare Risiko, das beim Umgang mit magischen Schriften eingegangen wurde, die
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der Wahrheit in Venedig hätte die Kontexte von Staatsräson, Zensur und moralischer Öffentlichkeit zu rekonstruieren, die zur Differenzierung von heimlichen Aktionen und öffentlichem Auftreten zwangen. 40 So wird die Spannung verständlicher, die auf der verborgenen Rückseite der Accademia degli Incogniti geherrscht haben muss. Wenn Loredano in den Hinterzimmern der Druckerei von Francesco Valvasense in aller Stille die Gestaltung eines Frontispiz besprach oder Texte in Druckauftrag gab, die ohne Angabe von Ort und Verleger in Lettern gepresst wurden, dann war höchstes wechselseitiges Vertrauen geboten, wollte man nicht die Behörden auf sich aufmerksam machen. 41 Jede Kommunikation war riskante Kommunikation. Antonio Rocco, dessen libertine Ansichten und Praktiken ruchbar geworden waren, musste mehrmals durch seine Patrone aus den Fängen der Justiz befreit werden: Jus in armis. 42 Aber die Spannung, die Dialektik von Vertrauen und Misstrauen, hatte ihre produktive Wirkung. Die Gewinnung von Spielräumen geschieht hier durch die Entwicklung einer originellen Bildsprache der Insider-Anspielungen und der latenten Erotik. Ganz ähnlich funktionieren die literarischen Produkte des Kreises. Die Maskierung zur Karnevalszeit gab den Incogniti den Spielraum, mit neuen Bühnenformen zu experimentieren und durch ihre Patronage die erste Oper Europas zu schaffen. 43 Man sollte also von einem komplexen Habitus ausgehen, aus dem heraus die venezianischen Libertins agieren: einer hohen Sensibilität für die Unterschiede zwischen Schein und Sein, Oberfläche und Tiefe, Esoterik und Exoterik, Geistigkeit und
Auswertung der Polizeiakten durch Federico Barbierato, Il libro impossibile. La Clavicula Salomonis a Venezia (sec. XVII–XVIII), in: Annali della Fondazione Luigi Einaudi 32, 1998, 235–284. 40
Vgl. etwa Rosario Villari, Elogio della dissimulazione. La lotta politica nel Seicento. Rom 1987; Gino Ben-
zoni, Gli affani della cultura. Intelletuali e potere nell’ Italia della controriforma e barocca. Mailand 1978; A. Enzo Baldini (Ed.), Botero e la „ragion di Stato“. Florenz 1992; Cristina Stango (Ed.), Censura ecclesiastica e cultura politica in Italia tra Cinquecento e Seicento. Florenz 2001. 41
Vgl. Spini, Ricerca dei libertini (wie Anm.13), passim.
42
Vgl. ebd.167f.
43
Vgl. Edward Muir, Why Venice? Venetian Society and the Success of Early Opera, in: Journal of Inter-
disciplinary History 26, 2005, 331–353. Muir betont den paradoxen Zusammenhang von Räumen des Misstrauens und Räumen des Vertrauens: „Opera – despite its claims to ‚serious‘, as opposed to comic, theater – was from the beginning completely implicated in the Bacchanalian behaviour of Venetian carnival. The irony is that the public nature of the opera houses made true privacy possible, especially in contrast to princely courts in which the prince was the ultimate person, acknowledged by everyone. In public theaters, patrons could disguise their true identities or at least avoid full responsibility for what appeared on stage“ (332f.).
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Körperlichkeit – eben für Wissensteilungen – ganz wie sie in della Vecchias Allegorie der Wahrheit deutlich werden. Dieser Habitus ist, so meine ich, Resultat eines Umgangs mit unterschiedlichsten Rollen, Wahrheitsansprüchen und Argumentationsformen. Es ist ein Habitus von „stuntmen“ jenseits der real existierenden Expertenkulturen, immer den Weisen im Blick, der kein Sonderwissen, sondern reflexives Wissen, oder der kein normales Wissen, sondern höheres Wissen verkörpert. Es ist zugleich ein Habitus des pluralisierten Menschen 44, der sich in gespaltenen Wissenskulturen bewegen kann. Man hatte in Venedig eklektische und synkretistische Praktiken entwickelt, eine gewisse Laxheit und Liberalität, mit der sich auf unterschiedlichen Ebenen gleichzeitig leben ließ. Man musste aber die Rollen sorgsam trennen: Aristoteliker an der Universität, Platoniker privat; galant offiziell, obszön im kleinen Kreis; Moralphilosoph von Beruf, Propagator freier Liebe im Boudoir. Ich habe also, wie angekündigt, die Gegenprobe zur Konzeptionalisierung des Graduiertenkollegs über Expertenkulturen gemacht: Nicht institutionell gesichertes Wissen habe ich betrachtet, das von Experten verwaltet wird, die wiederum das Misstrauen der einfachen Leute erfahren, sondern ungesichertes Wissen, das gegen das Volk, aber auch gegen die sicheren Institutionen in Schutz zu nehmen war. Das Misstrauen der Kritik am Expertentum konnte im Habitus von dessen Trägern durchaus aufgenommen sein. Doch galt es für diese, feste Identitäten als Experten (z.B. für aristotelische Philosophie) nur als Mimikry anzunehmen und ansonsten heimlich ihrer Berührung der nackten Wahrheit nachzugehen. Um die Registrierung von „Veränderung in den Kommunikationsbedingungen“ ging es auch mir. Wenn das Graduiertenkolleg den Dialog zwischen Systemvertrauen und Kritik am Expertentum rekonstruieren will, so möchte ich die Verhältnisse von Vertrauen und Misstrauen vor allem in solchen Milieus betrachten, in denen das Wissen selbst prekär geworden ist. Die Bilder della Vecchias waren mir ein Führer durch diese Milieus.
44 Zum Konzept der Pluralisierung und zum „homme pluriel“ vgl. Martin Mulsow, Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Stuttgart 2007.
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Abb.1: Pietro della Vecchia: Mathematikstunde, Modena, Galleria Estense. Quelle: Aikema, Pietro della Vecchia (wie Anm.13), cat. 157a, Abb.114.
Abb.2: Pietro della Vecchia: Sokrates und zwei Schüler, Mailand, Kunsthandel. Quelle: Aikema, Pietro della Vecchia (wie Anm.13), cat. 132, Abb.113.
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Abb.3: Pietro della Vecchia: Ius in armis, Heidelberg, Kurpfälzisches Museum. Quelle: Aikema, Pietro della Vecchia (wie Anm.13), cat. 156, Abb.115.
Abb.4: Pietro della Vecchia: Allegorie, Accademia Carrara, Bergamo. Quelle: Aikema, Pietro della Vecchia (wie Anm.13), cat. 21, b.107.
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Abb.5: Pietro della Vecchia: Demokrit, Paris, Privatsammlung. Quelle: Aikema, Pietro della Vecchia (wie Anm.13), cat. 123, Abb.76.
Abb.6: Francesco Ruschi: Frontispiz zu Giovanni Francesco Loredano: Dianea. Venedig 1653.
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Die Experten, die Verkehrten? Gelehrtensatire als Expertenkritik in der Frühen Neuzeit von Marian Füssel
Innerhalb der europäischen Vormoderne wurden Gelehrte immer wieder zum Gegenstand eines breiten satirischen wie kritischen Diskurses. 1 Ob Professoren, Amateurforscher oder Schulmeister, kaum ein gelehrter Akteur entging den Zuschreibungen des Narren, Pedanten oder Prahlers. In den unterschiedlichsten Text- und Bildmedien wurden Träger, Praktiken und Institutionen des Wissens verspottet und belacht. 2 Mit der Kritik am Experten wird im Folgenden ein bestimmter Typus des Gelehrten in den Blick genommen, der erst in jüngerer Zeit zum Thema der interdisziplinären Mittelalter- und Frühneuzeitforschung avanciert ist. 3 Das hängt zum einen mit der Tatsache zusammen, dass der Figur des Experten erst in den vergangenen Jahrzehnten besondere öffentliche Aufmerksamkeit zuteil wurde, zum anderen damit, dass der Experte uns – zumindest im deutschsprachigen Raum – begrifflich frühestens zu Beginn des 19.Jahrhunderts begegnet und daher selten als heuristische Folie zur Analyse früherer Jahrhunderte bemüht wurde. 4
1 Als wichtigste Arbeiten der jüngeren deutschsprachigen Forschung können gelten Gunter E. Grimm, Letternkultur. Wissenschaftskritik und antigelehrtes Dichten in Deutschland von der Renaissance bis zum Sturm und Drang. Tübingen 1998; Alexander Košenina, Der gelehrte Narr. Gelehrtensatire seit der Aufklärung. Göttingen 2003; Ronald Dietrich, Der Gelehrte in der Literatur. Literarische Perspektiven zur Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems. Würzburg 2003. Zur frühneuzeitlichen Satirekonzeption allgemein vgl. Barbara Könneker, Satire im 16.Jahrhundert. Epoche – Werk – Wirkung. München 1991; Klaus Lazarowicz, Verkehrte Welt. Vorstudien zu einer Geschichte der deutschen Satire. Tübingen 1963; Jörg Schönert, Roman und Satire im 18.Jahrhundert. Ein Beitrag zur Poetik. Stuttgart 1969. 2 Vgl. Wolfgang Martens, Von Thomasius bis Lichtenberg. Zur Gelehrtensatire der Aufklärung, in: Lessing Yearbook 10, 1978, 7–34. Zur Institutionensatire vgl. Marian Füssel, Ein Käfig voller Narren? Die Universität in Karikatur und Satire, in: Rainer Christoph Schwinges (Hrsg.), Universität im öffentlichen Raum. (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 10.) Basel 2008, 197–225. Zu Bildmedien vgl. Michael Klant, Universität in der Karikatur. Böse Bilder aus der kuriosen Geschichte der Hochschulen. Hannover 1984. 3 Vgl. Frank Rexroth, Expertenweisheit. Die Kritik an den Studierten und die Utopie einer geheilten Gesellschaft im späten Mittelalter. (Freiburger Mediävistische Vorträge, Bd. 1.) Basel 2008. 4 Vgl. Roy MacLeod (Ed.), Government and Expertise. Specialists, Administrators, and Professionals 1860– 1919. Cambridge 1988; Beatrice Schumacher/Thomas Busset (Hrsg.), „Experten“ – „L’expert“. Aufstieg einer Fi-
oldenbourg DOI 10.1524/9783486717952.269
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Das Französische kennt die Beschreibung einer gelehrten Person als ‚expert‘ bereits bei Christine de Pizan, obwohl die Begriffsverwendung anderen Bezeichnungen des Gelehrten meist untergeordnet bleibt. 5 Tauchen in der spanischen Verwaltungssprache die ‚peritos‘ und im Englischen der ‚expert‘ als Qualifikation von Erfahrenheit in Buchtiteln spätestens seit dem 16.Jahrhundert auf, brauchte es allerdings noch einige Zeit bis zur Entwicklung eines Kollektivsingulars. 6 Französische Lexika des 17. und 18.Jahrhunderts kennen die ‚experts‘, dann bereits als besondere Gruppe, in einem der modernen Begriffsverwendung sehr nahe kommenden Sinn. 7 Im deutschen Sprachraum erscheint 1813 beispielsweise ein „Systematisches Handbuch des Kadasters“ von Karl Thum, das sich im Untertitel an „Märe, Adjunkten, Munizipalräthe, Experten [!], Geometer, und Besitzer von liegenden Gütern jeder Art“ richtet. 8 Hier soll es jedoch nicht um Begriffsgeschichte gehen, sondern um die Frage nach der zeitgenössischen Deutung und Infragestellung eines bestimmten sozialen Rollentypus des „Experten“, der sich, so die Arbeitshypothese des Göttinger Graduier-
gur der Wahrheit und des Wissens – L’ascension d’une figure de la vérité et du savoir. (Traverse. Zeitschrift für Geschichte, Themenheft 2.) Zürich 2001; Elke Kurz-Milcke/Gerd Gigerenzer (Eds.), Experts in Science and Society. New York u.a. 2004; Eric J. Engstrom/Volker Hess/Ulrike Thoms (Hrsg.), Figurationen des Experten. Ambivalenzen der wissenschaftlichen Expertise im ausgehenden 18. und frühen 19.Jahrhundert. Frankfurt am Main u.a. 2005; Christelle Rabier (Ed.), Fields of Expertise. A Comparative History of Expert Procedures in Paris and London. 1600 to Present. Newcastle 2007; Alexander Kästner/Sylvia Kesper-Biermann (Hrsg.), Experten und Expertenwissen in der Strafjustiz von der Frühen Neuzeit bis zur Moderne. Leipzig 2008; oder den Themenschwerpunkt „Expertenkulturen im Spannungsfeld von Wirtschaft und Politik“ in: Forschungsberichte aus dem Duitsland Instituut Amsterdam 5, 2009. 5 Vgl. Ulrich Ricken, „Gelehrter“ und „Wissenschaft“ im Französischen. Beiträge zu ihrer Bezeichnungsgeschichte vom 12.–17.Jahrhundert. Berlin 1961, 105–113, zu Pizan, 144. 6 So finden sich u.a. „expert and wyse maysters“, „expert sea-men“, „expert ferriers“, „expert gardeners“ oder „expert phisicians“, vgl. Eric H.Ash, Power, Knowledge and Expertise in Elizabethan England. Baltimore u.a. 2004, 10–17; Christelle Rabier, Introduction. Expertise in Historical Perspective, in: dies. (Ed.), Fields of Expertise (wie Anm. 4), 1–33, hier 1f.; zur Funktion von Experten in Spanien des 16.Jahrhunderts vgl. exemplarisch Arndt Brendecke, Imperium und Empirie. Funktionen des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft. Köln u.a. 2009. 7 Vgl. Pierre Richelet, Dictionnaire françois. Contenant les Mots et les Choses [...]. Genf 1680, 315. Man beachte die deutliche Erweiterung des Eintrags in der Ausgabe Lyon 1759, Vol.2, 148. 8 Karl Thum, Systematisches Handbuch des Kadasters. Zum Gebrauch der Märe, Adjunkten, Munizipalräthe, Experten, Geometer, und der Besitzer von liegenden Gütern jeder Art.Mainz 1813; zur Rückführung des Begriffs auf die Bezeichnung juristischer Sachverständiger bei Gericht vgl. Friedrich Landwehrmann, Art.„Experte“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2. Basel 1972, 875f.
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tenkollegs „Expertenkulturen des 12. bis 16.Jahrhunderts“, bereits in den europäischen Gesellschaften des späten Mittelalters herausbildete. Insofern kann nur bedingt an die wissenssoziologische Diskussion des Expertenbegriffs angeknüpft werden, die von spezifischen Bedingungen moderner Gesellschaften ausgeht. 9 Gleichwohl erweisen sich einige theoretische Überlegungen als hilfreich. Die hier angesprochene Expertenrolle definiert sich vor allem über ein bestimmtes Sonderwissen, eine symbolische Repräsentation bzw. Zertifizierung etwa durch Titel, Kleidung oder Sprache sowie die Tätigkeit des ‚doing expertise‘ in Form des Beratens, Gutachtens, Urteilens etc. 10 Das „Expertentum“ wird dabei als „soziale Relation“ verstanden, Experten werden erst durch Anerkennung und Rollenzuschreibung zu Experten. 11 Nicht alle Gelehrten werden im Folgenden als Experten angesprochen, wie auch wiederum nur ein Teil der potentiell in einer Expertenrolle agierenden Akteure insgesamt in den Blick gerät. Ein besonderer Fokus liegt auf den universitären „Prototypen des Experten“ (Rexroth), den Graduierten der vier Fakultäten: Theologen, Juristen, Medizinern und Philosophen. 12 In der Satire tritt uns die zeitgenössische Deutung der Gelehrten in besonders
9 In der soziologischen Diskussion existieren drei wesentliche Diskussionsstränge zum Expertenbegriff. Eine wissenssoziologische Unterscheidung von ‚Experte‘ und ‚Laie‘ nach Alfred Schütz, Der gut informierte Bürger (1945), in: ders., Gesammelte Aufsätze. Bd.2: Studien zur soziologischen Theorie. Den Haag 1972, 85–101; dazu Walter M. Sprondel, ‚Experte‘ und ‚Laie‘: Zur Entwicklung von Typenbegriffen in der Wissenssoziologie, in: ders./Richard Grathoff (Hrsg.), Alfred Schütz und die Idee des Alltags in den Sozialwissenschaften. Stuttgart 1979, 140–154, ferner die modernisierungskritische Problematisierung einer „Expertokratisierung“ der Gesellschaft z.B. bei Manfred Kuhn, Herrschaft der Experten? An den Grenzen der Demokratie. Würzburg 1961; Ivan Illich (Hrsg.), Entmündigung durch Experten. Zur Kritik der Dienstleistungsberufe. Reinbek bei Hamburg 1979, sowie schließlich die Methodendiskussionen im Zusammenhang mit dem sogenannten Experteninterview, vgl. Michael Meuser/Ulrike Nagel, ExpertInneninterviews – vielfach erprobt, wenig bedacht. Ein Beitrag zur qualitativen Methodendiskussion, in: Detlev Garz/Klaus Kraimer (Hrsg.), Qualitativ-empirische Sozialforschung. Konzepte, Methoden, Analysen. Opladen 1991, 441–471. 10 Zum Stellenwert von ‚Sonderwissen‘ vgl. Alexander Bogner/Wolfgang Menz, Das theoriegenerierende Experteninterview – Erkenntnisinteresse, Wissensformen, Interaktion, in: Alexander Bogner/Beate Littig/ Wolfgang Menz (Hrsg.), Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwendung. Wiesbaden 2005, 33–70, hier 46; zur Rolle von symbolischen Zertifikaten vgl. Ronald Hitzler, Wissen und Wesen des Experten. Ein Annäherungsversuch zur Einleitung, in: ders./Anne Honer/Christoph Maeder (Hrsg.), Expertenwissen. Die institutionelle Kompetenz zur Konstruktion von Wirklichkeit. Opladen 1994, 13–31, hier 14; die Bedeutung der Expertise als Handeln betont Rabier (Ed.), Fields of Expertise (wie Anm.4). 11 Vgl. Rainer Schützeichel, Laien, Experten, Professionen, in: ders. (Hrsg.), Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung. Konstanz 2007, 546–578, hier 549. 12 Vgl. Rexroth, Expertenweisheit (wie Anm.3), 25.
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‚verdichteter‘ Form entgegen und verspricht daher Aufschluss über die grundsätzliche Frage nach Inszenierung und Wahrnehmung vormoderner Expertenkulturen. 13 Allerdings arbeiten die Diskurse von Gelehrtenkritik und Satire weitgehend selbstreferentiell, d.h. Gelehrte kritisieren Gelehrte und Gelehrte lachen über Gelehrte. 14 Zwar sind verschiedene Zeugnisse ‚volkstümlicher‘ Gelehrtenkritik überliefert, doch dürfte der gelehrte Anteil bei weitem überwiegen. 15 Für die Frage nach der Gelehrtenkritik als Expertenkritik bleibt dies nicht ohne Folgen. Denn wir haben es in den wenigsten Fällen mit einer radikalen Expertenskepsis zu tun, sondern vielmehr mit dem Versuch, durch satirische Verdichtung Orientierung und vor allem Besserung zu bewirken. Viele Texte arbeiten geradezu an einer moralischen Ökonomie des Wissenschaftssystems, indem sie Regelverstöße öffentlich geißeln und ein mehr oder weniger explizites moralisches Regelwerk ‚richtiger‘ Gelehrsamkeit entwerfen. 16 Um den Grundzügen frühneuzeitlicher Kritik akademischer Expertenrollen nachzugehen, gehe ich im Folgenden in drei Schritten vor. Zunächst werden die Privilegierung der Gelehrten und die Pluralisierung ihrer Rollen beleuchtet (I.), um daran anschließend die Dynamiken der Inszenierungsformen von Experten exemplarisch am Beispiel der Titulatur zu verfolgen (II.) und abschließend nach der Verhandlung gelehrter Rollen im Spannungsfeld von Öffentlichkeit, Privatheit und Spezialisierung zu fragen (III.). 13
Einen Überblick über das umfangreiche Schrifttum geben Wilhelm Erman/Ewald Horn, Bibliographie
der deutschen Universitäten. Systematisch geordnetes Verzeichnis der bis Ende 1899 gedruckten Bücher und Aufsätze über das deutsche Universitätswesen. 3 Bde. Leipzig/Berlin 1904 (Ndr. Hildesheim u.a. 1965), Bd. 1, Nr.23 Poetische, satirische, humoristische Darstellungen des Universitätslebens, 750–826. 14
Klaus Ridder, Der Gelehrte als Narr: Das Lachen über die ‚artes‘ und Wissen im Mittelalter, in: Ursula
Schaefer (Hrsg.), Artes im Mittelalter. Berlin 1999, 391–409; Daniel Fulda, Die Gefahr des Verlachtwerdens und die Fähigkeit, über sich selbst zu lachen. Wissenschaft, Gesellschaft und Lächerlichkeit in der frühen und mittleren Aufklärung, in: ders./Antje Roeben/Norbert Wichard (Hrsg.), „Kann man auch nicht lachend sehr ernsthaft sein?“ Sprachen und Spiele des Lachens in der Literatur. Berlin/New York 2010, 175– 202. 15
Sabine Wienker-Piepho, „Je gelehrter, desto verkehrter“? Volkskundlich-Kulturgeschichtliches zur
Schriftbeherrschung. Münster u.a. 2000; Grimm, Letternkultur (wie Anm.1), 34–42; Elfriede Moser-Rath, „Lustige Gesellschaft“. Schwank und Witz des 17. und 18.Jahrhunderts in kultur- und sozialgeschichtlichem Kontext. Stuttgart u.a. 1984. 16
Marian Füssel, „The Charlatanry of the Learned“. On the Moral Economy of the Republic of Letters in
Eighteenth Century Germany, in: Cultural and Social History 3/3, 2006, 287–300; zum Begriff der „moralischen Ökonomie“ vgl. in diesem Zusammenhang Lorraine Daston, Die moralischen Ökonomien der Wissenschaft, in: dies., Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main 2001, 157–184.
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I. Privileg und Pluralisierung Innerhalb der Vertreter der klassischen vier Fakultäten waren es in erster Linie die Juristen und Mediziner, die in der Rolle von Experten handelten und daher auch einen Großteil der Kritik auf sich zogen. 17 So ist die im Spätmittelalter und in der Reformationszeit vielfach – u.a. prominent durch Martin Luther oder Sebastian Franck – überlieferte Formel „Die Gelehrten, die Verkehrten“ neben den Theologen in erster Linie an Juristen und Mediziner adressiert. 18 Diese agierten innerhalb der Universität als Verfasser von Gutachten und Ausbilder neuer Experten, den außerhalb der Universität praktizierenden Ärzten oder Rechtsexperten wie Anwälten oder Richtern. 19 Die Kritik an den Gelehrten als Experten kann daher am deutlichsten anhand der Kritik ihrer Praktiken beleuchtet werden, wie sie etwa in den anonymen „Privilegia und Freyheitten, Von einer Hochloblichen Blesianischen Regierung“ von 1607 zum Ausdruck kommt. 20 Diese Sammlung von 21 ironischen Privilegien richtet sich überwiegend an Juristen, lediglich Paragraph 18 wendet sich an die Mediziner. 21 Der Text operiert mit mehreren ironischen Brechungen, er persifliert selbst 17 Vgl. als kurzen Überblick über Forschungen zu juristischen Experten Rabier, Introduction (wie Anm.6), 8–12, sowie die Beiträge in Claire Dolan (Ed.), Entre Justice et Justiciables. Les Auxiliaires de la Justice du Moyen Âge au XXe siècle. Québec 2005, und Kästner/Kesper-Biermann (Hrsg.), Experten (wie Anm.4). 18 Vgl. Heiko A. Oberman, Die Gelehrten die Verkehrten. Popular Response to Learned Culture in the Renaissance and Reformation, in: Steven Ozment (Ed.), Religion and Culture in the Renaissance and Reformation. Ann Arbor 1989, 43–62; Carlos Gilly, Das Sprichwort „Die Gelehrten die Verkehrten“ oder der Verrat der Intellektuellen im Zeitalter der Glaubensspaltung, in: Antonio Rotondo (Ed.), Forme e Destinazione del Messagio religioso. Aspetti della Propaganda religiosa nel Cinquecento. Florenz 1991, 229–375; Thomas Hohenberger, Lutherische Rechtfertigungslehre in den reformatorischen Flugschriften der Jahre 1521–1522. Tübingen 1996, 252–257; Ridder, Narr (wie Anm.14), 407. 19 Zur Juristenausbildung an den Universitäten vgl. Karl Heinz Burmeister, Das Studium der Rechte im Zeitalter des Humanismus im deutschen Rechtsbereich. Wiesbaden 1974. Zur Geschichte der Gutachten vgl. das Standardwerk von Ulrich Falk, Consilia. Studien zur Praxis der Rechtsgutachten in der frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 2006. 20 [Anonym,] Privilegia und Freyheitten, Von einer Hochloblichen Blesianischen Regierung Den herrn Doctoribus, Advocaten, und andern Glerten vel quasi cuius suis facultatis, mit vorbehalt, solche zuemindern, zumehren oder gar abzuthuen ertheilt und gegeben. O. O. 1607. 21 Zur Tradition der Juristenschelte und Satire vgl. Michael Stolleis, Juristenbeschimpfung, oder: Juristen böse Christen, in: Theo Stammen/Heinrich Oberreuter/Paul Mikat (Hrsg.), Politik – Bildung – Religion. Hans Maier zum 65. Geburtstag. Paderborn 1996, 163–170; Louis Carlen, Recht zwischen Humor und Spott. Vortrag gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 21.April 1993. Berlin u.a. 1993, zu den verzögernden Advokaten hier 23; Art.„Jurist“, in: Thesaurus proverbium medii aevi. Lexikon der Sprichwörter
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die umständliche Sprache der Gelehrten mit zahlreichen lateinischen Einschüben und konstatiert eine um sich greifende Kritik an den Rechtsgelehrten, der nun mit der Privilegierung ihrer Unarten begegnet wird. Es wird ihnen gestattet, immer auf ihrer Meinung zu beharren (1), die Entscheidungen hinauszuzögern (2), die „Sendschreiben, Acten und Aczitata“ länger ungeöffnet liegen zu lassen (3), eingehende Nachrichten zu ignorieren (4), wenn ihre Inaugenscheinnahme gebraucht wird, auch diese zu verzögern (5). Es folgen weitere Praktiken der Verschleppung, misogyne Seitenhiebe auf die Frauen der Gelehrten (9, 15, 17), die mangelnde Registratur und Aufbewahrung der Akten (10, 11), die Überlänge der Gutachten, das unachtsame Herumtragen von Akten durch Schreiber und Mägde (13), das unbefugte Öffnen und Lesen von Akten (14), die übertriebene Bewirtung von Gästen (16), das Verbot für „Junge Herrn Doctores und angehende Advocaten“ von älteren und erfahrenen zu lernen (19), die Genehmigung, bei Unfähigkeit im eigenen Land graduiert zu werden, den Grad im Ausland zu erwerben (20) sowie schließlich die Erlaubnis ohne Punkte, Kommata oder Absätze zu schreiben (21). Die „Privilegia“ können in mehrfacher Hinsicht als charakteristisch für frühneuzeitliche Expertenkritik gelten. Sie stellen den Gelehrtenstand nicht grundsätzlich in Frage, sondern benennen konkrete Übel, mit der Absicht, diese zu beseitigen oder zumindest ein öffentliches Bewusstsein dafür zu schaffen. Sie argumentieren mithin hochgradig normativ, alle Privilegien können als Inversion der als richtig empfundenen Praxis verstanden werden. Die Kritik ist selbstreferentiell, sie stammt von einem gebildeten Verfasser und adressiert sich in der Art ihrer Ironie wohl in erster Linie an andere Gelehrte, weniger an Laien. Mit dem Bezug zur Privilegierung schließlich wird die obrigkeitliche Sanktionierung gelehrten-ständischen Eigensinns angeprangert und damit indirekt deren stärkere Kontrolle eingefordert. 22 Für die Frage nach den Möglichkeiten und Ausdrucksformen einer grundsätzlicheren Expertenkritik in hohem Maße aufschlussreich ist ein lange Zeit relativ wenig beachtetes Drama mit dem Titel „Tvrbo, sive moleste et frvstra per cuncta divi-
des romanisch-germanischen Mittelalters. Hrsg. vom Kuratorium Singer der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften. Bd. 6. Berlin 1998, 392–395; Rexroth, Expertenweisheit (wie Anm.3), 29ff. 22 Zur „Privilegierung“ als Element der akademischen Satire vgl. auch Marian Füssel, Der magische Tisch. Soziale Raumbezüge studentischen Lebens der Barockzeit im Spiegel einer Scherzdisputation, in: G. A. Bailey/Karin Friedrich/Patrice Veit (Hrsg.), Die Erschließung des Raumes. Konstruktion, Imagination und Darstellung von Räumen und Grenzen im Barockzeitalter (im Druck).
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gans ingenium“ aus dem Jahre 1616. Sein Verfasser ist Johann Valentin Andreae (1586–1654), eine der zweifellos schillerndsten Persönlichkeiten der Wissenschaftskultur des frühen 17.Jahrhunderts. Andreae, der in Tübingen zunächst die Artes, später Theologie sowie autodidaktisch Geschichte, Mathematik und Mechanik studiert hatte, ist den meisten wohl als Begründer der Rosenkreuzerlegende und Verfasser einer der bedeutendsten protestantischen Utopien, dem 1617 erschienen „Christianopolis“ bekannt. 23 Weniger präsent ist Andreae hingegen als Verfasser von Gelehrtensatiren, neben seinen anonym publizierten „Menippus“-Dialogen (1617) vor allem eben „Turbo, oder der irrende Ritter vom Geist“, wie das Stück in deutscher Übersetzung von 1907 heißt. 24 Andreaes Fünfakter, der erst in allerjüngster Zeit wieder das Interesse der Forschung geweckt hat, verhandelt das faustische Motiv anhand der vergeblichen Wissenssuche eines Studenten. 25 Für die hier verfolgte Fragestellung ist der Text dabei in zweierlei Hinsicht interessant: Zum einen führt er die beiden für die Frühe Neuzeit prägenden Extrempositionen des Gelehrtenhabitus – übertriebene Weltzugewandtheit und übertriebene Weltabgewandtheit – in charakteristischer Zuspitzung vor, zum anderen beantwortet er die als krisenhaft wahrgenommene Neugier (curiositas) und die Pluralisierung von Wissensbeständen mit einer christlich-utopischen Versöhnung von Glauben und Wissen. Folgen wir also Andreae, der hier in Gestalt des Turbo seine eigenen Erfahrungen beschreibt, auf seinen „höchst kläglichen und müßigen Kreuz- und Querfahrten“, während derer ihm ein ganzes Panorama an Gelehrtentypen und Wissensfeldern begegnet. Ziel seiner Peregrinatio ist die „Burg der Weisheit“, der Parnass. 26 Den Weg zu ihr beschreitet er gemeinsam mit seinem Diener Harlekin; zu den Stationen zählen u.a. ein das scholastische Wissenschaftsverständnis verkörpernder Schulmeister, ein Rhetoriklehrer, ein Mathematiker, ein vielgereister Weltmann und ein
23 Vgl. Richard van Dülmen, Die Utopie einer christlichen Gesellschaft. Johann Valentin Andreae (1586– 1654). T.1. Stuttgart-Bad Cannstatt 1978; Martin Brecht, Johann Valentin Andreae 1586–1654. Eine Biographie. Göttingen 2008. 24 Johann Valentin Andreae, Turbo oder der irrende Ritter vom Geist. Wie ihn mit allen seinen höchst kläglichen und müßigen Kreuz- und Querfahrten Johann Valentin Andreae hat für die Schaubühne beschworen. Aus dem Lateinischen übersetzt von Wilhelm Süß. Tübingen 1907 [Auflagen 1616, 1621, 1640]. 25 Vgl. Jan Lazardzig, Theatermaschine und Festungsbau. Paradoxien der Wissensproduktion im 17.Jahrhundert. Berlin 2007, 153–160; Roland Edighoffer, „Menippus redivivus“: Johann Valentin Andreae als Satiriker, in: Simpliciana 22, 2000, 189–200; Dietrich, Der Gelehrte (wie Anm.1), 53f.; Grimm, Letternkultur (wie Anm.1), 90–96; van Dülmen, Utopie (wie Anm.23), 97–112. 26 Andreae, Turbo (wie Anm.24), 27.
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Sprachlehrer. Zu Beginn erfolgt der Bruch mit der Scholastik. Sein Lehrer schilt Turbo, verrückt geworden zu sein, und dieser antwortet ihm: „Euren Eifer und die Wissenschaft in allen Ehren, Herr Magister. Aber was gewinne ich bei alledem? Nach zehnjährigem Studium ist mir das große Universum ein Buch mit 7 Siegeln. Mit Vokabeln und Sentenzen bin ich bis zum Platzen vollgepfropft. Tue ich den Mund nur auf, so kommt ein ganzes Ragout von Syllogismen und Distinktionen heraus, und niemand kann mit diesem Gallimathias etwas anfangen, als eine Handvoll von Gelehrten.“ 27 Turbo wendet sich darauf von der Logik zur Rhetorik und bekennt alsbald: „Ich war ein rechter Pechvogel. Ließ mir einreden, jener Wortschwall und jener philosophische Dunst führe mich zum Reiche des Glücks. Ich brauchte nur unter Menschen zu kommen: Lächerlich machte ich mich mit meinen Syllogismen, und fing ich gar mit meinen Fangschlüssen an und ließ meine Distinktionen los, so wurde ich überall unbequem. Und, was mir besonders auffiel, die dummen Leute verstanden rein gar nichts von meinem Scharfsinn und meinen geheimnisvollen Phantasmagorien. Ja es war, als sprächen wir zwei ganz verschiedene Sprachen.“ 28 Hier tritt demnach ein Motiv auf, das für Gelehrtenkritik wie Expertenkritik grundlegend ist: Die Fachsprache markiert eine unüberwindbare Distanz zwischen Laien und Gebildeten. 29 Auch die Rhetorik weist demnach keinen Weg zur Burg der Weisheit und man erklärt Turbo: „Du bekommst hier ebenso wenig Gewalt über deine Zunge wie früher Klarheit in deinen Kopf.“ 30 Stattdessen soll er sich der Mathematik widmen. Auch über diese spottet Turbo jedoch alsbald: „Aber vieles von euerem Tun und Treiben kommt mir doch gar zu abgeschmackt und gewöhnlich vor. Kalender, Uhr, Einmaleins, Feldmesserei, das alles treibt ja auch der gemeine Mann. Und über anderes wieder muss ich furchtbar lachen, wie über euere Kreise, euere unendlichen Linien, verworrenen Spiralen
27
Ebd.32.
28
Ebd.37.
29
Vgl. Grimm, Letternkultur (wie Anm.1), 180f. Neben einer generellen Unverständlichkeit richtet sich
die Gelehrtenkritik vor allem gegen die distinktiven Wirkungen der lateinischen Sprache, vgl. ebd.172; vgl. auch die Überlegungen von Jürgen Trabant, Das Andere der Fachsprache. Die Emanzipation der Sprache von der Fachsprache im neuzeitlichen europäischen Sprachdenken, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 51/52, 1983, 27–47, sowie speziell zu den Juristen Franz-Josef Arlinghaus, Sprachformeln und Fachsprache. Zur kommunikativen Funktion verschiedener Sprachmodi im vormodernen Gerichtswesen, in: Reiner Schulze (Hrsg.), Symbolische Kommunikation vor Gericht in der Frühen Neuzeit. (Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, Bd. 51.) Berlin 2006, 57–72. 30
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Andreae, Turbo (wie Anm.24), 40.
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oder wenn ihr kleine Körperchen von allen möglichen Gestalten zusammensetzt, mit Klötzchen und Winden operiert. Und wie komisch nimmt sich das aus, wenn ihr euch über ein neuentdecktes Hölzchen oder Gläschen vor Freude ganz rasend gebärdet.“ 31 Der Grad der Verwirrung des Leidgeprüften steigt stetig an: „Wo bin ich Ach ich weiß ja gar nicht mehr, was ich tue, was ich rede, was ich denke. [...] Weh mir! Weh mir! Warum muß ich diese Wissensqual durchkosten?“ Denn angesichts des Mathematikers, der ihm „so die Vorteile seiner Wissenschaft aufweist, wie sie im Kriege, in der Architektur, in der Technik, bei Reisen in ferne Länder, kurz bei unzähligen Gelegenheiten brauchbar und nützlich ist“, weiß Turbo nicht mehr, was er ihm entgegnen soll. 32 Scheint die Nützlichkeit des Expertenwissens auf einmal nachvollziehbar, so wird auch diese Hoffnung schnell wieder von einigen Skeptikern zerstört: „Buchstaben, Zahlen, Kreise, Brillengläser, das ist Euere Welt. Den Himmel wollt ihr Euch anmaßen zu durchforschen und wisst auf der Erde nicht Bescheid.“ 33 Das Leben der Menschen und die „Zeugnisse der Geschichte“ gelte es vielmehr zu erforschen, denn nur so bilde sich „Erfahrung heraus und ein erhabener Standpunkt der Beurteilung, der zusieht, wie die Welt ihren Lauf geht, wie Könige kommen und gehen, Religionen sich bilden, Reiche entstehen und vergehen.“ 34 Turbo erkennt nun: „Alle diese Dinge mögen für ein Einsiedlerleben taugen, zum Wirken in der Oeffentlichkeit braucht man Menschenkenntnis und scharfes Urteil, und wenn ich das nicht bei meinen Lehrern lernen kann, so soll sie der Teufel holen.“ 35 Mit Horatius taucht gleich darauf die Verkörperung des adeligen Weltmanns auf. Adeliger und Student geraten ausgehend vom Konflikt der Diener rasch aneinander, und Horatius herrscht Turbo an: „Was, du Skelett von einem Mensch? So was reist übers Papier, segelt in der Tinte, ficht mit der Feder und fröhnt Worten.“ 36 Turbo entgegnet, jeder schimpfe stets auf das, von dem er nichts verstünde, doch daraus macht Horatius gar kein Geheimnis, im Gegenteil: „Wissenschaft habe ich für meinen Lebensberuf verflucht wenig nötig gehabt. Das Zeug macht euch nur unmännlich, aufgeblasen und pedantisch. Meine Schule ist die Welt, meine Lehrer sind die einzelnen 31 Ebd.41f. 32 Ebd. 44. 33 Ebd.46. 34 Ebd.46f. 35 Ebd.49. 36 Ebd.50.
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Länder, in den Taten der Menschen lese ich wie in Büchern, und die Charaktere der Einzelnen sind die Buchstaben dazu. Der Hof ist mein Schulzimmer, ich selbst halte Examen ab und zensiere, wie’s mir passt.“ 37 In geradezu idealtypischer Manier beschwört Horatius die Unterschiede zwischen dem unnützen Wissen der gelehrten Bücherwürmer und einer höfisch-weltmännischen Anthropologie der Praxis. 38 Im zweiten Akt zieht Turbo nach Paris, lernt Fechten und nimmt Sprachunterricht. Nach einer erfolglosen Liebesbeziehung mit Labella kehrt er wieder nach Deutschland zurück und sucht sein Glück im Studium von Alchemie und Magie. Auch diese Künste verschlingen nur Turbos Geld, bringen ihn aber der wahren Erkenntnis kein Stück näher. Die Experten können Turbo nicht helfen, ihr Wissen bliebt defizitär, weil ohne normative Orientierung. Erst die Gotteserkenntnis bringt die Erlösung des Wissenssuchenden. 39 Der Text reflektiert die unterschiedlichen Geltungsansprüche, die mit der Verfügung über Sonderwissen von der Rhetorik bis zur Mathematik verbunden sind und zeigt gleichzeitig den Mangel an Orientierung auf, der von den einzelnen Wissensbeständen ausgeht. Gerade die Pluralisierung von Wissensbeständen ist es, von der die Verwirrung des jungen Turbo ausgeht. Die das Wissen verwaltenden Experten sind ihm keine Hilfe bei der Suche nach Weisheit. Die vergleichsweise ebenso plötzlich wie simpel erscheinende ‚Auflösung‘ des Stücks gemahnt schließlich sowohl an die seit dem Mittelalter bestehende Tradition der Einfachheitsutopien als Reaktionen auf Expertendifferenzierung als auch den Widerstreit von Autorität und Pluralisierung. 40 Der Komplexität der neuen Expertenkultur wird mit einer komplexitätsreduzierenden Rückkehr ins Religiöse begegnet, die gleichzeitig als Anker der Autorität angesichts fortwährender wissenskultureller Pluralisierungsschübe fungiert. 41 37 Ebd.51. 38 Die harte Verurteilung des Gelehrtenstandes bringt Turbo zu der Frage: „Und Ihr laßt gar keine Unterschiede unter den einzelnen Gelehrten gelten? Horatius: Kaum Harlekin: So bilden wir alle eine große Zunft. Turbo: Ihr nehmt auch nicht etwa die Politiker aus? Horatius: Ach, die bauen nur Kartenhäuser. Turbo: Auch nicht die Historiker? Horatius: Wenn einer sich räuspert oder spuckt, kritzeln sie’s ängstlich auf.“ Ebd.53. 39 „Gott, allmächtiger Schöpfer, Christus mein Heiland, und du alles erleuchtender heiliger Geist! Wie könnte ich euch danken? Was mir bisher unergründlich und unauffindbar schien, das sehe ich in mein eigenes Herz gesät, wo es nach Euerem Wunsch soll sich entfalten, wachsen und Frucht bringen. Nehmt denn hin mein Herz, in Demut bringe ich’s euch zum Opfer, und laßt mich finden von nun an bis in Ewigkeit in euch allein Weisheit, Macht, Friede und Ruhe.“ Ebd.182. 40 Rexroth, Expertenweisheit (wie Anm.3), 31–37. 41 Zur Dynamik von Autorität und Pluralisierung in der Frühen Neuzeit vgl. die Überlegungen im
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II. Inszenierungen: Der Schein der Autorität Gelehrte Experten bedienten sich eines breiten Repertoires symbolischer Formen zur Generierung von Autorität, das von eigener Fachsprache bis hin zu zeremonieller Rangordnung, Kleidung und Titulatur reichte. 42 Gerade die bestimmte Qualifikationen ausweisende Titulatur bildete eines der zentralen Medien ihrer Geltung. Es kann daher wenig verwundern, dass angesichts einer gesamtgesellschaftlichen Titelinflation vor allem im 17.Jahrhundert auch die gelehrte Titulatur zum beliebten Gegenstand der Satire wurde. 43 Neben Karl Heinrich Heegius’ mehrfach aufgelegter Schrift „De Titulomania eruditorium“ ist hier vor allem eine anonyme, in Dialogform verfasste Schrift aufschlussreich, die den Titel trägt „Der Grosse und eingebildete Titul-Mann, oder Ein sehr lustiges und gelehrtes Gespräche von Tituln, Wie dieselben zumal heutiges Tages so hoch steigen, dass niemand mit denselben erfüllet werden kann“ und 1690 in Dresden erschien. 44 Nach dem Ursprung der Titel werden im ersten von zwei Gesprächen die Titulaturen der Fürsten, der Geistlichkeit und der Räte in den Städten diskutiert. 45 Im zweiten Gespräch werden zunächst die Titulaturen in unterschiedlichen Ländern behandelt, dann einzelne Begriffe wie Exzellenz, edel, gelehrt, gestreng oder ehrenfest, sodann unterschiedliche Professionen
gleichnamigen Münchener SFB 573; vgl. Wulf Oesterreicher/Gerhard Regn/Winfried Schulze (Hrsg.), Autorität der Form – Autorisierung – Institutionelle Autorität. Münster 2003; Jan-Dirk Müller/Wulf Oesterreicher/ Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Pluralisierungen. Konzepte zur Erfassung der Frühen Neuzeit. Berlin/New York 2010. 42 Zur autoritätsgenerierenden Wirkung gelehrter Kleidung vgl. Marian Füssel, Talar und Doktorhut. Die akademische Kleiderordnung als Medium sozialer Distinktion, in: Barbara Krug-Richter/Ruth Mohrmann (Hrsg.), Frühneuzeitliche Universitätskulturen. Kulturhistorische Perspektiven auf die Hochschulen in Europa. Köln u.a. 2009, 245–271; zur mittelalterlichen Tradition vgl. umfassend Andrea von HülsenEsch, Gelehrte im Bild. Repräsentationen, Darstellung und Wahrnehmung einer sozialen Gruppe im Mittelalter. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 201.) Göttingen 2006. 43 Zur Kritik an Rang und Titelwesen der Gelehrten vgl. Marian Füssel, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit. Darmstadt 2006, 366–378. 44 Carolus Henricus Heegius, De titulomania eruditorum vulgo die Titelsucht der Gelehrten. Leipzig 1723; Johann Caspar Jung-Michel [mutmaßlicher Verfasser], Der Grosse und eingebildete Titul-Mann, oder Ein sehr lustiges und gelehrtes Gespräche von Tituln [...]. Leipzig/Dresden 1690; Johann Adam Bernhard, Kurzgefaste Curieuse Historie derer Gelehrten, Darinnen von der Geburth/Erziehung/Sitten/Fatis, Schrifften u. gelehrter Leute gehandelt [...] wird [...]. Frankfurt am Main 1718, 225–229. 45 Jung-Michel, Titul-Mann (wie Anm.44), 1–58.
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wie Juristen, Mediziner oder Poeten bis hin zu Schimpfwörtern wie Bärenhäutern und Schelmen, um schließlich bei den weiblichen Titulaturen zu enden. 46 Die Grundintention des „Titul-Mannes“ ist konservativ. Die immer komplexeren Titulaturen würden sich von Menschen angemaßt, die weder ihres Standes noch ihrer inneren Tugend nach dazu berechtigt seien. Beschrieben wird eine klassische Distinktionsspirale qua Nachahmung und Überbietung. So wolle ein Graf nicht mehr allein wohlgeboren, sondern hochwohlgeboren, ein Edelmann nicht bloß „Edel“ sondern „Wohl-Edel“ genannt werden und die „Hochgelehrten nicht nur ehrenvest / sondern auch Edel titulirt werden / niemand ist mehr mit seinem Stande zufrieden. So gar Handwerks-Leute mögen nicht mehr Meister / sondern Herrn heißen“. 47 Der „Titul-Mann“ ist gleichzeitig ein Reflex der Ausdifferenzierung sozialer Rollen, wie man an der Gruppe der „Doctoribus Juris“ sehen kann, zu denen sich die Advocaten, Notarii und Richter gesellen. Klassische Topoi der Juristenschelte folgen auf dem Fuße: „Nebenden großen Land-Plagen wäre das die besondere / nemlich die Plage mit bösen Advocaten behafftet seyn / so die Processe muthwillig / zwar zu ihren Besten / aber zu der Clienten Untergange / verzögerten.“ 48 Für die Formierung einer frühneuzeitlichen Expertenkultur zentral ist jedoch vor allem der Zusammenhang von Titulatur und epistemischer Autorität. Am Beispiel der Mediziner wird explizit auf die geltungsgenerierende Macht der Titel abgehoben: „Also / wen einer ohne Titul nichts oder wenig hat gegolten / so bald er einen Titul sich geben läßt / gleich wird er höher geachtet und mehr geehret: und das ist der Welt Lauff / wie man siehet an denen Medicis, ich bin versichert / wenn einer Medicinam studiret hätte / und glücklich practicirte / wäre er aber nicht Doctor, so gilt er nichts / den man fraget alsbald / ist er auch Doctor? Wiewohl die Bauren auch denjenigen einen Doctor heissen / der nur eine Purganz eingiebt“. 49 Gerade Letzteres ist für die Zuschreibung eines Expertenstatus ‚von unten‘ aufschlussreich, sind es somit nicht nur die Docto46
Ebd.59–179.
47
Ebd.64.
48
Ebd.102; ähnliche Kritik bei Johann Burkhard Mencke, Zwey Reden von der Charlatanerie oder Markt-
schreyerey der Gelehrten, nebst verschiedener Autoren Anmerckungen. Mit Genehmhaltung des Hn. Verfassers nach der letzten vollständigsten Auflage übersetzt [...] aufs neue vermehrt. Leipzig 1727, 274f. Die Prozessverzögerung ist allgemein ein viel beklagtes Thema der Frühen Neuzeit, vgl. dazu auch verschiedene Narrenspiegel wie Abraham a Sancta Clara, Centi-Folium in Quarto oder Hundert Ausbündige Narren [...]. Wien 1709 (Ndr. Dortmund 1987), 329–333; Wahrmund Jocoserius (Hrsg), Wohl-geschliffener NarrenSpiegel: 115 Merianische Kupfer. Freystadt 1730 (Ndr. Leipzig 1986), unpag. Nr.71. 49
280
Jung-Michel, Titul-Mann (wie Anm.44), 160.
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res selber, die eine gelehrte Autorität reklamieren, sondern auch die Patienten, die dem medizinisch Tätigen seine Expertenrolle beimessen. Ausführlich behandelt auch Johann Burkard Mencke in seinem „Zwey Reden von der Charlatanerie oder Marktschreyerey der Gelehrten“ die gelehrte Titulomanie. 50 Das Wortfeld der Experten berührt Mencke, wenn er Männer erwähnt, die sich „Hocherfahren und Hochgelehrt“ nennen würden und sich dabei „kaum selbst zu helffen“ wüssten. 51 Menckes ungemein einflussreiche Reden sind dem „TitulMann“ vergleichbar strukturiert: Die erste widmet sich Praktiken gelehrten Fehlverhaltens, die zweite handelt die Gelehrten entlang der klassischen Reihenfolge der Fakultäten ab, zunächst die „Grammaticis“ und „Criticis“, dann die „Geschicht-Schreiber“, Poeten, Mathematiker, Naturforscher, Ärzte, Juristen und schließlich Theologen. Auf die komplexen intertextuellen Bezüge von Menckes „Charlatanerie“ kann hier nicht weiter eingegangen werden, hervorzuheben ist an dieser Stelle vor allem der Reflex eines gesteigerten Öffentlichkeitscharakters gelehrter Statuskonstitution, die zunehmend durch marktförmige Formen der Vergesellschaftung, etwa im Rahmen des Büchermarktes, bestimmt wurde. 52 Eine harsche Kritik am Gepränge akademischer Titel übt ferner der preußische Hofhistoriker und Gundling-Konkurrent David Fassmann (1683–1744) in seinem Werk „Der Gelehrte Narr“ von 1729. 53 „Wie viele von Stolz und Hochmuth gantz aufgeblasene, mit ihren Academischen Titeln, eben wie ein Pfau mit seinem prächtigen Schwantze, stoltzierende Gelehrte“ fände man nicht, „welche sich nicht scheuen in öffentlichen Compagnien herauszuplatzen und zu sagen: Ich bin Doctor, ich bin Licentiat, ich bin Magister; Ergo, dass muß ich besser wissen, wann sie gleich
50 Johann Burkhard Mencke, De charlataneria eruditorum declamationes duae. Leipzig 1715, dt.: Zwey Reden (wie Anm.48), 21–44; zum Kontext mit weiterer Literatur vgl. Füssel, Charlatanry (wie Anm.16). 51 Mencke, Zwey Reden (wie Anm.48), 30. 52 Der Medienwandel stellte eine besondere Herausforderung für die moralische Ökonomie der Gelehrten dar, vgl. Marian Füssel, „On the Means of Becoming famous in the learned World“. Practices of Scholarly Status Constitution and the Emergence of Moral Economy of Knowledge in the 18th Century, in: André Hohenstein u.a. (Eds.), Scholars in Action. The Practice of Knowledge and the Figure of the Savant in the 18th Century (im Druck). 53 David Fassmann, Der Gelehrte Narr oder Gantz natürliche Abbildung solcher Gelehrten, die da vermeynen alle Gelehrsamkeit und Wissenschaften verschlucket zu haben [...]. Freyburg 1729. Zu dessen Titelkupfer Košenina, Der gelehrte Narr (wie Anm.1), 31ff. Zur Person Fassmanns vgl. Gerhardt Petrat, Die letzten Narren und Zwerge bei Hofe. Reflexionen zu Herrschaft und Moral in der Frühen Neuzeit. Bochum 1998, 145–148.
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höchst unrecht haben [...]. Der Name und der Titel, den sie führen und die nach ihrer Meynung, damit verknüpfte Autoritaet, wollen allenthalben den Meister spielen, dergestalt, dass dergleichen gelehrte Narren gedencken, ein jeder müsse das Maul halten, und nur sie reden lassen“. 54 Der zu weiten Teilen eine Kompilation anderer bekannter Gelehrtensatiren (u.a. Menckes „Charlatanerie“) darstellende Text enthält auch verschiedene Passagen, die Praktiken der Beratung durch gelehrte Experten kritisieren. 55 Während die einen gegenüber den mit ihnen einen „Discurs“ führenden Potentaten lieber Autoritäten bemühen, anstatt selber nachzudenken, wird an anderer Stelle die Annahme des durch symbolische Autorität gestützten Expertenrats als Hindernis der eigenen Urteilsfähigkeit des Ratholenden kritisiert: „Denn die Menschen sind nach ihrem verderbten Appetit, gemeiniglich so geartet, daß sie jederzeit dasjenige zu billigen pflegen, was von dem meisten Hauffen, zumal wann der Raisonneur praesumtive Dignitatem und Merita vor sich hat, daß ist, wann er entweder ein Doctor Excellentissimus, Magister praestantissmus, und Pastor vigilantissimus heisset, gebilliget worden ist, weil sich solche elende Leute insgemein einbilden, wann sie grosser und vornehmer Gelehrten Judicia annähmen und billigten, sie alsdann, als junge Raths-Herren in sententionando & dicendo nicht irren könten. Allein wie miserable solche Consiliarii und vermeynte Oracula denen jungen Leuten rathen, solches zeiget der Ausgang leider! öffters mehr als zu klar, weil sie, wann dieselben die Hand an etwas schlagen und sich als Männer zeigen sollen, nichts als lauter leere Idéen im Kopffe haben, die sich weder hinten noch vorne zu der vor Augen liegenden Sache reimen wollen.“ 56 Der „verderbte Appetit“ der Menschen verweist dabei auf die konstitutive Rolle des Publikums, das sich durch Würden und Meriten beeindrucken lässt. Als eine Art Zusammenschau der Experten-Kritik zur Zeit der deutschen Frühaufklärung kann Georg Paul Hönns berufsständisch organisiertes und alphabetisch
54
Fassmann, Gelehrte Narr (wie Anm.53), 2.
55
Der Text gliedert sich in fünf Abhandlungen. Im Grunde ist die gesamte erste Abhandlung (1–90) aus
den „Facetiae Pennalium“ von Julius Wilhelm Zincgref kompiliert und abgeschrieben, während die fünfte aus einer Übertragung von Menckes „Zwey Reden von der Charlatanerie“ besteht (191–222). Die dritte Abhandlung (90–151) ist zusammengestellt aus Trajano Boccalinis (1556–1613) berühmter und in verschiedene Sprachen übersetzter Satire „Relation aus Parnasso“, vgl. Trajano Boccalini, De ragguagli di Parnaso. Venedig 1612/13. 56
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Ebd.4 u. 174.
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geordnetes „Betrugs-Lexicon“ von 1720 gelesen werden. 57 Vom „Abgesandten“ bis zum „Zuckerbecker“ werden Verfehlungen kritisiert, die sich durch ein Nebeneinander von ökonomischer Gewinnsucht und fachlicher Unfähigkeit bis hin zu symbolischen Praktiken der Statuskonstitution auszeichnen. Zu den im weiteren Sinne akademisch gebildeten Expertenrollen zählen hier unter anderem die Advocaten, Ärzte, Beamten, Bücher-Schreiber, Cammer-Räthe, Cantzlisten, Disputanten, Geheimen Räthe, Geistlichen, Gelehrten, Hof- und Regierungsräthe, Notarii, Professoren, Referenten, Secretarii und Sprachmeister. Über die Ärzte heißt es beispielsweise, dass sie betrügen, „wenn sie sich in Kleidungen kostbar und ungemein propre aufführen, um dadurch ein grösseres Ansehen bey ihre Patienten zu gewinnen“ oder „wenn sie allzu großes Werck und Rühmens von der Uroscopia oder Verschauung des Harns machen / und allerhand List anwenden, die Umstände zu erforschen und nachgehends denen Patienten oder deren Abgeordneten seltsame Dinge weiß machen wollen, um sich dadurch von dem gemeinen und superstitieusen Volck einen Anlauf zu verschaffen“. 58 Auch hier ist es wieder der Zusammenhang zwischen der Inszenierung von Wissensträgern und dem Laien, der einen falschen Expertenstatus bestätigt. Zu den Betrügereien der Gelehrten zählt unter anderem ein Mißbrauch der eigenen Autorität. Gelehrte betrögen, wenn „sie, da sie in der Welt einige Auctorität erlanget haben, vermittelst solcher ihre ungegründete Meynungen andern wie Evangelische Wahrheiten aufdringen, und beybringen.“ 59 Neben unstandesgemäßem Putz distinguierten sich die Gelehrten auch, „wenn sie eine unleserliche Schreibt-Art affectiren, nur damit man sie, nach dem einmal gefassten Praejudicio: Die Gelehrten schreiben übel / auch vor Gelehrte halten möge“. 60 Auch Hönn zielt nicht auf eine Kritik am gelehrten Experten als solchem, sondern auf eine ordentliche Ausübung seiner Profession und genauere obrigkeitliche Kontrollen zur Abstellung von Mißbräuchen. Entsprechend gestalten sich auch die Vorschläge zur Abstellung des Betrugs. Bei den Advokaten heißt es: „Darwieder dient die Abschaffung der Advocaten-Sportuln und Anrichtung einer Advocaten-Cassa zu deren Salarirung / auch die alleinige Admitti-
57 Georg Paul Hönn, Betrugs-Lexicon, worinnen die meisten Betrügereyen in allen Ständen nebst denen darwider guten Theils dienenden Mitteln entdecket. 3.Aufl. Coburg 1724 (Ndr. Leipzig 1981). 58 Ebd.10. 59 Ebd.173. 60 Ebd.
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rung weniger Gewissenhaffter und geschickter Advocaten / nebst Einführung einer besondern Advocaten-Ordnung“. Bei den Ärzten wird unter anderem auf die Qualitätskontrolle qua Graduierung abgehoben: „Kein ungraduirter Medicus oder ein dergleichen gebrauchter Substitutus, Krancke besuchen und zu curiren / admittiret werde / er seye dann vorhero von einem Collegio Medico examiniret und tüchtig befunden worden.“ 61 Gerade Letzteres führt bei den Professoren zum traditionellen Vorwurf der korrupten Graduierungspraxis, denn diese betrögen „wenn sie denen Doctorandis oder Magistrandis beym Examine rigoroso durch die Finger sehen, und damit sie nur desto mehrere Candidatos haben mögen, Indignis und Ignoranten, die vorzeiten so hoch geachtete Academische Gradus ums Geld conferiren“. 62 Als Gegenmittel werden strengere Visitationen vorgeschlagen. Die Kritik an der Graduierungspraxis ist das beherrschende Phänomen, mit dem die Universität als Institution ins Blickfeld der Kritik und Satire tritt. 63 Die Graduierung kann als der zentrale Lebensnerv der Hochschulen betrachtet werden. Hier versagen gewissermaßen die akademischen Experten bei der Ausbildung künftiger Experten, die dann an den Höfen und in den Städten schlechte Dienste verrichten.
III. Rollenkonflikte Eines der zentralen, wenn nicht gar das zentrale Motiv der frühneuzeitlichen Gelehrtensatire und Gelehrtenkritik ist die Frage von Nähe und Distanz zur Welt. Idealtypisch verkörpert findet sich dieser Widerstreit in den Typen des weltabgewandten Pedanten und des weltzugewandten galanten Gelehrten. 64 Die Literatur des 17.
61
Ebd.11.
62
Ebd.294. Zu dieser Problematik vgl. Ulrich Rasche, Die deutschen Universitäten und die ständische Ge-
sellschaft. Über institutionengeschichtliche und sozioökonomische Dimensionen von Zeugnissen, Dissertationen und Promotionen in der Frühen Neuzeit, in: Rainer A. Müller (Hrsg.), Bilder – Daten – Promotionen. Studien zum Promotionswesen an deutschen Universitäten der frühen Neuzeit. (Pallas Athene, Bd. 24.) Stuttgart 2007, 150–273, hier 248–255. 63
Vgl. Füssel, Käfig (wie Anm.2), 209–212.
64
Vgl. Art.„Pädanterey, Paedantismus“, in: Johann Heinrich Zedler, Universal-Lexicon [...]. Bd. 26. Halle/
Leipzig 1740, 189–192; Art.„Pedant, Pedanterie, Pedantisch“, in: Jacob u. Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch. Bd. 7. Leipzig 1889, 1522f.; Hans-Ulrich Lessing, Art.„Pedant, Pedanterie“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 7. Darmstadt 1989, 229–234; zu Italien Arturo Graf, I pedanti, in: Attraverso il Cinquecento. Turin 1888, 171–213; Florian Neumann, „Pedanten“. Grundzüge der Pedantensatire im Cinque-
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und 18.Jahrhunderts ist voll von pedantischen Gelehrten: Sempronius in Christian Weises „Horribilicribifax“ (1663), Scribilis in Christian Weises „Bäurischen Machiavellus“ (1681), Erasmus Montanus im gleichnamigen Werk von Ludvig Holberg (1722, dt. 1752), Hinkmar von Repkow in Gottlieb Wilhelm Rabeners „Hinkmars von Repkow Noten ohne Text“ (1745), Herr Witzling in Luise Gottscheds „Der Witzling“ (1745), Magister Boockesbeutelius in Adam Gottlieb Uhlichs „Schlendrian“ (1746), „Magister Duns“ (1749) in einem gleichnamigen Gedicht von Johann Peter Uz, Matthias Theophilus Spitzbart im gleichnamigen „Spitzbart“ (1779) von Johann Gottlieb Schummel, Florian Fälbel in „Des Rektors Florian Fälbel’s und seiner Primaner Reise nach dem Fichtelberg“ (1791) von Jean Paul oder Sempronius Gundibert in „Leben und Meinungen Sempronius Gundibert’s eines deutschen Philosophen“ (1798) von Friedrich Nicolai, um nur einige der bekannteren zu nennen. 65 Im Rahmen der hier verfolgten Fragestellung ist danach zu fragen, inwieweit sich entsprechende Rollenzuschreibungen auch als Beispiele der Expertenkritik lesen lassen. Eine ironische Darstellung des Verhältnisses des Pedanten zum Expertenwissen enthält bereits Francesco Belos „Il Pedante“ (1529/38), in dem der Pedant Prudenzio sich selbst wiederum nur am Urteil der Experten orientiert („al giudizio dei periti“) und keine eigenen Erfahrungen und Gefühle gelten lässt, was insbesondere bei der Partnerwahl karikiert wird. 66 Eine schöne Pointe zieht auch Ulrich von Hutten – und ihm folgend Zincgref (1618) und Fassmann (1729) – aus dem Mangel der Gelehrten an Expertise in Sachen ihres persönlichen Habitus. So sei zu konstatieren, „daß die jenigen welche sich lang im Studiren auffhalten / nicht allein underdessen die erfahrenheit an ihr selbst ver-
cento, in: Winfried Müller/Wolfgang Smolka/Helmut Zedelmaier (Hrsg.), Universität und Bildung. Festschrift Laetitia Boehm zum 60. Geburtstag. München 1991, 115–128; zu Frankreich Ricken, „Gelehrter“ und „Wissenschaft“ (wie Anm.5), 249–255 u. 263–287; Klaus Breiding, Untersuchungen zum Typus des Pedanten in der französischen Literatur des 17.Jahrhunderts. Diss. phil. Frankfurt am Main 1969. Die bislang ausführlichste Untersuchung der Konstruktion der Figur des gelehrten Pedanten im Reich liefert Wilhelm Kühlmann, Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 3.) Tübingen 1982, 288–454, zur Etymologie des Begriffs 306f.; sowie allg. Košenina, Der gelehrte Narr (wie Anm.1), 56–66, Dietrich, Der Gelehrte (wie Anm.1), 65–130. 65 Vgl. die Aufzählungen bei Dietrich, Der Gelehrte (wie Anm.1), 65f.; Alexander Košenina, Nachbemerkung, in: Johann Georg Schlosser, Ueber Pedanterie und Pedanten, als eine Wahrnung für die Gelehrten des XVIII.Jahrhunderts. Mit einer Nachbemerkung neu hrsg. v. Alexander Košenina. Hannover 1996, 27f.
66 Dietrich, Der Gelehrte (wie Anm.1), 71.
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säumen / sondern auch ins gemein zu allen verrichtungen ungeschickt und unartig werden: Dannenhero geschichts auch / daß sie sich sonderlich mit ihren Sitten und Geberden vor andern Leuthen außzeichnen / unnd sich aller Menschlichen gemeinschaft entschlagen“. 67 Ihre Weltfremdheit lässt auch die beanspruchte Titulatur umso lächerlicher erscheinen, so heißt es 1785 bei Joseph Richter: „Hochedelgebohrene Herrn sind Aerzte, Advokaten, Professoren, Gelehrte und Künstler, ein Titel dessen Lächerlichkeit nie mehr auffällt, als wenn man sich in dem hochedelgebohrenen Herrn einen Gelehrten denkt, der in einem Dachstübchen wohnt.“ 68 Dem Gelehrten geht das für das angemessene Decorum zentrale richtige Maß zwischen den Extrempolen verloren. So klagt Mencke, „entweder die Gelehrten wissen vor ehrgierigem Hochmuth nicht, wie sie sich prächtig genug heraus kleiden sollen, damit sie nur vor Leute nach der heutigen Welt und, nach Frantzösischer Mund-Art, vor galant-hommes mögen gehalten werden. Oder sie ziehn gar zu unflätig auf, und treten in einem abgeschabten Mantel, alt-väterischen Rocke und mit hinunter hängenden Pluder-Hosen einher, bloß damit die Leute dencken sollten, ihr einziges Tichten und Trachten sey nur auf das Studieren gerichtet“. 69 Pedanterie und Galanterie bilden am Ende des 18.Jahrhunderts auch für Immanuel Kant die grundlegenden Fehlformen des gelehrten Habitus: „In Ansehung der Wissenschaften gibt es zwei Ausartungen des herrschenden Geschmacks: Pedanterie und Galanterie. Die eine treibt die Wissenschaften bloß für die Schule und schränkt sie dadurch ein in Rücksicht des Gebrauches; die andere treibt sie bloß für den Umgang oder die Welt und sie beschränkt sie dadurch in Absicht auf ihren Inhalt“. 70 In dieser Formulierung scheint so etwas wie eine Paradoxie der Rolle des gelehrten Experten auf. Die vertiefte Aneignung von Sonderwissen, die für die Rolle des Experten konstitutiv ist, birgt die Gefahr zum Fachidioten, zum Pedanten zu werden, der nicht mehr in der Lage ist, sein Expertenwissen der ungelehrten Umwelt zu kommunizieren. Der galante Ge67
Julius Wilhelm Zincgref, Facetiae Pennalium (1618). Hrsg. v. Dieter Mertens/Theodor Verweyen. (Ge-
sammelte Schriften, Bd. 3.) Tübingen 1978, 57f., und Fassmann, Gelehrte Narr (wie Anm.53), 40: „daß diejenigen, welche sich lange bey und in dem Studieren auf halten, nicht allein unterdessen die Experientz und Erfahrung an ihnen selbst versäumen, sondern auch insgemein zu allen Verrichtungen ungeschickt und unartig werden. Dannenhero geschiehet es auch, daß sie sich sonderlich durch ihre Sitten und Geberden vor andern Leuten charakterisieren, und sich aller menschlichen Gemeinschaft entschlagen“. 68
Pater Hilarion (= Joseph Richter), Bildergalerie weltlicher Misbräuche ein Gegenstück zur Bildergalerie
katholischer und klösterlicher Misbräuche. Frankfurt/Leipzig 1785 (Ndr. Dortmund 1977), 95f.
286
69
Mencke, Charlatanerie (wie Anm.48), 131f.
70
Immanuel Kant, Logik (1800), in: Kants Werke. Bd. 6. Frankfurt am Main 1968, A 64, 472.
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lehrte hingegen, dessen Kunst vor allem in einer universalen Kommunikations- und Anpassungsfähigkeit besteht, betreibt seine Wissenschaft zu oberflächlich, als dass er es zum Experten bringen könnte. Er kann allenfalls als Popularisator von Wissen fungieren, nicht aber als kompetenter Problemlöser.
IV. Fazit Eine abschließende Antwort auf die Frage „Die Experten, die Verkehrten?“ fällt nicht leicht. Um in den Blick der Satire zu gelangen, mussten die Experten erst eine gewisse quantitative Dichte an Handlungsmustern und Funktionen erreichen, um eine eigene Rolle auszubilden, die sich vom Gelehrten an sich unterscheidet. Anlagen hierzu sind in der Frühen Neuzeit gegeben, jedoch hebt sich die Figur des akademischen Experten zumindest in der Ständekritik noch kaum von der allgemeinen Thematisierung des Gelehrten ab. Die Tatsache, dass das Alte Reich über die dichteste europäische Universitätslandschaft des 17. und 18.Jahrhunderts verfügte, konnte nicht ohne Folgen für die Dynamiken frühneuzeitlicher Expertenkulturen bleiben. Die Akademien hatten im Reich nicht die intellektuelle Vorreiterrolle, die ihnen für andere Länder zugeschrieben wird, und auch die Aufklärung fand in Deutschland zu weiten Teilen in Universitätsstädten statt. 71 Ein Großteil der deutschen Gelehrten hatte eine universitäre Ausbildung genossen, und viele waren auch nachher als akademische Lehrer tätig. Diese spezifische Situation gilt es zu berücksichtigen, wenn man nach den gelehrten Experten im Heiligen Römischen Reich der Frühen Neuzeit Ausschau hält. Kritische Beobachtungen und literarische Thematisierungen von gelehrten Akteuren und Institutionen setzten folglich häufig im akademischen Milieu an. Traten die Graduierten überall in der Gesellschaft mit ihren spezifischen Geltungsansprüchen in Erscheinung, so kam die Universität vor allem in ihrer Funktion als Qualifikations- und Zertifizierungsinstitution von institutionalisiertem symbolischen Kapital in den Blick. Die meisten allgemeinen Kritiken bemühten sich
71 Vgl. Notker Hammerstein, Innovation und Tradition. Akademien und Universitäten im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, in: HZ 278, 2004, 591–625; Marian Füssel, Akademische Aufklärung. Die Universitäten des 18.Jahrhunderts im Spannungsfeld von funktionaler Differenzierung, Ökonomie und Habitus, in: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.), Die Aufklärung und ihre Weltwirkung. (Geschichte und Gesellschaft, Sonderh. 23.) Göttingen 2010, 47–73.
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um eine Zusammenschau unterschiedlicher ständischer und gelehrter Akteure, insgesamt stechen jedoch vor allem die Juristen deutlich hervor. Am Juristenstand entzündete sich die Expertenkritik in nuce, da Juristen überall in der Gesellschaft die Rolle von Experten übernahmen und im Zuge von Territorialisierung und Staatsbildung immer mehr an Einfluss und Geltung gewonnen hatten. 72 Es ist daher auch wenig verwunderlich, dass die meisten begriffsgeschichtlichen Spuren des modernen Expertenbegriffs auf rechtskulturelle Ursprünge zurückzuführen sind. War die epistemische Geltung von gelehrtem Wissen seit dem Mittelalter an einen privilegierten ständischen Status geknüpft, so verlor sich die rechtlich abgesicherte Prestigeordnung langsam zugunsten neuer bzw. flankierender Mechanismen. Die Kultivierung eines eigenen gelehrten Habitus, der in manchen Teilen auch ein Expertenhabitus sein konnte, wenn ein Gelehrter in der Rolle des Expertise gebenden agierte, eröffnete spezifische Autoritätspotentiale, die zu den traditionellen symbolischen Autoritätsspendern wie Kleidung oder Titulatur traten. 73 Der Gelehrte konnte eine unverständliche Fachsprache sprechen und sich weltvergessen der Wissenschaft widmen und gerade damit seine spezifische standeskulturelle Identität bestätigen. Als Experte bedurfte es jedoch zusätzlich einer Form der Kompetenzdarstellungskompetenz, die nicht auf eine kommunikative Öffnung zur Umwelt verzichten konnte. 74 Gerade hierin sahen jedoch die meisten Beobachter eines der zentralen Probleme des Gelehrtenstandes. Die übertriebene Kompetenzdarstellungskompetenz des honnête homme war dem Ideal des gelehrten Experten ebenso inadäquat wie das ungesellige Versinken in der eigenen Bücherwelt. Der Gelehrtenkritik kam insofern eine regulative Orientierungsfunktion innerhalb der Gelehrtenkultur zu, die zur Aushandlung neuer Rollenverständnisse beitrug.
72
Vgl. Roman Schnur (Hrsg.), Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates. Berlin 1986.
73
Vgl. Marian Füssel, Die zwei Körper des Professors. Zur Geschichte des akademischen Habitus in der
Frühen Neuzeit, in: Horst Carl/Friedrich Lenger (Hrsg.), Universalität in der Provinz. Die vormoderne Landesuniversität zwischen korporativer Autonomie, staatlicher Abhängigkeit und gelehrten Lebenswelten. Darmstadt 2009, 209–232; Gadi Algazi, Eine gelernte Lebensweise. Figurationen des Gelehrtenlebens zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 30/2, 2007, 107–118; ders., Scholars in Households. Refiguring the Learned Habitus, 1480–1550, in: Science in Context 16, 2003, 9–42. 74
Vgl. Michaela Pfadenhauer, Professionalität. Eine wissenssoziologische Rekonstruktion institutionali-
sierter Kompetenzdarstellungskompetenz. Opladen 2005.
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Moderne Eunuchen? Offizielle Experten im 18. und 21.Jahrhundert von Caspar Hirschi
„Ich weiß nicht, ob man es in dreihundert Jahren glauben wird, dass in Frankreich die zwei- oder dreihundert Personen, die zum Beraterstab des Staates gehörten und die Wissenschaft ihres Berufes besser als andere kennen mussten, damals weder Lehrer, noch Konferenzen noch Akademien für diese Wissenschaft hatten.“ Abbé de Saint-Pierre, Betrachtungen zum Ministerium des Inneren, 1734. 1
„Er wurde zum Rücktritt aufgefordert, weil er nicht zugleich ein Regierungsberater und ein Aktivist gegen die Regierungspolitik sein kann. Dieses Prinzip ist wohlbekannt und seit langem in Kraft.“ Home Secretary Alan Johnson, The Guardian, 2009. 2
Im Herbst 2009 wurde Großbritannien von einem kleineren politischen Skandal erschüttert, der einen angesehenen Experten den Kragen und einen hohen Minister den Ruf kostete. Die Geschehnisse offenbarten in aller Deutlichkeit, wie eng der Spielraum von offiziellen Experten im modernen Staat ist und wie weit her es mit der seit Jahrzehnten heraufbeschworenen „Expertokratie“ heute wie morgen sein dürfte. Um die Grenzen dieses Spielraums, ihren politischen Sinn, ihre Genese und ihre Überschreitungsversuche soll es im vorliegenden Aufsatz gehen. Anders als die bisherigen Studien, die sich mit diesem Thema befasst haben 3, wird er dazu in die 1 „Je ne sai si l’on croira dans trois cens ans, qu’en France deux ou trois cens persones qui etoient du conseil de l’Etat, & qui devoient savoir mieux que d’autres la sience de leur profession, n’avoient alors ni professeurs, ni conferences, ni academies sur cete sience.“ Charles Irénée Castel de Saint-Pierre, Observations concernant le Ministère de l’Intérieur de l’Etat, in: ders., Ouvrajes politiques. Vol.7. Rotterdam 1734, 28. 2 „He was asked to go because he cannot be both a government adviser and a campaigner against government policy. This principle is well understood and long established.“ Alan Johnson, Why Professor Nutt was Shown the Door, in: The Guardian, 2.November 2009. 3 Siehe unter anderem Peter Weingart, Wissenschaftliche Expertise und politische Entscheidung, in: ders., Die Stunde der Wahrheit. Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft. Weilerswist 2001, 127–170; Alexander Bogner/Helge Torgersen (Hrsg.), Wozu Experten? Ambivalenzen der Beziehung von Wissenschaft und Politik. Wiesbaden 2005; Alexander Bogner/Wolf-
oldenbourg DOI 10.1524/9783486717952.289
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Geschichte des französischen Gerichtswesens und Akademiebetriebs im späten 17. und frühen 18.Jahrhundert zurückgehen, wo die Rolle des offiziellen – das heißt des staatlich ernannten und anerkannten – Experten wohl am frühesten Gestalt angenommen hat. Mit der genealogischen Verortung der Rolle soll dabei ein zusätzlicher Schlüssel zur Erklärung ihrer heutigen Erscheinungsformen bereitgestellt werden. Zuerst aber wird die Londoner Ereigniskette Glied für Glied rekapituliert, damit das Kräftefeld, in dem sich Experten im modernen Staatsdienst bewegen, in seiner ganzen Spannungsgeladenheit sichtbar wird.
I. Von einem Besserwisser, der es besser hätte wissen müssen Am 14. Juli 2009 hielt David Nutt am „Centre for Crime and Justice Studies“ im King’s College London einen öffentlichen Vortrag mit dem Titel „Estimating Drug Harms: A Risky Business?“ 4 Nutt ist Professor für Psychopharmakologie am Imperial College London und war damals Präsident des „Advisory Council on the Misuse of Drugs“, einer Expertenkommission, die dem britischen Innen- und Gesundheitsministerium Empfehlungen zur offiziellen Klassifikation von Drogen abgibt. Der Vortrag markierte den unbemerkten Anfang vom unfreiwilligen Ende seines Präsidiums, das er nicht einmal eineinhalb Jahre zuvor angetreten hatte. Nutt skizzierte zuerst die Entwicklung der britischen Drogenpolitik seit den späten sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als die bis heute geltenden Drogengesetze in Großbritannien erlassen worden sind. Zum Kern dieser Gesetze gehörte die Einteilung von Drogen in drei Schädlichkeitsklassen, die auch für die rechtliche Sanktionierung des Drogenhandels und -konsums maßgeblich sind. Das ursprüngliche Ziel des Klassifikationssystems, so Nutt, habe darin bestanden, Drogen gemäß dem aktuellen Wissensstand leicht von einer Gefährdungsstufe in eine andere zu verschieben. In den vierzig Jahren seit dem Bestehen des Gesetzes sei es dann
gang Menz, Wissenschaftliche Politikberatung? Der Dissens der Experten und die Autorität der Politik, in: Leviathan 30, 2002, 384–399; Harry Collins (Ed.), Case Studies of Expertise and Experience: Special Issue of Studies in History and Philosophy of Science 38/4, 2007, 615–760; ders./Robert Evans, Rethinking Expertise. Chicago 2007; Reiner Grundmann/Nico Stehr, Expertenwissen. Die Kultur und die Macht von Experten, Beratern und Ratgebern. Weilerswist 2010. 4 David Nutt, Estimating Drug Harms. A Risky Business? Eve Saville Lecture 2009, http://www.crimeandjustice.org.uk/opus1714/Estimating_drug_harms.pdf (16.1.2012).
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vor allem zu zwei Entwicklungen gekommen: Mehrere Substanzen seien neu als Drogen klassifiziert und mehrere bereits als Drogen definierte Substanzen seien in höhere Schädlichkeitsklassen angehoben worden. Insgesamt habe also eine Verschärfung der Drogenpolitik stattgefunden. Wie Nutt in der Folge am Beispiel der jüngsten „Beförderung“ von Cannabis von einer C-Droge zu einer B-Droge im Jahr 2008 darlegte, folgte die Verschärfungstendenz nicht dem Forschungsstand, sondern dem Druck der Medien und der öffentlichen Meinung. Jacqui Smith, die damalige Innenministerin von Gordon Browns Labour-Regierung, gab 2007 nahezu zeitgleich eine öffentliche Umfrage zu drogenpolitischen Einstellungen und eine weitere Studie – die dritte in fünf Jahren – zur Schädlichkeit von Cannabis beim „Advisory Council“ in Auftrag. Während die Expertenkommission nach einer neuerlichen Datenerhebung zum Schluss kam, Cannabis sei, auch in Form des konzentrierten „Skunk“, relativ harmlos und daher in der C-Klasse zu belassen, ergab die öffentliche Umfrage das gegenteilige Ergebnis: 58% der Befragten wünschten eine Aufwertung und 32% sogar eine Einstufung in die AKlasse, also eine Gleichbehandlung mit Heroin und Kokain, während nur 18% den Status quo beibehalten und 11% Cannabis legalisieren wollten. 5 Nutt bemühte sich jedoch um den Nachweis, dass diese Zahlen kein Verlangen nach einer verschärften Repressionspolitik ausdrückten: Nach der Höhe des Strafmaßes für Cannabiskonsum gefragt, votierten 41% nämlich für die C-Klasse, 27% wollten gar keine Strafe und bloß 24% wünschten eine Erhöhung in die B- und A-Klasse. Mit anderen Worten: Ein Großteil der Befragten sah in der Drogenklassifikation vor allem ein Abschreckungsinstrument und unter diesen ein beträchtlicher Teil sogar einen funktionalen Ersatz für das rechtliche Strafmaß. Die Regierung hatte für solche Subtilitäten wenig übrig. Als die Innenministerin das Parlament aufforderte, Cannabis neu als B-Droge einzustufen, nannte sie als Begründung die „öffentliche Wahrnehmung“ („public perception“) und das Gebot der „Vorsicht“ („caution“). Ihr Kommentar zum Bericht der Expertenkommission lautete, sie stimme allen wissenschaftlichen Empfehlungen zu – außer jener bezüglich der Klassifizierung. Das Parlament stimmte dem Antrag zu. 6 Im weiteren Verlauf seines Vortrags erläuterte Nutt die Reaktion des „Advisory
5 Ebd.6. 6 Jacqui Smith, Rede vor dem Britischen Unterhaus, 7.Mai 2008: http://www.publications.parliament.uk/ pa/cm200708/cmhansrd/cm080507/debtext/80507–0004.htm (16.1.2012).
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Council“ auf die drogenpolitischen Beschlüsse der Regierung. Er verwies auf eine bereits publizierte Studie, die die Schädlichkeit von klassifizierten und nicht klassifizierten Drogen nach neun verschiedenen Kriterien bestimmt habe, darunter gesundheitliche Folgen, körperliche Abhängigkeit, gesellschaftliche Implikationen und Gesundheitskosten. 7 Sie habe zum Befund geführt, dass Tabak und vor allem Alkohol deutlich schädlicher seien als Cannabis, Ecstasy und LSD. Die Autoren der Studie hätten daher vorgeschlagen, das dreiteilige Klassifikationssystem so umzugestalten, dass jene Drogen, die gemäß ihrer Studie schädlicher seien als Alkohol, in der A-Klasse, und jene, die weniger schädlich seien als Tabak, in der C-Klasse seien. 8 Die im Rückblick entscheidenden zwei Argumente folgten aber erst am Ende des Vortrags. Das erste lautete, für eine richtige Einschätzung der Schädlichkeit von Drogen sei es nützlich und nötig, systematische Vergleiche mit anderen menschlichen Aktivitäten zu ziehen, die legal, aber gefährlich seien. Nutt verwies dabei auf seine berüchtigte Aussage in einem wenige Monate zuvor veröffentlichten Zeitschriftenaufsatz, ein Ecstasytrip sei weniger gefährlich als ein Ausritt zu Pferde. Die Aussage hatte ihm damals sogleich den Ruf eines Verharmlosers des Drogenkonsums und eine öffentliche Zurechtweisung durch die britische Innenministerin eingehandelt. 9 Das zweite Argument war, es sei nun wegen der Differenzen zwischen Experten und Politikern der Zeitpunkt für eine öffentliche Debatte über die relative Schädlichkeit und rechtliche Klassifikation von Drogen gekommen. Mit ihr lasse sich dann auch die Frage klären: „Wem vertraut die Öffentlichkeit mehr – den Experten oder den Politikern?“ 10 Die im Titel von Nutts Vortrag gestellte Frage nach dem Risiko seiner eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit wurde freilich erst beantwortet, als das „Centre for Crime and Justice Studies“ seinen Vortrag mehr als drei Monate später im eigenen Fachorgan abdruckte. 11 Am Tag der Veröffentlichung erschien die Passage über die 7 David Nutt/Leslie A. King/William Saulsbury/Colin Blakemore, Developing a Rational Scale for Assessing the Risks of Drugs of Potential Misuse, in: The Lancet 369, 2007, 1047–1053. 8 Nutt, Estimating Drug Harms (wie Anm.4), 10. 9 David Nutt, Equasy. An Overlooked Addiction with Implications for the Current Debate on Drug Harms, in: Journal of Psychopharmacology 23, 2009, 3–5: http://www.furiousseasons.com/documents/ NuttPaper.pdf (16.1.2012). 10
„Who do the public trust more – the experts or the politicians?“ Nutt, Estimating Drug Harms (wie
Anm.4), 11. 11
Der Ablauf der Ereignisse wurde von Nutt, dem Innenminister und anderen Beteiligten im Auftrag des
„Science and Technology Committee“ des House of Commons detailliert rekapituliert: The Government’s
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Cannabis-Gesetzgebung auch im „Guardian“, flankiert von einem Redaktionsbeitrag mit dem Titel „Alcohol Worse than Ecstacy – Drugs Chief“. 12 Zudem gab Nutt der BBC zwei Interviews und stellte dem Sender die Tabellen aus seinem Aufsatz für die Internetberichterstattung zur Verfügung. 13 Tags darauf kam die Retourkutsche aus Westminster: Nutt wurde von Jacqui Smiths Nachfolger im britischen Innenministerium, Alan Johnson, zum Rücktritt aus der Expertenkommission aufgefordert. Im Kündigungsschreiben begründete Johnson seinen Schritt wie folgt: Nutt habe sich mit seinen jüngsten Kommentaren, die soviel mediale Aufmerksamkeit erhalten hätten, vom Auftrag der Expertenkommission, die Regierung mit „matters of evidence“ zu versorgen, verabschiedet. Indem er öffentlich für einen „change of government policy“ lobbyiere, verletze er die mit seiner Präsidentenrolle verbundenen „requirements“ und unterminiere die „scientific independence“ des „Advisory Council“. Johnson legte nach, Nutt habe als offizieller Experte keine Berechtigung, eine öffentliche Debatte über die Drogenpolitik zu lancieren, denn es sei der Regierung vorbehalten, gegenüber der Öffentlichkeit die offizielle Position in dieser Sache zu vertreten. Da er nach seinem Vergleich von Ecstasyschlucken und Pferdereiten nun erneut gegen diese Auflage verstoßen habe, habe Johnson das Vertrauen in ihn verloren und müsse ihn bitten, sein Amt mit sofortiger Wirkung zur Verfügung zu stellen. 14 Wenn Johnson geglaubt hatte, die Regierung mit diesem Schnitt aus einer unangenehmen Situation zu befreien, so wurde er sogleich eines Besseren belehrt. Nutt nutzte seine Kontakte zu Journalisten, um die Kündigung sofort publik zu machen und ins rechte Licht rücken zu lassen. Der gleiche BBC-Journalist, der tags zuvor über den Inhalt von Nutts publiziertem Vortrag berichtet hatte, veröffentlichte wenige
Review of the Principles Applying to the Treatment of Independent Scientific Advice Provided to Government. Third Report of Session 2009–2010, Vol. II, Ev 3-Ev9: http://www.parliament.the-stationery-office.co.uk/pa/cm200910/cmselect/cmsctech/158/158ii.pdf (16.1.2012). 12 David Nutt, The Cannabis Conundrum, in: The Guardian, 29.10.2009: http://www.guardian.co.uk/ commentisfree/2009/oct/29/cannabis-david-nutt-drug-classification (16.1.2012); Alan Travis, Alcohol Worse than Ecstasy, in: The Guardian, 29.10.2009: http://www.guardian.co.uk/politics/2009/oct/29/nuttdrugs-policy-reform-call (16.1.2012). 13 BBC Radio 4, Today 7.50 Uhr, 29.10.2009: http://news.bbc.co.uk/today/hi/today/newsid_8331000/ 8331147.stm (16.1.2012); Mark Easton, Scientists v Politicians: Round 3, in: BBC News, 29.10.2009: http:// www.bbc.co.uk/blogs/thereporters/markeaston/2009/10/scientists_v_politicians.html (16.1.2012). 14 Mark Easton, Nutt Gets the Sack, in: BBC News, 30.Oktober 2009: http://www.bbc.co.uk/blogs/thereporters/markeaston/2009/10/nutt_gets_the_sack.html (16.1.2012).
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Stunden nach der Kündigung das Schreiben des Innenministers sowie Nutts schriftliche Reaktion darauf. In seinem Kommentar zur Vorgeschichte der Ereignisse übernahm er im Wesentlichen die Darstellung aus Nutts Vortrag. 15 Die britischen Printmedien griffen die Geschichte begierig auf, und bezeichnenderweise war es nicht die repressionsfreundliche konservative Presse, sondern der linksliberale „Guardian“, der den Innenminister der Labour-Regierung am schärfsten angriff. Johnson wurde vorgehalten, er sei zu schwach, um mit unbequemen Wahrheiten umzugehen, und ziehe es daher vor „to shoot the messenger“. 16 Zu diesem Vorwurf gesellte sich in den kommenden Tagen die von der liberalen „Times“ erhobene Kritik, Johnson habe das Parlament bei der Entlassung von Nutt gezielt hinters Licht geführt, da er schon längst über dessen Vortrag ins Bild gesetzt worden sei. 17 Als Informationsquelle nannte der „Times“-Journalist Nutt selbst. Johnson reagierte auf die Angriffe der Printmedien mit einem Leserbrief im „Guardian“, in dem er zum Kündigungsgrund noch einmal präzisierte, dass Nutt nicht wegen seiner Ansichten entlassen worden sei, sondern wegen seiner Rollenkombination von „government adviser“ und „campaigner against government policy“. 18 Als der Leserbrief erschien, war aber die größte Herausforderung für den Innenminister bereits nicht mehr die Berichterstattung der Medien, sondern die Reaktion der ‚Scientific Community‘. In den ersten Tagen nach Nutts Entlassung traten zwei Mitglieder des „Advisory Councils on the Misuse of Drugs“ mit sofortiger Wirkung zurück, und mehrere andere ließen verlauten, sie erwögen diesen Schritt ebenfalls. Eine Woche nach der Kündigung verstärkte sich der Druck auf die Regierung. Unter der Federführung von Lord Rees, dem Präsidenten der Royal Society, veröffentlichten gegen hundert Wissenschaftler, davon siebzehn Regierungsberater, eine Erklärung, in der sie die Regierung zur Bestätigung von drei „Principles for the Treatment of Scientific Advice“ aufforderten. 19 Das erste Prinzip war die Respektierung
15
Ebd.
16
Drugs Policy. Shooting up the Messenger, in: The Guardian, Editorial, 31.Oktober 2009: http://
www.guardian.co.uk/commentisfree/2009/oct/31/david-nutt-sacking-alan-johnson (16.1.2012). 17
Mark Henderson, Alan Johnson Accused of Misleading Parliament over David Nutt Sacking, in: The
Times, 10.Nov. 2009: http://www.timesonline.co.uk/tol/news/politics/article6910330.ece (16.1.2012). 18
Johnson, Why Professor Nutt was Shown the Door (wie Anm.2).
19
Sense about Science, Principles for the Treatment of Independent Scientific Advice: http://www.sense-
aboutscience.org/pages/principles-for-the-treatment-of-independent-scientific-advice-.html (16.1.2012).
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der akademischen Freiheit, die es jedem wissenschaftlichen Experten erlaube, sich uneingeschränkt zu äußern, sofern er nicht in seiner Funktion als Regierungsberater auftrete; ausgenommen von diesem Prinzip seien nur jene Wissenschaftler, die aus Gründen der nationalen Sicherheit Geheimhaltungsklauseln unterschrieben hätten. Das zweite Prinzip war die Garantie der wissenschaftlichen Unabhängigkeit von Expertenkommissionen, die es verbiete, Experten aufgrund öffentlicher Äußerungen über eine Empfehlung an die Regierung zu tadeln, zu bestrafen oder zu entlassen – auch dann, wenn die Regierung die betreffende Empfehlung abgelehnt habe. Das dritte Prinzip schließlich galt der „proper consideration of scientific advice“, wonach die Regierung, wenn sie wissenschaftlichen Rat zurückweisen wolle, die Expertenkommission zuerst nochmals anhören müsse, und wenn sie dann bei ihrer Absicht bleibe, die Gründe für die Rückweisung im Detail darzulegen habe. Der Innenminister ging auf diese Aufforderung nicht ein, sondern überließ dem Wissenschaftsminister, Lord Drayson, die Initiative. Anstatt die drei Prinzipien zu bekräftigen, erstellte dieser ein eigenes Grundsatzpapier „Über die wissenschaftliche Regierungsberatung“, das er am 15.Dezember der Öffentlichkeit zur Konsultation vorlegte. Darin konzedierte er offiziellen Experten, sie dürften „sachbezogene Beweise und Analysen öffentlich kommunizieren, auch dann, wenn sie zur Regierungspolitik im Widerspruch stehen“. 20 Zugleich verlangte er von den wissenschaftlichen Beratern Verständnis dafür, dass die Wissenschaft nur ein Teil der „evidence“ sei, die von der Regierung zur politischen Entscheidungsfindung berücksichtigt werde. Zum Stein des Anstoßes für die Regierungskritiker wurde aber der Satz: „Die Regierung und ihre wissenschaftlichen Berater sollen zusammenarbeiten, um eine übereinstimmende Position zu erreichen, und beide sollen durch ihr Handeln nicht das gegenseitige Vertrauen untergraben.“ 21 Die Vorbehalte gegen diese schwammige Formulierung wurden von Evan Harris, dem „Science Spokesman“ der Liberaldemokraten, im „Times Higher Education“ zusammengefasst. Harris hielt der Regierung vor, sie wolle sich mit dem Satz dazu er-
20 „[...] to communicate relevant evidence and analysis, including when it is at odds with Government policy“; Lord Drayson, Principles on Scientific Advice to Government Published for Consultation: http:// www.wired-gov.net/wg/wg-news-1.nsf/0/E62201C8A783C8F68025768D0044FB8C?OpenDocument (16.1.2012). 21 „The Government and its scientific advisers should work together to reach a shared position, and neither should act to undermine mutual trust.“ Ebd.
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mächtigen, offizielle Experten bei anhaltendem Dissens leicht loszuwerden. 22 Es passte für ihn auch ins Bild, dass der Entwurf des Wissenschaftsministers kein Bekenntnis zur akademischen Freiheit enthielt. Harris war Mitglied im „Science and Technology Committee“ des Unterhauses, wo er sich zum Anführer des Widerstands gegen Lord Draysons Grundsatzpapier machte. Nach einer kritischen Anhörung Ende Februar 2010 ruderte der Wissenschaftsminister zurück und gab am 24.März die endgültige Fassung der Prinzipienliste bekannt. Diese würdigte nun im ersten Absatz die akademische Freiheit von wissenschaftlichen Beratern. Die Aussage, Regierung und Experten sollten sich gemeinsam um eine übereinstimmende Position bemühen, wurde fallengelassen, nicht aber die Passage, beide dürften nicht das gegenseitige Vertrauen untergraben. 23 Der Wissenschaftsminister gab die Verantwortung dafür den wissenschaftlichen Beratern respektive ihrer offiziellen Vertretung, dem „Chief Scientific Advisers Committee“: Dieses habe den Passus im Dokument beibehalten wollen. 24 Wie dem auch sei, das Prinzip, zwischen Ministern und Experten müsse eine Vertrauensbeziehung bestehen, kam einer nachträglichen Bestätigung für Innenminister Johnson gleich. Dieser hatte sich nämlich früh von seiner im Leserbrief an den „Guardian“ vertretenen Argumentation, Nutt habe eine unhaltbare Doppelrolle spielen wollen, verabschiedet und sich auf den Wortlaut festgelegt, er habe sich von Nutt trennen müssen, weil er kein Vertrauen mehr in ihn gehabt habe. 25 Insgesamt hatte die Regierung mit dem neuen Grundsatzpapier wohl ihre wichtigsten Ziele erreicht. Sie wusch sich offiziell vom Vorwurf der unangemessenen Abstrafung eines renitenten Experten rein, und sie sorgte dafür, dass sich wissenschaftliche Berater mit Hang zu öffentlicher Regierungskritik in Zukunft über eine fristlose Entlassung nicht mehr öffentlich würden empören können. Als die Koalition der Tories und Liberaldemokraten nach den Wahlen vom Mai 2010 die Regierung über-
22
Evan Harris, Principled Stand, in: Times Higher Education, 18.Dezember 2009: http://www.times-
highereducation.co.uk/story.asp?storycode=409670 (16.1.2012). 23
Lord Drayson/John Beddington, Letter to the Science and Technology Committee, 24.März 2010: http://
www.publications.parliament.uk/pa/cm200910/cmselect/cmsctech/386/10022409.htm (16.1.2012). 24
Science and Technology Committee, Examination of Witness: Lord Drayson, 24.März 2010: http://
www.publications.parliament.uk/pa/cm200910/cmselect/cmsctech/480/10032402.htm (16.1.2012). 25
Alan Johnson, Letter to the Chairman of the Science and Technology Committee, 11.November 2009,
in: The Government’s Review (wie Anm.11), Ev 5: http://www.parliament.the-stationery-office.co.uk/pa/ cm200910/cmselect/cmsctech/158/158ii.pdf (16.1.2012).
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nahm, bestätigte der neue „Minister of State for Universities and Science“, der Konservative David Willetts, umgehend die von der Labour-Regierung erlassenen Prinzipien zur wissenschaftlichen Beratung. 26 Um David Nutt ist es mittlerweile stiller geworden. Nachdem er sich vor Weihnachten 2009 mit einem „Youtube“-Video bei seinen 30000 „Facebook“-Freunden für ihre Unterstützung bedankt hatte, suchte er im Januar 2010 noch einmal das Rampenlicht, um die Gründung eines neuen „Independent Scientific Committee on Drugs“ bekannt zu geben. Zustande gekommen war es dank einer 450000 PfundSpende von einem Hedge Fond Manager. Nutt führte in der Pressekonferenz aus, es handle sich um die stärkste Gruppierung von Drogenforschern, die Großbritannien je gesehen habe. Die Öffentlichkeit direkt ansprechend, erklärte er: „What this committee will do is provide to you – both in your professional role, and in your role as a member of the public and maybe even a parent – the truth about drugs, unfettered by any political influence. This is a really interesting model: bottom-up science, saying we’d like to work as a scientific community to produce quality, independent, politically free, uninfluenced science. I would hope other scientific advisory groups in the Government would end up being like us.“ 27
Die reine Wahrheit, Wissenschaft von der Basis, totale Unabhängigkeit und ein Vorbild für alle staatlichen Expertenkommissionen – Nutt vermittelte den Eindruck, er habe dank der Hilfe des britischen Innenministers endlich den richtigen Ort gefunden. Seine Rhetorik unterstellte einen Grundsatzkonflikt zwischen Wissenschaft und Politik, der jede staatliche Expertenkommission paralysiere und delegitimiere, und sie unterstellte einen Grundsatzkonsens innerhalb der Wissenschaft, der „die Wahrheit über Drogen“ und die Maßnahmen für eine wissenschaftlich gestützte Drogenpolitik zweifelsfrei hervorbringen werde. Die Krone setzte er seinem neuen institutionellen Kind mit der Behauptung auf, er könne sich durchaus vorstellen, dass sein „Committee“ auch den staatlichen „Advisory Council“ berate,
26 David Willetts, Science, Innovation and Economy, Rede vom 9.Juli 2010 an der Royal Institution, London: http://bis.gov.uk/news/speeches/david-willetts-science-innovation-and-the-economy (16.1.2012). 27 David Nutt, Press Conference, 15.Januar 2010: http://www.youtube.com/watch?v=Tuu1F3krWrI (2011–10–20); Richard Ford, Sacked Government Adviser David Nutt gets £ 450,000 to Set Up Drugs Committee, in: The Times, 16.Januar 2010: http://www.timesonline.co.uk/tol/news/science/article6990419.ece (20.10.2011).
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mangle es diesem doch jetzt an wissenschaftlicher Kompetenz. Bisher fehlt es an Anzeichen, dass sich diese Erwartung erfüllt hat.
II. Die kollidierenden Handlungslogiken von Politikern, Experten und Medien Warum stelle ich diesen aktuellen Fall in aller Ausführlichkeit an den Anfang eines Aufsatzes über die Konstruktion des offiziellen Experten im 18.Jahrhundert? Ich sehe in ihm, anders als die meisten britischen Wissenschaftler, kein Fanal des akademischen Freiheitsverlustes, sondern einen Ausdruck althergebrachter Konflikte und Widersprüche in der europäischen Expertenkultur. Es geht im Fall Nutt um die ebenso enge wie spannungsreiche Beziehung zwischen den Gelehrtenrollen des offiziellen Experten und des öffentlichen Kritikers; es geht um den Widerstreit zwischen der offiziellen Beratungs- und der inoffiziellen Legitimationsfunktion wissenschaftlicher Expertenkommissionen; es geht um die kollidierenden Ideale der wissenschaftlichen Unabhängigkeit von und der wissenschaftlichen Einflussnahme auf die Politik und endlich um die rivalisierenden Machtansprüche von Gelehrten über Politiker und von Politikern über Gelehrte. Wie stark das Spannungsfeld ist, in dem sich offizielle Experten bewegen, lässt sich an der Affäre Nutt deshalb gut aufzeigen, weil die drei involvierten Hauptakteure – die regierungskritischen Wissenschaftler, die Regierungspolitiker und die Medien – einer jeweils schlüssigen Handlungslogik gefolgt sind, die jedoch zwangsläufig zur Kollision führte. Beginnen wir mit den Beweggründen der Regierungspolitiker, mit denen auch die Affäre Nutt ihren Anfang genommen hat: Aus der Sicht der britischen Innenministerin Jacqui Smith war es 2007, gerade in Anbetracht der schlechten Umfragewerte der Labour-Regierung von Gordon Brown, politisch klug und moralisch vertretbar, die Drogenpolitik mehr nach den Einstellungen der britischen Bürger als nach den Empfehlungen der offiziellen Experten auszurichten. Ebenso naheliegend war es damals, den Dissens mit der Expertenkommission so gut es ging zu verbergen, wie es die Innenministerin 2008 im britischen Unterhaus tat, als sie für eine Verschärfung der Cannabis-Gesetzgebung warb. 28 Damit, so die Lo-
28
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Smith, Rede (wie Anm.6).
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gik, würde sich zumindest eine (und vielleicht die wichtigste) politische Funktion von offiziellen Experten aufrechterhalten lassen: die nachträgliche Auszeichnung einer politischen Entscheidung mit dem wissenschaftlichen Gütesiegel. 29 Umso ärgerlicher war es dann für das Innenministerium, als der konservative „Daily Telegraph“ von David Nutts wissenschaftlichem Artikel Wind bekam, in dem er einen Ecstasytrip für ungefährlicher als einen Pferderitt erklärte. 30 Nachdem die Zeitung das Thema populistisch ausgeschlachtet hatte, indem sie (anonyme) Gegner von Nutt zitierte, die ihn – völlig unzutreffend – als Kreuzritter der Drogenlegalisierung diffamierten, bestand die einzige Rettung der Regierung darin, Nutt zu einer öffentlichen Entschuldigung gegenüber den Opfern des Drogenkonsums zu bewegen, was Jacqui Smith dank einer telefonischen Einschüchterung Nutts auch gelang. 31 Danach wurde Nutt zum Motor der Konfliktverschärfung. Der Artikel im „Daily Telegraph“ mündete für ihn nicht nur in eine persönliche Erniedrigung, sondern auch in eine politische Entmachtung. Nutt musste endgültig klar geworden sein, dass er für die Regierung nur noch eine Hypothek darstellte und auf dem klassischen Beratungsweg keine Aussichten mehr hatte, für seine Anliegen Gehör zu finden. Wollte er diese Angelegenheit aber weiterverfolgen, so war die naheliegendste Lösung für ihn, von nun an die Rolle des öffentlichen Regierungskritikers zu bekleiden. Diese Rolle bot sich ihm umso mehr an, als Nutt schon zuvor eine gesellschaftliche Debatte über die Risiken illegaler Drogen in Relation zu den Risiken legaler Praktiken gefordert hatte und damit nicht nur die Politik der Regierung, sondern auch die Berichterstattung der Medien korrigieren wollte. 32 Indem er Presse, Fernsehen und Radio zugleich als Desinformationsmaschinen brandmarkte und zu Sprachrohren für seine Kritik machte, konnte Nutt seine Kritikerrolle mit klassischer Aufklärungsrhetorik unterfüttern. 29 Weingart unterscheidet dementsprechend zwischen einer „instrumentellen“ und einer „legitimatorischen“ Funktion offizieller Experten: Weingart, Wissenschaftliche Expertise (wie Anm.3), 143. 30 Nutt, Equasy (wie Anm.9), 4. 31 Christopher Hope, Ecstasy ‚no more dangero us than horse riding‘, in: The Daily Telegraph, 7.Februar 2009: http://www.telegraph.co.uk/news/uknews/law-and-order/4537874/Ecstasy-no-more-dangerousthan-horse-riding.html (16.1.2012). 32 Nutt, Equasy (wie Anm.9), 4; am 5.Februar 2008 erschien darüber hinaus ein knapp einstündiger Dokumentarfilm auf BBC 2 mit dem Titel „Is Alcohol Worse than Ecstasy?“, in welchem David Nutt und sein Forschungsteam die Ergebnisse ihrer Studie zur Gefährlichkeit von legalen und illegalen Drogen präsentierten und das staatliche Klassifikationssystem in Frage stellten.
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Warum trat Nutt unter diesen Umständen aber nicht aus eigenen Stücken aus der Expertenkommission zurück? Über seine persönlichen Motive lässt sich nur spekulieren, dagegen ist die funktionale Logik hinter seiner Entscheidung leicht rekonstruierbar. Nutts Status als Präsident des „Advisory Council“ war seiner Autorität und Ausstrahlung als öffentlicher Kritiker höchst förderlich. Man muss nur die Titel der Zeitungsartikel lesen, um diesen Zusammenhang zu erfassen. Praktisch jede Publikation, ob von ihm selbst oder einem Journalisten verfasst, stellte Nutt in seiner präsidialen Beraterfunktion vor. Für die Medien, ob pro- oder anti-Nutt, bestand gerade in der Spannungsgeladenheit von Nutts Rollenkombination der Hauptreiz des Themas. Wäre Nutt zuerst als Experte zurück- und dann als Kritiker hervorgetreten, hätte er mit Sicherheit weniger mediale Aufmerksamkeit erhalten und eine geringere Glaubwürdigkeit erworben. Ob Nutt die funktionale Bedeutung seiner Expertenrolle selber durchschaut hat, ist nicht ganz klar, aber auch nicht weiter von Belang. Entscheidend für den Verlauf der Affäre war vielmehr, dass Nutt und seine prominenten Sekundanten aus Wissenschaftskreisen die Logik der medialen Aufmerksamkeit systematisch verschleiert haben. Indem sie sich gegenüber Presse und Politik auf die Prinzipien der akademischen Freiheit und der wissenschaftlichen Unabhängigkeit von Expertenkommissionen beriefen, beschrieben sie Nutts Praxis der systematischen Rollenverflechtung mit einer Rhetorik der kategorialen Rollentrennung. Es handelte sich dabei kaum um einen bewussten Griff zu einem lässlichen Lügenmittel, das den Zweck der wissenschaftlichen Wahrheitsverkündung heiligen sollte, sondern eher um ein blindes Bekenntnis zu den Glaubenspfeilern der wissenschaftlichen Expertenkultur – die von den Ereignissen gleichzeitig ins Wanken gebracht wurden. Am meisten erschüttert wurden diese Glaubenspfeiler durch Nutts Entlassung aus dem „Advisory Council“. Wie der Leserbrief des neuen Innenministers Johnson im „Guardian“ verrät, handelte dieser in der klaren Absicht, die für die Regierung ärgerliche und peinliche Rollenkombination von Nutt so rasch wie möglich zu beenden. Die Kündigung eröffnete ihm zudem die Möglichkeit, die Kräfteverhältnisse innerhalb der Kommission zugunsten der Regierungspolitik zu verschieben. Beides scheint Johnson gelungen zu sein. Wie der Leserbrief aber auch verrät, übersah Johnson einen Faktor, der ihn sogleich in Bedrängnis brachte. Dass die ‚Scientific Community‘ auf Nutts Entlassung entrüstet reagieren würde, mochte er noch vorausgesehen haben, denn schließlich zog er mit ihr der wissenschaftlichen Freiheitsrhetorik, die sich um die offizielle Ex-
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pertentätigkeit rankt, die Wurzeln aus. Die Krux für ihn war jedoch, dass er als Minister auf diese Rhetorik ebenso angewiesen war wie die Wissenschaftler, weil in ihr die legitimatorische Funktion offizieller Expertengremien für Regierungsentscheide verankert ist. Ein offizieller Experte muss „frei“ und „unabhängig“ erscheinen, um der Regierung wirkungsvoll als öffentlicher Abnicker ihrer Beschlüsse zu dienen. Nachdem Johnsons Versuch gescheitert war, die „scientific independence“ der gesamten Expertenkommission gegen jene ihres gefeuerten Präsidenten auszuspielen, blieb ihm nichts anderes mehr übrig, als sich auf das Schutzargument zurückzuziehen, ein Vertrauensverlust („loss of confidence“) habe zu Nutts Entlassung geführt. Angesichts der systemischen Spannungen, die sich in der Entlassung von David Nutt entluden, kam ihr Bewältigungsversuch durch Wissenschaftler, Politiker und Journalisten einem Akt der kollektiven Realitätsverweigerung gleich. Das Ringen um eine verbindliche Prinzipienliste für die unabhängige Regierungsberatung mündete in einen oberflächlichen Kompromiss, welcher die Grundspannung mit der begrifflichen Anmut von „Freiheit“ und „Vertrauen“ übertünchte. Derweil erschöpfte sich David Nutts Rolle als Vertreter der einen wissenschaftlichen Wahrheit, als aufklärerischer Märtyrer und frei schaffender Experte rasch von allein, trotz seiner immer schriller werdenden Rhetorik.
III. Zwischenfazit Will man die Komplexität der Affäre Nutt auf ein Kernproblem reduzieren, das für die westliche Expertenkultur insgesamt repräsentativ ist, so dürfte es die Rollendefinition des offiziellen Experten als unabhängiger Berater sein. Diese Definition schreibt vor, dass die politische Funktion des Experten auf die deliberative Phase vor der Entscheidungsfindung der Regierenden beschränkt ist; er informiert und empfiehlt unter Ausschluss der Öffentlichkeit, vertritt keine Partikularinteressen, hat keine Mitsprache bei der Entscheidung und keine Beteiligung an ihrer politischen Durchsetzung. Das Kernproblem besteht darin, dass sowohl Experten als auch Politiker hohe Anreize haben, diese funktionale Beschränkung aufzuheben, ohne aber die Rollendefinition entsprechend zu verändern. Aus der Perspektive von Politikern ist es attraktiv, wissenschaftliche Experten wegen ihrer Glaubwürdigkeit auch als öffentliche Legitimatoren für ihre Entschei-
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dungen zu instrumentalisieren. Das legitimatorische Potential von Experten ist so hoch, dass Politiker den Anschein eines expertengestützten Handelns auch dann wahren wollen, wenn sie den Empfehlungen der Experten gar nicht folgen. Jacqui Smith ist da nur ein Beispiel von vielen. Umgekehrt ist für offizielle Experten die Verlockung groß, über ihre Beratertätigkeit hinaus auch auf den politischen Entscheidungsprozess einzuwirken. Sie werden dabei nicht nur vom pragmatischen Motiv geleitet, ihren Empfehlungen zum Durchbruch zu verhelfen, sondern auch vom psychischen Bedürfnis, den Frustrationen ihres eunuchenhaften Daseins zu entfliehen. Experten, die sich konsequent auf ihre Beraterfunktion beschränken, müssen den Dauerzustand aushalten können, mit dem Objekt der Verhandlung am intimsten vertraut zu sein, bei seiner politischen Bemächtigung aber nur aus der Nähe zuschauen zu dürfen. Jenen, denen es weder gelingt, sich mit dieser Rolle abzufinden, noch die Politiker für ihre Empfehlungen zu gewinnen, bleiben zwei Optionen: Sie können zurücktreten oder die Rolle des Experten mit jener des öffentlichen Kritikers verbinden. Letztere Option ist, wie die Affäre Nutt zeigt, keine Dauerlösung. Wer sie wählt, muss die Rhetorik der Expertenfreiheit und -unabhängigkeit beim Wort nehmen, offenbart aber bloß unfreiwillig ihren trügerischen Gehalt, weil sie dem aus funktionalen Gründen zwingenden Druck von politischer Seite nicht standhält. Die Figur des offiziellen Experten bewegt sich also in einem Spannungsfeld von antagonistischen Kräften, die seine Rolle als unabhängigen Berater zugleich systematisch unterlaufen und äußerlich aufrechterhalten. Faszinierend an diesem Spannungsfeld ist, dass es trotz aller kollidierenden Handlungslogiken und innerer Widersprüche eine hohe Stabilität aufweist. Diese Stabilität verdankt sich zum einen der systemischen Konstellation, dass Wissenschaftler und Politiker gleichermaßen an einer Inszenierung des Experten als unabhängigem Berater interessiert sind. Zum anderen aber liegt sie im historischen Umstand begründet, dass die Rolle des offiziellen Experten bereits vor rund dreihundert Jahren Gestalt angenommen hat und dementsprechend tief in der politischen Kultur Europas verankert ist. Alan Johnson hatte die Geschichte auf seiner Seite, als er sich auf das alte Prinzip berief, man könne nicht gleichzeitig offizieller Regierungsberater und öffentlicher Regierungskritiker sein. Wie und unter welchen Bedingungen sich dieses Prinzip und die Rolle des offiziellen Experten herausgebildet haben, soll im Folgenden dargelegt werden.
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IV. Der offizielle Experte im Gerichtswesen des Ancien Régime Die herrschaftliche Indienstnahme von gelehrten, handwerklichen und militärischen Spezialisten ist keine Errungenschaft der Moderne. Sie lässt sich mindestens bis in die griechische Antike zurückverfolgen, und ihre Transformationen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit dürften für die europäische Geschichte mindestens so folgenreich gewesen sein wie jene der Moderne. 33 Die Figur des offiziellen Experten tritt in dieser Geschichte zwar relativ spät – Ende des 17.Jahrhunderts – auf den Plan, sie hat aber Vorläufer in älteren Formen der institutionalisierten Fachberatung. Am bedeutsamsten dürften dabei das vormoderne Justizwesen im Allgemeinen und die Figur des unabhängigen Zeugen vor Gericht im Besonderen gewesen sein. Begriffsgeschichtlich gesehen kann man den als Fachgutachter eingesetzten Zeugen sogar als Vater des offiziellen Experten bezeichnen. Bevor wir uns dem Herrschaftsapparat des Ancien Régime zuwenden, müssen wir also die frühneuzeitliche Gerichtspraxis und ihre Sprache der externen Expertise analysieren. Sucht man nach frühen Definitionen des Experten im 17. und 18.Jahrhundert, wird man in deutschen und englischen Wörterbüchern nicht fündig. Der „Zedler“ kennt den Begriff noch nicht, ebenso wenig der „Johnson“, in dem ‚expert‘ nur als Adjektiv aufgeführt wird, unter anderem in der Bedeutung „skillful, intelligent in business und dexterous“. Seinen Belegstellen zufolge diente das Adjektiv vor allem zur Bezeichnung praktischen Geschicks in handwerklichen, geschäftlichen und alltäglichen Verrichtungen. Mit Ausnahme einer ausdrücklich als „rare“ bezeichneten Verwendung in Francis Bacons Essay „On Studies“ von 1625 lassen die Beispiele, die Johnson anführt, nicht auf eine Zugehörigkeit des Adjektivs zur Terminologie von Gelehrsamkeit und Wissenschaft schließen. 34 Ganz anders sieht es in französischen Lexika aus, und dies nicht aus Zufall, wie ich im Folgenden zeigen möchte. Schon Pierre Richelet führt in seinem „Diction-
33 Unter den jüngeren Studien zur frühneuzeitlichen Herrschaftsberatung durch Fachspezialisten siehe etwa William J. Ashworth, Customs and Excise. Trade, Production, and Consumption in England, 1640– 1845. Oxford 2003; Henry Heller, Labour, Science and Technology in France, 1500–1620. Cambridge 1996; Hélène Vérin, La gloire des ingénieurs. L’intelligence technique du XVIe au XVIIIe siècle. Paris 1993; und jüngst: Eric H.Ash (Ed.), Expertise. Practical Knowledge and the Early Modern State. (Osiris, 25.) Chicago 2010. 34 Samuel Johnson, Art.„Expert“, in: ders., Dictionary of the English Language. Vol.1. London 1755, unpag.
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naire“ von 1680 zwei Definitionen des Substantivs ‚expert‘ an, von denen die eine lautet: „Die Kenntnisreichsten und Geschicktesten in einer Kunst oder Wissenschaft wie Poesie, Beredsamkeit usw.“ 35 Fast noch aufschlussreicher ist die andere Definition von Richelet, die ‚experts‘ mit ‚les jurez‘, den Geschworenen im Gericht, gleichsetzt. Die Zuordnung des Begriffs zum Gerichtswesen wird vom 1694 erstmals erschienenen „Dictionnaire de l’Académie française“ bestätigt. Die Akademiker geben als Beispielsatz für die Verwendung des Begriffs an: „Der Richter hat Experten benannt, um die Bauarbeiten der Maurer, Dachdecker usw. zu besichtigen“. 36 Die von Richelet und den Akademikern angegebene Definition des Experten als eines Sachverständigen vor Gericht war Ende des 17.Jahrhunderts kaum mehr als hundert Jahre alt und erst seit kurzem fest etabliert. 37 Sie widerspiegelte das Zwischenresultat einer schrittweisen Reform im französischen Justizwesen unter Ludwig XIV., in deren Verlauf ältere Formen der gerichtlichen Gutachtertätigkeit stärker fixiert und institutionalisiert wurden. Die Berufung von Sachverständigen vor Gericht ist bereits im Römischen Recht verankert, am ausführlichsten in den Digesten. 38 Im britischen Common Law lässt sich die Praxis seit dem späten Mittelalter nachweisen. 39 In der französischen Rechtspraxis der Frühen Neuzeit reichte die Palette der berücksichtigten Berufsgruppen, der Vielfalt der Verhandlungsgegenstände entsprechend, von Schreinern und Zimmerleuten über Landvermesser und Architekten bis zu Chirurgen und Handschriftenkundlern. Traditionell dominierten Vertreter der mechanischen Künste, wobei die zunehmende Verschriftlichung des Prozesswesens immer höhere 35
„Les plus savants et les plus habiles en quelque art ou science comme poésie, éloquence etc.“ Pierre Ri-
chelet, Dictionnaire françois. Genf 1679/80, 315. 36
„Le Juge a nommé des experts pour visiter l’ouvrage des Maçons, des Couvreurs &c.“ Dictionnaire de
l’Académie française. Vol.1. Paris 1694, 418. 37
Für frühe Belege siehe Olivier Leclerc, Le juge et l’expert. Contribution à l’étude des rapports entre le
droit et la science. Paris 2005, 32. 38
Ebd.28.
39
Zu Großbritannien siehe Tal Golan, Laws of Men and Laws of Nature. The History of Scientific Expert
Testimony in England and America. Cambridge, Mass./London 2004; Déirdre M. Dwyer, The Judicial Assessment of Expert Evidence. Cambridge 2008; dies., Expert Evidence in the English Civil Courts, 1550–1800, in: Journal of Legal History 28, 2007, 93–118; zur gerichtlichen Gutachterpraxis im frühneuzeitlichen Reich siehe Ulrike Ludwig, ‚Amts halber‘ kompetent. Die gutachterliche Tätigkeit von Schössern in Straf- und Supplikationsverfahren im 16. und 17.Jahrhundert, in: Alexander Kästner/Sylvia Kesper-Biermann (Hrsg.), Experten und Expertenwissen in der Strafjustiz von der Frühen Neuzeit bis zur Moderne. Leipzig 2008, 73–84.
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Ansprüche an ihre Lese- und Schreibfähigkeiten stellte. Die Sachverständigen traten vor Gericht in der Regel als Zeugen auf, entweder für eine der Parteien oder für den Richter. Weil sie vor ihrer Aussage einen Eid ablegen mussten, wurden sie in Frankreich auch ‚jurés‘ genannt. Zwischen 1667 und 1690 wurde dieses System auf eine neue, in vielem schon moderne Grundlage gestellt. Die „Ordonnance de Saint-Germain-en-Laye“ von 1667, besser bekannt unter dem Titel „Code Louis“, legte für das französische Zivilrecht detaillierte Richtlinien für die „Nomination und Berichterstattung der Experten“ („Nomination et rapport d’Experts“) fest. 40 Diese sollten neben der Sachkompetenz auch die Unbefangenheit der Experten sicherstellen. Für den Fall, dass zwei Experten konträre Gutachten einreichten, habe der Richter einen dritten Experten zu ernennen, der die beiden anderen bei einer weiteren Bestandsaufnahme begleite. Gelangten die drei nun zu einem übereinstimmenden Ergebnis, sei ein gemeinsamer Rapport zu verfassen, falls nicht, gebe jeder einzeln seine Meinung ab. 41 Für den Fall, dass ein ‚bourgeois‘ und ein ‚artisan‘ als Experten wirkten und keine Übereinstimmung erzielten, müsse der dritte auch ein ‚bourgeois‘ sein. 42 Dieser Regelung lag, wie Rechtsgelehrte im 18.Jahrhundert kommentierten, die Annahme zugrunde, dass ein ‚artisan‘ gegenüber seinem Berufskollegen befangen sei, nicht aber ein ‚bourgeois‘ gegenüber seinem Standesgenossen. 43 Warum das? Hier dürfte nicht nur das ständische Vorurteil mitgespielt haben, dass der höhere Status des ‚bourgeois‘ eine unparteiischere Einschätzung gewährleiste, sondern auch die Überzeugung, dass sich zwei Berufskollegen in ihren Irrtümern eher deckten als zwei Laien. Die Figur des „bürgerlichen“ Experten versprach also größere Unbefangenheit, freilich auch auf Kosten einer geringeren Sachkompetenz. Die zivilrechtliche „Ordonnance“ von 1667 ergriff noch eine weitere Maßnahme, um die Experten so unbefangen wie möglich zu machen. Sie verbot es ihnen unter 40 Ludwig XIV., Ordonnance donnée à Saint-Germain-en-Laye au mois d’Avril 1667. Paris 1667, 114–156; zur Praxis der juristischen Expertise von Handwerkern im Frankreich des 16.Jahrhunderts Sabrina Dumoulin, Expertise judiciaire sur le fait du bâtiment. L’apport des artisans de la construction à Aix-en-Provence au cours de la seconde moitié du XVIe siècle. Quebec 2009; zum 18.Jahrhundert in Paris siehe Nicolas Lemas, Les hommes de plâtre. Contribution à l’étude du corps des experts-jurés Parisiens sur le fait des bâtiments au XVIIIe siècle, in: Paris et Île-de-France, Mémoires 54, 2003, 93–148. 41 Ludwig XIV., Ordonnance (wie Anm.40), Kap. XXI, Art. XIII, 150. 42 Ebd. Kap. XXI, Art. XI, 150. 43 So etwa Claude Joseph de Ferrière, Dictionnaire de droit et de pratique. Contenant l’explication des termes de droit, d’ordonnances, de coutumes & de pratique. Vol.1. Paris 1769, 578.
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Androhung hoher Bußen, „persönlich oder über ihre Bedienstete irgendwelche Geschenke von den Parteien anzunehmen, oder zu dulden, dass diese ihre Spesen vergüten“. 44 Damit erschien die Unbefangenheit der Experten sowohl in sozialer als auch in ökonomischer Hinsicht sichergestellt. Drei Jahre später erließ Ludwig XIV. eine entsprechende „Ordonnance“ für das französische Strafrecht. Die Berufung von Experten war hier den Richtern vorbehalten. 45 Zu ihren Hauptaufgaben gehörten die Erkennung von Handschriften und die Identifikation von Fälschungen. 46 Ihr Einsatz war nicht unbedingt auf die Bestimmung des Tatbestands beschränkt, sondern konnte auch noch nach der Urteilsverkündung gefragt sein. Wurde etwa die Todesstrafe über eine Frau verhängt, die in Erwartung zu sein vorgab oder schien, so musste sie von Hebammen (‚matrones‘) untersucht werden, „die ihr Gutachten in der vorgeschriebenen Form unter dem Titel von Experten“ einreichten. 47 Stellten diese eine Schwangerschaft fest, musste die Hinrichtung aufgeschoben werden, bis das Kind geboren war. Zwischen 1690 und 1700 wurden die Beschlüsse der beiden Edikte von 1667 und 1670 noch einmal überarbeitet und ausdifferenziert. Die größte Änderung erfolgte im Mai 1690 mit einem königlichen Edikt, das die traditionell von Maurern und Zimmerleuten ausgeführten Expertisen an Gebäuden auf eine neue Grundlage stellte. Es ordnete in der Stadt Paris die Gründung von fünfzig permanenten Ämtern für ‚experts jurez‘ an, von denen die eine Hälfte durch ‚architectes bourgeois‘ und die andere Hälfte durch ‚entrepreneurs‘ zu besetzen sei. Der Begriff ‚bourgeois‘ bezeichnete dabei nicht mehr eine höhere Standeszugehörigkeit, sondern nur noch eine höhere Unbefangenheit. Als „bürgerliche Architekten“ wurden nur jene zugelassen, die sich ausdrücklich und „par acte en bonne forme“ aus dem Baugeschäften zurückgezogen und keinerlei Beziehungen zu ‚entrepreneurs‘, das heißt allen im Bauwesen involvierten Fachleuten, unterhielten. Die fachliche Zuständigkeit und finanzielle Entlohnung der neuen, staatlich bestallten und bezahlten Experten wurde detailliert festgeschrieben, und allen anderen Personen wurde
44
„[...] de recevoir par eux ou par leurs domestiques aucuns presens des parties, ni de souffrir qu’ils les
défrayent.“ Ludwig XIV., Ordonnance (wie Anm.40), Kap. XXI, Art. XV, 151. 45
Ludwig XIV., Ordonnance donnée à Saint Germain en Laye au mois d’Aoust 1670. Pour les matieres
criminelles. Paris 1670, Kap. IX, Art.I, 46.
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46
Ebd. Kap. XIII, Art. IX, 44 u. Kap. IX, Art. XIII, 50.
47
„[...] qui feront leur rapport dans la forme prescrite au Titre d’Experts.“ Ebd. Kap. XXV, Art. XXIII, 149f.
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strikt untersagt, „Einfluss auf ihre Arbeit zu nehmen“ („d’entreprendre sur leurs fonctions“). 48 In den folgenden Monaten und Jahren wurden weitere Edikte erlassen, die entsprechende Ämter für andere Fachgebiete einrichteten und das neue System in den Provinzstädten etablierten. 1692 erhielten etwa die ‚médecins et chirurgiens jurés‘ offiziellen Expertenstatus, und ihre Befugnisse vor Gericht wurden 1699 in die Formel gefasst: „Auf Sachfragen antworten die Experten, auf Rechtsfragen antworten die Richter.“ 49 Es handelte sich dabei um einen leicht abgeänderten Lehrsatz aus dem englischen Common Law, den der Rechtsgelehrte Edward Coke um 1620 geprägt hatte. 50 Mit ihm wurde den Experten jegliche Mitsprache bei der gerichtlichen Urteilsfindung abgesprochen. Was aber hatte die Gründung von festen Expertenämtern motiviert? Die offizielle Antwort in der Ordonnance von 1690 lautete: Die von der Krone beschlossene Regelung von 1667, wonach der Richter im Fall der Uneinigkeit eines „Bourgeois“ und eines „Artisan“ einen anderen „Bourgeois“ als dritten Experten einberufen dürfe, habe „allerhand Personen, sehr häufig ohne ausreichende Erfahrung, Gelegenheit gegeben, sich in die Erstellung von Gutachten in den besagten Künsten und Berufen einzumischen, von denen sie weder praktische noch theoretische Kenntnisse besaßen, so dass die Unordnung aufgrund der Unfähigkeit dieser Sorte Experten noch zugenommen hat.“ 51 Um diese falsche Wahl zwischen befangener Kompetenz und unbefangener Inkompetenz zu überwinden, habe Ludwig XIV. die offiziellen Expertenämter geschaffen. Die offizielle Begründung, deren reformerischer Fortschrittsnarrativ über sechs Jahrzehnte später Eingang in den Artikel ‚Expert‘ der „Encyclopédie“ von Diderot
48 Was die Entlohnung angeht, wurden in einer ersten Phase sechs Livres für eine Bestandsaufnahme in Paris und sieben Livres in der „Banlieuë“ ausbezahlt; Le Cler-du-Brillet, Continuation du traité de la police. Vol.4: De la voirie. Paris 1738, 62f.; Noms & démeures des soixante Architectes-Experts-Juréz du Roy, créez par Edits des mois de May & Decembre 1690, in: Almanach National pour l’année 1721. Paris 1721, 262. 49 „Ad quaestionem facti respondent juratores, ad quaestionem juris respondent judices.“ Jacques Hureau u.a., L’expertise médicale en responsabilité médicale et en réparation de préjudice corporel. Paris 2005, 55. 50 Die Originalversion lautet „ad quaestionem facti non respondent judices, ad quaestionem juris non respondent juratores“; siehe Barbara J. Shapiro, A Culture of Fact. England 1550–1720. Ithaca 2003, 10. 51 „[...] à donné occasion à toutes sortes de personnes, très souvent sans expérience suffisante, de s’ingérer à faire des rapports dans lesdits arts & métiers dont ils n’ont ni pratique ni connoissance; ensorte que les désordres étant augmentés par l’incapacité de ces sortes d’Expertes“. Zitiert in Le Cler-du Brillet, Continuation (wie Anm.48), 63.
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und d’Alembert finden sollte, blendete gekonnt ein profaneres Handlungsmotiv der Krone aus: Die Einrichtung der Expertenämter diente auch als Mittel zur schnellen Geldbeschaffung in Zeiten steigender Staatsausgaben, musste doch ein Aspirant auf den Expertenstatus 6000 Livres entrichten. 52 Damit wurde auch die gerichtliche Gutachtertätigkeit von der Praxis des Ämterkaufs erfasst – mit dem Ergebnis, dass die Kompetenz zur offiziellen Expertise nicht nur ein käufliches, sondern auch ein erbliches Gut wurde. Um dabei den offiziellen Vorsatz der Reform nicht gleich wieder aufs Spiel zu setzen, mussten sich die zahlungswilligen Kandidaten einer mündlichen Prüfung unterziehen, die von vier Experten unter der Leitung des Polizeileutnants des Châtelet (des Pariser Lokalgerichts) durchgeführt wurde. Eine Frage war damit aber noch immer nicht geklärt: Wie konnte unter der neuen Regelung gewährleistet werden, dass die der Berufspraxis fernstehenden ‚experts bourgeois‘ die nötigen Fachkenntnisse für ihre Amtsaufgaben mitbrachten und diese im Amt auch weiterentwickelten? Die Frage stellte sich im neuen System umso dringender, als die Parteien und Richter nun ihre Experten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, aus den Reihen der Amtsträger wählen mussten. 53 Eine mögliche Antwort, die sich bereits in den letzten Regierungsjahren von Lud-wig XIV. und noch verstärkt in der Régence abzeichnete, war die Einbindung von gelehrten Akademiemitgliedern. Dazu ein Pariser Beispiel, wiederum aus dem Bauwesen, das in dieser Geschichte eine Pionierrolle einnahm: 1721 figurierten mit Germain Boffrand und Nicolas de Lespine gleich zwei Mitglieder der Académie Royale d’Architecture auf der Namensliste der ‚architectes experts bourgeois‘, wobei Lespine sogar als Vorsitzender (‚doyen‘) aller ‚expert jurés‘ aufgeführt wurde. 54 Die Verbindung von juristischer Gutachtertätigkeit und akademischer Gelehrsamkeit, ob in Personalunion oder mittels Kooperation, stand im Bauwesen spätestens seit 1715 auf einer soliden Basis. Nach dem Tod des Sonnenkönigs hatte sich die Acadé-
52
Hierzu und zum Folgenden siehe Lemas, Les hommes de plâtre (wie Anm.40); Antoine-Gaspard Boucher
d’Argis, Art.„Expert“, in: Denis Diderot/Jean le Rond d’Alembert (Eds.), Encyclopédie, ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers. Vol.6. Paris 1751, 301–304, hier 302; vgl. auch den kurzen, anonym verfassten Art.„Expert-Bourgeois“, ebd.304. 53
Noch 1780 formulierte David Hoüard: „In den Orten, wo es amtliche Experten gibt, kann man keine
anderen ernennen“ („Dans les lieux où il y a des Experts-Jurés, on ne peut pas en nommer d’autres“); David Hoüard, Dictionnaire analytique, historique, étymologique, critique et interprétatif de la coutume de Normandie. Vol.2. Rouen 1780, 209. 54
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Almanach Royal pour l’année 1721. Paris 1721, 262f.
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mie d’Architecture umorientiert, indem sie die Kontemplation über die klassische Architekturlehre zurückstellte und sich intensiv mit der Praxis der Bauplanung und -reglementierung auseinandersetzte. 55 Für diese von aufklärerischem Nützlichkeitsdenken inspirierte Interessenverlagerung war eine Beschäftigung mit den Rechtsgrundlagen des Bauwesens unerlässlich. Zu deren größten Früchten zählt eine zweiteilige, über sechshundertseitige Abhandlung mit dem Titel „Les loix des bâtiments suivant la coutume de Paris“. Sie erschien erst 1748 im Druck, an ihrem Ursprung aber stand eine in den 1720er Jahren vom „Architecte du Roi“ Antoine Desgodets (1653–1728) an der Académie d’Architecture gehaltene Vorlesung, die von seinem Schüler und späteren „architecte expert bourgeois“ Martin Goupy (†1765) mitgeschrieben, annotiert und posthum publiziert wurde. Goupy scheute sich in seinen Fußnotenkommentaren nicht, Aussagen des Akademikers von der Warte des Praktikers aus zu kritisieren und zu korrigieren. 56 Offenbar fühlte sich der Gerichtsexperte dem Gelehrten weder fachlich noch intellektuell unterlegen. Entsprechend standen auf dem Titelblatt die Namen beider Autoren, samt Angaben zu ihren offiziellen Funktionen. Das Werk von Desgodets und Goupy widerspiegelt nicht bloß eine enge Zusammenarbeit und wechselseitige Bereicherung von Gerichtsexperten und Akademikern, sondern auch eine Verwischung der Grenzen zwischen ihren Tätigkeitsgebieten. Den Aussagen der beiden Autoren zufolge hatten die Akademiker dabei den institutionell expansiven und die Gerichtsexperten den defensiven Part. Desgodets behauptet im vorderen Teil des Buches, man rechne zu den „Jurés ou Experts, & Gens à connoissans“ vor Gericht nicht nur amtlich ernannte Experten, sondern auch Architekten, erfahrene Bürger („bourgeois expérimentés“), Handwerker und andere Fachleute („gens connoisseurs“). 57 Die Behauptung veranlasste Goupy zu einer langen Fußnote, an deren Anfang er festhielt, dass sich Desgodets hier auf die Zustände
55 Wolfgang Schöller, Die „Académie Royale d’Architecture“ 1671–1793. Anatomie einer Institution. Köln/Weimar/Wien 1993, 192; Robert Carvais, L’ancien droit de l’urbanisme et ses composantes constructive et architecturale. Socle d’un nouvel „ars“ urbain aux XVIIe et XVIIIe siècles, in: Revue d’histoire des sciences humaines 12, 2005/1, 17–54, hier 37f.; Henry Lemonnier, Cinquante années de l’Académie royale d’Architecture (1671–1726), in: Journal des Savants 1915, 445–460, hier 451. 56 Antoine Desgodets/Martin Goupy, Les loix des bâtiments suivant la coutume de Paris. Lyon 1748, 48, 68 u. 149; zur Entstehung, zum Inhalt und zur Wirkung des Werkes siehe Carvais, L’ancien droit (wie Anm.55), 35–40. 57 Ebd.28.
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vor dem Edikt von 1690 beziehe, und an deren Ende er betonte, dass es seit 1690 „eine Vielzahl von Urteilen gegeben hat, die diese [das heißt die amtlichen] Experten in ihren Funktionen bestätigt haben, und die die Gutachten von Architekten, sogar solchen aus der königlichen Akademie, für nichtig erklärt haben.“ 58 Auf dem Papier mochte Goupy Recht haben, in der Praxis kam es aber durchaus vor, dass Akademiemitglieder als Gerichtsgutachter zugelassen wurden. Weiter hinten im Buch berichtet Desgodets von einem Grundstücksstreit aus dem Jahr 1718, in dem die Expertisen von zwei königlichen Architekten und Akademiemitgliedern „de la première classe“ erstellt worden seien. Da Lespine der „seconde classe“ angehörte, war also mindestens einer der Gutachter kein offizieller Experte. Desgodets’ Hinweis auf den akademieinternen Rang der Experten ist auch deshalb von Bedeutung, weil die Académie d’Architecture im Jahr 1717 neue Statuten erhalten hatte, die den Mitgliedern der ersten, nicht aber jenen der zweiten Klasse „les fonctions d’Entrepreneurs“ strikt untersagte. Es spricht viel dafür, dass diese Auflage der Unterscheidung zwischen ‚experts bourgeois‘ und ‚experts entrepreneurs‘ im Gerichtswesen nachempfunden war, wobei der Grund für ihren Erlass vor allem darin bestanden haben dürfte, die Unabhängigkeit von Akademikern als Gutachter für staatliche Bauprojekte sicherzustellen. 59 Derart als unabhängig ausgewiesen, kamen die Akademiker der ersten Klasse aber auch eher als Gerichtsexperten in Frage. Goupy jedenfalls setzte zu dieser Fallgeschichte von Desgodets ebenfalls eine lange Fußnote, in der er an der Schlussfolgerung der Akademiker kein gutes Haar ließ. 60 Allen Konflikten zum Trotz trieb die Annäherung zwischen akademischen Gelehrten und juristischen Sachverständigen, langfristig gesehen, sowohl die Verwissenschaftlichung der gerichtlichen Gutachterpraxis als auch die Institutionalisierung der gelehrten Regierungsberatung voran. Von den Verfahrensregeln, die heute für offizielle Experten und Regierungspolitiker gelten, lassen sich mindestens fünf auf den nach 1690 reformierten Justizbetrieb des Ancien Régime zurückführen: 1. Die systematische Anhörung von Sachverständigen nach festgeschriebenem Ablauf vor der Entscheidungsfindung; 58
„Il y a eu depuis nombre de Jugemens qui ont maintenu ces Experts dans leurs fonctions, & qui ont an-
nullé les Procès-verbaux faits par des Architectes, même de l’Académie Royale d’Architecture.“ Ebd.29. 59
Schöller, Die „Académie Royale d’Architecture“ (wie Anm.55), 170; die „Lettres-Patentes“ von 1717 sind
abgedruckt in: ebd.468–473; mit dem Punkt IV des 1. Artikels über das Praxisverbot der „Academiciens de la premiere Classe“, ebd.469. 60
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Ebd.331f.
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2. die strikte Rollentrennung zwischen Sachverständigen und Entscheidungsträgern, beruhend auf einem doppelten Interventionsverbot – jenem der Sachverständigen in die Urteilsfindung und jenem der Entscheidungsträger in die Begutachtung. 3. die Freiheit der Entscheidungsträger, die Einschätzungen der Berater anzunehmen oder abzulehnen 61; 4. die Sicherstellung der Unabhängigkeit und Unbefangenheit der Experten; 5. die Schaffung von offiziellen Ämtern für Experten zur Selektion und Statuserhöhung der Beratungsbefugten. Ist die Verwissenschaftlichung der Politik nach dem Modell des Gerichtsprozesses demnach als eine Forschrittsgeschichte zu verstehen, die rationalere und transparentere Entscheidungsstrukturen hervorgebracht hat? Wohl kaum: Bei aller Vorbildlichkeit des frühmodernen Justizbetriebs bewahrte der moderne Regierungsbetrieb eine ausgeprägte Resistenz gegen die strikten Abläufe und engen Rollendefinitionen eines Gerichtsprozesses. Weder gelehrte Berater noch regierende Politiker hatten ein Interesse daran, den Spielraum für informelle Interventionen aufzugeben. Zudem fiel es Gelehrten traditionell schwerer, die Autorität von Regierenden anzuerkennen als jene von Richtern. 62 Dementsprechend vage definierten Herrscher und Berater die Regeln ihrer Kooperation, und dementsprechend locker schnürten sie ihr Rollenkorsett. Diese stille Übereinkunft ermöglichte wohl flexiblere Entscheidungsabläufe, schuf aber auch große Grauzonen, viel Unsicherheit und jede Menge Konfliktstoff. Verwerfungen wie jene um David Nutt haben im offiziellen Expertenwesen daher etwas Unvermeidliches. Und sie haben eine lange Geschichte, wie sich ebenfalls schon am Beispiel des Ancien Régime zeigen lässt.
61 „Die Experten sind keine Richter; ihr Gutachten wird stets nur als eine Meinungsäußerung verstanden, um die Urteilsfähigkeit des Richters zu verbessern; dieser ist in nichts verpflichtet, der Meinung der Experten zu folgen.“ („Les experts ne sont point juges; leur rapport n’est jamais considéré que comme un avis donné pour instruire la religion du juge; & celui-ci n’est point astreint à suivre l'avis des experts.“); Boucher d’Argis, Art.„Expert“ (wie Anm.48), 304. 62 Zu den Transformationen gelehrter Machtphantasien in der Neuzeit vgl. Caspar Hirschi, Die Erneuerungskraft des Anachronismus. Zur Bedeutung des Renaissance-Humanismus für die Geschichte politischer Öffentlichkeiten, in: Martin Kintzinger/Bernd Schneidmüller (Hrsg.), Politische Öffentlichkeit im Spätmittelalter. Stuttgart 2011, 385–431; ders., Magistrate der Öffentlichkeit. Politische Selbstdarstellung aufklärerischer Gelehrter im Gewand antiker Autoren, in: Johannes Helmrath/Stefan Schlelein (Hrsg.), Macht Antike Politik? Politische Antiketransformationen in der Europäischen Geschichte (im Druck).
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V. Regierungsberatung und Regierungskritik in den königlichen Akademien Sucht man nach Vorläufern des offiziellen Experten im Staatsapparat des Ancien Régime, findet man sie am ehesten unter den Mitgliedern der königlichen Akademien. In Frankreich fiel die Gründungs- und Aufbauphase der Akademien in das späte 17. und frühe 18.Jahrhundert – den gleichen Zeitraum wie die Reform der Expertentätigkeit im Justizwesen. Von monarchischer Seite wurden den Akademien drei Hauptaufgaben auferlegt: Sie hatten für den König und seine Minister nützliches Wissen und praktische Herrschaftsinstrumente bereitzustellen; sie hatten mit ihren Werken und Entdeckungen den Ruhm der französischen Nation im Ausland zu mehren; und sie hatten Berufspraktiker und die Öffentlichkeit über den allgemeinen Nutzen und Fortschritt ihres jeweiligen Wissensgebietes zu instruieren. Das Diktat von Herrschaftsdienst und Nutzengenerierung war nicht auf praxisnahe Institutionen wie die Académie des Sciences und die Académie d’Architecture beschränkt. Die älteste Akademie des Königreichs, die 1635 gegründete Académie française, hatte von Anfang an den statuarisch festgeschriebenen Auftrag, „unserer Sprache sichere Regeln zu geben und sie rein, elegant und fähig zu machen, die Künste und Wissenschaften zu behandeln“. 63 Als ihre Mitglieder knapp sechzig Jahre später den ebenfalls in den Gründungsstatuten geforderten „Dictionnaire“ vorlegten, präsentierten sie ihn nicht nur als Erfüllung des ursprünglichen Auftrags, sondern auch als Instrument für die königliche Eroberungspolitik: Mit ihrer Arbeit, so die Autoren, erleichterten sie den unterworfenen Ausländern das Lernen der französischen Sprache. 64 Noch ausgeprägter war die herrschaftliche Indienstnahme der auf antiquarische Studien spezialisierten Académie des inscriptions et belles-lettres. Colbert hatte sie 1663 gegründet – als Forschungstrupp zur Auffindung und Erstellung von Dokumenten und Inschriften, die sich für die königliche Politik propagandistisch ausschlachten ließen. 65
63
„[...] à donner des règles certaines à notre langue et à la rendre pure, éloquente et capable de traiter les
arts et les sciences“; Statuts et Règlements de l’Académie Françoise, 23 février 1635, § XXIV. 64
Epistre au Roi, in: Dictionnaire de l’Académie française (wie Anm.36), Vol.1, fol.aiii r; vgl. dazu auch
Caspar Hirschi, Compiler into Genius. The Rise of the Dictionary Writer in Eighteenth Century France and England, in: André Holenstein/Hubert Steinke/Martin Stuber (Eds.), Scholars in Action. The Practice of Knowledge and the Figure of the Savant in the 18th Century (im Druck). 65
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Orest Ranum, Artisans of Glory. Writers and Historical Thought in Seventeenth-Century France. Cha-
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Hatten sich die Akademien zu Lebzeiten Ludwigs XIV. weitgehend den obrigkeitlichen Aufträgen untergeordnet, so strebten einige von ihnen nach dem Tod des Sonnenkönigs eine eigenständigere Position und eine interventionistischere Rolle an. Ihre reformerische Energie wurde dabei von einer breiten politischen Aufbruchsstimmung getragen, bedingt durch die ungewohnte Regierungskonstellation der Régence von Philippe d’Orléans sowie durch den weit verbreiteten Unmut über die politische Hinterlassenschaft des verstorbenen Königs. Nachdem ich die Neuorientierung der Académie d’Architecture um 1715 bereits im letzten Kapitel angesprochen habe, möchte ich im Folgenden zwei Figuren aus ihren prestigeträchtigeren Schwesterinstitutionen betrachten. Es sind dies RenéAntoine Ferchault de Réaumur (1683–1757) aus der Académie des Sciences und der mit ihm befreundete Charles-Irénée Castel de Saint-Pierre (1658–1743) aus der Académie française. Beide zählten zu Beginn der Régence zur ersten Garde der Pariser Gelehrten, wenn auch in verschiedenen Gebieten. Beide vertraten ein utilitaristisches Wissenschaftsideal, das den Wert neuer Erkenntnisse an ihrer politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Nutzbarkeit maß. Beide forderten eine engere Beziehung zwischen Herrschern und Wissenschaftlern im Allgemeinen und Ministern und Akademikern im Besonderen, um politische Probleme mit wissenschaftlichen Mitteln zu lösen. Beide aber gingen ganz unterschiedliche Wege, um ihre Reformpläne durchzusetzen. Réaumur hatte sich schon vor 1715 einen Namen als Insektenforscher, Metallurge und Mathematiker erworben, noch kaum aber als Meteorologe, als der er heute in erster Linie bekannt ist. Zudem besaß er als führendes Mitglied und zeitweiliger Präsident der Académie des Sciences bereits Erfahrung in der Leitung staatlicher Großaufträge, etwa zur Beschreibung und Verbesserung des französischen Manufakturwesens. Seine wissenschaftspolitischen Reformvorschläge legte er in einer Schrift ab mit dem Titel „Reflexionen über den Nutzen, den die Académie des Sciences für das Königreich erbringen könnte, wenn dieses ihr die Hilfe leisten würde, die sie benötigt.“ 66 Die wenigen Historiker, die sie untersucht haben, sind sich über ihre Entpel Hill 1980, 259–264; Jacob Soll, Jean-Baptiste Colbert’s Republic of Letters, in: Republics of Letters 1, 2009, 9: http://rofl.stanford.edu/node/28 (16.1.2012). 66 René-Antoine Ferchault de Réaumur, Réflexions sur l’utilité dont l’Académie des sciences pourroit être au Royaume si le Royaume luy donnoit les secours dont elle a besoin. Archives de l’Académie des Sciences. Paris, Fonds Réaumur 69 J, 68/10; eine Edition des Textes in: Ernest Maindron, L’académie des sciences. Paris 1988, 103–110.
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stehungszeit nicht einig. Roger Hahn datiert sie auf die letzten Jahre der Régence („around 1720“), Eric Brian mit besser nachvollziehbarer, aber nicht zwingender Begründung auf die frühe Regierungszeit Ludwigs XV. („entre le printemps 1726 et mars 1727“). 67 Wie wir sehen werden, kommt es für unser Argument nicht entscheidend darauf an, wem wir Glauben schenken wollen. Um die Datierungen zu diskutieren, müssen wir aber zuerst den Inhalt der Schrift thematisieren. Réaumur legte zuerst den politischen und wirtschaftlichen Nutzen der sechs Kernfächer der Akademie dar und stellte dann eine Reihe von Reformforderungen auf, damit der vielfältige Nutzen der Gesellschaft tatsächlich zum Tragen kommen könne. Ich will mich hier auf Letztere konzentrieren: Er verlangte, Akademiker zu amtlichen Inspektoren des Manufaktur- und Bauwesens zu ernennen und ihnen Einsitz im „Bureau de Commerce“ zu geben, wo die staatliche Wirtschaftspolitik beraten und beschlossen wurde. Diesen „Ermächtigungsantrag“ verknüpfte er mit der finanziellen Forderung an die Krone, die Akademie wie die Universitäten von Oxford und Cambridge mit einem beträchtlichen Grundbesitz („fonds de terre“) auszustatten, von dessen Erträgen sie ihre Mitglieder selbständig und beständig finanzieren könnte. Réaumur richtete sich damit gegen das Pensionsregime der Krone, das er für zu unsicher und aufgrund der Inflation für nicht mehr ausreichend hielt. Im Wunsch nach finanzieller Autonomie steckte auch ein Professionalisierungsanspruch: Akademiker sollten ihrer wissenschaftlichen Arbeit nachgehen können, ohne nebenher ihren Lebensunterhalt als praktizierende Ärzte, Apotheker oder Lehrer verdienen zu müssen. Dass mehr als die Hälfte der Mitglieder ihre akademischen Tätigkeiten bloß „comme des amusements“ ausüben konnten, hielt er für einen großen Nachteil. Insgesamt lief Réaumurs Reformschrift darauf hinaus, der Akademie eine autonome und professionelle Kontroll- und Lenkungsfunktion über all jene wirtschaftlichen und politischen Aktivitäten zu übertragen, die sie mit ihren eigenen Forschungen zu optimieren versprach. Réaumurs „Réflexions“ sind nicht nur wegen ihres zukunftsträchtigen Inhalts, sondern auch wegen ihrer unverblümten Rhetorik bemerkenswert. Die Schilderung
67
Roger Hahn, The Anatomy of a Scientific Institution. The Paris Academy of Sciences 1666–1803. Ber-
keley 1971, 68; Eric Brian, La mesure de l’état. Administrateurs et géomètres au XVIIIe siècle. Paris 1994, 183f.; Brians Datierung wird indirekt bekräftigt von Philippe Minard, Les savants et l’expertise manufacturière au XVIIIe siècle, in: Histoire et mémoire de l’Académie des sciences. Guide de recherches. Paris 1996, 311–318, hier 314.
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der Verhältnisse innerhalb der Akademie ist teilweise drastisch, die Kritik an den politischen Verantwortungsträgern scharf. Der Krone wurde beschieden, sie habe der Akademie „alle Vorteile entzogen, die sie von ihr hätte beziehen können“, und die Institution stehe „vor dem Absturz“ („près de sa chute“), wenn sie nicht von politischer Seite durch eine große Veränderung gestärkt werde. Der Ton der Schrift dürfte zum einen auf Réaumurs unangefochtene Machtposition innerhalb der Akademie und zum andern auf die ihr zugrundeliegende Zirkulationsabsicht zurückzuführen sein. Die Tatsache, dass von den „Réflexions“ nur noch eine Reinschrift im Archiv der Académie des Sciences erhalten ist und Hinweise auf ihre Kenntnisnahme durch die Akademiker in den Sitzungsprotokollen der Gesellschaft fehlen, gibt Anlass zur Vermutung, dass sie für ausgesuchte Adressaten in den Ministerien bestimmt war, die vom Tätigkeitsfeld der Akademie noch kein klares Bild hatten. Die Datierungsfrage bleibt auf dieser Grundlage unentschieden. Für 1719/20 sprechen zwei Tatsachen: Erstens stand Réaumur zu Philippe d’Orléans in einem besonderen Vertrauensverhältnis und konnte sich daher politisch mehr erlauben als nach der Machtübernahme Ludwigs XV., als er für politischen Sukkurs vom Hof auf die Fürsprache von Abbé Bignon angewiesen war, dem mächtigsten „honoraire“ in der Akademie. Zweitens sollte Réaumur am 20. September 1721 eine jährliche Pension in der sagenhaften Höhe von 12000 Livres zugesprochen erhalten (die meisten anderen „pensionnaires“ mussten sich mit 1000 bis 2000 Livres begnügen), mit der ausdrücklichen Begründung, er könne damit die Inventarisierung der handwerklichen und industriellen Techniken vorantreiben; im Dezember des gleichen Jahres folgte sogar eine Bestätigung, die Summe werde der Akademie nach Réaumurs Ableben weiterhin zur Verfügung stehen. Umgekehrt sprechen zwei andere Faktoren für 1726/27: Zum einen warteten die Pensionäre der Akademie seit 1723 vergeblich auf die ihnen zustehenden Zahlungen der Krone, was einige von ihnen in arge Nöte brachte, und zum andern tauchten Akademiker – „au titre d’experts“ – um 1730 erstmals im Budget des Bureau de Commerce auf, von dem sie von nun an für Nachforschungen ausgesandt, für die Redaktion von technischen Abhandlungen beigezogen und für die Bewertung von Erfindungen konsultiert wurden. 68
68 Die Angaben zu Réaumurs Pension und den wiederholten Bemühungen um ihre Aufrechterhaltung nach seinem Tod stehen im Register des „Comité de trésorerie“, 57f. Archives de l’Académie des Sciences, Paris; der Erlass vom 20.September 1721 im Inventaire des arrêts du Conseil du roi, E 2030, fol.201f., Archives Nationales, Paris; zur Einbindung der Akademiker im Bureau de Commerce siehe Hahn, Anatomy (wie
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Wie dem auch sei, eines lässt sich bei aller Unsicherheit über die Entstehungsumstände und die Rezeption der Schrift mit Gewissheit sagen: Dank der Adressierung eines exklusiven Leserkreises hat Réaumur mit seiner scharfen Kritik weder sich noch seinen Anliegen geschadet – im Gegenteil! Was dagegen passieren konnte, wenn man aus den geschützten Kommunikationskanälen zwischen Akademie und Hof ausbrach, hatte wenige Jahre zuvor Abbé de Saint-Pierre erlebt. Im Gegensatz zu Réaumur hatte Saint-Pierre seine Meriten als Gelehrter nicht auf dem Gebiet der Naturphilosophie, sondern der politischen Philosophie erworben. 1713 – im gleichen Jahr, als der Spanische Erbfolgekrieg im Frieden von Utrecht sein Ende fand – hatte er einen zweibändigen Traktat zur Errichtung eines universellen Friedens unter den Nationen Europas publiziert. Damals war Saint-Pierre schon achtzehn Jahre „unsterblich“, das heißt Mitglied der Académie française. 1718 legte er einen weiteren Reformvorschlag vor, diesmal mit Blick auf die französische Innenpolitik. Er gab ihm den Titel „Abhandlung über die Polysynodie“. 69 Mit dem griechischen Begriff der Polysynodie – frei übersetzt: die „Vielzahl der Versammlungen“ – bezog sich Saint-Pierre auf die Regierungsform der Régence zwischen 1715 und 1718. Angetrieben vom Widerstand des Hochadels gegen die neuadligen Minister Ludwigs XIV., hatte Philippe d’Orléans nach dem Tod des Sonnenkönigs die Minister und Staatssekretäre durch sieben Ratsgremien („conseils“) ersetzt und diese vorwiegend mit Vertretern des Hochadels gefüllt. An den staatlichen Machtverhältnissen hatte sich dadurch aber nicht viel geändert. Die Aufgabe der Ratsgremien beschränkte sich auf die Vorberatung der Geschäfte, die in dem von Philippe kontrollierten Regentschaftsrat („Conseil de Régence“) beschlossen wurden. 70 Saint-Pierres „Discours sur la polysynodie“ sah auf den ersten Blick wie eine Verteidigung dieser (zumindest der Form nach) deliberativen Regierungsform aus. Er präsentierte die Polysynodie als positives Gegenstück zur Einzelberatung des Mon-
Anm.67), 69, sowie Minard, Les savants (wie Anm.67), 314; zur Geldknappheit der Krone in den 1720er Jahren und den drastischen Konsequenzen für bestimmte Akademiker siehe David J. Sturdy, Science and Social Status. The Académie des sciences, 1666–1750. Woodbridge 1995, 371. 69 Charles Irénée Castel de Saint-Pierre, Projet pour rendre la Paix perpétuelle en Europe. Utrecht 1713; ders., Discours sur la Polysynodie. Où l’on démontre que la Polysynodie, ou pluralité des Conseils, est la forme de Ministère plus avantageuse pour un Roi, & pour son Royaume. Amsterdam 1719. 70
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Klaus Malettke, Die Bourbonen. Bd. 2: Von Ludwig XV. bis zu Ludwig XVI. Stuttgart 2008, 25f.
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archen durch einen Minister, das er mit der Bezeichnung „Vesirat“ in die Nähe einer islamischen Despotie rückte – für die Herrschaftsform des Sonnenkönigs zweifellos kein schmeichelhaftes Etikett! Allerdings brachte der „Discours“ indirekt auch eine Missbilligung der Régence zum Ausdruck, hatte doch Saint-Pierres Ideal der Polysynodie mit ihrer Realität unter Philippe d’Orléans wenig gemein. Anstatt eines deliberativen Pluralismus, der den Altadel zurück in die Vorzimmer der Macht brachte, schlug er – ähnlich wie Réaumur – eine moderne Herrschaftsberatung durch Expertengremien vor. Der nützliche Ratgeber zeichnete sich ihm zufolge durch Sachwissen, Freiheit und Unabhängigkeit („liberté & indépendance“), nicht durch Geburtsprivilegien aus. 71 Die Diskussionsnormen für die Ratssitzungen entwarf er nach den frühaufklärerischen Idealen des gelehrten Austausches: Egalität unter den Beratern, Rationalität des Arguments, möglichst viel Widerspruch und möglichst wenig persönliche Befangenheit. 72 Den potentiellen Einwand, eine solche Ordnung destabilisiere die Standeshierarchien, konterte Saint-Pierre mit dem Vorbild der Akademien: „Wir haben in der Académie française Kardinäle, Marschälle und Herzöge, die nichts von ihrem Rang verlieren, den sie anderswo tragen, wenn sie in der Akademie unterhalb eines einfachen Akademikers sitzen und präsidiert werden von einem Mann, der niedrig geboren und sogar später in die Akademie aufgenommen worden ist als sie.“ 73
Passend zu diesen Äußerungen definierte Saint-Pierre Politik als eine „science“ und maß Politiker an ihrer „grandeur d’esprit“, die nicht allein durch angeborene Anlagen und eine gute Ausbildung erworben werde, sondern „noch die Lektüre der besten Werke über die Materie, ein intensives Nachdenken über diese Lektüren und häufige Diskussionen mit jenen, die das gleiche Studium betreiben“, verlange. 74 Im „Discours sur la Polysynodie“ fehlten noch einige Aspekte von Saint-Pierres
71 Saint-Pierre, Discours (wie Anm.69), 70. 72 Ebd.28 u. 70. 73 „Nous avons dans l’Académie Françoise des Cardinaux, des Maréchaux de France, & des Ducs-Pairs, qui ne perdent rien du rang qu’ils tiennent ailleurs pour être assis à l’Academie, au dessous d’un simple Academicien, & présidez par un homme sans naissance, & même moins ancien de reception.“ Ebd.186, Hervorhebung im Original. 74 „La grandeur d’esprit demande non seulement une heureuse naissance du côté des organes, & une bonne éducation dans la première jeunesse; mais elle demande encore la lecture des meilleurs ouvrages sur la matière, beaucoup de méditation sur ces lectures, & des disputes fréquentes avec ceux qui font la même étude.“ Ebd.153.
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späteren innenpolitischen Reformschriften, etwa die Forderung nach einer Konzentration der staatlichen Wissenschaftsförderung auf rein nutzenorientierte Zwecke 75, der Aufruf zur Abschaffung der Erblichkeit vieler Ämter 76 oder der Vorschlag zur Errichtung einer Académie politique, die mit den „Aufgeklärtesten in den Staatswissenschaften“ („les plus eclairez dans la science du Gouvernement“) zu besetzen und mit der Ausbildung und Rekrutierung des Staatspersonals zu betrauen sei. 77 Aber auch ohne diese Argumente enthielt der „Discours“ mit seiner expliziten Kritik am Regierungssystem des Sonnenkönigs und seiner impliziten Kritik an der Régence von Philippe d’Orléans reichlich politischen Sprengstoff. Zum Knall konnte es allerdings nur kommen, weil sich Saint-Pierre – anders als Réaumur – entschied, die Schrift zu veröffentlichen. Im Vorwort rechtfertigte er diesen Schritt als Akt eines „bon citoyen“, der die Wertschätzung für die Régence vergrößern und seiner Forderung nach einer breiten wissenschaftlichen Diskussion über politische Leitfragen selber nachkommen wolle. 78 Mit anderen Worten: Saint-Pierre wagte das Experiment, zugleich als offizieller Experte in seiner Würde als Akademiker und als öffentlicher Kritiker in seiner Rolle als vorbildlicher Staatsbürger aufzutreten. Seine schriftliche Einladung zur öffentlichen Deliberation mit sachlichen Argumenten wurde jedoch von kaum einem Leser angenommen, am wenigsten von den Adressaten an den Schalthebeln der Macht. Als der „Discours“ 1718 erschien, war Philippe d’Orléans bereits mit der Abschaffung der umständlichen und konfliktträchtigen Polysynodie beschäftigt. Die Schrift war für ihn daher nicht nur wegen ihres Inhalts und ihrer Verbreitungsform, sondern auch wegen ihres Erscheinungstermins ärgerlich. Anstatt Saint-Pierres Rollenkombination von offiziellem Experten und öffentlichem Kritiker Zeit und Raum zu gewähren, ließ er an ihm ein Exempel statuieren. Im gleichen Jahr wurde Saint-Pierre aus der Académie française ausgeschlossen. Eine solche Sanktion war zuvor erst einmal ausgesprochen worden, 75
Saint-Pierre, Observations (wie Anm.1), 135–137.
76
Ebd.32, 78 u. 108.
77
Ebd.18 u. 27f.; tatsächlich hatte es zwischen 1712 und 1720 eine Académie politique gegeben, die sich
im Louvre der Ausbildung zukünftiger Diplomaten widmete, dabei aber nie den institutionellen Rückhalt erhielt, den sie zum Überleben gebraucht hätte. Siehe Joseph Klaits, Men of Letters and Political Reform in France at the End of the Reign of Louis XIV. The Founding of the Académie Politique, in: Journal of Modern History 43, 1971, 577–597; zu Saint-Pierres späteren politischen Schriften siehe auch Olaf Asbach, Staat und Politik zwischen Absolutismus und Aufklärung. Der Abbé de Saint-Pierre und die Herausbildung der französischen Aufklärung bis zur Mitte des 18.Jahrhunderts. Hildesheim 2005. 78
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Saint-Pierre, Discours (wie Anm.69), fol.A4 r / unpag. (17–20).
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1685 gegen Antoine Furetière (1619–1688), und damals hatte sie der Betroffene mit dem Fall aus den wichtigsten Patronagenetzwerken bezahlt. Bemerkenswert an Saint-Pierres Schicksal ist nun aber, dass er nach dem Rauswurf aus der Académie française wegen des „Discours sur la Polysynodie“ kaum mehr weiter behelligt wurde. Seine Freundschaften zu anderen Akademikern dauerten an; seine adligen Gönner hielten ihm die Stange; die Türen zu den Pariser Salons blieben für ihn offen; seine Reformschriften zur französischen Innenpolitik konnten weiterhin in Holland erscheinen und in Frankreich gelesen werden. Berücksichtigt man zudem, dass Saint-Pierre seine Vorschläge zur Verwissenschaftlichung der französischen Politik im weiteren Verlauf seines Lebens noch radikalisiert hat, so spricht einiges dafür, dass im Jahr 1718 das eigentlich Irritierende für die französische Regierung Saint-Pierres Kombination der öffentlichen Kritiker- mit der offiziellen Expertenrolle gewesen ist. Die Entwicklung der königlichen Akademien im weiteren Verlauf des 18.Jahrhunderts gestaltete sich in vielem nach Réaumurs und Saint-Pierres Vorstellungen. In der Académie des Sciences zum Beispiel wurden Patentanträge und Forschungsaufträge von fest institutionalisierten Kommissionen abgewickelt, in denen die jeweiligen Spezialisten der Akademie Einsitz hatten. Kurz vor der Revolution, im Jahr 1788, rekapitulierte der einflussreiche Chemiker, Biologe und Ökonom Antoine Lavoisier (1743–1794) die Expansionsgeschichte der Gesellschaft wie folgt: Die Akademie sei eingerichtet worden, um für den König neue Erfindungen zu prüfen, doch habe sie sich dank dem Vertrauen der Öffentlichkeit mit der Zeit zu einem freiwilligen Tribunal („tribunal volontaire“) für Privatpersonen erweitert. Im Zuge ihrer Beschreibung der Techniken und Wissenschaften habe sie ihre Gerichtsbarkeit („juridiction“) noch erheblich ausgedehnt, indem sie regelmäßig vom Parlement (dem obersten Gerichtshof) und vom Lieutenant général de Police (dem obersten Polizeikommandanten) konsultiert worden sei. 79 Dass die Doppelfunktion der Akademie als Beratungsinstitut für die Krone und Quasi-Gerichtshof für die Gesellschaft ihre organisatorische Struktur herausforderte und teilweise überforderte, ließ Lavoisier in einem anderen Schreiben durchblicken, als er eine klare Arbeitsteilung zwischen den Kommissionen und der Gesamtkörperschaft forderte – und dabei wiederum den Justizbetrieb als Vorbild bemühte: 79 Antoine-Laurent de Lavoisier, Rapport sur une contestation relative à un cercle destiné à servir d’horizon, 27.Mai 1788, in: Éduard Grimaux (Ed.), Œuvres de Lavoisier. Vol.4. Paris 1868, 495–497, hier 496.
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„In allen existierenden Tribunalen hat der Gutachter seine Meinung, die Staatsanwaltschaft gibt ihre Schlüsse; wie aber auch immer das Urteil ausfällt, die einzelnen Meinungen werden weder geändert noch angepasst; aus der in der Akademie angenommenen Gewohnheit, den Bericht der Kommissionsmitglieder mit dem Urteil der Akademie zu verwechseln oder vielmehr gleichzusetzen, scheinen mir alle unsere Schwierigkeiten zu erwachsen. Jene Schlussfolgerungen, die einem Kommissionsgutachten gut stehen, können sich nachteilig auswirken, wenn man sie als ein Urteil der Akademie betrachtet und umgekehrt. Die Folgerungen der Kommissionsmitglieder können von einer gewissen Ausführlichkeit sein; sie müssen darlegen, was an einer Erfindung gut und nützlich ist; und sie können Ermutigungen und Lob anbringen. Das Urteil der Akademie aber muss strenger und konziser sein; es darf nicht höflich, sondern muss allein gerecht sein.“ 80
In Lavoisiers Klage über die inkonsequente Befolgung der Experten- und Richterrollen innerhalb der Académie des Sciences kündigen sich bereits die organisatorischen Schwierigkeiten und funktionalen Spannungen an, die das offizielle Expertenwesen im modernen Regierungsbetrieb prägen sollten.
VII. Großbritannien: eine widerspenstige Schülerin Frankreichs? In meinen bisherigen Ausführungen habe ich Frankreich, angefangen mit der Begriffsgeschichte von ‚expert‘ und abgeschlossen mit der Institutionengeschichte der Akademien, eine Pionierrolle bei der Etablierung einer offiziellen Expertenkultur zugeordnet. Um diese Zuordnung zu untermauern, möchte ich abschließend noch
80
„Dans tous les tribunaux existants, le rapporteur a son avis, le ministère public donne ses conclusions;
mais, quel que soit le jugement, ces opinions particulières ne sont ni changées, ni réformées; c’est de cet usage adopté à l’Académie de confondre, ou plutôt d’identifier le rapport des commissaires avec le jugement de l’Académie, que me paraissent naître toutes nos difficultés. Telles conclusions, qui sont bonnes comme avis particulier des commissaires, sont susceptibles d’inconvénients, en les considérant comme un jugement de l’Académie et réciproquement. Les conclusions des commissaires peuvent être de quelque étendue; elles doivent rappeler ce qu’il y a de bon et d’utile dans une invention; on y peut admettre des encouragements et des éloges. Mais le jugement de l’Académie doit être plus sévère et plus concis; il ne doit point être poli, mais seulement juste.“ Ders., Mémoire sur les rapports Académique, in: Éduard Grimaux (Ed.), Œuvres de Lavoisier. Vol.6. Paris 1893, 48–50, hier 49.
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einmal den Ärmelkanal überqueren und die Organisation der wissenschaftlichen Regierungsberatung in Großbritannien in den Blick nehmen. Auch hier werde ich mich auf die Organisation der Akademien und das Rollenverständnis ihrer Fellows konzentrieren, wobei ich der Royal Society aufgrund ihrer überragenden Bedeutung am meisten Aufmerksamkeit schenke. Selbstverständlich kann es dabei nicht um eine Gesamtanalyse dieser Institution, sondern nur um die Herausarbeitung der markantesten Unterschiede ihrer Regierungsberatung im Vergleich zu den französischen Akademien gehen. 81 Anders als in Frankreich standen englische Akademiemitglieder, auch die Fellows der Royal Society, weder unter staatlicher Aufsicht noch in staatlichem Sold. In der Regel hatten sie bei ihrer Gründung ein – meist eher bescheidenes – königliches Startkapital erhalten, danach mussten sie ihr Geld selber auftreiben. Haupteinkommensquelle waren dabei die eigenen Fellows, handle es sich bei diesen nun um Mäzene, Wissenschaftler oder um beides. Schiere Größe konnte dabei ein finanzieller Stabilisierungsfaktor sein, was dazu beigetragen haben mag, dass die Royal Society im 18.Jahrhundert bis zu zehnmal mehr Mitglieder hatte als die Académie des Sciences. 82 In der Royal Society dominierten auch Angehörige des Landadels bzw. solche, die sich einen landadligen Lebensstil leisten konnten. Entsprechend inszenierten sie sich als ‚Gentlemen Amateurs‘ und führten diesen Status als Garantie für eine von pekuniären Interessen, politischen Abhängigkeiten und sozialen Ambitionen reine und damit freie Wissenschaft an. Die Figur des ‚Gentleman Amateur‘ trug, wie Steven Shapin und andere gezeigt haben, wesentlich zur Glaubwürdigkeit und zum Erfolg der Naturphilosophie im England des 18.Jahrhunderts bei. 83 Sie erwies sich ebenso attraktiv für experimentierende Physiker im Laboratorium wie für botanisierende Naturhistoriker in der Südsee. Zudem diente die Figur der nationalistischen Überhöhung englischer Wis81 Für einen umfassenderen, wenn auch nicht erschöpfenden Vergleich siehe James E. McClellan III, Science Reorganized. Scientific Societies in the Eighteenth Century. New York 1985, 48–51, 58–61 u. 162– 169. 82 Maurice Crosland zählt für das späte 18.Jahrhundert 500 Fellows der Royal Society und 50 Mitglieder der Académie des Sciences („plus a dozen honorary members who were non-working members of the Academy“). Maurice Crosland, Relationships between the Royal Society and the Académie des Sciences in the Late Eighteenth Century, in: Notes and Records of the Royal Society of London 59, 2005, 25–34, hier 27 u. 33. 83 Steven Shapin, A Social History of Truth. Civility and Science in Eighteenth Century England. Chicago/ London 1994, 122–124; ders., The Man of Science, in: Katharine Park/Lorraine Daston (Eds.), The Cambridge History of Science. Vol.3: Early Modern Science. Cambridge 2006, 179–191, hier 189f.
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senschaftler über ihre kontinentalen Kollegen. 1785 stellte Joseph Banks (1743– 1820), der die Royal Society während 41 Jahren präsidierte, einen Vergleich zwischen der Royal Society auf der einen und der Académie des Sciences sowie der Preußischen Akademie der Wissenschaften auf der anderen Seite an: „Beide dieser Akademien wurden anscheinend in Nachahmung der unsrigen eingerichtet, soweit es die jeweiligen Regierungen zuließen: Es handelt sich bei ihnen um Gelehrtengesellschaften, die von den jeweiligen Monarchen zusammengesetzt werden und sich beständig aufgefordert sehen, jene Fragen zu beantworten, die ihnen ihre Regierungen gerade vorlegen und die sie unbedingt beantworten müssen, was auch immer sie zum Inhalt haben, bedingt durch die Pensionen, die ihnen nach dem Willen des Monarchen gewährt werden. Im Gegensatz dazu sind wir eine Versammlung freier Engländer, gewählt von unsereiner und gefördert auf unsere eigenen Kosten. Wir nehmen keine Pension oder andere Vergütung an, die uns in irgendeiner Hinsicht zu Befehlsempfängern eines Regierungsdepartements machen könnte, so mächtig dieses auch sein möge. [...] Wir haben uns gesamthaft widersetzt, wenn uns unsere Regierung zu Entscheidungen aufgefordert hat.“ 84
Um diese Behauptung aufzustellen, musste Banks allerhand ausblenden, und zwar diesseits wie jenseits des Ärmelkanals. Wie sich seine Darstellung der Académie des Sciences zu deren Realität verhielt, brauche ich nicht mehr darzulegen. Was die Royal Society angeht, so hatte diese in den Jahren zuvor mehrere Staatsaufträge im Auftragsvolumen von mehreren tausend Pfund eingeholt. Banks selbst hatte die verstärkte Zusammenarbeit der Gesellschaft mit der Regierung durch geschickte Lobbyarbeit vorangetrieben und dabei gegenüber Parlamentariern auch die Klage angestimmt, dass die „Akademien jener Nationen, die unsere Konkurrenten in den
84
„Both of these academies appear to have been instituted in Imitation of ours as nearly as the policy of
the respective governments would allow: they are associations of learned men collected together by their respective monarchs, constantly calld upon to answer such Questions as their Government think proper to put to them & held to the necessity of answering them whatever they might be by Pensions granted at the will of the Monarch. By contrast, we are a set of Free Englishmen, elected by each other & supported at our own expence without accepting any pension or other emolument which can in any point of view subject us to receive orders or directions from any department of Government be it ever so high [...] we have uniformly resisted when our Government have calld upon us for decisions.“ Joseph Banks, Brief an Joseph Ludwig Nikolaus von Windisch-Graetz, 2.Juni 1785, zitiert nach John Gascoigne, The Royal Society and the Emergence of Science as an Instrument of State Policy, in: British Journal for the History of Science 32, 1999, 171–184, hier 182.
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Wissenschaften sind, von ihren Regierungen mit einem Aufwand unterstützt werden, der Eurer Lordschaft unvorstellbar erscheinen mag“. 85 Tatsächlich wurden die gesteigerten Investitionen der britischen Regierung in die Royal Society seit den frühen 1770er Jahren wesentlich von der Angst geschürt, die britische Wissenschaft gerate gegenüber der französischen wegen der großzügigen Wissenschaftsförderung des französischen Staates ins Hintertreffen. Die britischen Akademien zeichneten sich also, anders als es Banks darstellte, gegenüber ihren französischen Pendants nicht unbedingt durch eine größere Distanz und Unabhängigkeit vom Staat aus. Der wesentliche Unterschied bestand vielmehr im inoffiziellen und informellen Charakter ihrer Beziehung zu politischen Entscheidungsträgern. In der Royal Society mussten die Fellows, um das Rollenspiel als ‚Gentlemen Amateurs‘ aufrechtzuerhalten, ihre staatliche Auftragsarbeit als freiwilligen Dienst darstellen, und das hieß nicht nur, ihre Arbeit unentgeltlich zu erledigen, sondern auch, eine sichtbare Institutionalisierung ihrer Regierungsberatung zu verhindern. Anstatt durch offizielle Organisationsstrukturen wurde die Beziehung zwischen Akademikern und Politikern durch aristokratische Verhaltensnormen geregelt, kam doch die Mehrheit der Parlamentarier aus den gleichen privilegierten Kreisen wie die Naturphilosophen. Aufgrund ihrer inoffiziellen Struktur war die wissenschaftliche Regierungsberatung in Großbritannien zwar flexibler und oft auch effizienter als in Frankreich, zugleich war sie aber auch limitierter und kritikanfälliger. Der Royal Society etwa gelang es im Unterschied zur Académie des Sciences trotz wiederholter Anstrengungen nicht, die Funktion eines staatlichen Patentamtes für technische Innovationen zu erhalten. Ebenso unrealisiert blieben die von Francis Bacon inspirierten Pläne einer „History of Trades“, die stattdessen von der Académie des Sciences in den monumentalen „Descriptions des arts et métiers“ ausgeführt und bereits lange vor ihrer Publikation – etwa unter Réaumur – zur Intervention in Handwerksberufe und Manufakturen benutzt worden waren. 86 Was die Zusammenarbeit der Royal Society mit staatlichen Behörden anging, standen bis gegen Ende des 18.Jahrhunderts nur 85 „The Academies of the Nations who are our Rivals in Sciences are cherished by their respective Governments at an expence which to their Lordships may [...] appear incredible.“ Banks, Brief an einen unbekannten Adressaten, 1781, zit. nach Gascoigne, The Royal Society (wie Anm.84), 183. 86 Académie Royale des Sciences, Description des arts et metiers. 27 Vols. Paris 1761–1788; Robin Briggs, The Académie Royale des Sciences and the Pursuit of Utility, in: Past & Present 131, 1991, 38–88, hier 63–65; John Gascoigne, Science in the Service of Empire. Joseph Banks, The British State and the Uses of Science in the
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die Beziehungen zur „Admiralty“ und zum „Board of Ordnance“ auf einer festen, das heißt nicht bloß personenbezogenen Basis. 87 Die Anfälligkeit der Royal Society für öffentliche Kritik hatte schließlich direkt mit ihrem Ruf als Bastion von ‚Gentlemen Amateurs‘ zu tun. Je lauter und umfassender im 18.Jahrhundert nämlich die Nützlichkeitsforderungen an die Wissenschaften gestellt wurden, desto problematischer erschien die distanzierte Haltung, die die aristokratischen Amateure der Gesellschaft zur Instrumentalisierung ihrer Erkenntnisse für politische und wirtschaftliche Zwecke einnahmen. Es gehörte gerade zum Privileg und Wesensmerkmal eines Amateurs, dass er seine Erkenntnisinteressen auf Gegenstände richtete, die frei von jedem Anwendungsbezug waren. Seine Studien sollten ungezwungene Liebhabereien sein; sie durften sich wohl als nützlich erweisen, nicht aber als nützlich intendiert sein. Banks wurde die offene Flanke seines Amateurstatus zwischen 1783 und 1785 schmerzhaft vorgeführt, als er von prominenten Mathematikern der Royal Society in einen öffentlichen Disput verwickelt wurde, den diese als „a struggle of the men of science against the Macaronis of the Society“ beschrieben. Der Begriff des ‚Macaroni‘ war ein geläufiges Schimpfwort für Aristokraten, die sich angeblich auf der Grand Tour in italianisierte Gecken verwandelt hatten und zurück im Mutterland mit modischem Firlefanz, extravaganten Attitüden und eitel-nutzlosen Liebhabereien auf sich aufmerksam machten. 88 Mit diesem Etikett, das Banks schon Anfang der 1770er Jahre in einer Karikatur angeheftet worden war, versuchten die selbst ernannten ‚men of science‘ einen rhetorischen Keil zwischen Amateurismus und Wissenschaftlichkeit zu treiben. Samuel Horsley (1733–1806), der Herausgeber von Newtons Werken und Anführer des Widerstands gegen Banks und seine Entourage, fällte über Banks das vernichtende Urteil: „Die Wissenschaft war nie eklatanter beleidigt worden als durch die Erhöhung eines bloßen Amateurs auf den Sitz, den einst Newton besetzt hatte.“ 89
Age of Revolution. Cambridge 1998, 19; zur „History of Trades” siehe Kathleen H.Ochs, The Royal Society of London’s History of Trades Programme. An Early Episode in Applied Science, in: Notes and Records of the Royal Society of London 39, 1985, 129–158, hier 151. 87 Gascoigne, The Royal Society (wie Anm.84), 181; ders., Science (wie Anm.86), 29. 88
Gascoigne, Joseph Banks and the English Enlightenment. Useful Knowledge and Polite Culture. Cam-
bridge 2003, 61f. 89
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„Science had never been more signally insulted than by the elevation of a mere amateur to occupy the
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Dass sich die Figur des ‚Gentleman Amateur‘ wohl zur Etablierung einer inoffiziellen Expertenpraxis, aber kaum zur Entwicklung einer offiziellen Expertenkultur eignete, zeigte sich auch im britischen Gerichtswesen, wo die Anhörung von Wissenschaftlern als Zeugen 1782 im spektakulären Haftpflichtprozess „Folkes v. Chadd“ über einen ausgetrockneten Hafen in Norfolk auf eine systematische Grundlage gestellt wurde. 90 Waren Sachverständige zuvor in der Regel als Geschworene oder als Berater des Gerichts befragt worden, so führte die Regelung der wissenschaftlichen Gutachtertätigkeit in „Folkes v. Chadd“ dazu, dass Wissenschaftler vorwiegend als Zeugen der Parteien aufgerufen wurden. In dieser Neuausrichtung spiegelte sich eine umfassendere Machtverschiebung im Prozesswesen des britischen Common Law von den Richtern hin zu den Parteien. Es handelte sich dabei um einen interessanten, bisher wenig beachteten Parallelvorgang zur Etablierung des Parteiensystems im politischen Betrieb des Königreichs. Die Etablierung des wissenschaftlichen Sachverständigen im Gericht schlug sich bald auch in der Übernahme des Expertenbegriffs aus dem Französischen nieder. 91 Für ‚Gentlemen Amateurs‘ war dieser neue Titel eine ambivalente Errungenschaft. Einerseits galten sie aufgrund der ihnen zugeschriebenen Eigenschaften der wirtschaftlichen Unabhängigkeit, moralischen Unbestechlichkeit und politischen Unbefangenheit als ideale Besetzung für Auftritte als Expertengutachter vor Richtern und Geschworenen. Andererseits setzten sie mit eben diesen Auftritten ihren guten Ruf aufs Spiel, erschienen sie doch in aller Öffentlichkeit als Parteienvertreter und mussten zudem wiederholt die Erniedrigung ertragen, dass ihre Expertenmeinung vom Gericht in den Wind geschlagen wurde. 92 Insgesamt spricht vieles dafür, dass die offizielle Expertenkultur Großbritanniens, wie wir sie am Beispiel der Kontroverse um David Nutt analysiert haben, erst durch eine widerstrebende Anpassung an französische Modelle im späten 19. und
chair once filled by Newton.“ [Anonymus,] The Right Hon. Sir Joseph Banks, K.B., in: The Annual Biography and Obituary for the Year 1821. Vol.5. London 1821, 97–120, hier 104. 90 Dazu und zum Folgenden Tal Golan, Laws of Men and Laws of Nature. The History of Scientific Expert Testimony in England and America. Cambridge, Mass./London 2004. 91 Nach Golan war es die vierte Ausgabe von Gilbert’s „Law of Evidence” von 1795, die das Thema des wissenschaftlichen Expertengutachtens im Gericht erstmals eigens diskutierte und dabei feststellte: „The proof from the Attestation of Persons on their Personal Knowledge, we may properly, with the French Lawyers, call proof by Experts.“ Ebd.53. 92 Ebd.49f.
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20.Jahrhundert Gestalt angenommen hat. Zwar betonen offizielle Experten der britischen Regierung noch heute gerne, dass sie ihren Beratungsauftrag unbezahlt ausführen, und versuchen, daraus für sich einen Unabhängigkeitsgewinn abzuschöpfen, aber sie tun dies in der Regel als öffentliche Angestellte an britischen Universitäten und stehen damit den Staatspensionären an französischen Akademien weit näher als den ‚Gentleman Amateurs‘ im britischen Wissenschaftsbetrieb des 18.Jahrhunderts.
VII. Fazit Offizielle Experten bewegen sich im modernen Staat in einem Spannungsfeld von antagonistischen Kräften, die wesentlich durch Ungereimtheiten zwischen der Ideologie und der Funktion der wissenschaftlichen Regierungsberatung hervorgerufen werden. Besagt die Ideologie, dass offizielle Experten kraft ihres Sachwissens und ihrer Unabhängigkeit der Regierung bestmögliche Entscheidungsgrundlagen gewährleisten, so besteht ihre Funktion auch und vor allem darin, kraft ihrer öffentlichen Autorität Regierungsentscheiden eine nachträgliche Legitimation zu verleihen – wenn möglich auch dann, wenn sie diese zuvor nicht empfohlen haben. Wie der vorliegende Aufsatz im ersten Teil am Beispiel eines zeitgeschichtlichen Falles, der Kontroverse um die Entlassung des britischen Drogenexperten David Nutt, gezeigt hat, weist dieses Spannungsfeld eine bemerkenswerte Stabilität auf. Sie ist zum einen darauf zurückzuführen, dass Politiker und Experten für die Aufrechterhaltung ihrer öffentlichen Anerkennung zu gleichen Teilen auf die Ideologie der wissenschaftlichen Regierungsberatung angewiesen sind. Wird sie durch bestimmte Ereignisabläufe wie Nutts öffentliche Regierungskritik und nachträgliche Entlassung unbeabsichtigt bloßgelegt, so sorgen Politiker wie Experten schnell dafür, sie unter Wahrung des eigenen Gesichts gemeinsam zu retten. Genau das geschah in der Affäre Nutt: Anstatt die Diskrepanz zwischen Ideologie und Funktion der offiziellen Expertise zu thematisieren und zu problematisieren, führte man eine Diskussion um hehre Beratungsprinzipien wie „wissenschaftliche Unabhängigkeit“, „akademische Freiheit“ und „Vertrauen“ und bekräftigte damit die unverbrüchliche Geltung jenes Glaubenssystems, das soeben wieder einmal in die Brüche gegangen war. Zum anderen beruht die spannungsgeladene Stabilität der offiziellen Experten-
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Historische Zeitschrift //
BEIHEFT
57 / 2012
kultur, wie der Aufsatz im zweiten Teil dargelegt hat, darauf, dass sie sich in einem Prozess von langer Dauer seit dem frühen 18.Jahrhundert herausgebildet hat. Ihr ursprüngliches Organisationsmodell geht auf das französische Gerichtswesen des Ancien Régime zurück. In einem Modernisierungsschub am Ende des 17.Jahrhunderts wurde die Rekrutierung und Anhörung von Sachverständigen in zivil- und strafrechtlichen Prozessen umfassend geregelt: Die Gerichtsexperten wurden mit erblichen Ämtern und damit einem offiziellen Status ausgestattet; die Anforderungen an ihre Unbefangenheit und Sachkompetenz wurden festgeschrieben und gegeneinander abgewogen; die Kompetenzen von Richtern und Experten wurden scharf voneinander geschieden. Zu ersten Übertragungsversuchen der gerichtlichen Entscheidungsstrukturen auf die wissenschaftliche Herrschaftsberatung kam es schon nach 1715 während der Régence, begünstigt durch ein verstärktes Interesse der Akademien an der Gerichtspraxis. Die gelehrten Entwürfe einer Regierungspolitik, die nach den Regeln eines Tribunals organisiert war, verschränkten sich mit dem aufklärerischen Traum einer nach wissenschaftlichen Kriterien durchrationalisierten Lebensführung. Bereits im französischen Ancien Régime und noch verstärkt in der Moderne erwies sich die strikte Ordnung des Gerichtsbetriebs aber nur bedingt kompatibel mit den flexiblen Entscheidungsverfahren im Staatsbetrieb. Um ihren Handlungsspielraum auszuweiten, verabschiedeten sich Experten wie Politiker chronisch von den ihnen zugedachten Rollen, hielten diese aber zugleich als legitimatorisches Gerüst aufrecht. Zwischen Norm und Praxis tat sich ein Graben auf, der das offizielle Expertenwesen zu einem Feld voller Grauzonen machte. Die größte Grauzone bildet dabei bis heute das Prinzip der Unabhängigkeit von Experten. Aus ihm haben Wissenschaftler von Abbé de Saint-Pierre bis David Nutt die Lizenz abgeleitet, bei Dissens mit der Regierungspolitik die Rolle des offiziellen Experten mit jener des öffentlichen Kritikers zu verbinden, während Politiker diesen Schritt in der Regel als Vertrauensbruch verstanden und mit einer Entlassung quittiert haben. Die Wissenschaftler hatten in solchen Fällen ideologisch, die Politiker funktional Recht. Solange das Unabhängigkeitsprinzip nicht einer realitätsgerechteren Funktionsbeschreibung des offiziellen Experten weicht, wird das eunuchenhafte Dasein wissenschaftlicher Regierungsberater immer wieder Anlass zu ebenso verbitterten wie vergeblichen Debatten geben.
C . HIRSCHI
/ MODERNE EUNUCHEN ?
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Siglenverzeichnis
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AHR
American Historical Review
AKG
Archiv für Kulturgeschichte
DA
Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters
GG
Geschichte und Gesellschaft
GWU
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
FMSt
Frühmittelalterliche Studien
MIÖG
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MJb
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MPL
Jacques Paul Migne, Patrologia Latina
ZdtA
Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur
ZdtPhil
Zeitschrift für deutsche Philologie
ZHF
Zeitschrift für historische Forschung
ZRG GA
Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung
oldenbourg DOI 10.1524/9783486717952.bm
Die Autorinnen und Autoren
Gadi Algazi ist Professor für Geschichte an der Universität Tel Aviv. Hartmut Bleumer ist Professor für Ältere Deutsche Sprache und Literatur an der Georg-August-Universität Göttingen. Marian Füssel ist Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen. Caspar Hirschi ist Professor für Allgemeine Geschichte an der Universität St. Gallen. Martin Mulsow ist Professor für Wissenskulturen der europäischen Neuzeit an der Universität Erfurt und Direktor des Forschungszentrums für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien in Gotha. Björn Reich ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Literatur an der HumboldtUniversität zu Berlin. Frank Rexroth ist Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen und Sprecher des DFG-Graduiertenkollegs „Expertenkulturen des 12. bis 16.Jahrhunderts“. Matthias Roick war von 2009 bis 2011 Postdoktorand des Graduiertenkollegs „Expertenkulturen des 12. bis 16.Jahrhunderts“ an der Universität Göttingen. Zur Zeit ist er Stipendiat an der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Christoph Schanze ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Eva Schumann ist Professorin für Deutsche Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht an der Georg-AugustUniversität Göttingen. Michael Stolz ist Professor für mediävistische Germanistik an der Universität Bern und Direktor des Berner Mittelalterzentrums.
DIE AUTORINNEN UND AUTOREN
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