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German Pages 336 Year 2018
Experten, Wissen, Symbole
Historische Zeitschrift // Beihefte (Neue Folge)
beiheft 71 herausgegeben von andreas fahrmeir und hartmut leppin
Frank Rexroth, Teresa Schröder-Stapper (Hrsg.)
Experten, Wissen, Symbole Performanz und Medialität vormoderner Wissenskulturen
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Inhalt
Woran man Experten erkennt. Einführende Überlegungen zur performativen Dimension von Sonderwissen während der Vormoderne // Frank Rexroth und Teresa Schröder-Stapper
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Medien Medialität und Performativität. Kulturwissenschaftliche Kategorien zur Analyse von historischen und literarischen Inszenierungsformen in Expertenkulturen // Marcel Bubert und Lydia Merten Zwischen Kloster und Kurie. Mönche als Rechtsexperten und die Entwicklung der forensischen Oralität im päpstlichen Gerichtswesen (1141–1256) // Uta Kleine The bright side of the moon – oder: Der Experte als Szenograph // Matthias Bauer
_____ 117
Seleniten und Experten der anderen Welt. Die Debatte über das Leben auf dem Mond im 17. und 18. Jahrhundert // Bernd Roling
_____ 143
Inszenierungen „Do můßt ich Künst an wenden, wolt ich mich mit der Practic erneeren“. Die Inszenierung ärztlicher Expertise in der Frühen Neuzeit // Michael Stolberg
_____ 177
Der Fakultätspatron als Experte. Zur rituellen und bildlichen Inanspruchnahme von Heiligen für die Herausbildung akademischen Berufsbewusstseins im späten Mittelalter // Wolfgang Eric Wagner
_____ 201
Dynamisierung und Dekonstruktion von Meisterschaft in den gelehrten Kulturen des 16. bis 18. Jahrhunderts am Beispiel Polens // Maria Filipiak
_____ 227
Rituale Erschaffen Rituale Experten? Attribuierung von Meisterschaft bei Theologen und Medizinern // Lars Röser und Jana Madlen Schütte
_____ 249
Erasmus und die Dialektik. Zum Zusammenhang von Expertentum und Performativität // Anita Traninger
_____ 275
„Age nunc, vates & Poeta praeclare“ – Macht die Krönung erst den Dichter? Über die Inszenierung des „poeta laureatus“ als Experte im frühneuzeitlichen Reich // Albert Schirrmeister
_____ 297
Die Autorinnen und Autoren
_____ 327
Personenregister
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Ortsregister
_____ 335
Woran man Experten erkennt Einführende Überlegungen zur performativen Dimension von Sonderwissen während der Vormoderne von Frank Rexroth und Teresa Schröder-Stapper
The introduction gives a short overview of concepts and fields of research which have been summarized under the term ,performative turn‘ during the last twenty years. It shows how the central concepts of media, production and rituals are important for the examination of experts and expertise in pre-modern times. The introduction also includes a short abstract of all papers.
I. Einleitung Der Jenaer Student Johann Christian Müller berichtet in seinen Lebensbeschreibungen vom Antritt seines Studiums im Jahr 1740 die folgende Episode. Nachdem er „ein gewißes Geld gezahlet“, seien ihm alte Kleider und verschiedene Instrumente überreicht worden, darunter auch ein hölzernes Beil. Mit diesem, so sagte man ihm, solle er die Studenten verprügeln. Ein großer Löffel sei dazu da, diesen die Ohren zu reinigen. Einst, so führt Müller aus, mussten die angehenden Studenten mit den Gegenständen in einer Prozession durch die Stadt ziehen. Müller hingegen wurden sie nur noch gezeigt. Darauf brachte man ihn zum Rektor, wo ihm seine Pflichten eröffnet wurden und wo er seinen Eid ablegen musste. Dort erhielt er schließlich ein Exemplar der Statuten und den Nachweis, dass er nun „in die Zahl derer Academischen Bürger“ aufgenommen war. 1 Was der angehende Student Müller hier beschreibt, ist seine rituelle Aufnahme in die Universität. Mit diesem Initiationsritual der Deposition war ein Wechsel im persönlichen Status angezeigt, wurde Müller doch erst mit ihm zu einem ‚echten‘
1 Johann C. Müller, Meines Lebens Vorfälle & Neben-Umstände. T.1: Kindheit und Studienjahre (1720– 1746). Hrsg. v. Katrin Löffler u. Nadine Sobirai. Leipzig 2007, 46; vgl. Marian Füssel, Akademische Rituale. Desposition, Promotion und Rektorwahl an der vormodernen Universität, in: Barbara Stollberg-Rilinger/ Matthias Puhle/Jutta Götzmann/Gerd Althoff (Hrsg.), Spektakel der Macht. Rituale im Alten Europa 800– 1800. Darmstadt 2008, 39–43.
DOI
10.1515/9783110576030-001
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Studenten. Zugleich zeugt der Bericht des Jenaer Studenten bereits vom Verfall des Rituals, das Mitte des 18.Jahrhunderts nur noch in vereinfachter Form Anwendung fand. Solche Rituale und andere Formen symbolischer Kommunikation sind bereits seit Beginn der 2000er Jahre vermehrt in den Fokus geschichtswissenschaftlicher Forschungsverbünde getreten. 2 Galt hier die Aufmerksamkeit zunächst vor allem Herrschaftsritualen wie Königswahlen und Herrschereinzügen 3, so traten zunehmend weitere Untersuchungsfelder und Akteursgruppen hinzu 4. Hierzu gehört auch die Untersuchung vormoderner Expertenkulturen, deren Praktiken und Repräsentationen. 5 Ob in Meisterprüfungen oder Doktorpromotionen, Disputationen
2 Sonderforschungsbereich 496 „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (1999–2011), Sonderforschungsbereich 619 „Ritualdynamik“ an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (2002–2013), Sonderforschungsbereich 485 „Norm und Symbol. Die kulturelle Dimension sozialer und politischer Integration“ an der Universität Konstanz (2000–2009). 3 Vgl. u.a. Gerd Althoff, Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter. Darmstadt 2003; André Krischer, Reichsstädte in der Fürstengesellschaft. Politischer Zeichengebrauch in der Frühen Neuzeit. (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst.) Darmstadt 2006; Barbara Stollberg-Rilinger, Des Kaisers Alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches. München 2008. 4 Vgl. beispielsweise die Forschungen von Marian Füssel zu Ritualen an der Universität: Marian Füssel, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit. (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst.) Darmstadt 2006; oder zur symbolischen Kommunikation innerhalb der vormodernen Stadt: Thomas Weller, Theatrum Praecedentiae. Zeremonieller Rang und gesellschaftliche Ordnung in der frühneuzeitlichen Stadt: Leipzig 1500–1800. (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst.) Darmstadt 2006. 5 Seit 2009 widmet sich solchen und ähnlichen Fragestellung das mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft betriebene Graduiertenkolleg „Expertenkulturen des 12. bis 18.Jahrhunderts“ an der Universität Göttingen. Siehe bislang: Damaris Grimmsmann, Krieg mit dem Wort. Türkenpredigten des 16.Jahrhunderts im Alten Reich. (Arbeiten zur Kirchengeschichte, Bd. 131.) Berlin/New York 2016; Piotr Wittmann, „Der da sein Practic aus Teutschen Tractaten will lernen“. Rechtspraktiker in deutschsprachiger Praktikerliteratur des 16.Jahrhunderts. (Rechtshistorische Reihe, Bd. 458.) Frankfurt am Main 2015; Johannes Schütz, Hüter der Wirklichkeit: Der Dominikanerorden in der mittelalterlichen Gesellschaft Skandinaviens. Göttingen 2014; Benjamin Müsegades, Fürstliche Erziehung und Ausbildung im spätmittelalterlichen Reich. (Mittelalter-Forschungen, Bd. 47.) Ostfildern 2013; Jana M. Schütte, Medizin im Konflikt. Fakultäten, Märkte und Experten in deutschen Universitätsstädten des 14. bis 16.Jahrhunderts. Leiden/Boston 2017; Ingo Trüter, Gelehrte Lebensläufe. Habitus, Identität und Wissen um 1500. Göttingen 2017; Sebastian Dümmling, Träume der Einfachheit. Gesellschaftsbeobachtungen in den Reformschriften des 15.Jahrhunderts. (Historische Studien, Bd. 511.) Husum 2017; Hedwig Röckelein/Udo Friedrich (Hrsg.), Experten der Vormoderne
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oder vor Gericht: In zahlreichen Zusammenhängen werden genaue rituelle Choreographien des Expertenhandelns erkennbar. Und um sie wird es auch in den folgenden Beiträgen gehen. Rituelles Handeln vollzog sich dabei zunächst im Rahmen sprachlicher Konventionen und bestimmter Fachsprachen samt ihrer Formelhaftigkeit und performativen Energie. Während die Sprechakte einerseits eine Aktualisierung und Situationsanpassung des Rituals erlaubten, garantierte die Ritualisierung der Sprache andererseits die kommunikative Stabilität der Rollen, die die Sprecher einnahmen, sowie der mit diesen verbundenen Erwartungen. 6 Es ist daher kein Zufall, dass sich die Kritik an den Experten immer wieder an deren unverständlichen Sondersprachen entzündete, an der Verwendung von Formeln, Fachjargon und Titulaturen. Disputations- und Graduierungskritiker konnten hier ebenso epistemische Geltungsansprüche in Frage stellen, wie dies die Kritiker der Latinität, der Scharlatanerie oder des Aberglaubens taten. 7 Ein Blick auf diskursive wie nichtdiskursive Praktiken des Handelns als Experten kann dabei nicht nur neue Einsichten in das Verhältnis von ‚Ritual‘ und ‚Wissen‘ gewähren, sondern auch die spezifische Historizität vormoderner Expertenkulturen ermitteln.
II. Vormoderne Expertenkulturen Ausgangspunkt der hier angestellten Überlegungen ist die Beobachtung, dass gegenwärtige Selbstbeschreibungen der europäischen Gesellschaften (etwa solche als
zwischen Wissen und Erfahrung. (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung, Bd. 17.) Berlin 2012; Björn Reich/Frank Rexroth/Matthias Roick (Hrsg.), Wissen, maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne. (Historische Zeitschrift, Beihefte, Neue Folge, Bd. 57.) München 2012; sowie die abgeschlossenen, aber bislang unveröffentlichten Dissertationen von Marcel Bubert, Nützliche Philosophie. Zur Genese einer diskursiven Formation im Umfeld der Pariser Universität um 1300. 6 Vgl. Pierre Bourdieu, Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches. 2., erw. u. überarb. Aufl. Wien 2005; Kathrin Audehm, Die Macht der Sprache. Performative Magie bei Pierre Bourdieu, in: Christoph Wulf/Michael Göhlich/Jörg Zirfas (Hrsg.), Grundlagen des Performativen. Eine Einführung in die Zusammenhänge von Sprache, Macht und Handeln. Weinheim/München 2001, 101–128. 7 Vgl. Marian Füssel, Die Experten, die Verkehrten? Gelehrtensatire als Expertenkritik in der Frühen Neuzeit, in: Reich/Rexroth/Roick (Hrsg.), Wissen, maßgeschneidert (wie Anm.5), 269–288; Matthias Roick, Der Fahnenflüchtige lässt sich krönen. Petrarca und die Anfänge der humanistischen Kritik am Experten, in: Reich/Rexroth/Roick (Hrsg.), Wissen, maßgeschneidert (wie Anm.5), 45–82.
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„Wissensgesellschaften“ 8) häufig auf die Komplexität der anerkannten Wissensbestände, auf die Ungleichgewichte in deren Distribution und auf die Schwierigkeit rekurrieren, über diese zu verfügen. Nicht erst seit den vergangenen Jahrzehnten scheint der Einzelne auch nur ansatzweise Einblick in diejenigen Wissensordnungen zu besitzen, deren Hervorbringungen er täglich nutzt, ja von der seine Existenz abhängt. Vielmehr ist er auf die Träger von Sonderwissen angewiesen, die das nötige Know-how für die Meisterung spezifischer Herausforderungen bereithalten. Dies trifft nicht erst und ausschließlich auf die Moderne zu, sondern schon seit dem ‚langen‘ 12.Jahrhundert lässt sich eine solche Differenzierung und Segmentierung von Wissen sowie dessen arbeitsteilige Aneignung beobachten. 9 Daher gilt es diese Relation zu historisieren und bereits für die Vormoderne gründlich aufzuarbeiten. Eine entscheidende Voraussetzung dafür, die Prozesse der Segmentierung und Distribution von Wissen seit dem hohen Mittelalter neu zu erklären, war mit der Reformulierung wissenschaftshistorischer Arbeiten im Kontext einer erneuerten Wissensgeschichte gegeben, die sich an der Wissenssoziologie eines Alfred Schütz, eines Peter Berger und Thomas Luckmann orientiert. 10 Hatte die Aufmerksamkeit der Forschung bisher vor allem den studierten Gelehrten und der Entstehung der modernen Wissenschaften gegolten 11, so richtete sich das Augenmerk jüngerer wissenshistorischer Arbeiten stärker auf die Funktionen des Wissens, auf seine Akteure, Praktiken und Institutionen 12. ‚Wissen‘ wurde in diesen neuen Zusammenhängen
8 Vgl. Peter Burke, A Social History of Knowledge. From Gutenberg to Diderot. Cambridge 2008, mit dem deutschen Titel: Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft. Berlin 2014; oder die Beiträge in Richard van Dülmen/Sina Rauschenbach (Hrsg.), Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Köln 2004. Vgl. als soziologischen Ausgangspunkt der deutschen Forschung Nico Stehr, Arbeit, Eigentum und Wissen. Zur Theorie von Wissensgesellschaften. Frankfurt am Main 1994. Kritisch zur zeitlichen Verortung Frank Rexroth, Expertenweisheit. Die Kritik an den Studierten und die Utopie einer geheilten Gesellschaft im späten Mittelalter. (Freiburger mediävistische Vorträge, Bd. 1.) Basel 2008, 21–23. 9 Die entsprechenden Ansätze bei Frank Rexroth, Transformationen des Rituellen. Überlegungen zur ,Disambiguierung‘ symbolischer Kommunikation während des langen 12.Jahrhunderts, in: Barbara Stollberg-Rilinger/Tim Neu/Christina Brauner (Hrsg.), Alles nur symbolisch? Bilanz und Perspektiven der Erforschung symbolischer Kommunikation. Köln/Weimar/Wien 2013, 69–92, hier v.a. 72–79. 10
Peter Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. 24.Aufl. Frank-
furt am Main 2012; Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie (1932). Ndr. Frankfurt am Main 1993.
10
11
Vgl. Dülmen/Rauschenbach (Hrsg.), Macht des Wissens (wie Anm.8).
12
Vgl. Burke, A Social History of Knowledge (wie Anm.8); Marian Füssel, Gelehrtenkultur (wie Anm.4);
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nicht im Singular, sondern im Plural gedacht und umfasste all das, was „für sich selbst in einem bestimmten gesellschaftlichen Rahmen und in einem bestimmten historischen Zeitraum den Wissensstatus reklamieren kann“. 13 Ausgangspunkt dieses weiten Wissensbegriffes ist „die Erkenntnis der gesellschaftlichen Konstruktion des Wissens, seiner historischen Wandelbarkeit und unterschiedlichen Kodierung in den verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten“. 14 Wissen ist das Ergebnis von Aushandlungsprozessen oder, in den Worten Pierre Bourdieus, von ständigen „Kämpfen“ 15 der Akteure und Akteursgruppen, die um die Deutungshoheit konkurrieren. Zugleich steuert dieses Wissen wiederum nicht nur die Wahrnehmung und Deutung sozialer Wirklichkeit, sondern bringt diese hervor. 16 Ein derart erweiterter Wissensbegriff fokussiert nicht allein auf gelehrtes und verschriftlichtes Wissen, sondern berücksichtigt ausdrücklich Wissensbestände, die wie Magie, Aberglaube und Rezeptwissen in der Rückschau als fragwürdig, ja falsch erscheinen. 17 Folglich erschöpft sich die kulturelle Relevanz von hierarchisiertem und segmentiertem Wissen in europäischen Gesellschaften nicht in den Gebieten, auf denen sich Erfinder, Entdecker und forschende Wissenschaftler in der Tradition eines Leonardo da Vinci betätigen. Eine solche Beschränkung auf die spektakulären Entdeckungen und Erfindungen würde den Blick auf die routinemäßige Praxis von Funktionsträgern in der Stadt und am Hof, bei den Fachleuten der Rechtsprechung, der Verwaltung und dem Gesundheitswesen verstellen. Denn gerade sie waren an zentraler Stelle in den Kreislauf der Anwendung, Modifikation und Generierung von gesellschaftlich hochrelevanten Wissensbeständen eingebunden. Gerade in solchem Anwendungswissen, in den alltäglich nutzbaren Wissensbeständen der Fachleute, kam die Differenziertheit und Sozialität des Wissens zum Ausdruck. Als den
Martin Mulsow/Frank Rexroth (Hrsg.), Was als wissenschaftlich gelten darf: Praktiken der Grenzziehung in Gelehrtenmilieus der Vormoderne. (Historische Studien, Bd. 70.) Frankfurt am Main/New York 2014; Jakob Vogel, Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte. Für eine Historisierung der „Wissensgesellschaft“, in: Geschichte und Gesellschaft 30, 2004, 639–660. 13 Achim Landwehr, Wissensgeschichte, in: Rainer Schützeichel (Hrsg.), Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung. (Erfahrung – Wissen – Imagination, Bd. 15.) Konstanz 2007, 801–813, hier 802f. 14 Vogel, Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte (wie Anm.12), 650f. 15 Bourdieu, Was heißt sprechen? (wie Anm.6), 95. 16 Vgl. Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (wie Anm.10), 71. 17 Achim Landwehr, Das Sichtbare sichtbar machen. Annäherungen an ‚Wissen‘ als Kategorie historischer Forschung, in: ders. (Hrsg.), Geschichte(n) der Wirklichkeit. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte des Wissens. (Documenta Augustana, Bd. 11.) Augsburg 2002, 61–89, hier 72.
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Prototyp der wissensmäßig differenzierten Gesellschaften, wie sie die Vormoderne und die Moderne gleichermaßen prägten, sollte man daher nicht den bislang in den Vordergrund gerückten Erfinder oder den innovativen Naturwissenschaftler ansehen, sondern den Experten schlechthin. Der Experte tritt in der Rolle eines Wissensträgers in Erscheinung. Seine Position ergibt sich aus einem Wechselspiel fremder und eigener Zuschreibungen von Sonderwissen. So wie dieses Wissen nur situativ und relational bestimmt werden kann, resultiert die soziale Sonderstellung des Experten aus dem kommunikativen Aushandeln mit der Umwelt. 18 Der Experte kann somit als ein sozialer Rollentypus verstanden werden 19, der sich durch die Verheißung passgenauen Wissens in einer bestimmten Kommunikationssituation auszeichnet 20. „Diese Kommunikationssituation wird erstens konstituiert durch die Erfahrung, dass Nichtwissen – ebenso wie Nichtkönnen – die Meisterung konkreter Lebensaufgaben behindert, dass es aber durch die gezielte Hinzuziehung von Trägern spezifischen Sonderwissens bzw. spezifischer Fertigkeiten kompensiert werden kann. Sie wird zweitens getragen von der Überzeugung, dass dieses Sonderwissen auch über den aktuellen Einzelfall hinaus relevant ist, mithin etwas zur Bewältigung allgemeiner Herausforderungen, Krisen und Gefahren beiträgt. Drittens sollte man nur in dem Fall von Experten sprechen, wo deren Sonderwissen im Rahmen von sozialen Institutionen weitergegeben, mithin institutionell verstetigt wird.“ 21
Dies schlägt sich mitunter auch in der Verwendung exklusiver Fachsprachen und der Entwicklung eines spezifischen Habitus nieder, durch welchen die Exper-
18
Ronald Hitzler, Wissen und Wesen des Experten. Ein Annäherungsversuch – zur Einleitung, in: Ronald
Hitzler/Anne Honer/Christoph Maeder (Hrsg.), Expertenwissen. Die institutionalierte Kompetenz zur Konstruktion von Wirklichkeit. Opladen 1994, 13–30; Rainer Schützeichel, Laien, Experten, Professionen, in: ders. (Hrsg.), Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung (wie Anm. 23), 546–578, hier 549f.; Walter M. Sprondel, ‚Experte‘ und ‚Laie‘. Zur Entwicklung von Typenbegriffen in der Wissenssoziologie, in: Walter M. Sprondel/Richard Grathoff (Hrsg.), Alfred Schütz und die Idee des Alltags in den Sozialwissenschaften. Stuttgart 1979, 140–154. 19
Der Rollenbegriff stammt aus den Theaterwissenschaften. Vgl. klassisch hierzu Erving Goffmann, Wir
alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. 10.Aufl. München 2010 (engl.: The Presentation of Self in Everyday Life, 1959). Zum Folgenden vgl. Frank Rexroth, Systemvertrauen und Expertenskepsis. Die Utopie vom maßgeschneiderten Wissen in den Kulturen des 12. bis 16.Jahrhunderts, in: Reich/Rexroth/ Roick (Hrsg.), Wissen, maßgeschneidert (wie Anm.5), 12–44, v.a. 22–26.
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Vgl. Rexroth, Systemvertauen und Expertenskepsis (wie Anm.19), 22.
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tenrolle markiert wird. Gefragt wird daher nicht so sehr danach, wer als Experte schlechthin anzusehen ist, sondern wem in welchen Kommunikationsakten die Rolle des Experten zugeschrieben wird. Die gesellschaftliche Funktion des Experten wird von dessen Zeitgenossen ausgehend von dem Gedanken bewertet, dass dieser das ihm überantwortete Wissen zum Wohl der Allgemeinheit und des sozialen Ganzen, des Gemeinen Nutzens bzw. der Öffentlichkeit handhabt. Für die Beständigkeit dieses Zustands ist weiterhin entscheidend, dass die derart ausdifferenzierten Wissensbereiche neue soziale Institutionen hervorbringen; nur durch diese können die Auslagerungen des Spezialwissens an Experten verstetigt und auch über gesellschaftliche Krisen hinweg bewahrt werden. 22 So entstehen gemeinsam mit den Wissensbereichen neue Rollentypen und neue kommunikative Modi, mit denen die soziale Wirklichkeit organisiert wird. In dieser wiederum werden veränderte Handlungs- und Klassifizierungslogiken wirksam. Die Makler des Wissens und die Institutionen, von denen sie getragen werden, sind daher gefordert, ihre Leistungen für das Funktionieren der gesellschaftlichen Mechanismen – und damit ihren Beitrag zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung – ständig zu inszenieren. Erst indem sie sich als diejenigen präsentieren, die über das jeweils einschlägige Wissen verfügen, und erst indem sie darin von den Angehörigen der Gesellschaft anerkannt werden, konstituieren sie sich tatsächlich als Experten: Die Wechselwirkung von Selbstinszenierung und Fremdzuschreibung in spezifischen Kommunikationssituationen ist der entscheidende soziale Mechanismus, der die Stabilisierung der Expertenrolle bewirkt. Der Rollentypus des Experten ist daher gesellschaftlich konstruiert. Er reagiert auf die Komplexität der Welt und verspricht Orientierung und Entlastung. Dabei wird seine Ausbreitung auf der Seite der Laien durchaus als eine Verkomplizierung der Lebenswelt wahrgenommen, woraus sich die spezifische Ambivalenz gegenüber der Rolle des Experten ergibt. Denn selbst wenn die Nicht-Experten über ein hinrei-
22 Zum Institutionen-Begriff Karl-Siegbert Rehberg, Die stabilisierende ,Fiktionalität‘ von Präsenz und Dauer. Institutionelle Analyse und historische Forschung, in: Reinhard Blänkner/Bernhard Jussen (Hrsg.), Institutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 138.) Göttingen 1998, 381–407; und ders., Präsenzmagie und Zeichenhaftigkeit. Institutionelle Formen der Symbolisierung, in: Gerd Althoff/Christiane Witthöft (Hrsg.), Zeichen, Rituale, Werte. Internationales Kolloquium des Sonderforschungsbereichs 496 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Münster 2004, 19–36.
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chendes Maß an „Zugangs-“ bzw. „Verfügungswissen“ (J. Mittelstraß 23) verfügen, so ist ihnen doch bewusst, dass es sich dabei um einen sekundären Zugriff auf die entscheidenden Wissensfelder handelt – nutzen können sie Letztere nur, wenn sie Experten als Zwischeninstanzen bemühen. 24 Mit der Zunahme von Experten wächst zum einen der Bedarf an Verfügungswissen, mithin an Wissen zweiter Ordnung – man braucht es, um die passenden Experten auszuwählen. Zum anderen sinkt mit der Überantwortung existentiell wichtiger Verrichtungen in die Hände der Experten der Anteil an Handlungs- und Entscheidungsautonomie, der bei den Akteuren verbleibt. Beide Tendenzen haben zur Folge, dass die Orientierungsbedürfnisse der sozialen Akteure gesteigert werden. Will man die kulturelle Relevanz von Expertenwissen adäquat einschätzen, hat man das Unbehagen an der Kompliziertheit der Wissensdistribution durchaus ernst zu nehmen, mehr noch: Man muss es als einen seinerseits kulturell produktiven Faktor mitberücksichtigen. Es wäre irrig, es als eine beklagenswerte Begleiterscheinung unvermeidlicher Modernisierungsprozesse abzutun – vielmehr muss man dieses Unbehagen als eine Konstituante der Gesellschaft sowie sozialer Veränderung selbst begreifen. 25 Zugleich werden Vorbehalte gegen die Isoliertheit und latente Machtförmigkeit des Expertentums immer häufiger vernehmbar. Die Kritik am Experten kann daher auch als eine grundsätzliche Reflexion über Gerechtigkeit und Machtverteilung sowohl in stratifizierten als auch in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften verstanden werden. 26 Diese Konzeption setzt die Annahme einer epistemischen Arbeitsteiligkeit der Gesellschaft voraus, die die Verfügung über Sonderwissen verstetigt. Darüber hinaus scheint die sozio-kommunikative Genese von Expertenrollen ihrerseits Institutionalisierungsprozesse freizusetzen. Kulturen, in denen solche Verstetigungen erfolgt sind und in denen sich die sozialen Akteure nolens, volens auf das Wissen von Experten stützen müssen, sollte man als „Expertenkulturen“ bezeichnen: als Kultu23
Jürgen Mittelstraß, Für und wider eine Wissensethik, in: ders., Wissen und Grenzen. Philosophische
Studien. Frankfurt am Main 2001, 68–88, hier 75f. 24
Rexroth, Expertenweisheit (wie Anm.8), 20–22.
25
Dieses Dilemma thematisiert bereits Max Weber in seiner Charakterisierung des okzidentalen „Intel-
lektualisierungsprozesses“. Vgl. Max Weber, Wissenschaft als Beruf, in: Max Weber Gesamtausgabe. Bd. I/ 17. Hrsg. v. Wolfgang J. Mommsen u. Wolfgang Schluchter, in Zusammenarb. mit Birgitt Morgenbrod. Tübingen 1992, 71–111, hier 86. 26
Vgl. zur intellektuellen Kritik Dietz Bering, Die Intellektuellen im Streit der Meinungen. Berlin 2011.
Zur mittelalterlichen Kritik an der höfischen Funktionselite Walter Map, De nugis curialium – Courtiers’ Trifles. Ed. by Montague Rhodes James/Christopher N. L. Brooke/Roger A. B. Mynors. Oxford 1983, 2.
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ren, an deren Konstitution Experten als zentrale Träger von Wissen maßgeblich beteiligt sind. Sie sind die Protagonisten der Ausdifferenzierung, Verbreitung und Organisation von Wissensbeständen. Dabei fügen sie dem kulturellen Repertoire einer Gesellschaft neue Handlungsmuster hinzu. Das Alltagswissen in solchen Expertenkulturen setzt dabei ein soziales Wissen über die Relevanzstrukturen der gesellschaftlichen Wissensdistribution voraus: Die Angehörigen von Expertenkulturen verfügen über die Kompetenz, zu entscheiden, welches Wissensfeld bei der Bewältigung einer bestimmten Herausforderung gefragt ist und wo dessen Repräsentanten anzutreffen sind. 27
III. Die Performativität von Expertenkulturen Schon seit den 1970er Jahren führt der sogenannte ‚performative turn‘ die Kritik interpretativer Ansätze an der Fixierung der früheren Kulturwissenschaften auf ‚Strukturen‘ und ‚Prozesse‘ fort. 28 Dabei fokussieren seine Vertreter ihren Blick auf die „praktische Dimension der Herstellung kultureller Bedeutungen und Erfahrungen“. 29 Sie plädieren für einen deutlichen Handlungs- und Ereignisbezug und wollen damit die Praktiken, materiellen Verkörperungen und medialen Ausgestaltungen in den Vordergrund der Untersuchung rücken, die die soziale Welt geschaffen und dauerhaft überformt haben. Der ‚performative turn‘ zeichnet sich dabei nicht allein durch seine „gesteigerte Aufmerksamkeit auf […] Aufführungs-, Darstellungsund Inszenierungsaspekte“ aus, sondern ebenso durch seinen Beitrag zu „einer kritischen Prozessanalyse“. 30 Hinter dem Label des ‚performative turn‘ verbirgt sich dabei kein geschlossenes theoretisches Konzept; vielmehr umfasst der ‚performative turn‘ ganz unterschiedliche Ansätze, die von den Aufführungsmodellen der Thea-
27 Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (wie Anm.10), 46f. 28 Aus theaterwissenschaftlicher Perspektive Erika Fischer-Lichte, Performativität. Eine Einführung. (Edition Kulturwissenschaften, Bd. 10.) Bielefeld 2012. 29 Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. 5.Aufl. Hamburg 2006, 104. 30 Ebd.Vgl. Victor Turner, Process, System, and Symbol. Anthropological Synthesis, in: ders., On the Edge of the Bush. Anthropology as Experience. Ed. by Edith L. B. Turner. Tucson, AZ 1985, 151–173.
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terwissenschaften 31 bis zur ethnologischen Ritualanalyse Victor Turners 32 sowie der sprachwissenschaftlichen Sprechakttheorie John L. Austins 33 reichen und schließlich Eingang in jüngere Forschungszweige wie die ‚Gender‘ 34 oder die ‚Postcolonial Studies‘ 35 fanden. Auch in die Geschichtswissenschaft haben die Ansätze des ‚performative turn‘ Eingang gefunden. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang verschiedene Forschungsverbünde, die sich der Symbolizität und Ritualität von Handlungsvollzügen gewidmet haben. 36 In diesem Zusammenhang wurden Fragen nach dem Aufführungs- und Inszenierungscharakter ebenso wie nach den symbolischen und performativen Eigenschaften von Handlungen aufgeworfen. Die beteiligten Forscherinnen und Forscher griffen hierfür auf die Ritualtheorie der Kulturanthropologie zurück, sie beschäftigten sich aber darüber hinaus auch mit Handlungssequenzen, die mit einem engen Ritualbegriff nicht dingfest gemacht werden können, so etwa Zeremonien und weitere Akte symbolischer Kommunikation. Zentral für die verfolgten Forschungsvorhaben ist erstens die bedeutungsgenerierende und zweitens die „elementare […] sozial strukturbildende […] Wirkung“ 37 von Ritualen im Besonderen sowie von Akten symbolischer Kommunikation im Allgemeinen. Das heißt zum einen, dass Ritualisierungen nicht nur Bestehendes abbilden, etwa bereits existierende normative Ordnungen in Erinnerung rufen, sondern Bedeutung überhaupt erst hervorbringen und dabei auf einen größeren sozialen Ordnungszusammenhang einer Gesellschaft verweisen. Zweitens ist damit gemeint, dass es ohne Ritualisierungen „keine gesellschaftliche Ordnung, keine Institutionen, keine dauerhafte soziale Struktur“ 38 geben kann. Diesen Ansätzen sind auch die weiter unten vorgestellten Studien verpflichtet.
31
Vgl. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main 2004.
32
Vgl. Victor Turner, The Anthropology of Performance. New York 1987; ders., Das Ritual. Struktur und
Antistruktur. Ndr. Frankfurt am Main/New York 2005. 33
Vgl. John L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart 1994.
34
Vgl. v.a. Judith Butler, Performative Akte und Geschlechterkonstitution. Phänomenologie und femi-
nistische Theorie, in: Uwe Wirth (Hrsg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main 2012, 301–320; dies., Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Berlin 1998. 35
Vgl. u.a. Homi Bhabha, Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000.
36
Siehe oben Anm.2.
37
Barbara Stollberg-Rilinger, Rituale. Vom vormodernen Europa bis zur Gegenwart. (Campus Historische
Einführungen, Bd. 16.) Frankfurt am Main/New York 2013, 13. 38
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Ebd.
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Sie rücken die performative Dimension von Expertensprachen und Ritualen der Kommunikation zwischen Experten und Laien in den Fokus ihrer Untersuchungen. Ausgehend von der Hypothese, dass der Rollentypus des Experten sich erst in konkreten Kommunikationssituationen konstituiert, gewinnen performative Akte der Selbst- und Fremdzuschreibung von Sonderwissen sowie die Inszenierung als Experte an Interesse. Ritualisierungen und die Ausbildung eines spezifischen Habitus sorgen zudem für die Institutionalisierung, also die Verstetigung von Expertenrollen.
IV. Medien, Inszenierungen, Rituale Der Begriff „performativ“ geht auf den Sprachphilosophen John L. Austin und dessen Sprechakttheorie zurück. 39 Zentral für diesen Ansatz ist die Vorstellung, dass sprachliche Äußerungen nicht allein dem Zweck dienen, eine Sachlage zu erläutern, sondern mit ihnen mehr noch Handlungen vollzogen werden. Performative Äußerungen zeichnen sich demnach durch zwei Merkmale aus: „Sie sind selbstreferenziell, das heißt beziehen sich auf sich selbst, insofern sie das bedeuten, was sie tun, und sie sind wirklichkeitskonstituierend, indem sie die soziale Wirklichkeit herstellen, von der sie sprechen.“ 40 Besonders signifikant zum Ausdruck kommt der performative Charakter von Äußerungen im Rahmen ritueller Akte wie der Eheschließung: ob Priester oder Standesbeamter, an die Aussage „Hiermit erkläre ich Sie zu Mann und Frau“ ist ein Statuswechsel der Brautleute geknüpft. Ähnliches lässt sich, wenn auch nicht in dieser Deutlichkeit, für den Gebrauch bestimmter Fachsprachen und -termini sagen, die konstituierenden Charakter für den beispielsweise juristisch oder medizinisch geschulten Experten haben. Sowohl Austin als auch in seiner Nachfolge Pierre Bourdieu berücksichtigen die Möglichkeit des Scheiterns solcher performativen Aussagen, deren Gelingen an verschiedene nicht sprachliche Bedingungen geknüpft ist. Bourdieu spricht in diesem Fall von der Notwendigkeit des legitimen Sprachgebrauchs: „Er [der Sprechakt] muss von der dafür legitimierten Person gehalten werden, dem Träger des skeptron, der be- und anerkanntermaßen befugt und befähigt
39 John L. Austin, How to Do Things with Words. Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart 1979; ders., „Performative Äußerungen“, in: ders., Gesammelte philosophische Aufsätze. Stuttgart 1986, 305–327. 40 Fischer-Lichte, Performativität (wie Anm.28), 38.
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ist, diese besondere Klasse von Diskursen zu produzieren, also ein Priester, Professor, Dichter usw.; er muss in einer legitimen Sprechsituation gehalten werden, das heißt vor legitimen Empfängern […]; und schließlich muss er (syntaktisch, phonetisch usw.) in den legitimen Formen gehalten werden.“ 41
Das heißt, es kommt für den vermeintlichen Experten nicht allein darauf an, sich zum Beispiel durch die richtige Verwendung von Fachtermini als Experte auszuweisen, sondern darüber hinaus in der von ihm auf diese Weise eingenommen Rolle anerkannt zu werden. Ein Rechtskundiger, der weder den juristischen Fachjargon noch das Repertoire an Verhaltensweisen beherrscht, wird schnell als Stümper abgetan. Die Engführung auf Sprechakte fand in Forschungen zur Performativität und Medialität eine Erweiterung, indem die Dimension der Performativität auf alle kulturellen Praktiken ausgeweitet wurde. 42 Eine Kongruenz zwischen Performativitäts- und Medialitätsdebatte tat sich zunächst einmal vor allem in dem Punkt auf, dass Medien ebenso wie performative Sprechakte „das, was sie übertragen, zugleich auch – irgendwie – hervorbringen“. 43 Marcel Bubert und Lydia Merten widmen sich in ihrem Beitrag sowohl verallgemeinernd als auch exemplarisch dem Verhältnis von Performativität und Medialität, wobei sie medientheoretische mit performativitätstheoretischen Ansätzen verknüpfen. Ausgangspunkt ist die von Marshall McLuhan erstmals postulierte medientheoretische Prämisse, dass sich die Bedeutung von Medien nicht allein in der Vermittlung von Botschaften erschöpft, sondern dass sie mehr noch „am Gehalt der Botschaften – irgendwie – selbst beteiligt“ 44 sind. So gesehen, weisen sie eine bedeutungskonstituierende Funktion auf. Dabei kommt es nicht darauf an, was jeweils ein Medium ist, sondern wie Medien gebraucht werden. „Es sind spezifische Praktiken der Zeichenverwendung, denen ein produktives Potential zukommt und die es zu analysieren gilt“ 45, wobei stets die Eigenlogik des jeweiligen Mediums zu berück-
41
Bourdieu, Was heißt Sprechen? (wie Anm.6), 105.
42
Vgl. u.a. den Sammelband von Sybille Krämer (Hrsg.), Performativität und Medialität. München 2004.
43
Sybille Krämer, Was haben ‚Performativität‘ und ‚Medialität‘ miteinander zu tun? Plädoyer für eine in
der ‚Aisthetisierung‘ gründende Konzeption des Performativen. Zur Einleitung in diesen Band, in: dies. (Hrsg.), Performativität und Medialität (wie Anm.42), 13–32, hier 23. 44
Dies., Medium als Spur und als Apparat, in: dies. (Hrsg.), Medien, Computer, Realität. Wirklichkeits-
vorstellungen und neue Medien. Frankfurt am Main 1998, 73–94, hier 73. 45
Marcel Bubert/Lydia Merten, Medialität und Performativität. Kulturwissenschaftliche Kategorien zur
Analyse von historischen und literarischen Inszenierungsformen in Expertenkulturen (in diesem Band, 29–67, hier 36).
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sichtigen ist. Mit Blick auf den Körper des Akteurs als Medium schlägt sich diese Eigenlogik in der von Erika Fischer-Lichte eingeführten Kopräsenz von phänomenalem Leib und semiotischem Körper nieder, also in der Interrelation zwischen dem jeweiligen Akteur und seiner Expertenrolle. Weil diese nicht deckungsgleich sind, entsteht in der Wahrnehmung der Laien Raum für Skepsis am Experten. In diesem Zusammenhang betonen Bubert und Merten die Rolle des Rezipienten bei der Zuschreibung von Sinn zu performativen Handlungen. Um das Verhältnis von Text und Performanz sowie die Rolle des Rezipienten zu konzeptualisieren, schlagen sie einen dynamischen Textbegriff mit offenem Bedeutungshorizont vor. Unter einem solchen Mikrotext verstehen sie eine „syntagmatische […] Konfiguration heterogener Zeichen, also Zeichen, die jeweils unterschiedlichen Zeichensystemen entstammen“. 46 Ein solcher offener Textbegriff trägt der Mehrdeutigkeit kommunikativer Handlungen Rechnung, die von unterschiedlichen Rezipienten unterschiedlich interpretiert werden können. Dies unterstreicht noch einmal die Bedeutung der Rezeption als „konstitutive[n] Bestandteil performativer Bedeutungsgenerierung“ 47 und verweist zugleich auf das Wechselspiel von Inszenierung und Zuschreibung von Expertise im Forschungszusammenhang des Graduiertenkollegs. In einem zweiten Teil wenden die Autoren die zuvor eingeführten Kategorien auf die Analyse mittelalterlicher Mären an. Zunächst greifen sie die Unterscheidung zwischen phänomenalem Leib und semiotischem Körper und deren Kopräsenz auf, aus deren Inszenierung mittelalterliche Mären ein narratives Potential ziehen: Sie führen dem Rezipienten diese Inkongruenz von ‚Akteur‘ und ‚Rolle‘ vor Augen und trennen damit sein textexternes Rezipientenwissen vom textinternen Figurenwissen. Als konkretes Analysebeispiel dient ihnen das Märe „Kaiser Lucius’ Tochter“ samt ihrer aufschlussreichen Gerichtsszene. Während in der vorangehenden Werbungsszene der weibliche phänomenale Leib der Kaisertochter im Mittelpunkt der Erzählung stand, wird diesem in der Gerichtsszene der semiotische Körper des Rechtsexperten als sprachliches Produkt gegenübergestellt. Sowohl durch die Verwendung der lateinischen Sprache bzw. der juristischen Fachtermini als auch durch die Beherrschung der juristischen Methode weist sich die Kaisertochter nicht nur als Rechtsexpertin aus; vielmehr stellt sie im performativen Sprach- und Handlungsvollzug Expertenrolle und Gerichtssituation gleichermaßen situativ her. 46 Ebd.41. 47 Ebd.46.
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Das Medium Sprache und insbesondere die juristische Fachsprachlichkeit steht auch im Mittelpunkt des Beitrags von Uta Kleine. Sie zeichnet anhand von vier Fallbeispielen die Professionalisierung des kurialen Gerichtswesens ab dem 12.Jahrhundert nach und nimmt dabei die kommunikativen Inszenierungsstrategien rechtsgelehrter Mönche in den Blick. Mitte des 12.Jahrhunderts, so Kleine, zeichne sich juristische Expertise „noch nicht primär durch ein klares, individuelles Kompetenzprofil (akademische Schulung und entsprechende Titel) und einen entsprechenden professionellen Habitus aus, sondern durch traditionelle ständische Rituale sozialer Hierarchisierung“. 48 Der Protagonist dieses ersten Fallbeispiels kann mit seinem zur Aufführung gebrachten monastischen Habitus überzeugen. Wie die Verfasserin zeigen kann, wandelte sich dieser Umstand während der folgenden fünfzig Jahre wesentlich: „Die zunehmende Systematisierung und Verschriftlichung der Rechtsmaterie und der relevanten Prozeduren führte zu einer Ausdifferenzierung der Fachdiskurse, im Bereich des kurialen Schrift- und Rechtswesens ebenso wie in der Hof- und Güterverwaltung; hier und dort war man zunehmend auf geschultes und entsprechend spezialisiertes Personal angewiesen.“ 49
Anhand zweier weiterer Beispiele aus der Zeit um 1200 zeigt Kleine, wie entscheidend sich die Inszenierung als ausgewiesener Rechtsexperte und die Beherrschung des juristischen Denk- und Redestils auf den mehr oder weniger erfolgreichen Ausgang des Verfahrens auswirkte. Abschließend dient ihr ein viertes und letztes Fallbeispiel aus der Mitte des 13.Jahrhunderts dazu, „nach den Grenzen und Aporien dieser Entwicklungen“ zu fragen. 50 Während in den ersten drei Verfahren noch auf die narrative Form der Urkunden-Chronik zurückgegriffen worden war, entschieden sich die Protagonisten dieses Rechtsstreits für das Format der kommentierten Gerichtsakte, mithin für eine Form der juristischen Spezialliteratur. Dies verdeutlicht einen Zuwachs an Schriftlichkeit im Prozessverlauf, der aber keinesfalls mit einem Verzicht auf Mündlichkeit einherging. „Die Sprechakte standen weiterhin im Mittelpunkt des Handelns vor Gericht. Doch diese Mündlichkeit steckte deutlich fester im Korsett der Schriftlichkeit als noch zwei Generationen zuvor.“ 51 Dies hatte 48
Uta Kleine, Zwischen Kloster und Kurie. Mönche als Rechtsexperten und die Entwicklung der forensi-
schen Oralität im päpstlichen Gerichtswesen (1141–1256) (in diesem Band, 69–115, hier 84).
20
49
Ebd.89f.
50
Ebd.109.
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Ebd.113.
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die Ausbildung eines exklusiven juristischen Diskursraumes mit einer hochformalisierten Form des Sprechens und Denkens zur Folge, der sich Laien auch in der Übersetzung nicht mehr erschloss. Am Beispiel von Galileis „Sternenbote“ und von Johannes Keplers „Somnium“ untersucht Matthias Bauer den Experten als Szenographen und die Methode der Diagrammatik. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Medienperformanz des Experten, der nicht allein über thematisches Sachwissen, sondern darüber hinaus über die Fähigkeit zu einer klaren, eindeutigen und einsichtigen Darstellung des Sachverhaltes verfügen muss, um als Vermittler von Wissen und Experte erfolgreich zu sein. Sowohl Galilei als auch Kepler bemühten sich in ihren Abhandlungen, dem Publikum Wissen über die Beschaffenheit des Mondes zu vermitteln. Galilei griff hierbei auf ein Text-Bild-System zurück, „in dem sich literarische Beschreibungen und Schaubilder wechselseitig ergänzen“. 52 Ziel seiner Ausführungen ist die Herstellung von Sichtbarkeit, um Evidenz zu erzeugen. Während Galilei demnach auf „die sinnliche Gewissheit der Anschauung setzt, die ihm das Teleskop und seinen Lesern die Verschränkung von Beschreibung und Zeichnung vermittelte, vertraute Kepler auf jene Anschaulichkeit, die aus der Interaktion von Beschreibungskunst und Einbildungskraft resultiert.“ 53 Beiden ging es darum, Rückschlüsse vom Mond auf die Erde zu ziehen. Kepler bemühte hierzu jedoch ein allein durch das Medium Sprache vermitteltes Gedankenexperiment, „an dem die Leser mit Hilfe der Einbildungskraft unter der Führung eines in solchen Experimenten erprobten Experten teilnehmen können“. 54 Abschließend nimmt Bauer unter Rückgriff auf die moderne Diagrammatik, also „die Technik des Schlussfolgerns mit Hilfe von Schaubildern“ 55, die Vorgehensweise der beiden Autoren vergleichend in den Blick und kommt zu dem Schluss, dass hier zwei Formen von Expertise zum Vorschein kommen: „Es gibt eine Expertise, die sich im literarischen Gedankenexperiment, und eine solche, die sich im Wechselspiel von Zeichnung und Beschreibung ausdrückt.“ Die Konfiguration von Beobachtungsdaten sei ein Akt der Konjektur, wobei dessen Erkenntniswert stark davon abhänge, „dass er sachgerecht und fachkundig vollzo-
52 Matthias Bauer, The bright side of the moon – oder: Der Experte als Szenograph (in diesem Band, 117– 142, hier 119). 53 Ebd.132. 54 Ebd. 55 Ebd.135.
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gen wird“. Genau dies sei die Aufgabe eines Experten: Er müsse sich „nicht nur in der Materie, sondern auch in der Methode auskennen“. 56 Somit entscheide auch die Medien-Performanz darüber, ob jemand in der Rolle des Experten anerkannt werde oder nicht. Die Vermittlung von Wissen über die Planeten, insbesondere den Mond, steht im Zentrum von Bernd Rolings Beitrag. Er behandelt die gelehrte Debatte über das Leben auf dem Mond im 17. und 18.Jahrhundert und die damit verbundene Auseinandersetzung um die „Deutungshoheit jener Experten, die über das entsprechende Wissen verfügten“. 57 Vertreter verschiedenster (Fach-)Disziplinen von Theologie und Philosophie bis hin zur Physik waren an dieser Debatte beteiligt und versuchten sich mit ihrem Expertenwissen durchzusetzen. Während Anhänger extraterrestrischer Bevölkerungshypothesen das Analogieprinzip, die Allmacht Gottes und das Prinzip der Varietät und Fülle in die Waagschale warfen, betonten deren Kritiker aus dem theologischen Lager die Einzigartigkeit der Erde und ihrer menschlichen Bewohner; aus dem naturwissenschaftlichen Umfeld wurden hingegen Erkenntnisse über massive Temperaturschwankungen sowie das Fehlen von Luft und Wasser ins Feld geführt. Im Laufe des 18.Jahrhunderts wurde dieses physikalische Expertenwissen jedoch marginalisiert und zugunsten einer futuristischen Begeisterung, die erneut auf dem Analogie- und Varietätsprinzip fußte, beiseitegeschoben. Erika Fischer-Lichte hat den für das Göttinger Graduiertenkolleg ebenso wie für die Tagung zentralen Begriff der ‚Inszenierung‘ als einen spezifischen Modus der Zeichenverwendung definiert. Mit ihm sind kulturelle Praktiken bezeichnet, „mit denen etwas zur Erscheinung gebracht wird“. 58 Das Besondere dabei ist, dass das, was erscheint, über die Bedeutung der eigentlichen Handlung hinausgeht. „Dieser Bedeutungsüberschuss […], der performativ hergestellt wird“, so Bubert und Merten in ihrem Beitrag, „ist bei der Analyse von Inszenierungsformen, derer sich die Träger von Sonderwissen seit dem 12.Jahrhundert in zunehmendem Maße bedienten, von besonderem Interesse.“ 59 Denn durch solche kulturellen Praktiken der Inszenie-
56
Ebd.140.
57
Bernd Roling, Seleniten und Experten der anderen Welt. Die Debatte über das Leben auf dem Mond im
17. und 18.Jahrhundert (in diesem Band, 143–174, hier 145). 58
Erika Fischer-Lichte, Theater als kulturelles Modell, in: dies., Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische
und das Performative. Tübingen 2001, 269–290, hier 285. 59
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Bubert/Merten, Medialität und Performativität (wie Anm.45), 37.
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rung, die über ihre eigentliche Bedeutung hinausweisen, konnte die Expertenrolle performativ erzeugt werden. Angesichts der enormen Konkurrenz auf dem medizinischen Markt beleuchtet Michael Stolberg die Inszenierungsstrategien frühneuzeitlicher Heilkundiger. Neben verschiedenen Praktiken der ärztlichen Selbstdarstellung im öffentlichen Raum (Leichensektionen, medizinische Publikationen) geht er auf die „performative […] Inszenierung medizinischer Expertise in der alltäglichen Praxis am Krankenbett und im Behandlungszimmer“ 60 ein. Stolberg fokussiert zunächst auf die Inszenierung medizinischer Expertise in der Interaktion am Krankenbett. Diese war eben nicht durch den Gebrauch elaborierter Fachtermini geprägt, sondern durch eine allgemein verständliche Sprache. Dann widmet er sich verschiedenen medizinischen Praktiken wie der Harnschau, die er nicht allein als wichtigstes Diagnoseverfahren und Element der Inszenierung charakterisiert, sondern die er aufgrund ihres ritualisierten Ablaufs und ihrer sakralen Aufladung als Ritual klassifiziert. Diesem Ritualcharakter, mit dem eine tiefe Verankerung in Kultur und Alltag einhergeht, verdanke die Harnschau ihre trotz hartnäckiger Kritik lange Wirkmächtigkeit im medizinischen Fächerkanon. Wolfgang Eric Wagner widmet sich neben den Juristen ebenfalls den universitären Medizinern. An den Beispielen des Heiligen Ivo und der Heiligen Kosmas und Damian untersucht er die Inanspruchnahme von Heiligen als Leitfiguren für akademische Professionen, hier der Juristen und Mediziner. Ausgangspunkt ist die Behauptung, „dass mittelalterliche Universitätsgelehrte durch die Bezugnahme auf bestimmte Heilige und durch die Art und Weise ihrer Verehrung ein spezifisches Berufsbewusstsein und Berufsethos kreiert und vermittelt haben“. 61 Die Verehrung von speziellen Heiligen diente den akademischen Gelehrten somit einerseits zur (Gruppen-)Identifikation und Selbstinszenierung, indem die Heiligen und ihr Handeln zum Vorbild genommen wurden. Andererseits konnte der exklusive Rekurs auf einen Heiligen zur Legitimation und Abgrenzung gegenüber Konkurrenten genutzt
60 Michael Stolberg, „Do můßt ich Künst an wenden, wolt ich mich mit der Practic erneeren.“ Die Inszenierung ärztlicher Expertise in der Frühen Neuzeit (in diesem Band, 177–200, hier 179). 61 Wolfgang E. Wagner, Der Fakultätspatron als Experte. Zur rituellen und bildlichen Inanspruchnahme von Heiligen für die Herausbildung akademischen Berufsbewusstseins im späten Mittelalter (in diesem Band, 201–226, hier 202).
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werden. Dies wird anhand der beiden Beispiele besonders deutlich, da diese eine „Wirkung als Leitfiguren in Krisenzeiten“ entfalteten. 62 Maria Filipiak führt in ihrem Beitrag vor, dass die jeweiligen Inszenierungsstrategien juristischer Experten nicht nur Kritik hervorriefen, sondern ebenso, dass auch die Kritik von Experten an Experten sowohl eine Strategie der Dekonstruktion von Expertise als auch der Inszenierung von Expertise sein konnte. Sie analysiert dies anhand der Übernahme des gelehrten römischen Rechts insbesondere in der polnischen Gerichtslandschaft. Hierzu untersucht sie neben satirischen Werken die Praktikerliteratur des polnischen Juristen Groicki. Einen wesentlichen Theoriekern des ‚performative turn‘ bildet die ethnologische Ritualtheorie, die vielfach in der Geschichtswissenschaft Anwendung gefunden hat. Hierzu gehört Arnold van Genneps Konzept der ‚rites de passage‘ ebenso wie die darauf aufbauende Ritualtheorie Victor Turners, der die drei van Gennep’schen Phasen des Übergangsrituals (der Trennung, der Schwellen- oder Umwandlungsphase und der Angliederung) übernommen hat. Beide betonen den transformativen Charakter des Rituals. Dieses bringt während der Schwellenphase „die Transformation hervor, auf die es verweist – den Übergang von einem Status zu einem anderen“. 63 Im Anschluss an die ethnologische Ritualtheorie hat die Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger das Ritual anhand von vier Charakteristika definiert 64: Erstens zeichnet es sich durch Standardisierung und Repetitivität aus. Das heißt, dass ein Ritual bestimmten Regeln folgt und dadurch wiederholbar und wiedererkennbar ist. Nichtsdestoweniger ist das Ritual keinesfalls starr und unveränderlich. Zwar bedürfen seine äußeren Formen einer gewissen Stabilität, die Beteiligten verfügen aber über einen unterschiedlich großen Handlungsspielraum, Form und Ablauf des Rituals zu verändern. Zweitens ist das Ritual zeitlich, räumlich und sozial aus dem alltäglichen Handlungszusammenhang herausgelöst und eine besondere Handlungsebene etabliert. Auf diese Weise erfährt das Ritual seinen spezifischen Aufführungscharakter. „Drittens sind Rituale symbolisch in dem Sinne, dass sie über sich selbst hinaus auf einen größeren sozialen Ordnungszusammenhang einer Gemeinschaft verweisen, den sie symbolisieren und zugleich bekräftigen – aber auch zuweilen demonstrativ
24
62
Ebd.225.
63
Fischer-Lichte, Performativität (wie Anm.28), 46.
64
Vgl. Stollberg-Rilinger, Rituale (wie Anm.37), 9–12.
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in Frage stellen können.“ 65 Schließlich haben Rituale viertens eine performative Wirkung, indem sie nicht nur etwas sagen, sondern etwas tun. „Sie sind wirkmächtig in dem Sinne, dass sie das, was sie darstellen, zugleich herstellen.“ 66 Jana Schütte und Lars Röser widmen ihren Beitrag über die Zuschreibung von Meisterschaft der Theologie und der Medizin. Sie fragen danach, inwiefern Expertise durch Rituale hervorgebracht und welche Rolle Experten bei der Durchführung von Ritualen zugewiesen wird. Dabei greifen sie immer wieder auf Arnold van Genneps Modell des ,rite de passage‘ zurück. Anhand des städtischen Baderhandwerks thematisieren Schütte und Röser die Bedeutung von Ritualen in der Zuschreibung von medizinischer Expertise. Sie behandeln die in den Zunftordnungen festgesetzten Stufen des Meisterwerdens als dreiphasiges Übergangsritual. Getrennt von dieser rituellen Übernahme einer neuen Identität ist aber die Zuschreibung und Inszenierung von Expertise zu sehen: Sie erfolgt in späteren Kommunikationssituationen des arbeitenden/praktizierenden Meisters, etwa in Form von Niederlassungsankündigungen und Reklamezetteln. Deutlich wird, dass Rituale keinesfalls unmittelbar einen Experten ‚erschaffen‘ konnten; vielmehr lieferten sie die „notwendige Basislegitimation für einen Theologen oder Mediziner, um sich selbst als Experte zu inszenieren und als solcher angefragt zu werden“. 67 Hingegen bedurften Rituale der Experten, die sie durchführten und kontrollierten. Die theologische Disputation steht im Zentrum der Ausführungen von Anita Traninger, und zwar ausgehend von der zentralen Frage: Was macht einen Theologen aus? Dabei stützt sich die Autorin auf den konflikthaften Briefwechsel zwischen Erasmus von Rotterdam und Maarten van Dorp, zwei antagonistische Vertreter des Humanismus bzw. der Scholastik. Erasmus beanspruchte zwar den Status als Theologe für sich, entzog sich aber dessen zentraler Tätigkeit, nämlich der Disputation. Diese diente in der theologischen Ausbildung sowohl dem Kompetenzerwerb als auch der Habitusformierung. Traninger beschreibt die Disputation als einen performativen Akt, durch welchen nicht nur die Zugehörigkeit zur Institution der theologischen Fakultät, sondern auch die Legitimation der theologischen Expertise des
65 Ebd.11. 66 Ebd.11f. 67 Lars Röser/Jana M. Schütte, Erschaffen Rituale Experten? Attribuierung von Meisterschaft bei Theologen und Medizinern (in diesem Band, 249–274, hier 274).
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Disputanten aktualisiert wird. Hierzu greift sie die von Gilbert Ryles eingeführte Unterscheidung von knowing how und knowing that auf. 68 Auch Albert Schirrmeister greift mit Blick auf frühneuzeitliche Dichterkrönungen erneut auf van Genneps dreigliedriges ‚rite-de-passage‘-Modell zurück. Ausgehend von der Hypothese, dass es sich bei Dichterkrönungen um Rituale handelt, die Meisterschaft zuerkennen, fragt er ausgehend von der Dichterkrönung des Conrad Celtis (1487) danach, welches genau die Expertise war, die man Dichtern zuschreiben mochte. Celtis, so der Autor, habe „strategisch dafür gesorgt, die Verbindung von herrschaftlichem Dienst und akademischer Ehrung als konstitutiv für die Dichterkrönung festzuschreiben, wodurch sie tatsächlich zu einem rite de passage werden konnte“. 69 Diese These verfolgt Schirrmeister anhand des eigens über die Dichterkrönung angefertigten Druckes (sogenannter Krönungsdruck). In Celtis’ Nachfolge verfestigten sich „die Formen und die mit der Dichterkrönung verbundenen Elemente“. 70 Zugleich wurde die Dichterkrönung „als ständische Verbesserung fest in die gesellschaftliche Ordnung des Reiches integriert“. 71 Anhand zweier späterer Beispiele aus Straßburg und Helmstedt macht Schirrmeister deutlich, dass um 1600 die Dichterkrönung als Übergangsritual zu einer polyzentrischen Literatengemeinschaft dienen konnte. Weiterhin zeigt er, dass das Ritual in seiner Bedeutung als universitäre Qualifikation in Frage gestellt und der universitären Diplomierung nachgeordnet wurde. Damit verlor die Dichterkrönung im Reich im 18.Jahrhundert ihre besondere Qualität als standesrechtliche und kulturelle Auszeichnung sowie ihren Charakter als Übergangsritual, mit dem dem Dichter die Rolle als Experte für panegyrische zeremonielle Dichtung zugeschrieben wurde.
68
Gilbert Ryle, Knowing How and Knowing That: The Presidential Address, in: Proceedings of the Aris-
totelian Society, New Series 46, 1945/46, 1–46; der Aufsatz ist als zweites Kapitel eingegangen in: Gilbert Ryle, The Concept of Mind. London 1949. 69
Albert Schirrmeister, „Age nunc, vates & Poeta praeclare“ – Macht die Krönung erst den Dichter? Über
die Inszenierung des poeta laureatus als Experten im frühneuzeitlichen Reich (in diesem Band, 297–325, hier 306).
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70
Ebd.310.
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Ebd. 311.
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Medien
Medialität und Performativität Kulturwissenschaftliche Kategorien zur Analyse von historischen und literarischen Inszenierungsformen in Expertenkulturen von Marcel Bubert und Lydia Merten
The performativity of expert cultures depends on certain medial conditions. In this paper we examine a set of basic questions regarding the relationship of performativity and media and how these questions apply to the matter of expert cultures. First, general assumptions of media theory will be reviewed and their implications for the performances of experts will be discussed. In doing so, this paper argues that the performance of social roles is characterized by an essential ambivalence, which then becomes the cause of a fundamental scepticism on the part of the audience. Furthermore, this paper proposes a model for developing a theoretical approach to the internal dynamics that is based on the difference between performances and their reception. On the basis of this theoretical sketch an examination of the Middle High German Märe „Kaiser Lucius’ Tochter“ is given. In which way does literature reflect the concept of performativity? In how far are the speech and the body of the expert opposed? By means of this example, the relationship between performativity, media and professional jargon can be depicted in practice.
I. Medialität, Performativität und Expertenkulturen: Skizze eines medien- und kulturtheoretischen Ansatzes Der Aspekt der ‚Medialität‘ ist für das Thema der Performativität von Expertenkulturen insofern von zentraler Relevanz, als damit die generellen Bedingungen der Inszenierungsformen vormoderner Experten fokussiert werden, welche als Konfigurationen verbaler und nonverbaler Zeichen stets an ihre medialen Grundlagen gebunden sind. Während im zweiten Teil dieses Beitrags das Verhältnis von Performativität, Medialität und Fachsprachen in einem mittelhochdeutschen Märe analysiert wird, soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, einige einleitende Überlegungen zu den ganz allgemeinen medialen Bedingungen der Performativität von Expertenkulturen anzustellen. Diese Ausführungen bleiben freilich approximativ, sollen aber dazu dienen, grundsätzliche Fragen und Probleme der skizzierten Thematik zu reflektieren sowie mögliche Perspektiven einer Konzeptualisierung anzusprechen. Zur Heranführung an das Thema sei zunächst ein kurzer (keinesfalls vollständiger) historischer Abriss der Reflexionen über Medialität im 20. Jahrhun-
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10.1515/9783110576030-002
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dert formuliert, der einige Leitgedanken der nachfolgenden Ausführungen vorbereiten soll. 1. Medientheorie im 20.Jahrhundert Während Phänomene der Mediatisierung zwar bereits zuvor in der Philosophie eine zentrale Rolle spielten, Platons Ideen den Menschen nur in der Vermittlung durch ihre Abbilder gegeben sind sowie für Kant die ‚Dinge an sich‘ bekanntlich ebenso nur mediatisiert, als Phänomene, durch das Erkenntnisvermögen des Subjekts in Erscheinung treten, setzte eine explizite und konkrete Auseinandersetzung mit Medien und Medienwirklichkeiten im 20.Jahrhundert ein, offensichtlich motiviert durch Entwicklungen der Technologisierung und das Aufkommen neuer Medien wie Photographie, Radio und Fernsehen. Es war aber nicht zuletzt der Bereich der Kunst, in dem sich zu Beginn des Jahrhunderts Tendenzen abzeichneten, die nicht nur spätere medientheoretische Grundannahmen antizipierten, sondern auch zeitgenössische Reflexionen über Medien unmittelbar stimulierten. Innerhalb der Pluralität von Richtungen, welche auf die ‚Krise‘ der europäischen Kunst reagierten, sind es vor allem die Arbeiten der „historischen Avantgardebewegungen“ (Peter Bürger) 1, in denen sich – in Abgrenzung von einer traditionellen Werkästhetik – eine dezidierte Auseinandersetzung mit dem Konstruktcharakter von Kunstwerken manifestiert. Während der Ästhetizismus das Autonomiepostulat der Kunst radikalisierte und der Expressionismus den unmittelbaren Ausdruck des Subjekts propagierte, stellten die Dadaisten die kontemplative Rezeptionsweise der bürgerlichen Ästhetik dadurch in Frage, dass sie die Konstruktionsmechanismen von Werken, welche deren ‚Wirklichkeit‘ generieren, in den Vordergrund rückten, Brüche und Schnittstellen bewusst akzentuierten, statt sie zu kaschieren. Den Effekt dieser Techniken beschreibt Walter Benjamin in seiner Schrift „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ wie folgt: „Was sie mit solchen Mitteln erreichen, ist eine rücksichtslose Vernichtung der Aura ihrer Hervorbringung, denen sie mit den Mitteln der Produktion das Brandmal einer Reproduktion aufdrücken.“ 2 Den Verlust der Aura hatte Benjamin andererseits aber durch die Veränderung der Reproduktionstechniken begründet, welche zentrale ästhetische Kategori-
1 Peter Bürger, Theorie der Avantgarde. Frankfurt am Main 1974. 2 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt am Main 2006, 65.
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en wie die ‚Originalität‘ von Werken obsolet werden lassen und damit zu einer Veränderung der Kunstwahrnehmung insgesamt sowie zu einer Krise des bürgerlichen Kulturkonzepts führen. 3 Mit dieser Rolle, die die neuen Reproduktionsmedien für Benjamin spielen, war aber nicht weniger als die kulturell produktive Wirkung von Medien und ihren Verwendungen postuliert. Mit dieser Anschauung, die Medien ein kulturveränderndes Potential sowie eine wahrnehmungsmodifizierende Wirkung zuspricht (auf sie wird später zurückzukommen sein), stellt Benjamins Schrift nicht nur ein bezeichnendes Beispiel für die philosophische Auseinandersetzung mit den technischen und medialen Veränderungen dar, vielmehr erkennt Walter Benjamin überhaupt „als einer der ersten Theoretiker die Existenz einer eigenen Medienwirklichkeit an“. 4 Es ist eine der grundlegenden Prämissen der Medientheorie, dass Medien das, was sie ‚vermitteln‘, durch ihre Eigenlogik immer auch mit konstituieren, dass also das medial Präsentierte außerhalb des Mediums nicht oder nicht auf diese Weise existiert. Benjamin konnte sich dessen anhand der neuen medialen Techniken, etwa der Photographie, ebenso bewusst werden wie angesichts der Tendenz künstlerischer Richtungen, die Konstruktionsmechanismen von Kunstwerken gezielt offenzulegen. Der allgemeine Gedanke, Kunst als Verfahren der Montage zu betrachten, der von den Theoretikern des russischen Formalismus konzeptualisiert wurde und nicht zufällig in die Filmtheorie mündete, manifestierte sich auf der Ebene der künstlerischen Produktion nicht nur in Praktiken des Dadaismus, sondern etwa auch bei Igor Strawinsky, wenn dieser in „L’histoire du soldat“ (1918) die einzelnen künstlerischen Medien gerade nicht synthetisiert, sondern bewusst voneinander trennt. Bertolt Brechts Anliegen, durch Verfremdungseffekte dem Betrachter die Konstrukthaftigkeit des Werks aufzuzeigen, um die Veränderbarkeit von Wirklichkeit nahezulegen, profitierte nicht nur von diesen Konzepten, sondern stand auch in engem Zusammenhang mit einer grundsätzlich positiven Bewertung der Möglichkeiten, die sich mit den neuen Medien wie dem Radio ergaben, was wiederum der Einschätzung Benjamins sehr nahe kam. 5 Denn ebenso wie Brecht hatte Benjamin die Chance gesehen, das kulturverändernde Potential von Medientechniken im
3 Ebd.; Bürger, Theorie der Avantgarde (wie Anm.1), 35–48; Frank Hartmann, Medienphilosophie. (UniTaschenbücher, 2112.) Wien 2000, 196–211. 4 Ebd.204. 5 Darauf verweist ebd.201.
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positiven Sinne zu nutzen, womit er freilich eine ganz andere Sicht auf die Medien artikulierte als Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, deren kulturpessimistische Anschauung allerdings eine zentrale Position in der philosophischen Auseinandersetzung mit Medien im 20.Jahrhundert darstellt. „Aufklärung als Massenbetrug“ lautet der Untertitel des Kapitels zur Kulturindustrie in der „Dialektik der Aufklärung“, womit das dialektische Moment bereits expliziert ist: Dass nämlich, in der Sicht von Horkheimer und Adorno, prinzipiell aufklärerische Instrumente – Massenmedien – der „Reproduktion des Immergleichen“ 6 dienen, d.h. anspruchslosen Reizen, mit welchen in einem „Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis“ 7 die Konsumenten systematisch abgespeist werden. Für die Weiterführung der Überlegungen zur wirklichkeitskonstituierenden Potenz der Medien, die Benjamin bereits gesehen hatte, gewann schließlich die „Toronto School of Communication“ besondere Bedeutung. Zentrale Autoren der Theoriebildung waren dabei Eric A. Havelock, Harold Innis sowie – als wohl prominentester Vertreter – Marshall McLuhan. Ebenso wie für Havelock, der in seinen Arbeiten die kulturprägende Kraft der Schrift in der europäischen Geschichte akzentuierte, gewinnt bei Innis die historische Dimension bei der Betrachtung der gesellschaftlichen Rolle von Medien eine zentrale Bedeutung. 8 Innis’ historische Perspektive gilt dem „Zusammenhang von Medien- und Zivilisationsentwicklung“ 9, wobei der materialen Beschaffenheit des Mediums entscheidende Relevanz zukommt. Denn es sind die Medientechnologien und deren spezifische Materialität, welche die Kommunikationen einer Kultur maßgeblich prädisponieren. Frank Hartmann betont die Bedeutung dieser Ansätze zu einer Kulturtheorie als Medienarchäologie, weist aber zugleich darauf hin, dass Innis zwar die prägende Wirkung von Kommunikationstechnologien erkennt, sein konkreter Medienbegriff allerdings noch auf einer Vorstellung des Transports beruht. Demgegenüber hat schließlich Marshall McLu6 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. 18.Aufl. Frankfurt am Main 2009, 142. 7 Ebd.129. 8 Zu Innis siehe: Ian Angus, Orality in the Twilight of Humanism. A Critique of the Communication Theory of Harold Innis, in: Continuum. The Australian Journal of Media & Culture 7/1, 1993, online unter: http://wwwmcc.murdoch.edu.au/ReadingRoom/7.1/Angus.html (17.5.2017); Sut Jhally, Communications and the Materialist Conception of History: Marx, Innis and Technology, in: Continuum. The Australian Journal of Media & Culture 7/1, 1993, online unter: http://wwwmcc.murdoch.edu.au/ReadingRoom/7.1/ Jhally.html (17.5.2017). 9 Hartmann, Medienphilosophie (wie Anm.3), 241.
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han, ausgehend von den Überlegungen Innis’ 10, einen Medienbegriff entwickelt, der die Transformationsleistungen von Medien in den Mittelpunkt rückt. 11 Diese Position fand ihren sinnfälligen Ausdruck in der berühmten Formulierung McLuhans, das Medium selbst sei die Botschaft. Auch wenn dieser provozierende Slogan radikal ist, lenkt er dennoch die Aufmerksamkeit auf eine zentrale Frage der Medienwissenschaft, nämlich die nach der Konstitutionsleistung des Mediums. 12 Die Tradition von Innis und McLuhan wurde teilweise aufgegriffen von Friedrich Kittler, dessen Arbeiten in der jüngeren medienwissenschaftlichen Forschung besondere Aufmerksamkeit erfuhren. Kittler untersucht, wie diskursive Formationen durch die jeweilige historische Konstellation technischer Medien konditioniert werden. Berühmt wurde seine analytische Kategorie der ‚Ausschreibesysteme‘, wie er sie in seiner Habilitationsschrift von 1985 entwickelte. 13 Als gemeinsamer Ansatzpunkt medientheoretischer Überlegungen in den gegenwärtigen Diskussionen bleibt jedenfalls, so hebt Sybille Krämer hervor, die (von McLuhan so entschieden propagierte) grundsätzliche These, dass Medien eben nicht – wie im traditionellen Kommunikationsmodell vorausgesetzt – Botschaften neutral übertragen, sondern vielmehr „am Gehalt der Botschaften – irgendwie – selbst beteiligt sein müssen“. 14 Diese Annahme wiederum hat für den in diesem Abschnitt thematisierten Zusammenhang von Medialität und Performativität eine entscheidende Relevanz. Im Folgenden wird daher ein kurzer Blick auf diese Beziehung geworfen, wobei allgemeine Aspekte der Performativität im Hinblick auf ihre medialen Bedingungen betrachtet werden. 2. Medialität und Performativität Die neuere Theoriebildung zur Performativität vollzieht sich nicht zuletzt in einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Konzept von ‚Kultur als Text‘, wie es im Zuge des ,linguistic turn‘ in verschiedenen Kulturwissenschaften zu einem do10 Roman Onufrijchuck, Introducing Innis/McLuhan Concluding: The Innis in McLuhan’s ‚System‘, in: Continuum. The Australian Journal of Media & Culture 7/1, 1993 online unter: http://wwwmcc.murdoch.edu.au/ReadingRoom/7.1/Onuf.html (17.5.2017). 11 Marshall McLuhan, Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man. London 1962. 12 Sybille Krämer, Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung? Thesen über die Rolle medientheoretischer Erwägungen beim Philosophieren, in: Stefan Münker/Alexander Roesler/Mike Sandbothe (Hrsg.), Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs. Frankfurt am Main 2003, 78–90. 13 Friedrich A. Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900. 4.Aufl. München 2003. 14 Sybille Krämer, Das Medium als Spur und als Apparat, in: dies. (Hrsg.), Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt am Main 1998, 73–94, hier 73.
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minanten Forschungsparadigma avancierte. Hierbei richtet sich die Kritik allerdings weniger darauf, dass die Analyse von kulturellen Bedeutungssystemen Formen des sozialen Handelns nicht in den Blick bekäme. Schließlich hatte doch etwa Clifford Geertz, als einer der ‚Gründerväter‘ der interpretierenden Kulturanthropologie, in seiner paradigmatischen Studie zum balinesischen Hahnenkampf gerade kulturspezifische Handlungsformen untersucht. 15 Vielmehr beinhaltet die Kritik an ‚Kultur als Text‘ den Vorwurf, dass Handlungen, mithin auch Performances, als ‚Texte‘ und somit als Repräsentationen sedimentierter kultureller Bedeutungen in einem petrifizierten Sinngefüge betrachtet würden. 16 In Weiterführung des in der Sprechakttheorie John Austins entwickelten Verständnisses des Performativen 17 hingegen sollen Handlungen und Performanzen nicht lediglich als konstative, sondern als kulturell produktive Phänomene fokussiert werden, wobei gerade die Prozesshaftigkeit oder der Ereignischarakter performativer Handlungsverläufe in den Blick geraten soll. Fragt man in diesem Zusammenhang nun nach der Rolle der Medialität, so trifft man auf bezeichnende Parallelen in Debatten der Medientheorie, deren grundsätzliche Prämissen für den vermeintlichen Gegensatz von ‚Kultur als Text‘ und ‚Kultur als Performance‘ nicht geringe Relevanz gewinnen. So geht auch der Medientheoretiker Frank Hartmann in seinem Entwurf einer Mediologie davon aus, dass Medien keinesfalls einen neutralen Transport reiner ‚Inhalte‘ leisten. Eine Botschaft wird nicht in einem passiven Kanal unverändert vom Sender zum Empfänger übertragen, vielmehr werden Inhalte in Kommunikationsprozessen durch Medien transformiert bzw. sogar erst generiert. Hartmann vermutet, „dass Medien eigentlich gar nichts vermitteln, an dessen Konstruktion sie nicht selbst schon beteiligt gewesen wären“. 18 Der in solchen Ansätzen implizierte Medienbegriff steht damit in der Tradition Marshall McLuhans und im Gegensatz zur Definition des Mediums, wie sie
15
Clifford Geertz, ‚Deep Play‘. Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf, in: ders., Dichte Beschrei-
bung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main 1987, 202–260. 16
Dazu: Doris Bachmann-Medick, Textualität in den Kultur- und Literaturwissenschaften. Grenzen und
Herausforderungen, in: dies. (Hrsg.), Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. (Uni-Taschenbücher, 2565.) 2.Aufl. Tübingen 2004, 298–330; Erika Fischer-Lichte, Zwischen ‚Text‘ und ‚Performance‘. Von der semiotischen zur performativen Wende, in: dies., Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative. Tübingen 2001, 9–23.
34
17
John L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart 2002 (engl.: How to do Things with Words).
18
Frank Hartmann, Mediologie. Ansätze einer Medientheorie der Kulturwissenschaften. Wien 2003, 94.
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Niklas Luhmann – aus einer anderen theoretischen Perspektive – formuliert hat. 19 Im Folgenden wird die Annahme vertreten, dass Medien eine Konstitutionsleistung erfüllen, wenngleich damit nicht die Radikalität McLuhans („das Medium ist die Botschaft“) impliziert ist. Eher wäre Sybille Krämer zu folgen, die feststellt: „Das Medium ist nicht einfach die Botschaft, vielmehr bewahrt sich an der Botschaft die Spur des Mediums.“ 20 Darüber hinaus gilt es zu bedenken, dass das Thema der Medialität in einem weiteren Sinne gleichfalls die Frage nach der „Medialität unseres Weltverhältnisses“ aufwirft. 21 Martin Seel weist darauf hin, „dass alle unsere Weltbegegnung medialen Charakter hat“ und in eben diesem Sinne beschreibt er die Relation von Medialität und Intentionalität: „Denn unser Verhältnis zu allem, wozu wir ein intentionales Verhältnis haben, ist durch und durch medial.“ 22 In diesem Zusammenhang, der hier nicht weiter expliziert werden kann, wäre auch an Ernst Cassirers prinzipielle Feststellung zu erinnern, „dass der Geist erst in seiner Äußerung zu seiner wahrhaften und vollkommenen Innerlichkeit gelangt. Die Form, die sich das Innere gibt, bestimmt auch rückwirkend sein Wesen und seinen Gehalt.“ 23 Die Philosophie soll für Cassirer keine hinter den Formen liegende ‚reine Innerlichkeit‘ suchen, vielmehr soll das Gestalten der symbolischen Formen selbst betrachtet werden. 24 Symbolische Formen „schaffen die einzig mögliche, adäquate Vermittlung und das Medium, durch welches uns irgendwelches geistige Sein erst fassbar und verständlich wird“. 25 Diese Annahme Cassirers, dass es symbolische Formen sind, an welche jeder „Gehalt sich für uns notwendig gebunden erweist“ 26, hat jedenfalls einen offensichtlichen Bezug zur medientheoretischen Prämisse einer bedeutungskonstituierenden Funktion des Mediums, wie sie im Folgenden wichtig sein wird.
19 Zum Gegensatz von McLuhan und Luhmann: Krämer, Medium als Spur (wie Anm.14), 75ff. 20 Ebd.81. 21 Sybille Krämer, Was haben die Medien, der Computer und die Realität miteinander zu tun? Zur Einleitung in diesen Band, in: dies. (Hrsg.), Medien, Computer, Realität (wie Anm.14), 9–26, hier 14. 22 Martin Seel, Medien der Realität und Realität der Medien, in: Krämer (Hrsg.), Medien, Computer, Realität (wie Anm.14), 244–268, hier 244f. Seel unternimmt den Versuch, einen moderaten Konstruktivismus mit einem moderaten Realismus zu verbinden, vgl. ebd.255. 23 Ernst Cassirer, zit. nach Oswald Schwemmer, Kulturphilosophie. Eine medientheoretische Grundlegung. München 2005, 155. 24 Ebd.. 25 Ernst Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, in: ders., Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. 5.Aufl. Darmstadt 1976, 169–200, hier 176. 26 Ders., Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache. 6.Aufl. Darmstadt 1973, 51.
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Dabei kommt es allerdings weniger darauf an, was jeweils ein Medium ist: Denn alles kann ein Medium sein, wenn es als Medium verwendet wird. Für Sybille Krämer ergibt sich daraus das Postulat, von der Frage, was ein Medium sei, umzulenken auf die Frage, wie wir Medien gebrauchen. Es sind kulturelle Praktiken, die etwas zu einem Medium machen und in denen sich dessen Bedeutungsüberschuss manifestiert: „Im Vollzug ereignet sich immer auch ein ‚Überschuss‘ gegenüber demjenigen, was dabei vollzogen wird.“ 27 Ein Überschuss im Vollzug ist es ebenfalls, den die Performativitätsforschung bei der Analyse performativer Prozesse freilegen möchte und damit über die Betrachtung von Handlungen als rein konstativen Ausdrucksformen hinausgeht. Es sind spezifische Praktiken der Zeichenverwendung, denen ein produktives Potential zukommt und die es zu analysieren gilt. Vor dem Hintergrund der skizzierten Mediendefinition muss dabei jedoch stets die Eigenlogik der jeweiligen Medien mitbedacht werden, die ihrerseits Überschüsse produzieren, welche von den Akteuren des Zeichengebrauchs nicht kontrolliert werden können. Wenn es daher gilt, die Konstitutionsleistungen des Mediums zu erschließen, so muss ein guter Mediologe für Régis Debray ein Dummkopf sein. Denn ein chinesisches Sprichwort besagt: Wenn ein weiser Mann auf den Mond zeigt, dann schaue nur ein Dummkopf auf den Zeigefinger. Genau darin jedoch soll die Arbeit des Mediologen bestehen: die konkreten Prozesse des Zeigens, Darstellens und Übermittelns aufzudecken, wobei gleichzeitig untersucht werden muss, wie das Gezeigte transformiert bzw. erst im Prozess des Zeigens konstituiert wird. 28 Als einen spezifischen Modus der Zeichenverwendung definiert Erika FischerLichte den für das Forschungskonzept des Graduiertenkollegs „Expertenkulturen“ zentralen Begriff der ‚Inszenierung‘. Der Inszenierungsbegriff meint kulturelle Praktiken, „mit denen etwas zur Erscheinung gebracht wird“. 29 Das, was erscheint, geht dabei über die Bedeutung der faktischen Handlungen – die zunächst nichts weiter bedeuten, als sie vollziehen – hinaus. Durch einen spezifischen Zeichengebrauch – die Inszenierung – werden die Handlungen semantisch angereichert und erhalten 27
Sybille Krämer, Kulturanthropologie der Medien: Thesen zur Einführung, in: Arbeitsgruppe Medien:
Über das Zusammenspiel von ‚Medialität‘ und ‚Performativität‘, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 13/1, 2004, 129–185, hier 130f. 28
Hartmann, Mediologie (wie Anm.18), 107f.
29
Erika Fischer-Lichte, Theater als kulturelles Modell, in: dies., Ästhetische Erfahrung (wie Anm.16), 291–
300, hier 285.
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Konnotationen, die dem, was rein faktisch vollzogen wird, ein erweitertes Sinnspektrum verleihen. Dabei gilt es allerdings zu differenzieren zwischen den von den jeweiligen Akteuren intendierten Konnotationen ihrer Praktiken, welche die Denotation des rein Faktischen ergänzen, und dem Sinnüberschuss, der aus der unkontrollierbaren Eigenlogik der Materialität des Mediums resultiert. Die performativ produzierten Bedeutungen, welche der Darsteller intendiert, können durch das Medium konterkariert werden, wodurch die Performance stets eine grundlegende Ambivalenz aufweist. Der Bedeutungsüberschuss jedenfalls, der performativ hergestellt wird, ist bei der Analyse von Inszenierungsformen, derer sich die Träger von Sonderwissen seit dem 12.Jahrhundert in zunehmendem Maße bedienten, von besonderem Interesse. Die Expertenrolle kann in und durch performative Prozesse erzeugt werden. Erving Goffman hat gezeigt, wie soziale Rollen in Interaktionen generiert werden bzw. wie Akteure versuchen, ihr Publikum durch eine spezifische Darstellung in ihrem Sinne zu beeinflussen. 30 Dabei kommt er immer wieder darauf zu sprechen, dass es insbesondere für verschiedene Professionen notwendig ist, ihre Handlungen so zu vollziehen, dass sie im selben Moment die Expertise des Akteurs zum Ausdruck bringen: Dies gelinge vor allem dann besonders gut, wenn „einige der Handlungen, die für die Erfüllung der Hauptaufgabe der Rolle unbedingt nötig sind, gleichzeitig unter dem Aspekt der Kommunikation vorzüglich dazu geeignet sind, die von dem Darsteller beanspruchten Eigenschaften und Fähigkeiten sichtbar zu machen“. 31 Es sind eben solche Praktiken, durch welche die soziale Rolle des Experten performativ produziert wird, wie dies an den Inszenierungsformen vormoderner Experten beobachtet werden kann: So kommunizieren etwa bereits einzelne Handlungen – die Harnschau des Mediziners, die sorgfältige Positionierung von Instrumenten durch den Astronom – neben ihrer rein faktischen Bedeutung gleichzeitig die Expertise des auf diese Weise Handelnden. Naturwissenschaftliche Experimente des 17.Jahrhunderts sind als theatrale Ereignisse beschreibbar, die durch gezielte Inszenierungen vor Zeugen Wissensvermittlung und Zuschaustellung zugleich waren. 32 Wenn bei Inszenierungen aber der Körper des individuellen Akteurs zum Medi-
30 Erving Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. 12.Aufl. München 2013. 31 Ebd.31. 32 Ludger Schwarte/Andrea Sieber, Medien(R)evolutionen: Konturen von Materialität und Eigensinn, in: Arbeitsgruppe Medien: Über das Zusammenspiel von ‚Medialität‘ und ‚Performativität‘ (wie Anm.27), 136f.
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um der Expertenrolle und seine faktischen Handlungen zum Medium von Expertise werden, so bedeutet dies nicht, dass sie ganz darin aufgingen – was aus der eingeführten Definition des Mediums notwendigerweise resultiert. Anknüpfend an Helmut Plessners Dialogik von Leib-Sein und Körper-Haben geht Erika Fischer-Lichte daher davon aus, dass der „phänomenale Leib“ eines Akteurs nie ganz hinter dem „semiotischen Körper“ – der Rolle – verschwindet. 33 Vielmehr bleibt es stets in der Schwebe, es kommt zu einer Kopräsenz von Träger und dargestellter Rolle. Eben dieses Oszillieren zwischen individuellem Akteur und Expertenrolle, zwischen phänomenalem Leib und semiotischem Körper aber eröffnet gleichsam einen Spielraum für Skepsis auf der Seite des Rezipienten. Daran wird deutlich, dass eine Inszenierung keinesfalls immer gelingen muss, dass allein schon ihre spezifischen medialen Bedingungen stets auch die Möglichkeit ihres Scheiterns implizieren. Der verbleibende Freiraum ermöglicht immer auch Kritik am zweifelhaften, nur scheinbaren, am falschen Experten. Das Oszillieren zwischen individuellem Träger und Expertenrolle sorgt für eine latente Grundskepsis. Dass der materiale Eigensinn des Mediums die Vermittlung der vom Akteur intendierten ‚Botschaft‘ konterkarieren kann, woraus die prinzipielle Ambiguität der Performance resultiert (darauf wird unten näher eingegangen), ist ein Aspekt der Rollendarstellung, den auch Erving Goffman in seiner Untersuchung zur Theatralität sozialer Interaktionen dezidiert hervorhebt, wenn er den „Eindruck von Realität, den eine Darstellung erweckt“ als ein „zartes, zerbrechliches Ding“ bezeichnet. 34 Dies führt Goffman vor allem darauf zurück, „dass das Publikum insgeheim der Realität, die ihm aufgezwungen wird, skeptisch gegenübersteht“. 35 Aus der Neigung des Publikums, etwas als Zeichen aufzufassen und zu deuten, resultiert die permanente Gefährdung einer Darstellung, deren Kohärenz von zahlreichen potenziellen Störungen bedroht ist. Wenn Goffman in diesem Zusammenhang von „Unstimmigkeiten zwischen dem erweckten Anschein und der Wirklichkeit“ 36 spricht, so verweist dies auf eine Spannungsbeziehung, wie sie ebenfalls durch die von FischerLichte postulierte Kopräsenz von phänomenalem Leib und semiotischem Körper in
33
Erika Fischer-Lichte, Was verkörpert der Körper des Schauspielers?, in: Sybille Krämer (Hrsg.), Perfor-
mativität und Medialität. München 2004, 141–162.
38
34
Goffman, Wir alle spielen Theater (wie Anm.30), 52.
35
Ebd.48.
36
Ebd.55.
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der Darstellung konstituiert wird. Die kohärente Darstellung des semiotischen Körpers wird durch das permanente Einbrechen des phänomenalen Leibs gestört, worin sich das Spannungsverhältnis von ‚erwecktem Anschein‘ und ‚Wirklichkeit‘, von dem Goffman ausgeht, manifestiert. Zeigt der Darsteller etwa Zeichen der Nervosität, welche nicht zur Definition seiner sozialen Rolle, die er verkörpern möchte, gehört, so drängt sich „dem Publikum ein Bild des Mannes hinter der Maske auf“. 37 Diese unaufhebbare Ambivalenz, die durch den Körper als eigensinnigem Medium generiert wird, bildet die Grundlage der prinzipiellen Skepsis, welche das Publikum dem Experten stets entgegenbringt. Eben hierin ist ein grundsätzlicher Aspekt der medialen Bedingungen der Performativität von Expertenkulturen zu sehen. 3. Text, Kontext und Rezeption Mit diesem letzten Punkt ist allerdings ein weiterer zentraler Gesichtspunkt der Medialität von Performativität im Allgemeinen angesprochen: die gleichzeitige Präsenz, die Interdependenz von Produzent und Rezipient bei der Sinnkonstitution von performativen Handlungen. Während weder in der Sprechakttheorie Austins noch in Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns 38 die aktive Rolle des Rezipienten eine zentrale Position einnimmt, eröffnet eine Fokussierung der für performative Ereignisse konstitutiven Rezipientenseite eine Möglichkeit, den vermeintlichen Gegensatz der Modelle ‚Kultur als Text‘ und ‚Kultur als Performance‘ neu zu perspektivieren. Dass ein holistisches Kulturverständnis, wie es die Formulierung ‚Kultur als Text‘ suggeriert, nicht erst für die von transkultureller Vermischung und Überlagerung geprägte postkoloniale Situation 39, sondern bereits für die Vielfalt sozialer Gruppen der mittelalterlichen Gesellschaften 40 unangemessen ist, ist offensichtlich. Dennoch, oder gerade deshalb, können konkrete performative Handlungsformationen als kulturelle Mikrotexte beschrieben werden, ohne dabei einen synekdochischen Analogieschluss von idiosynkratischen Bedeutungskonsti-
37 Ebd.192. 38 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. 8.Aufl. Frankfurt am Main 2011. 39 Dieses Problem diskutiert allgemein Bachmann-Medick, Textualität (wie Anm.16), 320f. 40 Dazu Otto Gerhard Oexle, Soziale Gruppen in der Ständegesellschaft. Lebensformen des Mittelalters und ihre historischen Wirkungen, in: ders./Andrea von Hülsen-Esch (Hrsg.), Die Repräsentation der Gruppen. Texte – Bilder – Objekte. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 141.) Göttingen 1998, 9–44, hier 18: Soziale Gruppen konstituieren durch ihre gruppenspezifischen Wertesysteme, Denk- und Handlungsformen jeweils eine eigene ‚Kultur‘.
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tutionen auf eine übergreifende kulturelle Semantik zu postulieren, oder umgekehrt, aus einem systemischen Gesamtzusammenhang undifferenziert Einzelphänomene zu deduzieren. Dass Handlungsweisen und Praktiken grundsätzlich in hohem Maße kulturspezifisch sind, hat bereits Marcel Mauss in seiner bekannten Studie zu den Körpertechniken eindrucksvoll gezeigt. 41 Gleichwohl müsste ein kultureller Mikrotext so definiert werden, dass er zwar in bestehende Strukturen und Kontexte eingebunden ist, aber durch seine performativen Qualitäten – die vorgängige Codes partiell negieren – gleichzeitig über sie hinausgehen und für neue Bedeutungen ‚offen‘ sein kann. Entscheidend für das Verhältnis von Text und Performanz sowie für die Rolle des Rezipienten ist dann jedoch der spezifische Textbegriff. Versteht man einen solchen performativ generierten Mikrotext gerade nicht als geschlossene Repräsentation sedimentierter Bedeutungen, dem eine a priori feststehende Sinn-Substanz zugrunde liegt, sondern als polysemantisches Zeichengefüge, welches erst des aktiven Anteils des Rezipienten bedarf, damit kohärenter Sinn dialogisch generiert werden kann, so kann die Einbindung performativer Ereignisse in kulturelle Kontexte ebenso berücksichtigt werden wie die postulierte Bedeutungsoffenheit und die Produktion von ‚Überschüssen‘. Demnach wäre an einen Textbegriff zu denken, wie er etwa in der Rezeptionsästhetik der Konstanzer Schule vertreten wurde. Hans Robert Jauß und Wolfgang Iser, wenngleich aus verschiedenen Richtungen argumentierend, betonen in ihren Arbeiten jeweils die prinzipielle Polysemie des Textes sowie die aktive Rolle des Rezipienten bei deren Reduktion: „Wenn wir den Text pauschal als Ansammlung von Zeichen verstehen, so geschieht im Lesen ein ständiges Gruppieren solcher Zeichen, worin sich eine elementare Aktivität des Strukturierungsprozesses der Lektüre zum Ausdruck bringt.“ 42
Bedeutungen werden nicht wirklich performativ ‚produziert‘, sondern erst von Seiten der Rezipienten zugeschrieben. Dabei würde die Performance aber dennoch „strukturale Charakteristika“ aufweisen, die „insgesamt die Ordnung dieser Inter-
41
Marcel Mauss, Les techniques du corps, in: ders., Sociologie et anthropologie. 12.Aufl. Paris 2010, 365–
386. Mauss führt vor, dass selbst Tätigkeiten wie das Schlafen keinesfalls ‚natürlich‘ sind, sondern in unterschiedlichen Kulturen große Differenzen aufweisen: „La notion que le coucher est quelque chose de naturel est complètement inexacte“ (ebd.378). 42
Wolfgang Iser, Der Lesevorgang, in: Rainer Warning (Hrsg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis.
(Uni-Taschenbücher, 303.) 2.Aufl. München 1979, 253–276, hier 264.
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pretation regulierten und stimulierten“. 43 Einen solchen ‚offenen‘ Textbegriff, der der Interpretation allerdings stets einen gewissen Rahmen setzt, hatte bereits zu Beginn der 1960er Jahre Umberto Eco in seinem Buch „Opera Aperta“ entwickelt. Diese Dialektik von Form und Offenheit führt Eco auf eine „Logik der Signifikanten“ zurück, „durch die das Werk seine doppelte Funktion der Stimulierung von Interpretationen und der Kontrolle des Freiheitsraums der Interpretationen erfüllt“. 44 Es wäre also zu fragen, ob ein solch dynamischer Textbegriff mit offenem Bedeutungshorizont als adäquate Analysekategorie für Performativität dienen kann. Es ist bereits zur Sprache gekommen, dass jede Performance aufgrund ihrer medialen Bedingungen eine unhintergehbare Ambiguität aufweist. Es ist den Akteuren nicht möglich, die Bedeutung ihrer Handlungsformen eindeutig zu bestimmen, da der Akt der Verkörperung einer Rolle bereits den Eigensinn des Mediums ins Spiel bringt. Allein durch die Dialogik von phänomenalem Leib und semiotischem Körper wird die Darstellung einer sozialen Rolle, etwa einer Expertenrolle, zu einem ‚offenen‘ Text, der von den Rezipienten immer auch anders gelesen werden kann, als es der Darsteller selbst intendiert. Andererseits verfügen Akteure über Möglichkeiten, ihre Aufführungen so zu gestalten, dass sie der Interpretation Grenzen setzen und Störungen weitgehend reduzieren können. Es wird weiter unten gezeigt werden, dass es nicht zuletzt die institutionelle Legitimation von Darstellern ist, die eine solche Beeinflussung der Rezeption ermöglicht. Zunächst soll jedoch der Begriff des performativen Mikrotextes noch etwas genauer definiert werden, wobei auch die ‚textimmanenten‘ Charakteristika besser verständlich werden sollen, durch die die ‚Wirkung‘ einer Performance reguliert wird. Die Struktur eines performativen Mikrotextes besteht, anders als ein Text aus rein typographischen Zeichen, in einer syntagmatischen Konfiguration heterogener Zeichen, also Zeichen, die jeweils unterschiedlichen Zeichensystemen entstammen. 45 Einzelne solcher Zeichen können zu komplexeren Einheiten kombiniert werden, die dann als komplexe Zeichen etwa spezifische ‚Handlungen‘ konstituieren. So wird das komplexe Zeichen der Handlung ‚Grüßen‘ „aus mimischen, gesti43 Umberto Eco, Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. 3.Aufl. München 1998, 5. 44 Umberto Eco, Einführung in die Semiotik. (Uni-Taschenbücher, 105.) 9.Aufl. München 2002, 162. 45 Einen solchen Ansatz hat Erika Fischer-Lichte für die Semiotik des Theaters entwickelt, vgl. Erika Fischer-Lichte, Die Zeichensprache des Theaters. Zum Problem theatralischer Bedeutungsgenerierung, in: Renate Möhrmann (Hrsg.), Theaterwissenschaft heute. Eine Einführung. Berlin 1990, 233–259.
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schen, proxemischen, linguistischen und paralinguistischen Zeichen gebildet“. 46 Werden in einer Performance demnach verbale und nonverbale Zeichen zu komplexen Zeichen und diese schließlich zum Syntagma einer Aufführung als ‚Text‘ verwoben, handelt es sich also um eine Konstellation heterogener Elemente, die in ein Verhältnis reziproker Profilierung treten, sich wechselseitig ‚unterstützen‘, aber auch modifizieren oder negieren können. Dass diese Relation der Zeichen untereinander somit auch ‚widersprüchlich‘ sein kann, ist ebenso ein Grund für die Polysemie des Textes. Neben den Zeichen der verbalen Sprache kommt bei der Darstellung von ‚Handlungen‘ kinesischen Zeichen eine wichtige Bedeutung zu. 47 Diese Zeichen gehen bei der Bildung komplexerer semiotischer Einheiten jedoch nicht nur mit linguistischen, paralinguistischen oder mimischen Zeichen eine Verbindung ein, sondern ebenfalls etwa mit der Kleidung, dem Bühnenbild 48 oder sonstigen Requisiten. 49 Das zusammengesetzte Zeichen einer ‚Rolle‘ ist demnach eine hochkomplexe Konfiguration verschiedener Elemente, welche der Akteur als eine kohärente Erscheinung präsentieren muss, damit seine Darstellung gelingen kann. Somit treten die strukturalen Merkmale eines performativen Textes klarer zutage, deren Gestaltung es den jeweiligen Darstellern ermöglicht, die Rezeption ihrer Performance in ihrem Sinne zu beeinflussen. Hat die Inszenierung eine bestimmte Wirkung, löst sie also beim Publikum Zuschreibungen aus, welche vorgängige Bedeutungen modifizieren oder ersetzen, d.h. zu einer partiellen Veränderung einer semantischen Disposition führen, so war die performative Darbietung kulturell produktiv, unabhängig davon, ob die erzielte Wirkung den Intentionen des Akteurs entspricht. Dass ein performativer Mikrotext einen solchen kulturell produktiven Effekt haben kann, wird jedoch nur dadurch ermöglicht, dass er – wie weiter oben bereits angedeutet – sowohl an bestehende Strukturen gebunden ist, vor deren Horizont er seine Bedeutung erst konstituieren kann, als auch über sie hinausgeht und neuen Sinn generiert, der dann wiederum auf vorgängige Bedeutungssysteme zurückwirkt. Dies hat Umberto Eco als Dialektik zwischen Code und Botschaft beschrieben:
46
42
Ebd.240.
47
Zur Kinesik: Eco, Einführung in die Semiotik (wie Anm.44), 258.
48
Zum Bühnenbild siehe Goffman, Wir alle spielen Theater (wie Anm.30), 23–30.
49
Fischer-Lichte, Zeichensprache (wie Anm.45), 250.
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„Einerseits scheint es uns legitim, zu sagen, […] dass jede Umstrukturierung der Codes durch die Wirkung neuer Botschaften, neuer faktischer Urteile und neuer semiotischer Urteile geschieht, die den Code dazu zwingen, sich zu bereichern oder zusammenzustürzen. Andererseits muss aber daran erinnert werden, dass eine Botschaft, wie neu sie auch immer sei, durch die Existenz vorhergehender Codes ermöglicht wird; anders gesagt: es ist möglich die Codes umzustrukturieren, aber nur weil man von Codes ausgeht.“ 50
Es wird deutlich, dass sich dieser Ansatz unmittelbar auf die Diskussion um das Verhältnis von Performativität und Textualität beziehen lässt. Ist es auf diese Weise also möglich, das von Erika Fischer-Lichte konstatierte Austausch- und Spannungsverhältnis zwischen den beiden Modellen ‚Kultur als Text‘ und ‚Kultur als Performance‘ 51 als eine solche Dialogik zwischen vorgängigen Codes und der ‚Botschaft‘ eines performativen Mikrotextes zu konzeptualisieren? Wenn die Botschaft die vorhergehenden Strukturen, an welche sie gebunden bleibt, teilweise negiert (und dadurch modifiziert), wird verständlich, dass es sich bei der Definition des performativen Textes in jedem Fall um ein dynamisches Textverständnis handeln muss. 52 Es bliebe dann die Frage, inwieweit ein solcher ‚dynamischer Text‘, der sich im Sinne Roland Barthes’ „nur in einer Arbeit, einer Produktion“ 53 manifestiert, als Verbindungsglied zwischen einem textualistischen und einem performativen Kulturverständnis fungieren kann. Spricht man dabei von Dynamik, ist ebenfalls noch einmal zu betonen, dass die Dynamik des Textes stets mit seiner ‚Offenheit‘ zusammenzusehen ist, wie dies in der Definition Roland Barthes’ deutlich wird: „Er [der Text] ist kein ästhetisches Produkt, sondern eine signifikante Praxis; er ist nicht eine Struktur, sondern eine Strukturierung; er ist nicht ein Objekt, sondern eine Arbeit und ein Spiel; er ist nicht eine Menge geschlossener, mit einem freizulegenden Sinn versehener Zeichen, sondern ein Volumen sich verschiebender Spuren.“ 54
Und dementsprechend formuliert Barthes auch seine Absicht bei der Textanaly-
50 Eco, Einführung in die Semiotik (wie Anm.44), 434. 51 Fischer-Lichte, Text und Performance (wie Anm.16), 10. 52 Zu dynamischen Textstrukturen und Performativität: Bernd Häsner/Henning S. Hufnagel/Irmgard Maassen/Anita Traninger, Text und Performativität, in: Klaus W. Hempfer/Jörg Volbers (Hrsg.), Theorien des Performativen. Sprache – Wissen – Praxis. Bielefeld 2011, 69–96. 53 Roland Barthes, Vom Werk zum Text, in: Stephan Kammer/Roger Lüdeke (Hrsg.), Texte zur Theorie des Textes. Stuttgart 2005, 40–51, hier 42. 54 Ders., Das semiologische Abenteuer. Frankfurt am Main 1988, 11.
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se: „Unser Ziel besteht darin, den Plural des Textes, die Offenheit seiner Signifikanz denken, vorstellen und erleben zu können“. 55 Die Dialogik von Code und Botschaft hat aber noch eine weitere Implikation für das Verständnis des Verhältnisses von ‚Kultur als Text‘ im Allgemeinen und einem performativen Mikrotext (mit seiner Dynamik und Offenheit) im Besonderen. Das holistische Kulturverständnis, welches die Formulierung ‚Kultur als Text‘ suggeriert, wird (selbstverständlich auch für die Gesellschaften des europäischen Mittelalters) unweigerlich obsolet, wenn man davon ausgeht, dass die Codes einer Kultur permanent durch performative Akte umstrukturiert werden. Die Systematisierungsversuche der strukturalen Semantik, die von den Relationen zwischen semantischen Einheiten ihren Ausgang nimmt 56, kommen an eine unüberwindliche Grenze bei der Beschreibung eines ‚Globalen Semantischen Systems‘, da dieses nur als regulative Hypothese fungieren, niemals jedoch analytisch erfasst werden kann. 57 Dies verweist allerdings nicht nur auf die ständige Prozesshaftigkeit der Semiose, die aus der Performativität sozialer Interaktionen resultiert, sondern ebenso auf die Pluralität von – einander auch widersprechenden – Codes und semantischen Feldern innerhalb ein und derselben Kultur. 58 Eine solche Pluralität ist allerdings wiederum eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass ein ‚offener Text‘ von verschiedenen Rezipienten unterschiedlich interpretiert werden kann. Die spezifische Eigenschaft von performativen Kommunikationsformen, von unterschiedlichen Seiten divergierende Deutungen erfahren zu können, ist in den Münsterer Forschungen zur ‚symbolischen Kommunikation‘ 59 mehrfach hervorgehoben worden. Barbara Stollberg-Rilinger weist darauf hin, dass gerade die Ambiguität symbolischer Formen der Kommunikation es ermöglicht, „dass die Deutungsvarianten der am Kommunikationsgeschehen Beteiligten unsichtbar bleiben können, obwohl sie möglicherweise erheblich auseinanderlie55
Ebd.267.
56
Algirdas Julien Greimas, Sémantique Structurale. Paris 1986, 106.
57
Eco, Einführung in die Semiotik (wie Anm.44), 439.
58
Ebd.94.
59
Barbara Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – For-
schungsperspektiven, in: Zeitschrift für historische Forschung 31, 2004, 489–527; Gerd Althoff, Zur Bedeutung symbolischer Kommunikation für das Verständnis des Mittelalters, in: Frühmittelalterliche Studien 31, 1997, 370–389; Gerd Althoff/Ludwig Siep, Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur französischen Revolution. Der neue Münsterer Sonderforschungsbereich 496, in: Frühmittelalterliche Studient 34, 2000, 393–412.
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gen“. 60 Begreift man Gesellschaft als ein Gefüge sozialer Gruppen, die jeweils eine eigene ‚Kultur‘ mit jeweils spezifischen Denk- und Handlungsformen sowie Wertesystemen konstituieren können 61, so wird deutlich, dass man auch mit gruppenspezifischen Codes zu rechnen hat, dass also eine Performance, als zunächst leere signifikante Form, von Mitgliedern unterschiedlicher sozialer Gruppen mit verschiedenen Inhalten ‚gefüllt‘ werden kann. Ein solches Kultur- und Gesellschaftsverständnis, das mit holistischen Vorstellungen gänzlich unvereinbar ist, käme durchaus der Auffassung Max Webers entgegen, der in seiner Soziologie bekanntlich weitgehend ohne einen übergreifenden Begriff von ‚der‘ Gesellschaft auskam. Weber analysiert die Rationalität differenzierter ‚Lebensordnungen‘ (sowie deren Relationen), nicht jedoch die eines ‚gesellschaftlichen Ganzen‘. 62 In ähnlicher Weise versteht der amerikanische Soziologe Randall Collins Gesellschaft als eine bewegliche Konstellation von sozialen Gruppen, Organisationen und Netzwerken. 63 Geht man jedenfalls von einer Pluralität sozialer Gruppen aus, so impliziert dies auch eine entsprechende Diversität der Prädispositionen von Rezipienten. Die Offenheit des performativen Textes steht also in unmittelbarer Beziehung zu den divergierenden Prädispositionen des Publikums, die der Darstellung verschiedenen Sinn zuschreiben, was umso deutlicher zeigt, dass kulturelle Mikrotexte nicht Ausdruck sedimentierter Bedeutungen einer Kultur im Allgemeinen sein können. Für die konkrete Rezeptionssituation performativer Kommunikationsakte ist hinsichtlich der Möglichkeit eines entsprechend partiell abweichenden ‚Erwartungshorizonts‘ 64 einzelner Rezipienten demnach zu bedenken, was Wolfgang Iser für den Vorgang der Textlektüre beschreibt: In diesem werden „die individuellen Dispositionen des Lesers, seine Bewusstseinsinhalte, seine epochalen, schichtenspezifisch bedingten Anschauungen sowie seine eigene Erfahrungsgeschichte in mehr oder minder mas-
60 Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne (wie Anm.59), 506. 61 Oexle, Soziale Gruppen (wie Anm.40). 62 Hartmann Tyrell, Max Webers Soziologie – eine Soziologie ohne ‚Gesellschaft‘, in: Gerhard Wagner/ Heinz Zipprian (Hrsg.), Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik. Frankfurt am Main 1994, 390–414, hier 394. 63 Randall Collins, Conflict Theory and the Advance of Macro-Historical Sociology, in: George Ritzer (Ed.), Frontiers of Social Theory. The New Synthesis. New York 1990, 68–87; Jörg Rössel, Konflikttheorie und Interaktionsrituale. Randall Collins’ Mikrofundierung der Konflikttheorie, in: Zeitschrift für Soziologie 28, 1999, 23–43, hier 34. 64 Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, in: Warning (Hrsg.), Rezeptionsästhetik (wie Anm.42), 126–162.
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siver Weise mit den Zeichen des Textes zu einer Sinnkonfiguration zusammengeschlossen“. 65 Ergibt sich somit also auch im Hinblick auf die Verknüpfung der Rezeptionstheorie mit kultur- und gesellschaftstheoretischen Überlegungen die Notwendigkeit, den performativen Text als offenen zu definieren, so sollte nach dem bisher Gesagten jedenfalls deutlich geworden sein, dass die Seite der Rezeption konstitutiver Bestandteil performativer Bedeutungsgenerierung ist und erst durch sie eine Performance kulturell produktiv sein kann oder nicht. Dies ist eine direkte Konsequenz der Tatsache, dass die spezifischen medialen Bedingungen von Performativität durch die Kopräsenz und Dialogik von Produzent und Rezipient konstituiert sind. Es stellt sich abschließend dennoch die Frage, auf welche Weise Akteure die Inszenierung einer sozialen Rolle so gestalten können, dass sie trotz der Störungen, die durch den Eigensinn des Mediums verursacht werden, eine Wirkung in ihrem Sinne erzielen können und dabei also Rezipienten mit möglicherweise divergierenden Erwartungshorizonten zur Zuschreibung der jeweils gewünschten Bedeutungen motivieren. Der aktive Anteil des Rezipienten an der Sinnkonstitution einer Performance gewinnt für die Performativität von Expertenkulturen und die Frage nach den Inszenierungsformen vormoderner Experten in dem Sinne hohe Relevanz, als damit die Faktoren ins Blickfeld rücken, die das Wechselspiel von Inszenierung und Zuschreibung, welches die Expertenrolle erst hervorbringt, beeinflussen. Wenn gesagt wird, dass die Expertenrolle durch gezielte Inszenierungen performativ erzeugt werden kann, so handelt es sich tatsächlich um eine Zuschreibung der Expertenrolle durch die Rezipienten, welche aber von den „strukturalen Charakteristika“ der Performanz als kulturellem Text „stimuliert“ und „reguliert“ wird. Über solche Inszenierungsformen versuchen Wissensträger, die Zuschreibung des Expertenstatus zu provozieren, um auf diese Weise symbolisches Kapital zu akkumulieren. Auch der bereits etablierte Experte schafft es somit, sein symbolisches Kapital zu erhalten oder zu vergrößern, indem er durch Inszenierungsstrategien die Zuschreibung von Autorität erzwingt. Dass dies gelingt, ist besonders dann höchst wahrscheinlich, wenn seine Autorität institutionell fundiert ist, wenn er, wie Pierre Bourdieu betont, als autorisierter Repräsentant einer Institution auftritt. 66 Das Zusammenspiel von Pro-
46
65
Iser, Lesevorgang (wie Anm.42), 264.
66
Pierre Bourdieu, Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tauschs. Wien 1990, 75.
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duktion und Rezeption, von Inszenierung und Zuschreibung funktioniert insbesondere dann, wenn die Prädispositionen der Rezipienten bereits eine Anerkennung der institutionell begründeten Autorität des Experten implizieren. Damit ist es vor allem die Institutionalisierung in Expertenkulturen, die das Oszillieren zwischen phänomenalem Leib und semiotischem Körper in Inszenierungen zugunsten des Letzteren – der Expertenrolle – entscheidet und den Rezipienten zur entsprechenden Zuschreibung motiviert. Hat das Publikum bereits Kenntnis von einer „formellen Beglaubigung“ 67 des Experten, wird die Gefährdung der Darstellung durch potenzielle Störungen erheblich reduziert. Wie Goffman ausführt, wird die Rezeption einer Aufführung stets durch die Gruppe oder Einrichtung, welcher der Einzelne angehört, mitgeprägt: „Zuschauer neigen dazu, das Selbst, das der einzelne Darsteller während einer Vorstellung von sich entwirft, als verantwortlichen Repräsentant seiner Kollegengruppe, seines Ensembles und seiner gesellschaftlichen Einrichtung zu akzeptieren. […] In gewissem Sinne werden diese größeren Sozialeinheiten – Ensembles, Institutionen usw. – jedes Mal mit hineingezogen, wenn der Einzelne seine Rolle spielt“. 68
Nach Goffman hängt es daher oftmals gerade von sozialen Institutionen ab, ob die Performance eines Akteurs gelingt. Deshalb werde es auch besonders bei Rollen, die auf einer formellen Beglaubigung beruhen, als „unentschuldbares Vergehen“ angesehen, sie vorzutäuschen. 69 4. Zwischenfazit Die Implikationen dieser Zusammenhänge seien hier noch einmal kompakt formuliert: Es ist davon auszugehen, dass die spezifische Materialität des Körpers als Medium der Expertenrolle einer Eigenlogik folgt, welche es verhindert, dass die intendierte ‚Botschaft‘ neutral übertragen würde. Stattdessen kommt es zu einer Dialogik von phänomenalem Leib und semiotischem Körper, wodurch die Performance einer potenziellen Störung ausgesetzt wird. Das Oszillieren zwischen individuellem Akteur und dargestellter Rolle bildet gleichsam einen Aufhänger für die Skepsis, welche das Publikum der Darstellung grundsätzlich entgegenbringt. Dass es einem
67 Goffman, Wir alle spielen Theater (wie Anm.30), 57. 68 Ebd.221. 69 Ebd.57.
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Akteur trotz Störungen und Skepsis dennoch möglich wird, das Publikum zur Zuschreibung der Expertenrolle zu veranlassen, um dadurch symbolisches Kapital zu akkumulieren, hängt nicht nur von der konkreten Gestaltung seiner Performance – also ‚textimmanenten‘ Aspekten – ab, sondern ebenso vom ‚Kontext‘ seines Auftretens, vor allem davon, ob sein beanspruchter Expertenstatus institutionell legitimiert ist. Ist dies der Fall und beinhalten die Prädispositionen bzw. der ‚Erwartungshorizont‘ der Rezipienten bereits ein Wissen um die institutionelle Beglaubigung des Experten, so wird die Gefährdung, welcher die Aufführung prinzipiell ausgesetzt ist, erheblich reduziert. Damit wird eindrücklich deutlich, dass bereits jede einzelne Kommunikationssituation, in der das Wechselspiel von Inszenierung und Zuschreibung der Expertenrolle stattfindet und deren Anerkennung ausgehandelt wird, durchdrungen ist und geprägt wird von einer Dialogik zwischen Systemvertrauen und Expertenskepsis 70, wie sie das Graduiertenkolleg „Expertenkulturen“ untersucht.
II. Medialität, Performativität und Expertenkulturen: Kategorienerprobung in mittelalterlichen Mären Die prinzipielle Grundskepsis am Experten, die im Sinne Erwin Goffmans durch das Spannungsverhältnis von ‚erwecktem Anschein‘ und ‚Wirklichkeit‘ provoziert wird 71 bzw. in der Kopräsenz von ‚phänomenalem Leib‘ und ‚semiotischem Körper‘ in der jeweils aktuellen Inszenierung zum Tragen kommt 72, scheint ein narratives Potential zu eröffnen, mit welchem gerade mittelalterliche Kurzerzählungen, explizit die sogenannten Mären 73, arbeiten. Wenn literarische Texte generell in der Lage sind, hinter die Bedingungen des performativen Aktes zu schauen und anhand ihres literarischen Status beide Momente – phänomenalen Leib wie semiotischen Körper
70
Frank Rexroth, Systemvertrauen und Expertenskepsis. Die Utopie vom maßgeschneiderten Wissen in
den Kulturen des 12. bis 16 Jahrhunderts, in: Björn Reich/Frank Rexroth/Matthias Roick (Hrsg.), Wissen, maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne. (Historische Zeitschrift, Beihefte, Neue Folge, Bd. 57.) München 2012, 12–44. 71
Vgl. Goffman, Wir alle spielen Theater (wie Anm.30), 55.
72
Vgl. Erika Fischer-Lichte, Performativität. Eine Einführung. Bielefeld 2012, 61.
73
Der Begriff des ‚Märe‘ soll im Folgenden nicht als literarischer Gattungsbegriff verstanden werden,
sondern eher auf die entsprechenden mittelalterlichen Kurzerzählungen verweisen.
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– für den Rezipienten auszuformen, dann scheinen die Mären oftmals ihr komisches Potential gerade aus dieser Inkongruenz von Figuren- und Rezipientenwissen zu beziehen. 74 Dabei sind sie auch für die Fokussierung einer Expertenrolle aufschlussreich, kann doch ein auftretender ‚Experte‘ mit zwei heterogenen Rezipienten-Perspektiven, textinterner Figurenperspektive wie textexterner Rezipienten-Perspektive, konfrontiert werden. 75 Im Märe „Die drei Studenten“ von Hans Folz wird dem textexternen Rezipienten ein Student vorgeführt, der sich in „ercztische[n] kleider[n]“ in der vermeintlichen Rolle des medizinischen Experten seinen Beischlaf bezahlen lässt 76, und bei Hans Rosenplüt täuscht ein Landstreicher die Laien als vermeintlich theologischer Experte mit seiner visuellen Aufmachung dermaßen, „das er nit anders werd erkant / von reich, von arm, von iderman / dann das er sei ein gelerter man / und auch ein meister der geschrift“. 77 Der textexterne Rezipient ist in beiden Texten den Figuren mit seinem Wissen voraus, er kennt den eigentlichen Status des individuellen Akteurs, er ist in der Lage ihre Expertise zu durchschauen. Anhand dieses „kognitiven Privilegs von Erzähler und Rezipient“ 78 wird Komik und Gelächter hervorgerufen. Darüber hinaus werden jedoch auch Expertenskepsis und Kritik geschürt; denn entweder die textinternen Rezipienten schreiben, rein visuell stimuliert, vorschnell dem Akteur einen Expertenstatus zu oder der institutionelle Kontext veranlasst die textinternen 74 Vgl. Hans-Joachim Ziegeler, Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen. München/Zürich 1985, 87, spricht sogar von der „für die Mären typischen Informationsfolge“. Die Komik entsteht für ihn dadurch, dass der Rezipient „über den auktorialen Erzähler ein Mehr an Informationen [erhält], und zwar zeitlich (im Rezeptionsvorgang scheinbar) vor einzelnen Protagonisten der Handlung“. Ebenso Gert Hübner, Hans Folz als Märenerzähler. Überlegungen zum narrativen Konzept, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 54, 2004, 265–281, hier 279. Hübner spricht im Hinblick auf die Mären von Hans Folz von einer Differenz „zwischen dem Weltverhältnis, das die Erzählung als sprachliche Handlung für ihre Modellrezipienten konstruiert, und dem Weltverhältnis, das sie auf der textinternen Handlungsebene darstellt“. 75 Die Bezeichnungen ‚textexterner‘ und ‚textinterner‘ Rezipient sollen im Folgenden gewählt werden, um deutlich zu machen, dass man es im Medium des literarischen Textes mit zwei Perzeptionsweisen des Experten zu tun hat, die unterschiedlich stimuliert und gelenkt werden. Während der ‚textexterne‘ Rezipient als Modellrezipient verstanden werden soll und demnach außerhalb der Diegese steht, ist der ‚textinterne Rezipient‘ Teil der Diegese und selbst intradiegetische Figur. 76 Vgl. Hans Folz, Die drei Studenten, V. 359, in: Hanns Fischer (Hrsg.), Hans Folz. Die Reimpaarsprüche. München 1961, 7–21, hier 16. 77 Vgl. Hans Rosenplüt, Die Disputation, V. 64–67, in: Hanns Fischer (Hrsg.), Deutsche Märendichtung des 15.Jahrhunderts. München 1966, 227–238, hier 229. 78 Hübner, Hans Folz (wie Anm.74), 273.
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Rezipienten, dargestelltes (sinnloses) Tun als angewandte Expertise und Wissensinszenierung zu interpretieren. Beide Texte spielen demnach gerade mit den oben angeführten Kriterien der Experteninszenierung, appellieren auf die eine oder andere Weise an den Erwartungshorizont des Rezipienten und führen die potentielle Gefährdung und den Missbrauch der Expertenrolle beispielhaft aus. Für den textexternen Rezipienten kommt in beiden Fällen keine gelingende Experteninszenierung zustande, obsiegt doch der individuelle Akteur über die semiotische Rolle des Experten. So wird bei Folz die ‚Wissensinszenierung‘ als Maskerade entlarvt, unter welcher sich der Student an der Frau rächen kann, so wird bei Rosenplüt die dargestellte theologische Wissensvermittlung vom Text als rein willkürliches Herumgestikulieren des Landstreichers erklärt. Da die von den textinternen Rezipienten semantisch angereicherten Handlungen der vermeintlichen Expertise für den textexternen Rezipienten immer wieder auf ihre faktische Bedeutung reduziert, also medial aufgebrochen werden, kann die Expertenrolle für sie performativ keine Geltung erlangen. 1. Das Märe „Kaiser Lucius’ Tochter“ Im Folgenden soll ein Märe im Fokus stehen, in dem die Expertenrolle nicht als reine Maskerade dargestellt wird, sondern über die visuelle Inszenierung hinaus produktiv wird. Das Märe „Kaiser Lucius’ Tochter“, eine andere, frühere Formulierungsvariante von Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ 79, greift nach Klaus Grubmüller ein Rechtsproblem auf: Es geht um die „Grenzen der Gültigkeit von Verträgen“, um „das Verhältnis von Sinn und Form“, um „Recht und Gerechtigkeit“. 80 Bereits auf den ersten Blick arbeitet das Märe sich dabei an den bereits oben dargestellten Grundpfeilern aus individuellem Akteur und Expertenrolle ab. So spielt der Text mit Körperkonzepten von Frau und Mann, von Laien und Experten; er führt kontrastive Orte von institutioneller Öffentlichkeit und privater Heimlichkeit an, macht die Opposition von Wissen und Nicht-Wissen, von Identität und Verkleidung auf. Unter einem genderorientierten Fokus urteilt Ute von Bloh für dieses Märe demnach auch, dass
79
Vgl. Klaus Grubmüller, ‚Kaiser Lucius’ Tochter‘. Zur Vorgeschichte von Shakespeares ‚Kaufmann von
Venedig‘, in: Ulrich Mölk (Hrsg.), Literatur und Recht. Literarische Rechtsfälle von der Antike bis in die Gegenwart. Göttingen 1996, 94–137, Text 106–137, hier 99. 80
50
Ebd.99.
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das „Thema der Verkleidungen […] die Logik des Falschen fort[schreibt]“. 81 Die Körper fungieren dabei als eine Art „Projektionsfläche für soziale Zuschreibungen, für diejenigen Zeichen also, anhand derer sich Status, Genus und Sexus konstituieren“. 82 Unter der oben ausgeführten Performativitätstheorie scheint es jedoch für das Märe lohnend zu sein, den „weibliche[n] Kleidertausch“ 83 auch unter der Ausfächerung von ‚phänomenalem Leib‘ und ‚semiotischem Körper‘ zu betrachten, werden diese doch im Text gegeneinander angeführt und kontrastiv dargestellt. Das Märe beginnt fernab des Expertendiskurses mit der Einführung der Kaisertochter: „Zu Rom ain richer kaiser saß, / der Lucius gehaissen was. / der hett ain tochter, schön und zart, / wol geboren, von hocher art“ (V. 1–4). 84 Er unterstreicht dabei gerade stereotype Vorzüge einer adligen Dame. 85 Auch im Folgenden gibt der Erzähler Auskunft über ihre Schönheit, wenn er sie als „schene maget“ (V. 26), „maget wol getan“ (V. 32), „maget vin“ (V. 73) und „wonderschön mait“ (V. 249) bezeichnet. 86 Der Schönheit der Kaisertochter ist ein Ritter verfallen, der für 1000 Gulden eine Nacht mit ihr verbringen möchte. Die körperliche Qualifizierung durch den Erzäh-
81 Ute von Bloh, Die Sexualität, das Recht und der Körper. Kontrollierte Anarchie in vier mittelalterlichen Mären, in: Ulrike Gaebel/Erika Kartschoke (Hrsg.), Böse Frauen – Gute Frauen. Darstellungskonventionen in Texten und Bildern des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. (Literatur – Imagination – Realität. Anglistische, germanistische, romanistische Studien, 28.) Trier 2001, 75–88, hier 77. 82 Ebd.77. 83 Kerstin Losert, Überschreitung der Geschlechtergrenzen? Zum Motiv der Frau in Männerkleidern im Dolopathos des Johannes de Alta Silva und anderen literarischen Texten des Mittelalters. (Lateinische Sprache und Literatur des Mittelalters, 43.) Bern 2008, 14. 84 Im Folgenden wird das Märe nach der Textedition von Grubmüller, ‚Kaiser Lucius’ Tochter‘ (wie Anm. 79), 106–137, zitiert. 85 Vgl. zur Funktionalisierung der weiblichen Schönheit Joachim Bumke, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. Bd. 2. München 1986, 423, der aufzeigt, dass durch die Darstellung der schönen äußeren Erscheinung gerade auch immer auf die innere moralische Schönheit der Frau verwiesen werden soll. Allgemein zur kanonischen Beschreibung des schönen Frauenkörpers siehe Helmut Tervooren, Schönheitsbeschreibung und Gattungsethik in der mittelhochdeutschen Lyrik, in: Theo Stemmler (Hrsg.), Schöne Frauen – Schöne Männer. Literarische Schönheitsbeschreibungen. Vorträge eines interdisziplinären Kolloquiums. Tübingen 1988, 171–198; sowie Barbara Haupt, Der schöne Körper in der höfischen Epik, in: Klaus Ridder/Otto Langer (Hrsg.), Körperinszenierungen in mittelhochdeutscher Literatur. Kolloquium am Zentrum für interdisziplinäre Forschung an der Universität Bielefeld (18. bis 20.März 1999). Berlin 2002, 47–73. 86 Anders ist dies bei der Motiv-Version in der Creditor-Erzählung des Johannes de Alta Silva, einer um 1200 entstandenen Version der „Sieben weisen Meister“, bei welcher gleich zu Beginn auf die Bildung der Kaisertochter eingegangen wird. So wird betont, dass der Vater sie „in den sieben freien Künsten und der Philosophie unterrichten läßt“, in: Losert, Überschreitung (wie Anm.83), 164.
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ler wird demnach noch durch den Aspekt unterstrichen, dass ein haptisches Begehren des Frauenkörpers in der Werbungsszene omnipräsent ist. Der Ritter bittet die Kaisertochter darum, für 1000 Gulden bei ihr „zu schlaufen nun ain nacht“ (V. 21) und muss sich, nachdem er die Nacht verschlafen hat, von ihr belehren lassen: „[N]un bistu gewesen so swach, / das du haust das antlit din / gen dem stolzen lib min / nie gekert zu ainem maul“ (V. 56–59). „Umb iren lib“ (V. 110) zu bekommen, verschuldet sich der Ritter nach zweifachem vergeblichen Versuch bei einem reichen Bürger, dem er als Erklärung für die gewünschte Leihgabe von seinen beiden vergangenen Versuchen berichtet: „Zom andren maul hon ich zwar / min erb und eigen versetzt gar / umb das gelt, das ich dem wib / geben hon umb iren lib, / der mir nie ward underton“ (V. 107–111). Die gesamte Werbungsszene wird demnach nicht nur vom männlichen Verlangen zum weiblichen Körper hin motiviert, sondern das Verlangen selbst scheint sich auf die reine Materialität des Frauenkörpers reduzieren zu lassen. Dieser materielle Aspekt des Körpers wird fortan auch für den Ritter selbst entscheidend. Denn der oben genannte reiche Bürger lässt sich erst darauf ein, ihm 1000 Gulden zu leihen, als der Ritter seinen eigenen Körper als Pfand einsetzt und dieses Abkommen mit seinem eigenen Blut unterschreibt. Der Ritter muss demnach seinen eigenen Körper, „das Material seiner eigenen Existenz“ 87, einsetzen, um den Körper der Kaisertochter zu bekommen. Mit dem Ratschlag eines „maister lobesan“ (V. 172) schafft der Ritter es nun in der dritten Nacht „uß der magt ain wib“ (V. 277) zu machen und letztendlich mit physischer Gewalt die Gunst der Kaisertochter zu erlangen. Der Ritter „bemächtigt sich demnach gewaltsam des Körpers der Frau“ 88 und erlangt erst so ihre Liebe. Hiermit endet gleichsam die erste ‚Szene‘ und die Überleitung zur „gattungstypischen Schwanklogik“ 89 mit der hier im Fokus stehenden institutionellen Gerichtssituation wird vorbereitet. Die beiden Liebenden vergessen nämlich in ihrer Leidenschaft völlig die Zeit und die vertraglich festgesetzte Frist für die Geldrückzahlung an den Bürger verstreicht.
87
Helmut Plessner, Zur Anthropologie des Schauspielers (1948), in: ders., Gesammelte Schriften. Hrsg. v.
Günter Dux, Odo Marquard u. Elisabeth Ströker. Bd. 7: Ausdruck und menschliche Natur. Frankfurt am Main 1982, 399–445, hier 407.
52
88
Bloh, Sexualität (wie Anm.81), 80.
89
Grubmüller, ‚Kaiser Lucius’ Tochter‘ (wie Anm.79), 101f.
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Erst nach fünfzehn Tagen geht der Ritter reuevoll zum Bürger und möchte seine Schulden gleich doppelt begleichen, was dieser jedoch ausschlägt. „Zustond der burger mit gever / hieß den ritter vil gewer / vachen und fieren vir gericht“ (V. 385–387). Es kommt zur Gerichtsverhandlung. 90 In der Rekonstruktion des Textes anhand der lateinischen Vorlage der „Gesta Romanorum“ spielt sich folgende Szene ab: Die Kaisertochter, die darüber unterrichtet wird, dass ihr Geliebter vor Gericht gekommen ist, verkleidet sich als Ritter, besteigt ein Pferd und reitet zum Gericht. 91 Während im vorausgehenden Teil die Kaisertochter über ihr äußeres weibliches Erscheinungsbild inszeniert worden ist, ist dieses nun für die Figuren nicht mehr identifizierbar, sondern ihre „äußere Kenntlichmachung“ lässt auf eine andere soziale Zugehörigkeit schließen. 92 Diese wird von den Anwesenden vor Gericht nicht weiter in Frage gestellt bzw. diese legitimiert sie sogar zu einer juristischen Rollenübernahme in der gerichtlichen Kommunikationssituation. Während bei den Figuren bereits die ritterliche Erscheinung der Kaisertochter „Erwartungen an ein bestimmtes kommunikatives Verhalten“ provoziert, sie also ein Verhalten an den Tag legen, was ganz dem „dominant integrale[n] Personenkon90 Leider ist die Überlieferungssituation des Märe an dieser Stelle (V. 406ff.) mangelhaft, da zum einen laut Grubmüller, ‚Kaiser Lucius’ Tochter‘ (wie Anm.79), 95, ein Blatt der Handschrift fehlt, zum anderen die Überlieferung generell Probleme bereitet, da die einzig bekannte Handschrift, aus der Friedrich von der Hagen den Text entnahm, verschollen bzw. nicht mehr zu identifizieren ist; vgl. Michael Cruschmann, Art.„Kaiser Lucius’ Tochter“, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters – Verfasserlexikon. 2.Aufl. Bd. 4. Berlin 1983, 947–949. Die fehlende Passage kurz vor dem Gericht lässt sich jedoch in Analogie zu der lateinischen Vorlage der „Gesta Romanorum“ inhaltlich rekonstruieren. 91 In der Version der „Gesta Romanorum“ lautet die entsprechende Passage: „Exploratores reuertentes nunciauerunt ei, quod ad iudicium ductus fuerit. Puella hec audiens ait intra se: ‚Si ille morietur, ego ero rea. Non fiet ita!‘ Statim crines capitis sui precisit ad modum viri, vestes mulieris mutauit et sicut vir se per omnia parauit ascendensque dextrarium ad iudicium equitauit. Cum autem iudex eam vidisset, noticiam eius in nullo habebat, quia credebat eam esse virum, et dixit ei: ‚Karissime, vnde venis?‘ Que ait: ‚De partibus marinis venio. A Casu per istam ciuitatem transitum feci et a uiris fide dignis audiuit, quod quidam miles hic inter vos per quendam mercatorem male sit tractatus. Et ideo iudicium intraui, ut militem a morte liberarem.‘ Ait iudex: ‚Karissime, illum iuuare non potes, quia lex huius regni dictat, quod, sicut homo se voluntarie obligauerit, sic sine contradictione iudicium recipiat, si conuencionem non impleuerit. Miles iste conuenit cum mercatore isto pro quadam summa peccunie, quod, si non solueret die statuto, habeat potestatem plenariam in toto corpore, vbicumque ei placuerit, tantum pondus, quantum sit de peccunia, abscidere. Et ideo hoc nullo modo potest fieri, nisi occidatur.‘ At illa: ‚Domine, si mercator hoc tantum concederet, vt vita eius redimi posset, numquid tibi placeret?‘ Quit ait: ‚Peroptime.‘“ Zitiert nach: Fischer, Deutsche Märendichtung (wie Anm.77), 531. 92 Gerhard Jaritz, Kleidung und Prestige-Konkurrenz. Unterschiedliche Identitäten in der städtischen Gesellschaft unter Normierungszwängen, in: Saeculum 44, 1993, 8–31, hier 8.
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zept“ 93 der Vormoderne entspricht, ist für den textexternen Rezipienten die visuelle Aufmachung von Beginn an obsolet, da er sie als Verkleidung enttarnt weiß. Durch die entstehende Kontrastierung von weiblichem Akteur und männlicher Verkleidung bekommt der textexterne Rezipient plakativ den Aspekt vorgeführt, welcher bereits oben einhergehend mit Erika Fischer-Lichte als Spannung zwischen ‚phänomenalem Leib‘ und ‚semiotischem Körper‘ angesprochen worden ist. Während das Märe zu Beginn demnach durch die Werbungsversuche des Ritters den weiblichen ‚Leib‘ in den Mittelpunkt der Erzählung stellt und diesen auf den materiellen Aspekt des Körpers reduziert, zeigt es nun auf, wie dieser für die Inszenierung der Expertenrolle instrumentalisiert und funktional gemacht wird. Der mediale Aspekt der Rolleninszenierung wird damit transparent. So wählt Klaus Grubmüller sein Vokabular nicht zufällig, wenn er von dieser Szene als „rettende[m] Auftritt der neuerworbenen Geliebten […] in der Rolle eines Rechtskundigen“ spricht. 94 Der theatrale Moment wird vom Text dabei durchweg fokussiert, so unterscheidet die Erzählinstanz fortan permanent zwischen sprechender Kaisertochter (die Erzählinstanz verwendet hier immerfort die weibliche Sprecherbezeichnung: „[D]ie frou sprach“ [V. 454]) und handelnder männlicher Rechtsinstanz (die Figuren sprechen die Kaisertochter mit männlicher Anrede an: „trut herre min“ [V. 451]; „her, nun merkend dise mer“ [V. 427]). Das Trugbild der sich inszenierten Kaisertochter ist demnach durchweg für den textexternen Rezipienten erfahrbar. Signifikant ist, dass gerade die inquit-Formeln, also die „wichtigste Schaltstelle zwischen Erzähler und intradiegetischen Figuren auf der einen, zwischen Autor und extradiegetischen Rezipienten auf der anderen Seite“ 95 diese Differenz eröffnen. Werden die inquit-Formeln eigentlich „wegen ihrer referenz- und prädikationssichernden Funktion“ 96 benutzt, um Eindeutigkeit herzustellen, übersteigen sie diese in der Textpassage und formen aufgrund ihrer Inkongruenz zwischen weibli-
93
Franz-Josef Arlinghaus, Gesten, Kleidung und die Etablierung von Diskursräumen im städtischen Ge-
richtswesen, in: Johannes Burkhardt/Christine Werkstetter (Hrsg.), Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit. (Historische Zeitschrift, Beihefte, neue Folge, Bd. 41.) München 2005, 461–498, hier 467. 94
Grubmüller, ‚Kaiser Lucius’ Tochter‘ (wie Anm.79), 98.
95
Nine Miedema/Franz Hundsnurscher, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Formen und Funktionen von Redesze-
nen in der mittelhochdeutschen Großepik. (Beiträge zur Dialogforschung, 36.) Tübingen 2007, 1–17, hier 10. 96
Franz Hundsnurscher, Das literarisch-stilistische Potential der inquit-Formel, in: Miedema/Hundsnur-
scher (Hrsg.), Formen und Funktionen (wie Anm.95), 102–115, hier 106.
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cher Sprecherbezeichnung und männlicher Anredeformel zwei heterogene referenzielle Bezüge aus: „[S]i sprach: ‚lieber fründ, nim war: / der ritter staut gefangen hie. / [...] silber und gol[t] du nit enwilt? / das nim von im, biß dich bevilt, / genzlich nach dem willen din. / darumb wil ich behaft sin‘“ (V. 415–425). 97
Durch die Verwendung von personaler Deixis ich und lokaler Deixis hie wird im Sinne von Karl Bühlers Origo-Modell das Zeigfeld der Sprache eröffnet, welches ausgehend vom Sprechenden angeordnet und verortet ist. „Von der Origo des anschaulichen Hier aus werden sprachlich alle anderen Positionen gezeigt, von der Origo Jetzt aus alle anderen Zeitpunkte.“ 98 Relevant scheint an dieser Stelle gerade die personale Deixis ich zu sein, erlangt diese doch ihre „Bedeutungspräzisierung“ je nachdem, „was das Zeigfeld den Sinnen zu bieten vermag“. 99 Während im dramatischen Modus der Figurendialoge demnach das ich deiktisch als ein „jung ritter from und gut“ (V. 549) gehandelt wird, dem letztendlich „kluge […] list“ (V. 551) und „grosse […] wishait“ (V. 552) attribuiert wird, weiß der textexterne Rezipient aufgrund seines Informationsvorsprungs, dass der Sprecher die verkleidete Kaisertochter ist und dass ihre Bürgschaft und ihr Auftreten vor Gericht an dieser Stelle rechtlich gesehen keinerlei Berechtigung haben dürften. Für ihn spricht eindeutig eine si, jedoch in der Rolle eines männlichen Rechtsexperten, die Performance des Experten funktioniert aber, denn die Kaisertochter wird nicht als ‚falscher Experte‘ von den sie wahrnehmenden Figuren entlarvt, sondern kann sogar für den textexternen Rezipienten ihr Wissen inszenieren. So zeigt bereits Monika Londner auf, dass die Kaisertochter vor Gericht „alle Finessen eines erfahrenen Rechtsgelehrten aufweist“. 100 Sie ist in der Lage, nachdem ihr Versuch einer gütlichen Einigung vom klagenden Bürger ausgeschlagen worden ist: „[I]ch ton sin nicht, / ich beger ain schlecht gericht / darumb zu sprechen hützutag / nauch mines 97 Dabei darf der Aspekt natürlich nicht unerwähnt bleiben, dass die konstant gleichbleibende Sprecherbezeichnung zumindest bei dramatischen Texten bis in das 17.Jahrhundert hinein eine gängige Vorgehensweise war, „die sich aus den Notations-Konventionen des 16. und 17.Jahrhunderts“ ergab, in: Anke Detken, Im Nebenraum des Textes. Regiebemerkungen in Dramen des 18.Jahrhunderts. (Theatron. Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste, 54.) Tübingen 2009, 15f. 98 Karl Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Mit einen Geleitwort v. Friedrich Kainz. (Uni-Taschenbücher, 1159.) 2., ungekürzter Ndr. der Ausgabe von 1934. Stuttgart/New York 1982, 107. 99 Ebd.90. 100 Monika Londner, Eheauffassung und Darstellung der Frau in der spätmittelalterlichen Märendich-
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briefes lut und sag / und nauch des lands gesatzt und bot“ (V. 434–438), gemäß den Regeln des Gerichtswesens den Richter zum Freispruch des Ritters zu bewegen. Dabei stellt sie nicht nur ihr exklusives juristisches Sonderwissen in Form des lateinischen Rechtssatzes: „[Q]uicumque sanguinem alicuius effud[eri]t, / sanguis eius effundetur“ (V. 477f.) zur Schau, sondern übersetzt dieses auch noch für die anwesenden Laien in die deutsche Sprache 101, deutet es aus und schlägt letztendlich den Bürger rhetorisch mit seinen eigenen Waffen: „[W]ann wie das plut rint domit, / so muß nauch des lands sit / und nauch alten gesatzt und bot / der burger liden solich not, / sam der ritter liden muß. / das ist darüber die recht buß“ (V. 496–501).
Während aus der Perspektive der textinternen Rezipienten demnach die personalen Deiktika auf eine Sprechinstanz (einen phänomenalen Leib) verweisen, die die rechtliche Expertenrolle, den semiotischen Körper, einzunehmen versteht und einnimmt, wird für den textexternen Rezipienten „die theatrale Wahrnehmung als das Oszillieren zwischen individuellem Leib und dargestellter Figur“ 102 gleichsam auserzählt. Referiert dabei das eine Moment auf das sprechende Individuum Kaisertochter und wird durch die permanente feminine Sprecherbezeichnung präsent gehalten, erscheint das andere Moment, die Figur des Experten, im sprachlichen Akt selbst verankert zu sein und sich erst hier zu konstituieren. Seine Konstituierung oder anders gesagt, diese in „der Aufführung hervorgebrachte Körperlichkeit“, scheint jedoch etwas Flüchtiges zu sein, wird sie doch erst „durch die performativen Akte erzeugt“ 103 und unterliegt der Wahrnehmung und Rezeption der beteiligten Zuschauer. Will man demnach im vorliegenden Beispiel die erzeugte Körperlichkeit des Experten näher analysieren, wird man diese medial im sprachlichen Diskurs zu suchen haben, zeugen doch gerade das sprachliche Auf-
tung. Eine Untersuchung auf der Grundlage rechtlich-sozialer und theologischer Voraussetzungen. Berlin 1973, 224f. 101 So übersetzt die Kaisertochter den Rechtssatz mit: „[D]as betüt in tüscher ker: / wer vergüßt des andren plut / in zorns wis und unmut, / des glich im auch geschech, / das man sin plut fliessen sech. / wer den andren bringt zom tod, / dem tut man billich die selb not.“ (V. 479–485). 102 Sybille Krämer, Was haben ‚Performativität‘ und ‚Medialität‘ miteinander zu tun? Plädoyer für eine in der ‚Aisthetisierung‘ gründende Konzeption des Performativen, in: dies. (Hrsg.), Performativität und Medialität (wie Anm.33), 13–32, hier 26. 103 Fischer-Lichte, Performativität (wie Anm.72), 62.
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treten und die sprachliche Inszenierung der Kaisertochter von rechtlicher Kenntnis und Kompetenz. Ein Zwischenfazit lässt sich an dieser Stelle demnach wie folgt formulieren: Geht man davon aus, dass die Expertenrolle eine Zuschreibung durch die Rezipienten ist, die durch gezielte Inszenierungen stimuliert wird, dann legt der Text diese Inszenierungen als solche offen. Er rückt dabei durch die vorausgehende Werbungsszene des Ritters den weiblichen ‚phänomenalen Leib‘ in den Mittelpunkt und stellt diesen in der Gerichtsszene der Expertenrolle als sprachliches Produkt gegenüber. 2. Der Fachjargon Wenn, wie bereits oben dargelegt, die Kaisertochter in lateinischer Sprache den Rechtssatz: „[Q]uicumque sanguinem alicuius effud[eri]t, / sanguis eius effundetur“ (V. 477f.) zitiert 104, dann scheint die gelehrte Inszenierung der Kaisertochter nun auch auf der Ebene des discours signifikant zu werden. Erinnert doch gerade die lateinische Sprache an das professionalisierte Gerichtswesen der Zeit. Die akademische Ausbildung der Juristen erfolgte in der lateinischen Sprache, ebenso wie ihre Referenztexte in Kanonistik und Legistik auf Latein verfasst waren. „Wer sie zitieren will, muss lateinisch sprechen; wer juristisch argumentieren will, muss lateinisch argumentieren“ 105, so bringt Thomas Haye die Austauschbewegung zum Ausdruck. Auch generell gilt, dass „die lateinische Sprache in der alten Zeit das kommunikative Medium der Gelehrten abgab“ 106 und dass sie „Fachsprache der ‚höheren‘ kulturellen Aktivitäten, der Theorie“ 107 war. Während die deutsche Gemeinsprache, die von jedermann gesprochen wird, allseits bekannte Sachverhalte, allgemeines Wissen mit Wörtern abdeckt, benennt die Fachsprache solche Dinge, „die nicht allgemein
104 Grubmüller,‚Kaiser Lucius’ Tochter‘ (wie Anm.79), 104, hat dargelegt, dass dieser Rechtssatz auf den „Kernsatz des alttestamentlichen Vergeltungsprinzips, der Talion: Gleiches soll mit Gleichem vergolten werden“, zurückzuführen ist. 105 Thomas Haye, Lateinische Oralität. Gelehrte Sprache in der mündlichen Kommunikation des hohen und späten Mittelalters. Berlin 2005, 25. 106 Wolf Peter Klein, Die deutsche Sprache in der Gelehrsamkeit der frühen Neuzeit. Von der lingua barbarica zur HaubtSprache, in: Herbert Jaumann (Hrsg.), Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Berlin 2011, 465–516, hier 465. 107 Jürgen Trabant, Das Andere der Fachsprache. Die Emanzipation der Sprache von der Fachsprache im neuzeitlichen europäischen Sprachdenken, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 51/52, 1983, 27–47, hier 29.
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bekannt sind, sondern nur von Fachleuten, Experten gewußt werden“. 108 Der Experte, als Träger von Sonderwissen, benutzt demnach eine Fachsprache, um über dieses Wissen zu kommunizieren. Die Fachsprache ist dabei ganz auf ihre Funktion der „wertfreie[n] Erkenntnis, genaue[n] Darstellung und fehlerfreie[n] Vermittlung fachlicher Kenntnisse“ ausgerichtet. 109 Da die Fachsprache jegliche Form von Nebenbedeutung, Emotion und Konnotation ausschließt, wird ihr ein hohes Maß an Deutlichkeit und Verständlichkeit zugeschrieben. Mithilfe der Fachsprache lässt sich ein Gegenstand exakt darstellen, komplexe Vorgänge können mithilfe von Fachtermini unkompliziert benannt werden. Die funktionalen Eigenschaften der Fachsprache sind nach Thorsten Roelcke demnach auch Deutlichkeit, Verständlichkeit, Ökonomie, Anonymität und Identitätsstiftung. 110 Gerade die Charakteristika der Fachsprache, ihre sprachliche Reduzierung auf das inhaltlich Wesentliche, die Anonymität und Sachlichkeit der Sprache, gerade dieses Wie des Sprechens, bei welchem eigentlich der Sprechende im Hintergrund bleiben sollte, wirken sich aber paradoxerweise genau auf den Sprechenden aus. Sie zeichnen ihn aus, sie inszenieren ihn. 111 Die Art und Weise des Sprechens, sein Fachjargon markiert den Status des Experten. 112 Wenn die Kaisertochter demnach den Satz lateinisch zitiert 113, wird sie zum
108 Ebd. 109 Barbara Schmidt-Thieme, Zur Historiogenese der Fachsprache Mathematik im deutschen Sprachraum, in: Jochen Bär/Marcus Müller (Hrsg.), Geschichte der Sprache. Sprache der Geschichte. Probleme und Perspektiven der historischen Sprachwissenschaft des Deutschen. (Lingua Historica Germanica, 3.) Berlin 2012, 437–458, hier 439. 110 Vgl. Thorsten Roelcke, Fachsprachen. (Grundlagen der Germanistik, 37.) 3., neu bearb.Aufl. Berlin 2010, bes. den Abschnitt „Bestimmung von Fachsprache“, 13–28, hier 24ff. 111 Vgl. zu diesem Sachverhalt für die schriftliche wissenschaftliche Inszenierung die Ausführungen der Arbeitsgruppe ‚Performativität und Wissen(schaft)‘: Der depersonalisierte Stil der Wissenschaftssprache „fungiert vielmehr auch als Agens eines wissenschaftlichen self-fashioning, nämlich der Selbsterzeugung und Inszenierung eines Subjekts, das durch Attribute wie Demut, Disziplin, Gewissenhaftigkeit, Affektbeherrschung usw. ausgezeichnet ist und sich erst so als würdiges Mitglied einer Forschergemeinschaft beglaubigt“, Klaus W. Hempfer/ Bernd Häsner/Irina Rajewsky, Indexikalität, Performativität und Stil im Diskurs der Wissenschaften, in: Arbeitsgruppe: Diskursivierung des Performativen, in: Paragrana 13/1, 2004, 81–127, hier 91. 112 Vgl. Frank Rexroth, Warum Nichtwissen unzufrieden und Spezialwissen unbeliebt macht. Vormoderne Spuren moderner Expertenkritik, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 66, H. 9/10, 2012, 896–906, hier 900. 113 Und dabei scheint gerade der Aspekt interessant zu sein, dass dieser Rechtssatz ein wörtliches Zitat aus der lateinischen Vorlage der „Gesta Romanorum“ ist, der aber hier gerade nicht in die deutsche Sprache übersetzt worden ist, vgl. Bloh, Sexualität (wie Anm.81), 84.
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einen mit der gelehrten Gemeinschaft vor Gericht assoziiert, zum anderen wird ihr Status als Experte inklusive ihres exklusiven Sonderwissens auf der discours-Ebene markiert und dadurch „eine symbolische Grenze zur Welt der Laien“ gezogen. 114 Die sprachliche Medialität geht in diesem Beispiel demnach nicht nur in der Vermittlung eines Wissens auf, sondern wird im Sinne Christian Kienings selbst produktiv 115: Es kommt somit nicht so sehr darauf an, dass alle Anwesenden alles verstehen, sondern dass eine Situation, ein Status anerkannt und respektiert wird. Das Sprechen stellt sich als eine Art Aufführung dar, das Sprechen wird wahrgenommen, jedoch nicht zwangsläufig verstanden. Oder mit Erika Fischer-Lichte gesprochen: „Aufführungen werden […] zunächst einmal erfahren, ehe sie vielleicht später – wenn überhaupt – verstanden werden.“ 116 Überaus signifikant ist an dieser Stelle, dass die Kaisertochter den Satz bzw. ihr Fachwissen nicht in der exklusiven lateinischen Sprache stehen lässt, sondern ihn ebenfalls für die Laien, textextern wie textintern, durch die nachfolgende Übersetzung in der deutschen Sprache zugänglich macht. Dem Status des Experten, der gerade auch in Kommunikationssituationen mit Laien als „Antwortgeber“ 117 fungiert, wird sie dadurch gerecht. Die Übersetzung in die „tüsche ker“ (V. 479) macht aber wiederum den performativen Charakter der Sprachverwendung sichtbar. So gibt es pragmatisch gesehen keinen erkennbaren Grund, warum die Kaisertochter ihr juristisches Wissen vorerst auf Latein vermitteln sollte, es sei denn ihr Sprechen ist noch einem anderen Regelwerk verpflichtet. 3. Der Rechtsdiskurs Franz-Josef Arlinghaus zeigt für das 16. und 17.Jahrhundert auf, wie durch die Nutzung römischrechtlicher, fremdsprachlicher Fachtermini vor Gericht der Rechtsdiskurs als solcher gekennzeichnet wurde. 118 Anhand der Fachsprache wird demnach nicht nur der Experte als solcher erkennbar, sondern der Fachdiskurs
114 Rexroth, Nichtwissen und Spezialwissen (wie Anm.112), 900. 115 Christian Kiening, Medialität in mediävistischer Perspektive, in: Poetica 39, 2007, 285–352, hier 350. 116 Erika Fischer-Lichte, Performance, Inszenierung, Ritual. Zur Klärung kulturwissenschaftlicher Schlüsselbegriffe, in: Jürgen Martschukat/Steffen Patzold (Hrsg.), Geschichtswissenschaft und ‚performative turn‘. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Köln 2003, 33–54, hier 39. 117 Caspar Hirschi, Tragik des wissenschaftlichen Experten. Der Sturz der Académie Royale des Sciences, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 66, H.9/10, 2012, 907–918, hier 907. 118 Vgl. Franz-Josef Arlinghaus, Sprachformeln und Fachsprache. Zur kommunikativen Funktion ver-
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selbst wird konstruiert. Es sei durch formalisiertes Sprechen, später durch die Verwendung von Fachtermini, sichergestellt worden, dass sich an einem Gerichtstag der Rechtsdiskurs vom Alltagsdiskurs, von seinen Alltagseinflüssen, seinen Regeln und Machtpositionen abgrenzt. Zusätzlich zum strengen Rechtsformalismus zeigt Arlinghaus auf, dass es die ständigen sprachlichen Wiederholungen des Verfahrensablaufes sind, die ein „Festklopfen des Diskurses“ 119 ermöglichen, „weil schon die Art der Wiederholung selbst ein unalltägliches [sic!] Sprechen darstellt“ 120. Gerade dieser Aspekt scheint in der dargestellten Rechtsverhandlung aufgegriffen. So irritiert bereits im ersten Figurendialog zwischen Kaisertochter und Richter das redundante Erzählverfahren. Wenn sie den Richter fragt: „[W]olt er im das ginnen nicht“ (V. 410) und dieser darauf antwortet: „[D]as ginn ich im on all gever“ (V. 413); woraufhin die Kaisertochter abermals diesen Sachverhalt argumentativ vor dem Bürger wiederholt: „[S]it im der richter gund zu leben“ (V. 432), dann scheint die Kommunikation eher einem formalen Verfahren verpflichtet zu sein als einem reinen Informationsaustausch. Arlinghaus argumentiert in Bezug auf die Wiederholung, dass sie „in dieser Selbstbezüglichkeit den Diskurs nach außen ab[schließt]“ 121, und genau dieses scheint auch für die literarische Gerichtsverhandlung zu gelten. So ist der Figurendialog dadurch gekennzeichnet, dass Kaisertochter wie Richter jeweils das vorausgehende Geschehen einschließlich des Status quo ihren Reden vorausschicken. Aufbauend auf der aktuellen Situationsschilderung: „[D]as nun der vaige burger dort / weder mit bet noch mit gelts hord / nit wil laussen wisen sich“ (V. 442–444), verlangt die Kaisertochter nach einem Urteilsspruch: „so beger ich vesteklich / an dich, vil lieber richter, sider, / das du gericht sitzest nider, / zu richten baiden on gever, / dem ritter und auch dem burger“ (V. 445–449). Und auch auf die darauffolgende richterliche Aussage „ain glich recht sond ir sehen“ (V. 453) bezieht sie sich eine Rede weiter: „[D]u haust gesprochen offenlich, / du wellist in baiden ain recht gelich / lon widervaren on gever, / dem ritter sam dem burger“ (V. 466–469). Die immer wiederkehrenden Wiederholungen strukturieren dabei den Gerichtsverlauf. Da der Verhandschiedener Sprachmodi im vormodernen Gerichtswesen, in: Reiner Schulze (Hrsg.), Symbolische Kommunikation vor Gericht in der Frühen Neuzeit. (Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, 51.) Berlin 2006, 57–72. 119 Ebd.64. 120 Ebd. 121 Ebd.
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lungsstand immer wieder abgefragt, aktualisiert und verortet wird, wird das Verfahren dadurch laufend präsent gehalten und der rechtliche Diskurs markiert. Das redundante Sprechen zeigt somit, da es sich nicht nur auf den reinen Informationsaustausch reduzieren lässt, über sich selbst hinaus und wird in seiner Medialität produktiv und wirksam. In der Gerichtssituation selbst erscheint das Auftreten der Kaisertochter durch zwei verschiedene Intentionen gekennzeichnet. Während sie sich im ersten Teil um eine gütliche Einigung der beiden Parteien bemüht und gleichsam als Mediator auftritt, zielt sie im zweiten Teil auf die formale Anwendung des Rechts. Ihr differentes Auftreten lässt sich dabei auf die „Zweigleisigkeit des Rechtslebens: gütliche Übereinkunft, Vergleich auf der einen, Strenge des Rechts mit Urteilsspruch und Zwang auf der anderen Seite“ 122 zurückführen. Diese beiden gleichwertigen „Wege rechtlicher Erledigung“ 123 kulminieren in der spätmittelalterlichen Schiedsgerichtsbarkeit zur Formel „nach minne und recht“ 124. Dabei erhielten „die in einem Rechtsstreit vermittelnden Schiedsleute […] von den Parteien die Vollmacht, erst nach minne, und sofern sich keine Einigung abzeichnete, danach nach recht zu entscheiden“. 125 Gemäß der mittelalterlichen Rechtsformel „minne und recht“ versucht die Kaisertochter somit vorerst eine Verhandlung „nach minne“, gleichsam eine friedliche, situativ angemessene Einigung zwischen den beiden Parteien anzuregen. 126 So war es das oberste Ziel der Gerichte bis in das späte Mittelalter hinein, die streitenden Parteien zur Aussöhnung zu bringen. Ein Fall landete somit erst vor dem Richter und dem Gericht, „wenn der ‚freundschaftliche‘ Ausgleich fehlschlug oder nicht zustandekam“. 127
122 Hermann Krause, Art.„Minne und Recht“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 3. Berlin 1984, 582–588, hier 582. 123 Ebd.585. 124 Hans Hattenhauer, ‚Minne und Recht‘ als Ordnungsprinzipien des mittelalterlichen Rechts, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 80, 1963, 325–344, hier 333. 125 Sigrid Widmaier, Das Recht im ‚Reinhart Fuchs‘. (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, Neue Folge, Bd. 102.) Berlin 1993, 86f. 126 Unter ‚minne‘ wurde in der mittelalterlichen Rechtssprache der Zustand des friedlichen Miteinanders verstanden, zugleich war das Wort „Terminus Technicus für ein Sühne-, Schieds- und Vergleichsverfahren“, welches wiederum die ‚minne‘ als Verhandlungsziel intendiert, so Dorothea Wiercinski, Minne. Herkunft und Anwendungsschichten eines Wortes. (Niederdeutsche Studien, 11.) Köln/ Graz 1964, 80. 127 Peter Schuster, Eine Stadt vor Gericht. Recht und Alltag im spätmittelalterlichen Konstanz. Paderborn u.a. 2000, 141f.
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Auch die Kaisertochter im Märe verfährt nach dieser Maxime und wird dabei vom Richter unterstützt: „[D]as im [dem Ritter] geschicht / gnaud hie von dem burger, / das ginn ich im on all gever“ (V. 411–413). 128 Erst nachdem die gütliche Schlichtung gescheitert ist, lässt er sich zu Gericht nieder, um nun über beide „ain glich recht“ (V. 453) zu sprechen. 129 Das Vokabular der Kaisertochter ist beiden Verfahrensabschnitten angepasst, so spricht sie ganz dem Verständnis der minne konform den Bürger mit Freund an („lieber fründ, nim war“ [V. 415]; „nit, liebe[r] fraind, red also!“ [V. 431]). 130 Erst nachdem sich dieser auf keine gütliche Einigung einlassen möchte und auf dem „schlecht gericht“ (V. 435) beharrt, verlangt sie vom Richter ein gerichtliches Verfahren, was im Märe, anders als in der spätmittelalterlichen Schiedsgerichtsbarkeit, ein eigenes, gerichtliches Verfahren vor dem Richter darstellt. Sie bittet den Richter: „[D]as du gericht sitzest nider, / zu richten baiden on gever, / dem ritter und auch dem burger, / ieglichem nauch der ansprach sin“ (V. 447– 450) und läutet damit die nun rechtsgültige Urteilsverkündigung ein. 131 Im Zuge dessen verändert sich auch ihre Sprechweise. Nicht nur, dass sie nun den lateinischen Rechtssatz zitiert, sondern auch, dass sie sich fortan vermehrt an den Richter als Instanz wendet und den Bürger als Adressaten außen vor lässt (so geht sie auf ein Vergleichsangebot seinerseits nicht mehr ein).
128 Dass an dieser Stelle nicht gemäß der Rechtsformel von ‚minne‘ gesprochen wird, scheint dabei kein Problem darzustellen, so weist bereits Hattenhauer, ‚Minne und Recht‘ als Ordnungsprinzipien (wie Anm. 124), 331, auf, dass das Wort ersetzt werden kann, „ohne daß an der Sache selbst etwas geändert würde“ und verweist entsprechend auf die synonyme Formel ‚nach gnade oder nach recht‘. Auch Utta Kim-Wawrzinek, Minne und Recht. Untersuchungen zu funktionalen Wortgruppen bei rechtlichen Handlungsverläufen im 12. und 13.Jahrhundert. Bonn 1974, 185–193, zeigt diesen Sachverhalt auf. 129 Krause, Art.„Minne und Recht“ (wie Anm.122), 587, verweist an dieser Stelle auf die 2. Württembergische Hofgerichtsordnung von 1514, in welcher die Hofrichter und Urteilssprecher darum bemüht sein sollen, „die Parteien mit jrem wissen und willen zuvertragen (Vergleichsversuch), so das nit sein wölte, arbeiten, den handel zu jrem entscheid zestellen nach dem, was sie für gut und billich ansehen (Minnespruch); wenn aber dero keins sein wölt (d.h. wenn der Vergleich oder Schiedsvertrag nicht zustande käme), dann darauf Urteil sprechen (strenges Recht)“. 130 Auf den Sachverhalt, dass sich das Ziel des Verfahrens, die gütliche Einigung und die Verfahrensweise gegenseitig bedingten, hat bereits Wiercinski, Minne (wie Anm.126), 16f., aufmerksam gemacht: „Das Ziel – minne – bedingt die Mittel; die Verfahrensgestaltung und die Bereitschaft sich zu einigen – wiederum minne – sind die Voraussetzungen für die Erreichung dieses Ziels“. 131 So kann man die Aufforderung der Kaisertochter, der Richter möge sich setzen, durchaus wörtlich als Rechtsritual verstehen, galt doch ein stehend gesprochenes Urteil als ungültig. „Die Richter ‚dürfen‘ nicht sitzen, sie ‚müssen‘ sitzen: sitzen suln si urteil vinden (Ssp. Ldr. III, 69.2)“, in: Adalbert Erler, Art.„Sitzen“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 4. Berlin 1990, 1679–1682, hier 1680.
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Parallel zum geforderten Verfahren nach Recht wird auch die angewandte Methodik geändert. Von einem vorerst gütlichen, situativ motivierten Lösungsweg, den die Kaisertochter suchte, wird einhergehend mit und gekennzeichnet durch das lateinische Zitat der Weg hin zur juristischen Methodik beschritten. So subsumiert die Kaisertochter nun den gegebenen Lebenssachverhalt unter die entsprechende Rechtsnorm und erzielt dadurch die für sie gerechte Rechtsfolge bzw. Bestrafung. Fortan rational wird nach formalen Kriterien und anhand einer bestehenden Rechtsordnung (lat. Rechtssatz) geurteilt. Es kommt somit nicht mehr darauf an, dass alle Parteien mit dem erzielten Ergebnis zufrieden sind, sondern dass auf rechtlicher Grundlage ein Urteil gefällt werden kann. Die Spielregeln dazu beherrscht die Kaisertochter, so dass sie aufgrund ihres rhetorischen und juristischen Wissens als Siegerin aus dem Gericht herausgehen kann. Im Kontrast zum Bürger, welcher die rhetorischen Spielregeln nicht kennt, kann sie sich somit auszeichnen. Sie lässt sich demnach auf keine gütliche Schlichtung mehr ein: „[I]ch sag dir das virwor, / das er git kainen pfennig dir. / du haust hüt oft gehert von mir, / das er dir gern hett geben / gol[t] und silber vil doneben. / so woltest du nun den lichnam sin / und kain gelt von im nemen in“ (V. 509–515), sondern fordert ganz nach der „rationalen Logik eines Prozesses“ 132 nun vom Richter das Urteil: „[G]ib urtel, lieber herre min!“ (V. 519). Doch an welchen Kriterien lässt sich hier nun die performative ‚Körperlichkeit‘ des Experten festmachen? Sieht man den Experten als sozialen Rollentyp an, der sich durch passgenaues Wissen in einer Kommunikationssituation auszeichnet, dann lässt sich diese Definition mit der hier dargestellten Expertenrolle in Einklang bringen. Durch die Präferenz der Kaisertochter, vorerst eine friedliche konsensuale Streitbeilegung, eine Versöhnung der Parteien zu erzielen, bildet sie das „maßgebliche Ziel der Rechtswahrung im Mittelalter“ 133 ab. Ihr Handeln scheint demnach eher einer allgemeinen Norm zu entsprechen, als dass es sich einzig auf die gerichtliche Vertretung einer Gerichtspartei reduzieren lässt. Darüber hinaus kennt die Kaisertochter die Spielregeln des Verfahrens, sowohl die auf einen friedfertigen Ausgleich hinzielenden als auch die nach dem formalen Recht argumentierenden. Sie greift ein, wenn der Bürger die Spielregeln missachtet (vgl. „nit, liebe[r] fraind, red also!“ [V. 431]) oder erkennt die Situation, in einen ande-
132 Hartmut Bleumer/Caroline Emmelius, Vergebliche Rationalität. Erzählen zwischen Kasus und Exempel in Wittenwilers ‚Ring‘, in: Wolframstudien 20, 2008, 177–204, hier 185. 133 Schuster, Eine Stadt vor Gericht (wie Anm.127), 146.
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ren Verfahrensabschnitt hinüberzugehen. Indem sie durch die gelehrte Methodik der Subsumtion einen Urteilsvorschlag kreiert, markiert sie ihre „Zugehörigkeit zu einer Expertenkultur, als deren Angehörige [sie] mit bestimmten Techniken vertraut [ist]“. 134 Weil sie die formalen Spielregeln der Redundanz beherrscht, markiert sie nicht nur den Rechtsdiskurs, sondern wird selbst durch diesen sprachlichen Diskurs ausgezeichnet. Dass sie in ihrem Vorgehen die idealisierten Vorstellungen vom „gerechten und gütigen Richter“ wie auch Kaiser verkörpert, scheint dabei kein Zufall zu sein, sondern ihren Status noch weiter aufwerten zu können. 135 Gerade im Kontrast zum handelnden Bürger wird hierbei ihr Expertenstatus hervorgehoben. Nicht nur die Tatsache, dass sie die strukturierende Instanz vor Gericht ist, die den Richter vorerst zur friedlichen Verhandlung, später zur Rechtsprechung auffordert, sondern auch der Umstand, dass sie im Verfahren selbst die sprachlich diskursiven wie lexikalischen Spielregeln beherrscht, bestätigen ihre Rolle bzw. ihre ‚Expertenrolle‘ wird dadurch konstitutiv. Doch was sagt dieses Märe über die Medialität von Expertenkulturen und ihre Fachsprachen aus? Zum einen bekommt der Rezipient durch die Kontrastierung von weiblichem Leib und semiotischem Experten-Körper den Aspekt vorgeführt, der gerade in Bezug auf die gelingende Inszenierung des Experten entscheidend zu sein scheint: Inwiefern müssen Rolle und Akteur übereinstimmen, damit die Inszenierung gelingt und der Experte als solcher akzeptiert wird? Die dabei eigentlich zusammengedachte Einheit aus Leib und Körper wird vom Text auseinanderdividiert. So handelt für den textexternen Rezipienten eindeutig eine Frau, die aber in der Kommunikationssituation vor Gericht sprachlich die Rolle eines Experten einnimmt und gänzlich ausfüllt. Man kann vielleicht von einer Aufspaltung zwischen visuell gedachten Exper-
134 Kerstin Seidel, Vorzeigen und Nachschlagen. Zur Medialität und Materialität mittelalterlicher Rechtsbücher, in: Frühmittelalterliche Studien 42, 2008, 307–328, hier 324. 135 Darauf, dass dem christlichen Richter die Verpflichtung zur misericordia, aequitas, pietas, gratia und religio als Leitprinzipien seiner Entscheidungen zugeschrieben worden sind, verweist Neithard Bulst, Richten nach Gnade oder Recht. Zum Problem spätmittelalterlicher Rechtsprechung, in: Franz-Josef Arlinghaus/Ingrid Baumgärtner u.a. (Hrsg.), Praxis der Gerichtsbarkeit in europäischen Städten des Spätmittelalters. (Rechtsprechung, 23.) Frankfurt am Main 2006, 465–489, hier 467f.; ebenso Schuster, Eine Stadt vor Gericht (wie Anm.127), 277: „Milde und Gnade setzten, als Pendant zum durchgängig als streng charakterisierten Recht, das Bild des gerechten Herrschers erst zusammen“; generell zum Bild des Richters im Mittelalter, siehe ebd.das Kapitel: Öffentlicher Strafanspruch und Gerechtigkeit: Mittelalterliche Vorstellungen von Milde und Strenge im Recht, 166–180.
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ten und sprachlich verkörperter Expertise sprechen. Während die visuelle Inszenierung des Experten für den textexternen Rezipienten transparent, sie als fingierte Repräsentation obsolet ist, bildet gerade die sprachliche Inszenierung das Fundament, auf welchem die Expertenrolle funktioniert und sich konstruiert. Die Zitation des lateinischen Rechtssatzes und die rein formale Argumentation scheinen dabei die augenscheinlichsten Indizien für die Rollenzuschreibung zu sein. So inszeniert die Kaisertochter ihr juristisches Sonderwissen gerade in der Form, dass sie es in der lateinischen Sprache, in der Fachsprache des damaligen Gerichtswesens vermittelt, und sie verwendet gerade den Modus, der auf die juristische Methodik verweist. Sie macht ihr inhaltliches Rechtswissen öffentlich, darüber hinaus stellt sie mit Hilfe der lateinischen Sprache ihren Expertenstatus medial dar. In der öffentlich institutionellen Situation vor Gericht ist es aber nicht nur das ‚Zur-Schau-Stellen‘, das Repräsentieren von Kompetenzen, welches die Rollenzuschreibung stimuliert, sondern gerade auch die Übernahme der kommunikativen Rolle, der sie dabei gerecht wird. So übersetzt sie zum einen den lateinischen Rechtssatz in die deutsche Sprache, um für alle verständlich zu sein, kennt und handelt zum anderen nach den sprachlichen Spielregeln des Rechtsdiskurses. Sie kennzeichnet durch redundante Inhaltswiedergaben den stattfindenden Diskurs, sie beherrscht die juristische Methodik im Verfahren nach Recht. Vor Gericht bildet sie somit die Instanz aus, die das Geschehen vorgibt, lenkt und strukturiert. Im Fokus hat sie dabei vorerst nicht ausschließlich den Sieg der eigenen Gerichtspartei (den Ritter), sondern ihr Handeln ist der friedlichen Streitbeilegung verpflichtet, also einer situativ losgelösten Maxime der mittelalterlichen Rechtswahrung. Wenn demnach gesagt worden ist, dass sich der Experte medial mit seinem Körper und durch seine Sprache inszeniert, geht diese Kategorie weniger in Form einer Repräsentation auf, sondern wird im performativen Sprachvollzug, im Agieren mit und für Laien produktiv. Erst in der öffentlichen institutionellen Gerichtssituation erlangen ihr Vorgehen und ihre Handlungsweise somit den Status, der sie letztendlich als Experten auszeichnet. Insgesamt scheint es dabei gerade interessant zu sein, dass die beiden unterschiedlichen Rezeptionsweisen – textintern wie textextern – zum gleichen Resultat gelangen. Für die einen – die textinternen Figuren – wird der Expertenstatus bereits visuell stimuliert und letztendlich durch den Gerichtsausgang erfüllt. Für die textexternen Rezipienten erfolgt diese Zuschreibung erst über den sprachlichen Vollzug. Für sie ist die Inszenierung offensichtlich, und demnach ist das Scheitern der
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Expertenrolle eigentlich im Voraus angelegt. Dennoch wird die Kaisertochter durch ihr Agieren in der Rolle des Experten nach den institutionellen Spielregeln des Gerichts gleichsam performativ in der Kommunikationssituation zum Experten. Dabei ist ihre Rolle etwas Flüchtiges, denn so wie das Märe aufzeigt, dass die Kaisertochter nach der Gerichtsverhandlung „was wider worden zu wib“ (V. 563), ist auch der Expertenstatus außerhalb des Gerichts vorerst nicht mehr greifbar, sondern wird sich in der nächsten Kommunikationssituation wieder erproben lassen müssen.
III. Resümee Medien sind keine neutralen Kommunikationskanäle. Auch wenn sie keinesfalls selbst ‚die Botschaft‘ sind, so sind sie dennoch an der Konstitution dessen, was mittels eines Mediums kommuniziert wird, in hohem Maße beteiligt. Diese Einsicht ist von grundlegender Bedeutung für die Analyse von ‚Inszenierungen‘, in ästhetischen ebenso wie in außer-ästhetischen Kontexten. Denn jedwede ‚Verkörperung‘ einer Rolle ist unweigerlich auf die Eigenlogik der Medien dieser Vermittlung, etwa des Körpers selbst, verwiesen. Was Gustav Aschenbach am Ende von Thomas Manns Novelle „Der Tod in Venedig“ 136 lernen muss, ist, dass ‚Schönheit‘ eben doch nur über die Vermittlung des Sinnlichen erfahrbar wird, ja mehr noch, dass sie geradezu durch das Medium dieser Erfahrung, nämlich des begehrten Körpers, erst konstituiert wird, mithin die Idee des Schönen nicht nur untrennbar an den Leib des Jünglings gebunden bleibt, sondern gleichsam in diesem besteht. Dieser fundamentalen Bindung des ‚Inhalts‘ an die ‚Form‘ bleibt ebenso jede Aufführung einer sozialen Rolle, die ein Akteur zu verkörpern versucht, unterworfen. Die Störungen, denen die Performance durch den somit unhintergehbaren Eigensinn des Leibes und anderer medialer Formen ausgesetzt ist, stellen stets eine Gefahr für das Gelingen der Inszenierung dar. Doch hatte sich gezeigt, dass diese Ambiguitäten durch textuelle wie kontextuelle Elemente oder Strategien reduziert werden können, wenn es dem Akteur gelingt, die Prädispositionen bzw. den Erwartungshorizont der Rezipienten zu seinen Gunsten zu bedienen. Für die Inszenierung einer Expertenrolle bedeutet dies, dass sie besonders dann erfolgreich zu sein verspricht, wenn der Erwartungshori-
136 Thomas Mann, Der Tod in Venedig. 24.Aufl. Frankfurt am Main 1992.
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zont des Publikums bereits eine Anerkennung der institutionell fundierten Autorität des Experten beinhaltet. Wenn der Akteur in der Lage ist, sprachlich auf die Erwartungen seines Publikums zu reagieren, dann bleibt seine sprachliche Inszenierung jedoch nicht nur an ihm in der Rolle des Experten haften, sondern kann über diese hinaus für die Kommunikationssituation, für den Diskurs produktiv werden. Seine sprachliche Performance, sei es im Medium der Fachsprache oder im Modus einer gelehrten Methodik, ist dabei nicht nur der Vermittlung von Wissen verpflichtet, sondern wirkt als diskursive Praxis wiederum auf die Situation zurück. Das Wechselverhältnis zwischen Experten und Kontext erstreckt sich demnach nicht nur in die Richtung, dass der institutionelle Kontext den Expertenstatus absichert, sondern diametral dazu auch in die Richtung, dass die Anerkennung des Expertenstatus seinen Kontext semantisch prägt und mitbestimmt. Wenn nämlich der Expertenstatus erst einmal vom Publikum anerkannt worden ist, dann werden einhergehend mit dieser Anerkennung ebenso das Auftreten, Hantieren und Sprechen des Akteurs neu bewertet und können vor diesem Hintergrund ihre Wirkung in der Inszenierung entfalten. Ausschlaggebend für deren Gelingen ist jedoch die Kommunikationssituation, die es aufgrund ihrer medial bedingten Ambivalenzen prinzipiell offenlässt, ob der Rezipient den Experten letztlich als solchen anerkennt oder nicht. Systemvertrauen und Expertenskepsis sind hier gleichzeitig präsent und untrennbar aufeinander verwiesen.
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Zwischen Kloster und Kurie Mönche als Rechtsexperten und die Entwicklung der forensischen Oralität im päpstlichen Gerichtswesen (1141–1256) von Uta Kleine
The paper focuses on language, especially juridical technical language. Thereby the paper deals with communicative strategies by which monastic lawyers fashion themselves. On the basis of four examples it traces the professionalization of the judicature of the papal court. In the middle of the twelfth century legal expertise was not characterized by academic training and titles, but by traditional rituals of social ranking. Fifty years later the differentiation of judicature and administration necessitated special juridical knowledge about thinking, speaking and writing. The paper shows how the trial got more and more dominated by the practice of writing, without completely losing its conventional patterns of speech. It will be shown that this speech has to follow tight formal rules which were not easily understandable for laymen. Therefore, the lay public was dependent on legal experts.
I. Mönche, Rhetorik und Recht Als Innozenz II. in den 1130er Jahren mehrfach wiederholte, dass es Mönchen und Kanonikern verboten sei, das weltliche Recht zu studieren und vor Gericht aufzutreten, hatte er nicht nur ältere kirchliche Rechtsvorschriften im Sinn, sondern auch einen neuen Sozialtyp, der in seiner Zeit an Profil gewann: Den rechtsgelehrten Mönch. 1 Der Ausbau der Kurie zu einem internationalen Gerichtshof, den Innozenz
1 James A. Brundage, The Monk as Lawyer, in: The Jurist 39, 1979, 423–436; ders., The Medieval Origins of the Legal Profession. Canonists, Civilians, and Courts. Chicago 2008, 179ff. Zum Juristen allgemein: Johannes Fried, Die Entstehung des Juristenstandes im 12.Jahrhundert. Zur sozialen Stellung und politischen Bedeutung gelehrter Juristen in Bologna und Modena. (Forschungen zur neueren Privatrechtsgeschichte, 21.) Köln/Wien 1974; André Gouron, Le rôle de l’avocat selon la doctrine romaniste du douzième siècle, in: L’Assistance dans la résolution des conflits / Assistance in Conflicts Resolution, Vol.4. (Recueils de la société Jean Bodin pour l’histoire comparative des institutions / Transactions of the Jean Bodin Society for Comparative Institutional History, 65.) Brüssel 1998, 7–19; Manlio Bellamo, Una nuova figura di intellettuale: il giurista, in: Cinzio Violante/Johannes Fried (Eds.), Il secolo XI: una svolta. (Annali dell Istituto storico italogermanico, 35.) Bologna 1993, 237–256; Thomas Wetzstein, Der Jurist. Bemerkungen zu den distinktiven Merkmalen eines mittelalterlichen Gelehrtenstandes, in: Frank Rexroth(Hrsg.), Beiträge zur Kulturgeschichte der Gelehrten im späten Mittelalter. (Vorträge und Forschungen, 73.) Ostfildern 2010, 243–296, hier 254–262.
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selbst und sein Kanzler Haimerich maßgeblich vorangetrieben hatten, trug zur Profilierung geistlicher Rechtsexperten bei. Im Zentrum der Ausbaumaßnahmen stand das unter anderem von Innozenz II. formulierte Recht der unbeschränkten Appellation an die Kurie ohne besondere Privilegierung und ohne Beachtung des Instanzenzuges. 2 Dies steigerte nicht nur die Zahl der nach Rom strömenden Petenten 3, sondern auch die Autorität der päpstlichen Privilegien als Dokumente von höchster Rechtskraft. 4 Im Zusammenhang hiermit stand die Rechtsfortbildung im Dekretalenrecht seit Gratian: Die päpstliche Fallentscheidung wurde dem Konzilsbeschluss gleichgestellt und bekam allgemeingültigen Charakter. Zur Bewältigung der hieraus erwachsenen Prozessflut wurde das kuriale Gerichtswesen standardisiert: Unter dem Einfluss der Bologneser Rechtsschule gewann der römisch-kanonische Prozess an Form 5, die Kardinäle rückten in die Rolle als wichtigste Rechtsberater des Papstes 6, und schwierige Fälle wurden zunehmend an delegierte Richter überwiesen 7. 2 Ludwig Falkenstein, Appellationen an den Papst und Delegationsgerichtsbarkeit am Beispiel Alexanders III. und Heinrichs von Frankreich, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 97, 1986, 36–65, 42f.; Harald Müller,
Päpstliche Delegationsgerichtsbarkeit in der Normandie (12. und frühes 13.Jahrhundert). 2 Bde. (Studien und Dokumente zur Gallia Pontificia, 4/1–2.) Bonn 1997, 11 mit Anm.9: „Ac per hoc sedes apostolica est omnium ecclesiarum caput et cardo, mater atque magistra, ad quam profecto libere licet omnibus allpellare“ (JL 7754). Im gleichen Tenor auch die Mahnung Innozenz’ II. an die deutschen Bischöfe, „causae maiores“ der päpstlichen Gerichtsbarkeit zu überlassen und Appellationen nicht zu behindern, vgl. Werner Maleczek, Das Kardinalskollegium unter Innozenz II. und Anaklet II., in: Archivium Historiae Pontificae 19, 1981, 27–71, 59 mit Anm.134 (JL 7696). 3 Rudolf Schieffer, Papsttum und mittelalterliche Welt, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 10, 1997, 580–589; ders, Die päpstliche Kurie als internationaler Treffpunkt des Mittelalters, in: Claudia Zey/ Claudia Märtl (Hrsg.), Aus der Frühzeit europäischer Diplomatie. Zum geistlichen und weltlichen Gesandtschaftswesen vom 12. bis zum 15.Jahrhundert. Zürich 2008, 23–40. 4 Zur Bedeutung der Privilegien: Müller, Päpstliche Delegationsgerichtsbarkeit (wie Anm.2), 14f.; Schieffer, Papsttum (wie Anm.3). Zum Dekretalenrecht: Peter Landau, Die Entstehung der systematischen Dekretalensammlung und die europäische Kanonistik des 12.Jahrhunderts, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abt.65, 1979, 120–148; ders., Rechtsfortbildung im Dekretalenrecht. Typen und Funktionen der Dekretalen des 12.Jahrhunderts, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abt.86, 2000, 86–131. 5 Johannes Fried, Die römische Kurie und die Anfänge der Prozeßliteratur, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abt.59, 1973, 151–174; Linda Fowler Magerl, Ordines iudiciarii and Libelli de ordine iudiciorum from the Middle of the Twelfth to the Fifteenth Century. (Typologie des sources de l’Occident médiéval, 63.) Turnhout 1994, 34ff.; Maleczek, Das Kardinalskollegium (wie Anm.2). 6 Maleczek, Das Kardinalskollegium (wie Anm.2); ders., Papst und Kardinalskolleg von 1191–1216. Die Kardinäle unter Coelestin III. und Innocenz III. (Publikationen des Historischen Instituts beim Österreichischen Kulturinstitut in Rom, Abt.1: Abhandlungen, 6.) Wien 1984, 219f. 7 Müller, Päpstliche Delegationsgerichtsbarkeit (wie Anm.2), 16ff., 37ff. (zur Situation in der Norman-
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Die Juridifizierung der Kurie im Pontifikat Innozenz’ II. entfaltete sich im Zusammenspiel von päpstlichem Anspruch und zunehmender Nachfrage ‚von unten‘, sie war folglich Teil einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, von der auch und besonders die Klöster und Stifte betroffen waren. Im Zusammenhang mit der Kirchenreform entstanden neue Konfliktformen: Das Streben nach Exemtion und die direkte Unterstellung unter den apostolischen Stuhl beförderte die Streitfälle zwischen Klöstern und Diözesanbischof, die Simoniedebatte verstärkte die Sensibilität für Fragen der Rechtmäßigkeit von Wahl und Weihehandlungen und führte zu einer Häufung von Prozessen gegen korrupte Vorsteher und gegen die Einflussnahme von Laien. 8 Es verwundert daher nicht, dass unter den Bittstellern an der Kurie die Klöster besonders zahlreich vertreten waren. Die Kenntnis der neuen Rechts- und Prozessformen war für die geistlichen Institutionen zunehmend überlebenswichtig und drang folglich rasch bis an die Grenzen der lateinischen Christenheit vor. 9 Dass hierdurch nicht nur die Mönche und Kleriker, sondern auch der Papsthof in einen Strudel weltlicher Geschäftigkeit gezogen wurden, haben die Zeitgenossen rasch wahrgenommen und, wie Bernhard von Clairvaux, teilweise heftig kritisiert. Dass der Papst die Gesetze Justinians höher schätze als das göttliche Recht und dass er sein Ohr den Kampfreden der Juristen leihe, die die Wahrheit nicht finden, sondern sie verdrehen wollten, schien ihm besonders verwerflich 10: „Corrige pravum morem, et praecide linguas vaniloquas, et labia dolosa claude!“
die); ders., Gesandte mit beschränkter Handlungsvollmacht. Zu Struktur und Praxis päpstlich delegierter Gerichtsbarkeit, in: Zey/Märtl (Hrsg.), Aus der Frühzeit europäischer Diplomatie (wie Anm.3), 41–65; Jane Sayers, ‚Original’, Cartulary and Chronicle: The Case of the Abbey of Evesham, in: Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae Historica, München, 16.–19.September 1986. Bd. 4: Diplomatische Fälschungen 2. (MGH Schriften, 33.) Hannover 1988, 371–395. 8 Fried, Die römische Kurie (wie Anm.5), 161f. 9 Vgl. die Beiträge des Sammelbandes Jochen Johrendt/Harald Müller (Hrsg.), Römisches Zentrum und kirchliche Peripherie. Das universale Papsttum als Bezugspunkt der Kirchen von den Reformpäpsten bis zu Innozenz III. (Neue Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, 2.) Berlin 2008; sowie Schieffer, Papsttum und mittelalterliche Welt (wie Anm.3); Alain Boureau, How Law Came to the Monks. Use of Law in English Society at the Beginning of the Thirteenth Century, in: Past and Present 167, 2000, 29–74. 10 Bernhard von Clairvaux, De consideratione ad Eugenium papam, in: ders., Sämtliche Werke lateinisch/ deutsch. Hrsg. v. Gerhard B. Winkler. Bd. 1. Innsbruck 1990, 611–827, hier (IV 5) 638 (399): „Et quidem quotidie perstrepunt in palatio leges, sed Justiniai, non Domini“; I X 13, 656 (408): „Miror namque quemadmodum religiosae aures tuae audire sustinent hujusmodi disputationes advocatorum, et pugnas verborum, quae magis ad subversionem, quam ad inventionem proficiunt veritatis.“ Dann das folgende Zitat.
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Bernhards Kritik stand im Einklang mit den Reformidealen von der Trennung zwischen geistlicher und weltlicher Sphäre, die er auch im nach monarchischer Universalität strebenden Papsttum verwirklicht sehen wollte. Es liegt auf der Hand, dass weder Innozenz II. noch sein Nachfolger Eugen III., an den Bernhards Mahnung gerichtet war, diesen Idealen folgen konnten und wollten. Doch was Innozenz II. dem Weltklerus zubilligte, versagte er den Mönchen und dem regulierten Klerus. Es sei eine „prava consuetudo“, dass diese, nachdem sie das geistliche Gewand genommen und die Profess abgelegt hätten, aus Gründen des Gelderwerbs („gratia lucri“) weltliches Recht studierten, um sich zu Anwälten von Rechtshändeln zu machen. Statt sich dem Psalmen- und Hymnengesang zu widmen, verwendeten sie den Wohlklang ihrer Stimmen darauf, in juristischen Darlegungen („allegationes“) Recht und Unrecht zu vermengen. Schon die römischen Kaiser hätten festgestellt, dass es unpassend und schändlich sei, dass Kleriker als Experten („periti“) in Rechtsverhandlungen auftreten wollten. 11 In ähnlicher Weise polemisierte um 1160 Hugo von Folieto gegen solche Mönche, die sich in den Gerichtssälen tummelten, um dort nicht nur die eigenen, sondern auch fremde Rechtsfälle zu vertreten, die die Konzilsdekrete mehr liebten als die Geheimnisse des Glaubens, die statt der Psalmen die „canones“ herbeteten und um des Lobes willen ihre Gerichtsreden mit rhetorischen Figuren ausschmückten. „Doch der Mönch, der viel redet, missfällt vielen.“ 12
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So der 9. Canon des Zweiten Laterankonzils (1139): „Prava autem consuetudo, prout accepimus, et de-
testabilis involevit, quoniam monachi et regulares canonici post susceptum habitum et professionem factam [...] leges temporales et medicinam gratia lucri temporalis addiscunt. Avaritiae namque flammis accensi, se patronos causarum faciunt; et cum psalmodiae et hymnis vacare debeant, gloriosae vocis confisi munimine, allegationum suarum varietate iustum et iniustum, fas nefasque confundunt. Attestantur vero imperiales constitutiones, absurdum immo et opprobrium esse clericis, si peritos se velint disceptationum esse forensisum“, in: Dekrete der ökumenischen Konzilien – Conciliorum Oecumenicorum Decreta. Bd. 2: Konzilien des Mittelalters. Vom ersten Laterankonzil (1123) bis zum fünften Laterankonzil (1512–1517). Hrsg. v. Josef Wohlmuth. Paderborn u.a. 2000, 197. Dieselbe Bestimmung findet sich schon in den Dekreten der Konzilien von Clermont (1130), Reims (1131) und Pisa (1135) und zitiert aus einem Dekret Justins aus dem Corpus Iustinianum; vgl. Kenneth Pennington, Roman Law and the Papal Curia in the Early Twelfth Century, in: Uta-Renate Blumenthal/Anders Winroth/Peter Landau (Eds.), Canon Law, Religion, and Politics. Liber Amicorum Robert Somerville. Washington 2012, 233–252, hier 233f.; Wetzstein, Der Jurist (wie Anm.1), 258. Sie wurde aber nicht ins gratianische Rechtscorpus aufgenommen. 12
Hugo von Folieto, De claustro animae, PL 176, 1069A: „Contingere [....] solet, ut monachi, qui curias fre-
quentant, causas audiant, judicia perquirant, et si aliquando propriae causae necessitates occurrant, ad curiam securiores recurrant. Nec tantum suas, sed etiam alienas defendunt causas [...]. Amant decreta conciliorum, non secreta mysteriorum. Decreta, non psalmos ruminant, fiunt orationes in causis, rhetoricis ut-
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Neben den Lastern der Hab- und Ruhmsucht war es besonders der säkular-oratorische Habitus, der als unvereinbar mit der spirituellen Berufung des Mönchtums angesehen und der zugleich auch als das typische Merkmal des Juristen allgemein wahrgenommen wurde. 13 Dass der Lebensraum des Mönches das „claustrum“, nicht das „forum“ sein sollte, ist ein ebenso vertrauter Topos wie der, dass er als Spezialist des „opus Dei“, nicht als einer der forensischen Rede auftreten solle. Doch in dieser Eindeutigkeit ist der Ausschluss der Mönche vom Rechtswesen nie gedacht und praktiziert worden. Denn schon früh galt, dass der Mönch als Werkzeug Gottes auch den Armen, Witwen und Waisen zu ihrem Recht zu verhelfen habe 14, und dass es ihm, wie jedem „jurisperitus“, zustehe, mit dem tönenden Bollwerk seiner Stimme („gloriosae vocis munimine“), die Gefallenen aufzurichten und die Übel der Welt zu heilen. Dass er seine eigenen Angelegenheiten bzw. diejenigen seines Klosters vor Gericht vertreten dürfe, stand ebenso früh fest. 15 Wir haben es mit einem ambivalenten Ethos zu tun, das sich seit dem 12.Jahrhundert der zweiten Seite zuneigte: Der Mönch als Experte wurde zur vertrauten Gestalt im sich ausdifferenzierenden Bereich des römisch-kanonischen ius commune – sei es, dass juristisch geschulte Männer zunehmend Aufnahme im Kloster suchten, sei es, dass Klöster ihre Mitglieder zum Rechtsstudium schickten. 16 Wenn im Folgenden der Habitus des rechtsgelehrten Mönches, speziell in seinem Kontakt mit der Kurie, behandelt wird, so ist auf diese zwei Punkte zu achten: Auf die Entwicklung dieses Sozialtyps im 12. und 13.Jahrhundert und auf die Bedeutung der forensischen Oralität als wichtiges Erfolgsinstrument und distinktives Merkmal juristischen Expertentums. Juristische Fachsprachlichkeit war seit der Professionalisierung des Gerichtswe-
untur coloribus, laudari appetunt, quia pro multis loquuntur. Sed monachus multum loquens, multis displicet.“ Vgl. auch Brundage, The Monk as Lawyer (wie Anm.1), 135. 13 Zur mittelalterlichen Juristenschelte vgl. Wetzstein, Der Jurist (wie Anm.1), 257–262, hier auch weitere Literaturnachweise. 14 So schon das Konzil von Chalcedon 451, vgl. Brundage, The Monk as Lawyer (wie Anm.1), 423, 425. 15 Zum Mönch als Vertreter in eigener Sache vgl. ebd.424. Das Zitat eines anonymen Homilisten des 12. Jh.s, dessen Formulierung wohl bei der Redaktion des Konzilskanons aufgenommen wurde, bei Pennington, Roman Law (wie Anm.11), 235 Anm.7: „Actus iste [i. e. adjutorium jurisperitorum] publicus est, et est officium advocatorum, qui gloriosae vocis confisi munimine, lapsa erigunt, fatigata reparant.“ 16 Brundage, Monk as Lawyer (wie Anm.1), 430ff. Zum Kloster als Karrierechance für rechtsgeschulte Mönche: Boureau, How Law Came to the Monks (wie Anm.9), Beispiel des Thomas von Evesham, bes. 67f.
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sens im 12.Jahrhundert zunehmend an zwei Kompetenzen gebunden: die fachliche, vorzugsweise universitäre Ausbildung in beiden Zweigen des Rechts, und die Redeund Argumentationskompetenz, vorzugsweise in lateinischer Sprache. Denn das Lateinische hatte sich rasch zur primären Verständigungssprache im Rechtswesen entwickelt. Eine sichere Beherrschung der „Prestigesprache“ Latein sowie eine entsprechende Schulung in der Kunst der persuasiven Rede und der dialektischen Argumentation gehörten folglich zum elementaren Rüstzeug des Rechtsexperten: Sprachstil und Denkstil waren eng aufeinander bezogen. 17 Dies führte dazu, dass vor Gericht immer häufiger Prokuratoren („procuratores“, „prolocutores“) als spezialisierte Parteienvertreter und Experten des mündlichen Vortrags agierten – neben Anwälten („advocati“, „causidici“), Richtern („iudices“) und Notaren („notarii“, „tabelliones“) als weiteren, teilweise subsidiären Rechtsexperten („jurisperiti“, „legi doctores“) –, deren Funktion zunehmend als spezialisierter ‚Beruf‘ oder ‚Stand‘ („professio“, „ordo“, „vocatio“, „officium“) wahrgenommen wurde. 18 Während über das fachliche Wissen der „iurisperiti“ von rechtshistorischer Seite viel gehandelt worden ist 19, ist die Frage, in welchen Formen sich die Kommunikation zwischen den Experten und ihrer Umwelt vollzog, bislang weniger gut untersucht. Schließt man sich den im Programm der Tagung formulierten Überlegungen an, dann ist die sich seit dem 12.Jahrhundert heranbildende Form des Expertentums durch zweierlei bestimmt: durch die Verfügung über einen spezifischen Fundus an Sonderwissen und durch einen sozialen Habitus, ein Ensemble von charakteristischen Sprech- und Handlungsweisen, in der Sonderwissen und Sonder-
17
Thomas Haye, Lateinische Oralität. Gelehrte Sprache in der mündlichen Kommunikation des hohen
und späten Mittelalters. Berlin/New York 2005, 9ff.; Peter von Moos, Rhetorik, Dialektik und „civilis scientia“ im Hochmittelalter, in: Johannes Fried (Hrsg.), Dialektik und Rhetorik im früheren und hohen Mittelalter. (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, 27.) München 1997, 133–156, hier 136ff., 148. 18
Brundage, The Medieval Origins (wie Anm.1), 4, 167; zur Berufs-Terminologie vgl. auch Haye, Lateini-
sche Oralität (wie Anm.17), 25f.; Fried, Die Entstehung des Juristenstandes (wie Anm.1), Kap. I. Zu den Verhältnissen an der Kurie Patrick Zutshi, Petitioners, Popes, Proctors: The Development of Curial Institutions, c. 1150–1250, in: Giancarlo Andenna (Ed.), Pensiero e sperimentazioni istituzionali nella ,Societas Christiana‘ (1046–1250). Atti della sedicesima Settimana internazionale di studio Mendola, 26–31 agosto 2004. Mailand 2007, 265–294. Wenngleich davon auszugehen ist, dass Latein die primäre Sprache war, ist in der Praxis doch von einem häufigen Sprachwechsel auszugehen, vgl. Haye, Lateinische Oralität (wie Anm.17), 28. 19
74
Vgl. die in Anm.1 genannte Literatur.
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rolle nach außen vermittelt werden und der in einem Wechselspiel von Selbst- und Fremdzuschreibung Gestalt annimmt. 20 Wichtige Anstöße zum wissensgeschichtlichen und medialen Rahmen der Professionalisierung haben Peter von Moos und Gerhard Otte mit ihren Arbeiten zum Zusammenhang von (juristischem) Sprach- und Denkstil gegeben. 21 Von sprachpragmatischer Seite hat jüngst Franz-Josef Arlinghaus einen konzeptionell wichtigen Beitrag geleistet. In Anlehnung an die Luhmann’sche Rechtssoziologie und die mediale Linguistik von Peter Koch/Wulf Oesterreicher hat er gezeigt, dass die Professionalisierung des Rechtswesens in den norditalienischen Städten mit der Entwicklung eines autonomen Rechtsdiskurses einherging: Die improvisierte Ritualität der älteren kommunalen Gerichtspraxis („improvised theater“) wurde seit dem 12.Jahrhundert von einer hochformalisierten Mündlichkeit abgelöst, die von einer Vielzahl von Schriftakten vorgeformt bzw. begleitet wurde („scripted roles“). Mit Hilfe einer Distanzsprache und der Delegation an Experten wurde ein autonomer Interaktionsraum konstituiert, innerhalb dessen sich die Modalitäten der Konfliktregelung losgelöst von ihrer Einbindung in das gesellschaftliche Alltagshandeln vollzogen. 22 Auch der Latinist Thomas Haye betont die starke Formalisierung und schriftliche Vorprägung des lateinischen Fachdiskurses: „Da alle professionellen Prozessteilnehmer die gleiche Ausbildung genossen haben und in der forensischen Praxis [...] tagtäglich etwa dasselbe hören, kennen sie die hier verwendeten Wortkonjunkturen, Sätze und Textpassagen zur Genüge. [...] Da die parallele Schriftlichkeit, die Formalisierung und die Standardisierung Aspekte einer textuellen Verfestigung sind, ist es sinnvoll, im Rahmen der forensischen Oralität von ‚mündlichen Texten‘ zu sprechen, die
20 Vgl. auch die programmatischen Hinweise bei Frank Rexroth, Systemvertrauen und Expertenskepsis. Die Utopie vom maßgeschneiderten Wissen in den Kulturen des 12. bis 16.Jahrhunderts, in: Björn Reich/ Matthias Roick/Frank Rexroth (Hrsg.), Wissen maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne. (Historische Zeitschrift, Beihefte, Neue Folge, Bd. 57.) München 2012, 12–44, hier 20–22. 21 Moos, Rhetorik, Dialektik (wie Anm.17); Gerhard Otte, Logische Einteilungstechniken bei den Glossatoren des römischen Rechts, in: Fried (Hrsg.), Dialektik und Rhetorik (wie Anm.17), 157–170. 22 Franz-Josef Arlinghaus, From ,Improvised Theater‘ to Scripted Roles. Literacy and Changes in Communication in North Italian Law Courts (Twelfth-Thirteenth Centuries), in: Karl Heidecker (Ed.), Charters and the Use of the Written Word in Medieval Society. (Utrecht Studies in Medieval Literacy, 5.) Turnhout 2000, 215–237.
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sich allenfalls medial, nicht aber konzeptionell von schriftlichen unterscheiden.“ 23
Tendenzen zur Formalisierung und Standardisierung des Rechtswesens sind auch für die römische Kurie gut bezeugt und am intensiven Verschriftlichungs- und Bürokratisierungsschub in der Kanzlei ablesbar. 24 Während die zunehmende Bedeutung der Papsturkunde als Rechtsmittel und der steigende Verschriftlichungsgrad aller mit ihrer Erstellung verbundenen Teilprozesse quellenmäßig gut belegt und wohlerforscht sind, lassen Urkunden und Kanzleiordnungen dieser Zeit so gut wie keine Einblicke in die das Rechtswesen begleitende Mündlichkeit zu – weder in Bezug auf die interne Kommunikation zwischen Papst, Kardinälen und Kanzleipersonal noch in Bezug auf die Austauschprozesse zwischen Kurie und Petenten. Allerdings sind aus dem 12. und 13.Jahrhundert einige wenige narrative Zeugnisse von geistlichen Petenten (vorwiegend Angehörigen des benediktinischen Mönchtums) über ihre an der Kurie ausgetragenen Rechtshändel überliefert. Es handelt sich um subjektive Berichte aus der Perspektive einer Prozesspartei; gleichwohl bieten sie eine Fülle von Details über das Begegnungshandeln zwischen Experten und Ratsuchenden. Doch sei hier gleich vorweggeschickt, dass Experten bzw. Nichtexperten keineswegs einfach mit Kurienangehörigen respektive Petenten gleichzusetzen sind. Eine Analyse der sprachlichen Codes, der begleitenden Gesten und der Selbst- bzw. Fremdbezeichnungen lässt vielmehr ein komplexes Mit- und Ineinander unterschiedlicher Formen von Expertentum erkennen – Expertentum hier verstanden als eine jeweils spezifische Kombination von Wissensformen, Verhaltensrepertoires und Wertesystemen, auf die die Beteiligten in der Kommunikation zu23
Haye, Lateinische Oralität (wie Anm.17), 31.
24
Michael Tangl (Hrsg.), Die päpstlichen Kanzleiordnungen von 1200–1500. Innsbruck 1894, Ndr. Aalen
1959; Peter Herde, Beiträge zum päpstlichen Kanzlei- und Urkundenwesen im dreizehnten Jahrhundert. (Münchener Historische Studien, Abt.Geschichtliche Hilfswissenschaften, 1.) 2.Aufl. Kallmünz 1967; Rudolf Hiestand, Die Leistungsfähigkeit der päpstlichen Kanzlei im 12.Jahrhundert mit einem Blick auf den lateinischen Osten, in: Peter Herde/Hermann Jakobs (Hrsg.), Papsturkunde und europäisches Urkundenwesen. Studien zu ihrer formalen und rechtlichen Kohärenz vom 11. bis 15.Jahrhundert. (Archiv für Diplomatik, Beih. 7.) Köln/Weimar/Wien 1999, 1–26; Thomas Frenz, Papsturkunden des Mittelalters und der Neuzeit. (Historische Grundwissenschaften in Einzeldarstellungen, 2.) 2.Aufl. Stuttgart 2000; Frank M. Bischoff, Urkundenformate. Größe, Format und Proportionen von Papsturkunden in Zeiten expandierender Schriftlichkeit (11.–13.Jahrhundert). (Elementa diplomatica, 5.) Marburg 1996; zusammenfassend Uta Kleine, Litterae, cartae, codices, petentes und notarii. Apekte der Vertrauenswürdigkeit von Papsturkunden im Pontifikat Innozenz’ III., in: Petra Schulte/Marco Mostert/Irene van Renswoude (Eds.), Strategies of Writing. Studies in Text and Trust in the Middle Ages. Turnhout 2008, 185–209.
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rückgriffen. 25 Zu beobachten ist ein agonales Gegeneinander, aber auch geschmeidiges Ineinander von status- und milieuabhängigen, weitgehend habitualisierten sozialen Gesten und Diskursen, die einander verstärken, konterkarieren oder aber auch in zweckdienlicher Weise ergänzen konnten. Bei den im Folgenden zu untersuchenden Dossiers handelt es sich um die Prozessberichte des Abtes Hariulf von Oudenburg (1141), des Mönches Thomas von Evesham (1205/06), ergänzt um die annähernd gleichzeitigen Schilderungen des Weltgeistlichen Girald von Wales (1199–1203), und des Abtes Johannes von Saint-Éloi (1256).
II. „Et vultu et sermone omnibus complacetis.“ Hariulf von Oudenburg vor Innozenz II. (1141) Der Bericht Hariulfs, Abt des flämischen Klosters Oudenburg, über den von ihm geführten Fall seines Klosters vor der Kurie ist von der Forschung schon oft als außerordentlich beredtes und für seine Zeit einzigartiges Zeugnis für die Verhältnisse an der römischen Kurie in der Mitte des 12.Jahrhunderts angeführt worden. Doch eine ausführlichere, in diesem Falle kommunikationsgeschichtliche Analyse hat, wenn ich das richtig sehe, bislang nur Thomas Haye in seinem Band zur Kultur der lateinischen Rede im Mittelalter vorgelegt. 26 Er interpretiert den nachträglich redigierten Bericht trotz seiner stilistischen Merkmale (Verwendung von Cursus und Reimprosa) als relativ authentische Wiedergabe des mündlichen Verhandlungsgeschehens, das sich in verschiedenen Sprachregistern – in schriftlich vorbereiteter, rhetorisch durchgeformter Rede, kolloquialem Zwiegespräch nach standardisier-
25 Hierzu allgemein Martin Kintzinger, Wissen wird Macht. Bildung im Mittelalter. Ostfildern 2003, bes. 25–37; Rexroth, Systemvertrauen (wie Anm.20). Eine allzu rigide Dichotomie zwischen ‚Experten‘ und ‚Laien‘ soll hier aus heuristischen Gründen zunächst vermieden werden. 26 Haye, Lateinische Oralität (wie Anm.17), 83–94; die beste historische Kontextualisierung bei Maleczek, Das Kardinalskollegium (wie Anm.2), 66–68. Kurze Hinweise bzw. Nacherzählungen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) bei Brundage, The Medieval Origins (wie Anm.1), 153f.; Klaus Herbers, Geschichte des Papsttums im Mittelalter. Darmstadt 2012, 158; Dietrich Lohrmann, Berichte von der Kurie über den Erwerb umstrittener Prozessmandate und Privilegien (12.–13.Jahrhundert), in: Klaus Herbers/Jochen Johrendt (Hrsg.), Das Papsttum und das vielgestaltige Italien. Hundert Jahre Italia Pontificia. Berlin u.a. 2009, 311– 330, hier 316f.; Müller, Päpstliche Delegationsgerichtsbarkeit (wie Anm.2), 195f., 202f.
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tem Formular und freien, stärker disputativen Anteilen vollzieht. Insgesamt attestiert er dem juristischen Diskurs an der Kurie ein relativ niedriges sprachliches Niveau mit großer Nähe zum Volgare, das geeignet war, die Verständigung der unterschiedlichen Sprachgruppen zu gewährleisten. 27 Auch vom rechtshistorischen Standpunkt aus wird die relative Schlichtheit und Formlosigkeit des Prozessgeschehens hervorgehoben: James Brundage versteht den Bericht als „glimpse into the informality of canonical procedure in the papal consistory of the twelfth century“. 28 Doch kann man die Schlichtheit der Darstellung und die Traditionalität der Wahrnehmung auch als Stilmittel, als bewusst entworfenes Gegenbild zum Verrechtlichungsprozess und zur Autonomisierungstendenz im Rechtsdiskurs verstehen. Es wird mangels einer repräsentativen Zahl von Vergleichsdarstellungen nicht möglich sein, zu entscheiden, inwiefern die Schilderung des Abtes als typisch gelten darf, bzw. inwieweit er einen sozialen bzw. oratorischen Habitus vertritt, der bereits in seiner Zeit im Verschwinden begriffen war. Einige Indizien aber scheinen mir hierauf hinzudeuten. 29 1. Der Fall und seine Etappen Hariulf von Saint-Riquier und Oudenburg (ca. 1060–1143) war bereits ein Greis von ca. achtzig Jahren, als er sich 1141 genötigt sah, in einer überlebenswichtigen Angelegenheit seines Klosters die römische Kurie aufzusuchen. Der Abt von SaintMédard in Soissons erhob Anspruch auf das Kloster Oudenburg und hatte zu diesem Zweck bei Innozenz II. ein Mandat erwirkt, in dem Hariulf vorgeworfen wurde, sich Oudenburg, einst abhängiges Priorat von Saint-Médard, angeeignet, zum Kloster erhoben und der Mutterabtei entfremdet zu haben. Er wurde aufgefordert, den Abtsstab niederzulegen und als einfacher Mönch in sein Mutterkloster Saint-Médard zurückzukehren. Oudenburg solle Saint-Médard unterstellt werden. 30 Diese Urkunde 27
Haye, Lateinische Oralität (wie Anm.17), 94.
28
Brundage, The Medieval Origins (wie Anm.1), 153.
29
So das professionelle Verhalten der Parteien im 1125 unter Honorius II. geführten Streit zwischen den
Bischöfen von Siena und Arezzo um 18 Pfarreien: Pennington, Roman Law (wie Anm.11), 241–248; siehe auch unten Anm.54. Zum von Hariulf vertretenen monastischen Habitus vgl. Kintzinger, Wissen wird Macht (wie Anm.25), 59–62; ders., Art.„Monastik“, in: Enzyklopädie des Mittelalters. Hrsg. v. Gert Melville u. Martial Staub. Bd. 1. Darmstadt 2008, 408f. 30
Der Wortlaut der Papsturkunde ist dem Bericht inseriert: Ernst Müller, Der Bericht des Abtes Hariulf
von Oudenburg über seine Prozeßverhandlungen an der Römischen Kurie im Jahre 1141, in: Neues Archiv 48, 1930, 97–115, hier 107.
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war in Abwesenheit und ohne Anhörung der Gegenpartei aus Oudenburg ausgefertigt worden. Der Bericht der Verhandlungen vor dem Konsistorium Innozenz’ II. ist als Teil des von Hariulf verfassten „Chronicon monasterii Aldenburgensis“ überliefert. 31 Trotz seiner vermeintlichen Lebendigkeit und Unmittelbarkeit handelt es sich also keineswegs um ein Protokoll, sondern um einen stilisierten Bericht, mit dem der Abt sich und seinen Verdiensten um die Abtei ein Denkmal setzen wollte. Da er jedoch ganz auf das Begegnungshandeln zwischen dem Abt und den Angehörigen des päpstlichen Gerichts konzentriert ist und sehr kurz nach den Ereignissen notiert worden sein muss (Hariulf starb bereits zwei Jahre später), ist er ein wichtiges Zeugnis sowohl für die realen Strukturen als auch für die (Selbst-)Wahrnehmung des Protagonisten. Demnach vollzog sich der Prozess in fünf Etappen. Der erste Tag ist dem Besuch der Petersbasilika und ihrer „officia“ gewidmet, doch schon am zweiten Tag sucht Hariulf, versehen mit einem Empfehlungsbrief Bernhards von Clairvaux und einem päpstlichen Mandat an den Bischof von Noyon, den Lateranpalast auf, wo er Haimerich, den Kanzler und nach dem Papst mächtigsten Mann der Kurie († 1141) trifft, um ihn um seine Fürsprache („consilium“ und „auxilium“) zu bitten (S. 101). Haimerich belehrt ihn sogleich über zwei wichtige Verhaltensgrundsätze: Er solle sich dem bösartigen Geschwätz („verecundia, sibilium, nequam sermo“) am Papsthof entziehen; insbesondere solle er dem Gerücht keinen Glauben schenken, die Kurienmitglieder seien käuflich. Im Gegenteil: Beim geringsten Versuch, sich die Gunst der Kardinäle oder des Papstes durch Geschenke zu erwerben, werde er, Haimerich, dem Abt seine Protektion entziehen. 32 Mit dieser freudig aufgenommenen Mitteilung setzt der Abt den Grundton seiner Darstellung: Er stilisiert sich nicht nur (ganz
31 Zu Hariulf als Chronist vgl. auch Theodore Evergates, Historiography and Sociology in Early Feudal Society. The Case of Hariulf and the ‚Milites‘ of Saint-Riquier, in: Viator 6, 1975, 35–49, hier 36; Renée Nip, The Dispute of Oudenburg and the Abbey of Saint-Médard. A Convenient Confusion of Names, in: Renée I. A. Nip H.van Dijk/E. M. C. van Houts/C. H.J. M. Kneepkens/G. A. A. Kortekaas (Eds.), Media Latinitas. A Collection of Essays to Mark the Occasion of the Retirement of J. L. Engels. Steenburg/Turnhout 1999, 275– 280. Hariulf verfasste auch die Chronik seines Mutterklosters Saint-Riquier sowie (aus Anlass von dessen Kanonisation) die Vita des Gründers von Oudenburg (1086), Arnulf von Soissons († 1087). 32 Müller, Hariulf (wie Anm.30), 102: „Idcirco quaeso, ut caveas, ne te aut per te nos verecundie iacula feriant.“ Und: „Proinde viliganter moneo, ne in Romano palacio alicui persone aliquid des aut promittas, quoniam si te novero fecisse, et nostro consilio et domini pape carebis auxilio.“
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im Sinne Haimerichs) zum Zeugen und Boten für die Integrität der Kurie 33, er erklärt sich auch selbst als unbefleckt von den für einen Mönch unziemlichen Lastern („venalia“) des höfischen Lebens: Geschwätzigkeit, Schmeichelei und Käuflichkeit – dies ganz im Sinne der Mahnungen Bernhards von Clairvaux: „Praecide linguas vaniloquas, et labia dolosa claude“. 34 Derart instruiert, führt ihn der Kanzler unverzüglich an der Hand ins Konsistorium („ad consistorium palacii“), wo der Papst im Kreise von Kardinälen, auswärtigen Geistlichen und stadtrömischen Patriziern öffentlich Anhörungen entgegennimmt (S. 102). Hier hat Hariulf sein Anliegen summarisch vorzubringen, die Empfehlungsbriefe vorzuweisen und glaubhaft zu versichern, dass er zur Belegung seiner Ansprüche auch geeignete Zeugnisse vorweisen könne, worauf ihm (zu einem unbestimmten Zeitpunkt) eine „auditio“ gewährt wird. Diese findet erst nach acht Tagen statt, während derer der Abt täglich die Kurie frequentiert, sich ins Konsistorium mischt und bei jeder sich bietenden Gelegenheit das Gespräch mit Papst oder Kardinälen sucht, um sie zur Beschleunigung seiner Angelegenheit zu drängen (S. 103f.). Am neunten Tag kommt es zur Anhörung „in cubiculo“ (im päpstlichen Wohngemach, in Anwesenheit von Papst und Kardinälen). In einer Rede legt Hariulf seinen Fall dar und liefert in einer langen Befragung durch den Papst die Argumente für seine Position (S. 105). Sie laufen auf Folgendes hinaus: Er selbst sei nie Mönch in Saint-Médard gewesen, sondern habe dem Konvent von Saint-Riquier angehört. Der Gründer von Oudenburg, Arnulf, sei vor seiner Erhebung zum Bischof von Soissons Mönch in Saint-Riquier gewesen; die Gründung sei aber von Tournai aus erfolgt, der Besitz sei eine Schenkung des Grafen vom Flandern gewesen (S. 106–110). Zum Beleg kann er zwei Urkunden der Bischöfe Arnulf von Soissons und Radbod von Tournai vorweisen, die, wie schon zuvor das Papstmandat an den Abt von SaintMédard, vor der Versammlung verlesen und von dieser approbiert werden (S. 107, 110). Nach der Anhörung, an deren Ende Papst und Kardinäle dem Abt ihre Geneigtheit versichern, ziehen diese sich zur Beratung „in consilio“ zurück. Am nächsten Tag verkündet der Kanzler das vom Papst „cum tota curia“ gefällte Urteil (S. 111). Der Fall soll zur endgültigen Entscheidung an drei delegierte Richter aus Frankreich
33
Ebd, 102: „Ideo [...] exoptamus, ut tecum totaliter agamus, qualiter per te in omni loco odor bonus dis-
seminetur et ille nequam sermo, qui ubique discurrit, per te incipiat extingui, ut sicut hactenus dictum est: omnia venalia Rome, ita deinceps dicatur: omnia iustissima Rome.“ 34
80
Siehe oben Anm.10.
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überwiesen werden. Was folgt, ist ein langer und kontroverser Handel zwischen Papst und Abt um die Auswahl der delegierten Richter (S. 112–114). Das letzte Treffen am Folgetag dient der Überreichung der Urkunde, die Hariulf selbst beim Kanzler abholen muss und deren Inhalt er noch einmal – vergeblich – zu verändern sucht. 35 Bevor er nach Beichte und Absolution „in loco secretissimo“ seinen Abschied nimmt, kommt es noch einmal zu einem kleinen Wortgefecht um jene Personen, denen der Abt im Namen des Papstes Grüße ausrichten soll: Hariulf kritisiert die Auswahl, bei der er die Äbte vermisst, und fragt herausfordernd, welche Beweismittel er anführen solle, um zu belegen, dass die Grüße auch tatsächlich vom Papst kämen (S. 115). Dann wird er in Frieden entlassen. Die knappe Übersicht zeigt, dass wir es hier nicht mit einem informellen Procedere, sondern mit einem klar strukturierten Ablauf zu tun haben, in dem die wesentlichen Merkmale des römisch-kanonischen Prozesses erkennbar sind 36: Die Prozesseröffnung („litis contestatio“) mit summarischer Klageerhebung (allerdings noch ohne schriftlich abgefasstes Klagelibell), mit der Versicherung des Klägers, deren Rechtmäßigkeit auch beweisen zu können, und mit Ladung der Parteien zur Verhandlung; die Verhandlung mit mündlicher („interrogatio“) und schriftlicher („instrumenta“, „monimenta“) Beweiserhebung; schließlich die Urteilsverkündung mit Überreichung der schriftlich gefassten Sentenz. Auffallend geordnet wirkt auch die fein gestufte Zuordnung der Prozessetappen zu unterschiedlichen Räumen und Personengruppen: – Die Prozesseröffnung „in consistorio“ 37 (im Lateranpalast, vor Papst, Kardinälen und einer ausgewählten Öffentlichkeit, zu der auswärtige Geistliche und Mitglieder des stadtrömischen Patriziats gehören);
35 Müller, Hariulf (wie Anm.30), 111. Erstaunlicherweise wird der Wortlaut dieses Mandats nicht wiedergegeben, während das Mandat Innozenz’ für Saint-Médard wörtlich zitiert wird; ebd.107. 36 Fowler-Magerl, Ordines iudiciarii (wie Anm.5), 37–41; Brundage, The Medieval Origins (wie Anm.1), 157f. 37 Müller, Hariulf (wie Anm.30), 102: „Aymericus tenens manum abbatis duxit illum ad consistorium palacii ubi in tribunali residebat domnius papa et cardinales a dextris eius; Romanorum vero nobiliores calamistrati et sericis amicti circa vestigia eius stabant vel sedebant.“ Auf S. 103 werden Bischöfe und Äbte genannt, die ebenfalls anwesend sind: Die Kardinalbischöfe Theodewin v. St. Rufina und Alberich v. Ostia und die Bischöfe Johannes v. Segni, Trasimundus v. Ferentino und Nikolaus v. Viterbo-Toscanella. Zur Bedeutung des Konsistoriumsbegriffs (Örtlichkeit und öffentlicher Charakter) vgl. Maleczek, Papst und Kardinäle (wie Anm.6), 299, 302ff.; eine ausführliche Diskussion bei Sarah Noethlichs, Das päpstliche Konsis-
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– die Verhandlung „in cubiculo“ (im päpstlichen Wohngemach, an der nur Hariulf als Kläger sowie Papst und Kardinäle teilnehmen); – die Urteilsfindung „in consilio“ (durch Papst und Kardinäle und unter Ausschluss der Öffentlichkeit); schließlich – die Beichte und Absolution „in loco secretissimo“ (hier agiert der Papst als Richter nicht nur über die weltlichen Dinge, sondern auch über das Seelenheil des Petenten). Auch die beschriebenen Gesten bestätigen den zeremoniellen Charakter des Geschehens: Hariulf wird von Haimerich an der Hand ins Konsistorium geführt, wo auf ihr Erscheinen hin sich alle erheben und zurückweichen; dem Fußkuss des Abtes folgen die „levatio“ und der Begrüßungskuss des Papstes; Beichte, „adoratio“ und Abschiedskuss beenden die Begegnung. Über die zeremonielle Sitzordnung und das Rederecht wird noch zu sprechen sein. Außerdem wird berichtet, dass Hariulf während seiner achttägigen Wartezeit einmal durch eine Einladung zum Mahl mit dem Papst ausgezeichnet wird (S. 104). Was modernen Lesern gelegentlich wie ein informelles Geschehen erscheinen mag, ist in Wirklichkeit ein für das 12. und das beginnende 13.Jahrhundert charakteristisches Ineinander von formal-technischen Abläufen und höfisch-zeremoniellen Gesten. 38 Allerdings handelt es sich, und das ist die eigentliche Ursache für den Anschein von Formlosigkeit, um keinen wirklichen Prozess, denn, wie schon im ersten Verfahrensschritt, ist der Beklagte, in diesem Fall ein Vertreter aus Saint-Médard, nicht anwesend. Damit fehlt eine von drei ‚Personen‘ (Kläger, Beklagter, Richter), deren Anwesenheit dem Bologneser Rechtsgelehrten Bulgarus zufolge Voraussetzung für einen rechtsförmigen Prozess ist. 39 Dieses entscheidende Detail deutet darauf hin, dass in der ersten Hälfte des 12.
torium im 11.–13.Jahrhundert, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abt.94, 2008, 272–287, passim. 38
Ähnliches wird auch noch zwei Generationen später bei Thomas von Evesham und Girald von Wales
zu beobachten sein. Zum teils an byzantinischen, teils an westlichen Modellen orientierten Hofzeremoniell vgl. Bernhard Schimmelpfennig, Das Papsttum. Von der Antike bis zur Renaissance. 5.Aufl. Darmstadt 2005, 182 ff; Gerhard Kreuzer, Art.„Zeremoniell C: Papstzeremoniell“, in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 9. München 1998, 557–560; Reinhard Elze, Das „Sacrum Palatium Lateranense“ im 10. und 11.Jahrhundert, in: Studi Gregoriani 4, 1952, 27–54; wiederabgedruckt in ders., Päpste – Kaiser – Könige und die mittelalterliche Herrschaftssymbolik. (Collected Studies Series, 152.) London 1982. 39
Bulgarus, Excerpta legum edita a Bulgaro causidico. Hrsg. v. Ludwig Wahrmund. (Quellen zur Ge-
schichte des römisch-kanonischen Prozesses im Mittelalter, 4/1–2.) Innsbruck 1925, Ndr. Aalen 1962, 6: „Iu-
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Jahrhunderts Zuständigkeiten, Verfahrensweisen und Personal im Schrift- und Rechtswesen noch nicht klar getrennt sind: Förmliches Rechtsverfahren und einfache Urkundenimpetration (sie ist theoretisch auch ohne Ersteres möglich) gehen gleitend ineinander über. 40 2. Personen I: Papst und Kardinäle Als treibende Kraft bei der Fortentwicklung des juristischen Procedere gilt Haimerich, der als Kanzler (seit 1124) und Hauptverantwortlicher für das Schisma von 1130 eine überragende Rolle an der Kurie einnimmt. 41 Hariulf charakterisiert ihn als „summi cancelarii, probatissimi et ecclesiasticis legibus palatinisque institutis“ (S. 101). Haimerich stand in Kontakt mit Bulgarus, einem der vier Bologneser „doctores“. Bei ihm hatte er eine Darlegung (die meist so betitelten „Excerpta legum“) zu Fragen der Prozessordnung und einiger „regulae iuris“ erbeten, womit er Johannes Fried zufolge den steten Anstieg der Prozesse zu bewältigen suchte, indem er das „Fragen nach der rechten Verfahrensordnung in die Bahnen einer neuen wissenschaftlichen Literaturgattung zu lenken“ versuchte. 42 Er stand aber auch in Briefkontakt mit Bernhard von Clairvaux, einem erfahrenen Vermittler und zugleich kritischen Beobachter der Kurie, dem der neue Stil der Kurie missfiel und dessen Fürsprache sich auch Hariulf versichert hatte. 43 Haimerich ist insofern eine zentrale dicium est actus ad minus trium personarum, actoris intendentis, rei intentionem evitantis, iudicis in medio cognoscentis.“ 40 Knut W. Nörr, Institutional Foundations of the New Jurisprudence, in: Robert L. Benson/Giles Constable (Eds.), Renaissance and Renewal in the Twelfth Century. Cambridge, MA 1982, 324–338, hier 331; Frenz, Papsturkunden (wie Anm.24), 88f., 94. 41 Maleczek, Kardinalskollegium (wie Anm.2), 33f., 67; Fried, Die römische Kurie (wie Anm.5), 164–171; Nörr, Institutional Foundations (wie Anm.40), 330. 42 Fried, Die römische Kurie (wie Anm.5), 162f.; vgl. auch Fowler-Magerl, Ordines iudiciarii (wie Anm.5), 24f.; Brundage, The Medieval Origins (wie Anm.1), 85–87; Pennington, Roman Law (wie Anm.11), 239f., 248 f. Obwohl Bulgarus’ unter verschiedenen Titeln firmierende Schrift als früher Vertreter der „Ordines iudiciarii“ gilt, handelt es sich um keinen annähernd vollständigen und klar strukturierten Traktat, sondern um einige in Briefform gehaltene Erläuterungen zu unterschiedlichen Sach- und Verfahrensfragen, deren realer Einfluss auf die kuriale Gerichtspraxis skeptisch beurteilt wird: Nörr, Institutional Foundations (wie Anm.40), 330. Bulgarus, Excerpta legume (wie Anm.39), 1, Widmungsvorwort an Haimerich: „Vestrae serenitatis apices ad nos denique a vobis missos servili affectione suscepimus. Proinde materiam ministratam, licet nimis arduam, domino favente feliciter prosequimur.“ 43 Sabine Teubner-Schoebel, Bernhard von Clairvaux als Vermittler an der Kurie. Eine Auswertung seiner Briefsammlung. (Studien und Dokumente zur Gallia Pontificia, 3.) Bonn 1993, passim (ohne Bezug auf diesen Fall); Maleczek, Kardinalskollegium (wie Anm.2), 33.
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Figur, als er für den Übergang vom alten zum neuen Rechtsstil steht. In seiner Amtszeit nahm die Zahl der rechtsgelehrten Kardinäle zu; der auch von Hariulf genannte Gerhard von Santa Croce gehörte zu denjenigen, die für ihre Gelehrsamkeit bekannt waren. 44 Innozenz selbst hingegen war eher ein Praktiker denn ein Gelehrter des Rechts; in seiner Zeit als Kardinal war er häufig als Legat tätig. 45 Johannes Fried zufolge war das, was sich im Pontifikat Innozenz’ II. abspielte, „ein Ringen zwischen dem juristischen, dem rationalen Denken der jüngeren Kardinäle und der vergleichsweise schwärmerischen Spiritualität der älteren Gregorianer“. 46 Kann man die Zunahme juristischer Kompetenz im Umfeld des Papstes als Zeichen der zunehmenden Professionalisierung der päpstlichen Rechtsprechung werten, so fehlt es auf der anderen Seite noch an deutlich voneinander getrennten Institutionen und Kompetenzen. Am Gerichtswesen partizipieren neben den Kardinälen auch Kanzler, Notare und weitere Kurienmitglieder sowie, das zeigt die Schilderung der Konsistoriumssitzung durch Hariulf, auch auswärtige Geistliche und einheimische Laien. 47 Kanzler und Gericht, Rechtsentscheid und Urkundenausstellung sind kaum voneinander getrennt, und die professionelle Rolle, die Papst, Kardinäle, Kappelläne, Notare und sonstige Kurienangehörige hierin spielen, konfligiert teilweise mit ihrem engen Sozialverhältnis als Angehörige der päpstlichen „familia“. 48 Juristisches Expertentum, das zeigt das Beispiel der 1140er Jahre auch, drückt sich um diese Zeit noch nicht primär durch ein klares, individuelles Kompetenzprofil (akademische Schulung und entsprechende Titel) und einen entsprechenden professionellen Habitus aus, sondern durch traditionelle ständische Rituale sozialer Hierarchisierung. Hierzu gehören die Kleidung (die Römer tragen gebrannte Locken und seidene Gewänder, S. 102), die Sitzordnung (im Konsistorium sitzen die Kardinäle zur Rechten des Papstes, die Römer „ad vestigia eius“; im Cubiculum sitzen
44
Ebd.57, nennt noch Guido von Castello, den späteren Lucius II., Matthäus von Albano und Drago von
Ostia; Hariulf (ebd.104) nennt noch Magister Ivo von Chartres, Guido Pisanus und Gregor von Santa Maria in Trastevere. 45
Werner Maleczek, Art.„Innozenz II.“, in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 5. München/Zürich 1991, 433–
434, hier 433. 46
Fried, Die römische Kurie (wie Anm.5), 171.
47
Das Konsistorium ist nicht nur das Forum für die Selbstdarstellung von Richtern und Parteien, son-
dern auch Ort der Belehrung für Besucher, wie Innozenz erklärt: „Non est enim usus nostre curie, ut venerabilis persona huc veniens cicius remittatur; quin pocius remorando et inter nostros spaciando discat que non novit et agnoscat dominacionem Romanorum equanimiter pati“; Müller, Hariulf (wie Anm.30), 103f. 48
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Schimmelpfennig, Papsttum (wie Anm.38), 197.
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Kanzler und Kläger auf einem Schemel zu Füßen des Papstes, S. 104), und das Rederecht (Hauptredner und Verhandlungsführer ist der Papst, der Rang des Kanzlers wird durch gelegentliche Interventionen und das Recht zur Urteilsverkündung hervorgehoben; das Kardinalskollegium, im Konsistorium auch die Externen, haben das Recht, den Auftritt des Kandidaten abschließend zu beurteilen). 3. Personen II: Der Abt Hariulfs Darstellung bezieht ihren Elan ganz wesentlich aus dem bewusst gestalteten Gegensatz zwischen dem kurialen Habitus von Papst und Kardinälen und seiner eigenen, monastischen Idealen verpflichteten Bescheidenheit. Bei seinem ersten Colloquium mit Haimerich setzt er auf Gesten der Demut: Er empfiehlt sich als „servus“ der Tatkraft („ad nobilem strennuitatem“) des Kanzlers und stellt sich der universalen Jurisdiktion des apostolischen Stuhls anheim – der einzigen Autorität, die ihn überhaupt dazu habe bringen können, sein Kloster zu verlassen 49 –, und er betont seine eigene Unwissenheit über die Gepflogenheiten der Kurie („novus adveniens et omnibus ignotus; ultra modum insipiens“, S. 102). 50 Die servile und zugleich ehrwürdige Erscheinung des greisen Abtes werden von Kanzler, Papst und dem gesamten Konsistorium wohlwollend aufgenommen: Der Kanzler, der ihn als „frater vel pocius pater“ (S. 102) anredet (als „frater“ tituliert ihn gemäß dem kurialen Protokoll auch der Papst 51), bekundet seinen Respekt vor dem Antlitz und dem weißen Haupthaar des Greises und lobt seinen „sermo placidus et facundus“, und auch im Konsistorium erheischen das gemessene Auftreten Hariulfs und sein hohes Alter die Anerkennung und das Mitgefühl („pietas“, „misericordia“) der Anwesenden: Dem Papst erscheint es ungebührlich („indecens“), dass ein Mann seines Alters gezwungen werde, nach Rom zu kommen, und die anwesenden Bischöfe und Äbte kommentieren den Vortrag des Abtes zustimmend mit einem bündigen: „[V]ere dignus est auditione“ (S. 103). Die allgemeine Anerkennung verdankt Hariulf offensichtlich dem Umstand,
49 Müller, Hariulf (wie Anm.30), 102: „Nam quamvis ad dominum papam omnis causae examinatio respiciat, vobis iure imponitur currus Ysrahel et auriga eius, quoniam vestra industria disponit omnia, componens minora, dirigens maiora.“ 50 Ebd.106: „In tota gente Francorum non erat potestas aut dominatio, que me cogere posset Romam venire; sed magisterium apostolatus vestri, cui omnis homo subici debet, me hunc venirem pertraxit.“ 51 Die Anredeformen sind aus dem päpstlichen Urkundenformular bekannt, vgl. Frenz, Papsturkunden (wie Anm.24), 44f.
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dass er sich nicht als erfahrener Kurialist verhält. Er vermeidet jenen viel kritisierten Habitus eines am weltlichen Recht und weltlichen Verhaltensformen geschulten Experten, sondern stellt dar, was er ist: Sprache und Gesten stimmen mit seinem Stand und seiner inneren Haltung überein, ganz wie es die ciceronische Rhetorik und die monastische Erziehung gleichermaßen fordern. 52 Hariulf vertritt seine Sache nicht aus Lust am juristischen Disput, sondern aus Not. Dieser monastische Habitus prägt auch Hariulfs Redeverhalten, das alles entscheidende Kriterium im Prozessgeschehen. Die von Thomas Haye beobachtete Schlichtheit seiner Sprache sollte hier nicht als Ausdruck eingeschränkter Lateinkompetenz verstanden werden, sondern als bewusst gewähltes Stilmittel. Zur Darlegung seines Falles vor Papst und Kardinalskollegium wählt er die Form eines „sermo parabolicus“, einer gleichnishaften Rede, der er eine „explanatio“ folgen lässt (S. 105): Ein junger Mann habe seine Braut heimgeführt und mit ihr 35 Jahre und fünf Monate in Freiheit zusammengelebt, bis ein gewalttätiger Gegner ihm die Gattin streitig gemacht habe, indem er behauptete, diese sei keine freie Frau, sondern seine Hörige gewesen, weswegen auch der junge, nun ältere Mann sein Knecht sei. Nach der Auslegung dieses (offensichtlichen) Gleichnisses kommt es zur „interrogatio“, zur Beweiserhebung, die im Wesentlichen vom Papst geführt wird und bei der die Kardinäle assistieren (S. 106–111). Seine Verteidigung („monstracio“) stützt Hariulf auf eine dreifache Argumentation: historisch, juristisch und moralisch. Historisch weist er nach, dass die Ansprüche Saint-Médards, wie gesehen, jeder institutionellen und personalen Grundlage entbehren; juristisch beruft er sich auf den schon bei Pseudo-Isidor formulierten Grundsatz: „Nemo absens condempnetur“ (S. 106) 53; moralisch argumentiert er, dass der Papst mit falschen Urkunden seiner Autorität schade und dass er durch die Revokation des falschen Urteils auch den guten Ruf des päpstlichen Gerichts wiederherstellen könne (S. 107). 52
Jean-Claude Schmitt, La raison des gestes dans l’Occident médiéval. (Bibliothèque des histoires.) Paris
1990, 39ff. Schon bei Cicero findet sich das Vier-Tugenden-Schema (scientia, beneficientia/liberalitas, fortitudo, temperantia), das über Macrobius Eingang in die christliche Lehre findet und seine gültige Form in den vier Kardinaltugenden erhält. Bei Cicero und Quintilian findet sich auch die Forderung, die Regungen der Seele müssten sich in Gesichtsausdruck, Sprache und Gesten (vultus, sonus, gestus) widerspiegeln (ebd.42), ein Gedanke, der sich auch in Hugo v. St. Viktors Novizentraktat wiederfindet. Zur Cicero-Rezeption im 11./12. Jh. vgl. ebd.143f. 53
Lohrmann, Berichte von der Kurie (wie Anm.26), 316f.; er wurde auch ins gratianische Dekret aufge-
nommen: Corpus iuris canonici. Vol.1: Decretum Magistri Gratiani. Hrsg. v. Emil Friedberg. Leipzig 1897, Ndr. Graz 1995, C.3 q.9 c.13: „Absens nemo iudicetur, quia et divinitate et humanae leges hoc prohibent.“
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Der Ablauf der Verhandlung belegt die dominante Rolle der Mündlichkeit im Prozessgeschehen: Das Verhalten der Parteien orientiert sich an noch vorwiegend mündlich tradierten Gewohnheiten und vollzieht sich auch fast ausschließlich mündlich. Noch existieren weder Prozess- noch Kanzleiordnungen, die Verhaltensvorschriften und Formulierungshilfen bieten („scripted roles“); und auch das Prozessgeschehen selbst kommt weitgehend ohne Schriftlichkeit aus: Die Prozessetappen (Klagelibell, Plädoyer und Befragung) werden nicht verschriftet, die Beweisurkunden für die Prozessbeteiligten nicht, wie zwei Generationen später, vervielfältigt und in stummer Lektüre rezipiert. Als Redner verzichtet Hariulf auf die Zurschaustellung dialektisch geschulter Disputationskunst, wie sie in den mit Zitaten aus den Rechtscorpora gespickten „allegationes“ der professionellen Juristen üblich war, so auch im 1125 vor Honorius II. geführten Streit der Bischöfe von Siena und Arezzo, deren Prokuratoren und Anwälte sachlich und rhetorisch alles aufboten, was die Bologneser Rechtsschule sie gelehrt hatte. 54 Auch der Rekurs auf abstrakte Figuren des römischen Rechts wie die Unterscheidung von Eigentum („proprietas“), Besitz („possessio“) und Verjährung von Eigentumsansprüchen („praescriptio“), die schon im Fall von Siena gegen Arezzo verfügbar waren 55, findet sich bei ihm nicht. Stattdessen spricht er wie ein geübter Prediger: Nicht logisch-systematisch argumentierend, sondern historisch-allegorisch fortschreitend, im schlichten Register des „sermo humilis“, in gleichnishafter Rede, mit Berufung auf geistliche „auctoritates“ und mit moralischem Impetus. 56 Hierin ist er einem Zeitgenossen nicht unähnlich, dem Bischof Ulger von Angers, der 1135 als Fürsprecher der Kanoniker von La Roé gegen die Ansprüche der reichen Abtei Vendôme vor dem Konsistorium Innozenz’ II. auftrat, und zwar mit dem Grundsatz:
54 Eine ausführliche Wiedergabe bei Pennington, Roman Law (wie Anm.11), 141–148; Fried, Die römische Kurie (wie Anm.5), 167f. Die Details des Prozessverlaufs sind in der Narratio der Urkunde überliefert, die ebenfalls Haimerich ausführte und die „am deutlichsten die Rezeption der Digesten an der Kurie überliefert“ (ebd.). 55 Mit diesen Rechtsfiguren wird auch im Streit zwischen der Abtei Vézelay und dem Bischof von Autun vor Eugen III. 1151/52 argumentiert, vgl. Monumenta Vizelacensia – Textes relatifs à l’histoire de l’abbaye de Vézelay. Ed. par v. R. B. C. Huygens. (Corpus Christianorum, Continuatio Mediaevalis, 41.) Turnhout 1976, 398f. (und den Kommentar in der Einleitung 76f.). Weitere Beispiele bei Lohrmann, Berichte von der Kurie (wie Anm.26), 317. 56 Beverly M. Kienzle, The Sermon. (Typologie des sources du Moyen Age Occidental, 81/83.) Turnhout 2000, 271–285.
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„Neque enim est nobis animus serenitatem et reverentiam vestrae gravitatis otiosis sermonibs detinere. Tullio et Tullianis sit sua rhetorica. Sed puram veritatem, quae eum liberabit, et ea tantum quae sibi ad hoc negotium sint necessaria, simpliciter et succincte vobis et curae vestrae presenti proposuimus intimare.“ 57
Bei Hariulf und Ulger bleibt der juristische Diskurs mit traditionellen rhetorischen und symbolischen Ausdrucksformen verwoben – ganz anders als im Streit zwischen Siena und Arezzo, wo sich die neuen Rechtsformen und der ihnen eigene Sprach- und Denkstil bereits deutlich bemerkbar machen: In einem Diskurs, der stark auf das römische Recht und die neuen Techniken seiner dialektisch argumentierenden Applikation gegründet ist und durch neue Formen der Schriftlichkeit gestützt wird. Die annähernde gleichzeitige Präsenz von altem und neuem Recht, von traditionellen und modernen Aktionsformen zeigt, dass die Autonomisierung des Rechtsdiskurses, die im Umfeld der Bologneser Schulen und der italienischen Kommunen schon eingesetzt hat und von dort aus (teils auf Nachfrage der Kurie, teils durch die ans päpstliche Gericht drängenden Juristen) in der ersten Hälfte des 12.Jahrhunderts allmählich auch an die Kurie gelangt. Von der beginnenden Transformation der kurialen Gerichtsbarkeit ist allerdings in Hariulfs Bericht noch nicht viel zu spüren. Dies hat einerseits damit zu tun, dass er selbst für die neuen Formen wohl nicht empfänglich ist; andererseits spiegelt es die bereits erwähnte Umbruchsituation an der Kurie mit ihren zwei Kardinalsfraktionen wider. 58 Hariulfs Strategie der „simplicitas“ und „modestia“, die auf rhetorische Brillanz im Stile Ciceros verzichtet, trägt ihm (der sich auf seine Aufgabe zweifellos bestens vorbereitet hat), den ungeteilten Beifall von Papst und Kardinälen ein: Der Papst erklärt, Hariulf habe „vultu et sermone“ allen bestens gefallen (S. 112), weil er nicht stockend („titubanter“), sondern gelehrt und vernünftig („docte, rationabiliter“) und ohne Verstellung und Unklarheit („nullam ostendisti ambiguitate“) vorgetragen habe (S. 111). Und das Urteil der Kardinäle lautet: Er habe seinen Fall nicht nur standhaft („constanter“) und ehrlich („honeste“), sondern auch den Gepflogenheiten der Kurie entsprechend („curialiter“) vorgebracht (S. 113). „Vultu et sermone omnibus 57
PL 180, 1649A; vgl. auch Dietrich Lohrmann, En consistoire avec Innocent II. La relation d’Ulger, évêque
d’Angers (début 1136), in: Revue d’histoire de l’église de France 96, 2010, 277–288; ders., Berichte von der Kurie (wie Anm.26), 317f. 58
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Fried, Die römische Kurie (wie Anm.5), 171.
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complacetis“ – dieses positive Urteil verweist auf die Rolle, die dem körperlichen Ausdruck, insbesondere die Stimme, als Instrument des Handelns vor Gericht hier noch zugemessen wird. An der Kurie haben sich um 1140 – trotz wichtiger, von Innozenz und Haimerich ausgehender Impulse – die neuen Formen des juristischen Expertendiskurses noch nicht als Standard etabliert, sondern koexistieren mit den traditionellen Formen.
III. „Curiae Romanae aequitas causarum meritis, non personarum clarescit.“ Thomas von Evesham und Giraldus Cambrensis vor Innozenz III. (1199–1202/1204–1205) Diese Situation wandelte sich fundamental in den zwei Generationen zwischen den Pontifikaten Innozenz’ II. und Innozenz’ III. Zu Beginn des 13.Jahrhunderts zeichnet sich, auch dank der günstigen Überlieferungslage, ein deutliches Bild der fortschreitenden Institutionalisierung in Kanzlei (nun „cancellaria“ mit eigener Geschäfts- und Gebührenordnung) und Gericht (nun „audientia sacri palatii/audientia publica“) ab. 59 Neben der Organisation der praktischen Rechtsprechung sorgten sich die Päpste auch um die Ordnung der Gesetzgebung, allen voran Innozenz III., der seinen Notar Peter von Benevent 1209/10 mit der systematischen Kodifizierung der Dekretalen beauftragte. Die sogenannte „Compilatio tertia“ entstand in engem Kontakt zur Universität von Bologna, der für die künftige Lehre authentische, vom Papst beglaubigte Texte zur Verfügung gestellt werden sollten. 60 In Bologna wurde auch um 1216 der bislang ausführlichste „Ordo iudiciarius“ des Kanonisten Tankred verfasst. Die zunehmende Systematisierung und Verschriftlichung der Rechtsmaterie und der relevanten Prozeduren führte zu einer Ausdifferenzierung der Fachdiskurse, im Bereich des kurialen Schrift- und Rechtswesens ebenso wie in der Hof- und
59 Siehe Anm.24. 60 Maleczek, Papst und Kardinalskolleg (wie Anm.6), 172; Andreas Thier, Die päpstlichen Register im Spannungsfeld zwischen Rechtswissenschaft und päpstlicher Normsetzung, in: Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abt.88, 2002, 44–69; Frank Rexroth, Kodifizieren und Auslegen. Symbolische Grenzziehungen zwischen päpstlich-gesetzgeberischer und gelehrter Praxis im späten Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 41, 2007, 395–414, hier 407ff.
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Güterverwaltung; hier und dort war man zunehmend auf geschultes und entsprechend spezialisiertes Personal angewiesen. 61 Aber nicht nur an der Kurie, auch an weltlichen und bischöflichen Höfen, in den Städten und den Klöstern wuchs der Bedarf an eloquenten und schriftkundigen Rechts- und Verwaltungsspezialisten. Über das geistliche und weltliche Gericht, aber auch über die zunehmende Romorientierung der Klöster (insbesondere der Reformorden) drang das ius commune ins monastische Milieu vor und schärfte das Profil eines neuen Typus: des rechtsgelehrten Mönchs. 1. Der Fall und seine Implikationen Thomas von Evesham ist ein bekanntes Beispiel für diesen Mönch neuen Typs. Was von seinem Leben, insbesondere dem von ihm geführten Rechtsstreit seines Klosters an der Kurie bekannt ist, verdankt sich seiner eigenen Darstellung im „Chronicon abbatie de Evesham“, das er ab ca. 1212 zum Ruhme des Klosters und seiner Wohltäter (zu denen er sich auch selbst rechnete) teils bearbeitete, teils neu verfasste. 62 Demnach hatte er bereits ein Rechtsstudium in Paris und Oxford absolviert und einige Jahre beide Rechte in Oxford gelehrt, als er als schon nicht mehr ganz junger Mann um die Jahrhundertwende in das Kloster eintrat. Für einen schlecht bezahlten Lehrer (den Magistertitel führte er nicht) von vermutlich illegitimer Abkunft bot das Mönchtum eine neue Form der Karrierechance, eine Erwartung, die sich in seinem Fall auch erfüllte. Der erfolgreich durchgefochtene Rechtsstreit markierte den Beginn seines Aufstiegs im Kloster: Vom Dekan der Kirchen in der „vallis Eveshamense“ (1206) stieg er zum Prior (1218) und zum Abt (1229–1234) auf; außerdem vertrat er das Kloster auf dem Vierten Laterankonzil. 63 Der Rechtsstreit entzündete sich an dem Vorhaben des Bischofs von Worcester, das Kloster kraft päpstlicher Indulgenz zu visitieren, um dem Regime des korrupten
61
Ein Überblick bei Agostino Paravicini Bagliani, La cour des papes au XIIIe siècle. Paris 1995, 79–106.
62
Thomas von Marlborough [von Evesham], History of the Abbey of Evesham [Chronicon]. Lat.-engl. Ed. and
Transl. by Jane Sayers and Leslie Watkiss. Oxford 2003, 26; Jane Sayers, Introduction, in: ebd., xvii–xix, xxiii–xxv; dies., ‚Original‘, Cartulary and Chronicle (wie Anm.7), 371ff.; Boureau, How Law Came to the Monks (wie Anm.9), 34. Ich übernehme den seit der Edition von Macray in den Rolls Series (1863) in der Forschung geläufigen Titel „Chronicon“. In ihrer neuesten Edition spricht Jane Sayers lieber von „History“ (ein Originaltitel ist nicht überliefert). 63
Sayers, Introduction (wie Anm.62), xx–xxv; Boureau, How Law came to the Monks (wie Anm.9), 66f.,
83.
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Abtes Roger Norreys ein Ende zu setzen. 64 Trotz des Ausmaßes der inneren Spannungen und obwohl der Bischof ein allseits geschätzter Mann war, überredete Thomas den Konvent, dieses zu verhindern: Gewähre man dem Bischof Einlass, setze man den exemten Status des Klosters aufs Spiel, indem man einen Präzedenzfall schaffe. Auf Anraten Thomas’ verweigerten die Mönche dem Bischof den Einlass, woraufhin dieser den Konvent exkommunizierte (1202). Beide Parteien appellierten nach Rom, doch Innozenz III. überwies den Fall zunächst an delegierte Richter, die nach einer „inquisitio in partibus“ das folgende Urteil fällten: Dem Bischof wurde die vorläufige Jurisdiktion („possessio“) über das Kloster, dem Konvent diejenige über die abhängigen Kirchen der „vallis Eveshamense“ zugesprochen. Beide Parteien wurden zum 18.November 1205 vor die Kurie geladen. Der Fall zeigt an einem verbreiteten Konflikttyp – dem Streit um die Exemtion von der Bischofsgewalt – die Umwandlung einer Machtfrage in eine Rechtsfrage. Denn die Auseinandersetzung um den Herrschaftsmissbrauch des Abtes und die Disziplinargewalt des Bischofs wurde nicht, wie naheliegend (und von der Mehrheit des Konventes zunächst präferiert), im ‚common interest‘ und im direkten zwischenmenschlichen Kontakt gelöst, sondern durch die Verlagerung nach außen und im Rekurs auf eine abstrakte Rechtsidee. Juristisch operationalisiert wurde der Konflikt durch die Verknüpfung der traditionellen kanonischen Rechtsfigur der Exemtion mit den römischen Eigentumskonzepten von „proprietas“, „possessio“ und „praescriptio“. 65 Auch im Fall Giralds von Wales (ca. 1146 – ca. 1223) ging es im Grunde um eine seit der Kirchenreform rechtlich klar zu fassende ‚Standardsituation‘, nämlich um die Frage, ob seine im Sommer 1199 vollzogene Wahl zum Bischof der walisischen Diözese St. Davids den kanonischen Regeln entsprach, obwohl der Metropolitan und Weihebevollmächtigte (der Erzbischof von Canterbury) nicht zugestimmt hatte. 66 Das Kapitel von St. Davids hatte Girald, den Archidiakon von Brecon, nach des-
64 Zu Anlass und Verlauf vgl. M. Spaethen, Giraldus Cambrensis und Thomas von Evesham über die von ihnen an der Kurie geführten Prozesse, in: Neues Archiv 31, 1906, 597–649, hier 630ff.; Boureau, How Law Came to the Monks (wie Anm.9), 43ff. 65 Ebd.34f., 57f. 66 Das kanonische Recht kannte zur kanonischen Wahl zwei Positionen: Während Rufinus für eine freie kanonische Wahl die Zustimmung dreier Parteien – Klerus, Volk und Weihebevollmächtigter – für nötig hält, erklärt Huguccio in Anlehnung an das römische Modell der Konsensehe die Zustimmung der dritten Partei für unnötig; vgl. Michael Richter, Giraldus Cambrensis. The Growth of the Welsh Nation. 2nd Ed.
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sen von Erzbischof Hubert Walter nicht gebilligter Wahl mit einem Bericht nach Rom gesandt, um vor dem päpstlichen Gericht mit der Anerkennung dieser Wahl auch zugleich die Unabhängigkeit des walisischen Bistums vom englischen Canterbury zu erstreiten. Der Prozess erstreckte sich über drei Etappen, zwischen 1199 und 1203; zweimal wurde der Fall zur Zeugeneinvernahme an delegierte Richter in England zurück überwiesen. 67 Während Giralds erstem Romaufenthalt, im Dezember 1199, hatte der Erzbischof von einem anderen Teil des (inzwischen zerstrittenen) Domkapitels einen Gegenkandidaten, den Abt Walter von St. Dogmaels, wählen lassen, womit Girald der institutionelle und finanzielle Rückhalt ‚seiner‘ Kirche abhandenkam. Aber zugleich erwies es sich als problematisch, dass Girald, obwohl er viele Jahre in Paris zunächst die Artes und dann das römische und kanonische Recht studiert hatte und als Archidiakon Erfahrung in praktischen Rechts- und Verwaltungsangelegenheiten besaß, vom juristischen Standpunkt gesehen weitaus weniger geschickt agierte als Thomas von Evesham. Von Anfang an gelang es ihm nicht, seine Angelegenheit auf ein klares Rechtsproblem zu reduzieren – die Frage der kanonischen Wahl und die Exemtion von der Metropolitangewalt Canterburys – und diese beiden Probleme prozesstechnisch klar voneinander zu trennen. Stattdessen vermengte er die Rechtsmaterie mit dem hochpolitischen Argument, dass nur ein Waliser mit Kenntnis der Sprache und des Landes für dieses Amt in Frage käme. In Zeiten, da in Wales der politische Widerstand gegen den englischen „feudal colonism“ wuchs 68, war dies ein brisantes Argument. Die Bedeutung des Rechtsstreits für Giralds Biographie und sein Selbstverständnis wird aus dem Umfang des Überlieferten ersichtlich. Gleich drei seiner Werke enthalten ausführliche Nachrichten hierüber: seine Autobiographie („De rebus a se gestis“, nach 1208), eine umfangreiche Materialsammlung zum Rechtsstreit („De invectionibus“, um 1216) und eine später überarbeitete Darstellung derselben Vorgänge („De iure et statu Menevensis ecclesiae“, um 1220). 69
Aberystwyth 1976, 96. Auch die nach englischem ‚common law‘ erforderliche Zustimmung des Königs fehlte. 67 Zu Giralds Rechtsstreit um St. Davids vgl. Richter, Giraldus (wie Anm.66), 94–126. Eine erste Kandidatur 1176 war nicht erfolgreich; ein drittes Angebot 1215 lehnte er ab. 68
Robert Bartlett, Gerald of Wales. A Voice of the Middle Ages. New Ed. Strout 2006, 11. Zum politischen
Hintergrund auch Richter, Giraldus (wie Anm.66), 83ff. 69
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Ebd.94f.
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2. Selbstdarstellung: Die Protagonisten In Bezug auf den Fall Evesham lässt sich zugespitzt sagen: Thomas hat das Problem, dessen Lösung er sein will (und wird), erst geschaffen bzw. er hat es so zugespitzt, dass es auf der technisch-juristischen Ebene und mit professionellem Wissen zu lösen ist. Mit anderen Worten: Er hat es sich auf den Leib zugeschnitten. Daher ist es nicht verwunderlich, dass der Konvent einmütig ihn zum Prokurator wählt (und nicht den mitreisenden Abt, der ihm diese Auszeichnung übelnimmt). 70 Als solcher wird er auch an der Kurie anerkannt und tituliert, wie er stolz vermerkt. 71 Die juristische Gelehrsamkeit ist Teil seines Selbstverständnisses und seines sozialen Habitus. Seinen anhaltenden wissenschaftlichen Ehrgeiz demonstriert er dadurch, dass er sich in Erwartung des Prozessbeginns für sechs Monate nach Bologna zurückzieht, um täglich kanonisches und römisches Recht (Letzteres bei Azo) zu hören. Innozenz und Kardinal Hugolino, den Thomas sich als Fürsprecher („tutor et protector“) erwählt hatte, hatten ihm hierzu geraten, und tatsächlich lernte er hier Nützliches auch für seinen Fall („multum ibi profeci“). 72 Wie aus Thomas’ Darstellung hervorgeht, versteht er sich selbst als wichtigste Person des Prozesses. Zwar stützt er sich in rechtlichen Formfragen („quaestiones de iure“) zusätzlich auf vier Anwälte, doch zugleich ist er überzeugt, dass der beste Rechtsbeistand für ein Kloster nur ein Mönch (wie er selbst) sein könne: Ihm sei der Prozess wichtiger als sein Leben, denn hier gehe es um die Sache Christi und seiner Kirche und damit um sein Seelenheil. 73 Die weltlichen Prokuratoren und Anwälte seien nichts als Mietlinge („mercennarios“), die einzig auf den Gewinn aus seien: „Hoc ideo vobis scripsi, [...] ut nunquam negotia ecclesie nostre alicui sine [sic] monacho committatis.“
70 Thomas, Chronicon (wie Anm.62), 264: „Conventus [...] ad hoc induxit, licet vix, quod me, quia iurisperitus eram et meritae cause nostre noveram, de communi assensu procuratorem totius cause coram domino papa constituerunt.“ Der Abt versuchte sogar, in Rom auf eigene Rechnung den Ausschluss von Thomas und eines weiteren Mönchs aus dem Kloster zu betreiben (ebd.270), was ein Indiz dafür sein dürfte, dass die Profilierung von Experten innerhalb des Klosters zu Hierarchiekonflikten führte. 71 Ebd.279f.: „Et vocatus nomine procuratoris Eveshamensis, sicut quamdiu steti ibi semper ab domino papa et omni curia nominatus sum, comparui.“ 72 Ebd.274. 73 Ebd.280: „Sed ego habens preciosiorem causam meam quam animam meam quia [...] pro anima michi res erat, non que mea erant quaerebam, sed que Iesu Christi et ecclesie mee.“ Hier auch das folgende Zitat. An anderer Stelle (ebd.266) erklärt er, er werde sein Leben in Rom als Büßer beschließen, sollte er den Prozess verlieren.
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Das Beispiel des Thomas zeigt, wie stark sich Wissensprofil und Habitus des Mönches gegenüber der Zeit Hariulfs verändert haben. Nicht nur die Kurie erwartet und fördert die Expertisierung der Mönche, auch die Klöster selbst verstehen sich immer weniger als Orte des Rückzugs aus der Welt, sondern als Orte in der Welt, als Innovationsräume, wo die Selbstvervollkommnung des Einzelnen durchaus auch durch rational-zweckorientiertes, nach außen gerichtetes Handeln und im Rahmen von Gehorsamspflicht und Gemeinschaftsordnung verwirklicht werden kann. 74 Im Gegensatz dazu steht Girald nicht für ein pragmatisches Expertentum, sondern für eine eher traditionelle Artes-Gelehrsamkeit, wie ein (vor seiner Wahl verfasster) Brief an den Erzbischof von Canterbury zeigt. Hier erklärt Girald, er verzichte gern auf das Bischofsamt, weil es ihn daran hindere, sich weiter ungestört seinem Studium der geistlichen Wissenschaften zu widmen. 75 Selbstverständlich dient eine solche Bemerkung zunächst dazu, die Tugend der Bescheidenheit zu demonstrieren, doch sie verweist zugleich auf ein Wissenschaftsverständnis, das nicht in die Welt gerichtet ist, sondern im Rückzugsraum einer geistlichen Gemeinschaft seine Erfüllung findet. In Giralds Darstellung ist das Amt kein Ziel, zu dem er sich aufgrund seiner Kompetenzen berufen fühlt, noch ist der Prozess ein willkommener Schaukampf, in dem er sein im Studium erworbenes juristisches Wissen ins Feld führen kann und will. Es ist, wie schon bei Hariulf, eine Maßnahme, zu der er sich aus Not gedrängt sieht. Auch in Rom selbst inszeniert sich Girald eher als ‚homme de lettres‘ denn als pragmatischer ‚homme de droit‘. Als Antrittsgeschenk überreicht er dem Papst – „quia copiose literatus erat et literatura dilexit“ – eine Auswahl seiner Schriften mit der geistreichen und zugleich ehrlichen Bemerkung: „Praesentant vobis alii libras, sed nos libros.“ 76 Und er versäumt nicht, seinen Leser darauf hinzuweisen, dass Innozenz die Bände einen Monat lang an seinem Bett behalten, mit den Kardinälen dis-
74
Gert Melville, Im Spannungsfeld von religiösem Eifer und methodischem Betrieb. Zur Innovations-
kraft der mittelalterlichen Klöster, in: Denkströme. Journal der sächsischen Akademie der Wissenschaften 7, 2011, 72–92, hier 78f., 89f. 75
Giraldus Cambrensis, Giraldi Cambrensis opera. Vol.1: De rebus a se gestis. Ed. by John Sherren Brewer.
(Rerum Britannicarum Medii Aevi Scriptores, 21.) London 1863, 99: „Unde si ad digniorem cathedram Angliae vel Franciae vacantem canonica electione vocarer, novit Deus [...] quoniam, ut illam obtinerem, sacrarum literarum studium, cui totis nisibus Deo vires impartiente deservio, non desererem imperfectum.“ 76
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Ebd.119.
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kutiert und sogar an sie verliehen habe. 77 Innozenz schätze ihn als einen ausgezeichneten Mann von umfassender Gelehrsamkeit in der „scientia literalis“ und halte ihn wegen seines unerschrockenen Kampfes für die Kirche von St. Davids für einen würdigen Kandidaten. 78 Die Rolle, in der sich Girald von der Kurie bestätigt sehen möchte, ist nicht die eines auf Sonderwissen spezialisierten Experten, sondern eines universalen Gelehrten, bei dem ‚höheres‘ Wissen mit einem ausgezeichneten Charakter einhergeht. 79 3. Expertendiskurse I: Thomas und Girald bei Innozenz III. Thomas bricht schon vor dem Urteil der delegierten Richter (April 1205) nach Rom auf (September 1204), um seinen Prozess vorzubereiten. Mehrmals trifft er Innozenz III. außerhalb des Konsistoriums, in einer privaten Audienz, um zu erwirken, dass das Delegationsmandat von 1202 und damit auch das zu erwartende Urteil der englischen Richter aufgehoben werden. Zu diesem Zweck überreicht er ihm nicht nur einen teuren Silberpokal, er überhäuft ihn auch mit einer Fülle juristischer Argumente. 80 Unter anderem weist er den Papst auf freche Art („proterue“) auf einen Rechtsfehler in besagtem Mandat hin, worauf Innozenz ihn verärgert zurechtweist: „Wir haben diese Urkunde ex certa scientia gegeben und wollen sie nicht widerrufen.“ Und hinzufügt: „Hier hast du deine Antwort.“ Mit der Formel „ex certa scientia“ spielt Innozenz auf einen (hier erstmals belegten) Rechtsgrundsatz an, der die Validität einer Papsturkunde begründet: Er besagt, dass der Papst den beurkundeten Sachverhalt auf seine Richtigkeit geprüft habe und die Urkunde auch ohne Angabe von Beweisen bedingungslos gelte. Thomas versteht diesen Satz als grundsätzliche Aussage: „The unformulated knowledge of the sovereign pope left no room for error or ignorance.“ 81
77 Ebd.179. 78 Ebd.177f. 79 Zur Unterscheidung von spezialisiertem Expertenwissen und „holistischen Wissenskonzepten“ vgl. Rexroth, Systemvertrauen und Expertenkritik (wie Anm.20), 23f. 80 Thomas, Chronicon (wie Anm.62), 266. 81 Boureau, How Law Came to the Monks (wie Anm.9), 62; Othmar Hageneder, Die Rechtskraft spätmittelalterlicher Papst- und Herrscherurkunden „ex certa scientia“, „non obstantibus“ und „propter importunitatem petentium“, in: Herde/Jakobs (Hrsg.), Papsturkunde und europäisches Urkundenwesen (wie Anm.24), 401–429, hier 410–413. Allerdings galt dieser Anspruch der bedingungslosen Rechtskraft in der Folge nur für solche Urkunden, die diesen Vermerk auch trugen; fehlte er, galt, dass die „veritas precum“ Bedingung für die Validität der Urkunde war, vgl. ebd.404f.
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Nach der päpstlichen Zurechtweisung endet die Audienz mit dem folgenden Kurzdialog: Thomas repliziert: „,Dies ist sicher eine Antwort, aber eine der Macht (de potestate).‘ Und der Papst: ‚Und ist es nicht auch eine Antwort des Rechts (de iure)?‘ Und ich: ‚Ich weiß es nicht, Herr.‘ Und der Herr Papst befahl zornig (iratus), ich solle schweigen und mich zurückziehen.“ 82
Was sich hier entlädt, ist ein Grundsatzkonflikt zwischen zwei Formen des juristischen Expertentums: dem des päpstlichen Rechtsprechers und Gesetzgebers und dem des gelehrten Rechtsexegeten. Diese Rollentrennung ist, wie Frank Rexroth gezeigt hat, neu und geht auf Innozenz III. und sein Projekt einer päpstlichen Dekretalensammlung zurück. Während Innozenz durch die Erstellung der „Compilatio tertia“ den Papst zur wichtigsten Quelle und Verschriftungsinstanz des ius commune macht, überträgt er durch die Übersendung nach Bologna die Auslegung dieses Rechts den universitär geschulten Experten. 83 Obwohl die Publikation 1205 noch nicht stattgefunden und die neue Rollenverteilung sich noch nicht so deutlich verfestigt hat, ist der latente Konflikt hier schon im Kleinen zu besichtigen. Thomas’ kämpferisches Auftreten verrät seinen Anspruch, dem päpstlichen Gesetzgeber nicht vom Rang, aber vom Wissensstandpunkt her auf Augenhöhe zu begegnen. 84 Mit der Unterscheidung zwischen Rechtsauslegung „de potestate“ und „de iure“ bringen Innozenz und Thomas den von Rexroth beschriebenen Grundsatzkonflikt und die hieraus folgenden Rivalitäten zwischen Kodifikatoren und Interpreten auf den Punkt. Mit seiner Gegenüberstellung von Macht versus Wissen (bei der die Macht am Ende sprachlos und erzürnt zurückbleibt), stellt Thomas zugleich klar, welchen Typ des Expertentums er für den wichtigeren hält. Auch Girald versucht mehrmals, im privaten Dialog mit Innozenz („in camera
82
Thomas, Chronicon (wie Anm.62), 266.
83
Rexroth, Kodifizieren und Auslegen (wie Anm.60), 398f.; Thier, die päpstlichen Register (wie Anm.60).
84
Innozenz’ Rechtskenntnisse werden in der Forschung generell als hoch bewertet. Kenneth Penning-
ton hat sie hingegen relativiert und stattdessen auf die hohe Qualität seiner theologischen Schriften hingewiesen. Pennington zufolge habe Innozenz, wenn überhaupt, dann nur kurz (höchstens zwei Jahre) Recht studiert. Die Verbindung zu Huguccio zieht er ebenfalls in Zweifel: Kenneth Pennington, The Legal Education of Pope Innocent III, in: Bulletin of Medieval Canon Law 4, 1974, 70–77, wiederabgedruckt in: ders., Pope, Canonists and Texts, 1150–1550. (Variorum Collected Studies Series, 412.) Aldershot 1993; ders., Further Thoughts on Pope Innocent’s Knowledge of Law, in: ders., Pope, Canonists and Texts, 1–14. Dem widerspricht Maleczek, Papst und Kardinalskolleg (wie Anm.2), 103f. mit Anm.359. Es ist vielleicht kein Zufall, dass Thomas die Rechtskenntnisse Innozenz’ nirgends anspricht.
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sua“) seine Rechtsposition darzulegen und zu verteidigen und die Stimmung des Papstes zu eruieren. Um nachzuweisen, dass das Bistum von St. Davids schon seit seiner Gründung von Canterbury unabhängig sei, verlangt er Einsicht in den römischen Bistumskatalog, das „Provinciale“. Innozenz lässt das Buch herbeibringen und diskutiert gemeinsam mit Girald die rechtlichen Implikationen des Eintrags. Dass St. Davids und die übrigen walisischen Diözesen hier nicht unter den von Canterbury abhängigen Bistümern verzeichnet sind, deutet Girald als Beleg für ihre Selbständigkeit. 85 Ein anderes Mal, und um diesen Befund abzusichern, sucht er im Register Eugens III. und findet ein Mandat an Erzbischof Theobald von Canterbury, das seine Position weiter zu stützen scheint, wie er Innozenz wiederum mündlich darlegt. Auf Wunsch des Papstes fasst Girald seine Ausführungen in einem schriftlichen Bericht zusammen, von dem auch Innozenz ein Exemplar erhält. 86 Doch verraten diese privaten Colloquia auch Unsicherheit und Unkundigkeit. Girald hat sich auf seinen Prozess schlecht vorbereitet und findet erst in Rom die nötigen Schriftbeweise zur Unterstützung seines Anspruchs: Eine Urkunde Eugens III., die einen früheren Versuch Bischof Bernhards belegt, die Metropolitanwürde für St. Davids zu erlangen. 87 Während Thomas sich gegenüber Innozenz als ausgewiesener Rechtsexperte inszeniert, der sich in typischer Juristenmanier mit dem Papst messen will, schildert Girald seine Begegnungen mit dem Papst, dessen Wohlwollen er mehrfach hervorhebt, als freundlich-intime Zwiegespräche belesener Männer. 88 Außerdem nutzt er diese Begegnungen auch, um seine Gegner schlecht zu machen. 89 Doch Innozenz gibt ihm deutlich zu verstehen, dass es im kurialen Rechtsdiskurs um mehr geht als um geelehrten Austausch, Schmeicheleien und Denunziationen hinter dem Rücken des Gegners. Erwartet wird, dass sich der Petent bzw. Prokurator im entscheidenden Augenblick wie ein guter Jurist verhält: Seine bislang „in cubiculo“ vor-
85 Giraldus Cambrensis, Giraldi Cambrensis opera. Vol.3: De iure et statu Menevensis ecclesiae. Ed. by John Sherren Brewer. (Rerum Britannicarum Medii Aevi Scriptores, 21.) London 1863, 165f. Im Anschluss an diesen grammatisch-juristischen Disput folgen ausführliche historische Argumente, mit denen Girald seine Position untermauern will (ebd.165–176). 86 Ebd.180, 173. Zur nicht eindeutig zu klärenden Abfolge der Ereignisse vgl. Richter, Giraldus (wie Anm. 66), 112 mit Anm.3. 87 Ebd.8. Nach seiner Rückkehr aus Rom findet er auch in St. Davids weitere Urkunden zu diesem Vorgang, vgl. Giraldus Cambrensis, De iure (wie Anm.85), 187. 88 Ebd.177f.: „Interim autem papa considerans in Giraldo viri personalis idoneitatem copiosam quoque scientiae literalis eruditionem“. Ähnlich auch 176. 89 Siehe Anm.109.
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getragenen Rechtsbeweise und Argumente müsse Girald nun mit derselben Sorgfalt („cum diligentia“) auch vor Gericht und im Angesicht des Gegners präsentieren und verteidigen können, denn: „Curiae namque Romanae inflexibilils aequitas causarum meritis non personarum semper in fine clarescit.“ 90 Dies ist als Ermutigung und zugleich als Warnung zu verstehen: Im 13.Jahrhundert wird, anders als zur Zeit Hariulfs, nicht mehr nach dem Ansehen der Person, sondern nach dem Recht geurteilt! 4. Expertendiskurse II: Thomas, Girald und ihre Gegner Während Girald in Ermangelung der nötigen Geldmittel seine Verteidigung allein bestreiten muss, erscheinen sowohl Thomas als auch die Prokuratoren des Bischofs von Worcester umgeben vom Bollwerk ihrer Anwälte („vallati advocatis nostris“). 91 Thomas hat zum Ärger seiner Gegner die besten und teuersten für sich verpflichtet: Mit Magister Meradus von Spanien einen berühmten Bologneser Kanonisten, mit Bertrand von Pavia den zweitbesten Legisten nach Azo. Außerdem setzt er auf zwei Kurienangehörige, die mit den internen Strukturen und Abläufen („secreta curie“) vertraut sind: Auf den bereits erwähnten Notar Petrus von Benevent und einen weiteren Mitarbeiter des Kanzlers. 92 Die Aufgabenteilung zwischen Prokuratoren und Anwälten ist klar geregelt: Erstere haben über Tatfragen („de facto“), Letztere über Rechtsfragen („de iure“) zu reden. 93 Diese Funktionstrennung ist auch durch einen distinkten professionellen Code markiert: Den scharfsinnigen Ausführungen seiner Anwälte, die in zwei Sitzungen erschöpfend und gemäß beider Rechte über die „apices et difficultates“ im Zusammenhang mit Urkundenbeweis, Präskription und Interruption allegieren, kann Thomas, wie er gern zugibt, kaum folgen. 94 Zur Profilierung seiner eigenen Argumentation, die er mit großer Liebe zum Detail zur Kenntnis gibt, verweist er zunächst auf die Dummheit der Gegner. Deren
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Ebd.254: „Si unquam scribere nosti vel tractare, tractatus illorum quos in te facturi sunt, oportet te
nunc cum diligentia magna retractare, et prudenter objectis respondere. [...] De jactantia ipsorum aut stultiloquio ne cures, sed causae tuae, ut diximus, diligenter invigiles.“ 91
Thomas, Chronicon (wie Anm.62), 282.
92
Ebd.284. Der hier „miles Bertrandus Papiensis“ genannte Legist ist nicht mit dem Kanonisten Bern-
hard von Pavia zu verwechseln. 93
Ebd.282, 305.
94
Ebd.303f.: „Tunc advocati nostri [...] per duas audientias quam egregie et subtiliter fere omnes utrius-
que iuris, canonici uidelicet et ciuilis, apices et difficultates in allegationibus circa usum et abusum privilegiorum et prescriptionem et interruptionem exhauserint. Supersedo dicere qui non possem uobis edicere.“
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Prokurator Robert von Clipstone („viro facundissimus et in utroque iure [...] eruditus“) begeht den Fehler, sofort zu Verhandlungsbeginn das Wort zu ergreifen, obwohl seine Partei im Besitz der temporären Jurisdiktion („possessio“) und damit im Vorteil ist. Dieser Schritt ist ebenso ein Verstoß gegen den „modus curie“ wie seine lange und gewundene Verteidigungsrede, mit der er den Papst ermüdet. Von Innozenz zur Kürze ermahnt, ist er verwirrt und vergisst, statt über die bereits geklärte „possessio“ über die nun zur Debatte stehende Frage der „proprietas“ zu handeln. 95 Hiervon hebt sich die elegante Allegation des Thomas glanzvoll ab: Er spricht zur Sache (der Eigentumsfrage) und, gemäß dem „mos curiae“, in bündiger Rede („breuiloquium“). 96 Hiermit entspricht er auch der Standesethik eines Kanonisten, bei der Urteilsfindung in Prozess und akademischer Disputatio „nicht große Worte zu machen, sondern die richtigen Allegationen beizubringen“. 97 Seine Verteidigung besteht in der Präsentation und Auslegung seiner schriftlichen Beweismittel. Es handelt sich um sechs Papsturkunden aus dem 8. und 12.Jahrhundert: zwei Privilegien Constantins I. (ca. 700), jeweils ein Privileg Innozenz’ II. und Alexanders III. und je einen Indulgenzbrief Clemens’ III. und Coelestins III. 98 In seiner Allegation schreitet er von einem zum nächsten Privileg fort und erläutert in einer systematischen Folge von Textzitaten („dicit in eodem privilegio Constantinus, habemus ex eisdem privilegiis“) und Konklusionen („ecce constat, ecce expresse patet, hoc privilegium ita debeat intellegi“), was seine Beweismittel zur Ausgangsfrage zu bieten haben. Durch die geschickte Auswahl einzelner Abschnitte („capitula“) errichtet Thomas eine kühne Rechtskonstruktion, nach der schon die erste Schenkung der angelsächsischen Könige Kenred und Offa an den Papst gerichtet gewesen sei. Dem Bischof von Worcester sei zwar die „cura animarum“ übertragen worden, doch nehme er diese nur in seiner Funktion als päpstlicher „vicarius“ und Legat avant la lettre wahr (S. 288). Rhetorisch verstärkt er sein Argument, indem er Innozenz wiederholt als (Mit-)Besitzer des Klosters anspricht („monasterium nos-
95 Ebd.282. 96 Ebd.286: „Pater sancte, postpositis philosophorum figuris, dialecticorum enigmatibus et retorum coloribus [...] sermone licet incomposito ad ea que res de qua agitur desiderat accedo.“ 97 Von Moos, Rhetorik, Dialektik (wie Anm.17), 141; ähnlich auch Haye, Lateinische Oralität (wie Anm. 17), 25f. 98 In der Narratio der von Innozenz III. für Evesham ausgestellten Urkunde sind sie einzeln aufgezählt: Register Innozenz’ III. Bd. 8: 8. Pontifikatsjahr 1205/1206. Hrsg. v. Othmar Hageneder/Andrea Sommerlechner. Wien 2002, Nr.205, 352.
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trum, immo vestrum“). 99 Insgesamt tritt er dieses Mal nicht kämpferisch auf, wie bei seinem ersten Treffen mit Innozenz, sondern er spricht „flens et eiulans, lingua per timore balbutiente“ – was in diesem Fall als taktische Geste der Demut zu verstehen ist, nicht als authentischer Gefühlsausdruck. 100 In den Augen moderner Leser mag die Verbindung von rationaler Argumentation und servilem Sprechgestus befremdlich wirken, doch von Innozenz wird Thomas’ Auftritt offenbar günstig aufgenommen. Zu den Kardinälen gewandt, sagt er auf Italienisch („ulgariter loquens“): „Dieser Kerl nimmt dem Bischof alles und sagt dann: Den Rest kann er behalten.“ 101 Giralds überlieferte Reden entsprechen häufig nicht diesem rhetorischen Ideal. Häufig erschöpfen sie sich in langatmigen historischen Exkursen oder in zum Selbstmitleid neigenden Rechtfertigungstiraden. 102 Das, obwohl er die Technik der analytischen Exegese von Indizien und Schriftbeweisen durchaus auch beherrscht, zeigt eine Rede, in der er den umstrittenen Ablauf seiner Wahl zum Bischof aufklären will. Zunächst rekonstruiert er den mutmaßlichen Ablauf des Geschehens mit Hilfe einer Reihe von Indizien und Vermutungen („argumenta rhetorica, conjecturalia e probabilia“), um ihn anschließend durch Beweise („assertiones“) in Form von Zeugenaussagen („probationes testium“) zu erhärten. 103 Zu den Selbstverständlichkeiten der forensischen Rhetorik gehört neben der scharfsinnigen Allegation auch der scharfzüngige Angriff auf den Gegner. Auch Thomas wird mehrmals Ziel solcher Attacken. So plädiert Robert von Clipstone, um Thomas’ Beweise zu entkräften, zunächst auf Verjährung der Eigentumsansprüche, da die vorgewiesenen Privilegien von Evesham bislang niemals als Instrumente gegen die Jurisdiktion des Bischofs verwendet worden seien. Dieser habe in der Vergangenheit die Abtei vielmehr regelmäßig visitiert und auch Weihehandlungen vorgenommen. Dies kann er mit Hilfe der in England protokollierten Zeugenaussagen („dicta testium“) belegen, aus denen er geschickt die wichtigsten Punkte refe99
Thomas, Chronicon (wie Anm.62), 286, ähnlich 294.
100 Ebd.286, ähnlich 296. 101 Ebd.296. 102 Giraldus Cambrensis, De iure (wie Anm.85), 169–176 (hier zitiert er ausgiebig aus Bedas Kirchengeschichte); sowie 242–246. 103 Ebd.261. Nach römisch-kanonischem Verständnis hat der Zeugenbeweis die höchste Rechtskraft („fides“) – dies aber nur, wie Girald betont, wenn die Zeugen auch glaubwürdig (im sachlichen und moralischen Sinne) seien: dies galt nicht für diejenigen Mitglieder des Kapitels, die er in seiner Eigenschaft als vorläufiger Verwalter des Bistums exkommuniziert hatte (ebd.256), vgl. auch Spaethen, Giraldus Cambrensis (wie Anm.64), 621f.
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riert. Thomas weiß dies und anderes durch feinsinnige („subtilissima“) und elegante („elegantissima“) Allegationen zu widerlegen. 104 Als Höhepunkt darf sein Schlussplädoyer gelten: Als Antwort auf den Vorwurf, die vorgelegten Urkundenbeweise seien in sich widersprüchlich und daher unerheblich, entgegnet er mit einer Art Grundsatzerklärung: „Es erscheint mir verwunderlich, dass unser Gegner es wagt, sein Wort gegen das des Himmels zu erheben (Ps. 72,9), indem er erklärt, die Privilegien des römischen Bischofs seien unerheblich (nullius momenti), ist es doch beinahe ein Sakrileg, über dessen Urteil zu rechten. [...] Umso wichtiger ist es, die Privilegien des Papstes günstig auszulegen, damit sie, da sie niemals nichtig sein können, sich auch niemals widersprechen.“ 105
Geschmeidig macht Thomas sich hier ein (ursprünglich römisches) Rechtsprinzip zu eigen, das er in seiner Begegnung mit Innozenz noch scharf verurteilt hatte: Das der absoluten Autorität des Souveräns in Rechtsfragen, das er geschickt mit dem gratianischen (und von Azo weiterentwickelten) Prinzip vom zu vermeidenden Widerspruch verknüpft und auf die Dekretalengesetzgebung des Papstes anwendet. Durch den Vorwurf des Sakrilegs und des Mangels an Scharfsinn ist der Gegner doppelt diskreditiert. Selbstlob, Umschmeicheln des Richters und Verleumdung der Gegenpartei gehören zu den selbstverständlichen Spielregeln der Gerichtsverhandlung. Im Streit um die Auslegung derselben Referenztexte werden die Grenzen durch eine agonale Rhetorik und ein entsprechendes Gebaren markiert – man denke nur an das Bollwerk der Anwälte, hinter dem sich die Parteien bei ihrem ersten Auftritt verschanzen. In
104 Thomas, Chronicon (wie Anm.62), 300, 302. So wendet er, ebenfalls unter Berufung auf die Zeugenaussagen ein, der Bischof sei entweder gegen den ausdrücklichen Protest des Konvents oder aber auf dessen ausdrückliche Einladung nach Evesham gekommen und sei dort aus Liebe („caritatiue“), nicht aus Gehorsam empfangen worden. 105 Ebd.306 und Anm.2 der Hrsg.: „Mirum michi uidetur qualiter aduersarius noster ponere os in celum ausus sit dicens priuilegia Romani pontificis nullius esse momenti cum etiam instar sit sacrilegii de sententia eius disputare. Cum enim dicta testium secundum leges ita sint interpretanda ut sibi adinuicem non sint contraria, ne testes periurii arguantur, multo fortius priuilegia summi pontificis benigne sunt interpretanda ut sicut nunquam possunt esse inania ita nec sibi unquam sint contraria.“ Thomas beruft sich hier auf einen Rechtssatz des CIC (wie Anm.53), den Gratian abwandelt (C VII q. 4 c. 29, 823f.: „Nemini est permissum de eo quod Papa statuit iudicare“). Er findet sich auch in einer Urkunde Innozenz’ III. von 1203: „[Q]uod [...] legitime non fuisset, cum instar sacrilegii sit de statuts principum iudicare“. Register Innozenz’ III. Bd. 6: 6. Pontifikatsjahr 1203/1204. Texte und Indices. Hrsg. v. Othmar Hageneder u.a. Wien 1995, Nr.
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diesem Punkt verhalten sich die geistlichen „iurisperiti“ keinen Deut anders als ihre weltlichen Pendants, die Mönche nicht anders als der Weltklerus. Hier wie dort wird das „scandalizare“, das fachliche und persönliche Herabsetzen des Gegners, zum Teil des Juristen-Habitus. Hierzu gehört auch die Bereitschaft, notfalls zu vorsätzlichen Täuschungsmanövern und falschen Bezichtigungen Zuflucht zu nehmen. 106 Mehr noch als im Falle Evesham zeigt sich dies im Rechtsstreit des Girald. Als die Prokuratoren des Erzbischofs von Canterbury, Magister Andreas und der Kanoniker Reginald Foliot, darlegen sollen, wann und wie genau Giralds Rivale Walter von St. Dogmael zum Bischof von St. Davids gewählt worden sei, verstricken sie sich in Widersprüche. Nachdem alle Parteien von den Auditoren aufgefordert worden waren, ihre Darlegungen zu diesem Punkt der Reihe nach niederzuschreiben und die Protokolle einzureichen, gelingt es Reginald Foliot dank der Raffinesse seiner Anwälte („per exquisitas advocatorum, ne dicamus falsitates“), die Aussage so zurechtzurücken, dass es erscheint, als sei Walter zweimal (einmal vor und einmal nach Girald) gewählt worden, was die Auditoren aber nicht weiter bemängeln. 107 Girald revanchiert sich, indem er den Erzbischof als missgünstig, ehrgeizig und sogar als Häretiker beschimpft, die Mitglieder des Domkapitels als korrupt und die vom Erzbischof nach Rom gesandten Zeugen als Meineidige, Klosterflüchtlinge und Betrüger. Diese replizieren, indem sie ihn der Simonie und, als dies nichts fruchtet, gar des Pferdediebstahls bezichtigen. 108 Ein tiefer Graben trennt die bei Hariulf geschilderten Verhältnisse unter Innozenz II. und Haimerich von denen ihrer Nachfolger im beginnenden 13.Jahrhundert: Während Erstere sich Verleumdungen („verecundia“, „sibilium“) ausdrücklich als unkurial verbeten hatten, macht sich Innozenz III. selbst zum Komplizen dieser Gewohnheit. Während eines Spazierganges ermuntert er Girald, ihm von den grammatischen und rhetorischen Schwächen des Erzbischofs von Canterbury zu erzählen, worüber die beiden dann halb im Ernst, halb im Scherz ein ergötzliches Gespräch führen. 109
106 Fried, Die Entstehung des Juristenstandes (wie Anm.1), 110–115; Rexroth, Kodifizieren und Auslegen (wie Anm.60), 412f. 107 Giraldus Cambrensis, De iure (wie Anm.85), 191f. 108 Ebd.246–250; vgl. auch Richter, Giraldus (wie Anm.66), 118. 109 Giraldus Cambrensis, De iure (wie Anm.85), 254: „Sed nunc de archiepiscopi vestri grammatica loquamur, et qualiter in synodo sermonem inchoavit, et qualiter in Dominica palmarum de trium personarum distinctione disseruit, nobis edisseras. Cum itaque nunc seriis, nunc iocosis et ludicris, ibidem papa diutius indulsisset.“ Über Hubert Walters Schwierigkeiten mit der lateinischen Grammatik hatte Girald in seiner
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Einmal wird auch Thomas durch die Taktik der Verleumdung in echte Bedrängnis gebracht, als seine Gegner ihm nämlich vorwerfen, seine Beweisurkunden seien gefälscht. Insbesondere die Privilegien Papst Constantins seien verdächtig, denn solche habe man in England noch nirgends gesehen. Die Prüfung dieses Vorwurfs überlässt Innozenz nicht den Anwälten. in Sachen Urkundenkritik ist er selbst Experte: „Et dominus papa propriis manibus tractavit ea, et traxit per bullam et cartam si forte posset bullam a filo amovere, et diligentissime intuens et tradidit cardinalibus intuenda, et quum per gyrum venissent iterum ad dominum papam, ostendens privilegium Constantini dixit, ,Huiusmodi privilegia quae vobis ignota sunt, nobis sunt notissima, nec possent falsari‘, et ostendens indulgentias dixit, ,istae verae sunt‘“. 110
Dieses Ritual markiert erneut die Grenze zwischen den Aufgaben der Rechtsexperten (Thomas, den Anwälten) und denen des Rechtsschöpfers, dem Papst selbst. Für beide ist das Hantieren mit Schriftzeugnissen Teil des professionellen Habitus. Doch während es bei den „iurisperiti“ um die Instrumentalisierung der Texte im Hinblick auf die sachliche Pertinenz und Schlüssigkeit geht, agiert der „legislator“ als Garant für deren Authentizität und Validität. Dass Innozenz in seinem Urteil irrt – der Umstand, dass die Päpste bis ins 11.Jahrhundert hinein Papyrus als Schreibmaterial verwendeten, scheint ihm nicht geläufig, und die Tatsache, dass der Urkundenüberbringer (ein Bote der Kurie) ein bekannter Fälscher ist, ignoriert er –, zeigt umso deutlicher das Ausmaß der ihm zugesprochenen Autorität und Kennerschaft, die offensichtlich keiner näheren sachlichen Begründung bedarf. 111 Doch solche Demonstrationen von Kennerschaft durch den Papst während der Verhandlungen scheinen eher selten zu sein. Immer häufiger überträgt Innozenz
Gemma Ecclesiastica (dist. II, c. 36) berichtet, die er dem Papst als Geschenk überreicht hatte. Zu dieser Episode auch Haye, Lateinische Oralität (wie Anm.17), 12. 110 Thomas, Chronicon (wie Anm.62), 298. 111 Jane Sayers hat nachweisen können, dass es sich bei den vorgelegten Privilegien Constantins um formale und inhaltliche Fälschungen handelte, die im 12.Jahrhundert hergestellt wurden, als Evesham seinen Exemtionsanspruch zum ersten Male gerichtlich durchfocht und die alten Papyri bereits weitgehend zerfallen waren. Auch das Privileg Innozenz’ II. von 1139 wird von Jane Sayers angezweifelt, die Indulgenzen Coelestins III. und Alexanders III. gelten hingegen als echt: Sayers, ‚Original‘, Cartulary and Chronicle (wie Anm.7), 373, 375–377. Eines der Privilegien ist als gefälschtes ‚Original‘, das andere als Abschrift überliefert. Zum Privileg Innozenz’ II. von 1139 vgl. ebd.378f.; zu den Indulgenzen Coelestins III. und Alexanders III. vgl. ebd.380f.
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die Auditionen an einzelne Kardinäle. 112 Als Rechtsexperte inszeniert er sich eher in den informellen Kolloquien, von denen Thomas und besonders Girald ausführlich berichten. In der Öffentlichkeit hingegen pflegt er den Habitus des Monarchen, agiert durch joviale Gesten: So lässt er Thomas nach dem gewonnenen Prozess zum Zeichen seiner Gewogenheit zwei Mal seine Jagdbeute übersenden; Girald gewährt er als Entschädigung für die erlittenen Verleumdungen die Gunst, ihn auf seinem Lieblingsspaziergang eine Weile begleiten zu dürfen. 113 Auch am schon bei Hariulf beschriebenen Hofzeremoniell mit Fußkuss, hierarchischer Sitzordnung und Abschiedssegen wird weiterhin festgehalten. 114 Ein besonders feierlicher und rituell ausgestalteter Akt ist die Urteilsverkündung, bei dem Thomas einer Ohnmacht nahe ist. Schon zuvor hat er die Expertenrolle mit der des demütigen Büßers und Bittstellers vertauscht. Im Angesicht der höchstrichterlichen Entscheidung mag er sich nicht allein auf die Überzeugungskraft der „humanae rationes“ verlassen, sondern setzt auf die Macht der „zwingenden Gesten“ 115: Mit Fasten und Beten, Anrufung der Heiligen und Almosen bereitet er sich auf den entscheidenden Moment vor. In aller Morgenfrühe trifft er im Lateran ein und wirft sich jedem der eintretenden Kardinäle unter Tränen zu Füßen. 116 Die Verkündung der Sentenz erfolgt in Anwesenheit von Papst und Kardinälen durch den Notar Philipp, der sie nach dem Konzept der Urkunde („per scripturam“) verliest: Sie ist im feierlichen Tenor des „stilus curie“ gehalten und beginnt mit einer wuchtig-apokalyptischen Arenga: „Ex ore sedentis in throno procedit gladius bis acutus, quoniam ex ore Romani pontificis [...] rectissima debet exire sententia que contra iustitiam nullum parcat, sed reddat quod suum est unicuique.“ 117
Zusammenfassend lässt sich Folgendes konstatieren: Während Innozenz eher die
112 Z.B. Giraldus Cambrensis, De iure (wie Anm.85), 191f. 113 Thomas, Chronicon (wie Anm.62), 348; Giraldus Cambrensis, De iure (wie Anm.85), 252ff. 114 Giraldus Cambrensis, De iure (wie Anm.85), 314; ebd.176, 182; über die zu Füßen des Papstes sitzenden Kappelläne ebd.254. Verglichen mit der Darstellung des Hariulf werden die Gesten bei Thomas und Giraldus nur beiläufig erwähnt. 115 Egon Flaig, Ritualisierte Politik. Zeichen, Gesten und Herrschaft im alten Rom. (Historische Semantik, 1.) Göttingen 2003, 105f. Flaig versteht hierunter solche Gesten, die in einer konsensorientierten Gesellschaft dem politischen Gegner das Einlenken bei Wahrung seines Ansehens ermöglichen. 116 Ebd.310–312. Außerdem hat er die Türsteher („apparitores“) bestochen, die ihn daraufhin beim Eintreten den Platz vor seinem Gegner anweisen. 117 Register Innozenz’ III. Bd. 8 (wie Anm.98), Nr.205, 351. Thomas bekommt das Konzept zur Korrektur vorgelegt, vgl. Thomas, Chronicon (wie Anm.62), 314.
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großen Worte und Gesten pflegt, inszenieren sich die „iurisperiti“ (mit mehr oder weniger Fortune) als Meister des strategisch argumentierenden, effektiven Diskurses. Hierin folgen sie nicht dem Vorbild der Kurie, wo in Ritual und Schrift noch die fürstliche „Repräsentations-elocutio“ und der „biblisch-metaphorische Sakralton“ des „stilus curie“ vorherrschen. Die forensische Redegewandtheit hat ihren Ursprung bekanntlich nicht an den fürstlichen Kanzleien, sondern in den italienischen Stadtkommunen. 118 Obwohl die mündliche ‚Performance‘ vor Gericht nach wie vor der alles entscheidende Moment im Verhandlungsgeschehen ist, entwickelt sich die forensische Rhetorik immer mehr zu einer Kunst, deren Kennzeichen das souveräne Hantieren mit Schriftstücken ist. Zunächst, weil die juristische Argumentationskunst auf einem spezifischen Umgang mit Texten beruht – Texte im Sinne von autoritativen, einer Auslegung bedürftigen Schriften. Als solche gelten in erster Linie Urkunden, Zeugenprotokolle und kanonische „auctoritates“. 119 Diese Kunst besteht darin, die herangezogenen Texte als Beweismittel („instrumenta“) tauglich zu machen. Durch das dialektische Auseinander-Dividieren in Teilabschnitte („capitula“) werden Argumente gewonnen, die in der Allegation geschickt so zusammengeführt werden, dass, wie das Beispiel des Thomas von Evesham zeigt, auch die Vergangenheit neu geformt und gedeutet wird. Dividieren – Glossieren – Re-ordinieren und Re-formulieren – dies sind nach Azo die entscheidenden Teilakte des juristischen Denk- und Redestils. 120 Diese Art der Rede erfordert mehr als eine lateinische Basis-Oralität, die sich in einer Repetition angelernter rhetorischer Formeln, wie sie „Ordines iudiciarii“ und „Artes dictamini“ vermitteln, erschöpft. Allegation, Interrogation und juristischer Disput, aber auch das „scandalizare“, die Kehrseite des rational-effizienten Rechtsdiskurses, setzen die Fähigkeit zum situationsangemessenen Reden und da-
118 Moos, Dialektik, Rhetorik (wie Anm.17), 148, 150; vgl. auch Arlinghaus, From ‚Improvised Theater‘ (wie Anm.22). 119 Alain Guerreau, Textus chez les auteurs latins du 12e siècle, in: Ludolf Kuchenbuch/Uta Kleine (Hrsg.), Textus im Mittelalter. Komponenten und Situationen des Wortgebrauchs im schriftsemantischen Feld. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 216.) Göttingen 2006, 149–178; Ludolf Kuchenbuch/Uta Kleine, Textus im Mittelalter. Erträge, Nachträge, Hypothesen, in: ebd.417–453, hier 417f. 120 Azo Portius, Summa institutionum 1,8,1: „[F]acilior per divisionem tradatur doctrina, partitio enim sive divisio animum legentis incitat, mentem intelligentiae praeparat, memoriam artificiose reformat.“ Zit. nach Otte, Logische Einteilungstechniken (wie Anm.21), 166. Zum dividierenden Denkstil auch Johannes Fried, Vom Nutzen der Rhetorik und Dialektik für das Leben. Eine Einführung, in: ders. (Hrsg.), Rhetorik und Dialektik (wie Anm.17), VII–XX, hier XVIII.
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mit eine fortgeschrittene Sprachkompetenz voraus – dies umso mehr, als vor Gericht allem Anschein nach ohne schriftliches Konzept vorgetragen wurde. Doch um 1200 ist die forensische Mündlichkeit gleichwohl konzeptionell und praktisch von Schriftlichkeit umstellt: Nicht nur, weil die Gerichtsrede fest an die Technik der Auslegung von Schriftbeweisen geknüpft ist, sondern auch, weil inzwischen die umfassende Verschriftlichung der Prozessetappen auch an der Kurie die Regel ist. Dies entspricht einem in Italien längst üblichen Rechtsbrauch und wird auf dem Vierten Laterankonzil ausdrücklich auch für die geistlichen Gerichte vorgeschrieben: Sämtliche Justizakte („universa iudicii acta“) sollten von öffentlichen Notaren oder anderen geeigneten Personen aufgeschrieben werden, nämlich „citationes, dilationes, recusationes et exceptiones, petitiones et responsiones, interrogationes, confessiones, appellationes, renunciationes, conclusiones et caetera“. 121 In einigen Fällen, so bei der Abfassung des Klagelibells oder der Verschriftung der Plädoyers, setzt die Kurie nicht ihre eigenen Notare ein, sondern überträgt die Aufgabe den Petenten. 122 So haben Thomas und seine Gegner ihre Schlussreden nach dem Vortrag schriftlich einzureichen. Hierbei dürfte Thomas auf den Rat seines Advokaten, des Notars Peter von Benevent zurückgegriffen haben. Die „allegationes“ des Thomas werden dann in die Narratio des päpstlichen Gratialbriefes für Evesham eingearbeitet. 123 Diese Beobachtungen zeigen, dass sich im Unterschied zur Zeit Hariulfs der Zusammenhang von Mündlichkeit und körperlichem Ausdruck als Attri-
121 Conciliorum oecumenicorum decretal (wie Anm.11), c. 38, 251: „[N]e falsitas veritati praeiudicet, aut iniquitas praevaleat aequitati, statuimus ut tam in ordinario iudicio quam extraordinario, iudex semper adhibeat aut publicam, si potest habere, personam, aut duos viros idoneos qui fideliter universa iudicii acta conscribant, videlicet citationes, dilationes, recusationes et exceptiones, petitiones et responsiones, interrogationes, confessiones, appellationes, renunciationes, conclusiones et caetera quae occurrunt.“ 122 Giraldus Cambrensis, De rebus (wie Anm.75), 119: Der Erzbischof von Canterbury hatte sein Klagelibell in zwölffacher Ausführung (für den Papst und die Kardinäle) nach England senden lassen. Girald hatte hierauf mündlich zu erwidern und seine Entgegnung anschließend schriftlich einzureichen. Auch bei der Urkundenimpetration galt spätestens seit Innozenz III., dass bereits die Petitionen im „stilus curie“ zu verfassen waren, vgl. Herde, Beiträge (wie Anm.24), 155; Kleine, Litterae (wie Anm.24), 197. 123 Thomas, Chronicon (wie Anm.62), 310: „Et dominus papa: ‚Discedite et scribite nobis summatim allegationes vestras, et detis nobis hac die, et confidite in Domino [...].‘ Et recedentes uterque nostrorum seorsum suas scripsit allegationes, nos vero brevius quam hic sint scriptae, et subtilius et melius, et tradidimus eas domino papae in vespera.“ Ebd.226: „Quum igitur allegationes meas [....] et literas domini papae communes ex eisdem allegationibus formatas ante oculos meos revoco.“ Die Urkunde ist doppelt überliefert: als Transkription im Chronicon (wie Anm.62), 332–342, und als Eintrag im Register Innozenz’ III. Bd. 8 (wie Anm.98), vgl. Anm.98.
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buten eines Denk- und Persönlichkeitsstils verschob: hin zu einer Mündlichkeit, deren wichtigstes Attribut das Schriftstück wird – nicht im Sinne einer Verhaltensvorschrift, sondern im Sinne eines ständigen Begleiters der Rede. Diese disputative Mündlichkeit gerinnt in der proklamatorischen Mündlichkeit des päpstlichen Urteils, das am festesten an die Schriftform geknüpft ist, denn es wird zum Ausdruck der Verbindlichkeit nach der Schrift verlesen. In seiner Sentenz hält sich Innozenz an den klassischen Grundsatz, dass der Richter „secundum allegata“ und nicht „secundum conscientia“ zu urteilen habe. 124 Er gibt keine eigene Urteilsbegründung, sondern macht sich – im rhetorischen Gewand des päpstlichen Urkundenstils – die Argumentation des Thomas, vielleicht auch den Wortlaut des von ihm verfassten Protokolls, zu eigen. Dieses Verfahren zeigt beispielhaft die enge Interaktion zwischen Papst und Petenten, zwischen Gesetzgeber und Gesetzesexegeten: Denn jede der auf diese Weise, durch die ‚fremde‘ Auslegung kanonischer Rechtstexte zustande gekommenen päpstlichen Rechtsentscheidungen, hat ihrerseits wiederum gute Chancen, Teil der Rechtsnorm zu werden: Indem sie nämlich, wie auch das Privileg für Evesham, ins päpstliche Register aufgenommen wird und damit für weitere autoritative Rechtskodifikationen zur Verfügung steht. 125 Woraus gefolgert werden darf, dass die Institutionalisierung und Professionalisierung des Rechtswesens keineswegs einseitig vom Papsttum ausgeht, sondern durch den ständigen Austausch mit Personen und Institutionen von außen in Gang gehalten wurde und an Kontur gewonnen hat. 126 Die rasche Ausdifferenzierung der Wissensgebiete und Funktionen im Bereich des Rechtswesens findet auch in unseren Berichten einen Niederschlag: Neben Prokuratoren und Advokaten werden (delegierte) Richter, Notare und weitere Kanzlei-
124 Wetzstein, Heilige (wie Anm.1), 57f. Papst und Kaiser waren von dieser Regel ausgenommen, „sie waren die einzigen Richter, denen als iudex supremus und legislator das Recht zuerkannt wurde, secundum conscientiam zu urteilen“. 125 Othmar Hageneder, Papstregister und Dekretalenrecht, in: Peter Classen (Hrsg.), Recht und Schrift im Mittelalter. (Vorträge und Forschungen, 23.) Sigmaringen 1977, 318–347. 126 Wichtige Ideengeber waren die italienischen Stadtkommunen, aber auch aus England kamen wichtige Impulse: Peter Landau, Die Anfänge der Prozessrechtswissenschaft in der Kanonistik des 12.Jahrhunderts, in: Orazio Condorelli/Franck Roumy/Mathias Schmoeckel (Hrsg.), Der Einfluss der Kanonistik auf die europäische Rechtskultur. Bd. 1: Zivil- und Zivilprozessrecht. Köln Weimar/Wien 2009, 7–24, hat auf die Rolle anglonormannischer Kanonisten für die Entstehung einer Prozessrechtslehre hingewiesen. Vgl. auch Jane Sayers, Papal Judges Delegate in the Province of Canterbury, 1198–1254. A Study in Ecclesiastical Jurisdiction and Administration. Oxford 1971.
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beamte genannt, doch über deren Rolle und Habitus ist in den stark autorenzentrierten Darstellungen erstaunlich wenig zu erfahren. Dies gilt besonders für die Kardinäle, deren Rolle als wichtigste Berater in Fragen von Recht und Politik und als selbst oder mit urteilende Richter außer Frage steht, deren Profil bei Thomas und Girald jedoch erstaunlich blass bleibt. Wie schon zu Hariulfs Zeiten, so ist es auch im 13.Jahrhundert nach wie vor unumgänglich, sich der Protektion eines oder mehrerer Kardinäle zu versichern, um einen Prozess überhaupt durchfechten zu können. Sowohl Thomas als auch Giraldus betonen die Rolle Hugolinus’, des Neffen Innozenz’ und späteren Papstes Gregor IX. 127 Hugolinus und seine Kollegen fungieren als wichtige Regulatoren im Kontakt zwischen Papst und Petenten: Sie bestimmen, wer wann und wie oft Zugang zum Papst erhält und beeinflussen mit ihrer Stimme die Geschwindigkeit und das Ergebnis des Prozesses. Daher wäre es verfehlt, sie mit den gewöhnlichen ‚Experten‘, mit Prokuratoren, Advokaten und Notaren, auf eine Stufe zu stellen. Ihr Kompetenzprofil ist nicht formal reguliert, ihr Anteil an der päpstlichen Entscheidung bleibt völlig intransparent, und ihre praktischen Aufgaben sind ebenso wenig klar definiert wie ihre Einkünfte. 128 Als Glieder des päpstlichen Leibes (so versteht sie Innozenz III.) 129 sind sie weit über die ‚einfachen‘ Funktionsträger hinausgehoben. Sie bilden eine Funktionsaristokratie, die sich durch ihre Nähe zum Monarchen, einen entsprechenden zeremoniellen Habitus und einen fürstlichen Lebensstil auszeichnet – aber auch durch ihre Empfänglichkeit für finanzielle Zuwendungen jeder Art. 130
127 Hugolinus’ besondere Beziehungen zu Evesham belegt der Umstand, dass er von dort seit 1198 bis 1206 eine jährliche Pension von 5 Pfund bezog, vgl. Werner Maleczek, Zwischen lokaler Verankerung und universalem Horizont. Das Kardinalskollegium unter Innocenz III., in: Andrea Sommerlechner (Ed..), Innocenzo III. Urbs et orbis. Atti del Congresso Internazionale (Roma, 9–15 settembre 1998). Vol.1. Rom 2003, 101–174, hier 143. Giraldus nennt außerdem Johannes, KB von Albano, und Guido von S. Maria in Trastevere, vgl. Maleczek, Papst und Kardinalskolleg (wie Anm.6), 94f., 99–101, 259. Zu Hugolinus ebd.126–133. 128 Auch rechtlich ist die Funktion der Kardinäle kaum bestimmt (außer ihrer Rolle als Papstwähler). Die Dekretisten haben keine „Theorie der Macht“ entwickelt, die der tatsächlichen politischen Rolle der Kardinäle entsprochen hätte, vgl. Maleczek, Papst und Kardinalskolleg (wie Anm.6), 282. 129 Ebd.283. 130 Zum Habitus und Lebensstil Agostino Paravicini Bagliani, Cardinali di curia e famiglie cardinalizie dal 1227 al 1254. Vol.1. (Italia Sacra, 18.) Padua 1972, 443–506; ders., La cour des papes (wie Anm.61), 37ff. Zur Kritik an der Habgier der Kardinäle vgl. Maleczek, Papst und Kardinalskolleg (wie Anm.6), 267ff. Wichtige kritische Stimmen des 13.Jahrhunderts sind der Dialogus „inter euntem ad curiam et venientem a Roma de malis moribus curie“ aus der Zeit Innozenz’ III. (ed. Herde, Beiträge [wie Anm.24], 247–251); eine Rede des
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IV. Ausblick: „Quod quasi de lana caprina contendebamus“ – Grenzen und Aporien des Expertenhandelns am Beispiels des Streits um die Reliquien des hl. Eligius von Noyon (1256) Es liegt in der Natur der hier untersuchten Zeugnisse – ihrer breiten chronologischen Streuung, ihrer subjektiven, autorenzentrierten Perspektive und ihrer uneinheitlichen Struktur –, dass weitreichende Hypothesen und kontinuierliche Entwicklungslinien aus ihnen nicht abgeleitet werden können. Dennoch habe ich sie vorsichtig und in Rückbindung an die Forschungen zur Wissens- und Rechtsgeschichte, zur Oralität, Schriftlichkeit und symbolischen Ausdrucksformen als Etappen einer Fortschrittsgeschichte konturiert: – in Bezug auf den Zusammenhang von Juridisierung und wachsender Schriftrationalität; – in Bezug auf die Ausdifferenzierung von Wissensgebieten und den mit ihnen verbundenen Kompetenzen und Funktionen; – in Bezug auf die Schärfung von Expertenprofilen, die sich durch einen bestimmten Habitus zu erkennen geben und deren Handlungsrepertoires sich erweitern (dies gilt im Besonderen für den rechtsgelehrten Mönch); – in Bezug auf die Intensivierung des wechselseitigen Wissensaustausches zwischen römischem Zentrum und europäischer Peripherie. Für diese Zusammenhänge habe ich, ganz im Sinne Giralds, keine auch nur annähernd geschlossenen Beweisketten aufbieten können, sondern lediglich einige – hoffentlich hinreichend gewichtige – „argumenta rhetorica“, „plausibilia“ und „coniecturalia“. Enden möchte ich, indem ich den Blick umkehre und nach den Grenzen und den Aporien dieser Entwicklungen frage. Zwar führt die Delegation von Sonderwissen an Experten gesamtgesellschaftlich gesehen zu einer Komplexitätsreduktion, doch im Expertenmilieu selbst bewirkt sie beinahe zwangsläufig einen weiteren Zuwachs an Komplexität im Bereich der Wissensfelder und Diskursformen. Zur Veranschaulichung dieses Entwicklungsparadoxons soll ein letztes Beispiel aus der Mitte des 13.Jahrhunderts dienen. Es handelt sich um einen Prozess, den die Mönche von Saint-Éloi und der Bischof und das Domkapitel von Noyon über die Frage führten, wer von beiden im Besitz der echten Reliquien des heiligen Eligius (St. Franziskanerprovinzials Hugo von Digne (1244–1251) und das „Carmen de statu curie Romane“ des Magisters Heinrich von Würzburg (1264).
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Éloi) sei. 131 Ein Codex mit Transkriptionen von ca. 240 Schriftstücken dokumentiert die 28 Jahre des Prozessgeschehens (1232–1260) und belegt den rasant fortschreitenden Verschriftlichungsprozess hin zu einer möglichst vollständigen Dokumentation aller Verfahrensschritte im Laufe des 13.Jahrhunderts. Er wurde von einem Mönch, wahrscheinlich unter Aufsicht des rechtskundigen Abtes Johannes, angelegt und enthält – sorgfältig geordnet, rubriziert und kommentiert – die nahezu vollständige Serie des relevanten Prozessschriftgutes: päpstliche Delegations- und Prokurationsmandate, Ladungsschreiben, Klagelibelle, Frageartikel, Prozesseinreden, Zeugenbefragungen und Briefe bzw. Berichte („libelli“) der Mönche über einzelne Etappen des Prozessverlaufs. Wählten Hariulf, Thomas und Girald für ihre Darstellung noch die traditionelle, narrative Form der Urkunden-Chronik, so entscheidet man sich in Saint-Éloi für eine kommentierte Gerichtsakte und damit für eine (kaum zu überblickende und ermüdend zu lesende) Form der juristischen Spezialliteratur. 132 Teil des Dossiers ist ein Brief des Abtes Johannes an den Konvent von Saint-Éloi über die von ihm geführten Verhandlungen an der Kurie im Juni 1256 (der letzten Prozessphase). 133 Es ging um die Entscheidung über den Bericht einer Kommission von delegierten Richtern (es war bereits die zweite), die Alexander IV. 1253 eingesetzt hatte und in deren Beisein 1255 der mutmaßliche Schrein des Heiligen in der Kathedrale von Noyon geöffnet worden war, bei welcher Gelegenheit auch neue
131 Das Grab des ersten Bischofs von Noyon hatte sich im nach ihm benannten Vorstadtkloster befunden, die Gebeine waren aber zum Schutz vor den Normannen im 9.Jh. in die Kathedrale transferiert worden. Bei dem Streit ging es auch um die Frage, ob bzw. welche Teile der Reliquien später wieder ins Kloster zurückgelangten, vgl. Olivier Guyotjeannin, Les reliques de Saint Éloi à Noyon. Procès et enquêtes du milie du XIIIe siècle, in: Revue Mabillon, n. s. 1 (= 62), 1990, 57–110, hier 59f.; Erika Laquer, Archbishop Eudes Rigaud and the Relics of Saint Éloi, in: Francia 13, 1985/86, 625–637, hier 629ff. 132 Eine Beschreibung des Dossiers einschließlich einer regestenartigen Übersicht bei Guyotjeannin, Les reliques (wie Anm.131), 67ff. (Beschreibung), 71–101 (Regesten). Hier auch alles Entscheidende zur Vorgeschichte des Falls. Rechnet man zitierte, aber nicht transkribierte Dokumente sowie diejenigen der Gegenpartei hinzu, so kommt man auf insgesamt ca. 400 Stücke (teilweise Doppelausfertigungen), die dieser Prozess hervorgebracht hat und von denen kein einziges Original erhalten ist. Vgl. auch Dietrich Lohrmann, Delegatio cum articulis et interrogatoriis annexis. Die prozeßrechtliche Wende im Streit um die Reliquien des heiligen Eligius (1256), in: Rolf Große (Ed.), L’acte pontifical et sa critique. (Studien und Dokumente zur Gallia Pontificia, 5.) Bonn 2007, 229–264, 230–232. 133 Eine Transkription mit französischer Übersetzung bei Olivier Guyotjeannin/Dietrich Lohrmann, L’abbé de Saint-Éloi de Noyon en cour de Rome (1256), in: Revue du Nord 86, 2004, 681–696, 687–696.
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Schriftbeweise gefunden und Zeugen befragt worden waren. 134 Nach diesen Vorfällen hatte der Abt nach Rom appelliert und in zehn schriftlich niedergelegten „positiones“ begründet, warum die bisherigen Beweise der Bischofspartei unwirksam seien. 135 Die Verhandlungen fanden in Agnani statt, wohin sich die Kurie wegen eines Aufstandes in Rom zurückgezogen hatte. Viele der von Johannes berichteten Prozessdetails folgen einem vertrauten Narrativ: Im Mittelpunkt der Darstellung steht der unerschrockene Abt, der mit der Hilfe Gottes und seines Verstandes gegen die Übermacht seiner Gegner und deren ermüdende juristische Winkelzüge kämpft. Mit einer besonnenen Rede, in der er ausschließlich über die eigentliche Streitsache („de natura principalis negotii“) spricht, kann er gegenüber den rein prozesstaktisch operierenden Anwälten des Gegners entscheidende Vorteile erzielen. 136 Erwähnt wird auch der teure, aber unentbehrliche Anwalt (er muss samt Pferden und Gefolge in Agnani beherbergt werden). 137 Ein weiteres typisches Motiv ist die Skrupellosigkeit der Gegner: Durch ihre ausgezeichneten Beziehungen zu einigen päpstlichen Kaplänen (sie sind zugleich Mitglieder des Domkapitels von Noyon) haben sie ungehinderten Zugang zum Papst, den sie dazu benutzen, ihre Ränke gegen den Abt zu spinnen („fabricare“). 138 Selbstverständlich versucht aber auch Abt Johannes, die Kardinäle für seine Sache einzunehmen. 139
134 Guyotjeannin, Les reliques (wie Anm.131), 64 und Anhang 102–105 (Transkription des Berichts). Nach der Öffnung und der Entnahme von Beweisdokumenten wurde der Schrein mit mehreren Siegeln verschlossen. 135 Eine Transkription des Schreibens „Factum est tale“ bei Guyotjeannin, Les reliques (wie Anm.131), 105–107. 136 Über die Gegner heißt es: „[E]x eorum dictis apparuit evidenter [...] quod in disputationibus et litibus super appellationibus nostris nos possent involvere et diffusis litigiis fatigare.“ Über sich selbst sagt der Abt: „protestatione facta quod de appellationibus loqueremur in fine, de natura principalis negicii, sicut ab origine se habebat, fecimus narrationem primam seriatim, que per Dei gratiam auditui satis placuit audientium.“ Guyotjeannin/Lohrmann, L’abbé de Saint-Éloi (wie Anm.133), 690. 137 Ebd.689: „Magistrum Andream tanquam nobis necessarium duximus et in hospitio proprio cum equis et familia retinemus.“ Wann und wie er genau ins Geschehen eingriff, bleibt unklar, da der Abt von ausschließlich in der Wir-Form spricht, ohne zu explizieren, ob von ihm selbst oder anderen Vertretern seiner Partei die Rede ist. Zur Deckung der Prozesskosten hatte die Abtei dem Abt einen Kreditbrief ausgestellt, Transkription bei Lohrmann, Berichte von der Kurie (wie Anm.26), 328f. 138 Guyotjeannin/Lohrmann, L’abbé de Saint-Éloi (wie Anm.133), 690. Außerdem sind einige ihrer Anwälte Neffen des 1253 verstorbenen Kardinals Peter von Collemezzo, zu diesem auch Paravicini Bagliani, Cardinali di curia, Vol.1 (wie Anm.130), 168–195. 139 Guyotjeannin/Lohrmann, L’abbé de Saint-Éloi (wie Anm.133), 691: „Et post commestionem [...] per cardinales discurrimus, sollicitante eos pro nobis et iuxta motum nostrum informantes eosdem.“
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Dies gelingt, im Einklang mit den Kardinälen („de fratrum consilio“) entscheidet Alexander, die Parteien stritten um des Kaisers Bart (wörtlich und nach Horaz: über Ziegenwolle, „de lana caprina“) und sollten zum eigentlichen Gegenstand zurückkehren, nämlich zu den folgenden Fragen und Beweismitteln: „[D]e corpore beati Eligii ubi sit, de sepultura et translatione eius, de miraculis et peregrinatione, de aliis amminiculis et circumstanciis illius negocii per hystorias, cronicas, legendas, libros antiquos et alias probationes legittimas, secundum articulos ab utraque parte dandos et sub bulla transmittendas.“ 140
Zu diesem Zweck erklärt er alle bisherigen Mandate und Prozessschritte (einschließlich der Zeugenbefragungen) für ungültig und ordnet eine neue Untersuchung durch einen geeigneten Richter an. Mit diesem Einschnitt in den Prozessverlauf sollten die Weichen neu gestellt werden. Was Alexander IV. hier fordert – das Ende des Kleinkrieges um prozessuale Formfragen und die Rückkehr zum eigentlichen Streitgegenstand – steht im Einklang mit einem schon von Innozenz IV. formulierten Grundsatz, die Prozesshandlung müsse im Dienste des „factum“, der „res petita“ stehen; die Bestimmung und Klärung des wahren Streitgegenstandes („negotii veritas“) sei das Ziel des Prozesses, hinter dem die „accessoria“ – bloße Formfragen („acta iudicii“) und Solennitäten – zurückzutreten hätten. 141 Diesem Zweck diente das hier erstmals für die Kurie bezeugte Positionalverfahren. 142 In sogenannten „positiones“ hatte die klagende Partei zu Prozessbeginn den Streitgegenstand darzulegen; das erwähnte 10-Punkte-Libell des Abtes Johannes, auf dem seine Eingangsrede beruhte, ist ein Beispiel hierfür. War durch Approbation der Positionen der Streitgegenstand definiert, musste als nächstes festgelegt werden, welche Beweismittel zugelassen waren – hier nennt Alexander neben Zeugen eine erweiterte Reihe von Schriftzeugnissen, darunter auch historische ‚Quellen‘ – und was genau durch diese zu beweisen war – dies hatte in den von Alexander so genannten „articuli“ zu geschehen, die von beiden Parteien
140 Ebd.692. Im Delegationsmandat selbst werden außerdem Epitaphien, Urkunden („instrumenta“) und Zeugen erwähnt, vgl. Laquer, Archbischop Eudes (wie Anm.131), 630. 141 Knut W. Nörr, Von der Textrationalität zur Zweckrationalität. Das Beispiel des summarischen Prozesses, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abt.81, 1995, 1–25, hier 18 ff. 142 Lohrmann, Delegatio cum articulis (wie Anm.132), 236ff.; das Verfahren wurde um 1200 in Italien und England entwickelt und ist hier erstmals für die Kurie bezeugt. Ich folge im Wesentlichen der Darstellung von Lohrmann und Wetzstein, Heilige (wie Anm.1), 47ff.
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einzureichen waren. Beide Dokumente haben sich erhalten und lassen erkennen, worum es sich handelt: Auf ein einleitendes „volunt probare“ folgen jeweils 30 bzw. 31 eher allgemein gehaltene ‚Zielvereinbarungen‘ der Parteien. 143 An sie schließt sich eine Liste von konkreten Fragen („interrogatoria“) an, die das Kloster als Erwiderung auf die „articuli“ des Kapitels formulierte und mit denen es seine Position weiter schärfte. 144 Durch das Herauspräparieren des Streitgegenstandes und die systematische Aufgliederung der zu erbringenden Beweisschritte sollte das Verfahren vereinfacht und beschleunigt werden: „[I]nventae fuerunt positiones ut releventur partes ab onere probandi“, wie es um 1262 im Prozessordo des Aegidius Fuscariis heißt. 145 Doch die Formulierung von „positiones“ und korrespondierenden „articuli“ war nicht mit praktischer Erfahrung und ‚common sense‘ zu bewältigen, sondern erforderte Spezialistenwissen. Die „ars articulandi“ war die Domäne erfahrener Anwälte, denn die Frageartikel hatten nicht nur knapp und klar, sondern auch sachbezogen („pertinentes“) zu sein. Sie fungierten als zweckorientierte ‚Verfahrensleitfäden‘, die die ältere Verfahrensordnung und ihre an den kanonischen Autoritäten ausgerichteten ‚Textrationalität‘ ersetzten. 146 Doch die beabsichtigte Vereinfachung trat nicht zwingend ein – auch das zeigt das Beispiel aus Saint-Éloi. Die Verhandlungen ‚zur Sache‘ verwandelten sich sofort wieder in kleinschrittige (und nicht selten kleinliche) technische Disputationen um die Form, d.h. um den Wortlaut der zu erstellenden Dokumente. In mehreren Auditionen wurde zunächst heftig um einige Formulierungen des vom Papst zu erstellenden Delegationsmandats gerungen, dann ging es um die Frage, welche der von beiden Parteien beizubringenden „articuli“ für die Untersuchung „in partibus“ zugelassen werden sollten. Der Verfahrensverlauf zeigt, dass der Zuwachs von Schriftlichkeit keineswegs mit einem Rückgang von Mündlichkeit einherging: Die Sprechakte standen weiterhin im Mittelpunkt des Handelns vor Gericht. Doch diese Mündlichkeit steckte
143 Lohrmann, Delegatio cum articulis (wie Anm.132), 252–255 (Artikel des Klosters), 255–257 (Artikel des Domkapitels). Die Artikel des Klosters beziehen sich auf die Frage, wo die sich das Grab des Heiligen befand und ob und wohin seine Gebeine verbracht wurden (Art.1–10), auf die Wunderheilungen beim Kloster an Menschen und Tieren (12–16), auf die Versuche des Domkapitels, den Kult umzuleiten (20–28) und auf die Verwüstungen durch die Normannen (29–319). 144 Ebd.258–264. 145 Ebd.237; vgl. auch Wetzstein, Heilige (wie Anm.1), 47f. 146 So die These von Nörr, Von der Textrationalität (wie Anm.141).
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deutlich fester im Korsett der Schriftlichkeit als noch zwei Generationen zuvor. Zu den probatorischen Texten (den auszulegenden Beweismitteln), der legistischen und kanonistischen Fundamentalliteratur und den memorativen Protokollen traten die juristischen Ordines und die neue Form der selbstverpflichtenden, verhaltensregulierenden Vorschrift („positiones“, „articuli“, „interrogatoria“) hinzu, die das Sprechen vor Gericht (in Rom und vor Ort) weitaus stärker regulierten als zuvor. Die Allegation als frei argumentierendes Herzstück des Prozesses verlor hingegen an Bedeutung. In der Praxis freilich dürften sich die ausgeklügelten Bestimmungen der Frageartikel häufig als wenig hilfreich erwiesen haben. So sollte gemäß dem Vorschlag des Klosters von den Zeugen (bzw. aus den schriftlichen Beweismitteln) zur Translation der Eligiusreliquien unter anderem Folgendes erfragt werden: „Ob [der Bischof] Eydelo bei der Herausnahme des Leibes aus dem Grabe allein war oder begleitet von anderen Bischöfen, wenn ja, von welchen? Ob sie Eydelo gesehen hätten. In welchem Behältnis sich der Leib befand, als er im Grabe lag, und ob der Leib fest war. Ob er ihn in diesem Behältnis erhoben oder ihn in ein anderes gelegt hat. [...] Wenn er über der Erde wiederbestattet wurde, ob das Behältnis, in dem er sich befand, versiegelt wurde, und wenn ja, mit wessen Siegel und mit wie vielen?“ 147
Und so geht es in einem fort. Hier siegte die Expertenratio über den gemeinen Menschenverstand: Die zu erfragenden, teilweise absurden Details dürften sich kaum mit dem decken, was die historischen Quellen oder das Gedächtnis der Zeugen zur Sache erinnerten, denn sie folgten einer Logik der Wahrnehmung und Sinngebung, die quer zur Alltagserfahrung der Zeugen stand. Wie der delegierte Richter, Bischof Odo von Rouen, mit diesen Vorgaben umging, entzieht sich unserer Kenntnis. Um es zusammenzufassen: Was ursprünglich als Entlastung des Verfahrens von vermeintlich überflüssigen formalen und rituellen Elementen gedacht war, führte umgehend zu neuen Verfahrenskomplikationen. In der Kommunikation vor Gericht ging es nun nicht mehr primär um das Sprechen zur Sache, sondern um das Sprechen über Sprache – über eine Sprache, in der sich rechtsrelevante Sachverhalte möglichst eindeutig darstellen ließen. Diese erneute Verschiebung im Verhältnis von Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Denkstil, ausgehandelt im exklusiven Dis-
147 Lohrmann, Delegatio cum articulis (wie Anm.132), 240, 258.
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kursraum des päpstlichen Gerichts, mündete in eine echte, für Laien (auch in Übersetzung) kaum noch nachvollziehbare Sondersprachlichkeit – Sondersprachlichkeit hier umfassend verstanden als eine hochformalisierte Form des Sprechens und Denkens über bestimmte Sachverhalte, und zwar auch über solche, die zur Alltagserfahrung von Laien gehören. Nach außen schuf die juristische Sondersprache zunehmend Distanz – sowohl zur Ausdruckswelt der Klöster, in denen die Mönchsjuristen ja primär beheimatet waren, als auch zu der der Laien, die als Zeugen mit dem für sie absonderlichen Rede- und Denkstil konfrontiert waren. Die vom Göttinger Projekt konstatierte „Überformung des Sozialen“ durch die sich immer stärker ausdifferenzierenden Fachdiskurse 148 führte zweifellos auch zu Kritik und Widerständen gegen die Kultur der Experten – die verhaltene Opposition Hariulfs von Oudenburg gegen den neuen Stil der Kurie mag man so deuten. Doch in der Mehrzahl der hier vorgestellten Beispiele steht meines Erachtens anderes im Vordergrund: Am Beispiel des Mönchsjuristen, der im 13.Jahrhundert zu einer selbstverständlichen Erscheinung wird, zeigt sich der Wille zur Anpassung an einen ‚neuen‘ Sprach- und Denkstil, der aber keineswegs die Aufgabe des ‚alten‘ bedeutet. Vielmehr lässt sich vermuten, dass rechtsgelehrte Mönche, ebenso wie delegierte Richter (die ja ebenfalls Geistliche waren) und auch der Papst selbst den ständigen Wechsel zwischen verschiedenen Sondersprachen und Verhaltensformen beherrschten, je nachdem ob sie vor Gericht disputierten, im Gottesdienst predigten, im Stundengebet rezitierten oder eine Zeugenbefragung durchführten. Und möglicherweise – doch dies haben weitere Untersuchungen zu klären – stellten sich auch bei den Laien, vor allem solchen, die öfter mit dem geistlichen Rechtswesen konfrontiert waren, gewisse Transfer- und Assimilationsprozesse ein. Auf jeden Fall scheint mir, dass eine gewisse ‚Mehrsprachigkeit‘, ein Wissen um und eine, wenn auch rudimentäre Verfügung über, die sich entwickelnden Spezialcodes, eine Grundvoraussetzung für das Vertrauen in das neue System der Expertenkulturen darstellt.
148 Rexroth, Systemvertrauen und Expertenkritik (wie Anm.20), 20.
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The bright side of the moon – oder: Der Experte als Szenograph von Matthias Bauer
The paper focuses on experts as scenographs and the method of diagrammatic. Experts do not only need expertise about their topic, but also knowledge of how to present their topic clearly. Only in this way could experts be successful as mediators of knowledge. On the basis of two examples (Galilei’s „Sternbote“ and Johannes Kepler’s „Somnium“) the paper asks how these authors endeavoured to transmit knowledge about the moon. Galilei combined text and pictures in order to produce certainty on the ground of visibility. Contrary to this, Kepler trusted in the combination of description and imagination. Finally the paper compares both courses of action. It concludes that there appear two kinds of expertise: It is not only the topic that has to be mastered but also the method of knowledge transfer.
I. Einleitung Experten treten häufig in den Medien auf. Sie werden dort als Autoritäten vorgestellt und äußern sich zu aktuellen Themen, Debatten und Problemen. Die Medien vermitteln mit ihrer Hilfe einen Wissenstransfer, stellen an diesen Wissenstransfer aber spezifische Anforderungen. Erstens wird er durch Journalisten eingebettet in ein Wechselspiel von Frage und Antwort, also dialogisch strukturiert. Zweitens geht es dabei in der Regel um die Veranschaulichung der Implikationen und Konsequenzen einer Nachrichtenlage, die unklar ist; und drittens macht es auch in den Medien einen gewaltigen Unterschied, ob man nur einen Experten anhört oder mehrere in eine Kommunikation verwickelt, die rasch zum Disput geraten und die Autorität der Beteiligten untergraben kann. Oft können weder die Journalisten noch das Publikum beurteilen, welcher Experte in der Sache Recht hat. Vielmehr entscheidet die Medienperformanz darüber, welche Expertenmeinung überzeugend wirkt. Was aber zeichnet diese Medienperformanz aus? Medienperformanz gibt es immer nur relativ zu den Formen der Vermittlung. Wird die Vermittlung wie beim Interview dialogisch strukturiert und im Kern auf die Veranschaulichung der Implikationen und Konsequenzen einer Nachrichtenlage fokussiert, hängt die Überzeugungskraft eines Experten wesentlich von rhetorischen Qualitäten ab. Am wichtig-
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sten scheint dabei neben der persönlichen Glaubwürdigkeit die „perspicuitas“ zu sein – die Klarheit, Deutlichkeit und Einsichtigkeit der Darstellung. Da sich der Experte in den Medien mehrheitlich an Laien richtet, orientiert er sich dort an der Alltagssprache und am landläufigen Verständnis der Sache. Das bedeutet keineswegs, dass er den Leuten nach dem Mund reden und ihre Vorurteile bestätigen muss. Es bedeutet lediglich, dass er in der Kunst erprobt sein muss, das Publikum – wie man umgangssprachlich sagt – dort ‚abzuholen‘, wo es sich ‚mentalitätsmäßig‘ aufhält. Diese Formulierung deutet an, dass der Wissenstransfer eine vertrackte Angelegenheit ist. Der Experte muss nämlich einerseits Rücksicht auf die Prädisposition seines Publikums nehmen und andererseits einen Diskurs entfalten, der das Publikum dazu bringt, zumindest in Gedanken eine andere Position einzunehmen. Der Wissenstransfer ist nicht nur eine Beförderung oder Weitergabe von Informationen – er ist insofern auch ein Transport von Personen, als diese sich geistig bewegen müssen: von dem Wissenstand, den sie haben, zu einem anderen, nach Möglichkeit höher entwickelten – oder von einer unangemessenen zu einer angemesseneren Einstellung dem Gegenstand der Debatte gegenüber. Ob das gelingt, hängt im gleichen Maße vom Vermittlungsgeschick wie von der Sachkompetenz des Experten ab. Akzeptiert man, dass es medienspezifische Ausprägungen der „perspicuitas“ gibt und dass es dem Experten obliegt, die „Szene gemeinsamer Aufmerksamkeit“ 1, die Medien etablieren, mittels der Anschaulichkeit seiner Darstellung in eine Erkenntnisszene zu verwandeln, kann man im Ansatz erahnen, inwiefern sich der Experte als Szenograph betätigen muss. Er soll die Implikationen und Konsequenzen der Lage ‚ausmalen‘ und anderen, vor allem Laien, einsichtig auseinandersetzen, wie sie sich kognitiv und affektiv, theoretisch oder pragmatisch auf diese Lage einstellen können. Ein solches Vermittlungsgeschehen war immer schon – also nicht erst unter den Bedingungen des 20. und 21.Jahrhunderts – abhängig von Medien und Medienformaten. Die Erkenntnisszene, die der Experte zumindest mitgestalten muss, zeichnet sich unabhängig vom Thema durch die Triangulation von Publikum, Medium und Wissen aus. Es gilt, die Prädisposition der Adressaten in ein dynamisches
1 Vgl. Michael Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition. Frankfurt am Main 2002, 116 u. 152; sowie Matthias Bauer, Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit – Medien der Kulturpoetik. Zum Verhältnis von Kulturanthropologie, Semiotik und Medienphilosophie, in: Christoph Ernst/Petra Gropp/Karl Anton Sprengard (Hrsg.), Perspektiven interdisziplinärer Medienphilosophie. Bielefeld 2003, 94–118.
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Verhältnis sowohl zum Erkenntnisvorsprung des Experten als auch zu den Anschauungsformen zu setzen, die der Eigenart des jeweils verwendeten Mediums gerecht werden. Diese Eigenart lässt sich am Medium der Sprache illustrieren. Eine Sprache, genauer: eine Ausdrucksweise, kann volkstümlich, also inklusiv, oder abgehoben und exklusiv sein. Ein Experte, der nur ‚Fachchinesisch‘ spricht, ist in den Massenmedien nicht zu gebrauchen. Seine Sachkompetenz mag in Fachkreisen unumstritten sein; zum Wissenstransfer taugt ein solcher Experte gleichwohl nicht. Allerdings ist es mit den Fachkreisen auch so eine Sache, lehrt die Geschichte der Wissenschaften doch, dass der Erkenntnisfortschritt gerade innerhalb dieser Kreise regelmäßig auf Widerstände stößt, seien diese nun Verständnisschwierigkeiten in der Sache oder Vorbehalte gegenüber eben jenen Implikationen und Konsequenzen, die sich aus einer veränderten Nachrichtenlage respektive einer veränderten Einstellung zum Gegenstand der Kommunikation ergeben.
II. Der „Sidereus Nuncius“ und die Herstellung von Sichtbarkeit Unter dieser Voraussetzung ist es leicht, einen Bogen zum „Sidereus Nuncius“, zum „Sternenboten“ zu schlagen, zu jener Abhandlung, die Galileo Galilei im März 1610 auf Latein veröffentlichte. Sie verkündete ihren Lesern nicht nur, dass die Milchstraße ein nebliges Gebilde aus unzähligen Sternen war und dass der Jupiter von Trabanten umkreist wurde; sie zeigte allen, die Augen hatten, dass der Mond eine raue und unebene, erdähnliche Oberfläche besaß. Obwohl man annehmen darf, dass der „Sternenbote“ zunächst nur in Fachkreisen kursierte, muss man davon ausgehen, dass die Zeichnungen, die das Buch enthielt, das Potenzial hatten, auch Laien zu beeindrucken. Aber auch für die Gelehrten, die selbst kein Teleskop besaßen oder aus weltanschaulichen Gründen nicht benutzen wollten – was in der Frühen Neuzeit durchaus vorkam – waren die Zeichnungen der Mondoberfläche eine Offenbarung, wenn auch mitunter eine ihrer eigenen Überzeugung widerstreitende. Der „Sidereus Nuncius“ ist ein Text-Bild-System, in dem sich literarische Beschreibungen und Schaubilder wechselseitig ergänzen, in dem ein szenographischer Diskurs entfaltet wird, der zwischen den beiden Medienformaten hin- und herläuft, die man sei-
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nerzeit mittels der Drucktechnik vervielfältigen konnte. Anders gesagt: Die Erkenntnisszene, die das Buch etabliert, ist eine hybride Konstellation, die zwei Zeichenklassen involviert: symbolische (schriftliche) und ikonische (bildliche) Zeichen. Allerdings hat es mit den ikonischen Zeichen in diesem Fall eine eigene Bewandtnis, auf die Umberto Eco in seiner Untersuchung über „Kant und das Schnabeltier“ näher eingegangen ist. Seit langem war bekannt, dass die Bilder, die der „Sternenbote“ enthält, nicht in jeder Hinsicht die Verhältnisse auf dem Mond widerspiegeln. Am sogenannten Terminator hatte Galilei beispielsweise einen Krater dargestellt, der überhaupt nicht existiert. Dieser Krater indiziert eine Differenz von Darstellung und Bezugsobjekt, die mit der Idee einer reinen Abbildung nicht vereinbar ist. Woher rührt diese Differenz? Eco erklärt sie, kurzgefasst, damit, dass Galilei, genau genommen, nicht unmittelbar die Oberfläche des Mondes, sondern das Bild wiedergegeben hatte, das ihm das Okular seines Fernrohres von diesem Objekt gezeigt hat. Das ikonische Medienformat beruht im Falle des „Sidereus Nuncius“ auf einer doppelten Vermittlung durch die Technik des Teleskops und durch die Kunst der Zeichnung, die man im italienischen „disegno“ nennt. Was Galileo durch das Fernrohr sah, war, wie Eco betont, weder ein ikonisches Zeichen noch eine Zeichnung. 2 Die Mondbilder, die der „Sternenbote“ dem staunenden Publikum präsentiert, führen dem Leser somit das Ergebnis einer Prozedur vor Augen, die auf die Herstellung von Sichtbarkeit abzielt. Diese Form der Sichtbarkeit ist schon deswegen rhetorisch, weil sie der Widerlegung einer Vorstellung dient, die unter Galileis Zeitgenossen weit verbreitet war und im Wesentlichen von Aristoteles stammt, der den Mond für ein Gestirn gehalten hatte, das von sich aus leuchte und ebenso glatt wie rund sei. Der szenographische Diskurs des „Sidereus Nuncius“ ist ohne den Rekurs auf diese Vorstellung nicht angemessen zu verstehen. Das aber bedeutet, dass dieser Diskurs eigentlich zwischen zwei Szenographien hin- und herläuft: jener in der Gelehrtenwelt weitverbreiteten Vorstellung, die sich bis auf Aristoteles zurückführen lässt, und jener anderen, die ihr der „Sternenbote“ entgegensetzt. Aus diesem Grund ist es nötig, kurz die Ambiguität des SzenographieBegriffs zu reflektieren: Sie rührt vor allem daher, dass dieser Begriff in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen unterschiedlich gebraucht wird. Um zunächst 2 Vgl. Umberto Eco, Kant und das Schnabeltier. Aus dem Italien. v. Frank Herrmann. München/Wien 2000, 408 (ital. Ausgabe 1997).
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bei Umberto Eco zu bleiben, kann man die Szenographie als das Ensemble der Verständnisrahmen (frames) und Drehbücher (skripts) verstehen, die anlässlich der Erwähnung eines bestimmten Schauplatzes assoziiert und imaginiert werden. 3 Das vergleichsweise triviale Beispiel, das Eco in seinem Buch „Lector in fabula“ gibt, ist das Wort ‚Supermarkt‘ 4, das einen sofort an Lebensmittel und Regale, an Einkaufswagen und Warteschlangen vor der Kasse denken lässt – an einen Ort also, für den ganz bestimmte Ereignisfolgen und Verhaltensweisen typisch sind. Ein literarischer Text kann die entsprechenden Erwartungen allein durch das Wort ins Spiel bringen – die Leser werden sich die Szene gemäß ihrer allgemeinen Welt- und Menschenkenntnis vorstellen und dann vielleicht überrascht sein, wenn an diesem Schauplatz im Text etwas geschieht, das aus dem Rahmen des Erwartbaren fällt. Entscheidend für literarisch stimulierte Szenographien ist mithin, dass sie auf die enzyklopädische Kompetenz der Leser rekurrieren und dass diese Kompetenz auch die Kenntnis von Regeln für praktische Handlungen umfasst. 5 Die enzyklopädische Kompetenz kann seitens der Autoren – zumindest in einem begrenzten historischen Intervall – stillschweigend vorausgesetzt werden, was Texte, wie Eco sagt, zu „Präsuppositionsmaschinen“ macht 6, die nicht nur an das Wissen, sondern auch an die Einbildungskraft der Leser angeschlossen werden müssen. In diesem Sinne konnte Galilei den Erwartungshorizont voraussetzen, den sein „Sternenbote“ überschritt. Vom literaturwissenschaftlichen Begriff der Szenographie, der in das Umfeld der Kognitiven Poetik gehört, gilt es jenen anderen Begriff der Szenographie abzuheben, den die Kunst- und Theaterwissenschaften, die Bild- und Raumforschung verwenden. Dieser Begriff geht auf das Bemalen des Bühnenhintergrunds zurück, das schon im antiken griechischen Theater üblich war. Vitruv (84 v. – 27 n.Chr.) übertrug die Kunst der Bühnenbildnerei auf das Feld der Architektur, auf das Gebiet der mehr oder weniger malerischen Anlage von Gebäuden und Plätzen, bei der man sich seit der Renaissance die Verfahren der Zentralperspektive zunutze machen konnte. Stadt- und Bühnenbilder konnte es folglich sowohl in der dreidimensionalen, begehbaren Wirklichkeit als auch auf dem Papier, in Gestalt von zweidimensionalen
3 Vgl. Umberto Eco, Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. Aus dem Italien. v. Heinz-Georg Held. München/Wien 1987, 99. 4 Ebd.100. 5 Ebd.104. 6 Ebd.29.
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Zeichnungen, geben. Die Szenographie wurde so einerseits zu einer Entwurfshandlung, andererseits jedoch zu einer Form der Raumgestaltung, die man zunehmend auch in Museen und an anderen Schauplätzen der Wissensvermittlung beobachten kann. 7 Im Ausstellungsdesign geht es heute in vielen Fällen darum, einen sogenannten Media Space zu erzeugen, der leibhaftige Erfahrungen in einer künstlichen Umwelt erlaubt – Erfahrungen, die eng mit Vorstellungen von Sachverhalten oder Ereignisfolgen verknüpft sind, die dem Besucher nicht unmittelbar vor Augen stehen, sondern lediglich evoziert werden. Der Media Space ist daher einerseits, insofern er die Trennung von Seh- und Schauraum demarkiert, immersiv; andererseits jedoch, insofern er die Imagination anregt, dazu geeignet, einen szenographischen Diskurs zu entfalten, der zwischen sinnlicher Wahrnehmung und Einbildung oszilliert. Die Extension des Begriffs ähnelt also einer Ellipse. Obwohl das Verständnis der Literaturwissenschaftler theoretisch danach strebt, in der Vorstellung anzusiedeln, was die visuellen, plastischen Künste darzustellen versuchen, kommen die auseinandertretenden Bestrebungen darin überein, dass die Szene praktisch immer beides ist: ein sicht- und gegebenenfalls sogar begehbarer Schauplatz und ein mit diesem Ort assoziiertes Ensemble von Vorstellungen (Erwartungen erzeugende Drehbücher und Verständnisrahmen), die man sich mit Hilfe der Einbildungskraft ausmalen muss, die ihrerseits wiederum auf das Erinnerungsvermögen angewiesen ist. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass die Szenographie im einen Fall eine ausschließlich symbolisch vermittelte Imagination ist, während sie dem Betrachter im anderen Fall – zumindest in Teilen – leibhaftig vor Augen steht und ikonische Qualitäten besitzt. Unter Rückgriff auf Susanne Langer könnte man daher einerseits von diskursiven und andererseits von präsentischen Szenographien sprechen. 8 Da der „Sidereus Nuncius“ literarische Beschreibungen und Zeichnungen, diskursiv erzeugte und im Bild präsentierte Szenographien kombiniert, führt er die spezifische Beweiskraft der Argumentation mit der des Augenscheins zusammen, die im rhetorisch-ästhetischen Begriff der „evidentia“ aufgehoben ist. Das Buch war eine Demonstration der Unzulänglichkeit der Spekulation gegenüber dieser Evidenz, von der man allerdings sagen muss, dass sie einigermaßen paradox war. Denn um einen augenscheinlichen Beweis für die reale Beschaffenheit der Mondoberfläche zu
7 Vgl. Stefanie Bürkle, Szenografie einer Großstadt. Berlin als städtebauliche Bühne. Berlin 2013, 9–28. 8 Vgl. Susanne K. Langer, Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Ada Löwith. Frankfurt am Main 1965, 86–108.
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erbringen, musste Galilei die Beobachtungen, die er mit Hilfe seines Teleskops gemacht hatte, in Beschreibungen und Bezeichnungen übersetzen, die gedruckt werden konnten. Sinnliche Gewissheit gab es für seine Leser nur unter der Bedingung einer ebenso geschickten wie captiösen Verwendung von Rhetorik und Grafik. Wie verfänglich die neue Szenographie war, die so entworfen wurde, hat Hans Blumenberg vor nahezu fünfzig Jahren in seinem Kommentar des „Sternenboten“ dargelegt, der sich auf den Einsatz des Fernrohrs bezieht: „In Galileis Griff nach dem Teleskop steckt eine Antinomie. Indem er das Unsichtbare sichtbar macht und so der kopernikanischen Überzeugung Evidenz verschaffen zu können glaubt, liefert er sich dem Risiko der Sichtbarkeit als der letzten Instanz der Wahrheit aus; indem er aber das Fernrohr in Dienst nimmt, um solche Sichtbarkeit darzustellen, bricht er zugleich mit dem Sichtbarkeitspotential der astronomischen Tradition und gibt dem unbezwingbaren Verdacht Raum, daß die technisch je vermittelte Sichtbarkeit, so weit sie auch schon vorangetrieben sein mag, ein zufälliges, an dem Gegenstand fremde Bedingungen gebundenes Faktum ist.“ 9
Im Folgenden soll es allerdings weniger um das Teleskop als um die Herstellung von Sichtbarkeit gehen, die sich im Medium des Buchdrucks vollzieht. Soweit davon die Radierungen betroffen sind, geht es also um Galilei als Zeichner. Das Wechselspiel von Hand und Verstand, das mit dem Akt des Zeichnens einhergeht, ruft, wie Horst Bredekamp überzeugend erläutert hat, eine „motorische Intelligenz“ auf den Plan 10, die, zugespitzt formuliert, dadurch zu Einsichten führt, dass sich der Verstand der Führung der Hand überlässt, die den Dingen eine sinnfällige Gestalt verschafft. Unter Umständen entdeckt man erst zeichnend Einzelheiten und Strukturmomente, die zunächst nicht in den Blick gefallen sind und daher übersehen wurden, d.h. die Beobachtung wird im Akt ihrer Aufzeichnung geschärft. Gleichzeitig liefert sich der Beobachter mit der Zeichnung allerdings der Eigenart und Materialität des Mediums aus, das er verwendet. So kann es zum Beispiel einen Unterschied machen, ob eine Bleistiftzeichnung auf Papier oder eine Kreidezeichnung auf Schiefer angefertigt wird. Die Materialität der Herstellungsmedien beeinflusst die Darstellung der Gegenstände oder Sachverhalte, ihre Gestalt und Anmutungsqualität.
9 Hans Blumenberg, Das Fernrohr und die Ohnmacht der Wahrheit, in: Galileo Galilei, Sidereus Nuncius (Nachricht von neuen Sternen), Dialog über die Weltsysteme (Auswahl), Vermessung der Hölle Dantes, Marginalien zu Tasso. Hrsg. v. Hans Blumenberg. 2.Aufl. Frankfurt am Main 2002, 7–75, hier 19. 10 Vgl. Horst Bredekamp. Galilei der Künstler. Der Mond. Die Sonne. Die Hand. 2., korr.Aufl. Berlin 2009, 7.
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Das Wechselspiel von Hand und Verstand ist ein Phänomen, dessen Bedeutung nicht dadurch geschmälert wird, dass Bredekamp in seinem Buch „Galilei der Künstler. Der Mond. Die Sonne. Die Hand“ einer Fälschung aufgesessen ist: einer mit ML abgekürzten Sonderausgabe des „Sidereus Nuncius“, in der sich keine Stiche, sondern Pinselzeichnungen finden, die der Kunsthistoriker irrtümlich für Originale aus der Hand des Gelehrten hielt. 11 Die folgende Argumentation stützt sich wie die von Blumenberg und Eco ausschließlich auf die authentifizierte Ausgabe des „Sternenboten“ von 1610, die fünf Radierungen der Mondoberfläche enthält, auf die im Text ausdrücklich Bezug genommen wird. Diese Radierungen sind integrale Teile der Argumentation bzw. Demonstration und wurden tatsächlich von Galilei angefertigt. So heißt es über eine Höhlung auf dem Mond: „Ich habe sie […] gesehen und sie in den […] Zeichnungen, so gut es ging, nachgeahmt.“ 12 Und kurz darauf über einige helle Stellen in dunklen Flächen: „[W]ie ich es in den Zeichnungen vermerkt habe“. 13 Entscheidend ist gleichwohl, dass dem Betrachter der Radierungen, zumal dem Laien, in der Regel jede Möglichkeit fehlt, die Wahrnehmungsszene, die im Buch aufgebaut wird, mit dem Augenschein vergleichen zu können, der sich dem Zeichner geboten hat. Die zeitgenössischen Leser des „Sternenboten“ konnten ihre Wahrnehmung der Zeichnungen einzig und allein auf den Verständnisrahmen beziehen, der ihnen zur Verfügung stand. Und dieser Verständnisrahmen basierte eben nicht auf exakten Beobachtungen, sondern auf vagen, literarisch tradierten Vorstellungen und dem Anblick, den das Nachtgestirn dem bloßen Auge bot. Für die Leser, die auf die aristotelische Sicht der Dinge geeicht waren, besaßen die Zeichnungen des „Sternenboten“ eine besondere Sprengkraft, da sie etwas sichtbar machten, was für sie nicht nur jenseits der üblichen Wahrnehmung, sondern außerhalb des Vorstellbaren lag: Dass der Mond, wie Galilei schreibt, eine ‚andere‘ Erde war: wüst und leer. Einleitend wurde gesagt, dass es dem Experten in der modernen Mediengesellschaft obliegt, die Implikationen und Konsequenzen einer veränderten Nachrichtenlage auszumalen. Unter den Bedingungen, unter denen Galilei seine Expertise verfasste, konnte dies nur bedeuten, dass er sich dabei auf die physikalischen Konsequenzen beschränkte und die metaphysischen Implikationen überging. Seine Zu-
11
Vgl. Hanno Rauterberg, Der gefälschte Mond, in: Die Zeit v. 28.Dezember 2013, http://www.zeit.de/
2014/01/faelschung-zeichnungen-galileo-galilei-horst-bredekamp.
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12
Galilei, Sidereus Nuncius (wie Anm.9), 93.
13
Ebd.95.
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ständigkeit beschränkte sich auf die Herstellung von Sichtbarkeit, umfasste also nicht die weltanschauliche Deutung dessen, was sein Buch dem Leser zu einer sinnlichen Gewissheit werden ließ. Galilei war zwar kein Künstler, für diese Aufgabe aber sehr wohl geeignet. Er stand im Austausch mit zeitgenössischen Malern, und er war sowohl mit den Gesetzen der perspektivischen Zeichnung als auch mit den Regeln der szenischen Komposition vertraut. 14 Er hatte sich zudem – etwa in der Auseinandersetzung mit Tasso – auch in der Literatur gegen jede Verzerrung der Verhältnisse durch schräge Blickwinkel ausgesprochen und stets für Klarheit und Evidenz plädiert. 15 Diese beiden Qualitäten resultierten für Galilei aus der Bindung der künstlerischen Gestaltungskraft an die Sachen, die der Einbildung gewisse Grenzen zog. Diese Begrenzung wiederum war die Gewähr dafür, dass die Zeichnung sowohl der theoretischen Erkenntnis als auch der praktischen Tätigkeit des Menschen dienen konnte, z.B. beim Entwurf und Bau von Festungsanlagen. 16 Im Übrigen besaß Galilei eine Ausgabe von Plutarchs Schrift „De facie in orbe lunae“ – einem Dialog, in dem die Ansicht vertreten wird, dass der Mond dieselbe Beschaffenheit wie die Erde aufweise. Unklar ist, ob er auch die Zeichnungen des Mondes kannte, die Leonardo da Vinci angefertigt hatte und die ebenfalls den Eindruck erweckten, das Nachtgestirn habe keine glatte Oberfläche. 17 In jedem Fall war Galilei sich des Umstands bewusst, dass er mit dem Fernrohr eine neue Dimension der Evidenz erschlossen hatte. Schon auf der ersten Seite seiner astronomischen Mitteilung schreibt er klipp und klar: „Man erkennt dabei [beim Blick durch das Fernrohr] dann aufgrund sinnlicher Gewißheit, daß der Mond keineswegs eine sanfte und glatte, sondern eine rauhe und unebene Oberfläche besitzt und daß er, ebenso wie das Antlitz der Erde selbst, mit ungeheuren Schwellungen, tiefen Mulden und Krümmungen überall dicht bedeckt ist.“ 18
Entscheidend war also die sinnliche Gewissheit, die das Teleskop dem Beobachter vermittelt, der seinerseits wiederum Beschreibungen und Zeichnung benutzt, um seinen Lesern das Ergebnis seiner Beobachtungen mit prinzipiell der gleichen Gewissheit in einem anderen Medium mitzuteilen. Wichtig ist, dass Galilei seine 14 Vgl. Bredekamp, Galilei (wie Anm.10), 23 u. 39. 15 Ebd.52f. u. 56. 16 Ebd.79f. 17 Ebd.84f. 18 Galilei, Sidereus Nuncius (wie Anm.9), 83.
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eigenen Beobachtungen im „Sidereus Nuncius“ in Schlussfolgerungen überführt und den Augenschein zur Widerlegung der aristotelischen Vorstellung vom Mond gebraucht. In Anschlag gebracht wird mit der sinnlichen Gewissheit eine Evidenz, die dem technisch erweiterten Augenschein vertraut und auch die Leser des „Sternenboten“ zu überzeugen vermag, weil die dem Text beigegebenen Radierungen (angeblich) getreue Abbilder der Beobachtungen sind, die Galilei tatsächlich angestellt hat. Die beiden Momente der Evidenz, der Augenschein und die Beweiskraft, werden jedoch durch Instrumente und Operationen vermittelt, die alles andere als selbstverständlich sind. Zu berücksichtigen ist auch, dass Galilei vermutlich eine ganze Serie von Beobachtungen in jeweils einer Radierung zusammengeführt hat. Der Grund dafür war, wie Bredekamp erläutert, wiederum technischer Natur: „Der Vergrößerungsfaktor seines Teleskops hatte eine Dimension, die es Galilei nicht erlaubte, den Mond insgesamt zu betrachten. Weniger als ein Viertel der Mondoberfläche war jeweils zu übersehen, so daß, wenn sich der Blick im Innern befand, die Orientierung in Bezug auf die Gesamterscheinung ein besonderes Problem darstellte.“ 19
Die Leser bzw. die Betrachter des „Sternenboten“ haben es, wenn diese Vermutung stimmt, bei jedem Bild mit einer Zeitreihe und mit der Montage von Ausschnitten zu einem Gesamtbild zu tun. Die Mondscheiben, die ihnen der „Sidereus Nuncius“ darbietet, sind aus diversen Daten aggregierte Darstellungen. Für diese Vermutung spricht unter anderem jene Stelle, an der es im Text heißt: „Am vierten oder fünften Tag nach Neumond, wenn sich uns der Mond mit strahlenden Hörnern darbietet, verläuft die Grenze, die den dunklen vom leuchtenden Teil scheidet, nicht mehr gleichmäßig auf einer ovalen Linie, wie sie es auf einem vollkommen runden Körper täte, sondern sie beschreibt eine unregelmäßige, zackige und sehr windungsreiche Linie, wie sie die angefügte Zeichnung darstellt.“ 20
Die Zeichnung dürfte also Beobachtungen, die im Verlauf von 48 Stunden gemacht wurden, in einem Bild verdichten. Die Zeichnung wäre demnach das Ergebnis einer Konjektur mehrerer Wahrnehmungsakte. Direkt im Anschluss an die soeben zitierte Stelle fährt Galilei fort:
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Bredekamp, Galilei (wie Anm.10), 113.
20
Galilei, Sidereus Nuncius (wie Anm.9), 88 (vgl. Abb.).
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„Mehrere leuchtende Auswüchse gleichsam dehnen sich nämlich über die Grenze zwischen Licht und Finsternis in den dunklen Teil hinein aus, und andererseits dringen finstere Teilchen ins Licht vor. Ja, eine große Menge schwarzer Flecken, die gänzlich vom finsteren Teil getrennt sind, sprenkelt sogar überall fast die ganze Zone, die schon vom Sonnenlicht überflutet ist, ausgenommen nur der Teil, der die großen und alten Flecken aufweist.“ 21
Aufschlussreich ist diese Passage nicht nur wegen des Verweises auf die Abbildung. Aufschlussreich ist vielmehr, dass die Beschreibung narrativ verfasst ist. Sie gibt nicht etwa den Eindruck wieder, den ein einzelner Blick durch das Fernrohr offenbart, sondern sie schildert, wie ein bestimmtes Bild entsteht. Die Anschauung, die diese Schilderung dem Leser des „Sidereus Nuncius“ zusammen mit der Zeichnung vermittelt, ist also, wie Eco zutreffend festgestellt hat, keineswegs die Kopie des Bildes, das sich Galilei im Okular seines Fernrohrs darbot; ebenso wenig ist der Text eine plane Deskription dieses Eindrucks. Vielmehr setzt Galilei wirklich eine Passage in Szene: einen Gang über die Oberfläche des Mondes, die nicht nur mit dem Gesicht, sondern auch mit dem Verstand erfolgt. Die Gratwanderung, die der szenographische Diskurs unternimmt, verläuft entlang der Schnittlinie von Wahrnehmung und Schlussfolgerung zwischen Sinnlichkeit und Verstand. Geschildert wird, mit anderen Worten, der Verlauf einer Apperzeption, welcher die Konfiguration der Daten durch die Zeichnung entspricht. Beide Akte, der Akt der Apperzeption und der Akt der Konfiguration, sind inferentieller Art. Schon allein die Differenzierung zwischen Licht und Finsternis, zwischen der erleuchteten Mondsichel und dem Rest der Scheibe, ist ein zeitlicher Vorgang. Wenn Galilei von leuchtenden Auswüchsen spricht, die sich in den dunklen Teil hinein ausdehnen, während im Gegenzug finstere Teilchen ins Licht vordringen, offenbart der Text, dass er nicht Zustände, sondern Vorgänge schildert – freilich so, dass dabei das Agens kaschiert wird. Denn es sind ja, genau genommen, nicht die Materiepartikel, die hier tätig werden, sondern der Beobachter, der sie dank der Sonnenlichteinstrahlung nach und nach entdeckt, aus dem Dunkel schält oder die helle Fläche so besiedelt, dass sich auf ihr bestimmte Formationen bzw. Figuren (Grenze, Zone, Flecken, Teil und Teilchen) abzeichnen. Galileis eigene Narration gibt somit zu erkennen, dass die Genese der Evidenz, mit der sein „Sternenbote“ aufwartet, wesentlich komplexer und komplizierter war,
21 Ebd.88f.
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als es den Anschein hat. Und das heißt wiederum: Man muss ein Experte der Beschreibungskunst sein, um von den Daten einerseits zur Erkenntnis und von der Erkenntnis andererseits zu einer Form der Veranschaulichung zu gelangen, die Laien klar und deutlich erscheint. Ob die Laien in der Lage sind, die Genese des szenographischen Diskurses nachzuvollziehen, ist eine ganz andere Frage. Im Text werden sie jeweils nur auf das Bild, die sogenannte „figura“, verwiesen, nicht aber auf die Prozedur ihrer Figuration. Diese Figuration bildet die Kehrseite der Sichtbarkeit, erst durch sie entsteht im Display von Zeichnung und Beschreibung „the bright side of the moon“ in der neuartigen Auflösung, die ihr Galilei mit Hilfe von Teleskop, Text und Radierung zu geben vermochte. Kurzum: Die im Buch etablierte Erkenntnisszene ist ein Kunstprodukt. Erst das Zusammenspiel von technischen Gerätschaften und geschultem Blick verleiht den Gegenständen der Erkenntnis die Konturen, mit denen das Weltbild der neuen Astronomie profiliert werden konnte. Kurioserweise wird diese Sicht der Dinge auf der sprachlichen Ebene mit Hilfe von Vergleichen erläutert, die das Spektakuläre der Himmelsphysik zurückbinden an den alltäglichen Umgang mit der Materie. So erklärt Galilei: „Diese Mondoberfläche, wo sie mit Flecken – wie der Schwanz des Pfaus mit dunkelbauen Augen – geschmückt ist, ähnelt jenen Glasgefäßchen, die, noch heiß in kaltes Wasser getaucht, eine gesprüngelte und wellige Oberfläche annehmen, weshalb sie vom Volk Eisbecher genannt werden.“ 22
Volkstümlicher kann sich ein Wissenschaftler kaum ausdrücken. Der Schmuck, um den es hier geht, gibt der Sache eine sinnfällige Gestalt, ist zwar Ornatus der Rede, aber keineswegs Selbstzweck. Er unterstützt den Augenschein, indem er ihn mit der alltäglichen Erfahrung verschränkt. So wird die Erkenntnisszene mit Blick auf die Lebenswelt der Menschen abgerundet, die doch eigentlich himmelweit entfernt ist von der Forschungspraxis, die gleichsam hinter den Kulissen stattgefunden hat. Dort geht es anders als auf dem Schauplatz zu, den Galileis Leser betreten. Das szenographische Theater der Veranschaulichung spiegelt nicht etwa den Akt der wissenschaftlichen Beobachtung, sondern die Art und Weise wider, mit der Laien die Probe auf das Exempel einer Expertise machen, deren Genese ihnen in der Regel verschlossen bleibt. Demgegenüber werden die Teilansichten, die Galilei leibhaftig vor Augen stan22
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Ebd.91.
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den, als er durch das Fernrohr sah, Momentaufnahmen vergleichbar, wie die Glieder einer Indizienkette behandelt, die einer Konjektur unterzogen werden müssen. Hans Blumenberg hat die Pointe dieser Konjektur mit der ihm eigenen Klarheit erfasst: „Galilei ist ein Mann von einer vertrackt reflektierten Optik. Er richtet das Fernrohr auf den Mond, und was er sieht, ist die Erde als Stern im Weltall. Schon in den ersten Sätzen des Berichts von 1610 ist dies vor allem der Gegenstand der sinnlichen Gewißheit, daß die Oberfläche des Mondes die vertrackten Züge einer irdischen Landschaft darbietet und daß die Standpunkte des Beobachters nur zwischen Erde und Mond gewechselt zu werden brauchen, um von der Erde einen vergleichbaren Anblick zu gewinnen […]. Der „Sidereus Nuncius“ ist eine Nachricht von neuen Sternen, und der erste und wichtigste Stern, auf dessen Natur alle diese Entdeckungen bestätigend reflektieren, ist die Erde selbst.“ 23
Man kann somit als Zwischenergebnis festhalten: In seiner Eigenschaft als Szenograph entwirft der Experte Schaubilder, die, soweit es den „Sidereus Nuncius“ betrifft, in dreierlei Hinsicht über die natürliche Wahrnehmung hinausgehen: indem sie Entfernungen aufheben, indem sie die Ausschnitthaftigkeit der Perzeption überwinden und indem sie sich an dem Kriterium der „perspicuitas“ orientieren, die dem Verlangen des Menschen nach Klarheit und Deutlichkeit entspricht. Die Dinge selbst haben keine Veranlassung, diesem Verlangen zu entsprechen – als Szenograph verfügt der Experte jedoch über die Fähigkeit, dieses Bedürfnis medienspezifisch zu befriedigen, indem er das Theater der Anschaulichkeit so einrichtet, dass die Leser meinen, die Rolle von Augenzeugen spielen zu können, die sich selbst davon zu überzeugen vermögen, ‚was Sache ist‘.
III. Die Anschaulichkeit des „Somnium Sive Astronomia Lunaris“ Die Herstellung von Sichtbarkeit, die auf sinnliche Gewissheit abzielt, ist ein Vorgang, dem nicht nur das Unsichtbare gegenübersteht. Vielmehr muss man die sinnliche Gewissheit auch von jener Form der Anschaulichkeit abheben, die keine An-
23 Blumenberg, Fernrohr (wie Anm.9), 20f.
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gelegenheit der sinnlichen Wahrnehmung, sondern des Zusammenspiels von diskursivem Verstand und Einbildungskraft ist. Dieses Zusammenspiel von diskursivem Verstand und Imagination lässt sich – kontrastiv – an einem Text vor Augen führen, der fast zeitgleich mit dem „Sidereus Nuncius“ entstand, unter dem Gesichtspunkt der Performanz jedoch eine ganz andere Vorstellung davon liefert, wie Weltbilder entstehen. Gemeint ist das „Somnium“ von Johannes Kepler, jener „Traum vom Mond“, der 1608/09 entstand, vom Verfasser 1622 überarbeitet und, mit gelehrten Fußnoten versehen, 1630 noch einmal redigiert, aber erst 1634, vier Jahre nach seinem Tod, veröffentlicht wurde. Schon aus diesem Grund kann man nicht behaupten, dass er ein paradigmatisches Beispiel für den Wissenstransfer vom Experten zum Laien ist, obwohl der auf Latein verfasste Texte eine Rahmenhandlung hat, die unter anderem davon handelt, wie ein Mensch vom Laien zum Experten wird. Der Erzähler berichtet, dass er den Mond und die Sterne beobachtet habe und dabei in einen tiefen Schlaf gefallen sei, in dem er von einem Buch geträumt habe. Er gibt den Text dieses Buches wieder, in dem wiederum ein gewisser Duracotus schildert, wie er von Tycho Brahe in das Studium der Astronomie eingeführt wurde und mit Hilfe seiner Mutter den Dämon von Levania beschworen habe, der dem Leser nun Auskunft über die Beschaffenheit des Erdtrabanten gibt. Was er sagt, wird von Kepler im Anhang zu dieser Traumerzählung in einem umfangreichen Kommentar mit dem Wissen des Experten verknüpft. In Duracotus jedoch reflektiert er seine eigene Bildungsgeschichte, was insofern prekär war, als er seine leibliche Mutter später tatsächlich gegen den Vorwurf verteidigen musste, eine Hexe zu sein, die böse Geister beschworen habe. Von Interesse ist im Folgenden ausschließlich die Prozedur der Imagination, die der Text in Szene setzt. Dass Kepler über die Fähigkeit verfügte, abstrakte und schwer verständliche Sachverhalte volkstümlich auszudrücken und in eine konkrete Szene zu übersetzen, die man sich leicht vorstellen konnte, belegt unter anderem sein „Aristoteles-Kommentar“, in dem er über das dynamische Verhältnis von Mond und Erde sagt: „Die erd ist wie ein reütter, der seinen weg fort reittet, der Mond wie ein schnaackh oder Breem, der dem Reütter vnd Roß vmb jre köpffe herumb sumset, bald hinten bald fornen, oder wie ein Hund pflegt mitzulauffen hin vnd her zu schwaiffen.“ 24
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Kepler zit. nach Herbert Butterfield, The Origins of Modern Science 1300–1800. London 1958, 146.
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Ausgehend von diesem Vergleich ist es beinahe ein Kinderspiel, sich auf die Einflüsterungen des Dämons aus Levania einzulassen. Dieser Dämon überredet den Leser, von seinem irdischen Standpunkt abzusehen und das Weltall aus einer anderen, gleichfalls kontingenten Perspektive zu betrachten. Hat sich der Leser auf diese Spielregel der Vorstellungsbildung eingelassen, stellt sich ihm, kaum dass er in Gedanken auf dem Mond gelandet ist, „eine auf dem Kopf stehende Welt dar. Über ihm hängt die gewaltige Masse der Erdkugel, von den Mondgeschöpfen Volva genannt, ‚die sich Drehende‘, mit deutlich erkennbaren Ozeanen, Gebirgen und Kontinenten und Ländern.“ 25 So hat Beatrix Langner die Erkenntnisszene, die der Text etabliert, in ihrem Leitfaden für Mondreisende beschrieben, einer Beigabe zur aktuellen Edition des „Somnium“, die 2011 erschienen ist. Der Dämon selbst stellt die Szene folgendermaßen dar: „Levania scheint nämlich ihren Bewohnern genauso fest zu stehen und von den Gestirnen umkreist zu werden, wie uns die Erde.“ 26 In einer der vielen Fußnoten zum „Somnium“ spricht Kepler unumwunden aus, worum es bei seiner Geisterbeschwörung geht und warum sie kein spiritistischer Akt, sondern ein epistemologischer Prozess ist, der ausschließlich mit Hilfe der Imagination gegen das ptolemäische Weltbild angestrengt wird: Es sei das Ziel des Traums, „am Beispiel des Mondes einen Beweis zu führen für die Bewegung der Erde, oder eher: die Einwände zu entkräften, die aus dem allgemeinen Widerspruch des Menschengeschlechts gewonnen sind“. 27 Komplementär dazu heißt es in einer weiteren Fußnote: „Hier offenbart sich die Hypothese des ganzen ‚Somnium‘, nämlich die Begründung für die Bewegung der Erde, oder eher die Widerlegung der Begründung gegen die Bewegung der Erde, die auf der Sinneswahrnehmung aufgebaut ist.“ 28
Dies wiederum wird in einer dritten Fußnote, wie folgt, erläutert: „Wir Erdbewohner glauben nämlich, die Ebene, auf der wir stehen, und mit ihr die ballförmigen Dächer auf den Türmen stünden unbeweglich. Die Gestirne aber zögen an jenen Dächern vorüber, indem sie von Osten nach Wes-
25 Beatrix Langner, Das Kugelspiel. Ein Leitfaden für Mondreisende, in: Johannes Kepler, Der Traum, oder: Mond-Astronomie. Somnium sive astronomia lunaris. Aus dem Latein. v. Hans Bungarten. Hrsg. u. mit einem Leitfaden für Mondreisende v. Beatrix Langner. Berlin 2011, 125–240, hier 188. 26 Johannes Kepler, Der Traum (wie Anm.25), 14. 27 Ebd.29. 28 Ebd.55.
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ten strebten. Dieser Glaube kann jedoch der Wahrheit nichts anhaben, noch schreibt er ihr etwas vor. Genauso glauben nämlich die Mondbewohner, ihre Mondebene und der Ball der Volva, der hoch über ihr aufgehängt ist, verharre am Ort. Und dennoch wissen wir ganz sicher, dass der Mond einer von den beweglichen Himmelskörpern ist.“ 29
Irren sich aber die Mondbewohner – was offensichtlich ist – kommen die Leser, die bis zu dieser Einsicht gelangt sind, nicht um die Folgerung herum, dass auch ihre Ansicht vom Weltall eine Sinnestäuschung sein muss und dass der Augenschein, der gegen das kopernikanische System spricht, trügt. Man kann also sagen: In den Fußnoten deckt Kepler das Regiekonzept auf, dem seine Inszenierung der Traumerzählung, einschließlich ihrer Mehrfachrahmung, folgt. Ihm kommt es, ebenso wie Galilei, auf den Rückschluss vom Mond auf die Erde, auf die übliche, durch Kopernikus überholte Lesart des Sonnensystems an. Während Galilei jedoch auf die sinnliche Gewissheit der Anschauung setzt, die ihm das Teleskop und seinen Lesern die Verschränkung von Beschreibung und Zeichnung vermittelt, vertraut Kepler auf jene Anschaulichkeit, die aus der Interaktion von Beschreibungskunst und Einbildungskraft resultiert. Kepler löst allein mittels der Sprache umwerfende Vorstellungen aus, wobei lediglich vorausgesetzt wird, dass die Leser der Gedankenbahn folgen, die im Text ausgelegt wird. Auf diesem Wege gelangen sie zu einer Betrachtungsweise, die ihre Erfahrungswelt gleichsam von außen in den Blick nimmt und neu rahmt. Obwohl Keplers „Traum vom Mond“ wiederholt als Vorläufer der Science Fiction-Literatur bezeichnet worden ist, muss man daher sagen, dass er zuallererst ein Gedankenexperiment darstellt, an dem die Leser mit Hilfe der Einbildungskraft unter der Führung eines in solchen Experimenten erprobten Experten teilnehmen können. Dafür spricht unter anderem, dass im „Somnium“ das Pendant zu jenem Gleichnis von Reiter und Bremse steht, das bereits zitiert wurde. Die entsprechende Stelle lautet: „Für die Bewohner steht also die Volva fest, als wäre sie mit einem Nagel an den Himmel geheftet, unbeweglich, was den Ort angeht, und über sie gehen die übrigen Sterne, sogar die Sonne selbst, vom Aufgang bis zum Untergang hin.“ 30
132
29
Ebd.69.
30
Ebd.19.
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Mit anderen Worten: Auf Levania täuscht man sich gleich doppelt, weil man die Erde für unbeweglich hält und ihre Bewegung um die Sonne mit einer Bewegung der Sonne um die Erde verwechselt. Kepler geht damit deutlich über Galileo hinaus, dem der Mond nur eine andere Erde war. Bei ihm überholt der Perspektivenwechsel nicht nur das geozentrische Weltbild. Vielmehr unterläuft der Text zudem auch noch die sinnliche Gewissheit des Augenscheins, der den Menschen immer wieder zu täuschen vermag. Die Leser haben es also mit einer dreifachen Volte zu tun, die erstens die Verhältnisse auf den Kopf stellt, indem sie den Leser von der Erde auf den Mond versetzt, dieses Manöver dann zweitens gegen das geozentrische Weltbild wendet und dem Leser drittens auch noch den Boden unter den Füßen wegzieht, der ihm sinnlich gegeben zu sein scheint. Jedenfalls bleibt der Text nicht an dem Punkt stehen, an dem die Relativität aller Standpunkte und Betrachtungsweisen deutlich geworden ist. Er geht darüber hinaus bis an die Grenze des menschlichen Fassungsvermögens, wenn das Evidente nicht in der sinnlichen Anschauung, sondern ausschließlich in der Anschaulichkeit des Denkens verortet wird, die keine Leistung des Wahrnehmungsvermögens, sondern der Einbildungskraft darstellt. Keplers Text ist paradox, weil er einerseits den Traum des Menschen, im Mittelpunkt der Schöpfung zu stehen, widerspiegelt, dem Leser andererseits jedoch zu der Einsicht verhilft, dass ihm diese Stellung eben nur im Traum zukommt. Bei wachem, klaren Bewusstsein setzt das Spiel, das Kepler im „Somnium“ mit der Umkehrbarkeit von mundaner und lunarer Perspektive betreibt, voraus, dass die Erde ebenso wenig das Zentralgestirn unter den Himmelskörpern sein kann wie der Mond. Die Erzählanlage des Textes läuft jedenfalls darauf hinaus, dass gerade diejenigen unter den zeitgenössischen Lesern, die nicht einmal im Traum daran denken mochten, dass sich die Erde um die Sonne dreht, zu dem Schluss gebracht werden, ihre Sicht müsse das Ergebnis einer irreführenden Betrachtungsweise sein, für die zwar der Anschein, gegen die aber jede vernünftige Überlegung spricht. Selbst wenn sie, beispielsweise aus religiösen Gründen, auf ihrer bisherigen Sicht beharrten, blieb der mäeutische Clou des Textes erhalten: Der Mensch kann von seinem eigenen Standpunkt absehen und die Dinge im Modus des Gedankenexperiments, performativ-imaginär, von der Warte aus betrachten, die praktisch alles in einem veränderten Licht erscheinen lässt und theoretisch aufschlussreich ist.
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IV. Anschauung, sinnliche Gewissheit und anschauliches Denken Der „Sidereus Nuncius“ hatte 1610 den augenscheinlichen Beweis dafür erbracht, was Kepler aufgrund eines Analogieschlusses längst vermutet hatte: dass die Oberfläche des Mondes nicht glatt, regelmäßig und von vollkommener Rundung, sondern erdähnlich war. „So viel wir wissen, ging es dem jungen Kepler in seiner akademischen Abschlussarbeit an der Tübinger Universität genau darum, die erdähnliche Beschaffenheit des Mondes und seine Erdumlaufbahn per analogiam zu beweisen, das heißt durch die hypothetische Verlegung seines Standorts auf den Mond.“ 31 Das war 1593. Während der „Sternenbote“ einen szenographischen Diskurs entfaltet, der auf die Beweiskräftigkeit des Augenscheins („evidentia“) und die „perspicuitas“ von Text und Bild setzt, ging es Kepler im „Somnium“ um die Überzeugungskraft jener Anschaulichkeit, die sich der intellektuellen Einbildungskraft verdankt. Daher kann er in einer Fußnote zum „Somnium“ sagen: „Der Traum verlangt manchmal auch die Freiheit der Erfindung von etwas, was die Sinne niemals erfahren haben.“ 32 Das ist nicht nur möglich, sondern zielführend, weil Keplers Traumszene als Argument fungiert. Daher heißt es in einer anderen Fußnote: „Das ist der Kern des Arguments, das ohne jede Stütze des Augenscheins auskommen musste.“ 33 Argumente jedoch, die ohne die Stütze des Augenscheins auskommen, bedürfen einer spezifischen Expertise und einer spezifischen Performanz. Wer sie nachvollziehen oder gar formulieren möchte, muss in der Kunst des anschaulichen Denkens erprobt sein. Der Vergleich von Galilei und Kepler legt es somit nahe, zwischen zwei Ausprägungen von Anschaulichkeit zu unterscheiden: Die eine zielt auf sinnliche Gewissheit ab und ist an präsentische Medienformate (Zeichnungen, Exponate, Filme etc.) gebunden; die andere resultiert aus einem Wechselspiel von Einbildungskraft und Verstand, das diskursiv ‚in Szene gesetzt‘ wird. Seine Vollzugsform ist nicht die des Sehens, sondern des Vorstellens. In dieser Unterscheidung reflektiert sich einerseits die Differenzierung des Szenographie-Begriffs; andererseits belegen die Bilder, die der „Sternenbote“ umfasst, jedoch, dass auch die Wahrnehmung mit dem Verstand
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31
Langner, Leitfaden (wie Anm.25), 155.
32
Kepler, Traum (wie Anm.25), 62.
33
Ebd.92.
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(und der Zeichenkunst) im Bunde sein muss, da diese Bilder nicht einfach eine Perzeption, sondern eine Apperzeption konfigurieren. Im Falle von Kepler lässt sich gut nachvollziehen, wie er seine Form des anschaulichen Denkens in einer Absetzbewegung von anderen Operationen, die mit Bildern durchgeführt wurden, entwickelt hat. Es geht um einen zentralen Vorgang der Wissenschaftsgeschichte: um die Entwicklung der modernen Diagrammatik, die eine Technik des Schlussfolgerns mit Hilfe von Schaubildern ist, die rationale Verhältnisbestimmungen erlauben. Mit dieser Funktion setzt sich die Diagrammatik, wie Raz Chen-Morris gezeigt hat, insbesondere von der Emblematik und ihrer magischspekulativen Verwendung in der Alchemie ab. Kepler kannte diese Verwendung, da er sich mit den Schriften von Heinrich Khunrath (ca. 1560–1605) und Michael Maier (1568–1622) auseinandergesetzt hatte. Die Sinnbilder der Alchemie verfügten nach der Auffassung dieser beiden Autoren über die Fähigkeit, sowohl in der physikalischen Welt als auch in der Psyche des Menschen magische Effekte auszulösen. 34 Die Bilder wurden zu diesem Zweck als Schemata von Handlungen begriffen, durch die ein geheimes Wissen zugänglich gemacht und nutzbar wurde. Khunraths „Amphitheatrum sapientiae“ (1609) und Maiers „Atalanta fugiens“ (1617) versammelten emblematische Darstellungen, die als Instruktionen magischer Operationen gedacht waren. Die in der „pictura“ veranschaulichte Operation wurde in der „subscriptio“ in eine formelhafte Handlungsanweisung übersetzt. Auch Diagramme können Operationen veranschaulichen, die ‚im Geiste‘ zu vollziehen sind, sie haben aber keine magische, sondern eine heuristische Funktion. Indem sie die Elemente und Relationen der Wirklichkeit in einer abstrakten Form konfigurieren, lassen sie die Struktur von Sachverhalten und Vorgängen transparent werden. Das Auge sieht, was der Verstand erfasst. Grundlage dieser Epistemologie ist bei Kepler zum einen die Optik sowie zum anderen die Metaphysik, der er im 1. Kapitel des 4. Buchs der „Harmonice Mundi“ von 1619 mit der Bemerkung Ausdruck verleiht: „[I]n genere relatio omnis sine Mente nihil est.“ 35 Unter dieser Vor-
34 Vgl. Raz Chen Morris, From Emblems to Diagrams. Kepler’s New Pictorial Language of Scientific Representation, in: Renaissance Quarterly 62, 2009, 134–170, hier 138. 35 Zit. nach Elisabeth von Samsonow, Die Erzeugung des Sichtbaren. Die philosophische Begründung naturwissenschaftlicher Wahrheit bei Johannes Kepler. (Münchner Universitätsschriften, 12.) München 1986, 16.
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aussetzung gilt: „Der Geist reflektiert sich selbst in jeder Figur, die er als Relation begreift.“ 36 Die spezifische Relation, die er zu den Dingen unterhält, ist die des Sehens. 37 Folgerichtig stellt die Optik das Modell des Erkennens und das Diagramm das Medium der Erkenntnisvermittlung dar, das nicht nur dem Geist des Menschen, sondern – davon war Kepler überzeugt – im Prinzip auch jenem Geist angemessen war, dem die Welt ihre intelligible Struktur verdankt. Aufgrund dieser Voraussetzung geht die Konstruktion eines Diagramms, genau genommen, auch nicht von den Gegenständen der sinnlichen Anschauung aus, zu denen es selbst gehört, sondern von der Verdichtung zahlreicher Beobachtungsdaten in einer geometrischen Figur, die eine axiomatische Wahrheit a priori enthält 38 – beispielsweise die, dass der Diameter eines Kreises doppelt so lang ist wie der Radius. Wenn es dem Menschen also gelingt, seine fortlaufende Wahrnehmung mit einer geometrischen Figur bzw. mit den platonischen Körpern in Übereinstimmung zu bringen, die ganz bestimmte mathematische Verhältnisse aufweisen, konfiguriert er nicht etwa ein magisch-spekulatives, sondern ein rationales Bild, aus dem sich weitere Schlussfolgerungen ableiten lassen. Schlussfolgerungen dieser Art sind nicht sinnlich gewiss, sondern denknotwendig. Wie Raz Chen-Morris überzeugend dargelegt hat, beruht Keplers Diagrammatik auf einer Differenzierung von „pictura“ und „imago“. Unter der „pictura“ verstand Kepler aufgrund seiner optischen Studien das Bild, das ein Ding aufgrund seiner Form und Farbe abgibt, während die „imago“ nur durch die Beteiligung des menschlichen Vermögens zustande kommt, das zwar fehlerhaft sein kann, sich aber vor allem dadurch auszeichnet, dass die Daten der aktuellen Wahrnehmung ergänzt und ihre Leerstellen überbrückt werden. 39
36
Ebd.17.
37
Ebd.21.
38
Vgl. Chen Morris, From Emblems (wie Anm.34), der diese Darlegung mit einer Bemerkung aus dem 1.
Kapitel des 4. Buchs der Harmonice Mundi belegt: „[D]emonstratio vero illa ex sensibilibus diagrammatis numquam habetur, etsi iis adiuvetur: nec ex collectionibus oritur multorum sensiliu in unum Axiom, sed a priori comparatur.“ Von Samsonow stützt ihre Explikation auf das gleiche Zitat. Vgl. Samsonow, Erzeugung des Sichtbaren (wie Anm.35), 18. 39
Vgl. Chen Morris, From Emblems (wie Anm.34), 158: „Briefly, an image is the vision of some object con-
joined with an error of the faculties contributing to the sense of vision. Thus, the image is practically nothing in itself, and should rather be called imagination.“ Und ebd.160: „The human mind is forced to supplement the missing data that the sense of sight is unable to perceive, not because of the external environment, but on account of its own disposition.“
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„In picture formation, all the reflections and refractions take place within in the eye, thus preserving their geometrical arrangement, though still finally producing an inverted picture. In image formation, some data is missing and the intervention of the human imagination causes the final results to be a certain artificial entity, where things are not what they appear to be.“ 40
So kann man zum Beispiel einen Wandelstern am Himmel, aber nicht die elliptische Form seiner Umlaufbahn ‚sehen‘. Diese Form kommt der Umlaufbahn nur aufgrund einer Hypothese zu, die jedoch nicht einfach ‚aus der Luft gegriffen‘ ist, sondern sich der Konjektur von zahlreichen Beobachtungen, Messungen und Berechnungen verdankt. Das wissenschaftliche Diagramm dieser Bewegung macht aber nicht nur ‚auf einen Blick‘ einsichtig, dass die Umlaufbahn (annäherungsweise) eine Ellipse ist – es lässt auch weitere Schlussfolgerungen zu, die sich aus der sachgerechten Zeichnung der Bewegungsstruktur ergeben – zumal dann, wenn dieser Zeichnung weitere Daten (= Beobachtungsserien) integriert werden, etwa die der Umlaufbahnen anderer Planeten. Als Heuristik eröffnet die Diagrammatik dem Forscher also die Möglichkeit, seinen Daten probeweise geometrische Formen zu unterlegen und ‚auf dem Papier‘ zu beobachten, welche Veranschaulichung, d.h. welche Datenkonfiguration den größten Erklärungswert besitzt, mit den fortlaufenden Beobachtungen übereinstimmt und weiterführende Hypothesen anregt. Heuristische Diagramme, die konjekturale oder abduktive Denkprozesse anschaulich machen, sind im Falle der Astrophysik „representations of possible motions and the relation of these motions to physical bodies“. 41 Sie lassen bestimmte Ableitungen (Deduktionen) zu, die dann wiederum induktiv geprüft werden müssen. 42 Galileo Galilei hat keine Optik geschrieben und auch keine eigene Diagrammatik entworfen. Seine szenographische Praxis ist daher eine andere als die von Kepler, die gleichsam in zwei Medienformaten existiert: dem visuellen Format der geometrischen Zeichnung, die quantifizierbare Verhältnisse, Proportionen und dynamische Relationen sichtbar macht, und dem literarischen Format des Gedankenexperiments. Die wissensbasierte Imagination spielt in beiden Fällen eine entscheidende Rolle. Galilei hingegen versteht das Bild nicht als heuristisches Instrument der Da-
40 Ebd.163. 41 Ebd.165. 42 Zu der Interpretation von Keplers Diagrammatik im Sinne der Forschungslogik von Charles Sanders Peirce vgl. Matthias Bauer, Schwerkraft und Leichtsinn. Kreative Zeichenhandlungen im intermediären Feld von Wissenschaft und Literatur. Freiburg im Breisgau 2005, 138–142.
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tenkonfiguration, sondern als Darstellung einer (aggregierten) Wahrnehmung. Sie hat, so könnte man schließen, vornehmlich eine demonstrative Funktion, ist also in erster Linie Illustration eines Sachverhalts, zu dessen Konfiguration sie scheinbar nichts Entscheidendes beiträgt. Tatsächlich besitzt aber auch die Lehre vom „disegno“ eine ästhetikologische Dimension, die der Veranschaulichung epistemologische Relevanz verschafft. Der Mensch verfügt zumal dann, wenn er im Zeichnen geübt ist, über die Fähigkeit, „komplexe Zusammenhänge in einfache und doch mathematisch und rational zumindest geschätzten Chiffren zu erfassen, vom Grundriß und Möblierungsplan einer neuen Wohnung bis hin zur graphischen Skizze eines Großprojekts“. 43 Die Zeichnung kann also schon im Alltag eine Entwurfshandlung, ein Prozess der planerischen Konfiguration möglicher Sachverhalte sein. Damit ist sie zugleich ein Muster, an dem sich nachfolgende Ausführungsakte orientieren können. Die Zeichnung wurde daher schon 1390 von Cennino Cennini zur handwerklichen Grundlage der Künste erklärt. Bereits bei ihm findet sich der Gedanke, dass die Übung in der Zeichnung „zu vielerlei Erfindung im Kopf des Künstlers befähige: ‚Sai che tti averrà pratichando it diesegniari di penna? Che tti farà sperto, praticho e chapacie di molto disegno entro la testa tua.‘“ 44 Dass die eine oder andere Erfindung, die auf diesem Wege zustande kommt, auch wissenschaftliche Bedeutung haben kann, war ein naheliegender Gedanke, der sich zum Beispiel bei Vasari findet. Er zog in gewisser Weise die Schlussfolgerung aus den Überlegungen der Renaissance zur künstlerischen und wissenschaftlichen Bedeutung der Zeichnung, als er 1568 bemerkte: „Disegno ist der Vater unserer drei Künste Architektur, Bildhauerei und Malerei, der aus dem Geist hervorgeht und aus vielen Dingen ein Allgemeinurteil schöpft, gleich einer Form oder Idee aller Dinge der Natur, die in ihren Maßen einzigartig ist. So kommt es, dass disegno nicht nur in menschlichen und tierischen Körpern, sondern auch in Pflanzen, Gebäuden, Skulpturen und Gemälden das Maßverhältnis des Ganzen zu den Teilen, der Teile zueinander und der Teile zum Ganzen erkennt. Und da aus dieser Erkenntnis ein gewisser Begriff und ein Urteil entsteht, das im Geist später die von Hand gestaltete und
43
Hein-Th. Schulze Altcappenberg, Disegno / Ich zeichne. Zur großen Ansicht von Florenz, zum Bild des
Zeichners, in: ders./Michael Thimann (Hrsg.), Disegno. Der Zeichner im Bild der Frühen Neuzeit. Eine Ausstellung des Kupferstichkabinetts – Staatliche Museen zu Berlin zum Auftakt des Ausstellungszyklus „Der Kult des Künstlers“. Berlin 2007, 7–14, hier 7. 44
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Ebd.8.
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dann Zeichnung genannte Sache formt, so darf man schließen, das disegno nichts anderes sei als eine anschauliche Gestaltung und Darlegung jener Vorstellung, die man im Sinn hat, von der man sich im Verstand ein Bild macht und sie in der Idee hervorbringt.“ 45
Als Vermittlungsmedium zwischen Hand und Verstand, Anschauung und Erkenntnis, Form und Idee kommt der Zeichnung, die an den Gegenständen der Wahrnehmung Beziehungen und Maßverhältnisse in abstracto erfasst und in diesem Sinne Allgemeinurteile sichtbar macht, eine heuristische und epistemologische Funktion zu, die letztlich darauf beruht, dass die Welt diagrammatisiert, also dergestalt in einem Schauraum ausgelegt wird, dass ihre Struktur intelligibel wird. Wie das wissenschaftliche Diagramm gehen in die Kunst des „disegno“ in der Regel zahlreiche Beobachtungen bzw. konjekturale Auffassungsakte ein. Um eine genaue Zeichnung erstellen zu können, muss der Zeichner sein Objekt studieren. Er schaut nicht einmal kurz hin, sondern überprüft den Entwurf der Figur immer wieder durch exakte Beobachtungen am Gegenstand. Gelehrt wurde diese Kunst der Beobachtung und Zeichnung unter anderem in der Accademia del Disegno, die 1563 von Cosimo de Medici ins Leben gerufen wurde. Seinem Nachfolger ist der „Sidereus Nuncius“ gewidmet. Obwohl Galilei also weder eine Optik geschrieben noch eine Theorie der Diagrammatik entwickelt hat, bewegt sich sein szenographischer Diskurs in einem historischen Umfeld, in dem die Zeichnung als eine Form der ästhetikologischen Welterschließung, der (bild-)anschaulichen Vermittlung von Einsichten in den Zusammenhang der Natur galt. Besonders kunstfertig musste sie nicht unbedingt, wohl aber genau und anschaulich sein. Michael Thimann ist aufgefallen, dass der Begriff des „disegno“ eine Unschärferelation aufweist: Er „wird von Vasari gewissermaßen zweifach verwendet, indem er einerseits die intellektuelle Hervorbringung, andererseits die materielle Zeichnung meint.“ 46 Man könnte diese Unschärferelation mit Keplers Unterscheidung von „pictura“ und „imago“ auflösen: Das Diagramm übersetzt eine (hypothetische) Vorstellungsbildung, die sich genauer Beobachtung verdankt, in ein intersubjektiv wahrnehmbares Bild. Das bedeutet allerdings, dass man die Unschärferelation vom
45 Vasari zitiert nach Michael Thimann, ‚Idea‘ und ‚Conterfei‘. Künstlerisches und wissenschaftliches Zeichnen in der Frühen Neuzeit, in: Schulze Altcappenberg/Thiemann (Hrsg.), Disegno (wie Anm.43), 15– 30, hier 15. 46 Ebd.19.
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Begriff des „disegno“ auf die Idee der Diagrammatik verlagert. Ihre aktuelle Diskussion in den Wissenschaften oszilliert folgerichtig zwischen zwei Polen: den diagrammatischen Operationen ‚im Geiste’ und dem Schaubild, das dem Beobachter ‚vor Augen‘ steht. Alle Versuche, diese Polarität durch ein Entweder-Oder aufzulösen, gehen an der künstlerischen wie an der wissenschaftlichen Relevanz der Diagrammatik vorbei. 47 Der Vergleich des „Sidereus Nuncius“ mit dem „Somnium“ zeigt vielmehr, dass die Diagrammatik in der Praxis eigentlich immer im Verbund mit bestimmten Kulturtechniken wie der Szenographie auftritt, die dadurch ihrerseits eine Auffächerung erfährt. Es gibt eine Expertise, die sich im literarischen Gedankenexperiment, und eine solche, die sich im Wechselspiel von Zeichnung und Beschreibung ausdrückt; es gibt eine Rhetorik des literarisch stimulierten Perspektivenwechsels und eine Rhetorik der demonstratio ad oculos. Die Konfiguration (der Beobachtungsdaten) ist aber in jedem Fall ein ästhetikologischer Akt der Konjektur, dessen Erkenntniswert wesentlich davon abhängt, dass er sachgerecht und fachkundig vollzogen wird. Und genau das ist die Aufgabe des Experten, der sich folglich nicht nur in der Materie, sondern auch in der Methode auskennen muss. 48 Eine andere Möglichkeit, Galileo und Kepler gegeneinander zu profilieren, besteht darin, eine implizite, unreflektierte von einer expliziten, reflektierten Diagrammatik abzuheben. Eine solche hat der Verfasser des „Somnium“ in der „Epitome Astronomiae Copernicanae“ entwickelt, mit denen sich Elisabeth von Samsonow in ihrer Abhandlung „Die Erzeugung des Sichtbaren. Die philosophische Begründung der naturwissenschaftlichen Wahrheit bei Johannes Kepler“ eingehend beschäftigt hat. Ausgangspunkt ist wiederum die figurierte Quantität, die den rationalen Denkakt auszeichnet. „Jeder Akt des Denkens verknüpft die quantitas,
47
Vgl. Matthias Bauer/Christoph Ernst, Diagrammatik. Einführung in ein kultur- und medienwissen-
schaftliches Forschungsfeld. Bielefeld 2010. 48
Anders gesagt: Das Kriterium der Transparenz wird nicht nur auf die Darstellung, sondern auch auf
die Verfahren der Darstellung angewandt. Indem Laien diese Verfahren durchschauen, erlangen sie – zumindest theoretisch – das Wissen der Experten. Praktisch gibt es gleichwohl einen Unterschied zwischen denen, die im Prinzip wissen, wie das Verfahren funktioniert und denen, die es tatsächlich angemessen durchführen können. Dieser Unterschied ist graduell und lässt sich, ein gewisses Geschick und die materiellen Möglichkeiten vorausgesetzt, durch Übung nivellieren. Dass nur wenige Experten z.B. der Astrologie in der Lage waren, sich ihre Teleskope wie Galileo Galilei selbst zu bauen, verweist auf eine andere Expertise in der Herstellung von Sichtbarkeit, die man, um sie von der theoretischen abzusetzen, als technische Expertise bezeichnen kann.
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also ein quasi-materielles Moment, das die jeweils verschiedenen Inhalte des Denkens bedeutet, mit der figura, einem formalen Moment, das die gleichbleibende, Gestalt gebende Leistung des Geistes wiedergibt.“ 49 Von Samsonow arbeitet das Spezifikum dieser Leitidee heraus, indem sie Keplers Erkenntnistheorie und -praxis als eine Form des Zeichnens darstellt, die nicht die Hand, sondern der Geist selbst vollzieht, wenn er die Dinge betrachtet und bestimmte Quantitäten (kon-)figuriert. Anschaulich wird dies, wenn man auf das Darstellungsmedium der Optik, auf die Geometrie blickt und dabei vor allem auf den Akt der Figuration achtet: „Dem Geist ist die gerade Linie unmittelbar einsichtig. Die Gerade ist die kürzeste Verbindung zweier Punkte. Sie befindet sich bei Kepler in einer Bewegung des exire, d.h. des Ausgehens; sie wird nicht als eine bereits gezogene, sondern als eine, die im Augenblick gezogen wird, gedacht“ 50, erläutert von Samsonow. Geometrisch dargestellt ist der Akt der Bezugnahme auf einen Gegenstand wie das Ziehen einer Linie, wie die Bewegung des Lichtstrahls, der auf ein Objekt trifft. Das geht jedoch nicht, ohne dass man sich den Ausgangspunkt dieser Bewegung als einen Ort für den Geist vorstellt, der die Dinge immer auf Abstand hält, könnte er sie sonst doch nicht von sich abheben und unterscheiden. So wie die Differenz die Bedingung der Referenz darstellt, ist die Selbstreferenz an einen Ort gebunden, der durch das immer gleiche Intervall vom Horizont des Denkens getrennt ist. Daher liegt zwischen dem Mittelpunkt und dem Umkreis des Denkens ein Intervall, das mit dem Radius des Geistes übereinstimmt und einen (imaginären) Denk- und Anschauungsraum umschreibt (Zirkumferenz), der einer kreisförmigen Fläche gleicht. Die Arbeit des Geistes besteht darin, diesen Raum auszumessen und, wenn möglich, über den gegebenen Horizont hinaus auszudehnen. Sie kann aber niemals die ganze Sphäre erfassen, die diesen Denkund Anschauungsraum umfasst. Diese kugelförmige Sphäre bildet sozusagen das Jenseits der menschlichen Erkenntnis. Mit dem Verhältnis vom Mittelpunkt des Kreises zur Zirkumferenz ist dem Geist ein Bereich der Anschaulichkeit gegeben, in den er die archetypischen Figuren der Geometrie einzeichnen kann. In diesem Sinne stellt die physikalische Ordnung, die Kepler in seinem „Mysterium Cosmographicum“ (Erstausgabe 1597) entworfen hatte, zugleich ein Bild der Welt und ein Selbstbildnis des Geistes dar. Grundlage dieser Konfiguration war eine Entdeckung, die Kepler 1595 gemacht hatte, als er seinen 49 Samsonow, Erzeugung des Sichtbaren (wie Anm.35), 17. 50 Ebd.27f.
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Studenten in Graz anhand einer schematischen Zeichnung die Konstellation von Saturn und Jupiter vor Augen führen wollte. Dabei ergab sich das Bild eines fast gleichseitigen Dreiecks, dem ein Kreis eingeschrieben und ein anderer umschrieben war. Der Abstand zwischen den Kreisen schien der Distanz zwischen den Umlaufbahnen der beiden Planeten zu entsprechen, was Kepler auf den Gedanken brachte, sein Diagramm um die anderen regelmäßigen Figuren der Geometrie zu erweitern und so die Verhältnisse im Planetensystem gemäß der Musteranlage zu erfassen, die sich aus dem Ensemble der platonischen Körper ergab. Indem die schematische Zeichnung das Planetensystem diagrammatisch erfasst, lässt es erkennen, wie der menschliche Geist die Welt auslegt. In diesem Sinne ist die geometrische Zeichnung, die dem Menschen ein Schema der intellektuellen Ordnung liefert, gerade kein Abbild der sinnlich wahrnehmbaren Welt, sondern eine Form der Veranschaulichung, die dem Geist Aufschluss über seine eigene Tätigkeit liefert – darüber, wie er die Welt per Konfiguration oder Re-Konfiguration ordnet und in geordnete Bahnen, in Gedankenbahnen, lenkt. Das bedeutet zugleich, dass ein Diagramm, das dieser Bestimmung entspricht, die Unterscheidung von diskursiven und präsentischen Formen unterläuft. Es ist das Medium anschaulichen Denkens. Und das heißt wiederum: Man kann diagrammatische Operationen, wie im „Somnium“, auch ohne Bilder vollziehen, jedenfalls ohne die Bilder, die Kepler „picturae“ genannt und von den Produkten der Einbildungskraft abgesetzt hatte. Die Mondgeographie, die das Weltbild der Leser verändert, entsteht allein im Denk- und Anschauungsraum des Geistes. Der Traumtext lädt den Leser zu einer Reise durch diesen Raum ein und führt ihm so neben der Mondgeographie die Szenographie des Denkens vor Augen. „In allen seinen Büchern und Abhandlungen“, schreibt Beatrix Langner über Kepler, „wird Naturwissenschaft als praktische Erkenntnistheorie praktiziert, die den Leser am diskursiven Verfahren der Wahrheitsfindung teilnehmen lässt.“ 51 Von daher kann Kepler beispielsweise an einer Stelle des „Somnium“ sagen: „Hier kehre ich zurück zur Betrachtung der Natur der Körper, indem ich die Einbildungskraft bemühe.“ 52 Auf diese Idee wäre Galilei wohl kaum verfallen, da für ihn alles auf die sinnliche Gewissheit ankam. Dass diese jedoch erst einmal hergestellt werden muss, war auch ihm, dem Experten der Mondbeobachtung, klar.
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51
Langner, Leitfaden (wie Anm.25), 209.
52
Kepler, Traum (wie Anm.25), 47.
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Seleniten und Experten der anderen Welt Die Debatte über das Leben auf dem Mond im 17. und 18.Jahrhundert von Bernd Roling
This paper deals with the transfer of knowledge about planets, especially the moon. It focuses on the academic discussion about life on the moon in the seventeenth and eighteenth century and on the conflicts between scholars who represented different interpretations. Agents of different disciplines like theology, philosophy or physics were involved in such discussions. They tried to push their respective interpretations. On the one hand the supporter of a hypothesis of extraterrestrial population substituted the principle of analogy, the almightiness of God and the principle of variety and wealth. On the other hand their theological opponents emphasized the singularity of earth and mankind. Thirdly agents of natural science put forward massive variations in temperature or the absence of air and water.
I. Einleitung In seinem berühmten Roman „Solaris“ verhandelt Stanisław Lem ein Thema, das zu den Grundelementen der Science Fiction-Literatur gehört, die Kommunikation mit außerirdischer Intelligenz. Andrej Tarkowskij hatte daraus einen Film machen können, der Lems Roman weit hinter sich ließ und das Thema in ein theologisches Drama verwandelte. Lems Anliegen war im Jahre 1961 vielleicht trivialer gewesen. Fast wie eine Fallstudie dekliniert Lem, was passieren konnte, wenn Menschen wie im Fall von Solaris auf einen außerirdischen Organismus trafen, einen plasmatischen Ozean, der den ganzen Planeten erfüllte und sich jeder menschlichen Zuschreibung entzog, einen infantilen Gott, wie ihn Lem apostrophiert. 1 Wie kann Kommunikation mit einem Individuum stattfinden, das keine Individualität und keinen Begriff von Abgetrenntheit mehr kennt, weil es alle Distinktheit in seiner Evolution längst überwunden hatte und stattdessen beginnt, die Gedanken, die es bei seinem humanoiden Gegenüber liest, einfach durch Schöpfung zu reproduzieren? Mittelbar macht Lem auf den entscheidenden Denkfehler aufmerksam, der die ganze Debatte um außerirdische Lebensformen fast durchgehend begleitet hatte,
1 Stanisław Lem, Solaris. Aus dem Poln. übers. v. Irmtraud Zimmermann-Göllheim. Berlin 2012 (polnische Erstausgabe 1961).
DOI
10.1515/9783110576030-005
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die naive Grundannahme, dass das Leben, auf das man träfe, wenn es sich nicht in exobiologischen Anfangsgründen erschöpft, kommunikabel wäre, ja anthropomorph und seine kohlenstoffbasierte Intelligenz auf Augenhöhe mit dem Menschen agieren musste. Warum sollte das der Fall sein? Weil der Mensch es nicht anders gewohnt war? 2 Die Auseinandersetzung um außerirdisches Leben ist kein Produkt der Astrobiologie des zwanzigsten Jahrhunderts, auch nicht der Wissenschaft oder Science Fiction-Literatur des 19., sondern hat ihre Vorgeschichte und ihr Fundament in den gelehrten Kreisen des 17. und 18.Jahrhunderts. Sie hat große Autoren wie Kant zu Stellungnahmen veranlasst, aber auch zahlreiche heute vergessene Stimmen hervorgebracht. Sie war eine der großen Debatten der Barockphilosophie und der Aufklärung, anhand welcher grundlegende Fragen verhandelt wurden: die Einzigartigkeit der menschlichen Natur, der Geltungsanspruch des Christentums, aber auch die Reichweite physikalischer Erkenntnis und die mit ihr verbundene Deutungshoheit jener Experten, die über das entsprechende Wissen verfügten. Das Thema hat bereits Interesse auf sich gezogen; vor allem die Monographien von Michael Crowe, Karl Guthke, Steven Dick und in finnischer Sprache und deshalb vielleicht weniger stark rezipiert, Jyrki Siukonen, sollten hier hervorgehoben werden. 3 Die Rekonstruktion der Kontroverse um mögliches Leben auf dem Mond und an-
2 Unter vielen Autoren, die sich aus astrobiologischer und evolutionstheoretischer Perspektive der Frage nach der Möglichkeit extraterrestrischer Existenzformen widmen, seien als jüngere Beispiele genannt: J. Woods Hayley, How Likely is Extraterrestrial Life? Berlin 2012; Milan M. Ćirković, The Astrobiological Landscape. Philosophical Foundations of the Study of Cosmic Life. Cambridge 2012; Ray Jayawardhana, Strange New Worlds. The Search for Alien Planets and Life beyond our Solar System. Princeton 2011. Zur Frage möglicher Kommunikationsformen z.B. Fernando J. Ballesteros, E. T.Talk: How Will We Communicate with Intelligent Life on Other Worlds? New York 2010, 95–196. 3 Karl S. Guthke, Der Mythos der Neuzeit. Das Thema der Mehrheit der Welten in der Literatur- und Geistesgeschichte von der kopernikanischen Wende bis zur Science Fiction. Bern/München 1983; Steven J. Dick, Plurality of Worlds. The Origins of the Extraterrestrial Life Debate from Demoncritus to Kant. Cambridge 1982; Michael J. Crowe, The Extraterrestrial Life Debate 1750–1900. The Idea of the Plurality of Worlds from Kant to Lowell. Cambridge 1986; Jyrki Siukonen, Muissa maailmoissa. Maapallon ulkopuolisten olentojen kulttuurihistoriaa. Helsinki 2003. Wertvoll ist außerdem Eberhard Knobloch, Vielheit der Welten – Extraterrestrische Existenz, in: Wilhelm Voßkamp (Hrsg.), Ideale Akademie. Vergangene Zukunft oder konkrete Utopie? Berlin 2002, 165–186. Es ist nicht einfach, der Gelehrsamkeit dieser exzellenten Arbeiten viele neue Quellen hinzuzufügen. Das Augenmerk soll daher im Folgenden ebenso auf das in diesen Studien noch unberücksichtigte Expertenwissen der protestantischen Schulphilosophie und Neuscholastik gelegt werden wie auf die theologische Komponente.
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deren Himmelskörpern neigt in ihrer Darstellung dennoch, wie hier gezeigt werden soll, zu einer Überbewertung des futuristischen Aspektes, als wäre sie in der Frühen Neuzeit eine große Vorgeschichte der Science Fiction-Literatur des 19.Jahrhunderts gewesen, miteingeschlossen eben jene Fixierung auf jene vielleicht nur noch farbig abgegrenzten humanoiden Wesen, die auch die UFO-Kultur noch bereichern. Hier sollen daher auch jene Autoren zu Wort kommen, die dem bewohnten Mond eine Absage erteilt hatten, jenen besonnenen, oft ineinander verwobenen Zirkel von Experten der Physik und Theologie, die in ihrem fachtypischen Jargon den Mond und die Planeten, die ihre Kollegen schon mit blühendem Leben erfüllt hatten, wieder entvölkern wollten. Gerade wenn man tiefer gräbt und sich in die Niederungen der Disputationskultur und der Schulphysik begibt, wird man feststellen, dass ihre Vertreter zahlreicher waren, als man es vermuten könnte. Im ersten Teil dieses Beitrags wird deutlich werden, wie die Debatte um das Leben auf den Sternen bis zur Mitte des 17.Jahrhunderts mit fast ausgewogenen Argumenten, ohne eine feste Entscheidung ausgetragen wurde, mit Überlegungen, die sich der von Stanisław Lem vorgebrachten Skepsis gegenüber dem Humanozentrismus an die Seite stellen lassen. Der zweite Teil dieser Studie wird zeigen, dass es mit dem Beginn des 18.Jahrhunderts vor allem Denkern, die von philosophischen und nicht mehr rein astronomischen Motiven geleitet waren, gelang, das physikalische Expertenwissen zu marginalisieren oder es zumindest der Philosophie zu unterwerfen. Ergebnis war jene futuristische Begeisterung, die wir heute vor allem mit der Aufklärung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts verbinden. Der dritte und letzte Teil wird dann vor Augen führen, wie sich die Theologie im Fahrwasser dieser Erfolgsgeschichte zum Fürsprecher der Außerirdischen machen konnte. 4
4 Die Frage nach möglichen theologischen Konsequenzen außerirdischer Lebensformen ist eine eigene Untersuchung wert. Mögliche Folgerungen für die Reichweite und Adaptationsfähigkeit der christlichen Theologie diskutieren z.B. David Wilkinson, Science, Religion, and the Search for Extraterrestrial Intelligence. Oxford 2013, dort bes. 130–172; George V. Coyne, The Evolution of Intelligent Life on Earth and Possibly Elsewhere. Reflections from a Religious Tradition, in: Steven J. Dick (Ed.), Many Worlds. The New Universe and Its Theological Implications. Cambridge 2000; Ernan McMullin, Life and Intelligence far from Earth. Formulating Theological Issues, in: Dick (Ed.), Many Worlds, 151–176; aus stark katholischer Perspektive Thomas O’Meara, Vast Universe. Extraterrestrials and Christian Revelation. Collegeville 2012, hier bes. 19–49; und jetzt vor allem Christian Weidemann, Christian Soteriology and ETI-Hypothesis, in: Journal of the British Interplanetary Society 67, 2014, 418–425, und ders., Did Jesus Die for Klingons too?, in: Paul Levinson/Michael Waltemathe (Eds.), Touching the Face of the Cosmos: On the Intersection of Space Travel and Religion. New York 2016, 119–129, der sicher den besten Beitrag liefert. Vorangegangen ist diesem
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II. Erste Hypothesen zur Unendlichkeit des Kosmos und der Notwendigkeit des Lebens 1. Die Reichweite des Analogieschlusses: Cusanus, Schyrlaeus de Rheita und Galilei Dass die Gestirne nicht weniger bewohnt sein konnten als die Erde, hatten schon die antiken Autoritäten bekräftigt, darunter Macrobius in seinem „Somnium Scipionis“ und vor allem Plutarch 5, dessen Schrift „Über das Gesicht im Mond“ zum festen Bestandteil aller doxographischen Erörterungen wurde, die man dem Thema voranstellen sollte. 6 Wichtig für die frühmoderne Auseinandersetzung war ein spätmittelalterlicher Philosoph gewesen, Nicolaus von Kues, der in seiner Abhandlung „De docta ignorantia“ vielleicht als erster Denker Betrachtungen anstellt, ob sich auf dem Mond und darüber hinaus höheres Leben finden ließ. 7 Cusanus hatte weder ein Fernrohr zur Hand, noch hatte er ahnen können, wie sehr seine Kirche hundert Jahre später die Anhänger des heliozentrischen Weltbildes bekämpfen würde. Sein Argument für den belebten Kosmos ist philosophischer Natur: Wenn das Universum die göttliche Unendlichkeit spiegeln sollte, hatte der Kosmos seinen Mittelpunkt überall und die Hierarchisierung von Erde, Sonne, Mond und Planeten musste an Bedeutung verlieren. Die Erde konnte nicht mehr der einzige bewohnte Himmelskörper sein; menschenähnliches Leben war auch auf anderen Gestirnen vorgesehen. Gott hatte dieses Leben weiträumig und mit unterschiedlicher Gewichtung von Geist und Materie verteilt; es glich und unterschied sich in seiner Variation wie die Finger einer Hand. Gerade, um dem Aspekt der Vielheit Rechnung zu tragen, mussten die Bewohner der Planeten dabei, wie Cusanus weiter ausführt, in ihrer Gestalt
Diskurs eine Debatte in den fünfziger Jahren des 20.Jahrhunderts aus dem Vorfeld des II. Vaticanums; dazu z.B. Domenico Grasso, La teologia e la pluralità dei mondi abitati, in: La Civiltà Catholica 103, 1952, 255–265; Joaquín Salaverri, La posibilidad de seres humanos extra-terrestres ante el dogma católico, in: Razón y Fe 148, 1953, 23–43; und Angelo Perego, Origine degli esseri razionali estraterreni, in: Divus Thomas 61, 1958, 3–24. Der Artikel „Sternenbewohner, theologisch“, in: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 9. Freiburg 1964, 1062, stammte immerhin von Karl Rahner, doch wurde er in die neue Auflage nicht aufgenommen. 5 Ambrosius Theodosius Macrobius, Commentarii in Somnium Scipionis. Hrsg. v. Jacob Willis. Leipzig 1963, dort z.B. Liber I, c. 13, § 10, 53. 6 Plutarch, De facie in luna, in: Moralia. 15 Vols. Ed. by Frank Cole Babbitt and Harold Cherniss. Cambridge, MA 1936–1957, Vol.12, 34–223, hier bes. § 25, griechisch und englisch, 162–181. 7 Zu Cusanus’ Annahme der belebten Welten Guthke, Der Mythos der Neuzeit (wie Anm.3), 44–46; Dick, Plurality of Worlds (wie Anm.3), 40–42; Siukonen, Muissa maailmoissa (wie Anm.3), 36–50, Knobloch, Vielheit der Welten (wie Anm.3), 166f.
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der physikalischen Beschaffenheit der Himmelskörper entsprechen; einige waren in ihrer Natur vielleicht feuriger, andere stärker dem Wasser zugetan. 8 Ähnlich wie Cusanus hatte es hundert Jahre später sein großer Geistesverwandter Giordano Bruno gesehen. 9 Allein schon als Folge der unendlichen Schöpferkraft Gottes, so betont es Bruno in seiner berühmten Schrift „Vom Unendlichen“ konnte nicht nur das Universum keine Grenzen kennen, sondern auch die Anzahl der Welten, auf denen Gott intelligentes Leben angesiedelt hatte. Alle diese Welten lieferten eine Variante des bekannten Sonnensystems, gliederten sich in Sonnen, Planeten und Trabanten; zugleich mussten sie gerade in ihrer Vielheit die göttliche Vollkommenheit manifestieren. 10 Diese Einlassungen waren auch dem 17.Jahrhundert sehr bekannt. Die philosophische Euphorie des Cusanus und des erklärten Kopernikaners Bruno, die mit dem Argument der Fülle und der Varietät den Kosmos bevölkern und dem Schöpfer huldigen wollten, hatte sich aus der Erfahrungswissenschaft der nachfolgenden Epochen zu rechtfertigen. Tatsächlich hatte der sprichwörtliche Paradigmenwechsel des Kopernikus der Spekulationsfreude über das Leben außerhalb der Erde eine völlig neue Grundlage gegeben und die Argumentation der reinen Philosophie aus der Hand genommen; jetzt sollte es zuvorderst den wissenschaftlichen Autoritäten überantwortet werden, über dieses Leben zu befinden. Teleskope und die genaue Betrachtung der Erde bahnten den Weg; zum Instrument der Analyse fremder Welten wurde der Analogieschluss. Er sollte es, wie wir hier sehen werden, für mehr als 150 Jahre bleiben. Auf der Mondoberfläche erstreckten sich wie auf der Erde Berge und Täler, wie das Fernrohr offenbarte; auch andere Planeten besaßen Trabanten wie den Mond. Die Perspektive reichte leicht über das vorhandene Sphärensystem hinaus: Wenn sich die Gestirne der Fixsternsphäre wie Sonnen verhielten und nicht anders im Zentrum von rotierenden Planeten standen als die bekannte Sonne selbst, warum sollten auch diese Planeten in unserer Galaxie andere Eigenschaften aufweisen als
8 Nicolaus Cusanus, De docta ignorantia (Opera 1–2). Hrsg. v. Ernst Hoffmann/Raymond Klibansky. Leipzig 1932, Liber II, c. 12, 107–110; auch mit deutscher Übersetzung als ders., Die wissende Unwissenheit, in: Philosophisch-theologische Schriften. 3 Bde. Hrsg. v. Leo Gabriel. Wien 1964, Bd. 1, c. 12, 402–411. 9 Ausführlich zu Brunos Auseinandersetzung mit den belebten Planeten Guthke, Der Mythos der Neuzeit (wie Anm.3), 66–73; Dick, Plurality of Worlds (wie Anm.3), 63–69. 10 Giordano Bruno, De l’infinito, universo et mondi – Über das Universum und die Welten (Opera 4). Hrsg. u. übers. v. Angelika Bönker-Vallon. Hamburg 2007, dort z.B. Dritter Dialog, italienisch und deutsch, 160– 165, Vierter Dialog, 208–211.
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die Erde? Auf allen Planeten fand sich die gleiche Materie, so formulierte es schon 1601 der Atomist und Physiker Nicholas Hill 11; Gott konnte sie nach seinem Belieben zur organischen Entfaltung bringen und seine Schöpfung damit auch auf anderen Gestirnen veredeln. Überall brachte Gott daher auch Menschen hervor, wenn auch vielleicht von einer Größe, die den Proportionen ihres Heimatplaneten entsprechen musste. 12 Der Kapuziner-Astronom Antonius Schyrlaeus de Rheita, dessen Ingenieurskunst selbst den Bau der Teleskope entscheidend vorangetrieben hatte, macht sich in seinem in der Folgezeit oft zitierten „Oculus Enoch“, dem „Auge des Henoch“, zum Fürsprecher des Cusanus; zugleich liefert er jenes ästhetische Argument, das über die folgenden Jahrhunderte seine Gültigkeit bewahren sollte, das Argument der göttlichen Glorie. Die Schönheit des gottgeschaffenen Kosmos war überwältigend. Erde und Mond hatten im Menschen ihren Betrachter gefunden, der ihre elliptischen Bahnen goutieren und ihre Schönheit erkennen konnte und dem es deshalb leichtfiel, ihren Schöpfer zu preisen. 13 Seit der Erfindung des Fernrohrs wusste man, so de Rheita, mit welchen harmonisch um ihn rotierenden Monden auch der Jupiter gesegnet war und wie die Ringe den Saturn adeln konnten. War es denkbar, dass dieses Schauspiel allein dem mit Teleskopen bewaffneten Menschen vorbehalten war? Musste es nicht der göttlichen Vollkommenheit zuwiderlaufen, dass sich auf dem Jupiter keine kundigen Betrachter fanden, die ihre Bahnen als Teil der kosmischen Ordnung erkannten und auf den Schöpfer zurückführten? Die Gestirne waren also bevölkert, so de Rheita, und ihre Einwohner mussten rationale Wesen sein, die das Spiel der Planetenbahnen mit Bedeutung füllen konnten. Auch auf anderen Sternen gab es Menschen. 14 Dass die Heilige Schrift über sie keine Auskunft erteilt hatte, war unerheblich, wie de Rheita schließt, denn sie hatte das Leben auf anderen Gestirnen auch nicht ausgeschlossen. 15 Welche Unzulänglichkeiten den Vergleich mit der Erde und die Analogieschlüsse, die aus ihm gezogen wurden, von Anfang an begleiten mussten, bringt zur selben
11
Nicholas Hill, Philosophia Epicurea, Democritiana, Theophrastica proposita simpliciter non edocta.
Cologny 1601, § 278, 79f. Zu Hill auch kurz Guthke, Der Mythos der Neuzeit (wie Anm.3), 74–76. 12
Hill, Philosophia Epicurea (wie Anm.11), § 482, 186f.
13
Antonius Schyrlaeus de Rheita, Oculus Enoch et Eliae sive Radius sidereomysticus. 2 Vols. Antwerpen
1645, Vol.1, Liber IV, c. 1, Membrum III, 178–180.
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14
Ebd.180–182.
15
Ebd.182f.
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Zeit Galilei in seinem „Systema cosmicum“ zum Ausdruck. Galilei offenbart zugleich, dass sich die Dinge weniger einfach verhalten konnten, als es die cusanisch geprägten Topographen des Sonnensystems wahrhaben wollten. Ob es auf dem Mond oder den Planeten Leben gab, ob sich dort auch Regen, Blitze, Pflanzen oder Tiere antreffen ließen, war, wie Galilei festhielt, weder positiv noch negativ zu beantworten. Kein Astronom hatte das Recht, die Erfahrungen, die er auf der Erde gesammelt hatte, auf die vor seinem Fernrohr kreisenden Himmelskörper zu übertragen. Sollten der Mond oder die Planeten in der Lage sein, Leben zu beherbergen, konnte, ja musste dieses Leben eine Gestalt annehmen, die das Vorstellungsvermögen des Menschen sprengte. Ihre völlig fremden physikalischen Rahmenbedingungen mussten sich mit der Erde nicht vergleichen lassen. Galilei behilft sich mit einem Vergleich: Angenommen, ein Mensch hatte sein gesamtes Leben in einem Wald verbracht, er kannte den Boden und die Luft, Vögel und Kriechtiere, doch hatte er niemals eine Wasserfläche gesehen. Niemals würde dieser Einsiedler sich ausmalen können, dass es Wesen gab, die auch in diesem Element existieren konnten, Fische, die nicht wie die Vögel mit den Flügeln schlagen mussten, um in ihrem Element zu bleiben. Nicht anders musste es sich mit dem Leben verhalten, auf das der Mensch auf dem Mond oder dem Jupiter stoßen konnte. 16 2. Der bewohnte Mond: John Wilkins Auf den ersten Blick scheint es, als wäre die Skepsis, die Galilei sicher mit Recht artikuliert hatte, auf taube Ohren gestoßen. Astronomen wie Johannes Hevelius hatten weite Teile des Mondes in der gleichen Zeit in ihren Werken kartographiert und die Kenntnisse über die Mondoberfläche auf diese Weise in wenigen Jahren drastisch erweitert. 17 Aus einem unbekannten Trabanten war in kurzer Zeit ein schein-
16 Galileo Galilei, Dialogo di Galileo Galilei Linceo Matematico Sopraordinario dello Stvdio di Pisa e Filosofo, e Matematico primario del Serenissimo Gr. Dvca di Toscana: Doue ne i congressi di quattro giornate si discorre sopra i due massimi sistemi del mondo tolemaico, e copernicano, proponendo indeterminatamente le ragioni filosofiche, e naturali tanto per l’vna, quanto per l’altra parte. Florenz 1632, Dialogo I, 53 f. In der später vor allem zitierten lateinischen Ausgabe Galileo Galilei, Systema cosmicum, in quo in dialogis IV de duobus maximis Mundi Systematibus Ptolemaico et Copernicano rationibus utrinque propositis in-
definite disseritur. Lyon 1641, Dialogus I, 40f. Deutsch z.B. als Galileo Galilei, Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme, das ptolemäische und das kopernikanische. Übers. v. Emil Strauss. Darmstadt 1982, 1. Dialog, Erster Tag, 65f. 17 Johannes Hevelius, Selenographia sive Lunae descriptio atque accurata, tam macularum eius, quam motuum diversorum aliarumque omnium vicissitudinum, phasiumque, Telescopii ope deprehensarum de
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bar solide erschlossener Himmelskörper geworden. Im Fahrwasser dieser Traktate erscheint im Jahre 1638 eine Arbeit des englischen Bischofs John Wilkins mit dem sprechenden Titel „A Discovery of a New World, the World in the Moon“, die im Anschluss nicht nur eine Serie von Neuauflagen erfahren sollte, sondern bis zum 18. Jahrhundert auch in diversen Sprachen verbreitet wurde. 18 Es war Wilkins, der den Analogieschluss, vor dem Galilei gewarnt hatte, zur Gänze ausschöpfen konnte. 19 Die Licht- und Schattenspiele, die der Mond dem Betrachter offenbarte, waren Anlass genug, wie Wilkins betont, auch auf dem Mond nach Land- und Wassergrenzen zu suchen, die im Gegenlicht der Sonne reflektiert wurden. Wilkins sieht sich sogar imstande, aus dem geworfenen Schatten auf die Höhe dieser Mondklippen zu schließen. 20 Das Flimmern und Flackern des Mondlichtes, das Christoph Scheiner und Michael Maestlin vor allem während der Eklipse hatten beobachten wollen 21, gab einen direkten Hinweis auf das Vorhandensein einer lufthaltigen Atmosphäre, die, wie Wilkins weiter ausführt, für vergleichbare Lichtbrechungen verantwortlich sein musste. Ohne Luftausdünstungen, Evaporisationen, waren sie undenkbar. 22 Stärkere Teleskope würden noch weitere Übereinstimmungen zutage fördern. Es war kaum mit der göttlichen Vorsehung in Einklang zu bringen, wie Bischof Wilkins unterstreicht, einen mit derart komfortablen Optionen ausgestatteten Ort nicht mit Leben zu versehen. Doch war es nicht vielleicht durch die ständige Sonneneinstrahlung zu warm auf dem Mond? Der regelmäßige Regen konnte hier Abhilfe lineatio. Danzig 1647, c. 7, 161–166, lässt geozentrisches und heliozentrisches System nebeneinander bestehen. 18 Die erste Ausgabe erschien als John Wilkins, The Discovery of a World in the Moone, or a Discourse tending to prove that ‘tis probable there may be another habitable World in the Moon, or, a Discourse Tendling to Prove, that tis probable there may be another habitable World in that Planet. London 1638. 19
Zu Wilkins’ „Discovery“ Guthke, Der Mythos der Neuzeit (wie Anm.3), 132–141; Dick, Plurality of
Worlds (wie Anm.3), 97–105. Zu Wilkins und seiner Diskussion des kopernikanischen Weltbildes allgemein Gary B. Deason, John Wilkins and Galileo Galilei. Copernicanism and Biblical Interpretation in the Protestant and Catholic Traditions, in: Elsie Anne McKee/Brian G. Armstrong (Eds.), Probing the Reformed Tradition. Historical Studies in Honor of Edward A. Dowey. Westminster 1989, 313–338, hier 327–334; und vor allem Barbara J. Shapiro, John Wilkins 1614–1672. An Intellectual Biography. Berkeley 1969, 30–39. 20
Zitiert wird nach der vierten Auflage, nämlich John Wilkins, A Discovery of a New World, or a Discour-
se tending to prove that ‘tis probable there may be another habitable World in the Moon, with a Discourse concerning the Probability of a Passage thither, unto which is added a Discourse concerning a New Planet, tending to prove, that ‘tis probable our Earth is one of the Planets. London 1684, First Discourse, Proposition 7, 71–78.
150
21
Zum Flimmern der Mondoberfläche z.B. Scheiner, Rosa ursina sive Sol, Liber IV, Pars II, c. 27, 738.
22
Wilkins, A Discovery (wie Anm.20), Proposition 10, 103–108, Proposition 12, 128–141.
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schaffen. 23 Im letzten Kapitel seines Traktates meldet sich der englische Kolonist zu Wort: Vielleicht gelang es schon bald einem Francis Drake der Luft, zum Mond vorzudringen. Die Reise würde etwa dreißig Tage in Anspruch nehmen; es fehlten zwar Gasthäuser auf dem Weg, doch musste es dem Aeronauten, der die Luft durchflog wie Wasser, nur gelingen, so Wilkins, der Anziehungskraft der Erde zu entrinnen, um die Sphäre des Mondes zu erreichen. Vielleicht nährte ihn die Luft, die ihn auf seiner Reise umgab. 24
III. Die Einzigartigkeit der Welt und ihre Apologeten 1. Erste theologische Kritik: Philipp Melanchthon, Adam Tanner und Athanasius Kirchner Im Unterschied zum auskunftsfreudigen Cusanus beantwortet Wilkins trotz seiner etwas befremdlichen Zuversicht seinen Lesern nicht, wie man sich die Einwohner des Erdtrabanten vorzustellen hatte. Viele Möglichkeiten waren denkbar, die zwischen Mensch und Engel anzusiedeln waren. Ob die Seleniten vom Samen Adams waren oder im Stande der Gnade geboren wurden, so Wilkins, sollten die Theologen klären. 25 Tatsächlich lässt diese Bemerkung Wilkins erahnen, dass die Behauptung, auf dem Mond und auf anderen Himmelskörpern ließe sich intelligentes, womöglich gottgefälliges und menschenähnliches Leben finden, nicht überall auf Gegenliebe stieß. Von zwei Seiten wurde sie angegriffen und mit Expertenwissen in Frage gestellt, von Seiten der Theologie und von Seiten jener kritischen Physiker, die sich Galileis reservierter Haltung gegenüber vorschneller Vermenschlichung anschlossen. Beide Parteien mussten dem ‚Wir sind nicht allein und Gott will es‘-Optimismus eines Wilkins energisch widersprechen. Als Kronzeuge des Luthertums hatte schon Melanchthon in seiner Wittenberger „Einführung in die Physik“, noch ohne den Namen des Kopernikus zu erwähnen, jeder Möglichkeit extraterrestrischer Intelligenz einen Riegel vorgeschoben. 26 Gott 23 Ebd.Proposition 13, 142–155. 24 Ebd.Proposition 14, 156–187. 25 Ebd.Proposition 13, 145f. 26 Eine allgemeine Einschätzung der Physik Melanchthons, die für den Lutheranismus eine Schlüsselfunktion einnehmen sollte, geben die Monographien von Sachiko Kusukawa, The Transformation of Natural Philosophy. The Case of Philipp Melanchthon. Cambridge 1995, und Dino Bellucci, Science de la Nature
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hatte seinen Sohn auf die Erde geschickt, um ihn dort Mensch werden zu lassen und durch seine Passion die Erbsünde zu tilgen; allein an den Menschen war der Schöpfer also interessiert gewesen. Von einer Entsendung des Erlösers in eine andere Welt und zu anderen Wesen war in der Schrift nirgendwo die Rede gewesen. Sollte sich der Heiland womöglich auf einem anderen Planeten zu Tode bringen lassen? „Haec argumenta non sunt physica, tamen nobis consideranda.“ 27 Pierre Borel, ein hugenottischer Freigeist am französischen Hof, hatte sich in einem eigenen Traktat im Jahre 1657 die Argumente des Cusanus, de Rheitas und Wilkins’ zu eigen gemacht 28: Die göttliche Vollkommenheit forderte eine Fülle von Betrachtern ein; die Fülle und Varietät des Lebens und die Parallelen zwischen der Erde, den übrigen Planeten, aber auch den anderen Systemen im Universum verlangten die maximale Verbreitung organischer Existenz im Universum. Leben ohne den letzten Zweck eines menschenähnlichen Lebens wäre leer, also musste es auf diesen Planeten auch Leben geben, das dem Menschen vergleichbar war. 29 Damit jedoch, wie Borel mit Melanchthon zugeben muss, begannen die Probleme. Standen die Planetenbewohner in der Hierarchie über- oder unterhalb der irdischen Menschen? Hatte Christus sie ebenfalls erlöst? Oder hatte Gott einen anderen Weg gefunden, um sie von der Erbsünde zu befreien? 30 Borel ahnt, in welche Schwierigkeiten er sich zu bringen droht und bricht die Diskussion ab. Wir werden jedoch noch sehen, in welche argumentativen Fangschlingen sich die spätere Theologie begeben musste. Auch wenn es aus diesem Blickwinkel unerheblich war, ob man sich zu den Anhängern des Kopernikus zählte oder das geozentrische System Tycho Brahes favorisierte, wie die Katholiken und noch immer ein Teil der Protestanten, verwundert es kaum, dass angesichts solcher Vorbedingungen die Opposition von katholischer Seite massiv ausfallen musste. 31 Im Jahre 1621 gibt der Ingolstädter Jesuit Adam Tanner in sei-
et Réformation. La physique au service de la Réforme dans l’enseignement de Philippe Mélanchthon. Rom 1998. 27
Philipp Melanchthon, Initia docrinae Physicae, dictata in Academia Vuitebergensi. Wittenberg 1550, Li-
ber I, fol.42v–43v. 28
Kurz zu Borels Auseinandersetzung mit den belebten Welten Guthke, Der Mythos der Neuzeit (wie
Anm.3), 152–156; Dick, Plurality of Worlds (wie Anm.3), 117–120. 29
Pierre Borel, A New Treatise, proving a Multiplicity of Worlds, that the Planets are Regions inhabited,
and the Earth a Star, and that it is not of the Center of the World in the third Heaven. London 1658, c. 13– 18, 51–68.
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Ebd.c. 34, 136–141, c. 41, 167–170.
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Tycho Brahe, De mundi aetherici recentioribus phaenomenis Liber secundus. Frankfurt am Main 1610,
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ner Arbeit zu den Himmeln auf die Frage, ob die Gestirne bewohnt seien, eine eindeutige Antwort: Nein, sie waren es nicht. Die Replik des Jesuiten stützt sich dabei allein auf theologische Argumente. Die Himmelskörper, so hatte die Schrift festgehalten, dienten ausschließlich der Beleuchtung der nächtlichen Erde, aus deren Lehm Gott den Menschen als einzigen vernunftbegabten Bewohner des Kosmos neben dem Engel geschaffen hatte. Die Gestirne kamen ihm zugute, erleichterten ihm die Orientierung auf der Erde und die Zeiteinteilung, doch verfolgten keinen anderen Zweck, als dem Mittelpunkt des Kosmos, dem Menschen dienlich zu sein. Sollte die Gemeinschaft der Heiligen, die von der Offenbarung des Johannes in Aussicht gestellt worden war, wie Tanner fragt, etwa auch Außerirdische miteinschließen? Christus war zum Erlöser der Menschheit geworden; nirgendwo war in der Schrift davon die Rede gewesen, dass er seine Apostel auch auf andere Planeten geschickt hätte. Wenn jemand den Weg auf den Mond gefunden hätte, so beschließt Tanner seine paradigmatische Erörterung des Themas, dann allenfalls Henoch oder Elias, die an die Gesetze der Physik nicht mehr gebunden waren. 32 Tanners Zeitgenosse, der Paulanermönch Marin Mersenne, der dem unbedarften Bayern als Astronom und Mathematiker sicher weit überlegen war, stößt sich eher an den philosophischen Konsequenzen, welche bewohnte Planeten nach sich ziehen mussten. 33 Mersenne gesteht durchaus zu, dass die Heilige Schrift selbst keine Aussagen über das Vorhandensein von Außerirdischen trifft, auch zur Erhebung eines vergleichbaren Dogmas hatten sich weder Kurie noch Tradition in der Vergangenheit hinreißen lassen. 34 Dennoch kann Mersenne die Überlegungen seiner Zeitgenossen nicht hinnehmen; er stößt sich vor allem an den Argumenten der Fülle und Varietät. Gegen die Vielheit der Welten und menschenähnliche Kreaturen im Universum sprachen die Einheitlichkeit und Ungeteiltheit des göttlichen Willens
c. 8, 185–201. Zu Brahes Gegenmodell und seinen ersten Anhängern z.B. Robert S. Westman, Three Responses to the Copernican Theory: Johannes Praetorius, Tycho Brahe, and Michael Maestlin, in: ders., The Copernican Achievement. Berkeley 1975, 285–345; oder Ann Blair, Tycho Brahe’s Critique of Copernicus and the Copernican System, in: Journal of the History of Ideas 51, 1991, 355–377. Die zahlreichen auf Brahe basierenden Folgemodelle rekonstruiert z.B. Christine Jones Schofield, Tychonic and Semi-Tychonic World Systems. New York 1981. 32 Adam Tanner, Dissertatio peripatetico-theologica de coelis. Ingolstadt 1671, q. 4, 68f. 33 Kurz zu Mersennes Replik auf die Planetenbewohner Guthke, Der Mythos der Neuzeit (wie Anm.3), 111–113; Dick, Plurality of Worlds (wie Anm.3), 93–105. 34 Marin Mersenne, Quaestiones et Commentationes celeberrimae in Genesim cum accurata textus explicatione. Paris 1623, c. 2, versiculus II, q. 19, a. 1, Sp.1081–1085.
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und sein Wunsch nach linearen Zweckzusammenhängen. Nur eine Welt konnte die Absicht des Schöpfers in ihrer Vollkommenheit artikulieren, die übrigen, die kontingent neben ihr gestanden hätten, mussten diese Einheit selbst in Frage stellen. Gott hatte also nur eine vollkommene Erde mit vernunfthaften Wesen bevölkert. 35 Am bekanntesten ist sicher die Kritik, mit der Athanasius Kircher den bewohnten Planeten begegnete. Wir finden sie in seinem kosmologischen Lehrdialog, dem „Iter extaticum coeleste“. Wie alles bei Kircher fällt sie extravagant aus, denn Kircher lässt seine Dialogpartner eine Seelenreise absolvieren und Planet für Planet bis zur Fixsternsphäre passieren. 36 Nirgendwo stoßen die Entrückten auf Leben, auch wenn die Planeten in ihren vielfältigen, auch auf der Erde sichtbaren Gesteinsformationen wunderbar schillern konnten. Bevölkert waren die rotierenden Himmelskörper von Geistern und Engeln, doch nicht von Menschen. 37 Alle diese Planeten waren, wie der Brahist Kircher glaubte, auf die Erde als ihr Zentrum ausgerichtet und dienten ihr, die, wie auch Tanner betont hatte, wiederum allein für den Menschen geschaffen worden war. Anderer Planetenbewohner, aber auch anderer organischer Strukturen, Tiere oder Pflanzen, die auch auf der Venus oder dem Merkur nur wieder dem Menschen hätten zugute kommen müssen, bedurfte es im Kosmos nicht. 38 Kircher kann es nicht unterlassen, noch zu bemerken, dass sich mit dem Wasser, das man vielleicht dennoch auf der Venus finden konnte, zumindest eine vollgültige Taufe durchführen ließ, sollte sich wider Erwarten doch einmal ein Jude oder Heide von der Erde auf diesen Planeten verirren. 39 2. Schulphilosophische Argumente gegen die Existenz extraterrestrischer Lebensformen Viel weniger Beachtung als die philosophisch-theologische Kritik hat die Skepsis gefunden, die von Seiten der frühneuzeitlichen Naturwissenschaft gegen das Leben
35
Ebd.c. 2, versiculus II, c. 19, a. 2, Sp.1085–1096.
36
Zu Kirchers Auseinandersetzung mit dem belebten Kosmos Guthke, Der Mythos der Neuzeit (wie
Anm.3), 114–116; Dick, Plurality of Worlds (wie Anm.3), 130f., Siukonen, Muissa maailmoissa (wie Anm.3), 61–71; Knobloch, Vielheit der Welten (wie Anm.3), 167–176. Einen wertvollen Zusammenschnitt des Werkes allgemein gibt Barbara Bauer, Copernicanische Astronomie und cusanische Kosmologie in Athanasius Kirchers ‚Iter extaticum‘, in: Pirckheimer-Jahrbuch 5, 1989/90, 69–107. 37
Athanasius Kircher, Itinerarium extaticum quo mundi opificium, id est coelestis expansis, siderumque
tam errantium, quam fixorum natura, vires, proprietates, singulorumque compositio et structura, exponitur ad veritatem. Rom 1656, Dialogus II, c. 5, 352f., c. 9, 390f. und öfter.
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Ebd.Dialogus II, c. 11, 407–411.
39
Ebd.Dialogus I, c. 6, 91f.
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auf dem Mond und den Planeten vorgebracht wurde. Tatsächlich war sie in der Mitte des 17.Jahrhunderts noch weit verbreitet, doch hat ihre scheinbare Phantasiearmut die Literatur, anders als die Utopisten dieser Epoche, weniger elektrisieren können. Wir finden sie, oft begleitet von theologischen Bedenken im Räderwerk der spannungsärmeren Schulphilosophie und der Schulphysik, deren Vertreter ähnlich wie Kircher eher mit Brahe als mit Kopernikus sympathisierten. Auch hier jedoch war man in der Lage, sich den Debatten der Zeit zu stellen. Gab es Leben auf dem Mond? Waren der Mond, aber auch die Schritt für Schritt ins Blickfeld rückenden Planeten Venus, Jupiter oder Saturn der Erde wirklich so ähnlich, dass sie rationalen Kreaturen einen Lebensraum bieten konnten? Auch der Wittenberger Astronom Erhard Weigel diskutiert die Frage nach dem belebten Mond in seiner 1654 erschienenen „Geoscopia selenitarum“. 40 Entscheidendes Kriterium war, ob der Analogieschluss, den Gelehrte wie Wilkins fast ad absurdum geführt hatten, wirklich tragfähig war. Sicher konnten Erde und Mond einen ähnlichen Bestand an Elementen aufweisen, denn das ganze Universum war ja aus ihnen geschaffen worden. Etwas Substantielles entbehrte der Mond gleichwohl, die Luft. 41 Weigel weiß, dass einige Astronomen das Vorhandensein einer lufthaltigen Atmosphäre auf dem Mond durchaus behauptet hatten, darunter nicht nur die Ekstatiker des belebten Himmels wie Wilkins, sondern auch Koryphäen der Astronomie wie Christian Longomontanus 42, Julius Caesar La Galla oder der uns schon bekannte Schyrlaeus de Rheita. 43 Andere Himmelskundler jedoch, die Mehrheit und darunter vor allem Giovanni Battista Riccioli in seinem monumentalen „Almagest“, hatten die entscheidende Frage gestellt: Wenn der Mond eine Lufthülle hatte, warum konnten sich, anders als Wilkins behauptet hatte, auch mit den neuesten Teleskopen keine Lichtbrechungen und Vibrationen, keine „halones“, wie sie in der Fachterminologie apostrophiert wurden, in der Atmosphäre des Mondes fest40 Eine allgemeine Würdigung der Gestalt Weigels geben jetzt z.B. Klaus-Dieter Herbst/Stephan Kratochwil/Thomas Behme, Erhard Weigel und die Wissenschaften, in: Klaus-Dieter Herbst (Hrsg.), Erhard Weigel und die Wissenschaften. Frankfurt am Main 2013, 9–14. 41 Erhard Weigel/Heinrich Schomburg (resp.), Geoscopia Selenitarum, hoc est Disputationes astronomici de figura, magnitudine, luce, maculis, phasibus, eclipsibus, et motibus telluris e luna spectatae. Jena 1654, Disputatio I, c. 1, fol.A2r. 42 Christian Longomontanus, Astronomia danica in duas partes tributa. Amsterdam 1622, Theoricorum Liber I, dort c. 9, 165–170. 43 Julius Caesar La Galla, De phoenomenis in orbe lunae novi telecopii usus a Galileo Galilei nunc interum suscitatis physica disputatio. Venedig 1612, c. 10, 45–60.
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stellen lassen? War die Lufthülle des Erdtrabanten so rein und frei von Nebel und Wolken, dass sie immer den Blick auf die Oberfläche freigab? Nein, sie fehlte ganz und mit ihr die wesentliche Grundlage, um auf dem Mond Leben zu ermöglichen, das sich dem irdischen an die Seite stellen ließ. 44 Wer die bekannte Laterne des Diogenes anzündete, so Weigel, würde auf dem benachbarten Himmelskörper also mit Gewissheit keine Menschen antreffen. 45 Otto Guericke, der große Magdeburger Physiker, hatte auf weitere Begleiterscheinungen aufmerksam gemacht, die das Leben auf dem Mond noch erheblich unkomfortabler machen mussten. 46 Die auf die Erde ausgerichtete Umlaufbahn des Mondes hatte zur Folge, dass die Sonne nicht zwölf Stunden, sondern einen ganzen Monat lang auf seine Oberfläche scheinen musste, während die zwölf Monate des Zodiakus auf dem Mond kaum mehr als einen Monat in Anspruch nehmen konnten. Die Temperaturen auf der lichtzugewandten Seite des Mondes waren also extrem, Wolken, die sie hätten mildern können, waren nirgendwo zu erkennen. Die abgewandte Seite wiederum musste enormer Kälte ausgesetzt sein. Welche Kreatur konnte solche klimatischen Schwankungen ertragen – faktisch dreihundert Grad, was Guericke nicht wissen konnte –, die zudem von ständiger Dunkelheit begleitet waren? 47 Die Versuche mit dem Vakuum hatten Guericke darüber hinaus gezeigt, dass kein Lebewesen ohne Luft überleben konnte. Schon der einfache Vogel fiel von seiner Stange, wenn ihm die Atemluft entzogen wurde; Fische explodierten regelrecht. Wenn also überhaupt auf dem Mond Leben existierte, musste es, so Guericke, jeder bekannten „forma animalis“ zuwiderlaufen. 48 Etliche Schulphilosophen, darunter Jean-Baptiste du Hamel, Isaac Cardoso, Honoratus Fabri, aber auch Cartesianer wie Jacques Rohault gaben Guericke recht. Man war den Legenden des Altertums aufgesessen, als man vorschnell auf dem Mond
44
Giovanni B. Riccioli, Almagestum novum astronomiam veteram novamque complectens observationi-
bus aliorum, et propriis novisque theorematibus, problematibus ac tabulis promotam in tres tomos distributam. 3 Vols. Bologna 1651, Vol.1, Liber IV, c. 2, § 4, 187f. Ähnlich auch Scipione Chiaramonti, Opus de universo. 2 Vols. Köln 1644, Vol.1, Liber VIII, c. 9, 181–183. 45
Weigel, Geoscopia (wie Anm.41), Disputatio I, c. 1, fol.A2v.
46
Zu Guerickes Auseinandersetzung mit den Planetenbewohnern auch kurz Guthke, Der Mythos der
Neuzeit (wie Anm.3), 164–166; Dick, Plurality of Worlds (wie Anm.3), 116. 47
Otto von Guericke, Experimenta nova (ut vocantur) Magdeburgica de vacuo spatio, primum a D. P. Gas-
pare Schotto, e Societate Jesu, nunc ab ipso authore perfectius edita, variisque aliis experimentis aucta. Amsterdam 1672, Liber V, c. 23, 181f. 48
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Ebd.Liber III, c. 16, 92f.
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nach Leben gesucht hatte. 49 Selbst wenn, so Fabri, der Mond ohne jede Form von Wolken, Regen und umgebener Luft nur von innerem Wasser heraus belebt wurde, Wasser, das sich wie Tau durch Ausdünstung an die Oberfläche drückte, mussten diese Partikel durch die enorme Hitzeeinstrahlung in kürzester Zeit zu Boden fallen und pulverisiert werden, ohne eine belebende Wirkung entfalten zu können. 50 Wenn Gott einen bewohnbaren Himmelskörper hätte hervorbringen wollen, so Fabri im Jahre 1671, hätte er eine zweite Erde schaffen müssen; zumindest der Mond war so tot und dem Leben so feindlich, wie es nur möglich war. 51 Ähnlich zurückhaltend äußert sich auch der französische Physiker Pierre Gassendi. 52 Selbst wenn man die enorme Hitze, so Gassendi, an die sich die afrikanische Flora und Fauna gewöhnt hatten, zum Vergleich heranzog, welches Wesen war in der Lage, 340 Stunden sengende Hitze am Stück zu ertragen, um dann wieder extremer Kälte überlassen zu werden? Welche Vegetation konnte ohne jede Form von Regen, ohne Wolken oder Nebel gedeihen? 53 Wie Fabri gesteht Gassendi zu, dass Feuchtigkeit auch durch Ausdünstungen aus dem Boden erzeugt werden konnte, doch ließen sich auf der Mondoberfläche auch keine Spuren vergleichbarer Exhalationen ausfindig machen. Nirgendwo ließen sich Rudimente von Wasser entdecken. Leben auf dem Mond, aber auch auf den Planeten musste also eine Gestalt annehmen, wie Gassendi betont, die kaum mit der konventionellen Vorstellung von Leben, den bekannten Vorgängen des Werdens und Vergehens und der organischen Reproduktion und Auflösung in Einklang gebracht werden konnte. 54 Der französische Gelehrte gibt in diesem Kontext zu bedenken, was kaum einer seiner Zeitgenossen in Betracht gezogen hatte. Musste das gottgeschaffene Leben, wie Wilkins, aber auch Cusanus geglaubt hatten, zwangsläufig in anthropomorphe Variationen münden? Warum sollte jede Form von höherem
49 Jacques Rohault, Physica, latine vertit Samuel Clark. London 1718, mit den Anmerkungen von Isaac Newton Pars II, c. 25, § 24, 316–318; Jean-Baptiste du Hamel, Astronomia physica seu de luce, natura et motibus. Paris 1660, Liber II, c. 4, 117f.; Isaac Cardoso, Philosophia libera in septem libros distributa. Venedig 1673, Liber III, q. 15, 153f. 50 Honoratus Fabri, Physica, id est scientia rerum corporearum in decem tractatus distribute. 4 Vols. Lyon 1670/71, Vol.4, Tractatus 8, Praepositio 73–78, 258f. 51 Ebd.Tractatus 8, Praepositio 72, 258. 52 Zu Gassendis Einlassung zur Vielheit der Welten kurz Guthke, Der Mythos der Neuzeit (wie Anm.3), 156–164; Dick, Plurality of Worlds (wie Anm.3), 153–160. 53 Pierre Gassendi, Physica, in: Opera omnia. Vol.1. Florenz 1727, Sectio II, Liber I, c. 6, 459f. 54 Ebd.Sectio II, Liber I, c. 6, 460f.
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Leben auf den Menschen zentriert sein und in ihm seine Vollendung finden? War er zwangsläufig der Maßstab jeder Schöpfung? Stand es nicht mit der postulierten Fülle und Varietät des Lebens in Widerspruch, das Leben auf anderen Planeten auf diese Weise wieder und wieder am Menschen auszurichten, nur um ihn auf diese Weise mit Bekanntem zu konfrontieren? Gott hatte auch die Engel um seiner selbst und nicht um der Menschen willen geschaffen. Auch weite Teile der Erde, zahllose Pflanzen und Tiere, standen in keinem Bezug zum vermeintlichen Endzweck der Welt. Warum sollte Gott auf anderen Planeten in seiner vollkommenen Freiheit nicht auch Kreaturen hervorbringen, die dem Menschen zur Gänze fremd bleiben mussten und mit ihnen sein Universum bevölkern? 55 Der Helmstedter Philosoph und Ingenieur Johannes Andreas Schmidt fasst das Unbehagen an der vorschnellen anthropomorphen Belebung des Kosmos im Jahre 1679 noch einmal zusammen. Welche Argumente hatte man, um anzunehmen, dass der Mond und ihm analog auch andere Gestirne mit Leben versehen waren? Eine gewisse Erdähnlichkeit, die auf der Beobachtung der Mondoberfläche beruhte, die Fülle und Varietät des Lebens, die es zumindest plausibel erscheinen ließ, dass Gott die Gestirne nicht nur als prachtvolle Fackeln an den Himmel gesetzt hatte, um die Erde zu erleuchten. 56 Was aber sprach dagegen? Neben den exzessiven Temperaturen bei Tage und Nacht, der monatelangen Hitze und Kälte, die auch vom Gegenlicht der Erde nicht abgemildert wurden, war es vor allem die fehlende Atemluft, die „exilitas aurae“, die doch jedes Leben als Vorbedingung so dringend einforderte. Schon wer einmal die Anden bestiegen hatte, musste wissen, so Schmidt, wie sehr bereits eine dünne Atmosphäre die Atmung erschweren konnte. 57 Glichen die Lebensbedingungen auf anderen Planeten den Konditionen, die man bereits auf dem Mond durch Teleskope verifiziert hatte, dann war auf allen Gestirnen nicht nur kein höheres Leben zu erwarten, sondern gar keine Form von Leben denkbar. Sollten sich organische Strukturen antreffen lassen, so widersprach ihre Entstehung, wie auch Schmidt wiederholt, allen auf der Welt bekannten Lebensformen. Größe und klimatische Bedingungen der Planeten mussten auch das nichtmenschliche Leben ins Bi-
55
Ebd.461–463.
56
Johannes A. Schmidt/Johannes C. Layritz (resp.), Selenitas e luna procriptos sistit. Jena 1679, §§ 7–8, fol.
A3v–Br. 57
158
Ebd.§ 9, fol.Br, §§ 11–17, fol.Bv–B4v, § 20, fol.Cvf., § 31, fol.D2rf.
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zarre, ja denkbar Monströse verzerren. 58 Die Bibel kam dieser Schlussfolgerung entgegen, wie Schmidt unterstreicht. Stand zweifelsfrei fest, dass sich keine Kreaturen außerhalb der Erde fanden, konnte kein Theologe sich zu einer Debatte bemüßigt fühlen, ob diese Wesen womöglich zu taufen waren, geschweige denn, welcher Wein auf dem betreffenden Planeten für die Spendung der Sakramente verwendet werden konnte. 59 In der universitären Schulphilosophie stoßen wir noch lange Zeit auf vergleichbare Argumentationsketten. Noch Johann Hennings, ein Physiker aus Kiel und eigentlich Paracelsist, geht mit den Freunden der „planeticoli“, wie man sie nannte, hart ins Gericht. Dass sich weder Wasser in den vermeintlichen Meeren des Mondes fand, wie viele behauptet hatten, noch Luft auf seiner Oberfläche, stand für Hennings 1738 zweifelsfrei fest. Alle anderslautenden Beweisführungen, die das vermeintliche Flackern der Mondatmosphäre als Indiz gewertet hatten, hatten sich als falsch erwiesen. 60 Auch die Mondwolken, die zu beobachten sich eine Minderheit noch immer nicht entblödete, hatten ihren Ort eher in den Köpfen ihrer Beobachter als vor Ort. Wenn, so Hennings mit dem Physiker Georg Hamberger, der Mond eine Atmosphäre besaß, war sie so dünn, dass sie kein Leben erlaubte. 61 Mit größerer Wahrscheinlichkeit konnten noch die Planeten des Sonnensystems eine weniger lebensfeindliche Oberfläche bieten, vor allem Venus und Jupiter, die man seit den Beobachtungen de La Hires und Cassinis immer besser kennengelernt hatte, doch war man auch hier, wie Hennings mit Nachdruck unterstreicht, weit davon entfernt, schon feste Indizien einer lebenstauglichen Umgebung gefunden zu haben. Ob die Venus wirklich organische Existenz erlaubte, war noch nicht bewiesen worden. 62 Der Kieler Gelehrte gesteht noch zu, dass die majestätische Zahl der weiteren Himmelskörper jenseits des Sonnensystems die Optionen auf Leben außerhalb der Erde
58 Ebd.§ 21, fol.C2r, §§ 23–24, fol.C3rf. 59 Ebd.§ 22, fol.C2v, § 24, fol.C3v, § 32, fol.D3vf. 60 Johann Hennings/Johann J. Volkmann (resp.), Specimen planetographiae physicae inquirens praecipue an planetae sind habitabiles. Kiel 1738, Sectio II, §§ 11–13, 29–35. 61 Ebd.Sectio II, §§ 14–19, 36–43, § 21, 44f.; dazu Georg Erhard Hamberger, Elementa Physices methodo mathematica in usum auditorii conscripta. Jena 1735, c. 9, §§ 472–475, 351–353. 62 Hennings/Volkmann, Specimen planetographiae (wie Anm.60), Sectio II, §§ 22–34, 45–69, bes. §§ 33– 34, 68f.
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noch erhöhen konnte, doch bleibt er auch hier, was die konkrete Verifikation betrifft, zum Ende zurückhaltend. 63 Noch kategorischer fällt im Jahre 1712 die Kritik seines Zeitgenossen Heinrich Klausing aus, eines Astronomen aus Wittenberg, auch wenn bei Klausing der theologische Furor überwiegt. Auch für Klausing und seinen Korrespondenten Christian Hempel, der sein Thema weiterführt, kann der tote Charakter des Mondes, aber auch der übrigen Gestirne als bewiesen gelten. Zu divergierend war ihre vielfältig schillernde Materie, zu unterschiedlich ihre Oberfläche, zu unsicher ihre Natur und selbst ihre Anzahl. Gab es nun 14000 Fixsterne, wie Brahe behauptet hatte, oder doch sechs Millionen, wie Kepler meinte? 64 Warum vor allem hätte Gott sie, wie Klausing sich erbost, bevölkern sollen, wenn ihm die Erde doch genügen konnte? Bedurfte Gott noch des vollständig bewohnten Kosmos, um seine Glorie zu steigern? Ihm hätte es freigestanden, so Klausing, Bäume mit Diamanten zu behängen, um seine Allmacht zu dokumentieren, doch hatte er es bekannterweise unterlassen. War seine unendliche Gewalt nicht schon durch die Schöpfung aus dem Nichts ausreichend unter Beweis gestellt worden? Zog Gott einen Vorteil daraus, dass die Schönheit des Weltalls auch außerhalb der Erde wahrgenommen wurde? Er hatte sich am Anfang der Schöpfung mit Adam und Eva begnügt, also konnte die Fülle der Beobachter für ihn keine Bedeutung besitzen. 65 Warum war die Menschheit nicht in der Lage, die Leere zu ertragen, von der sie umgeben war? Genügten die Engel nicht? 66 War die bloße Größe des Himmels oder eines Gestirns ein Argument, um sie mit Leben zu erfüllen, wenn schon die Mücke in der Natur reicher und komplexer ausgestattet war als der Elefant? 67 Letzter Zweck der Gestirne war, wie Klausing zum Ende lapidar bemerkt, die Beleuchtung des nächtlichen Himmels und des göttlichen Throns, doch konnte sich ihre Sinngebung darin bereits erschöpfen. 68
63
Ebd.Sectio II, § 35, 69–71. Kurz zu Hennings auch Dick, Plurality of Worlds (wie Anm.3), 184.
64
Heinrich Klausing/Christian Hempel (resp.), De incolis planetarum dissertatio prior. Wittenberg 1717,
c. 1, §§ 10–11, fol.B3–B4v; Christian Hempel/Johann C. Seybt (resp.), De incolis planetarum dissertatio posterior. Wittenberg 1717, c. 2, §§ 1–2, fol.A2vf., § 3, fol.A4rf.
160
65
Klausing/Hempel, De incolis planetarum (wie Anm.63), c. 1, § 2, fol.A4vf.
66
Ebd.c. 1, §§ 19–21, fol.C3rf.
67
Ebd.c. 1, § 13, fol.B4v–Cv.
68
Ebd.c. 1, §§ 17–18, fol.C2rf.; Hempel/Seybt, De incolis planetarum (wie Anm.6464), c. 2, § 3, fol.B3rf.
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IV. Das belebte Sonnensystem und die Marginalisierung des physikalischen Expertenwissens 1. Fontenelle, Huygens und der extraterrestrische Roman Hatte die Schulphilosophie nicht scheinbar, zumindest was das Sonnensystem betraf, die Wahrheit auf ihrer Seite, wenn sie jedes höhere Leben ausschließen wollte? Es hinterlässt eine gewisse Verunsicherung, wenn man sich vor Augen führt, dass trotz dieser wiederholt vorgebrachten, in ihren technischen Teilen durchaus plausiblen Argumentationen zum Ende des 17.Jahrhunderts zwei Werke veröffentlicht wurden, die dem Thema der Planetenbewohner zur europaweiten Geltung verhalfen. Beide wurden in diverse Sprachen übertragen und popularisierten die drei Hauptargumente, die man für den bewohnten Kosmos geltend machte, die Analogie zur Erde, die Fülle und das Prinzip der Varietät, dem der Schöpfer im Weltall Rechnung zu tragen hatte. War die Verbreitung dieser Texte wider besseres Wissen erfolgt und unter Ausblendung der physikalischen Ergebnisse ihrer Zeitgenossen? Die Rede ist von den beiden Klassikern des Genres, von Bernard de Fontenelles „Pluralité des mondes“, der „Vielheit der Welten“, und von Christiaan Huygens „Cosmotheoros“. Fontenelles galanter, auf Entertainment angelegter Dialog war 1686 erschienen und hatte mehr als dreißig Auflagen erhalten und war damit einer der populärsten Titel des 17.Jahrhunderts. Für eine der englischen Übersetzungen zeichnete Aphra Behn verantwortlich, für die russische Version am Hofe Peters des Großen Antioch Kantemir. 69 Der erklärte Cartesianer Fontenelle bleibt dem schon von Galilei angeprangerten Anthropomorphismus treu, zugleich begreift er die Maximen der Vielheit und Fülle als bedingungslos gültig. Gott oder vielleicht auch die Natur allein hatten auf allen Planeten menschenähnliche Wesen herangebildet und sich dabei an den klimatisch-geographischen Rahmenbedingungen orientiert, die auf diesen
69 Bernard Le Bovier de Fontenelle, A Discovery of new Worlds. From French made English by Aphra Behn. London 1688; ders., Razgovory o množestvĕ mirov gospodina Fontenella Parižkoj akademii nauk sekretarja. Sankt Petersburg 1740. Zu den englischen Übersetzungen, die mehr als zwanzig Mal gedruckt wurden, und den ständigen Neuausgaben des französischen Originals, die die Zahl 30 noch überstiegen, kamen ab 1698 deutsche Übersetzungen, die von 1780 bis 1798 als „Astronomisches Handbuch für das schöne Geschlecht“ angepriesen und neu aufgelegt wurden, italienische, die ab 1748 erschienen waren, und auch polnische, schwedische und niederländische Varianten.
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Himmelskörpern vorgelegen hatten. 70 Dass schon auf dem Mond, wie Fontenelle betont, Menschen anzutreffen waren, musste dem Betrachter des Erdtrabanten ebenso wahrscheinlich erscheinen wie dem Bewohner von Paris, wenn er die Kirchtürme von Saint-Denis vor Augen hatte. 71 Auch wenn der Mond keine Wolken aufwies, genügte sein inwendiges Wasser; die wochenlange Sonneneinstrahlung konnten die Seleniten sicher kompensieren, indem sie sich einfach in ihre Höhlen zurückzogen. 72 Damit aber war es nicht genug: Natürlich diversifizierten sich die Lebensformen auf den einzelnen Planeten, je nachdem wie nahe sie der Sonne standen, wie groß die Gestirne ausfielen und wie lange sie jeweils Hitze und Kälte ausgesetzt waren. In einem langen Gespräch mit der gelehrten Marquise lässt Fontenelle fast wie Kircher Planet um Planet Revue passieren. Ihre Bewohner waren dem heutigen Menschen vielleicht noch so fremd wie einstmals die Indianer, doch etwas emphatische Phantasie konnte ihnen Gestalt verleihen. 73 Die Einwohner des Merkur standen zur Gänze unter dem Einfluss der Sonne; die ständige Hitze hatte sie sicher geschwärzt und zu Cholerikern werden lassen. Die Einwohner des Saturns dagegen mussten einen denkbar phlegmatischen Charakter besitzen. Wer konnte sagen, ob sie nicht ebenfalls Teleskope besaßen, mit deren Hilfe sie den Himmel absuchten, um in ihren Journalen der gelehrten Öffentlichkeit ihrer Heimatplaneten darüber Bericht zu erstatten? 74 Im Unterschied zu Fontenelle gab sich das 1698 erschienene Werk des Großastronomen Huygens, das mit einer erheblichen Expertise versehen war – er hatte 1659 noch die Saturnringe beschrieben – einen entschieden wissenschaftlichen Anstrich. 75 Seine Verbreitung konnte es nicht mit dem Klassiker Fontenelles aufneh-
70
Unter vielen Autoren zu Fontenelles Dialog z.B. Siukonen, Muissa maailmoissa (wie Anm.3), 72–83;
Guthke, Der Mythos der Neuzeit (wie Anm.3), 202–212; Dick, Plurality of Worlds (wie Anm.3), 123–129, 134–140, Crowe, The Extraterrestrial Life Debate (wie Anm.3), 18–21. 71
Zitiert wird nach der Ausgabe Johann Christoph Gottscheds, nämlich Bernard Le Bovier de Fontenelle, Ge-
spräche von mehr als einer Welt, zwischen einem Frauenzimmer und einem Gelehrten. Leipzig 1738, dort Zweiter Abend, 54–58. 72
Ebd.Dritter Abend, 89–99.
73
Ebd.Zweiter Abend, 78–80.
74
Ebd.Vierter Abend, 116–155.
75
Zum „Kosmotheoros“ Huygens z.B. Guthke, Der Mythos der Neuzeit (wie Anm.3), 212–217; Siukonen,
Muissa maailmoissa (wie Anm.3), 84–98; Dick, Plurality of Worlds (wie Anm.3), 127–135; Knobloch, Vielheit der Welten (wie Anm.3), 176–181; Crowe, The Extraterrestrial Life Debate (wie Anm.3), 18–22.
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men, doch waren seine Auflagen ebenfalls immens. 76 Huygens macht sich in seinem „Cosmotheoros“, dem „Weltenbeschauer“, wie er in seiner deutschen Übersetzung betitelt war, zum Apologeten des Cusanus und seines Lesers Schyrlaeus: Überall im Kosmos hatten rationale Wesen ihre Heimat gefunden, so Huygens, die das stellare Schauspiel, das sich ihnen bot, goutieren konnten und in der Lage waren, dem Schöpfer ihre Ehre zu erweisen. 77 Vordergründig wendet der Niederländer sich gegen einen Anthropozentrismus, der die Erde zum letzten Zweck aller Gestirne und Lebensformen erklären könnte. Gleichzeitig jedoch lässt Huygens keinen Zweifel daran, dass ihm der irdische Mensch in seiner Ausgestaltung und der ganzen Naturordnung, die ihn umgab, das Maß aller Dinge war, ja von ihm ausgehend auch die übrigen Planetenbewohner in einem weitreichenden Analogieschluss mit Bedeutung gefüllt werden konnten. Auf jedem Planeten war eine besondere Variante der menschenähnlichen Form beheimatet. 78 Unterschiedliche stellare Habitate erforderten voneinander abweichende Gewohnheiten und verlangten nach entsprechenden körperlichen Merkmalen. Die universale Vorsehung Gottes hatte, wie Huygens betont, dafür Sorge getragen, dass es den Bewohnern der einzelnen Himmelskörper an nichts fehlte. Die astronomischen Kenntnisse seiner Zeit, Cassinis Kartographierung der Venus oder seine eigenen Arbeiten über den Saturn, unterschlägt Huygens dabei nicht, sie helfen ihm, seine Konstruktionen plausibler erscheinen zu lassen. 79 Natürlich konnten die fünfzehn Jahre Sommer, die auf dem Saturn herrschten, die Einwohner dieses Planeten nicht unberührt gelassen haben; auch ihr Zeitgefühl ließ sich kaum dem irdischen Menschen an die Seite stellen. Ihr Leben musste um einiges langsamer verlaufen. 80 Es überwogen jedoch, wie Huygens unterstreicht, die Gemeinsamkeiten. Die Planetenbewohner lebten auf Gestirnen, die ausgehend vom Wasser als Grundstoff über wachstumsfähige Pflanzen verfügten und über Tiere, die sich wie auf der Erde fortpflanzen konnten. Ihre Umwelt sicherte ihnen Nahrung
76 Auch vom „Kosmotheoros“, der zuerst lateinisch erschienen war, sollten im Anschluss eine niederländische, mehrere englische, deutsche, französische, aber auch schwedische Übersetzungen erscheinen, die bis zum Ende des 18.Jahrhunderts unter wechselnden Titeln neu aufgelegt wurden. 77 Zitiert wird nach der deutschen Übersetzung aus dem Jahre 1767, die von Johann Jacob Bodmer besorgt wurde: Christiaan Huygens, Weltbeschauer, oder vernünftige Mutmaßungen, daß die Planeten nicht weniger geschmückt und bewohnet seyn, als unsere Erde. Zürich 1767, Erstes Buch, 25f. 78 Ebd.Erstes Buch, 37–53. 79 Ebd.Zweites Buch, 133–174. 80 Ebd.174–180.
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und Vorräte, Baustoffe und in jeder Hinsicht eine zweckmäßige Lebensgrundlage. 81 Alle Planetenbewohner, ob auf dem Jupiter oder dem Saturn, hatten die gleichen Extremitäten, einen ähnlich ausgebildeten Sinnesapparat, der allenfalls einen Sinn mehr oder weniger erlaubte, ein verwandtes Gefühlsleben, ja sogar eine ähnlich entwickelte Sexualität, Freundschaften, Literatur, Kunst und Theater. 82 Zum Ende waren alle Himmelsmenschen vernünftige Wesen mit einer Rationalität, die auf ihre Entfaltung wartete, und der Bereitschaft, in allen Bereichen der Schöpfung die göttliche Vorsehung zu erkennen. Das Analogieprinzip konnte für Huygens Allgemeingültigkeit einfordern: Wer einen Tierkadaver sezierte, fand Eingeweide vor; wer ein anderes Tier sah, konnte das Gleiche erwarten. 83 Ein Planet, der äußerlich wie die Erde erschien, und dies galt für jeden Planeten und jeden Mond, durfte der Erde in nichts nachstehen. Gleichgültig welchen Himmelskörper im Weltall der Mensch betreten würde, er würde immer auf eine leicht veränderte Fassung seiner selbst treffen. 2. Der stellare Commonwealth als neues Paradigma Fontenelles Gartenschaukelgespräche und Huygens’ ebenso vorstellungsreiche wie zum Ende phantasiearme Population des Weltraums waren zu Beginn des 18. Jahrhunderts auf ein denkbar breites Echo gestoßen. Jene Zweifel, die man noch zwei Dekaden zuvor nicht ohne Einigkeit geäußert hatte, waren wie weggeblasen. Kaum zufällig bemühten sich die Physikotheologen der Folgezeit, die zumindest in Huygens einen Geistesverwandten erkannten, um die Adaptation der scheinbar neuen Theorie. 84 Klassiker des Genres wie Bernard Nieuwentijd 85, William Derham 86, Richard Bentley 87, aber auch John Raphson oder Nehemia Grew repetierten die Planetenbewohnerhypothese, teils mehr, teils weniger euphorisch 88; sie war
81
Ebd.Erstes Buch, 30–37, 64–70, 73–82, 89–113.
82
Ebd.61–64.
83
Ebd.20f.
84
Zur Bewegung der Physiko-Theologen allgemein die Überblicke von Paul Michel, Physikotheologie.
Ursprünge, Leistung und Niedergang einer Denkform. Zürich 2008; Stebbins, Sara, Maxima in minimis. Zum Empirie- und Autoritätsverständnis in der physikotheologischen Literatur der Frühaufklärung. Frankfurt am Main 1980; und Jan Bots, Tussen Descartes en Darwin. Geloof en Natuurwetenschap in den achttiende eeuw in Nederland. Assen 1972. 85
Bernhard Nieuwentijd, The Religious Philosopher, or the Right Use of Contemplating the World of the
Creator. 3 Vols. London 1719, Vol.3, Contemplation XXIV, Section 49, 810f. 86
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William Derham, Astro-Theology: or a Demonstration of the Being and Attributes of God, from a sur-
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eine feste Begleiterscheinung der göttlichen Allmacht, der zweckhaft eingerichteten Schöpfungsordnung und unmittelbarer Beweis ihrer Vollendung. Neue Argumente hatten diese Vertreter des naturwissenschaftlichen Gottesbeweises ebenso wenig wie jene tapferen Programmschriftsteller und Disputanten, die wie der Frankfurter Schuldirektor Johann Jacob Schudt einfach die Gedanken Fontenelles und Huygens’ noch einmal zusammenfassten. 89 Eingefleischte deutsche Schulphysiker und -theologen, jener Kreis, in dem sich lange der Zweifel gebündelt hatte, wie Johannes Christoph Sturm oder Johannes Budde, hatten nach der Lektüre Huygens’ keine Skrupel, den Kosmos zur Heimat einer gewaltigen Zahl menschenähnlicher Wesen zu erklären. 90 Wenn die Erde schon 500 Vögel und 600 Fischarten enthielt, so Sturm, wie angereichert mit Leben mussten dann erst die Gestirne des Himmels sein. Wenn das Sonnensystem schon Leben barg, wieviel dann erst das Sternbild des Löwen oder der Jungfrau? 91 Nicht jeder Gelehrte akzeptierte dabei die Zwangsläufigkeit, mit der Huygens auf allen möglichen Welten die Attribute des irdischen Menschen eingefordert hatte. Christian Wolff, der Huygens sonst kaum ein Detail hinzuzufügen hatte, stellt sich in einer später gern kolportierten Fußnote seiner „Elementa matheseos“ die Frage, wie sich die Proportionen des Jupiters wohl auf die Größe seiner Bevölkerung auswirken mochten. Aus einem haarsträubenden Analogieschluss, der die Reaktion der menschlichen Pupille auf die Intensität des Sonnenlichtes zum Ausgangspunkt wählt und auf die Maße des Jupiters hochrechnet, gelangt er zu einer Größe von drei-
vey of the Heavens. London 1731, Ndr. Hildesheim 1976, Book II, c. 2, 36–41. Zu Derham auch kurz Dick, Plurality of Worlds (wie Anm.3), 151–154; Crowe, The Extraterrestrial Life Debate (wie Anm.3), 25f. 87 Richard Bentley, A Confutation of Atheism from the Origin and Frame of the World. London 1693, Third Part, 4–9. Kurz zu Bentley auch Guthke, Der Mythos der Neuzeit (wie Anm.3), 218–220, Dick, Plurality of Worlds (wie Anm.3), 144–150, Crowe, The Extraterrestrial Life Debate (wie Anm.3), 22–24. 88 John Raphson, Demonstratio de Deo sive methodus ad cognitionem Dei naturalem brevis ac demonstrative. London 1712, Epistola 10, 152–157; Nehemia Grew, Cosmologia sacra, or a discourse of the Universe, as it is the Creature and Kingdom of God, chiefly written to demonstrate the Excellence of the Bible. London 1701, Book I, c. 2, §§ 29–30, 10f. 89 Johann J. Schudt, Libri duo de probabili mundorum pluralitate cum appendice orationis de nihilo. Frankfurt am Main 1721, passim, bes. Liber I, 1–31. 90 Johann F. Budde, Theses theologicae de atheismo et superstitione variis observationibus illustratae. Jena 1722, c. 5, § 4, 380. 91 Johann C. Sturm, Physicae electivae sive Hypotheticae tomus secundus: partem Physicae specialis complectens. Nürnberg 1722, Sectio II, Membrum II, a. 5, c. 3, §§ 6–7, 1019f.
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zehn Fuß. 92 Spätere Kritiker Wolffs konnten nüchtern anmerken, dass ja auch die sonnenerfahrenen Elefanten im Vergleich zur Körpermasse relativ kleine Pupillen hatten. 93 Auch in den genuinen Astronomien, in denen man lange Zeit Zurückhaltung geübt hatte, lässt man seiner Begeisterung für das extraterrestrische Leben mit dem Beginn des 18.Jahrhunderts freien Lauf. Joseph Jérôme de Lalande, eine Koryphäe seines Faches, bemerkt fast euphorisch: 75 Millionen Sterne förderte ein zeitgenössisches Teleskop von etwa 20 Fuß zutage; das Vorstellungsvermögen konnte diese Grenzen noch explodieren lassen. Überall konnten sich bewohnte Welten verorten. 94 Selbst dass dem Mond Luft und Wasser abgingen, war, wie Anders Celsius im Jahre 1743 betont, kein Grund mehr, um ihm die Bewohner abzusprechen. 95 Die Argumente für das Leben im ganzen Universum, auf den tausenden von Himmelskörpern, waren so evident, dass sie die Abwesenheit von Leben auf dem Mond nur falsifizieren konnten; ein unbelebtes Gestirn war nicht mehr denkbar. 96 Schließlich blieb auch für den Mond noch immer die Option bestehen, so betont es William Whiston in seinen „Astronomical Principles of Religion“ zur gleichen Zeit, die lebenserhaltende Feuchtigkeit einfach aus dem Mondinneren emporsteigen zu lassen. 97 Schon 1729 macht sich de Lalandes Kollege, der Jesuit Louis Bertrand Castel, Gedanken darüber, wie man die Kluft, die ohne Zweifel zwischen den Lebensformen der verschiedenen Himmelskörper bestand, überbrücken konnte, falls man irgendwann in der Lage sein sollte, auf einem anderen Planeten zu landen. Castels Hypo-
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Christian Wolff, Elementa matheseos universae tomus III, qui opticam, perspectivam, catoptricam, di-
optricam atque astronomiam tam sphaericam, quam theoricam complectitur. Halle 1735, Theorema 7, Scholion, § 527, 576f. Kurz zu Wolff auch Guthke, Der Mythos der Neuzeit (wie Anm.3), 225f., und Dick, Plurality of Worlds (wie Anm.3), 181. 93
Salvator M. Roselli, Summa philosophica ad mentem S. Thomae Aquinatis. 4 Vols. Madrid 1783–1788,
Vol.3, II/II, q, 10, a. 3, § 412, 254f. 94
Jérôme Lalande, Abrégé d’Astronomie. Paris 1795, Livre XI, §§ 976–978, 560f.
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Kurz zu Anders Celsius’ Disputationen Siukonen, Muissa maailmoissa (wie Anm.3), 144f.; Dick, Plura-
lity of Worlds (wie Anm.3), 182. Und jetzt den kommentierten Reprint von Anders Celsius, Om existensen av flera världar. En dissertation under Anders Celsius, översatt och kommenterat av Krister Östlund, med ett efterord av Staffan Rodhe. Uppsala 2017. 96
Anders Celsius/Isaac Svanstedt (resp.), Dissertatio philosophica de pluralitate mundorum. Uppsala
1743, § 12, 10f. 97
William Whiston, Astronomical Principles of Religion, Natural and Reveal’d in Nine Parts. London
1725, Part V, 95–97. Kurz zu Whiston auch Guthke, Der Mythos der Neuzeit (wie Anm.3), 192, 222; Dick, Plurality of Worlds (wie Anm.3), 151, 156.
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these ist tragfähiger als die naiven Ideen Bischof Wilkins’. Die Lösung war Assimilation und bestand in einer Art von Biosphären-Raumschiff. Ohne irdische Nahrung, Wasser und eine erdähnliche Luft musste eine Kreatur, wie Castel zugibt, auf dem Mond oder dem Jupiter binnen kurzer Zeit elend zugrundegehen. Warum aber siedelte man sie nicht mit einem Stück des Erdbodens und einem Teil ihrer Atmosphäre, wie in einer riesigen Phiole, auf dem neuen Planeten an und gab ihr zwanzig oder dreißig Jahre Zeit, um sich in ihrem Stoffwechsel mit der Mond-Luft und dem MondWasser vertraut zu machen? Schritt für Schritt könnte sie sich die fremde Umgebung in ersten Materiepartikeln aneignen. Nach entsprechender Eingewöhnung ließen sich das Tier oder die Pflanze dann ungeschützt in der neuen Heimat aussiedeln; der Jupiter hätte alle Gefahr verloren. 98 3. Die theologische Opposition als Reservat der Physik Fontenelle und Huygens hatten nicht nur das physikalische Expertenwissen ihrer Vorgänger durch ihre Begeisterung für den Gegenstand gleichsam pulverisiert, auch das Werkzeug der Theologen hatte sich dem eigenartigen Umschwung in den Mentalitäten anpassen können oder vielleicht auch müssen, wie hier zum Ende gezeigt werden soll, wenn auch weniger leicht und vielleicht vergeblich. Auf Seiten der Katholiken blieb die Kritik an den bewohnten Welten einhellig; zugleich stellt man fest, dass erstaunlich viele, heute völlig vergessene Theologen in ihren ThomasKommentaren und Handbüchern bereit waren, auf diese Fragen einzugehen, ja vor allem an den jesuitisch geprägten Universitäten der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts sogar zahlreiche Abhandlungen zu diesem Thema entstanden. 99 Hier, im katholischen Milieu, hatten paradoxerweise auch die physikalischen Bedenken ihr Reservat gefunden. Im Jahre 1756 fragt der polnische Jesuit Andreas Jaszlinsky in seinem Physik98 Louis Bertrand Castel, Traité de physique sur la pensateur universelle des corps. 2 Vols. Paris 1724, Vol. 1, Scholion generale, 288–295. 99 Als Beispiel Karl Dillherr, De universi systemate, corporum gravitate, fontium origine et planeticolis. Wien 1749 ; oder Gaspar Savoy/Giuseppe A. Widmann (resp.), Dissertatio de planeticolis. Trient 1770. Leider waren mir die Texte dieser beiden Jesuiten, die sich nur noch in italienischen Bibliotheken finden lassen, nicht zugängig. Hierzu ausführlich Guido Callegari, Le idee sulla pluralità dei mondi di G. A. Widmann di Coredo, in: Atti dell’imperial regia Academia Roveretana 13, 1907, 249–267; und mit wichtigen Bemerkungen zum jesuitischen Umfeld Stephan Tilg/Martin Korenjak, Philosophie und Naturwissenschaft, in: Martin Korenjak/Florian Schaffenrath/Lav Šubarić/Karlheinz Töchterle (Hrsg.), Tyrolis latina. Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol. Bd. 2. Wien 2012, 831–861, hier 837f.
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handbuch, warum die kritischen Einwände der Vergangenheit nicht mehr zur Anwendung gelangen. Hatte man das Fehlen einer Mondatmosphäre nicht schon Jahre zuvor bewiesen? Warum sollten die Planeten stattdessen mit einer andersgearteten Oberfläche versehen sein, die Leben ermöglichte? 100 Und wenn die Bahnen, so Jaszlinsky, die von diesen Planeten und ihren Trabanten gezogen wurden, nicht ohne Betrachter existieren konnten, warum hatte Gott nicht auch in der Sonne, deren Unwirtlichkeit auf der Hand lag, Kreaturen angesiedelt? Warm und hell genug war es ja. 101 Neuscholastische Theologen wie Lorenzo Altieri, Johannes Falck oder Salvator Maria Roselli bringen das Dilemma, dem die Theologie zur gleichen Zeit ausgesetzt war, mit immer der gleichen Argumentation auf den Punkt 102: Wenn die Planeten bewohnt waren, dann von rationalen Kreaturen oder ausschließlich von irrationalen. Lagen keine rationalen Wesen vor, hatte man es mit Tieren zu tun. Warum aber sollte Gott Tiere hervorbringen, wenn sie am Ende keinen Menschen zugutekamen? Eine Naturordnung ohne ein menschenähnliches Wesen als letztes Ziel war undenkbar. Wenn der fremde Planet also von rationalen Kreaturen bevölkert wurde, mussten es Menschen sein. Dann aber stellte sich die entscheidende Frage, die schon Melanchthon antizipiert hatte: Waren sie aus dem Samen Adams hervorgegangen? Falls nicht, waren sie vom Sündenfall nicht berührt worden, dann jedoch hätte Gott in seiner Vorsehung neben dem Engel und dem Menschen ein Wesen geschaffen, das der Gnade nicht bedurfte. Warum aber hatte er dann überhaupt noch die Erde mit freien Menschen besiedelt? Wenn die Bewohner des, sagen wir Jupiter, sich von Adam herleiteten, wie waren sie dort hingelangt? Hatte Gott sie paarweise auf die anderen Planeten geschafft? Gesetzt den Fall, er hätte es getan, mussten die Nachkommen dieser stellaren Pärchen nicht auch in den Genuss der Gnade kommen? Wie gelangten sie an die Offenbarung? Wie verschaffte Gott ihnen die Sakramente? Wie konnten sie in die Kirche eingegliedert werden? 103 Spätestens jetzt war jedem 100 Andreas Jaszlinsky, Institutiones physicae sive Physica particularis. 2 Vols. Tornau 1756, Vol.2, Pars II, Dissertatio I, Sectio III, § 112, 60f.
101 Ebd.§ 113, 61. 102 Lorenzo Altieri, Elementa philosophiae in adolescentium usum. 3 Vols. Venedig 1790, Vol.3, Physica particularis, Appendix, §§ 364–371, 125–128; Joseph Falck,, Mundus aspectabilis philosophice consideratus. Augsburg 1740, Contemplatio 8, § 5, 158–169; Roselli, Summa philosophica (wie Anm.93), Vol.3, q. 10, a. 3, §§ 412–424, 254–261; ähnlich z.B. auch Carl Scherffer, Institutiones physicae. 2 Vols. Wien 1763, Vol.2: Physica particularis, Exercitatio I, a. 4, 83f. 103 Roselli, Summa philosophica (wie Anm.93), Vol.3, q. 10, a. 3, § 418, 58f.; Altieri, Elementa philosophiae (wie Anm.102), Vol.3, Physica particularis, Appendix, § 365, 126f.
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Kleriker klar, dass er besser daran tat, sich die Haltung jener Physiker zu eigen zu machen, die mit dem Mond auch Merkur, Venus, Jupiter und Saturn und mit ihnen auch alle anderen Himmelskörper für so heiß, kalt, trocken, wasser- und luftarm gehalten hatten, dass jede Form von organischer Existenz sich kategorisch erübrigen musste. Vielleicht hatte man gut daran getan. 4. Die Aufklärungstheologie und der belebte Kosmos Protestantische Theologen nahmen den Kampf auf, gaben sich, wie so oft modern und versuchten, ihren Begriffsapparat den Seleniten oder Marsianern anzupassen. Die ersten Versuche nehmen sich noch bescheiden aus, doch lassen sie Gelehrte wie Borel schon hinter sich. Andreas Ehrenberg, Pfarrer in Orlamünde, hatte sich der Planetenbewohner in mehreren begeisterten Traktaten angenommen, auch wenn seine Argumente für ihre Existenz nicht mehr neu waren. 104 Wie aber ließen sie sich in die Heilsgeschichte einordnen? Wenn die Einwohner des Jupiters vernünftig waren, waren sie auch frei. Satan und seine Engel waren nicht an den Raum gebunden, es musste dem Teufel leichtfallen, von Planet zu Planet zu springen, um der ansässigen Bevölkerung, in welcher Gestalt auch immer, einen Sündenfall attraktiv erscheinen zu lassen. Wie die Versuchungsszenarien vor sich gegangen sein könnten, musste dabei, wie Ehrenberg betont, ebenso offenbleiben wie die konkreten Konsequenzen, die sie nach sich gezogen hatten. Vielleicht gab es Planeten, die standhaft genug gewesen waren, um das Angebot des Teufels zurückzuweisen. 105 Jene jedoch, die der Jupiter- oder Marsvariante Satans nachgegeben hatten, bedurften des Erlösers, damit aber auch einer Offenbarung. 106 Nach unserem Tod, so Ehrenberg, würden wir auch den gerechten Außerirdischen gegenübertreten, die in die Gemeinschaft der Heiligen eingegliedert wurden. 107 Wie aber sollte diese Erlösung der fremden Intelligenzen vor sich gehen? Der 104 Zu Ehrenbergs Traktaten auch Guthke, Der Mythos der Neuzeit (wie Anm.3), 183–185; Crowe, The Extraterrestrial Life Debate (wie Anm.3), 34. 105 Harenius Geierbrand (Andreas Ehrenberg), Curiose und wohlbegründete Gedancken von mehr als einer Bewohnten Welt, vernünfftig und deutlich vorgestellet. Jena 1718, § 98, 152–154. In §§ 18–20, 20–23, §§ 28–31, 34–40, §§ 37–38, 47–50, § 41, 56–59, § 72, 107–111, § 96, 144–151, repetiert Ehrenberg die etablierten Argumentationen zugunsten des belebten Kosmos. Noch einmal geht Ehrenberg auf diese Frage ein in: Andreas Ehrenberg, Noch unumgestoßene Vielheit der Welt-Kugeln, oder daß die Planeten Welt-Kugeln seyn, ferner erläutert und behauptet wieder Tit. Hn. D. Joh. Georg Petschen. Jena 1717, § 4, 40–47. 106 Geierbrand (Ehrenberg), Curiose und wohlbegründete Gedancken (wie Anm.105), § 99, 154. 107 Ebd.§ 100, 155f.
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französische Freidenker Jean Terrasson macht sich einige Jahre später die Mühe, seinem Publikum die möglichen Folgeerscheinungen auszumalen, die mit einer solchen gleichsam multiplizierten Variante der Erlösung verbunden waren. 108 Liebe und Gerechtigkeit des Schöpfers durften vor keiner rationalen und willensfreien Kreatur haltmachen. Auf der bekannten Welt hatten die Fleischwerdung Christi, die Inkarnation, die Geburt durch eine Jungfrau, Passion und Auferstehung die Menschheit von der Erbsünde befreit und die Erlösung eingeleitet. Christus hatte sich also, um auch die übrigen Planeten aus der Gewalt des Teufels zu befreien, auf diesen Himmelskörpern zu inkarnieren, sich in einer hypostatischen Union mit der auf dem Jupiter oder Mars vorhandenen Spezies zu vereinigen und vielleicht auch eine Passion auf sich nehmen müssen, denn bekanntermaßen kannte die Barmherzigkeit Gottes ja keine Grenzen. 109 Da man kaum wissen konnte, wie die Erbsünde auf diesen Planeten weitergegeben wurde, ob durch Geschlechtsverkehr oder nicht, mussten die physiologischen Begleiterscheinungen dieser Inkarnation, wie Tesseron bemerkt, offenbleiben. Vielleicht war also, konkret gesprochen, eine Jungfrauengeburt nicht in jedem Falle nötig. 110 Eine derartig ins Materielle gesteigerte, gleichsam multifunktional reflektierte Fleischwerdung des Wortes, womöglich eine auf den ganzen Kosmos verteilte Dauerpassion und Auferstehung des Gottessohnes, erschienen den Theologen jedoch, wie kaum verwundert, zu absurd und wie die Phantasmagorie eines Zynikers. Sie war es ja auch gewesen. Die Schwierigkeiten waren damit nicht verschwunden. Physiker wie Johann Gottlob Krüger gaben durchaus zu, dass, wenn auf anderen Planeten keine menschenähnlichen Kreaturen zu finden waren, aber dennoch vernunftbegabtes Leben, die Menschwerdung Christi kaum eine große Reichweite für sich in Anspruch nehmen konnte. Warum sollten auch nichtmenschliche Wesen in der Inkarnation erlöst werden? 111 Um absurde Szenerien zu vermeiden, hatte die Theologie der Mitte des 18.Jahr-
108 Zu Terrassons Diskussion der theologischen Konsequenzen Crowe, The Extraterrestrial Life Debate (wie Anm.3), 134–137. 109 Jean Terrasson, Traité de l’infini crée. Paris 1769, 100–105. 110 Ebd.116–120. 111 Johann Gottlob Krüger, Naturlehre, nebest Kupfern und vollständigem Register. 3 Bde. Halle 1740/55, Bd. 1, § 633, 772–775. Krüger geht im Unterschied zu den unten genannten Autoritäten, die sich auf ihn berufen, allerdings nicht auf die Inkarnation ein, doch betont er immerhin die völlig Nicht-Menschlichkeit der Planetenbewohner.
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hunderts zwei Optionen. 112 Entweder war das Heilsgeschehen auf der Erde für die Bewohner anderer Planeten irrelevant, oder es schloss alle intelligenten Kreaturen des Universums mit ein. Die erste Möglichkeit favorisierten Theologen wie Joachim Böldicke oder Johannes Heyn. 113 Schon der Geologe Thomas Burnet hatte immerhin behauptet, es müsse auch deshalb im Weltall noch weitere bewohnte Planeten geben, weil die Erde eben nicht, wie die Erfahrung gezeigt hatte, jener vollkommen ausgestaltete Planet war, zu welchem ihn die Vergangenheit erhoben hatte. 114 Der Sündenfall hatte also nur die moralisch depravierten Einwohner des Planeten Erde betroffen, während, wie Böldicke betont, die übrigen stellaren Wesen sündenfrei geblieben waren. 115 Die Erde, der elendeste, oder wie Heyn es formulierte, die „Mistkugel unter den Planeten“, war damit notgedrungen zum Schauplatz der Menschwerdung und der Erlösung geworden; andere Wesen hatten sie nicht in Anspruch nehmen müssen. 116 Böldicke, der sich durchaus auf Leibniz berufen hatte, hatte mit seiner Hypothese den Vorteil, dass sich aus ihr, gleichsam als Zugabe, eine extravagante Theodizee ableiten ließ. Wenn das ganze kosmische Drama des Sündenfalls nur auf dem untersten Rang des Universums, gleichsam im mediokren Vorgarten des Weltalls, stattgefunden hatte, während Myriaden von stellaren Kulturen sich in ihrer Unbescholtenheit sonnen konnten, waren das Böse und der Sündenfall derart vernachlässigungswürdig und auf die Lokalseite des Universums beschränkt gewesen, dass die göttliche Vollkommenheit von ihm nicht in Frage gestellt worden
112 Ganz kurz zur Debatte zwischen Böldicke und Becker bisher nur Otto Zöckler, Geschichte der Beziehungen zwischen Theologie und Naturwissenschaft: mit besonderer Rücksicht auf die Schöpfungsgeschichte. 2 Bde. Gütersloh 1877/79, Bd. 2, 62–64, und Crowe, The Extraterrestrial Life Debate (wie Anm. 3), 567. 113 Johannes Heyn, Versuch einer Betrachtung über die Cometen, die Sündflut und das Vorspiel des Jüngsten Gerichtes, nach astronomischen Gründen und der Heiligen Schrift angestellet. Berlin 1742, c. 1, §§ 14–16, 19–25. Ganz kurz zu Heyn auch Guthke, Der Mythos der Neuzeit (wie Anm.3), 281. 114 Thomas Burnet, Telluris theoria sacra, originem et mutationes generales orbis nostri, quas autem subiit, aut olim subiturus est, complectens. Amsterdam 1694, Book I, c. 10, 59f.; auch deutsch z.B. als Thomas Burnet, Theoria sacra telluris, das ist Heiliger Entwurff oder biblische Betrachtung des Erdreichs. Übers. v. Johann Jacob Zimmermann. Hamburg 1698, 1. Buch, c. 10, 96f. 115 Joachim Böldicke, Abermaliger Versuch einer Theodicee, darinnen vom dem Ursprunge des Bösen in der besten Welt, der Güte, Weisheit und Gerechtigkeit Gottes, wie auch der Freyheit des Menschen gehandelt wird. Berlin 1746, III. Lehrgebäude, Sectio 3, c. 1, §§ 98–101, 132–135. 116 Johannes Heyn, Gesamlete Briefe von den Cometen, der Sündflut, und dem Vorspiel des Jüngsten Gerichtes. Berlin 1745, Sechster Brief, 150–155.
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war. 117 Es perlte an ihm ab wie Wasser an einem Diamanten, denn auf unzählige erlöste Marsianer oder Seleniten kam vielleicht ein gefallener Mensch. Der Nachteil dieser Theorie, die entsprechend debattiert wurde, lag auf der Hand. Die Erde, über die die Offenbarung ja durchaus gute Worte verloren hatte, erschien in diesem Modell in keinem sonderlich guten Licht; der Mensch, die scheinbare Krone der Schöpfung, noch viel weniger. War die Bibel wirklich nur die Gründungsakte einer Katastrophe zwischen Gott und Mensch gewesen, von der der majestätische Rest des Kosmos nie tangiert worden war? Warum sollten die Jupiterbewohner integer bleiben, während der Mensch versagt hatte und immerhin auch die Engel durch einen Sündenfall dezimiert worden waren? Wo Freiheit war, musste auch Sünde sein; wo es keine gab, war es egal. 118 Die zweite Option, die Allgemeinverbindlichkeit der irdischen Inkarnation, war also um vieles attraktiver, und tatsächlich wird sie in vielen Traktaten und Bibelkommentaren aus dem protestantischen Milieu verhandelt. Folgt man Jacob Koch oder Johann Heinrich Becker, war Christus für alle rationalen Wesen des Kosmos gestorben, für die Bewohner des Mars oder des Jupiters, aber auch für die Inhabitanten aller anderen Planeten des Weltalls. Jeder Außerirdische, so Koch im Jahre 1747, der bereit war, die Frohe Botschaft des Evangeliums anzunehmen, konnte auch von Christus erlöst werden. 119 Die scheinbar unbedeutende Welt war das kosmische Bethlehem geworden, in dem sich, so Becker vier Jahre später, die universale, für alle Himmelskörper wichtige Heilsgeschichte entschieden hatte. Dass sich der Erlöser herabließ, die Gestalt eines Menschen und nicht die Gestalt eines Marsianers anzunehmen, musste das ganze Menschengeschlecht adeln. 120 Huygens und Fontenelle waren hier erneut zu ihrem Recht gekommen: In der anthropomorphen Form wa-
117 Böldicke, Abermaliger Versuch einer Theodicee (wie Anm.115), III. Lehrgebäude, Sectio 3, c. 2, §§ 105– 108, 139–144. 118 Johann Heinrich Becker, De globo nostro terraque pare omnibus mundi corporibus totalibus skenosei filii Dei nobilitato. Rostock 1751, 10–14. Dass auch andere Planetenbewohner durch eine eigene Variante des Sündenfalls charakterisiert wurden, behauptet ebenfalls Johann G. Reinbeck, Betrachtungen über die in der Augsburgischen Confession enthaltenen und damit verknüpften Göttlichen Wahrheiten. 9 Bde. Berlin 1731–1756, Bd. 1, 1. Artikel, 14. Betrachtung, § 34, 217f. 119 Jacob Koch, Recht-Beleuchtetes Buch Hiob mit vielen dabey gemachten neuen Entdeckungen, notwendigen Anmerckungen und erbaulichen Nutz-Anwendungen. 2 Bde. Lemgo 1743/47, Bd. 1, Dritter Theil, c. 38, § 7, 794–798. 120 Becker, De globo nostro (wie Anm.118), 14–16, 20f.
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ren die intelligenten Wesen des ganzen Kosmos miteingeschlossen gewesen; im Menschen konnten sie daher auch ihre Erlösung finden. Zusammengefasst könnte man sagen, dass die theologischen Optionen sich also auf eine Antinomie reduzierten, auf den schon postulierten Elendsstern oder auf die gesunde, zum Ende schultheologische Hybris, in der schwachen menschlichen Natur eine unendliche Menge von Welten mit zu erlösen. Dass die segensreiche Osterbotschaft im Anschluss von der Erde und aus dem Sonnensystem, wie auch immer, in die entlegeneren Regionen des bevölkerten Kosmos getragen werden musste, war diesen Theologen durchaus bewusst, doch war ihr Vertrauen in die Kraft der Mission entsprechend groß. Weil es den Menschen nicht weiter berührte, hatte sich die Schrift über die Details nicht weiter ausgelassen. Der nächste mögliche Schritt wäre es gewesen, von der historischen Rolle Christi ganz Abstand zu nehmen und sich auf einen kosmischen Erlöser zu beschränken. Es war Emanuel Swedenborg in seiner Abhandlung zu den Planetenbewohnern, der diesen Weg keine fünf Jahre später gehen sollte. 121 Damit freilich hatte man das dogmatisch verfasste Christentum endgültig verlassen. 122
V. Fazit Überschaut man die etwa 150 Jahre der Debatte über das Leben auf dem Mond und den Gestirnen, so verblüfft, wie leicht in wenigen Jahren die sehr plausiblen Bedenken eines Gassendi, Fabri, Guericke oder Schmidt beiseite geschoben wurden, obwohl sie doch über etliche Dekaden im System der universitären Disputations-
121 Emanuel Swedenborg, De telluribus de mundo nostri solari, quae vocantur planetae et de telluribus in coelo astrifero, deque illarum incolis, cum de spiritibus et angelis ibi, ex auditis et visis. London 1758, englisch z.B. als: Emanuel Swedenborg, Earths in the Universe which are called Planets and Earths in the Starry Heaven and Their Inhabitants; Also the Spiritus and Angels There From Things Heard and Seen, translated by John Whitehead, in: Emanuel Swedenborg, Miscellaneous Theological Works. West Chester 1996, 425– 553. 122 Zu Swedenborgs Traktat zu den Planetenbewohnern z.B. Guthke, Der Mythos der Neuzeit (wie Anm. 3), 240–245; Siukonen, Muissa maailmoissa (wie Anm.3), 141–156; Crowe, The Extraterrestrial Life Debate (wie Anm.3), 97–101; Ernst Benz, Swedenborgs Lehre von der Pluralität der Welten, in: ders., Vision und Offenbarung. Gesammelte Swedenborg Aufsätze. Zürich 1979, 39–61; oder Richard L. Goerwitz III, Extraterrestrial Life. A Study of the Intellectual Context of Emanuel Swedenborg’s ‚Earths in the Universe‘, in: Arcana 86, 1985, 417–445.
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kultur repetiert wurden. Warum hatte die Frage, ob der Mond überhaupt eine lufthaltige Atmosphäre hatte, nach 1700 fast keinen Gelehrten mehr interessiert oder war von der Bereitschaft, Leben zu ermöglichen, einfach ohne größere Skrupel positiv beantwortet worden? Besser waren die Argumente der Advokaten des stellaren Lebens tatsächlich nicht geworden. Soll man aus diesem Befund schließen, dass viele Vertreter der philosophischen Aufklärung des 18.Jahrhunderts eine weniger ausgeprägte Fähigkeit zur kritischen Reflektion besaßen als die konservativen Advokaten der Schulphilosophie in der gleichen Zeit? Müssen wir annehmen, dass die philanthrope Sprache der Philosophie die technischen Bedenken der Physik, zumindest in dieser Frage, schlicht verdrängt hatte? Bemerkenswert genug scheint, dass es ausgerechnet die so vielgescholtenen katholischen Theologen waren, die vergleichbare Argumentationsketten konservieren konnten, damit aber auch das kritische Potential, das zum Ende des 18.Jahrhunderts schon zur Minderheitenmeinung geworden war. Dass dieses Expertenwissen zugleich der Theologie zu dienen hatte, steht dabei außer Zweifel. Vergleichbare Anachronismen scheinen Anlass genug zu sein, um, vorsichtig formuliert, scheinbar selbstevidente Zuschreibungen wie Modernität und Widerständigkeit nur mit Zurückhaltung zu verwenden.
Mein Dank bei der Erstellung dieser Studie geht an Christian Weidemann (Universität Bochum), Stefan Tilg (Universität Innsbruck) und an die Alte Abteilung der Universitätsbibliothek in Göttingen.
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Inszenierungen
„Do můßt ich Künst an wenden, wolt ich mich mit der Practic erneeren“ Die Inszenierung ärztlicher Expertise in der Frühen Neuzeit von Michael Stolberg This paper presents an overview of the different ways in which early modern physicians sought to put their superior knowledge and skills on stage, in the public realm and, above all, at the bedside and in the consultation room. In hindsight, their medicine was as inefficacious or indeed harmful, in most diseases, as that of barber-surgeons and irregular healers. Their perceived superiority rested almost exclusively on their successful self-presentation. Learned publications and public anatomies could boost a physician’s standing in his local community. However, the individual physician’s reputation ultimately depended on his perceived success in diagnosing and treating diseases. The paper shows that the physicians drew on notions and beliefs patients and families were familiar with and in which they trusted. Building on this shared „plot“, they skilfully turned uroscopy, bloodletting, purgation and other diagnostic and therapeutic practices into self-confirming, ritual-like procedures. By the very performance of a careful examination of the urine, by giving medicines that promoted foul, corrupt evacuations and by showing the corrupt blood or excretions their treatment had produced to patients and families, they offered immediate, visual evidence of their ability to expel the morbid matter and thus cure the disease.
I. Einleitung „Do můßt ich Künst an wenden, wolt ich mich mit der Practic erneeren.“ So fasste der junge Basler Arzt Felix Platter seine Lage zusammen, als er 1557 als frischgebackener Doktor der Medizin aus Montpellier ins heimatliche Basel zurückkehrte. Der junge Mann stand vor einer schwierigen Herausforderung. Wie in anderen größeren Städten der Zeit herrschte auch in Basel unter den Heilkundigen ein reger Wettbewerb, insbesondere um die besonders lukrativen Patienten aus den Oberschichten. Es gab mehr als ein Dutzend promovierte Ärzte in der Stadt und diverse Handwerkschirurgen, die, wie damals weithin üblich, nicht nur Wunden und Geschwüre, sondern auch innere Krankheiten behandelten und die obendrein bestens vernetzt waren und eine gewichtige Rolle in der lokalen Politik spielten. Dazu kam, in Stadt und Umland, noch eine offenbar beachtliche Zahl von irregulären Heilern und Arzneimittelhändlern aller Couleur. 1 1 Felix Platter, Tagebuch (Lebensbeschreibung) 1536–1567. Hrsg. v. Valentin Lötscher. Basel/Stuttgart 1976, 337.
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10.1515/9783110576030-006
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Wer sich in dieser Situation gegen die zahlreiche Konkurrenz durchsetzen wollte, der musste die Kranken und ihre Angehörigen von seiner besonderen Kompetenz, seinen überlegenen diagnostischen und therapeutischen Kenntnissen und Fertigkeiten überzeugen. Idealerweise gelang dies durch herausragende Heilerfolge. Aus heutiger Sicht hatten die damaligen Ärzte allerdings in der Regel kaum Möglichkeiten, den Krankheitsverlauf günstig zu beeinflussen. Bei den meisten Krankheiten kamen Aderlässe, Abführmittel und Brechmittel zum Einsatz, die den Körper von jenen fauligen, verdorbenen oder scharfen Krankheitsstoffen befreien sollten, auf die man damals die meisten Krankheiten zurückführte. Manchen Arzneien schrieb man zudem auf empirischer Grundlage eine mehr oder weniger spezifische Wirkung auf bestimmte Krankheiten zu. Doch auch diese angeblich spezifischen Wirkungen sind aus der Sicht der modernen, evidenzbasierten Medizin meist nicht mehr nachvollziehbar und ihr Einsatz – die Indikationsstellung – folgte zudem einem ganz anderen, humoralpathologischen Verständnis der einzelnen Krankheiten. 2 Wenn viele Kranke über kurz oder lang dennoch wieder gesund wurden, lag das aus heutiger Sicht nicht an der wirksamen Behandlung, sondern am günstigen natürlichen Verlauf der meisten Krankheiten, vermutlich unterstützt durch das, was wir heute Placebo-Wirkungen nennen würden. Insbesondere die damals sehr verbreiteten akuten Fieberkrankheiten heilen erfahrungsgemäß von selbst wieder, ganz gleich was man tut, so lange die Behandlung nicht gar zu großen Schaden anrichtet. Und selbst bei chronischen Krankheiten findet sich oft wenigstens eine vorübergehende Besserung, welche die Heilkundigen und ihre Patienten verständlicherweise der jeweils vorangegangenen Behandlung zuschreiben – ganz gleich ob magische Rituale, homöopathische Streukügelchen oder Antibiotika eingesetzt wurden. Gerade weil die frühneuzeitlichen Heilkundigen aus heutiger Sicht gegen die meisten Krankheiten kaum etwas ausrichten konnten, bietet ihre Praxis freilich ein besonders illustratives Beispiel für die überragende Bedeutung einer geschickten Selbstinszenierung. Weit mehr noch als der gute Ruf eines Baumeisters oder eines Bäckers, dessen Produkte sich immerhin objektiv beurteilen ließen, war die Zuschreibung einer überlegenen medizinischen Expertise ein gesellschaftliches Kon-
2 Überblicke zur frühneuzeitlichen Krankheitsbehandlung in Michael Stolberg, Homo patiens. Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit. Weimar 2003; Robert Jütte, Krankheit und Gesundheit in der Frühen Neuzeit. Stuttgart 2013.
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strukt. Wenn einzelne Ärzte damals als erfolgreiche „Praktiker“ berühmt wurden, dann kann das nach heutigem Wissen nur sehr begrenzt daran gelegen haben, dass ihre Diagnosen präziser und ihre Therapien wirksamer waren als die anderer Heilkundiger. Wir müssen es vielmehr darauf zurückführen, dass sie es verstanden, den Glauben an die Überlegenheit ihrer – rückblickend meist wertlosen und manchmal schädlichen – Therapie zu wecken. Ihnen standen keine besseren Mittel zur Verfügung als der zahlreichen Konkurrenz, doch sie wussten sich erfolgreich als überlegene Diagnostiker und Therapeuten in Szene zu setzen. Dass der junge Felix Platter vier Jahre nach seiner Rückkehr aus Montpellier nach eigener Darstellung bereits „fast alle, so von Adel ze Basel woneten“ zu seinen Patienten zählen durfte 3, lag nach heutigem Urteil nicht an seinen überlegenen diagnostischen und therapeutischen Fähigkeiten, sondern eben an jenen „Künsten“, die er erfolgreich anwandte, um seine Mitbürger für sich einzunehmen. Der folgende Beitrag soll beispielhaft zeigen, durch welche Praktiken sich die studierten Ärzte des 16. und 17.Jahrhundert einen Status als überlegene Experten zu erwerben verstanden. Eingangs gehe ich kurz auf verschiedene Praktiken der ärztlichen Selbstdarstellung im öffentlichen Raum ein. Der Schwerpunkt meiner Analyse liegt aber auf der performativen Inszenierung medizinischer Expertise in der alltäglichen Praxis am Krankenbett und im Behandlungszimmer des Arztes. Als Quellen dienen mir neben der gedruckten medizinischen Literatur der Zeit insbesondere Selbstzeugnisse und handschriftliche Aufzeichnungen von Ärzten. Das Spektrum reicht von Lebensbeschreibungen wie der des erwähnten Felix Platter über ärztliche Korrespondenzen, wie sie in Würzburg seit einigen Jahren im Rahmen eines Projekts der Bayerischen Akademie der Wissenschaften erschlossen werden 4, zu handschriftlichen Praxisaufzeichnungen wie denen des böhmischen Arztes Georg Handsch (1529–1578?), die ich derzeit im Rahmen eines größeren Forschungsprojekts untersuche. Über Selbstzeugnisse von Patienten und Angehörigen, aus denen sich die Reaktionen auf die ärztlichen Bemühungen um erfolgreiche Selbstinszenierung erschließen ließen, verfügen wir leider nur sehr begrenzt. Gewisse Aufschlüsse lassen sich jedoch aus den ärztlichen Schilderungen gewinnen sowie aus Briefen, die Patienten und deren Angehörige im Rahmen der damals recht verbreiteten Praxis einer brieflichen Ratsuche an auswärtige Ärzte schrieben. Solche Briefe sind aus 3 Platter, Lebensbeschreibung (wie Anm.1), 369. 4 Langzeitprojekt „Frühneuzeitliche Ärztebriefe“ (www.aerztebriefe.de).
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dem 16. und frühen 17.Jahrhundert unter anderem im Nachlass von Leonhard Thurneisser in Berlin und in der Korrespondenz Felix Platters überliefert. 5
II. Öffentliche Selbstdarstellung Die frühneuzeitlichen Städte, in denen die große Mehrheit der studierten Ärzte im 16. und 17.Jahrhundert praktizierte, waren in hohem Maße durch die typischen Merkmale einer „Anwesenheitsgesellschaft“ geprägt. Öffentlichkeit wurde in erster Linie durch direkte, persönliche Kommunikation konstituiert. 6 Der Platz des einzelnen in der Gesellschaft wurde in der unmittelbaren Interaktion mit anderen immer wieder aufs Neue bestimmt und bestätigt. Ein wesentlicher Aspekt ärztlicher Selbstdarstellung war vor diesem Hintergrund ein Spektrum an gelehrten Praktiken, mit denen die Ärzte im Alltag ihre Zugehörigkeit zu jenen gebildeten Schichten markierten, die maßgeblich über die Zubilligung von Status und Expertise entschieden. Die Unterschrift mit dem Doktortitel und eine würdige, vornehme, aber nicht zu marktschreierische Kleidung zählten ebenso dazu wie Bücher, die man auf Krankenbesuchen mitführte und die Patienten und Angehörige eindrucksvoll in den Regalen aufgereiht sahen, wenn sie den Arzt in seinem eigenen Haus aufsuchten. Wie auf frühneuzeitlichen Genrebildern zu sehen, standen dort manchmal auch Skelette, botanische Präparate, Astrolabien und andere Symbole gelehrten medizinischen und naturphilosophischen Wissens. So mancher Arzt trat im städtischen Umfeld zudem nicht nur als Arzt in Erscheinung, sondern als gebildeter Humanist. So befassten sich erstaunlich viele frühneuzeitliche Ärzte eingehend mit Genealogie, Numismatik, Geschichte oder Archäologie, oder sie machten sich als Dichter einen Namen – Johannes Posthius und Petrus Lotichius sind berühmte Beispiele. 7 Einzelne Ärzte arbeiteten sogar, zumindest vorübergehend, „berufsfremd“ als Schulmeister oder Erzieher. Selbst jene studierten Ärzte, die sich fast ausschließlich ihrer medizinischen Praxis widmeten, verfügten mit ihren Kenntnissen des La-
5 Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol.99, 105, 106, 420a, 420b, 421a, 421b, 422a, 422b, 423a, 423b, 424, 425, 426; Universitätsbibliothek Basel, Ms. Fr. Gr. I 6. 6 Rudolf Schlögl, Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. Formen des Sozialen und ihre Transformation in der Frühen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 34, 2008, 155–224. 7 Nancy G. Siraisi, History, Medicine, and the Traditions of Renaissance Learning. Ann Arbor 2007.
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teinischen und der einschlägigen klassischen Literatur im Gespräch mit gebildeten Mitbürgern über ein wichtiges Distinktionsmerkmal, ein symbolisches Kapital, das sie über die Masse der Bevölkerung hinaushob. Eine besonders eindrucksvolle Möglichkeit, gegenüber einer breiteren Öffentlichkeit die Überlegenheit der eigenen medizinischen Expertise in Szene zu setzen, war die öffentliche Leichensektion vor einem zahlreichen Laienpublikum. Sie wurde in aller Regel nur studierten Ärzten gestattet und spielte eine wichtige Rolle unter den „Künsten“, mit deren Hilfe sich Felix Platter in kurzer Zeit Ansehen erwarb. Als im April 1559, gerade eineinhalb Jahre nach seiner Promotion, ein Dieb hingerichtet werden sollte, bat er den Bürgermeister um die Erlaubnis, die Leiche des Hingerichteten öffentlich sezieren zu dürfen. Die Leiche wurde in die Elisabethenkirche nahe der Stadtmauer gebracht, die nun vorübergehend zum „Theatrum anatomicum“ wurde. Ärzte und Chirurgen wurden geladen und erschienen, wie Platter schrieb, „sampt vil volck“. 8 Drei Tage lang dauerte Platters öffentliche Anatomie. Und sie brachte dem 23-jährigen nach eigenen Worten „großen rům“. Er hatte eindrucksvoll und erfolgreich sein Wissen und sein praktisches anatomisches Geschick in Szene gesetzt. Er hatte gezeigt, dass er die Geheimnisse des Körperinneren zu entschlüsseln wusste – Voraussetzung für eine wirksame Behandlung der Krankheiten, die dort ihr Unwesen trieben. 9 Viele Ärzte bedienten sich auch erfolgreich der neuen Möglichkeiten, welche die Druckerpresse eröffnete, um sich in der eigenen Stadt und sogar weit über deren Grenzen hinaus einen Namen zu machen. Unzählige Publikationen aus ärztlicher Feder sind überliefert. Manche der ärztlichen Schriften richteten sich primär an Medizinstudenten und ärztliche Kollegen. Wer sich im Kollegenkreis einen guten Ruf erwarb, der konnte sich zugleich berechtigte Hoffnungen machen, dass sich sein wissenschaftliches Ansehen auch unter den gebildeten Teilen der Bevölkerung herumsprach und dass vornehme Patienten ihn gegebenenfalls auch zu Konsilien heranzogen. Mit volkssprachlichen Pestschriften, Gesundheitsratgebern, Aderlasskalendern und ähnlichen Veröffentlichungen führten ärztliche Autoren zudem auch
8 Platter, Lebensbeschreibung (wie Anm.1), 352. 9 Vgl. meine ausführliche Darstellung in Michael Stolberg, Eine anatomische Inszenierung. Felix Platter (1536–1614) und das Skelett der Frau, in: Helmar Schramm/Ludger Schwarte/Jan Lazardzig (Hrsg.), Spuren der Avantgarde: Theatrum anatomicum. Frühe Neuzeit und Moderne im Kulturvergleich. (Theatrum Scientiarum, Bd. 5.) Berlin/New York 2011, 147–167.
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jenen Schichten, die des Lateinischen nur begrenzt oder gar nicht mächtig waren, ihre besondere medizinische Expertise und deren große Bedeutung für das Gemeinwohl vor Augen. Publizierte ärztliche Fallgeschichten – ein zunehmend populäres, auch von Laien gelesenes Genre – zeigten den Autor immer wieder aufs Neue als überlegenen Diagnostiker und Therapeuten. In bemerkenswertem Gegensatz zu handschriftlichen Praxisjournalen und anderen persönlichen Aufzeichnungen finden sich in den gedruckten ärztlichen Fallsammlungen fast nie die Geschichten von Irrtümern, Fehlern und Scheitern – es sei denn, diese ließen sich anderen zuschreiben, insbesondere den weniger gebildeten Konkurrenten. 10 In ihren Schriften wandten die Ärzte vielfach eine Reihe von weiteren Strategien und Praktiken an, die ihren Status und ihren Anspruch auf überlegene Expertise untermauern sollten. Widmungsbriefe an Fürsten und Mäzene unterstrichen die Nähe des Verfassers zu den Mächtigen. Der Abdruck von Widmungsgedichten und Briefen angesehener Kollegen an den Verfasser belegte dessen herausragenden Ruf unter seinesgleichen. Zahlreiche Hinweise auf einschlägige Passagen in den Werken der Autoritäten, ja lateinische oder womöglich gar griechische Zitate zeugten von seiner Belesenheit. 11 Zahlreiche Ärzte nahmen auch aktiven Anteil an dem regen gelehrten Briefverkehr der Zeit, suchten sich einen Platz in der Res publica litteraria medica zu sichern, in dem eng geknüpften Gelehrtennetzwerk, das damals auch die Funktion der späteren wissenschaftlichen Journale erfüllte, in dem inhaltliche Debatten geführt, aber auch das Ansehen des einzelnen Arztes und seiner Werke verhandelt wurde. 12
10
Sehr verbreitet waren die „Observationes“ des holländischen Arztes Pieter van Foreest, die in insge-
samt fast 40 Büchern erschienen. 11
Siehe hierzu Michael Stolberg, Formen und Strategien der Autorisierung in der frühneuzeitlichen Me-
dizin, in: Wulf Oesterreicher/Gerhard Regn/Winfried Schulze (Hrsg.), Autorität der Form – Autorisierungen – institutionelle Autorität. Münster 2003, 124–152; und ders., Medizinische Deutungsmacht und die Grenzen ärztlicher Autorität in der Frühen Neuzeit, in: Richard van Dülmen/Sina Rauschenbach (Hrsg.), Macht des Wissens. Entstehung der modernen Wissensgesellschaft 1500–1820. Köln/Weimar 2004, 113– 130. 12
Vgl. beispielsweise Tilmann Walter, Ärztliche Selbstdarstellung im Zeitalter der Fugger und Welser.
Epistolarische Strategien und Repräsentationspraktiken bei Felix Platter (1536–1614), in: Angelika Westermann/Stefanie von Welser (Hrsg.), Personen und Milieu. Individualbewusstsein? Persönliches Profil und soziales Umfeld. Husum 2013, 285–314.
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III. Das Drama der ärztlichen Alltagspraxis Die genannten Strategien einer öffentlichkeitswirksamen Selbstdarstellung konnten im Einzelfall zweifellos erhebliche Wirkungen entfalten. Insbesondere jene Minderheit von Ärzten, die sich weit über die Grenzen ihrer Stadt, ja ihres Landes einen Namen machte, verdankte ihnen oft maßgeblich ihren Erfolg. Die große Masse der Ärzte musste die eigenen Mitbürger allerdings stets aufs Neue von der eigenen diagnostischen und therapeutischen Überlegenheit überzeugen, am Krankenbett – die damalige ärztliche Praxis war vorwiegend eine Hausbesuchspraxis – oder im ärztlichen Behandlungszimmer. Hier stand tagtäglich ihr Ruf, ja ihre berufliche Existenz auf dem Spiel. Berichte von einem prominenten Patienten, dessen Zustand sich unter der Behandlung eines Arztes deutlich gebessert hatte, konnten dem betreffenden Arzt die Tür zu zahlreichen anderen angesehenen und wohlhabenden Häusern öffnen. Wenn es dem Patienten unvermutet schlechter ging oder er gar verstarb, konnten Ruf und Praxis des betroffenen Arztes andererseits auch schnell großen Schaden nehmen. Denn Patienten und Angehörige, das zeigen die ärztlichen Klagen ebenso wie die Selbstzeugnisse von Laien, hatten oft nicht viel Geduld. Sie wollten rasche Erfolge sehen. Rückblickend lagen Erfolg wie Scheitern nicht in ihrer Hand, aber in der Bevölkerung tauschte man sich über die vermuteten Qualitäten und das Können der verschiedenen Heilkundigen lebhaft aus. Stellte sich die erhoffte Besserung nicht ein, schrieb man das in der Regel der Unfähigkeit des Arztes zu. Offenbar hatte er die Krankheit nicht richtig erkannt oder verfügte nicht über entsprechend wirksame Medikamente. In diesem Fall war es nur folgerichtig, sein Glück bei einem anderen Arzt oder Heilkundigen zu versuchen. In dieser Situation mussten die Ärzte alles daransetzen, sich am Krankenbett entsprechend in Szene zu setzen und Vorkehrungen gegen eine mögliche Gefährdung ihres Rufs zu treffen. Schon das medizinische Schrifttum des Mittelalters hatte die Bedeutung des Vertrauens von Patienten und Angehörigen in den Arzt betont und dem Arzt geraten, sich aktiv um dieses zu bemühen. 13 Von den mittelalterlichen Traktaten „De cautelis medici“ über das frühneuzeitliche Genre des „Medicus politicus“ bis hin zu den Schriften über das „Savoir faire“ der Ärzte am Krankenbett im
13 Fernando Salmòn, The Physician as Cure in Medical Scholasticism, in: Ildikó Csepregi/Charles Burnett (Eds.), Ritual Healing. Magic, Ritual and Medical Therapy from Antiquity until the Early Modern Period. Florenz 2012, 193–215.
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19.Jahrhundert lässt sich eine ungebrochene literarische Tradition von Werken verfolgen, die nicht primär auf die technischen, diagnostischen und therapeutischen Fertigkeiten, sondern auf den richtigen, vertrauens- und autoritätssichernden Umgang mit den Patienten und ihren Angehörigen zielten. 14 Sie wollten, wie es im Titel des „Medicus politicus“ von Friedrich Hoffmann heißt, „Regeln der Klugheit“ vermitteln, die insbesondere der junge Arzt beachten musste, wenn „er sich Ruhm und eine glückliche Praxis schnell erwerben und bewahren möchte“. 15 In einem wegweisenden Beitrag haben Jens Lachmund und Gunnar Stollberg vor gut zwanzig Jahren wesentliche Facetten dieser Performanz von ärztlicher Expertise am Krankenbett genauer untersucht. 16 Ihre Analyse des „drama of medical practice“ konzentrierte sich auf die Zeit des ausgehenden 18. und frühen 19.Jahrhunderts, aber viele ihrer auf Ansätzen des symbolischen Interaktionismus 17 gegründeten Überlegungen lassen sich auf die vorangehenden Jahrhunderte übertragen. Ausgangspunkt ihrer Analyse ist die prekäre Autorität des vormodernen Arztes, dessen Ruf stets gefährdet war und der ständig damit rechnen musste, zugunsten eines anderen Heilkundigen verlassen zu werden, wenn es ihm nicht gelang, das Vertrauen des Patienten und der Umstehenden zu erwerben und zu erhalten. Die entsprechenden Praktiken wurden schon von dem bekannten Arzt Wedekind um 1800 in der Bildlichkeit einer Theateraufführung beschrieben. 18 Entscheidend war zunächst, dass der Arzt die Krankheit auf eine Art und Weise erklärte, die den Patienten über-
14
Bekannte Beispiele sind Gabriele Zerbi, Opus perutile de cautelis medicorum. [Venedig] 1495; Roderigo
da Castro, Medicus-politicus: sive de officiis medico-politicis tractatus. Hamburg 1662; Georg Christian Gottlieb von Wedekind, Über das Betragen des Arztes, den Heilungsweg durch Gewinnung des Zutrauens und durch Überredung des Kranken. Zwei Vorlesungen. Hrsg. von J. v. Hagen, Mainz 1789; Damuel Gottlieb Vogel, Einige allgemeine Bemerkungen über das Savoir faire in der medicinischen Praxis, in: Journal über praktische Arzneykunde und Wundarzneykunst 1, 1796, 3. Stück, 295–324; Wolfgang U. Eckart, Anmerkungen zur „Medicus politicus“- und „Machiavellus Medicus“-Literatur des 17. und 18.Jahrhunderts, in: Udo Benzenhöfer/Wilhelm Kühlmann (Hrsg.), Heilkunde und Krankheitserfahrung in der frühen Neuzeit. Tübingen 1992, 114–129. 15
Friedrich Hoffmann, Medicus politicus sive regulae prudentiae secundum quas medicus juvenis studia
sua & vitae rationem dirigere debet, si famam sibi felicemque praxin & cito acquirere & conservare cupit. Leiden 1708. 16
Jens Lachmund/Gunnar Stollberg, The Doctor, His Audience, and the Meaning of Illness. The Drama of
Medical Practice in the Late 18th and Early 19th Centuries, in: dies. (Eds.), The Social Construction of Illness. Illness and Medical Knowledge in Past and Present. Stuttgart 1992, 53–66.
184
17
Wegweisend Erving Goffman, The Presentation of Self in Everyday Life. New York 1959.
18
Wedekind, Betragen (wie Anm.14).
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zeugte – und nicht nur diesen: Zahlreichen Berichten zufolge sah sich der Arzt am vormodernen Krankenbett oft auch mit den Angehörigen und anderen „Umstehenden“ konfrontiert, mit Freunden, Bekannten, Nachbarn. Sie waren gewissermaßen das „Publikum“, vor dem er mit seiner „Vorstellung“, seiner Inszenierung, bestehen musste. Der Arzt stand freilich vor einem Dilemma: Im Gegensatz zu den zahlreichen nichtakademischen Heilkundigen verfügte er über ein umfangreiches Repertoire an lateinischen Begriffen, mit deren Hilfe er die Krankheit benennen und die Krankheitsprozesse beschreiben konnte. Mit ihrer Hilfe konnte er eindrucksvoll vor Augen führen, dass er über ein esoterisches Wissen verfügte, das gewöhnlichen Sterblichen in der Regel nicht zugänglich war. Er konnte dies noch dadurch unterstreichen, dass er auf einschlägige Passagen in den Werken der führenden griechischen und römischen Autoritäten verwies oder diese gar zitierte. Gegenüber gebildeten Patienten oder gar in brieflichen Konsilien, die sich primär an die behandelnden Ärzte vor Ort richteten, machten die Ärzte von dieser Möglichkeit reichlich Gebrauch. In der alltäglichen Praxis am Krankenbett aber erwies sich derlei gelehrtes Gebaren leicht als kontraproduktiv. Um die Patienten und ihrer Angehörigen davon zu überzeugen, dass ihre Diagnose stimmte, dass sie die krankhaften Vorgänge im Körper richtig erkannt hatten und dass die verordnete Behandlung erfolgversprechend war, mussten sie sich verständlich machen. 19 Das setzte voraus, dass sie sich an den Verständnishorizont der Patienten und ihrer Angehörigen anpassten. Die Diagnose, die Bedeutung der Krankheit – und davon abgeleitet – die Therapie, so das Fazit von Lachmund und Stollberg, spiegelten daher nicht einfach die Anwendung des ärztlichen Wissens auf den einzelnen Krankheitsfall. Sie waren vielmehr das Ergebnis einer Interaktion des Arztes mit dem Patienten und der diesen umgebenden „Krankenbettgesellschaft“ bzw. mit deren vom Arzt antizipierten Präferenzen und Reaktionen. Gelegentlich finden sich in den Tagebüchern und persönlichen Aufzeichnungen frühneuzeitlicher Ärzte eindrucksvolle Belege für dieses Bemühen um eine für Patienten und Angehörige verständliche und überzeugende Deutung des Krankheitsge-
19 Ähnliches hat Roger French für die gelehrte Medizin des Mitttelalters gezeigt: Roger French, Medicine before Science. The Business of Medicine from the Middle Ages to the Enlightenment. Cambridge 2009, 119: „The result, of course, was that they could not be impressed with it, and the doctor was deprived of a major image-making device.“
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schehens. So notierte der böhmische Arzt Georg Handsch in seinen – ansonsten weitestgehend auf Latein gehaltenen medizinischen Notizbüchern – Dutzende von deutschen Redewendungen, mit deren Hilfe der Arzt das Krankheitsgeschehen plausibel und anschaulich erklären konnte oder die er selbst oder ärztliche Kollegen in der Kommunikation mit Patienten verwendet hatten. 20 „Flüsse“ und „Verstopfungen“, ein „kalter“, „böser“ oder „verschleimter“ Magen, „unreines“, verschleimtes“ Blut spielten darin eine wichtige Rolle, Bilder der Verderbnis und Fäulnis im Körperinneren, an den einzelnen Organen, sowie der Verweis auf faulige, verdorbene Dünste und Dämpfe, die aus dem Bauchraum nach oben stiegen. Manchmal vermerkte er mit einem hinzugefügten „placuit“ oder „non displicuit“, dass die Formulierung dem Patienten gefallen hatte und er somit in Zukunft, in ähnlichen Fällen, erfolgversprechend auf sie zurückgreifen konnte. 21 Aus der Feder des Kremser Arztes und Klerikers Michael Braun ist gar eine eigene Handschrift mit „formulae loquendi vulgariter“ überliefert, mit Redewendungen, derer sich der Arzt bei der Mitteilung seiner Diagnose bedienen konnte. 22 Die Erklärungen der Ärzte waren nicht selten durchaus komplex. „Der Magen dewet nicht wol“, konnte man laut Handsch dem Patienten beispielsweise sagen, „wo das Fewer im Ofen nicht starck genug ist, das Holtz zuverzeren, so gibt es grossen Rauch, also auch dempffet es aus dem Magen ins Haupt, wenn die naturliche Werme im Magen schwach ist, und ubel dewet.“ 23 Doch wie dieses Beispiel andeutet, griffen die Ärzte vorwiegend auf erfahrungsnahe Bilder und auf medizinische Vorstellungen zurück, die damaligen medizinischen Laien allem Anschein nach vertraut waren. Lateinische Fachbegriffe und Krankheitsbezeichnungen fehlen dagegen fast völlig. Der gemeinsame „plot“, die Deutung des Krankheitsgeschehens und die darauf gestützte Behandlung mussten im Verlauf der Krankheit immer wieder aufs Neue ausgehandelt werden. 24 So sehr der Arzt in seinem „iudicium“ auch auf den Verständnishorizont und die Erwartungen eingehen mochte, blieb der Erfolg seiner In-
20
Insbesondere in Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB), Cod. 11206. Ausführlicher hierzu Michael
Stolberg, „You Have No Good Blood in Your Body“. Oral Communication in Sixteenth-Century Physicians’ Medical Practice, in: Medical History 59, 2015, 63–82.
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21
Beispielsweise ÖNB, Cod. 11206, fol.39v und fol.40r.
22
Bayerische Staatsbibliothek, München, Clm 25087.
23
ÖNB, Cod. 11206, fol.28v.
24
Vgl. Lachmund/Stollberg, Doctor (wie Anm.16), 55: „Meaning, from a dramaturgical point of view is al-
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szenierung von diagnostischer und therapeutischen Kompetenz vor allem bei länger währenden Krankheiten stets gefährdet. Nur allzu oft musste der Arzt nämlich erleben, dass der Körper des Kranken – in Form unerwarteter Wendungen im Krankheitsverlauf – die gestellte Diagnose und Prognose und/oder die verschriebene Behandlung in Frage stellte und seine Autorität zu untergraben drohte. Schon die mittelalterlichen Schriften zum „klugen“ ärztlichen Verhalten am Krankenbett hatten dem Arzt vor diesem Hintergrund Ratschläge gegeben, wie er sich gegen solche Rückschläge wappnen konnte. Vor allem seine prognostischen Verlautbarungen – das war ein Topos der ärztlichen Literatur bis ins 20.Jahrhundert – musste der Arzt geschickt einsetzen. Im Allgemeinen bot eine schlechte, ja übertrieben ungünstige Prognose erhebliche Vorteile. Erging es dem Patienten schlechter als der Arzt insgeheim erwartet hatte, so hatte er dies (scheinbar) immerhin richtig vorausgesehen. Verlief die Krankheit doch günstiger, so konnte er dies seiner Therapie zuschreiben. Nachteil dieser Strategie war, dass negative Affekte wie Trauer oder Hoffnungslosigkeit nach zeitgenössischer Überzeugung selbst krank machten und das Krankheitsgeschehen befördern könnten. Hier blieb im Grunde nur ein Vorgehen, das man mit Lachmund und Stollberg 25 dramaturgisch als „back-stage acting“ bezeichnen kann: Der Arzt musste dem Kranken und möglichst auch den nahen Angehörigen – die sonst womöglich ihre Verzweiflung nicht verbergen konnten – bis zum Schluss Hoffnung machen. Dafür sollte er außer deren Hörweite deutlich zu erkennen geben, dass die Lage sehr ernst war. Bei einem fieberkranken Mädchen beispielsweise machte Georg Handsch den Eltern bis zum Schluss Hoffnung. Einer Magd aber sagte er, das Mädchen werde sterben. Als das Mädchen tatsächlich starb, erzählte die Magd den Eltern von Handschs Prognose und, so notierte er, „es gefiel ihnen“. 26 Die Analyse von Lachmund und Stollberg zielt fast ausschließlich auf die ärztliche Diagnosestellung aus der Erzählung des Patienten, aus der subjektiven Schilderung seiner Symptome. Aus dieser musste der Arzt, in der Interaktion mit dem Patienten, eine plausible Deutung des Krankheitsgeschehens entwickeln. Lange Zeit sind Historiker davon ausgegangen, dass das Patientennarrativ in der vormodernen
ways interactional as well as episodic. It has to be achieved by its successful enactment in the dramaturgical arena.“ 25 Ebd. 26 ÖNB, Cod. 11183, fol. 139v–140r.
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Medizin insgesamt einen herausragenden Platz hatte, aus der es dann im Laufe des 19. und 20.Jahrhunderts von der modernen Apparate- und Labormedizin immer mehr verdrängt wurde. 27 Tatsächlich spielte das Patientennarrativ in der ärztlichen Begegnung mit wohlhabenderen Patienten im 18. und frühen 19.Jahrhundert in diagnostischer Hinsicht eine Schlüsselrolle. Durch seine überlegene Fähigkeit, aus diesem Narrativ die richtigen diagnostischen und therapeutischen Schlüsse zu ziehen, zeichnete sich der geschickte Arzt maßgeblich aus. Rückblickend war diese überragende Stellung des Patientennarrativs jedoch nur ein vorübergehendes, im Wesentlichen auf die gebildeten Schichten des 18. und 19.Jahrhunderts beschränktes Phänomen. Wir haben es hier keineswegs mit einer linearen Entwicklung zu tun. Zwar erfüllte das Patientennarrativ auch im 16. und 17.Jahrhundert eine wichtige Funktion, aber im ärztlichen „Drama am Krankenbett“ spielten, selbst bei Kranken aus den obersten Schichten, „objektivierende“ Diagnoseverfahren eine Schlüsselrolle, die nicht auf die sprachlichen Äußerungen der Patienten angewiesen waren. Selbst im Rahmen der – fast ausschließlich gebildeteren Patienten vorbehaltenen – brieflichen Ratsuche bei auswärtigen Ärzten fielen die verbalen Schilderungen der Patienten im 16. und 17.Jahrhundert in der Regel sehr viel knapper aus als im ausgehenden 18.Jahrhundert, als die Patienten regelmäßig ganze Seiten mit einer mehr oder weniger detaillierten Schilderung ihrer Krankengeschichte, ihrer Lebensweise und ihres gegenwärtigen Zustands füllten. Manche Ratsuchende gaben sich gar mit wenigen, nichtssagenden Worten zufrieden – und schickten stattdessen ihren Harn. Er habe ein Engegefühl um Herz und Brust, berichtete beispielsweise Gregorius Krafft von Talmessingen über den kranken Vogt von Wittnau (Wytnaw) und „damit aber E. E. ain bessere oder grindtlichere Ursach seiner Leibsblödigkheit wissen möchten, schickt er hiemit abermals sein Urinam“. 28 1. Harnschau Das mit Abstand wichtigste Diagnoseverfahren des 16. und 17.Jahrhunderts war, das deutet sich hier bereits an, die Harnschau. 29 Heute assoziieren wir die Harn27
Nicholas D. Jewson, The Disappearance of the Sick-Man from Medical Cosmology, 1770–1870, in: So-
ciology 10, 1976, 225–244; Mary E. Fissell, The Disappearance of the Patient’s Narrative and the Invention of Hospital Medicine, in: Roger French/Andrew Wear (Eds.), British Medicine in an Age of Reform. London /New York 1991, 92–109.
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28
Universitätsbibliothek Basel, Ms. Fr. Gr. I 6, undatierter Brief, um 1570.
29
Zur Geschichte der Harnschaulehre vgl. Camille Vieillard, L’urologie et les médecins urologues dans la
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schau gemeinhin mit Scharlatanerie. Aber damals galt sie als eine ausgefeilte, wissenschaftlich anerkannte Kunst. Studenten an den berühmtesten Universitäten der Zeit wurden darin unterrichtet und in der klinischen Ausbildung an den großen oberitalienischen Krankenhäusern hatte die Harnschau ihren selbstverständlichen Platz. Über den Harn, so die weithin akzeptierte Vorstellung, schied der Körper jene krankhaften, unreinen, fauligen Stoffe aus, die den allermeisten Krankheiten zugrunde lagen. Auch aus dem medizinischen Alltag der Bevölkerung war die Harnschau nicht wegzudenken. Wenn Menschen krank wurden, so ließen sie in aller Regel zunächst ihren Harn besehen 30, und auch jene Patienten, die damals brieflich bei einem entfernten Arzt Rat suchten, schickten regelmäßig ihren Harn mit. Aus ihm vor allem – und nicht etwa aus der schriftlichen Schilderung des Krankheitsbildes – sollte der Arzt die Krankheit erkennen und, darauf gegründet, eine geeignete Therapie verschreiben. Auch ein Adliger wie Graf von Löwenstein sandte wiederholt seiner „Gemahel Vrinam damitt Ier zu besserer Erkandtnüß der Schwachaitt kommen mecht“. 31 Ein geschickter Harnschauer konnte die Konsistenz beurteilen, also ob der Harn zu dick oder zu dünn war; man verglich das gerne mit unterschiedlichen Sorten von Rotwein. Er konnte mindestens zwanzig unterschiedliche Harnfarben unterscheiden, wie wir sie auch auf den zahlreich überlieferten Harnfarbentafeln finden, von hell und durchsichtig über diverse Schattierungen von gelb und orange bis zu grün, blau und schwarz, und konnte sie richtig interpretieren. Und er wusste die Bedeutung der zahlreichen, mit dem bloßen Auge sichtbaren Beimengungen, der „contenta“ einzuschätzen, der Haare, Wolken, Schuppen, Staub- und Sandkörnchen, Wolken, Ringe und was es da noch alles gab. Den Patienten selbst musste der Harnschauer gar nicht sehen oder gar befragen. Ein Harnschauer, der sein Handwerk verstand, würde die Krankheit und ihre bestmögliche Behandlung allein aus dem überbrachten Harn erkennen. Wie das ärztliche Schrifttum immer wieder lautstark beklagte, ging dieses Vertrauen so weit, dass sich die Angehörigen und Bediensteten, die den Harn brachten, manchmal selbst auf Nachfrage weigerten, irgendwelche weiteren Informationen über den Patienten und
médecine ancienne. Paris 1903; Laurence Moulinier-Brogi, L’uroscopie au moyen âge. „Lire dans un verre la nature de l’homme“. Paris 2012. 30 Michael Stolberg, Die Harnschau. Eine Kultur- und Alltagsgeschichte. Köln/Weimar 2009. 31 Universitätsbibliothek Basel, Ms. Fr. Gr. I 6, Brief vom 13.5.1570.
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seine Krankheit zu offenbaren. Sie wollten sicher gehen, dass der Harnschauer seine Diagnose nicht auf ihre Andeutungen stützte statt auf den Harn selbst. 32 Noch im ausgehenden 17.Jahrhundert empörte sich Behrens über die „grosse Einfalt derer Leute, indem sie meinen, sie thun genug, wann sie dem Medico nur ihr Wasser schicken, nichts mehr aber dabey wissen lassen, da denn offte der Bote den Patienten weder kennet, noch gesehen hat, noch die geringste Nachricht zu geben weiß, nur daß er sein Nachbar sey, und dem [sic] Morgen eben doch nach der Stadt habe gehen wollen“. 33 Den Kranken und ihren Angehörigen eröffnete diese Praxis zudem die willkommene Möglichkeit, die Fähigkeiten des einzelnen Heilkundigen zu prüfen. Ein guter Harnschauer musste nämlich auch möglichst präzise die aktuellen Beschwerden benennen. Während die Diagnose meist auf verborgene Krankheitsprozesse tief im Körperinneren zielten, konnten die Patienten und ihre Angehörigen aber leicht beurteilen, ob der Harnschauer die Symptome des Kranken richtig erkannt hatte. Manche Patienten sollen ihren Harn sogar zeitgleich an verschiedene Harnschauer geschickt haben, um dann jenem den Vorzug zu geben, der ihre gegenwärtigen Beschwerden am präzisesten beschrieben hatte. 34 Ihm trauten sie offenbar am ehesten zu, auch die Krankheitsprozesse im Körperinneren korrekt zu identifizieren. Im ärztlichen Schrifttum machte sich seit dem 16.Jahrhundert eine gewisse Skepsis gegenüber der Harnschau breit. Sie richtete sich nicht gegen die Harnschau als solche, aber gegen deren Überbewertung. Insbesondere wurde Kritik laut an der verbreiteten Praxis, Krankheiten in Abwesenheit des Kranken allein aus dem Harn zu diagnostizieren. 35 Man warnte vor den Gefahren einer gravierenden Fehldiagno-
32
Pieter van Foreest, Uromanteia. Das ist warhafftiger und wolgegründter Bericht von den vielfaltigen
Urtheilen unnd Weissagungen auß den Urinen oder Wassern. Frankfurt am Main 1620, 228f.; Sabalathrus Liphimeus, Warnung wider den Harn-Teuffel: Das ist: gründlicher Bericht von dem Urin deß Menschen unnd sonderlich wider diejenigen, so vorgeben, daß sie alle unnd jede Kranckheiten auß bloßer Anschawung der Urin erkennen, urtheilen und curiren wollen. Nürnberg 1626, 40; Wilhelm Adolph Scribonius, De inspectione urinarum, contra eos qui ex qualibet urina de quolibet morbo judicare volunt, physiologia cursoria, in: ders., Idea medicinae secundum logicas leges informandae et describendae. Cui accessit de inspectione urinarum. Basel 1585, 11–57, hier 36f. 33
Konrad Barthold Behrens, Ob das Wasserbeschawen in Krankheiten etwas nuze, und wie weit demsel-
ben zu trauen. Hildesheim 1688, 23f. 34
Foreest, Uromanteia (wie Anm.32), 219; Georg Detharding, Der unterwiesene Kranken-Wärter. Kiel
1679, 69f. 35
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Euricius Cordus, Von der Kunst auch Missbrauch und Trug des Harnsehens. Magdeburg 1536; Foreest,
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se, zumal wenn man dem Arzt nicht einmal das Alter und Geschlecht des Kranken mitteilte. Ein blasser Harn beispielsweise war bei einem älteren Mann ganz normal, Ausdruck seiner altersgemäß schwächeren inneren Wärme. Der gleiche Harn konnte bei einem jungen Patienten auf eine lebensgefährliche Erkrankung verweisen. In der Praxis aber mussten die Ärzte sich den Erwartungen der Kranken beugen: Ein Heilkundiger, der etwas von seinem Handwerk verstand, das war die allgemeine Überzeugung, musste Krankheiten – und Schwangerschaften – aus dem Harn diagnostizieren können, auch ohne weitere Informationen über den Kranken. Felix Platter berichtete sogar mit gewissem Stolz über seine Erfolge auf diesem Gebiet. Die Harnschau war die zweite jener „Künste“, derer er sich erfolgreich bediente, um sich in Basel zu etablieren. Er machte sich nach eigener Darstellung bei Bürgern und Adligen einen Namen, „die mich sunderlich probierten mit überschickung des harns, dorus ich wißsagen muoßt, dorin ich mich also wußt zehalten, daß sich ettlich verwunderten und mich anfiengen zu bruchen“. 36 2. Die Harnschau als Ritual Bis weit ins 18.Jahrhundert hinein blieb die Harnschau so nicht nur wichtiges Diagnoseverfahren, sondern auch wesentliches Element in der Inszenierung ärztlicher Expertise. Manche Autoren versuchten zu unterscheiden zwischen einer soliden, rationalen, wissenschaftlichen Harnschau und dem „Weissagen“ aus dem Harn, der „Uromantie“. Letztere schrieben sie den irregulären Heilern zu und verunglimpften sie als „Urinpropheten“ oder „Uromanten“. Das sollte diese als abergläubisch entlarven und die Ärzte als die alleinigen Vertreter einer rationalen und gottgefälligen Medizin erscheinen lassen. Doch der Vergleich zwischen Harnschau und Orakel traf in mancher Hinsicht einen wahren Kern, für die Harnschau insgesamt und auch im Blick auf die ärztliche Praxis. Mit gutem Grund wurde die Mitteilung der uroskopischen Diagnose oft mit dem Begriff eines „iudiciums“, eines „Richterspruchs“ belegt. Gegründet auf sein esoterisches Wissen, seine besondere uroskopische Begabung, sollte der Harnschauer zu Einsichten gelangen, die gewöhnlichen Zeitgenossen nicht offenstanden.
Uromanteia (wie Anm.32); Ananius Horer, Artzney-Teuffel, oder kurtzer Discurs, darinn diesem Ertzmörder seine Larve abgezogen. O. O. 1634; James Hart, The Anatomie of Urines. Containing the Conviction and Condemnation of them. London 1625; Liphimeus, Warnung (wie Anm.32). 36 Platter, Lebensbeschreibung (wie Anm.1), 338.
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Diese Fähigkeit ließ sich eindrucksvoll inszenieren. Schon der konzentrierte Blick auf das gehobene Harnglas, wie ihn die Harnschriften empfahlen, das sanfte Schütteln des Glases und der gezielte Lichteinfall, der die Harnflüssigkeit womöglich goldfarben schimmern ließ, konnten der Harnschau eine geheimnisvolle Aura verleihen. Um nicht für einen „Ungelehrten und Unerfahrenen“ gehalten zu werden, beschrieb Nicolaus Pfizer mit leisem Spott das Gebaren eines ärztlichen Harnschauers, mache er die Umstehenden zu Zeugen, wie er „das Harnglas alsdann ergreiffet, solches bald hin bald her kehret, wol einen krummen Hals darzu machet; zuletzt aber, nachdeme er sich ettliche Mal gereuspert, mit etwas erhabener Stimme eine gemeiniglich auf Schrauben gestellte Antwort ertheilet: welche man auch an Statt eines Oraculi Delphici annimmt“. 37 Die Harnschau war insofern weit mehr als nur eine diagnostische „Technik“. Sie trug wesentliche Züge eines Rituals. Was genau unter einem „Ritual“ zu verstehen ist, ist zwar in der Forschung umstritten, doch über einige, auch für das Verständnis der Harnschau entscheidende, wesentliche Charakteristika herrscht weithin Einigkeit: Rituale folgen einem mehr oder weniger starren, vorgegebenem Ablauf. Sie stellen in der Regel eine Verknüpfung mit höheren, übernatürlichen, sakralen Sphären her und verleihen dem Geschehen so eine gewisse Aura. Nicht zuletzt dienen Rituale in hohem Maße der Vermittlung und Bekräftigung von Bedeutungen. Sie sind, in Jeffrey Alexanders Worten, „episodes of repeated and simplified cultural communication in which the direct partners to a social interaction, and those observing it, share a mutual belief in the descriptive and prescriptive validity of the communication’s symbolic contents“. 38 Stanley Tambiah hat Rituale gar nicht nur als ein „eigenständiges Medium für die Übertragung von Botschaften“ untersucht, sondern ihnen die „Konstruktion sozialer Wirklichkeit und die Schaffung und Entwicklung kosmologischer Ideen“ zugeschrieben. 39 Ein derartiges Verständnis der Harnschau als Ritual trägt wesentlich dazu bei, die anhaltende Geltungskraft der Harnschau in der vormodernen medizinischen All-
37
Johannes Nicolaud Pfizer, Zwey sonderbare Bücher von der Weiber Natur, wie auch deren Gebrechen
und Kranckheiten. Nürnberg 1673, 169f. 38
Jeffrey C. Alexander, Cultural Pragmatics. Social Performance between Ritual and Strategy, in: ders./
Bernhard Giesen/Jason L. Mast (Eds.), Social Performance. Symbolic Action, Cultural Pragmatics, and Ritual. Cambridge 2006, 29–90, hier 29. 39
Stanley J. Tambiah, Eine performative Theorie des Rituals, in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hrsg.),
Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch. Opladen 1998, 227–250, hier 231.
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tagskultur zu verstehen. Wenn man die Harnschau nicht als schlichtes Diagnoseverfahren, sondern, im Sinne der Ritualtheorie, als performative Praxis der Generierung, Kommunikation und Bekräftigung von Bedeutungen begreift, wird verständlich, warum sich diese Praxis, trotz der anhaltenden Kritik der Ärzte und der aus heutiger Sicht fehlenden diagnostischen Aussagekraft, so hartnäckig hielt. Eine solche ritualhafte diagnostische Praxis lässt sich mit den Maßstäben moderner naturwissenschaftlicher Rationalität nicht angemessen beurteilen. Als „symbolische Handlungen“ 40 können Rituale nicht im herkömmlichen Sinne falsifiziert werden. Eine Praxis wie die Harnschau, die derart tief in Kultur und Alltag verankert ist, bedarf zunächst keiner Rechtfertigung mehr und erst recht keines Beweises ihrer Gültigkeit oder Nützlichkeit. Sie ist in hohem Maße selbstbestätigend. Wie Evans Pritchard in seiner klassischen Studie über das Orakel bei den Azande eindrucksvoll gezeigt hat, müssen fehlerhafte Urteile und Voraussagen keineswegs den Wert des Rituals an sich in Frage stellen. Sie können vielmehr unterstreichen, wie wichtig es ist, die Regeln des Rituals möglichst präzise einzuhalten. So bestätigen sie letztlich die Bedeutung des Rituals, anstatt es in Zweifel zu ziehen. 41 Rituale, gleich ob es sich um Orakel oder um Harnschau handelt, verlieren in der Regel erst dann an Bedeutung, wenn sich die betreffende Kultur insgesamt grundlegend verändert, wenn sich neue Auffassungen von Mensch und Natur und, im Falle medizinischer Rituale, neue Vorstellungen vom Körper und seinen Krankheiten und ihrer angemessenen Diagnose durchsetzen – so wie das allmählich im 19.Jahrhundert geschah. Eine der Harnschau vergleichbare orakelhafte Qualität hatte auch die medizinische Astrologie. Sie war als medizinisches Diagnoseverfahren – im Gegensatz zur Horoskoperstellung – vor allem in England erfolgreich. 42 Der Heilkundige berechnete hier vor den Augen des Patienten den Stand der Planeten zum Zeitpunkt des Krankheitsbeginns oder der gegenwärtigen Konsultation und benannte darauf gegründet dessen Krankheit. So führte er sein besonderes, esoterisches Wissen im Allgemeinen vor Augen, seine Fähigkeit, den Stand der Planeten und ihre Einflüsse auf den menschlichen Körper zu berechnen.
40 Vgl. den Untertitel von Alexander/Giesen/Mast (Hrsg.), Social Performance (wie Anm.38). 41 Edward E. Evans-Pritchard, Witchcraft, Oracles and Magic among the Azande. Oxford 1937. 42 Barbara Howard Traister, The Notorious Astrological Physician of London. Works and Days of Simon Forman. Chicago/London 2001; Lauren Kassell, Medicine and Magic in Elizabethan London. Simon Forman – Astrologer, Alchemist, and Physician. Oxford 2005.
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3. Pulsdiagnose Die Harnschau ist zweifellos das eindrucksvollste Beispiel, doch solche ritualisierten, performativen Elemente, mit deren Hilfe ärztliche Expertise inszeniert wurde, lassen sich auch in anderen Bereichen der damaligen medizinischen Praxis nachweisen. Das wichtigste Diagnoseverfahren des 16. und 17.Jahrhunderts war neben der Harnschau die Pulsdiagnose. Die historischen Wurzeln reichen in die Antike zurück. Im Mittelalter stand das Fühlen des Pulses als unersetzliches Diagnoseverfahren mehr oder weniger gleichberechtigt neben der Harnschau. In den folgenden Jahrhunderten rückte es gegenüber der Harnschau etwas in den Hintergrund, blieb aber, beispielsweise für die Fieberdiagnostik, zentral. 43 Genrebilder der Frühen Neuzeit führen den Arzt regelmäßig entweder als Harnschauer vor oder als Pulsdiagnostiker, und nicht selten verdichteten die Künstler das Geschehen und zeigten den Arzt, wie er – in der tatsächlichen Praxis kaum vorstellbar – die eine Hand am Handgelenk des Kranken und mit der anderen ein Harnglas gegen das Licht haltend, beide Verfahren gleichzeitig praktizierte. Ähnlich wie die Harnschau wurde die Pulsdiagnose an den Universitäten gelehrt. In Padua waren die beiden Verfahren sogar in einem eigenen Lehrstuhl „De pulsibus et urinis“ institutionalisiert. 44 Die Pulsdiagnose galt als sehr diffizil. Nicht um die Zahl der Pulsschläge in einer bestimmten Zeit ging es dabei, sondern um unterschiedliche Pulsqualitäten, wie die Schnelligkeit des Anschwellens, die sich nur aus langjähriger Erfahrung unterscheiden ließen. Und man musste das Getastete zu deuten wissen. Da sich in den Arterien, ehe sich im 17.Jahrhundert die Vorstellung vom Blutkreislauf durchsetzte, nach damaliger Vorstellung vor allem die Lebensgeister bewegten – das Blut floss in den Venen – gab der Puls in erster Linie Aufschluss über die Kraft und die Bewegungen der Lebensgeister. So war die Pulsdiagnose vor allem das typische diagnostische und prognostische Verfahren bei Fiebern und überhaupt bei schweren, möglicherweise tödlichen Krankheiten. Der Puls half, zu erkennen, ob der Patient dem Tod nahe war oder vielleicht doch noch überleben würde. Ähnlich wie bei der Harnschau sollen sich manche Ärzte hier sehr viel Zeit gelassen haben. Minutenlang tasteten sie die eine Hand, die andere, vielleicht auch den Fuß ab und signalisierten mit solcher
43
Zur mittelalterlichen Tradition vgl. Faith Wallis, Signs and Senses. Diagnosis and Prognosis in Early
Medieval Pulse and Urine Texts, in: Social History of Medicine 13, 2000, 265–278. 44
Bartolo Bertolaso, La cattedra „De pulsibus et urinis“ (1601–1748) nello studio padovano, in: Castalia 16,
1960, 109–117.
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Sorgfalt ihre Fähigkeit, aus dem Puls den Zustand des Patienten zu erkennen. Vieles deutet allerdings darauf hin, dass das Tasten des Pulses bei weitem nicht die gleiche dramatische Überzeugungskraft auf die Patienten und ihre Angehörigen ausübte wie die Harnschau. Sie hatte nicht den gleichen prominenten Platz in der medikalen Laienkultur, ja, die zahlreichen irregulären Heiler scheinen sich ihrer, im Gegensatz zur Harnschau, kaum bedient zu haben. 4. Körperliche Untersuchung Auch das manuelle Betasten des Bauchraums barg ein beachtliches performatives Potential und erlaubte es dem Arzt, seine Expertise wirkungsvoll in Szene zu setzen. In der medizinhistorischen Forschung hält sich hartnäckig die Auffassung, die Ärzte hätten ihre Patienten früher nur ausnahmsweise körperlich untersucht, und tatsächlich spielt die körperliche Untersuchung in den theoretischen Lehrbüchern kaum eine Rolle. Ein genauerer Blick in praxisnahe Quellen zeigt jedoch, dass die körperliche Untersuchung durchaus praktiziert wurde. Das Betasten vor allem des Bauchs war mancherorts sogar Routine und wurde an den Universitäten gelehrt. „In omnibus morbis exploranda tactu hypocundria [sic]“ – „bei allen Krankheiten ist der Oberbauch durch Berührung zu erkunden“, lernte der junge Georg Handsch schon um 1550 als Medizinstudent in Padua. In seinen Aufzeichnungen finden sich zahlreiche Hinweise auf die Ergebnisse einer solchen manuellen Untersuchung, die er selbst oder seine Kollegen vorgenommen hatten. 45 Die aus dem Betasten erschlossenen Diagnosen waren teilweise von beachtlicher Raffinesse und Präzision. Als der französische Arzt Geoffroy im frühen 18.Jahrhundert zum Fall einer Dame konsultiert wurde, die über Bauchschmerzen, Fieber und Schwäche klagte und zunehmend abmagerte, betastete er den Oberbauch und kam zu dem Schluss, dass wahrscheinlich der rechte Eierstock Ursache ihres Leidens sei, und zwar sei dieser wohl verhärtet und drohe zu vereitern. 46 Wer aber durch bloßes Betasten die wahren Ursachen der Krankheit, etwa eine krankhafte Verhärtung der Milz erkannte, der zeigte, wie bei der Harnschau, eindrucksvoll seine besondere Fähigkeit, die geheimnisvollen Veränderungen im Körperinneren aufzudecken. Und in beiden Fällen, das kann 45 ÖNB, Cod. 11207, fol.236. Ausführlicher hierzu Michael Stolberg, Examining the Body, c. 1500–1750, in: Sarah Toulalan/Kate Fisher (Eds.), The Routledge History of Sex and the Body, 1500 to the Present. Oxford 2013, 91–105. 46 Bibliothèque Interuniversitaire de Médecine, Paris, Ms. 5245, Nr.28, Antwort auf eine briefliche Ratsuche vom 22.2.1725.
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man rückblickend hinzufügen, war die Diagnose durch die Patienten oder andere Heilkundige nicht unmittelbar überprüfbar oder gar widerlegbar.
IV. Therapeutisches Theater In der vormodernen Krankheitsbehandlung lassen sich, verglichen mit den genannten diagnostischen und prognostischen Verfahren, solche, die professionelle Expertise untermauernden, performativen oder gar rituellen Elemente auf den ersten Blick weniger eindrucksvoll nachweisen. Die Gabe von Arzneimitteln erscheint zunächst unspektakulär, zu ähnlich der Aufnahme von Essen und Trinken. Aber der erste Eindruck täuscht. Zum einen wurden damals nicht nur Wunden, sondern auch innerliche Krankheiten chirurgisch behandelt: durch ein Aufschneiden oder Verbrennen der Haut, um krankhafte Säfteansammlungen, Eiterbeulen und dergleichen zu entleeren. Wir wissen aus der kulturanthropologischen Forschung, in welch hohem Maße solche Eingriffe von den Patienten als heilbringende Rituale interpretiert werden können. Das gilt umso mehr, wenn spezielle, im Alltag nicht gebräuchliche Werkzeuge und Gefäße gebraucht werden, deren Anwendung die Beherrschung bestimmter Techniken voraussetzt. Zum anderen kommt hier ein performativer Faktor ins Spiel, mit dem sich die historische Forschung bislang in dieser Beziehung nur sehr unzureichend auseinandergesetzt hat: der menschliche Körper selbst. Er kann, wie oben erwähnt, in Form eines unerwarteten Krankheitsverlaufs die Autorität des Arztes untergraben. Er kann aber auch zum eigenständigen, die Wirksamkeit der Behandlung augenfällig validierenden Akteur werden. Die Einnahme eines Medikaments war undramatisch – die Wirkungen aber, die Reaktionen des Körpers auf diese Mittel waren zum Teil sehr drastisch. Zehn, fünfzehn, zwanzig Stühle nach der einmaligen Gabe eines Abführmittels notierten zeitgenössische Ärzte, ein halbes oder gar ein volles Dutzend Mal Erbrechen. Häufig wurden die Mittel genau nach diesem Kriterium ausgesucht, denn die Ärzte wie die Patienten und ihre Angehörigen waren davon überzeugt, dass es in den meisten Krankheiten vor allem darauf ankam, die natürlichen Ausscheidungen zu fördern, um den Körper auf diese Weise – möglichst gezielt – von dem Krankheitsstoff zu befreien. Wer über entsprechende Mittel verfügte, der gab zu erkennen, dass er das Geschehen im kranken Körper maßgeblich beeinflussen konnte. Die Ärzte nutzten zudem die Gelegenheit, den Patienten und ihren Angehörigen
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vor Augen zu führen, dass ihre Mittel in der Tat den gewünschten Effekt zeitigten und ihre Diagnose richtig war. Sie verwiesen auf den unappetitlichen Schleim oder die Galle, die der Patient mit dem Erbrochenen ausschied, oder erklärten die dunkle Farbe des Stuhls als Hinweis auf verbrannte, scharfe Materie, derer sich der Körper – dank ihrer Mittel – erfolgreich entledigt habe. Selbst beim Aderlass versäumten sie es nicht, wie wir es ihren Notizen entnehmen können, den Patienten zu zeigen, wie verschleimt oder wie schwarz und verbrannt ihr Blut aussehe – was die Notwendigkeit und die heilbringende Wirkung des verordneten Aderlasses eindrücklich belegte. 47
V. Schluss Die zeitgenössische medizinische Praxis, so ist deutlich geworden, bot den Ärzten vielfältige Möglichkeiten, ihre überlegene Expertise performativ in Szene zu setzen. Und diese Bemühungen waren oft erfolgreich. Das zeigen beispielhaft die zahlreichen Äußerungen in Patientenbriefen über die „erfolgreiche“ Behandlung dieser oder jener Krankheit durch einen bestimmten Arzt. Dem Arzt war es in diesen Fällen gelungen, der Krankheit eine Deutung zu verleihen, welche die Patienten und ihre Angehörigen überzeugte, und der glückliche Verlauf schien ihm Recht zu geben. Allerdings mussten die Ärzte auch immer wieder schmerzlich erleben, dass ihre Bemühungen an Grenzen stießen. Ihre Deutung des Krankheitsgeschehens bezog sich auf Vorgänge, die der unmittelbaren Sinneswahrnehmung entzogen waren und war daher für die Patienten und die Umstehenden in der Regel kaum überprüfbar. Sie musste nur verständlich und überzeugend sein. Aus dem Harn gewonnene Aussagen über den mutmaßlichen Zustand des Patienten, die Prognose des weiteren Verlaufs oder gar die uroskopische Schwangerschaftsdiagnose bargen dagegen unvermeidlich die Gefahr eines offenkundigen Fehlurteils. Schlimmstenfalls – eine häufig vorgebrachte, wenn auch im Alltag wohl weniger gravierende Gefahr – setzte man den Arzt gar gezielt dem Spott der Bevölkerung aus, indem man ihn den Harn einer Kuh oder gar Malvasierwein beschauen ließ, um sich anschließend über seine gelehrt klingende Diagnose zu belustigen oder gar den angeblichen Harn vor aller 47 Michael Ackermann [d. i. Joseph Xaver Rehmann], Medicinisches Glaubens-Bekenntniß eines schwäbischen Harnpropheten. Tübingen 1783, 72.
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Augen mit offenkundigem Genuss zu trinken. Wenn der Arzt den Braten roch und trocken anmerkte, die kranke Person habe offenbar zu viel Heu gegessen 48, hatte er die Lacher auf seiner Seite. Aber die Ärzte wussten, wie schwer es war, den Harn von Tieren und Menschen zu unterscheiden. In der Diagnostik und Prognostik konnte sich der Arzt immerhin noch ein Stück weit mit ausweichenden oder zweideutigen Worten behelfen – oder insgeheim auf andere Informationsquellen zurückgreifen. Letztlich musste er sein Geschick aber durch entsprechende Heilungserfolge unter Beweis stellen. Der Hinweis auf den Ernst der Erkrankung und auf Gottes unergründlichen Willen und die Formulierung einer möglichst pessimistischen Prognose bot zwar einen gewissen Schutz, aber letztlich machten ungünstige Verläufe auch die geschickteste Inszenierung einer überlegenen Expertise hinfällig und bedrohten, wenn sie sich häuften, den Ruf, ja die Existenz des Arztes. Insofern taten die Ärzte auch gut daran, die Behandlung von Patienten zu vermeiden, bei denen die Aussicht auf Erfolg zweifelhaft war. „Non suscipias curam incurabilium“ oder „Incurabiles morbos non suscipere“ – „nimm keine Unheilbaren in Behandlung“, ermahnte sich der böhmische Arzt Handsch wiederholt in seinen Notizbüchern. 49 Das widersprach diametral der erklärten Pflicht des christlichen Arztes, auch solchen Patienten beizustehen. Und es war in finanzieller Hinsicht durchaus bedauerlich, denn chronisch und unheilbar Kranke benötigten eine intensive Behandlung und waren insofern lukrativ. Zu groß aber war die Gefahr, dass man die Schuld am schlechten Ausgang dem Arzt zuschrieb und er sich den „nomen mali medici“, „den Ruf eines schlechten Arztes“ erwarb. 50 Der einzelne Arzt musste sich in der alltäglichen Praxis obendrein nicht nur immer wieder aufs Neue gegen die Konkurrenz seiner Kollegen behaupten, die, wenn sie ergänzend hinzugezogen wurden, womöglich ganz gezielt seine Bemühungen um eine erfolgreiche Selbstdarstellung unterminierten. Die studierten Ärzte waren beileibe nicht die einzigen, die damals ihre heilkundlichen Dienste anboten – und sie waren nicht die einzigen, die sich auf eine Inszenierung ihrer Expertise verstanden. Am Krankenbett und im Behandlungszimmer standen ganz ähnliche Strategi-
48
Johann van Beverwijk, Schat der ongesontheydt, ofte genees-konste van de sieckten. Amsterdam 1672,
11.
198
49
ÖNB, Ms. 11205, fol.690v und fol.691r.
50
Ebd.fol.690v–691r.
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en auch der zahlreichen weniger gebildeten Konkurrenz zur Verfügung – und diese verstand sie bestens zu nutzen. Gerade die besonders eindrucksvollen performativen Elemente frühneuzeitlicher ärztlicher Praxis bedurften keines gelehrten Wissens. Insbesondere als Harnschauer brachten auch Handwerkschirurgen und die zahlreichen nichtapprobierten Heiler in Stadt und Land – die Schäfer, Scharfrichter, „Judenärzte“ und „weisen Frauen“ – in ihren diagnostischen Urteilen die Fähigkeit zum Ausdruck, tiefe Einblicken in die Geheimnisse des menschlichen Körpers zu gewinnen, Einblicke, welche die Möglichkeiten gewöhnlicher Laien weit überstiegen. Leider sind ihre Diagnosen nur sehr selten im Detail überliefert, aber die folgende, ausnahmsweise, auf Wunsch der Mutter der Ratsuchenden schriftlich formulierte und durchaus komplexe uroskopische Diagnose eines heilkundigen Schmieds im frühen 18.Jahrhundert vermittelt zumindest einen Eindruck. „Hier ist gesehen worden“, so schloss der Schmied aus dem Harn der Kranken, „ein Verkältung im Geblieht. Mid Feillung [Fäulnis] der Säfften und Verschleimung der Nieren und Schörpffung in der Blasen auch Stobffung im Rukratt: näbst Kreutzsmertzen und fliegenden Hietzen jm Kobff: unruigen schlaffen geschwollenen Magen und Gederm. Mitt Reissen in den Narffen ist ein flägmadisches Fieber et hemrueelol (?) [Hämorrhoiden?] albis.“ 51 Aus heutiger Sicht mag das absurd klingen, aber die Krankheitsvorstellungen, die dieser Diagnose zugrunde lagen, waren damals weithin akzeptiert. Sie entsprachen dem Erwartungs- und Verständnishorizont der Patienten. Auch die nicht akademisch gebildeten Heilkundigen verschrieben drastische Brech- und Abführmittel und zeigten den Patienten anschließend, wie verdorben die Materie war, von der sie den Körper auf diese Weise befreit hatten. Der Aderlass gar wurde ohnehin in erster Linie von Chirurgen durchgeführt und bot diesen eine willkommene Gelegenheit, dem Patienten und seinen Angehörigen das dunkle Blut in der Aderlassschale zu zeigen und ihnen vor Augen zu führen, wie verschleimt, verbrannt oder verdorben es war. Und wie sich selbst den verächtlichen Schilderungen der Ärzte entnehmen lässt, verstanden es manche nichtärztlichen Harnschauer noch besser, der Harnschau eine gewisse ritualhafte Aura zu verleihen und auf diese Weise ihren exklusiven Zugang zu den geheimnisvollen Krankheitsprozessen im Körperinneren in Szene zu setzen. Lautstark klagte beispielsweise Ananius Horer 1634 über jene „empirische UrinPropheten, Harngicker und Wicker“, die bei der 51 Stadtarchiv Schwäbisch Hall, Best. 11, 84, Harnzettel von 1784; die Mutter der jungen Frau vermutete – zu Recht, wie sich später herausstellte – eine Schwangerschaft.
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Harnschau „allerhandt wunderliche Ceremonien und Gesticulationes“ gebrauchten. Sie „halten das Urinal neben einen Spiegel, messen es mit einem Circkel, gehen damit bald hieher, bald dort hin im Gemach, schütteln und schwencken den Urin im Glaß herumb, gießen etliche Tropffen davon auf die Erden, wiegen das Glaß in der Handt, riechen dran, ja schmeckens (welcher Malvasier ihnen dan billich zu günnen is)“. Ja, „etliche destilliren oder sieden den Urin zuvor, alles zu dem Ende, daß diese Leutbeschiesser [sic] mit solchen Gauckelpossen eine Verwunderung erwecken, grossen Zulauff bekommen und viel Geldes erhaschen mögen“. 52 Ähnlich berichtete Foreest aus Holland von vielen Harnschauern, „welche in Besichtigung der Wasser den aberglaubischen Jüden folgen, viel seltzame Ceremonien gebrauchen, bald in diesen, bald aber in jenem Winckel oder Ecke deß Gemachs herumblauffen, gebrauchen sich [sic] auch etwann am hellen Tag brennender Liechter, gehen etwann hienauß an den [sic] Lufft, oder kehren sich gegen der Sonnen, und begeben sich endlich wiederumb in ihr Gemacht und nehmen die Wasser allenthalben mit, bewegen dieselbige hin unnd her, pflegen auch etwann daran zu riechen, als denn tropffenweiß außzugießen, oder auff einer Wagen zu wiegen, unnd ander dergleichen Gauckelwerck mehr damit zu treiben, die Leute desto mehr zu betriegen, ihren Lügen einen Schein zu machen, unnd einen größern Ruhm bey dem Pöfel zu erlangen“. Damit ihre „Authoritet und Ansehen“ umso größer werde, hielten „etliche die zu ihnen gebrachte Wasser gegen einen hellen und reinen Spiegel“, „den närrischen Pöfel dardurch zu einer Verwunderung zu bringen“. 53 Harnglas und Aderlassschale verweisen in mancher Hinsicht auf eine fremde, längst vergangene Welt. Performative, ritualhafte Elemente und die dazugehörigen Objekte aber spielen auch heute noch, in der nur scheinbar ganz von Rationalität und Wissenschaftlichkeit bestimmten modernen Biomedizin eine wichtige Rolle in der Inszenierung medizinischer Expertise – von dem hochkomplexen, durch eigene Kleidung, Instrumente und zeremoniell anmutenden Abläufen geprägten Geschehen im Operationssaal bis zum weißen Kittel und dem demonstrativ getragenen Stethoskop.
200
52
Horer, Artzney-Teuffel (wie Anm.35), 59.
53
Foreest, Uromanteia (wie Anm.32), 204.
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Der Fakultätspatron als Experte Zur rituellen und bildlichen Inanspruchnahme von Heiligen für die Herausbildung akademischen Berufsbewusstseins im späten Mittelalter von Wolfgang Eric Wagner
Identity, reputation and rank were essential for scholars. The construction of a self-image and its acceptance and, if necessary, the conflict-laden demarcation from other social categories were essential for alumni of universities who tried to obtain acceptance as a distinct social group. Initially, medieval societies had not known crafts or vocations which would have required academic knowledge and which would have provided its agents with opportunities to use their competences in an effective way. Still around 1500 the supply of educated alumni exceeded the demand for learned skills by far. This article concentrates on qualitative strategies that were embarked on by alumni in order to enhance their professional options. Taking St Ivo, St Cosmas and St Damien als examples, it argues that by venerating specific saints late medieval scholars managed to create a professional identity and an ethos of their own.
I. Einleitung Weder der soziale Status der akademisch Gebildeten noch ihre Rolle in der mittelalterlichen Gesellschaft waren von vorneherein festgelegt. 1 Diese soziale Unbestimmtheit war den Zeitgenossen durchaus bewusst; sie spiegelt sich etwa im Bild des fahrenden Scholaren der Vagantenlyrik wider. 2 Sie resultierte zum einen daraus, dass die Akteure nur eine ungenügende Vorstellung von sich selbst besaßen und diese über die Kanäle der Repräsentation folglich auch nur mangelhaft vermitteln konnten. Oder anders ausgedrückt: Um als soziale Gruppe einen Platz in der vormodernen Ordnung zu finden, benötigten die Gelehrten Identität, Reputation und
1 Vgl. Jacques Le Goff, Les intellectuels au Moyen Âge (Le temps qui court, 3.) Paris 1957 (dt.: Die Intellektuellen im Mittelalter. Stuttgart 1986); Martin Kintzinger, Wissen wird Macht. Bildung im Mittelalter. Ostfildern 2003, bes. 108–113; Frank Rexroth (Hrsg.), Beiträge zur Kulturgeschichte der Gelehrten im späten Mittelalter. (Vorträge und Forschungen, 73.) Ostfildern 2010. 2 Vgl. Helen Waddell, The Wandering Scholars. New York 1927; Le Goff, Intellektuelle (wie Anm 1), 30– 41; Stephanie Irrgang, Peregrinatio academica. Wanderungen und Karrieren von Gelehrten der Universitäten Rostock, Greifswald, Trier und Mainz im 15.Jahrhundert. Stuttgart 2002; dies., Scholar vagus, goliardus, ioculator. Zur Rezeption des „fahrenden Scholaren“ im Mittelalter, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 6, 2003, 51–68.
DOI
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Rang, sie bedurften der Konstruktion eines Selbstbildes, der Darstellung und Wahrnehmung dieses „Images“ und seiner notfalls konflikthaften Abgrenzung gegenüber dem anderer Gruppen. 3 Zum anderen hielt die mittelalterliche Gesellschaft, Rainer Christoph Schwinges zufolge, keine Berufe bereit, deren Inhaber über akademisches Wissen verfügen mussten und es außerhalb ihres Milieus auch wirkungsvoll anwenden konnten. 4 Noch um 1500 habe das Angebot an akademisch Gebildeten die Nachfrage bei weitem übertroffen: „Ein Arbeitsmarkt für Universitätsbesucher und Absolventen, mithin Positionen für akademische Expertenberufe von einiger Stabilität und Dauer existierten im strukturellen Sinne noch nicht, ganz abgesehen von einem gewissen Anerkennungspotential gegenüber den Inhabern solcher Positionen, das ihnen und nur ihnen entgegen zu bringen war und nur ihnen Einfluss garantierte.“ 5 Schwinges vertritt die These, dass der pure Angebotsdruck, auch der massenhaft artistische, die Dinge in Bewegung gebracht, die Arbeitsmärkte elastisch gemacht und die beruflichen Möglichkeiten ausgeweitet habe, allerdings unter sehr großen regionalen Schwankungen im Reich, was Vorsprung und Nachhinken betraf, von West nach Ost und von Süd nach Nord im Laufe des 15.Jahrhunderts. Die allgemeine Entscheidung über die Lösung des Drucks sei jedoch nicht mehr im 15.Jahrhundert gefallen, sondern mit durchschlagendem Erfolg erst in den frühen Jahrzehnten des 16.Jahrhunderts. 6 Im Folgenden soll neben dem quantitativen Angebotsdruck noch ein anderer Weg aufgezeigt werden, durch den die beruflichen Möglichkeiten für akademisch Gebildete im späten Mittelalter ausgeweitet wurden: Es wird behauptet, dass mittelalterliche Universitätsgelehrte durch die Bezugnahme auf bestimmte Heilige und durch die Art und Weise ihrer Verehrung ein spezifisches Berufsbewusstsein und Berufsethos kreiert und vermittelt haben. Heilige sind demnach rituell und medial
3 Marian Füssel, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit. Darmstadt 2006; Richard Kirwan (Ed.), Scholarly Self-Fashioning and Community in the Early Modern University. Farnham 2013. 4 Rainer C. Schwinges, Zur Professionalisierung gelehrter Tätigkeit im deutschen Spätmittelalter, in: Hartmut Boockmann/Ludger Grenzmann/Bernd Moeller/Martin Staehelin (Hrsg.), Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. T.2: Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung des Spätmittelalters 1996/97. (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-hist. Klasse, 3. Folge, 239.) Göttingen 2001, 473–493, hier 482. 5 Ebd. 6 Ebd.482f. So bereits Rainer C. Schwinges, Deutsche Universitätsbesucher im 14. und 15.Jahrhundert. Studien zur Sozialgeschichte des Alten Reiches. Stuttgart 1986, 33f. und öfter (Register).
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für die Ausprägung eines akademischen Berufsbewusstseins in Anspruch genommen worden. Unter Berufsbewusstsein oder Berufshaltung und -ethik wird heute in der Soziologie das Wissen der den gleichen Beruf Ausübenden von ihrer Zusammengehörigkeit verstanden. Eine stabile berufliche Identität sei demnach als unverzichtbare Voraussetzung für die gesellschaftliche Etablierung und Anerkennung eines Berufs zu begreifen. Der Grad des Berufsbewusstseins hänge vom Grad der Professionalisierung des entsprechenden Berufs und von der Dauer der Berufstätigkeit, also von der Berufserfahrung, ab. 7 Dass diese an den sozialen Zuständen der Moderne gewonnenen Erkenntnisse nicht eins zu eins auf die vormodernen Verhältnisse übertragen werden können, liegt auf der Hand. So hat bereits Schwinges im Zusammenhang mit der Professionalisierung gelehrter Tätigkeit im Spätmittelalter noch einmal ins Bewusstsein gerufen, dass die mittelalterliche Gesellschaft andere Qualitäten und andere Spielregeln sozialen und politischen Erfolgs für gut und richtig gehalten habe als eine im Wesentlichen durchprofessionalisierte Leistungsgesellschaft. Wenn man daher die heute akzeptierten Bedingungen für Professionalisierung, für das Sich-Durchsetzen von Expertenberufen, zugrunde lege, müsse man auch das gesellschaftliche Umfeld mit bedenken. 8 Dieser Forderung soll im Folgenden Rechnung getragen werden, indem die hier interessierenden mittelalterlichen Professionalisierungsprozesse stets in ihrem Kontext betrachtet werden. An einige knapp gehaltene allgemeine Bemerkungen zur Entstehung von geschworenen Einungen und (Heiligen-)Bruderschaften im Mittelalter unter Berücksichtigung der Universitäten und ihrer Untergruppen schließen sich zwei Fallstudien zu Heiligen als Schutzpatronen von zwei Fakultäten an: zum Heiligen Ivo als Leitfigur der Juristen und zu den Heiligen Kosmas und Damian als Orientierungsfiguren der Universitätsmediziner.
7 Vgl. hierzu etwa Christine Hartig, Berufskulturelle Selbstreflexion. Selbstbeschreibungslogiken von ErwachsenenbildnerInnen. Wiesbaden 2008, 61. Aus juristischer Perspektive vgl. etwa Andreas Voßkuhle, Das Leitbild des „europäischen Juristen“ – Gedanken zur Juristenausbildung und zur Rechtskultur in Deutschland, in: Rechtswissenschaft. Zeitschrift für rechtswissenschaftliche Forschung 1, 2010, 326–346; aus medizinischer Sicht Christian G. Plewnia, Wandel der Arztideale. Entwicklungen in Abhängigkeit von der Dauer der Berufstätigkeit. (Internationale Hochschulschriften, 301.) Münster/New York/München/Berlin 1999. 8 Schwinges, Professionalisierung (wie Anm.4), 473f.
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II. Zur Entstehung von geschworenen Einungen und (Heiligen-)Bruderschaften im Mittelalter „Die Struktur der ‚Gesellschaft‘ im Mittelalter (wurde) zu einem sehr großen Teil gebildet durch ein dichtes Netz geschworener Verpflichtungen, die die Beziehungen der Individuen untereinander (schufen) und (regelten).“ 9 Denn vorstaatliche Gesellschaften, in denen noch keine öffentliche Schutzgewalt und keine Sicherheitsgarantie für alle besteht, bilden Selbstschutzgruppen aus, die sich nach innen auf Gleichheit und Frieden einschwören, die sich nach außen aber auf Verteidigung einstellen. Für eine Vielzahl von Belangen gab es solche Schwureinungen, wie etwa die Kaufmannsgilden oder die Schweizer Eidgenossenschaft. Seit karolingischer Zeit begegnen auch religiöse Einungen, die sich auf christliche Bruderschaft beriefen und anfangs vor allem das Gebet für die Verstorbenen pflegten. Auf diese Weise entstanden Heiligen-Bruderschaften. Ihre größte Vielfalt erreichten die religiösen Bruderschaften im Spätmittelalter: Es gab ständische oder berufliche Bruderschaften, solche für Adelige, Priester oder Handwerker, aber auch für spezielle gesellschaftliche und karitative Erfordernisse wie die Betreuung oder Beerdigung von Fremden oder Pestkranken, ebenso gab es Bruderschaften mit rein religiösen Anliegen, etwa zum Rosenkranzbeten oder zur Bußübung. 10 Und immer wurden dabei Heilige einbezogen.
9 Otto G. Oexle, Die mittelalterlichen Gilden: ihre Selbstdeutung und ihr Beitrag zur Formung sozialer Strukturen, in: Albert Zimmermann (Hrsg.), Soziale Ordnungen im Selbstverständnis des Mittelalters. Bd. 1. (Miscellanea Mediaevalia, 12/1.) Berlin/New York 1979, 203–226, hier 207. Vgl. hierzu und zum Folgenden auch ders., Gilden als soziale Gruppen in der Karolingerzeit, in: Herbert Jankuhn/Walter Janssen/Ruth Schmidt-Wiegand (Hrsg.), Das Handwerk in vor- und frühgeschichtlicher Zeit. Bd. 1. (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-hist. Klasse, 3. Folge, 122.) Göttingen 1981, 284–354; ders., Liturgische Memoria und historische Erinnerung. Zur Frage nach dem Gruppenbewußtsein und dem Wissen der eigenen Geschichte in den mittelalterlichen Gilden, in: Norbert Kamp/Joachim Wollasch (Hrsg.), Tradition als historische Kraft. Interdisziplinäre Forschungen zur Geschichte des früheren Mittelalters. Festschrift für Karl Hauck. Berlin/New York 1982, 323–340; ders., Conjuratio und Gilde im frühen Mittelalter. Ein Beitrag zum Problem der sozialgeschichtlichen Kontinuität zwischen Antike und Mittelalter, in: Berent Schwineköper (Hrsg.), Gilden und Zünfte. Kaufmännische und gewerbliche Genossenschaften im frühen und hohen Mittelalter. (Vorträge und Forschungen, 29.) Sigmaringen 1985, 151–214; ders., Gilde und Kommune. Über die Entstehung von ,Einung‘ und ,Gemeinde‘ als Grundformen des Zusammenlebens in Europa, in: Peter Blickle (Hrsg.), Theorien kommunaler Ordnung in Europa. (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, 36.) München 1996, 75–97. 10
Vgl. Rudolf Wiegand, Art.„Bruderschaft“, in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 2. München/Zürich 1983,
739–741; und die Beiträge von Martial Staub, Genossenschaftliche Organisationsformen; Städtische Genos-
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Hing man zunächst einem Heiligen an, einfach weil man in dessen Zuständigkeitsbereich lebte, so gestaltete sich das später umgekehrt: Menschen schlossen sich zusammen und wählten sich gezielt ihren Heiligen. 11 Man erkor sich einen bestimmten Heiligen zum Patron, einen Schutzheiligen, mit dem besonderen Ziel, ihn zu verehren und dadurch seine Fürbitte bei Gott zu erlangen. Zugleich gewann man mit dem Heiligen eine Leitfigur, der eine Orientierungsfunktion und damit auch Relevanz für die Identität der Gemeinschaft zukam. 12 Jede Gruppe, jeder Stand und jeder Beruf, wählte sich hierfür einen speziellen Heiligen aus; es gab aber auch standesund berufsübergreifende Heilige wie etwa Sebald in Nürnberg oder Ursula in Köln. 13 „Zu den Voraussetzungen für die Auswahl und Konstruktion, d.h. zum ‚biographischen Material‘ für die Erinnerung, Verehrung und Interpretation einer Einzelperson als Leitfigur zählen v.a. die sie charakterisierenden Eigenschaften und der (historisch kontingente) gesellschaftliche Kontext, in dem sie (stand).“ 14 Zu diesen Gruppenbildungen unter Heiligen gehörten auch die mittelalterlichen Universitäten und die Untergruppen, aus denen sie sich zusammensetzten: Fakultäten, Nationen, Bursen und Kollegien. 15 Sie alle erkoren sich einen spezifischen Schutzheiligen. So wählten die Theologischen Fakultäten entweder Hieronymus, Dominikus oder Thomas von Aquin, die Juristischen Fakultäten meist Ivo Hélory und die Medizinischen Fakultäten den Evangelisten Lukas oder Kosmas und Damian. Die Artistenfakultäten nahmen in der Regel Katharina von Alexandrien zu ihrer Patronin. 16 Auch die Artistenfakultät der 1472 gegründeten Universität Ingolstadt wählte die Hl. Katharina als Patronin aus. Auf der Rückseite des Hochaltars der Ingolstädter senschaften; Gilden und Bruderschaften, in: ders./Gert Melville (Hrsg.), Enzyklopädie des Mittelalters. Bd. 1. Darmstadt 2013, 72f., 73–78, 78f., 391–395 (Literatur). 11 Vgl. Arno Borst, Schutzheilige mittelalterlicher Gemeinwesen, in: ders. (Hrsg.), Barbaren, Ketzer und Artisten. Welten des Mittelalters. München/Zürich 1988, 298–311. 12 Vgl. Julia Sebastian, Woran Menschen ihr Herz hängen. Leitfiguren als Bausteine konfligierender Identitäten im nordirischen Friedensprozess. Frankfurt am Main 2009, 23. 13 Vgl. Borst, Schutzheilige (wie Anm.11); ders., Nürnberger Sebaldslegenden, in: ders. (Hrsg.), Barbaren (wie Anm.11), 409–428; Klaus Militzer, Ursulabruderschaften in Köln, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 66, 1995, 35–45. 14 Sebastian, Leitfiguren (wie Anm.12), 361. 15 Vgl. Frank Rexroth, Die universitären Schwurgenossenschaften und das Recht, ein Siegel zu führen, in: Gabriela Signori (Hrsg.), Das Siegel. Gebrauch und Bedeutung. Darmstadt 2007, 75–80. 16 Vgl. Patrizia Castelli/Roberto Greci (Eds.), Santi patroni e Università in Europa. (Studi Centro interuniversitario per la storia delle università italiane, 21.) Bologna 2013.
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Liebfrauenkirche, der Universitätskirche, befindet sich eine Darstellung der Disputation der Hl. Katharina von Alexandrien. 17 Der Legende nach soll Katharina im 4.Jahrhundert im Rahmen einer Disputation fünfzig heidnische Gelehrte – Philosophen – zum Christentum bekehrt haben. Die schöne, hochgebildete und unermesslich reiche Tochter des Königs Costus von Zypern hatte zuvor einige Heiratskandidaten abgewiesen, darunter sogar einen Sohn eines römischen Kaisers. Stattdessen hatte sie sich taufen lassen und Jesus Christus zum Bräutigam gewählt. Katharina reiste nach Alexandria. Als der römische Kaiser Maxentius während eines Militärzugs in die Stadt von den Christen verlangte, den römischen Göttern zu opfern, widersprach sie und fragte, warum der Kaiser nicht seinem Aberglauben abschwöre und sich zu Christus bekenne. Der Kaiser verlangte auch von ihr das Opfer, doch Katharina weigerte sich und bestand darauf, ihr Recht und ihre besseren Argumente in einer Diskussion beweisen zu dürfen. Der Kaiser lud die fünfzig besten Philosophen ein, die aber allesamt gegen die kluge Argumentation Katharinas die Waffen strecken mussten und sich dann selbst taufen ließen. Dafür wurden sie vom wütenden Kaiser verbrannt. 18 Das Altarbild wurde von Hans Mielich im Jahr 1572 gemalt, anlässlich der einhundertsten Wiederkehr der Eröffnung der Universität Ingolstadt. Auf den ersten Blick kann diese Darstellung allein als Heiligenbild verstanden werden, das offenbar keinen Bezug zur örtlichen Universität aufweist. Nur dem Kenner der Ingolstädter Universitätsgeschichte erschließt sich hier eine zweite Bedeutungsebene. Wie man bereits an der Kleidung der dargestellten Personen sehen kann, ist die Disputations17
Vgl. Heinrich Geissler, Der Hochaltar im Münster zu Ingolstadt und Hans Mielichs Entwürfe, in: Theo-
dor Müller/Wilhelm Reissmüller (Hrsg.), Ingolstadt. Die Herzogsstadt – die Universitätsstadt – die Festung. Bd. 2. Ingolstadt 1974, 145–178; Siegfried Hofmann, Der Hochaltar im Münster zur Schönen Unserer Lieben Frau in Ingolstadt, in: Ars Bavarica 9, 1978, 1–18, hier 1f.; ders., Der Hochaltar des Ingolstädter Münsters und das Jahr 1572 – mit einem Anhang über einen unbekannten Entwurf Hans Mielichs für eine Tafel dieses Altarwerks, in: Sammelblatt des Historischen Vereins Ingolstadt 102/103, 1993, 317–342; Winfried Müller, Erinnern an die Gründung. Universitätsjubiläen, Universitätsgeschichte und die Entstehung der Jubiläumskultur in der frühen Neuzeit, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 21, 1998, 79–102, hier 82– 84; Gabriele Wimböck, Der Ingolstädter Münsteraltar. (Arbeitshefte des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege, 91.) München 1998, 61, 89 und passim; Kurt Löcher, Hans Mielich (1516–1573). Bildnismaler in München. München/Berlin 2002, 25. 18
Vgl. Peter Assion, Art.„Katharina (Aikaterinê) von Alexandrien“, in: Lexikon der christlichen Ikonogra-
phie. Bd. 7. Freiburg 1974, 289–297; und Peter Schill, Ikonographie und Kult der hl. Katharina von Alexandrien im Mittelalter. Studien zu den szenischen Darstellungen aus der Katharinenlegende. Diss. phil. München 2002.
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szene keineswegs in antiker Manier wiedergegeben. Vielmehr lassen sich zumindest einige der abgebildeten Philosophen mit Ingolstädter Gelehrten aus den ersten hundert Jahren des Bestehens der Universität identifizieren: dem Botaniker Leonhart Fuchs, den beiden Mathematikern, Astronomen und Kartographen Peter und Philipp Apian, dem Theologen Friedrich Staphylus und dem Historiographen Johann Georg Turmair aus Abensberg, genannt Aventin. Die Darstellung enthält also Kryptoporträts von Ingolstädter Professoren. 19 Drei Vereinnahmungen der Heiligenfigur lassen sich in diesem Zusammenhang beobachten: Erstens wird klar, warum die Magister der Artes gerade die Hl. Katharina als Patronin für ihre Fakultät ausgewählt hatten: Den Vorstellungen der Magister zufolge hatte die Heilige ihre paganen Widersacher in einer öffentlichen Disputation überzeugt, also in der anspruchsvollsten Form, die in der scholastischen Lehre zur Verfügung stand, dem akademischen Streitgespräch. Insbesondere von den Artistenfakultäten wurde die Disputation in der Lehre gepflegt und sogar regelmäßig, ein Mal pro Semester, wie ein Schaukampf öffentlich abgehalten. Indem sich die Ingolstädter Professoren in der Disputation mit Katharina darstellen ließen, schrieben, oder besser: malten sie sich zweitens in deren Heiligenlegende mit ein. Durch die Verknüpfung mit dem Leben der Hl. Katharina wurden die Gelehrten der Universität Teil der Heilsgeschichte, des Heilsgeschehens. Ihre Personen und ihre gelehrten Tätigkeiten wurden auf diese Weise zugleich herausgehoben und betont. Zwar verstießen sie damit gegen die Beschlüsse des Konzils von Trient, das ja verordnet hatte, nichts Profanes und nichts Anstößiges auf religiösen Gemälden darzustellen. Doch mit ihrer verschlüsselten Wiedergabe wurde den Forderungen des tridentinischen Bilderdekrets Genüge getan. 20 Und indem man das Bild auf der Rückseite des Altars anbrachte, war es dem Blick des Betrachters etwas entrückt. Die Heilige wurde hier drittens gleichsam als Vehikel benutzt, um ein kirchenrechtliches Gebot straflos überschreiten zu können. Oder anders gesagt: Die Figur der Heiligen wurde instrumentalisiert, um den Spielraum für die eigene Repräsentation zu vergrößern.
19 Vgl. Siegfried Hofmann, Templum academicum – Die Kirche zur Schönen Unserer Lieben Frau. Materialien zur Geschichte der Ausstattung des Ingolstädter Münsters, in: Sammelblatt des Historischen Vereins Ingolstadt 81, 1972, 140–195. 20 Vgl. hierzu Arnold Angenendt, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart. München 1997, 242–256; Christian Hecht, Bildertheologische Theorie und künstlerische Praxis im Zeitalter der Gegenreformation. Der Hochaltar des Ingolstädter Münsters, in: Jahrbuch für Volkskunde, Neue Folge 21, 1998, 84–106.
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Denn der Kontext, dem das Bild seine Entstehung verdankte, war das Jubiläum der einhundertsten Wiederkehr der Universitätsgründung von 1472. 21 Und den Gelehrten ging es offenbar darum, sich in ihrem „Templum Academicum“ auch selbst darzustellen. 22 Aus den an diesem Beispiel angestellten Beobachtungen lassen sich drei Leitfragen ableiten, die anschließend an zwei weiteren Fällen ausführlicher verfolgt werden sollen: 1. Unter welchen Bedingungen wurde ein Heiliger zur Leitfigur eines akademischen Faches? 2. Inwiefern spiegeln sich das Berufsbewusstsein und das Berufsethos der Fachvertreter in der Charakterzeichnung und in der Darstellungsweise ihres Patrons wieder? 3. Wurde die Heiligenfigur von den Gelehrten instrumentalisiert, um ihren eigenen Handlungsspielraum zu erweitern? Um diese Fragen beantworten zu können, ist weniger die tatsächliche Lebenszeit der Heiligen interessant und ob ihre Legenden realistisch sind. Vielmehr muss man sich der Wirkungsgeschichte der Heiligen zuwenden. Das soll geschehen, indem anhand von zwei Fällen jeweils 1. die Wahl des Fakultätspatrons durch Gelehrte im Rahmen ihres räumlich-zeitlichen Kontexts beleuchtet wird, 2. die Riten und Zeremonien seiner Erinnerung und Verehrung und 3. seine Darstellung in Bildern untersucht werden. Da sich die Inanspruchnahme von Heiligen für die Herausbildung eines akademischen Berufsbewusstseins an ihnen deutlicher abzeichnet, beschränken sich die nachfolgenden Fallstudien auf zwei Fakultäten und drei Heilige: die juristische Fakultät, deren Patron der Hl. Ivo war, und die medizinische Fakultät mit ihren Patronen Kosmas und Damian.
III. Der Heilige Ivo als Leitfigur der Juristen Der Heilige Ivo oder Saint Yves (bretonisch Erwan) ist eine historisch belegte Person. 23 Geboren wohl zwischen 1247 und 1253 als Sohn eines Ritters in der Nähe der alten Bischofsstadt Tréguier in der nördlichen Bretagne, verlor er schon in jungen Jahren seinen Vater Haelorius (daher Ivo Hélory). Im Alter von etwa vierzehn Jahren
21
Bernhard H.Röttger, Der Maler Hans Mielich, München 1925, 111ff. und 130; Müller, Erinnern an die
Gründung (wie Anm.17), 82–84.
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22
Hofmann, Templum academicum (wie Anm.19).
23
Vgl. hierzu und zum Folgenden: Ernst von Moeller, Der heilige Ivo als Schutzpatron der Juristen, in: His-
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ging er an die Universität Paris und studierte nach dem Erwerb des Magistergrades in den Artes Jura und Theologie. In dieser Zeit nahm die sogenannte Rezeption des römischen Rechts volle Fahrt auf. Doch bereits seit 1219 war der Unterricht des römischen Rechtes an der Pariser Universität durch das päpstliche Dekret „Super Specula“ von Honorius III. (1216–1227) verboten. So ging Ivo als Mittzwanziger nach Orléans, wohl um an der dortigen Rechtsschule neben dem Studium des Kirchenrechts auch das des römischen Rechts fortsetzen zu können. Ungefähr im Alter von dreißig Jahren kehrte er 1280 als gründlich gebildeter Jurist und Theologe in seine Heimat zurück. Zunächst wirkte er vier Jahre hindurch als Offizial, kirchlicher Richter, des Archidiakons von Rennes, danach wurde er bischöflicher Offizial in Tréguier. Dort empfing er 1284 die Priesterweihe. Acht Jahre später erhielt er eine Pfarrei, die er bis zu seinem Tod innehatte. In Tréguier wirkte Ivo als Richter, Priester und Anwalt zugleich. Als geistlicher Richter durfte er in kirchlichen Angelegenheiten vor anderen Gerichten auftreten und Rechtsgeschäfte für „personae miserabiles“, für Arme, Unmündige, Witwen und Waisen, besorgen. In einer Zeugenaussage seines Kanonisationsprozesses wird er daher als „Anwalt der Armen“ („advocatus pauperum“) bezeichnet. 1298 gab er jedoch das Richteramt auf, um sich ausschließlich auf seine Pfarre, Askese, Gebet und Wohltätigkeit konzentrieren zu können. Seine letzte Verbindung zur Jurisprudenz soll ein Codex mit den Digesten gewesen sein, den er sich als „Kopfkissen“ unterlegte. Die letzten Lebensjahre widmete er der
torische Vierteljahresschrift 12, 1909, 321–351; Hans C. Heinerth, Die Heiligen und das Recht. (Das Rechtswahrzeichen, 1.) Freiburg im Breisgau 1939; Karl Heinz Burmeister, Der hl. Ivo und seine Verehrung an den deutschen Rechtsfakultäten, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abt.92, 1975, 60–88; Clausdieter Schott/Adalbert Erler, Art.„Ivo Helori“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 2. Berlin 1978, 511f.; Manfred Baldus, Advocatus pauperum, in: Trierer theologische Zeitschrift 88, 1979, 43–61; Jean-Pierre Leguay, Art.„Ivo, hl.“, in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 5. München/ Zürich 1991, 840; Annette Rieck, Der Heilige Ivo von Hélory (1247–1303). Advocatus pauperum und Patron der Juristen. (Rechtshistorische Reihe, 178.) Frankfurt am Main 1998, 23–66; dies., Der Heilige Ivo von Hélory – war er ein Franziskaner?, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abt. 90, 2004, 228–247; Hans Hattenhauer, Über die akademische Ausbildung Ivos von Hélory, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abt.90, 2004, 248–268; Manfred Baldus, Die Verehrung des hl. Ivo Hélory in den Rheinlanden, insbesondere an der alten Universität Köln, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abt.90, 2004, 269–285; Otfried Krafft, Papsturkunde und Heiligsprechung. (Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte und Wappenkunde, Beih. 9.) Köln/ Weimar/Wien 2005; Peter Krause, Rechtswissenschaften in Trier. Die Geschichte der Juristischen Fakultät von 1473 bis 1798. Köln/Weimar/Wien 2007, 380–387; Michael Streck/Annette Rieck, St. Ivo (1247–1303). Schutzpatron der Richter und Anwälte. Köln 2007.
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Pflege von Kranken und Hilflosen in seinem Haus. Im Alter von etwa fünfzig Jahren starb Ivo am 19.Mai 1303 und wurde in seinem Geburtsort beigesetzt. Bereits neun Jahre nach seinem Tod setzte sich der Herzog der Bretagne beim Papst in Avignon für eine Kanonisation des schon zu Lebzeiten als Heiligen Verehrten ein. 1330 begann der Prozess der Heiligsprechung mit der Beweisaufnahme. Nach Abschluss des Verfahrens erhob Papst Clemens VI. Ivo 1347 zu Ehren der Altäre. Ivos Aufstieg zum Heiligen ist eng mit der sogenannten Rezeption des römischen Rechts und mit der Entstehung des Juristenstandes verknüpft. 24 Die veränderten sozialen, ökonomischen und politischen Entwicklungen in der Umbruchszeit des 11./ 12.Jahrhunderts weckten das Bedürfnis, sie gedanklich zu durchdringen und ihnen angemessene rechtliche Formen zu verleihen. Dieses Verlangen fiel mit der Wiederaneignung der römischen Rechtstradition zusammen. Das hochkomplexe, aber fremde Recht bot neue Denkwege und Methoden, mit deren Hilfe die neuen Fragen lösbar erschienen. Aus dieser Erfahrung heraus wurde es nun zunehmend als notwendig erachtet, sich das „gelehrte Recht“ anzueignen. Sein Studium machte aus bloßen Rechtskennern akademisch geschulte Juristen mit gleichem Wissen und gleicher Denkweise und wurde zur Zugangsvoraussetzung für den juristischen Beruf. Zugleich führte das zur Aufhebung der herkömmlichen Standesgrenzen. Alle Juristen gehörten fortan einem gemeinsamen Stand an. Das klingt wie eine Erfolgsgeschichte, und das war sie auch, aber nicht für alle. Als Ivo in die Bretagne zurückkam, begann das römische Recht dort gerade das einheimische Recht zu verdrängen. Das schuf große Rechtsunsicherheit: „Der Sache nach war es eine Revolution, von oben, eine Entmündigung des Volkes durch eine dunkle und volksfremde Standeskunst. Die ehemals kostenlose Rechtspflege war jetzt zu bezahlen – die Tür zur Korruption tat sich weit auf. Für das Volk war das Recht fortan meist unverständliche Leidensordnung.“ 25 24
Vgl. Jean-Philippe Lévy, La pénétration du droit savant dans les coutumes angevins et bretons au Moyen
Âge, in: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 25, 1957, 1–53; ders., Le droit romain en Anjou, Bretagne, Poitou (d’après les coutumiers). (Ius Romanum medii aevi, V,4b.) Mailand 1976; Johannes Fried, Die Entstehung des Juristenstandes im 12.Jahrhundert. Zur sozialen Stellung und politischen Bedeutung gelehrter Juristen in Bologna und Modena. (Forschungen zur neueren Privatrechtsgeschichte, 21.) Köln/Wien 1974; James A. Brundage, The Medieval Advocate’s Profession, in: Law and History Review 6, 1988, 439–464; ders., The Medieval Origins of the Legal Profession. Canonists, Civilians, and Courts. Chicago 2008; Fillipo Ranieri, Römisches Recht, Rezeption, in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 7. München/Zürich 1995, 1014–1016; Maurizio Lupoi, The Origins of the European Legal Order. Cambridge 2007. 25
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Bernhard Großfeld, Zauber des Rechts. Tübingen 1999, 305.
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In der Bretagne wurde Ivo daher zunächst vom Volk als Nothelfer in Rechtsangelegenheiten angerufen. 26 In Frankreich, in den Niederlanden und in Italien entstand daneben eine Ivo-Verehrung durch Bruderschaften und Universitäten. In Frankreich erkoren zunächst die Universitäten Caen (gegr. 1436) und Nantes (gegr. 1460) den Heiligen zu ihrem Gesamtpatron. An der Universität Montpellier und an der Rechtsschule in Orléans, an der Ivo studiert hatte, und auch von der bretonischen Nation an der Universität Angers wurde sein Festtag feierlich begangen. Seit dem Ende des 14.Jahrhunderts weitete sich sein Kult auch auf die Universitäten im Reich aus, doch beschränkte er sich dort auf die juristischen Fakultäten. Als Ausgangsort seiner Verehrung im Reich ist Paris anzusehen, denn dort erscheint im Kalender der deutschen Universitätsnation aus den siebziger Jahren des 14.Jahrhunderts der 19. Mai als Ivo-Festtag. Trotz dürftiger Überlieferung lässt sich der Ivo-Kult für die Mehrzahl der mittelalterlichen Rechtsfakultäten im Reich vom 14. bis 16.Jahrhundert nachweisen (Prag, Wien, Heidelberg, Köln, Erfurt, Leipzig, Löwen, Freiburg im Breisgau, Basel, Ingolstadt, Trier, Mainz, Tübingen, Wittenberg). Sie verehrten den Heiligen auf verschiedene, aber ähnliche Weise. Da die Überlieferungslage es nicht zulässt, Ivo in jedem Fall als Fakultätspatron anzusprechen, erscheint es am sinnvollsten, hier den idealtypischen Ablauf des Ivo-Festes wiederzugeben, wie er anhand von Statuten, Programmen, Kalendern und Rechnungen bereits mehrfach rekonstruiert worden ist. 27 Nachdem der Dekan dazu offiziell eingeladen hatte, begann das Fest am Vorabend des Ivo-Tages mit einem Gottesdienst. Der Festtag selbst galt als „dies non legibilis“, so dass die Mitglieder der Fakultät zunächst an der Frühmesse in der Ivo-Kapelle der Fakultät teilnehmen konnten, soweit die Fakultät über eine solche verfügte, und dann an der Prozession. Sie zog in statutarisch festgelegter Rangfolge zum Hochamt zu Ehren des Hl. Ivo in die Hauptkirche der Universitätsstadt. Für die Teilnehmer war lange Festkleidung vorgeschrieben. Beim Hochamt schloss sich an das Evangelium die „Oratio panegyrica“ an. Diese Festpredigt wurde gelegentlich von Professo-
26 Vgl. zum Folgenden die Studien von: Moeller, Heinerth, Burmeister, Baldus, Rieck und Krause (alle wie Anm.23); sowie Eugen Stolz, Die Patrone der Universität Tübingen und ihrer Fakultäten, in: Theologische Quartalschrift 108, 1927, 1–49, hier 18–25. 27 Vgl. Moeller, Der heilige Ivo (wie Anm.23), 333f.; Heinerth, Die Heiligen und das Recht (wie Anm.23), 90f.; Burmeister, Der hl. Ivo (wie Anm.23), 77–80; Rieck, Der Heilige Ivo von Hélory (wie Anm.23), 143–147.
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ren gehalten, in der Regel aber von Studierenden, die dafür ein Honorar erhielten oder die Anerkennung als Disputationsleistung. Desgleichen wurde auf die musikalische Gestaltung und festliches Glockenläuten großer Wert gelegt. Nach der Messe fand im Haus des scheidenden Dekans oder im Fakultätshaus ein reichliches Festmahl statt, das „convivium Ivonisticum“, wobei der Pedell und die Studierenden freigehalten wurden. Den Ivo-Tag nahm man auch als geeignete Gelegenheit wahr, den Dekan zu wählen und die Fakultätsstatuten zu verlesen. Vielerorts wurde am 19.Mai zudem der verstorbenen Mitglieder der Fakultät mit einer Totenmesse gedacht. Karl Heinz Burmeister hat auf die strukturelle Ähnlichkeit zwischen dem Ablauf des Ivo-Festes und dem der Promotionen hingewiesen. 28 Bei beiden lassen sich die gleichen Elemente finden: Einladung, Prozession, Messe, Festmahl. „Das geschlossene Auftreten der Fakultät, deren Doktoren und Scholaren besondere Kleidung trugen, das ‚Decorum‘ solchen öffentlichen Auftritts, die feierliche Veranstaltung als ein gemeinschaftsstiftendes Ereignis sollten der Fakultät selbst und ihren Repräsentanten Würde und Ansehen verschaffen.“ 29 Die jährlich wiederkehrenden Feierlichkeiten waren geeignet, den Teilnehmern die in der „Oratio panegyrica“ entworfenen Züge des Heiligen nachdrücklich einzuprägen. Auf eine ähnliche Wirkung waren die bildlichen Darstellungen des Heiligen angelegt. 30 Auf Fakultätssiegeln, Zeptern und in Handschriftenminiaturen haben die juristischen Fakultäten ihrem Leitbild Ausdruck und Gestalt verliehen. Zum Teil sind sie direkt in die Ivo-Feiern einbezogen worden. Welche besonderen Aspekte sie dabei aus der Vita des Heiligen auswählten und wie sie diese zeremoniell einordneten und vermittelten, lässt sich sehr anschaulich an einem Einblattdruck zeigen, der in Basel am Ende des 15.Jahrhunderts erschien. Neben einer Holzschnittillustration präsentiert er zwei Hymnen und eine Antiphon auf den Hl. Ivo aus der Feder Sebastian Brants, der in Basel als Sohn des Wirtes „Zum Goldenen Löwen“ geboren worden und zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Einblattdruckes in der dortigen Universität Professor beider Rechte und Inhaber eines Lehrstuhls für Poesie war (Abb.1). 31 28
Burmeister, Der hl. Ivo (wie Anm.23), 83.
29
Rieck, Der Heilige Ivo von Hélory (wie Anm.23), 151. Vgl. Füssel, Gelehrtenkultur (wie Anm.2), 149–
187. 30
Vgl. Sabine Kimpel, Art.„Ivo (Yves) Helory“, in: Lexikon der christlichen Ikonographie. Bd. 7. Freiburg
im Breisgau 1974, 18f. 31
212
Einblattdruck, [Basel: Johann Amerbach, um 1494] 2°; Gesamtverzeichnis der Wiegendrucke, Nr.5025.
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Abb.1: Sebastian Brant, Hymnus de S. Ivone; Einblattdruck, Wien, Albertina, Inv. DG1930/166 (1493).
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Das Bild zeigt einen Gelehrten im pelzgefütterten Talar mit einem Birett auf dem Kopf in einem Saal mit Rippengewölbe und schachbrettartigem Fußboden sitzend an einem Lesepult mit hohem Rückenbaldachin. Zu seiner Rechten stehen vier gutgekleidete Bittsteller an seinem Pult, deren erster im Vordergrund wohl einen Geldbeutel in der Hand hält. Doch der Gelehrte wendet sich von ihnen ab nach Links. Von dort reicht ihm ein grob und einfach gekleideter Mann, der im Begriff ist, demütig seinen Hut zu ziehen und auf die Knie zu sinken, eine Urkunde mit einem anhängenden Siegel, die der Gelehrte entgegennimmt. Drei Spruchbänder erläutern das Geschehen und die beteiligten Personen. Das erste mit größerer Schrift bezeichnet den Gelehrten als „S(anctus) Ivo advocat(us) paupe(rum)“. Auf dem zweiten, über dem einfach Gekleideten steht: „Oh, verehrungswürdiger Ivo, der du für die Gerechtigkeit wirkst, ach, bin ich bedrückt, übernimm göttlicher Weise meine Sache, erbitte für mich armen Angeklagten Nachsicht und Milde des ewigen Richters: Mach, ich bitte Dich, dass ein Gott ist.“ 32 Auf dem dritten Spruchband über den Bittstellern heißt es: „Dieser dort erkannte die Gerechtigkeit und besorgte große Wunder.“ 33 Dabei handelt es sich um den Anfang einer Antiphon, die an Festtagen von Heiligen gesungen wurde. 34 Sebastian Brant war höchstwahrscheinlich am Entwurf dieses Einblatts beteiligt, das für eine liturgische Ivo-Feier der Basler Rechtsfakultät bestimmt war, die am IvoTag (19. Mai) stattfand. Denn das Fest des Hl. Ivo war der Höhepunkt des Studienjah-
A1 und A2: Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum (Kk. H.B. 5682/K. 1451a). Vgl. Inkunabelkatalog des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg. Bearb. v. Barbara Hellwig nach einem Verzeichnis von Walter Matthey. (Inkunabelkataloge bayerischer Bibliotheken, [4].) Wiesbaden 1970, Nr.241. A3: Wien, Albertina (Inv. DG1930/166, aus Cod. 3301 der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien). Vgl. Paul Heitz (Hrsg.), Flugblätter des Sebastian Brant, mit einem Nachwort von Franz Schultz. (Gesellschaft für Elsässische Literatur. Jahresgaben, 3.) Straßburg 1915, Nr.19 (Faksimile); Albert Schramm, Der Bilderschmuck der Frühdrucke. Bd. 21: Die Drucker in Basel. Leipzig 1938, Abb.712; Falk Eisermann (Hrsg.), Verzeichnis der typographischen Einblattdrucke des 15.Jahrhunderts im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation VE 15. Bd. 2. Wiesbaden 2004, B-76. Zu Brant siehe Joachim Knape, Dichtung, Recht und Freiheit. Studien zu Leben und Werk Sebastian Brants 1457–1521. (Saecvla Spiritalia, 23.) Baden-Baden 1992, 156–172. 32
„O qui iusticia polles venerabilis Ivo, Deprimor ah causam suscipe dive meam, Iudicis eterni venia(m)
mi(hi) posce misello, Placatumque reo: fac precor esse deu(m).“ Vgl. Sebastian Brant, Kleine Texte. Bd. 1.1 u. 1.2. Hrsg. v. Thomas Wilhelmi. (Arbeiten und Editionen zur Mittleren deutschen Literatur, Neue Folge 3.1.1 u. 3.1.2.) Stuttgart/Bad Cannstatt 1998. 33
„Iste cognovit iusticia(m) et vidit mirabi(lia) magna.“
34
„Iste cognovit iustitiam et vidit mirabilia magna; et exoravit altissimum, et inventus est in numero
sanctorum.“ Somit handelt es sich nicht um eine Dichtung Brants.
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res der Basler Juristen. Im Mittelpunkt des Festes stand wie anderswo eine Messe für den Hl. Ivo. Da beim anschließenden Festmahl ein neuer Dekan gewählt wurde, während man den alten verabschiedete, und Brants Amtszeit als Dekan 1493 endete, ist anzunehmen, dass der Einblattdruck für das Hochamt am Ivo-Tag dieses Jahres bestimmt war. 35 Dass das Einblatt als Handzettel für den Gottesdienst vorgesehen war, ergibt sich sowohl aus dem Beginn der Antiphon „Iste cognovit iustitiam et vidit mirabilia magna“, der im dritten Spruchband zitiert wird, als auch aus dem Text der Antiphon „De sancto Ivone“, der am Schluss des Einblatttextes vollständig wiedergegeben wird. Zudem empfiehlt die Überschriftzeile unter dem Holzschnitt, den Hymnus „De sancto Ivone“ zu singen „sub melodia ,Ut queant laxis‘“. Das ist das Initium des bekannten Hymnus zu Ehren Johannes des Täufers („Hymnus de S. Johanne“). Der zweite Hymnus („Ad divum Ivonem advocatum Pauperum“) sollte hingegen wohl nicht gesungen, sondern als „Oratio panegyrica“ rezitiert werden. Brant entwirft hier anhand der Figur des Hl. Ivo Idealbilder der beiden hauptsächlichen juristischen Berufe: des Richters und des Anwalts. Für das Richterideal sieht er an Ivo gemessen zwei wesentliche Bausteine: Erstens das Außer-Acht-Lassen von jeglichen außerrechtlichen Kriterien als Grundlage des Urteils, in erster Linie also die Unbestechlichkeit. Verächtlich spricht Brant hier von „den goldgierigen Händen des Richters“. 36 Als zweiten Baustein bezeichnet er den Grundsatz, ohne Ansehen der Person zu urteilen. Das Leitbild des Anwalts wird bestimmt vom Thema „Hl. Ivo – Anwalt der Armen“. So heißt es im zweiten Hymnus: „Daher bekamen die Armen die Möglichkeit, vor Gericht zu gehen: Du hast den Hilfsbedürftigen, die die goldgierigen Hände der Richter fürchteten, Wohltaten erwiesen. Wer mit Dir als Verteidiger einen Prozess um eine gerechte Sache bis zu Ende führte, der erfuhr unter Deiner Leitung Gerechtigkeit. Weder hast Du mit Rat (nach allgemeiner Gewohnheit) noch durch Schriftsätze jemandem als ein Scheinanwalt ‚geholfen‘. Einer Sache, die dem Recht oder der Ehre zuwiderlief, nahmst Du Dich grundsätzlich niemals an. Auch nicht ein einziges Mal hat jemand gewagt, sich an Dich zu wenden, dem
35 Vgl. Knape, Dichtung, Recht und Freiheit (wie Anm.31), 48–55; und ders., Art.„Sebastian Brant“, in: Stephan Füssel (Hrsg.), Deutsche Dichter der frühen Neuzeit (1450–1600). Ihr Leben und Werk. Berlin 1993, 159f. 36 Hymnus II, V. 18: „Iudicis aurilegas … manus“. Vgl. Rieck, Der Heilige Ivo von Hélory (wie Anm.23), 174.
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es um eine Rechtsverdrehung oder Betrug ging. […] Vor Dir fürchteten sich der Richter, der habgierige Rechtsschreiber und auch der Verteidiger mit seiner beredten Zunge.“ 37
Das Bild auf dem Einblatt gibt die dazu passende, typische und alle anderen dominierende Darstellung des Hl. Ivo wieder. Sie erscheint in Basel allerdings nicht zum erstenmal im universitären Kontext. 1490, also unmittelbar vor Brants Einblattdruck, begegnet sie als Miniatur zum Rektorat des Kirchenrechtlers Johannes Marolf von Friedberg in der Basler Universitätsmatrikel und zeigt Ivo, dem ein Bauer mit demütig gezogenem Hut ein Bittschreiben überreicht, mit dem Wappen des Rektors (Abb.2). 38 Auf die Darstellung des Reichen wurde hier wohl aus Platzgründen verzichtet.
IV. Die Heiligen Kosmas und Damian als Orientierungsfiguren der Universitätsmediziner Ihrer Vitenüberlieferung zufolge waren die Zwillingsbrüder Kosmas und Damian im 3.Jahrhundert in Kleinasien als Ärzte tätig und behandelten ihre Patienten und Patientinnen meist unentgeltlich. 39 Daher wurden sie „Anargyroi“ genannt. Unter der Herrschaft Kaiser Diokletians (284–305), der den römischen Götterglauben wieder zu beleben suchte und die christliche Glaubensausübung verbot, gerieten sie als Christen ins Visier des römischen Präfekten Lysia. Er befahl ihnen, den römischen Göttern zu opfern. Da sich Kosmas und Damian dieser – aus ihrer Sicht – Götzenanbetung verweigerten, verfielen sie den erbarmungslosen Strafen des römischen Rechts. Doch alle Versuche, sie in Ketten im Meer zu ertränken, sie zu verbrennen, zu kreuzigen, zu steinigen und mit Pfeilen zu töten, überlebten sie auf wundersame Weise. Erst als man sie enthauptete, erlitten sie das Martyrium. Ihr Kult hatte seinen Ausgangspunkt im Osten an den überlieferten Wirkungsorten und Grabstätten der Heiligen in Kilikien, verbreitete sich über Konstantinopel
37
Hymnus II, V. 17–26 und 39–40.
38
Basel, Universitätsbibliothek, Rektoratsmatrikel, Bd. 1, Mscr. AN II 3, fol.81 (1490); Paul L. Ganz, Die
Miniaturen der Basler Universitätsmatrikel. Basel/Stuttgart 1960, 99 (Zitat) und 220, Abb.22. 39
Vgl. Th[eodor] Graesse, Jacobi a Voragine Legenda Aurea vulgo historica Lombardica dicta. 3.Aufl. Vra-
tislaviae 1890, 636–639.
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Abb.2: St. Ivo als Wappenhalter; Miniatur, Basel, Universitätsbibliothek, Rektoratsmatrikel, Bd. 1, Mscr. AN II 3, fol.81r (1490).
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auf dem Balkan, nach Italien und Russland. 40 Ein erstes Kultzentrum entstand bereits im Lauf des 4.Jahrhunderts in Rom durch den Bau einiger Basiliken, die den beiden Märtyrern geweiht wurden. Von Rom aus verbreitete sich ihre Verehrung rasch auch in West- und Mitteleuropa. Dort bildete sich eine Reihe von Bruderschaften. Die beiden Heiligen gelten als Patrone der Ärzte, Kranken, Barbiere, Bader und Chirurgen sowie als Helfer gegen die Pest und in Seenot. Unter welchen Bedingungen Kosmas und Damian zu Patronen von Universitätsmedizinern wurden, lässt sich sehr gut am Beispiel der Universität Wien beobachten. Wohl seit der Universitätsgründung (1365) hatte die Wiener Artistenfakultät die Hl. Katharina von Alexandrien (25.November) zur Patronin und seit 1389 die Theologen Johannes den Evangelisten (27.Dezember). Die Juristen hatten 1429 zum erstenmal den Tag des Hl. Ivo (19. Mai) in ihrer Kapelle gefeiert. 41 Die Einführung der beiden Fakultätspatrone der Medizinischen Fakultät und die weitere Ausgestaltung ihrer Verehrung lässt sich anhand der Fakultätsakten recht gut nachvollziehen. 42 Die erste Erwähnung einer Verehrung von Kosmas und Damian in Wien überhaupt findet sich in den Akten der Wiener Medizinischen Fakultät. In einem Fakultätsbeschluss vom September 1413 ist die Rede von einem silbernen Gefäß, das zur Aufbewahrung der Häupter der beiden Heiligen hatte dienen sollen und das ein verstorbenes Mitglied der Fakultät vermacht hatte. Die Schädelkalotten und das Reliquiengefäß befanden sich offenbar noch im Nachlass des Verstorbenen. Möglicherweise ist sogar eine Abbildung dieses Reliquiengefäßes im „Wiener Heiltum-
40
Vgl. Wolfgang Artelt, Art.„Kosmas und Damian“, in: Lexikon der christlichen Ikonographie. Bd. 7. Frei-
burg im Breisgau 1974, 344–352; ders., Kosmas und Damian. Die Schutzpatrone der Ärzte und Apotheker. Darmstadt 1954; Anneliese Wittmann, Kosmas und Damian, Kultausbreitung und Volksdevotion. Berlin 1967; Michael van Esbroeck, La diffusion orientale de la légende des saints Cosme et Damien. (Hagiographie Cultures et Sociétés Ive–XIIe s.) Paris 1981; ders., Art.„Kosmas und Damian“, in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 5. München/Zürich 1991, 1456f.; Alexander Kazhdan/Nancy Patterson Ševčenko, Art.„Kosmas and Damianos“, in: The Oxford Dictionary of Byzantium. Vol.2. New York 1991, 1151; Bernhard Haage/Wolfgang Wegner, Art.„Kosmas und Damian“, in: Werner E. Gerabek/Bernhard D. Haage/Gundolf Keil/Wolfgang Wegner (Hrsg.), Enzyklopädie Medizingeschichte. Berlin/New York 2004, 784. 41
Vgl. Joseph von Aschbach, Geschichte der Wiener Universität. Bd. 1. Wien 1865, 190f.; Günter Hamann/
Kurt Mühlberger/Franz Skacel (Hrsg.), Das alte Universitätsviertel in Wien 1385–1985. Wien 1985, 272. 42
Vgl. hierzu und zum Folgenden: Kurt Ganzinger, Die Heiligen Kosmas und Damian als Patrone der
Wiener medizinischen Fakultät, in: Beiträge zur Wiener Diözesangeschichte. Beilage zum Wiener Diözesanblatt 26, 1985, 26–29; Sonja Horn, Das Cosmas und Damiansfest der Wiener Medizinischen Fakultät – Repräsentation und Identifikation, in: Thomas Aigner (Hrsg.), Aspekte der Religiosität in der Frühen Neuzeit. (Beiträge zur Kirchengeschichte Niederösterreichs, 10.) St. Pölten 2003, 215–244.
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buch“ von 1502 überliefert. 43 Das sogenannte Heiltumbuch ist ein seltener Frühdruck aus der Werkstatt des Wiener Buchdruckers Johann Winterburger und wurde vom Wiener Ratsherrn Matthias Heuperger, einem angesehenen Kaufmann, in Auftrag gegeben. Es stellt auf 48 Seiten ein Verzeichnis aller damals im Domschatz von St. Stephan aufbewahrten Reliquien dar. 1502 umfasste der Heiltumschatz 255 Reliquien, die größtenteils im „Heiltumbuch“ durch kleine Holzschnitte dargestellt sind und erklärt werden. Das Thema Fakultätspatron sprach der Dekan der Mediziner erstmals auf einer Fakultätssitzung am 22.September 1429 an. 44 Er führte aus, dass alle anderen Fakultäten eigene Patrone besäßen und einmal im Jahr deren Fest begingen. Darauf beschlossen die Doktoren der Medizin, in diesem Jahr probeweise ebenfalls ein solches Fest zu feiern, und zwar am Tag der Heiligen Kosmas und Damian, also am 27. September. Von da an beging die Medizinische Fakultät alljährlich diesen Tag durch einen Festgottesdienst, dem sämtliche Doktoren in festlicher Kleidung beizuwohnen hatten. Im Verlauf wurden die Reliquien der beiden Heiligen in feierlicher Prozession um die Stephanskirche getragen. An der Feier nahmen neben den Angehörigen der Medizinischen Fakultät auch der Rektor und Vertreter der anderen Fakultäten teil. In den folgenden Jahren gestaltete man die Feierlichkeiten immer weiter aus. Im Juli 1442 bot ein Magister der Fakultät eine Stiftung an, mit der die Kosten für eine würdige Feier zu Ehren der beiden Patrone finanziert werden konnten. Seit 1446 wurde für alle Verstorbenen der Fakultät bei dieser Gelegenheit auch ein liturgisches Totengedenken abgehalten. Seit 1516 trug nach dem Evangelium ein angehender Bakkalaureus der Medizin eine „Oratio panegyrica“ auf Kosmas und Damian vor. Diese Lobreden wurden gedruckt und an die Teilnehmer verteilt. Nach einer Unterbrechung zwischen 1573 und 1599 als Folge der Reformation wurde das Fest der Fakultätspatrone bis etwa 1780 begangen. Bezieht man vor diesem Hintergrund das problematische Verhältnis zwischen den Chirurgen, Badern und anderen Heilergruppen auf der einen Seite und gelehrten Universitätsmedizinern auf der anderen mit ein, so zeigt sich, dass es zwischen
43 [Johann Winterburger], Wiener Heiligthumbuch nach der Ausgabe vom Jahre 1502, sammt den Nachträgen von 1514. Wien 1882, mit Nachträgen von 1514; Hermann Zschokke, Die Reliquienschatzkammer der Metropolitankirche zu St. Stephan in Wien. Wien 1904, 14. 44 Vgl. Horn, Cosmas und Damiansfest (wie Anm.42), 55–60; und Hamann/Mühlberger/Skacel (Hrsg.), Universitätsviertel (wie Anm.41), 272.
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diesen Gruppen nicht nur Konflikte um die Aufteilung des medizinischen Marktes gab, sondern dass von Seiten der Universitätsmediziner auch Versuche unternommen wurden, die praktischen Heiler in die akademische Lehre zu integrieren. 45 Indem z.B. die Pariser Medizinische Fakultät am Ende des 15.Jahrhunderts für ihre Lehrstühle auch Barbiere zugelassen hatte, war es ihr gelungen, sich deren praktisch-manuelles Wissen einzuverleiben. In Wien gab es im 15.Jahrhundert von Seiten der dortigen Medizinischen Fakultät auf einem anderen Gebiet Bemühungen um eine Zusammenarbeit. Einem Beschluss in den Akten der Wiener Medizinischen Fakultät aus dem Jahr 1454 zufolge sollte der Reliquienkasten der Märtyrer Kosmas und Damian zur Ehre Gottes und der beiden Heiligen komplett vergoldet werden. 46 Das nötige Geld sollten die Herren Doktoren der Fakultät je nach ihren Möglichkeiten beisteuern, und wenn sie auch von anderen etwas dafür einsammeln könnten, etwa von den Chirurgen und Apothekern, so sollten sie das versuchen. In derselben Fakultätssitzung war kurz zuvor beschlossen worden, eine langwierige Auseinandersetzung mit den Apothekern beizulegen – ein Zufall, Duplizität der Ereignisse? Würden die Apotheker sich unter diesen Umständen an den Spenden beteiligen? Zumindest einer tat das tatsächlich: In der Liste der Spender, die am Ende der Eintragungen für dieses Dekanat folgt, erscheint der Apotheker Vinzenz, und er gab immerhin zwei ungarische Gulden. Der nachfolgenden Abrechnung mit dem Goldschmied ist zu entnehmen, dass das Vorhaben auch realisiert wurde. In Paris hatten sich, nachdem sich dort die Medizinische Fakultät formiert hatte, auch die Chirurgen zu einer engeren, geschworenen Gemeinschaft zusammengeschlossen, zur Bruderschaft der Heiligen Kosmas und Damian. 47 In Wien vereinnahmte die Fakultät die beiden Patrone von vorneherein für sich. Was ihre bildlichen Darstellungen angeht, so erschienen Kosmas und Damian im Osten regelmäßig im Bildprogramm der Kirchen. 48 Bereits in der Zeit vor dem Ikonoklasmus begegneten ihre Darstellungen häufig. Nach dem Bilderstreit wurden sie vorwiegend frontal dargestellt, als heilige Ärzte mit Attributen, die ihren Stand
45
Vgl. Horn, Cosmas und Damiansfest (wie Anm.42); Wolfgang E. Wagner, Doctores – Practicantes – Em-
pirici. Die Durchsetzung der Medizinischen Fakultäten gegenüber anderen Heilergruppen in Paris und Wien im späten Mittelalter, in: Rainer C. Schwinges (Hrsg.), Universität im öffentlichen Raum. (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, 10.) Basel 2008, 15–43.
220
46
Vgl. Horn, Cosmas und Damiansfest (wie Anm.42), 48.
47
Wagner, Doctores (wie Anm.45), 27f.
48
Artelt, Art.„Kosmas und Damian“ (wie Anm.40).
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kennzeichneten. Im Westen führten sie ebenfalls Arztattribute mit sich, und zwar eine Arzttasche am Gürtel, Arzneischachtel, Salbengefäß, Salbspatel und Harnglas. Im späteren Mittelalter wurden sie zuweilen durch die Tracht differenzierbar dargestellt, als akademischer Arzt und als Wundarzt. Ab dem 14.Jahrhundert sind Episoden ihrer Legende als Zyklus oder Einzelszenen zu finden, insbesondere auf Altartafeln. Sehr beliebt war im Westen die sogenannte Verpflanzung des Mohrenbeins. 49 Diese „WunderheiIung“ ist für die hier untersuchte Herausbildung und Schärfung des ärztlichen Berufsbewusstseins und -ethos durch zeitgenössische Bilder von Heiligen von größtem Interesse, denn die Darstellungen zeigen die beiden heiligen Ärzte bei einem chirurgischen Eingriff, einer Transplantation, also der Amputation eines Beines und dessen Ersatz durch das eines gerade verstorbenen Schwarzen (Abb.3 u. 4). 50 Judith-Danielle Jacquet hat durch ihre Analyse der verschiedenen Komponenten, Erzählebenen und Orte des Geschehens in Text und Bild herausgearbeitet, dass das Thema des chirurgischen Eingriffs am menschlichen Körper zur Entstehungszeit der Legende sowohl in der medizinischen Lehre als auch im täglichen Leben von der Gesellschaft stärker wahrgenommen wurde. 51 Vor allem in Italien, wo die ersten anatomischen Sektionen an verstorbenen Menschen ab dem Ende des 13.Jahrhundert ausgeführt wurden, hatte das heftige Debatten über die Bedeutung der Unversehrtheit des toten Körpers ausgelöst und diese dürften bei der Betrachtung dieser Bilder ins Gedächtnis gerufen worden sein. „Zum anderen werden sowohl das Ambiente des chirurgischen Eingriffs als auch dieser selbst erst [...] Ende des 16.Jahrhunderts [...] ‚realitätsgetreu‘ dargestellt – das heißt: In den Darstellungen zuvor handelt es sich stets um einen visionären Akt, der, da er die gelungene Heilung durch zwei Ärzte im zeitgenössischen Kostüm visualisiert, eine positive Konnotation mit dem Berufsstand der Ärzte als Experten vermittelt.“ 52 49 Vgl. Gerhard Fichtner, Das verpflanzte Mohrenbein – Zur Interpretation der Kosmas- und Damian-Legende, in: Medizinhistorisches Journal 3, 1968, 87–100; Käthe Heinemann, Die Ärzteheiligen Kosmas und Damian. Ihre Wunderheilungen im Lichte alter und neuer Medizin. Nach einem nachgelassenen Manuskript bearbeitet von Walter Artelt und Werner Friedrich Kümmel, in: Medizinhistorisches Journal 9, 1974, 255–317; Judith-Danielle Jacquet, Le Miracle de la Jambe Noire, in: Jacques Gélis/Odile Redon (Eds.), Les miracles, miroirs des corps. St. Denis 1983, 23–52. 50 Vgl. Andrea von Hülsen-Esch, Gelehrte im Bild. Repräsentation, Darstellung und Wahrnehmung einer sozialen Gruppe im Mittelalter. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen, 201.) Göttingen 2006, 302–306, hier bes. 305. 51 Jacquet, Miracle (wie Anm.49).
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Abb.3: Meister von Los Balbases, Beinwunder; Ölgemälde, London, Wellcome Library, Nr.46009i.
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Abb.4: Meister des Stettener und Schnaiter Altarretabels, Beinwunder; Stuttgart, Württembergisches Landesmuseum, Inv. 989 (16.Jh.).
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Sollten also die Abbildungen der Heiligen Kosmas und Damian den gelehrten Ärzten dazu dienen, ihren eigenen Handlungsspielraum als Chirurgen zu erweitern? Diese Frage muss wohl verneint werden. Entgegen der bereits im Mittelalter vertretenen Auffassung war die Zergliederung von Leichen damals keineswegs generell verboten. 53 Zwar hatte Papst Bonifaz VIII. am 27.September 1299 die Bulle „Detestande feriatis“ erlassen, in der er sich gegen die Praxis wandte, die Körper von Verstorbenen zu zerlegen und die Knochen durch Abkochen von den Eingeweiden und den Muskeln zu trennen. Diese Methode war im 12. und 13.Jahrhundert weit verbreitet, da auf diese Weise wenigstens die Gebeine in heimischer Erde begraben werden konnten, wenn jemand fern der Heimat starb. Doch bezog sich das päpstliche Verbot vor allem darauf, die Konservierung von Leichen durch derartige Praktiken zu unterbinden. Auf eine Behinderung medizinischer Studien und anatomischer Sektionen zielte es nicht ab. So gestand etwa Papst Clemens VII. im Jahr 1386 den Chirurgen in den Königreichen Leon und Kastilien das Recht zu, Leichen zu Studienzwecken sezieren zu dürfen. Auch die 1477 gegründete Universität Tübingen erhielt bereits im Gründungsjahr von Papst Sixtus IV. eine solche Erlaubnis.
V. Resümee Schutzheilige mittelalterlicher Gemeinwesen sind, wie Arno Borst formuliert hat, „verklärte, freundliche Helfer, die dem vielgestaltigen Leben und Treiben der Menschen freien Raum lassen und ihnen doch Spielregeln beibringen“. 54 Dieses mittelalterliche Leben und Treiben war noch nicht eingerahmt von „abstrakte[n] Theorien und richtungweisende[n] Vorschriften, sondern von menschlichen Gestalten, in denen sich der Betrachter wiedererkannte“. 55 In diesem Sinn stellten Heiligenfiguren textliche und bildliche Entwürfe für ideales Streben und Handeln dar, über das sich auch gelehrte Personen und Gruppen austauschen und einigen konn-
52
Hülsen-Esch, Gelehrte (wie Anm.50), 305.
53
Vgl. Gerhard Baader, Art.„Anatomie. I. Geschichtlicher Überblick“, in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 1.
München/Zürich 1980, 575–577, hier 576, und Gundolf Keil, Art.„Anatomie (Antike und Mittelalter)“, in: Gerabek u.a. (Hrsg.), Enzyklopädie Medizingeschichte (wie Anm.40), 56f.; Bernhard Haage/Wolfgang Wegner, Art.„Anatomie (Toledo und Spätmittelalter)“, in: ebd.57f.
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54
Borst, Schutzheilige (wie Anm.11), 311.
55
Ebd.310.
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ten. Mit Hilfe dieser Leitfiguren vermochten sie, sich einen Orientierung gebenden Rahmen zu setzen und ihn insbesondere in Auseinandersetzung mit anderen, konkurrierenden Gruppen immer wieder neu zu formulieren. Indem sie Darstellungen aus den Heiligenviten vereinfachten, bestimmte biographische Aspekte auswählten und akzentuierten, dafür andere, vor allem umstrittene, ausblendeten, verliehen sie nicht nur ihrer Leitfigur, sondern auch sich selbst ein markantes und leicht wiedererkennbares Werte- und Tätigkeitsprofil. Durch die Darstellung der Heiligen in Gelehrtenkleidung und versehen mit bestimmten tätigkeits- oder, wenn man so will, berufsspezifischen Attributen und Gegenständen, fiel es umso leichter, sie selbst und sich mit ihnen zu identifizieren. Die hier behandelten Fakultätspatrone entfalteten ihre Wirkung als Leitfiguren in Krisenzeiten; der Hl. Ivo im Prozess der Verrechtlichung der mittelalterlichen Gesellschaft, Kosmas und Damian in der Auseinandersetzung zwischen akademischen Medizinern und anderen Heilern um die Vorherrschaft auf dem medizinischen Markt. In beiden Zusammenhängen wurden die Heiligen in Anspruch genommen, um ihre Anhänger zu legitimieren und diesen als Gruppe Kontinuität zu verleihen. Die Funktion, die ihnen im Prozess der Identitätsbildung der Juristen und Mediziner zukam, kann mithin in erster Linie als eine stabilisierende beschrieben werden. Bei den Basler Juristen lässt sich zudem beobachten, wie der Hl. Ivo als Fakultätspatron eingesetzt wurde, um in einer gewandelten gesellschaftlichen Situation stabile ethische Werthaltungen zu formulieren und daraus Handlungsmuster für Rechtsgelehrte abzuleiten. Diese Bausteine einer Gelehrtenidentität schufen ein Bild von akademischen Berufen wie Anwalt oder Richter mit Ansätzen zu einem dazu passenden Berufsbewusstsein und -ethos. 56 Ein dynamisierender Effekt geht von der Orientiertheit auf ein transzendentes Ziel aus, die allen Heiligen immanent und grundsätzlich auf Grenzüberschreitung und Integration ausgerichtet ist. Das zeigt sich in Wien daran, dass das Handeln der Leitfiguren nicht nur einer Heilergruppe allein als Bezugspunkt der Erinnerung dienen konnte. Die Identifikationsangebote, die die Fakultätspatrone verkörperten, zeigen damit ein Wechselspiel stabilisierender und dynamisierender Elemente. Dass Heilige dabei auch als Projektionsfläche für die noch ausstehende Erfüllung von Wünschen
56 Vgl. Hermann Dilcher, Juristisches Berufsethos nach dem sizilischen Gesetzbuch Friedrichs II. von Hohenstaufen, in: Studien zur europäischen Rechtsgeschichte. Helmut Coing zum 28.Februar 1972. Hrsg. v. Walter Wilhelm. Frankfurt am Main 1972, 88–117.
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und Träumen dienen konnten, kommt in der bildlichen Darstellung der Beinamputation durch Kosmas und Damian zum Ausdruck. Die Vielzahl und die zunehmende Realitätstreue der Darstellungen belegen verstörend und zugleich eindrucksvoll, wie stark die anatomischen Sektionen den Zeitgenossen in den (Universitäts-)Städten präsent gewesen sein müssen.
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Dynamisierung und Dekonstruktion von Meisterschaft in den gelehrten Kulturen des 16. bis 18.Jahrhunderts am Beispiel Polens von Maria Filipiak
The pan-European rediscovery and reception of Roman law and the evolution of its perception since the late eleventh century led to the emergence of a new type of legal expert. As a result of the changes in the approach towards the interpretation of law and the definition of legal knowledge learned jurists of the Renaissance became established intellectual leaders. These new experts, combining higher legal education and practical experience, exposed and denounced specialists of the time as unlearned practitioners. One of the main critics was Bartłomiej Groicki, a sixteenth century Polish jurist who pioneered the polonisation of legal practice. Groicki did not just condemn the lack of qualifications and greed of contemporary legal practitioners – he also became one of the first European jurists to criticize the use of torture and death penalties in criminal proceedings. The same phenomenon can be observed during the eighteenth century and the Polish Enlightenment, when the satires of Ignacy Krasicki exposed the loss of moral integrity and the corruption of traditional virtues among the Dominican and Carmelite orders. This article focuses on the various strategies of self-staging employed by the investigated groups of experts, including the methods used by their critics to uncover those strategies and their attempts to deprive them of their performative magic.
I. Einleitung Neues ruft stets Kritik hervor, oder um es mit den Worten Pierre Bourdieus zu sagen: „Jeder Versuch der Instituierung einer neuen sozialen Gliederung muss mit dem Widerstand derer rechnen, die in dem aufgeteilten Raum die Herrschaftspositionen haben, und damit ein Interesse an der Aufrechterhaltung eines Verhältnisses zur sozialen Welt“. 1 Der Prozess der Einführung von neuen Ideen ist langsam und nicht immer von Erfolg gekrönt. So standen in der polnischen Rechtsgeschichte die frühneuzeitlichen Adeligen dem Projekt, das polnische Gewohnheitsrecht nach westeuropäischem Muster durch das römische Recht zu ersetzen, ablehnend gegen-
1 Pierre Bourdieu, Sprache und symbolische Macht, in: Was heißt Sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tauschens. Wien 1990, 71–114, hier 107.
DOI
10.1515/9783110576030-008
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über. 2 Im Gegensatz dazu haben die polnischen Städte des Spätmittelalters die Einführung des sächsisch-magdeburgischen Rechts im Laufe der Zeit nicht nur akzeptiert, sondern auch die Neugründung von Städten auf seiner Grundlage immer häufiger beantragt. Die sich wandelnde Einstellung gegenüber dem deutschen Recht spiegelt sich in seiner Bezeichnung in den Rechtsquellen wieder: Vom „ius theutonicorum“, d.h. dem Recht der Deutschen, wurde sie zum „ius theutonicum“ und schließlich zum „ius municipale polonicum“. 3 Die Einführung des Neuen ruft in der Regel auch die Kritik an denjenigen hervor, die vorher als Experten betrachtet wurden. Dieses Phänomen ist nicht an eine spezielle Zeit gebunden und auch nicht auf die Gruppe der Juristen beschränkt. Kritisiert werden jedoch nicht nur die Pioniere neuer Ideen. Auch die neuen, um ihre Etablierung kämpfenden Gruppen üben sich in Kritik, und zwar sowohl an den bereits etablierten sozialen Gruppierungen als auch den Mitgliedern ihrer eigenen Gruppe, in denen sie Konkurrenten um die besten Positionen im jeweiligen gelehrten Feld sehen. 4
II. Glosse oder Geschichte? Der Streit um das römische Recht in Europa Betrachtet man die europäische Rechtsgeschichte, so trifft man beispielsweise ab der Mitte des 15.Jahrhunderts auf die Humanisten in Italien, die sich als „Neue“ erfolgreich gegen die „Alten“, die Postglossatoren, durchsetzten. Ihre Kritik an den Postglossatoren war mit dem Anspruch „ad fontes“ eng verbunden, wobei eine Ak-
2 Es handelt sich um die sogenannte „Korrektur Śliwnickis“ vom 1522. Das römische Recht als ein subsidiäres Recht haben die Adeligen nicht akzeptiert, da sie in dem Lob der absoluten königlichen Macht eine Drohung ihrer „goldenen“ Freiheit und starken politischen Stellung sahen; vgl. Krystyna Bukowska, Das römische Recht in der Gerichtspraxis des 16.–18.Jahrhunderts in Polen, in: Einzelne Probleme der Rechtsgeschichte und des römischen Rechts. Referate der Internationalen Arbeitskonferenz für Rechtsgeschichte und das römische Recht, Szeged 18.–20.September 1969. Szeged 1970, 20–30, hier 20. 3 Vgl. Rolf Lieberwirth, Das sächsisch-magdeburgische Recht als Quelle osteuropäischer Rechtsordnungen. Berlin 1986, 4; Bartłomiej Groicki, Porządek sądów i spraw miejskich [Die Ordnung der Stadtgerichte und Stadtgerichtsangelegenheiten]. Krakau 1562, fol.3. 4 Der Begriff „gelehrtes Feld“ wird hier im Sinne Pierre Bourdieus verwendet, vgl. z.B. Pierre Bourdieu, Sozialer Raum, in: ders., Sozialer Raum und „Klassen“. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen. Übers. v. Bernd Schwibs. Frankfurt am Main 1985, 7–46, hier 9–15.
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tualisierung antiker Bildung und Haltung angestrebt wurde. Deswegen akzeptierten sie nicht, dass die Postglossatoren in ihrer Betrachtung des römischen Rechts an den Glossen zum Corpus Iuris Civilis anstatt an den ursprünglichen Quellen festhielten. 5 Aus der Perspektive der Humanisten würden die Postglossatoren das römische Recht „verzerren“: Ihre Interpretation der Normen des römischen Rechts sei ahistorisch und weiche von ihrem ursprünglichen Sinn so weit ab, dass man das römische Recht nicht mehr richtig verstehen könne. Außer dem Sinn der Normen würden die Postglossatoren auch den eleganten und gepflegten Still der römischen Jurisprudenz verlieren: Sie beherrschten nicht mehr Griechisch sowie das klassische Latein und erfassten ihre Erläuterungen im „barbarisierten“ Mittellatein. Angeprangert wurde zudem die scholastische, problemorientierte und stark gegenwartsbezogene Methode der Kommentatoren. Das Ziel der scholastischen Auslegung – die Anpassung des römischen Rechts an die Bedürfnisse der gegenwärtigen Gesellschaft – war für die neue Generation von Juristen nicht annehmbar. Für die Humanisten war das römische Recht nicht ein ius commune, das in Ermangelung anderer Problemlösungen auf Grundlage des geltendens Recht anzuwenden war, sondern nur ein Hilfsmittel zur Auslegung des geltenden Rechts. Ein Humanist sollte die juristischen Werke selbständig studieren und interpretieren, dabei ihren historischen Kontext jedoch nicht aus den Augen verlieren. 6 Im Zweifel sollte er zu den klassischen Quellen, wie die Reden von Cicero, die Geschichte von Plinius, die philosophischen Sprüche von Seneca greifen. Die Interpretation der Quellen durch einen Universitätslehrer galt nicht mehr als die „einzige richtige“ und für alle verbindliche Auslegung. Die Aufgabe eines Professors sei es zwar, in Zweifelfällen als Unterstützung für die Studierenden zu dienen. Anders als von den Humanisten zunächst intendiert, fasste ihre heute als „systematische“ Auslegung bezeichnete Methode nicht zuerst in Italien Fuß, sondern an der Universität von Bourges, was zur Folge hatte, dass diese Methode „mos gallicus“ in Abgrenzung zur Methode der Postglossatoren genannt wurde, die man als „mos italicus“ bezeichnete. Die Änderung der Perspektive, von der die Humanisten das römische Recht ansahen, beeinflusste auch den Bereich des juristischen Studiums. Wesentlich erweitert
5 George Mousourakis, The Historical and Institutional Context of Roman Law. Aldershot 2003, 440. 6 Krystyna Bukowska, Tomasz Drezner: polski romanista XVII wieku i jego znaczenie dla nauki prawa w Polsce [Thomas Drezner: ein polnischer Romanist des 17.Jahrhunderts und seine Bedeutung für die Rechtslehre in Polen]. Warschau 1960, 19–21.
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wurde die Auswahl von Quellenliteratur. Neben den Glossen und dem Corpus Iuris selbst sollten die Studenten vor allem auch „Heksabiblos“, „Codex Theodosiani“, „Nomokanon“ (eine Sammlung von Kirchenrecht aus der zweiten Hälfte des 9.Jahrhunderts), Tacitus’ „Annales“ sowie zahlreiche Bücher der italienischen und französischen Humanisten, in denen die einzelnen Teile des Corpus Iuris Civilis interpretiert werden, lesen. 7 Die neue Methode gewann Schritt für Schritt in ganz Europa an Popularität. Immer mehr gelehrte Juristen widmeten den ursprünglichen Quellen des römischen Rechts Aufmerksamkeit und hielten an ihnen bei der Auslegung des geltenden Rechts fest. Auch in der polnischen Rechtskultur breitete sich der Humanismus aus. Die Vorlesungen der Krakauer Akademie 8 wurden zwar weiterhin „more italico“ geführt und in der Gerichtspraxis fand man unter dem Begriff „ius commune“ eben die Glossen zum Sachsenspiegel und zum Magdeburger Weichbild 9, einzelne Juristen bezogen sich aber in ihren Werken auf das ursprüngliche römische Recht und griffen zur abendländischen juristischen Literatur. Gelesen und zitiert wurden die „Lex XII tabularum“, „Lex Iulia“ und einige andere altrömische Gesetze, die einheimischen Autoren bezogen sich auf die Schriften des Zasius sowie die stark romanisierte „Praxis rerum criminalium“. Die Juristen ermutigten zur selbständigen, kritischen Lektüre der Quellen des römischen Rechts. Um 1567 hat Groicki ein Praktikerhandbuch unter dem Titel „Die Titel des Magdeburger Rechts“ herausgegeben, welches sich im Charakter und der anvisierten Leserschaft von seinen übrigen Werken wesentlich unterscheidet. Im Gegensatz zu den anderen Büchern Groickis sind die „Titel des Magdeburger Rechts“ keine ausschließlich praxisorientierte Anleitung. Sie beinhal-
7 Ebd.25. 8 Die Anwendung des Begriffs „Akademie“ in der polnischen Sprache bedarf einer Klärung. In heutiger Onomastik wird dieses Wort in zwei Kontexten benutzt – um eine Hochschule zu bezeichnen, die berechtigt ist, den Doktortitel in mindestens zwei Disziplinen zu verleihen (so Art.3 des polnischen Hochschulgesetzes) sowie zur Bezeichnung einer Versammlung von Wissenschaftlern oder Künstlern (so z.B. die Polnische Akademie der Wissenschaften). Außerdem, wie im Fall der Krakauer Akademie, kann dieses Wort ein Teil eines historischen Namens sein: Diese Universität wurde 1364 eben als Krakauer Akademie gegründet und erst im 19.Jahrhundert zur Jagiellonen-Universität umbenannt, unter welchem Namen sie auch heute bekannt ist. 9 Krystyna Bukowska, Orzecznictwo krakowskich sądów wyższych w sprawach o nieruchomości miejskie (XVI–XVIII w.) [Rechtsprechung Krakauer Obergerichte über die Stadtimmobilien im 16.–18.Jahrhundert]. Warschau 1967.
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ten zahlreiche Ausführungen von rein wissenschaftlichem Charakter: Groicki greift nicht nur zu den Quellen des sächsisch-magdeburgischen Rechts, sondern schöpft aus der europäischen romanisierten Juristenliteratur und begründet viele seiner Belehrungen auf selbständig interpretierten Normen des Corpus Juris Civilis. 10 In einem der ersten Kapitel der „Titel“ erläutert Groicki, was die Quellen des ursprünglichen Kaiserrechts sind 11 und wie man sie zitieren sollte. Er erklärt, es gebe vier Bücher des römischen Rechts: „Das erste nennt man Digestorum sive Pandectarum, weil es alle Rechtsstreite löst und die Lehre des gesamten Rechts in sich einschließt. […] Das zweite kaiserliche Buch nennt man Codex Iustiniani. […] Das dritte Buch ist das Autenticum & Autentica, das man deswegen so nennt, weil es Rechte von besonderer Wichtigkeit in sich einschließt. […] Das vierte Buch nennt man Institutiones vel Instituta, welche wie eine Tür zu den übrigen kaiserlichen Hauptrechten sind, so dass die Jungen, die sich mit den weiteren befassen wollen, dieses zuerst kennen lernen sollten, damit sie danach per haec institutionum dogmata schwierigere Sachen in diesem Recht verstehen können.“ 12
III. Die Änderung im Bild des Experten – das Verhältnis zwischen dem theoretischen Wissen und der praktischen Erfahrung Auffällig ist auch, dass es in verschiedenen Feldern, so z.B. dem juristischen Feld, spätestens mit dem Aufkommen der Universitäten zu einer Aufwertung des theoretischen Wissens gegenüber dem praktischen Wissen kam. 10 Michał Patkaniowski, Na marginesie nowego wydania dzie Bartomieja Groickiego [Randbemerkungen zur neuen Ausgabe der Werke Bartholomäus Groicki], in: Panstwo i Prawo 11, 1956, 144f., hier 145. 11 Die „Titel des Magdeburger Rechts“ sind das einzige Werk Groickis, in dem er unter dem Begriff „Kaiserrecht“ (im Sinne von römischem Recht) das Corpus Iuris und nicht die Quellen des deutschen Rechts von der Zeit der praktischen Rezeption versteht. 12 Bartłomiej Groicki, Tytuły prawa majdeburskiego [Die Titel des Magdeburger Rechts]. Warszawa 1954, fol.21–22: „Iedny zową Digestorum sive Pandectarum, stąd iż wszystkie gadki Prawne rozwięzuią / y wszystkiego Prawa naukę w sobie zamykaią. […] Drugie Księgi Cesarskie zową Codex Iustiniani. […] Trzecie Księgi sa Autentisum & Autentica, dla tego thak rzeczone / iz w sobie zamykaia prawa wielkiey wagi.[…] Czwarte Księgi zową Institutiones vel Instituta, które są iako drzwi do inych Praw głównych Cesarskich / iż młodzi którzy sye w głębszych obierać chcą / w tych sye pierwey uczyć maią / aby potym per haec institutionum dogmata głębsze rzeczy w tym Prawie tym łatwiey mogli poiąć.“ (Übersetzung: M. F.).
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Auf dem Gebiet des Rechts bewirkte die praktische Rezeption des römischen Rechts eine Aufweichung der Grenzen zwischen den universitätsgelehrten Juristen und den Rechtspraktikern. Zuvor war es so, dass deutlich zwischen dem „Recht der Gelehrten“ und dem „Recht der Rechtspraktiker“ unterschieden wurde, d.h. das römische Recht war ein Lehrgegenstand, der keine Anwendung in der Rechtspraxis fand, während das geltende einheimische Recht dem Studienprogramm nicht angehörte und nur durch die berufliche Praxis bei Gericht oder in einer Kanzlei erlernt werden konnte. 13 Die praktische Anwendung des römischen Rechts brachte eine Verwissenschaftlichung des geltenden Rechts mit sich, so dass in der Folgezeit die Positionen der höchsten Gerichtsbeamten mit gelehrten Juristen besetzt wurden. 14 Am Reichskammergericht, dem obersten Gericht des Heiligen Römischen Reiches, mussten zunächst acht und später alle sechzehn Richterstellen mit gelehrten Juristen besetzt werden. 15 Auch in Polen wurden immer mehr Ämter, die mit großem Ansehen und Verantwortung verbunden waren, mit Gelehrten besetzt. Gelehrte Richter gab es im Gericht zur Krakauer Burg bereits ab Anfang des 15.Jahrhunderts. 16 Zudem wurde es notwendig, das nun wesentlich komplexere Recht auch den ungelehrten Schöffen zugänglich zu machen. Zu diesem Zweck wurden zahlreiche sogenannte „Praktikerhandbücher“ verfasst. Dies waren Bücher, die das Recht in einer leicht verständlichen Form wiedergaben. Sie enthielten normalerweise Beschreibungen der Institutionen des materiellen und prozessualen Rechts, die in der Gerichtspraxis am häufigsten auftraten. Selbst im Heiligen Römischen Reich können mehrere Beispiele für solche Bücher genannt werden, wie der „Klagspiegel“ (1425) 17 oder der „Laienspiegel“ (ca. 1509) 18. Als Beispiele für Praktikerhandbücher, in denen der Einfluss der Rezeption des römischen Rechts stärker bemerkbar ist, können die Werke des niederländischen Juristen Joos de Damhouders dienen. Die berühmtesten polni-
13
Vgl. Stanisław Estreicher, Kultura prawnicza w Polsce XVI wieku [Die Rechtskultur im Polen des 16.
Jahrhunderts], in: Kultura staropolska [Die altpolnische Kultur]. (Veröffentlichung der Polnischen Akademie von Wissenschaften.) Warschau 1932, 40–120, hier 53. 14
Vgl. ebd.42; Mousourakis, Roman Law (wie Anm.5), 438.
15
Vgl. ebd.
16
Untersuchungen zur Ausbildung und Qualifikation der Richter und Schöffen des Krakauer Oberhofs
werden gegenwärtig von Dr. Mark Munzinger, einem Historiker der Radford University, Virginia (USA), durchgeführt. 17
Dazu auch Bernhard Koehler, Art.„Klagspiegel“, in: Adalbert Erler/Ekkehard Kaufmann/Wolfgang
Stammler (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 2. Berlin 1978, Sp.855f. 18
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Dazu auch ebd.1357–1361.
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schen Praktikerhandbücher sind die „Farrago actionum civilium iuris Maydeburgensis“ von Johannes Cervus, das „Enchiridion aliquot locorum communum iuris Maydeburgensis“ von Johannes Cerasinus sowie mehrere Werke von Bartholomäus Groicki. Obwohl Theorie und Praxis in einem stärkeren Maße als zuvor ineinander verwoben waren, lässt sich eine höhere Wertung des theoretischen Wissens beobachten. Dies lässt sich auch an den beiden im 15.Jahrhundert weitverbreiteten Sprichwörtern „Chi non ha Azo, non vada a Palazzo“, also sinngemäß: „Wer Azo nicht beherrscht, wird in den Palast [um in der Palastkanzlei zu arbeiten] nicht kommen“ und „Nemo jurista nisi bartolista“, also sinngemäß: „Niemand ist Jurist, wenn er den Kommentar von Bartolus nicht erkennt“ ablesen 19, die die Notwendigkeit profunder Kenntnisse der Glossen und Kommentare betonen. Im 16.Jahrhundert ging diese Aufwertung des theoretischen Wissens sogar so weit, dass selbst den Richtern, die zu diesem Zeitpunkt in der überwiegenden Mehrheit gelehrte Juristen waren, in der „Peinlichen Halsgerichtsordnung“ Kaisers Karls V. sowie in ihrer polnischen Übersetzung von Bartholomäus Groicki empfohlen wurde, in bestimmten Fällen den Rat der „Rechtsverstendigen“ einzuholen. Bemerkenswert ist auch, dass sich in sämtlichen heute zugänglichen Exemplaren von Groickis Werk am Rand zahlreiche handschriftliche Notizen finden lassen, die vermerken, die Rechtsverständigen um Rat zu fragen. 20 Oft sind diese zusätzlich unterstrichen. Bezüglich des Ansehens der Rechtsexperten ist eine Erläuterung von Groicki zu überprüfen, die er in seiner Übertragung der „Peinlichen Halsgerichtsordnung Kaisers Karls V.“ äußert. Im Artikel 66 seiner Arbeit befasst sich Groicki mit der Bestrafung des Besitzens und der Nutzung von Giften. Die Höhe der Strafe macht er von den Folgen des Besitzes der Gifte abhängig. 21 Fügte der Beklagte jemandem dadurch
19 Vgl. Marcel Senn, Rechtsgeschichte – ein kulturhistorischer Grundriss. Zürich/Basel/Genf 2003, 171. 20 Vgl. Bartłomiej Groicki, Ten postępek wybran jest z praw cesarskich [Halsgerichtsordnung]. Krakau 1559, Art.25, 36, 38, 40, 42, 44, 45. 21 Ebd.Art.66: „Gdzieby na kogo pewnie tho doswiadczono / ze sye z takimi rzeczami obchodzi / a tym żeby komu zaszkodzil / takowy ma być karan / a ogniem spalon. Ale gdzieby u kogo naleziono truciznę / a będąc w tym podeyźrzany / nie nalazłoby sye iednak / iżeby iaką szkodę na zdrowiu tym komu uczynil / takowy ma być karan / ale nie na gardle / iedno według słusznego wyznania Urzędu a mądrych ludzi. [Ist über jemanden belegt worden, dass er mit solchen Sachen umgeht und jemandem dadurch Schaden zugefügt hat, soll er bestraft und mit Feuer verbrannt werden. Wurde aber bei jemandem ein Gift gefunden und es hat sich dabei herausgestellt, dass er niemanden verletzt hat, soll er bestraft werden, aber nicht am Leben, sondern nach Ermessen des Amts und der Rechtsverständigen.]“ (Übersetzung: M. F.).
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Schäden zu, solle er auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Wer aber mit den Giften niemanden verletzt habe, solle nicht zur Todesstrafe verurteilt werden, sondern der Richter solle den Rat der Rechtsverständigen einholen und in Einverständnis mit ihnen ein gemäßigtes Urteil fällen. An diesem Artikel ist besonders bemerkenswert, dass er von Groicki selbst erfunden wurde und kein Äquivalent in der „Carolina“ hat: Die Feuerstrafe war zwar eine übliche Strafe und wurde im Sachsenspiegel erwähnt 22, es findet sich aber kein Hinweis auf eine Abmilderung der Strafe in besonderen Fällen. Der Artikel 66 von Groickis „Halsgerichtsordnung“ belegt in diesem Sinne, wie groß das Ansehen der Rechtsexperten in den polnischen Städten war.
IV. Die Dekonstruktion der Rechtsexperten Wie äußerte sich nun die Kritik, die der Fortschritt auf dem Gebiet der Wissenschaften und die zunehmende Professionalisierung hervorbrachten? Welche Vorwürfe wurden den sich neuformierenden Gruppen gemacht und welche Versuche wurden zu ihrer Demontage unternommen? Unabhängig davon, ob es sich bei den Kritisierten um Juristen oder Kleriker handelte, zu den immer wiederkehrenden Vorwürfen gehörten Habgier, mangelnde Gottesfurcht, häretische Ansichten, Wissensmangel, falsche Versprechungen und Betrug. Groicki beschreibt in den „Titeln des Magdeburger Rechts“, was für Menschen zu den Stadtämtern befördert werden und wie sie ihre Ämter ausüben sollten. Obwohl er dort keine Vorwürfe gegen die neu beförderten Beamten äußert, kritisiert er einige Gewohnheiten, die mit der Beförderung verbunden sind. Insbesondere prangert er den Prunk an, der die Nominierungen immer begleitet: Die neuen Beamten würden oft von ihren Kollegen gezwungen, üppige Festmahle zu organisieren und selbst zu finanzieren. 23 Dies verkleinere nicht nur das Ansehen der Beamten, die nicht mehr als „Väter“ und „Verteidiger“ der Stadtbürger betrachtet würden. Die Angst, dass sie die repräsentativen Aufwendungen finanziell nicht tragen könnten, führe
22
Mikołaj Jaskier’, Iuris Provincialis Saxonici, quod Speculum Saxonum vocatur tu[m] et Municipalis
Maideburgen [sic] summa dilige[n]tia recollectum. Krakau 1539: „Si quis […] venenum cui ministraverit, […] igneis flammis in craticula concremetur“; vgl. Groicki, Porządek (wie Anm.3), fol.128. 23
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Vgl. Groicki, Tytuły (wie Anm.12), fol.167.
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dazu, dass viele kluge und kompetente Menschen nicht befördert werden wollten und deswegen würden die Ämter oft von reichen, aber unfähigen Menschen bekleidet. Groicki prangert weiterhin die Schlechtigkeit der zeitgenössischen Gerichtsbeamten an. Er dekonstruiert den Expertenstatus der Gerichtsbeamten, indem er ihre tatsächlichen Eigenschaften mit den von ihnen erwarteten Tugenden kontrastiert. In den polnischen Städten hatten alle Gerichtsbeamten zu schwören, dass sie ihre Arbeit sorgfältig, fleißig und gerecht erfüllen. Dem Eid wurde im Gerichtsverfahren eine besondere Bedeutung beigemessen. Im Beweisverfahren galt er als sehr starkes und glaubwürdiges Mittel, was zur Folge hatte, dass eine unter Eid gemachte Aussage als wahr angesehen wurde. Durch das Ritual des Schwurs wurden den Gerichtsbeamten soziale Eigenschaften dermaßen zugeschrieben, dass sie den Zeitgenossen geradezu als natürliche Eigenschaften erscheinen mussten. In dem Maße, in dem sie auf die Institution des Gerichts vertrauten, setzten sie auch Vertrauen in die Gerichtsbeamten. Ein Meineid wurde streng bestraft: Nicht nur verlor der Meineidige die Schwurfinger, sondern er fiel in Schande und die Bekleidung städtischer Ämter blieb ihm verwehrt. Das Gewicht des Eids wurde zusätzlich dadurch verstärkt, dass man auf Gott schwor. Der Meineid war somit nicht nur eine Straftat, sondern eine Sünde. Nach Groicki wurden jedoch die im Eid formulierten Aussprüche im Alltag oft nicht umgesetzt. In seinem Hauptwerk „Porządek sądów i spraw miejskich“ (Die Ordnung der Stadtgerichte und Stadtgerichtsangelegenheiten) setzt er sich mit den Fehlern und Unzulänglichkeiten der Stadt- und Gerichtsbeamten auseinander und dekonstruiert so das Ethos der klugen, tugendhaften und gerechten Stadtschreiber und Fürsprecher. Laut „Ordnung der Stadtgerichte und Stadtgerichtsangelegenheiten“ sollte der Stadtschreiber eine „öffentliche und ehrliche Person sein, die durch den Eid verpflichtet sei, die Gerichtssachen mit klaren, eigenen, nicht schwierigen und verständlichen Worten niederzuschreiben“. 24 Dem Wortlaut des Schwurs lassen sich die Erwartungen an den Stadtschreiber entnehmen: „Ich, N., schwöre beim allmächtigen Herrgott, Ihnen, den Ratsherren und der ganzen städtischen Gesellschaft, in der Ausübung meines Amtes als Schreiber, zu welchem ich gewählt wurde, das Folgende getreu zu beachten: […] die Sachen, die sich vor Gericht ereignen, nach bestem Wissen und Gewissen
24 Vgl. Groicki, Porządek (wie Anm.3), fol.16.
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wahrheitsgemäß niederzuschreiben und die Armen gleich zu behandeln wie die Reichen. Und ich will davon nicht ablassen, weder aus Liebe noch aus Furcht, Hass, Freundschaft, auf Grund von Geschenken oder anderen Gründen. So wahr mir Gott helfe.“ 25
Aufgrund der großen Verantwortung, die dieses Amt mit sich brachte, sollte es nur mit Personen bekleidet werden, die über besondere Kenntnisse und Fertigkeiten verfügten. Im mittelalterlichen Polen war die Sprache der Justiz Latein, der Stadtschreiber musste also über Lateinkenntnisse verfügen, um seine Pflichten gut ausüben zu können. Doch gerade die Ausbildung und das Können der Schreiber unterzieht Groicki einer scharfen Kritik. Er beklagt, dass das Schreiberamt mit falschen Leuten bekleidet werde – nämlich mit „Pfaffen und betrunkenen Schwindlern“. Die Folgen dieser Fehlbesetzung seien leicht vorauszusehen – die Protokolle der Gerichtssachen seien derartig unordentlich und inkompetent niedergeschrieben, dass sie einen zügigen Prozessverlauf verhinderten, ganz zu schweigen von den Auswirkungen auf zukünftige Appellationen. Als Lösung dieses Problems schlägt Groicki daher vor, dass die Stadt- und Gerichtssachen im Falle des Fehlens eines die lateinische Sprache beherrschenden Schreibers verständlich in Polnisch protokoliert werden sollten. Den Prokuratoren wird zudem eine weitere negative Eigenschaft zugeschrieben, nämlich ihre Geldgier. Groicki billigt ihnen durchaus eine angemessene Bezahlung zu, die im Verhältnis zu ihren Fähigkeiten und ihrem Arbeitsaufwand stehen solle. Er bezeichnet sie sogar als Gerichtshelden, die ihre Zungen in den Dienst der Gerechtigkeit stellen wie Ritter ihre Schwerter. 26 Er beklagt jedoch, dass es viele Fälle von Missbrauch gebe, da die Prokuratoren oft einen überhöhten Lohn verlangten: „[E]s gab viele solche Prokuratoren (ich weiß nicht, ob es sie noch gibt), die, keine Furcht vor Gott im Herz habend, ohne Scham vor den Menschen, ohne Liebe zu den Mitmenschen und erbarmungslos einen unberechtigten, unverdienten und außerordentlichen Lohn nahmen.“ 27
25
Ebd.: „Ja, N., przysięgam Panu Bogu Wszechmogącemu, Panom Raycom y wszytkiemu Pospólstwu Mi-
asta tego, w Urzędzie moim Pisarskim na który iestem wybran, wiernym być […] Rzeczy te które sie przy Sądzie dzieją, wiernie wedlug mego nawysszego rozumu chce napisać y czytać tak ubogiemu iako bogatemu. A tego niechcę opuscić dla miłości, bojaźni, nienawiści, gniewu, przyjaźni, darów y innych rzeczy. Tak mi Panie Boże pomagay.“ (Übersetzung: M. F.).
236
26
Vgl. ebd.19.
27
Ebd.: „Ale iże takich prokuratorów wiele bylo (dzis niewiem jesli są) którzy niemając Bojaźni Bozej
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Dies führe dazu, dass Verhandlungen häufig vertagt werden müssten oder dass die Parteien Prozesse verlören, weil sie sich keinen Prokurator leisten könnten und selbst nicht imstande seien, sich angemessen zu verteidigen. Diese Kritik an den Prokuratoren findet sich noch in einem weiteren Werk, dessen Autorschaft ebenfalls Groicki zugeschrieben wird. Es trägt den Titel „Abrogatio et Moderatio Abusuum & Sumptuum, quibus litigantes partes, tam apud Scabinale, qua advocatiale officium nimio antea gravabantur, necessario constituta & per Senatum Civitatis Cracoviae promulgata“ und wurde um 1547 (also früher als die bereits erwähnte „Ordnung der Stadtgerichte und Stadtgerichtsangelegenheiten“) erstmals veröffentlicht. 28 Bereits in der Vorrede weist der Autor daraufhin, dass selbst der König (Sigmund I. der Alte) bemerkt habe, dass die Löhne der Gerichtsbeamten zu hoch und zu drückend seien und er sie deshalb ermahnt habe, ihre Forderungen zu mildern. 29 Der Stadtrat, der die Prokuratoren auswählte und einsetzte, fühlte sich durch diese Kritik bis ins Innerste getroffen und rief daher die Leiter der Druckereien zu sich und verbot ihnen unter Androhung einer sehr hohen Geldbuße, das Werk herauszugeben. 30 Die Mitglieder des Stadtrates zeigten also ein großes Interesse daran, dass die symbolische Macht der Prokuratoren und damit auch ihr eigenes symbolisches Kapital nicht geschmälert wurden. Neben dem Mangel an Qualifikationen und der Geldgier kritisiert Groicki die Grausamkeit der Richter, die die Beklagten in Strafprozessen vorschnell auf die Folter spannen ließen und Todesurteile häufig ohne eindeutige Schuldbelege fällten. Die Entscheidungen der Gerichtsbeamten waren oft rechtswidrig: Das damalige Rechtsschrifttum stellte eindeutig fest, dass der Beklagte nur dann gefoltert werden durfte, wenn ihm eindeutige Vergehen nachgewiesen werden konnten. 31 Trotzdem
przed oczyma/wstydu przed ludźmi/miłości ku bliźniemu/bez wszego miłosierdzia od tych od ktorych rzecz mówili nie słuszną/nie zarobioną/a niezwyczajną opłatę brali.“ (Übersetzung: M. F.). 28 Bartłomiej Groicki, Abrogatio et moderatio absuum et sumptuum, quibus litigantes partes, tam apud Scabinale, qua advocatiale officium nimio antea gravabantur, necessario constituta & per Senatum Civitatis Cracoviae promulgata. Krakau 1547. 29 Ebd.: „Sua itaque R. M. decrevit, ut consules Iudicium Scabinale, & advocatum suum cohiberen, & ita providerent: ne immoderatium precium a civibus exigatur, neque ullis demnis homines ab illis afficiantur.“ 30 Vgl. Karol Estreicher, Bibliografia Polska [Die polnische Bibliographie]. Bd 18. Krakau 1899, 43. 31 Vgl. Josef Kohler/Willy Scheel (Hrsg.), Die peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. = Constitutio criminalis Carolina. Aalen 1968, Art.20, 25; Joos de Damhouder, Praxis rerum criminalium iconibus illustra. Antverpia 1562, cap. 35–36; Groicki, Porządek (wie Anm.3), fol.131ff.; ders., Postępek (wie Anm.20), Art.4.
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nahmen viele Richter, insbesondere in Kleinstädten, die vermeintliche Zulässigkeit der Folter äußerst ernst und verordneten die „peinliche Frage“ in durchschnittlich der Hälfte der strafrechtlichen Fälle. 32 Deswegen beklagt sich Groicki über die Unbekümmertheit der Richter, die den Strafsachen nicht genug Aufmerksamkeit widmen und die Durchführung der Folter oft unkontrolliert lassen. In der „Ordnung der Stadtgerichte und Stadtgerichtsangelegenheiten“ schreibt er: „Darin gibt es in den Städten und Städtchen wenig obrigkeitliche Kontrolle; stattdessen wird ein unbedeutendes Vermögen mehr kontrolliert, als denjenigen Fälle, in denen man den Leib eines armen Menschen reisst, zerrt, brennt, foltert, oft nur in Gegenwart von einem oder zwei betrunkenen Folterknechten, wo es selten einen vernünftigen und aufmerksamen Mensch gibt, der die Größe und Notwendigkeit der Marter versteht, der die Person und die Umstande untersucht hat und der darin nach Gerechtigkeit sucht.“ 33
Der Folter stand nicht nur Groicki skeptisch gegenüber. Dieselben Argumente äußerte Jan Kirstein Cerasinus – Groickis Zeitgenosse und Vorgesetzter. Genauso wie Groicki beklagte sich Cerasinus über die Grausamkeit der Henker, die, ohne Kontrolle des Richters, die Beklagten zum Bekenntnis von nicht begangenen Taten zwangen und sie so marterten, dass die Folter wie eine Strafe vor dem Urteil sei. 34 In späterer Zeit, um die Mitte des 18.Jahrhunderts, hat ein anderer Rechtsexperte, Jakub Czechowicz, festgestellt, dass, wenn die Folter in allen strafrechtlichen Fällen
32
Vgl. Marian Mikołajczyk, Proces kryminalny w miastach Małopolski XVI–XVIII wieku [Der Kriminal-
prozess in den Städten Kleinpolens im 16.–18.Jahrhundert]. Wydawnictwo Uniwersytetu Śląskiego. Katowice 2013, 285. 33
Groicki, Porządek (wie Anm.3), fol.131: „W czym zaprawdę w Miastach i w Miasteczkach mały iest
porządek / więtszy snadź tam / gdzie syę sprawa toczy o trochę zgniłej maiętności / niż tam gdzie ubogiego człowieka ciało szarpaią / targaią / ciągną / pieką / męczą / wiele kroć tylko przy obliczności iednego albo dwu opiłych Ceklarzów / gdzie rzadko bywa czlowiek poważny a baczny / któryby wielkość a potrzebę męki wyrozumiał / który by też Personę y znaki ku wydaniu na mękę rozeznał / y sprawiedliwości w tym doźrzał.“ (Übersetzung: M. F.). 34
Vgl. Lesław Pauli, Jan Kirstein Cerasinus (1507–1561), krakowski prawnik doby Odrodzenia [J. K. C.,
ein Krakauer Jurist in der Renaissancezeit]. Kraków 1971, 42; Cerasinus (Jan Kirstein), Enchiridion aliquot locorum communium Iuris Maideburgensis [Handbuch zu einigen Themen des Magdeburger Rechts]. Krakau 1556: „Atque haec geruntur apud magistratus urbanos, quod ipsos videmus, audientis iurgiis et nihili causis, saepe totam diem tribunalibus insidere, et nemo eorum dignatur eccedere, quando hominis corpus discrepitur.“
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angewandt würde, viele Delinquenten dadurch schärfer bestraft würden als sie nach dem geltenden Recht gemäß ihrer Taten bestraft werden sollten. 35 Groicki prangert die vorschnellen Folterungen ebenso an wie die Grausamkeit der Henker und Folterknechte, die die Beklagten vermutlich nicht nur foltern, um ihre Geständnisse zu erzwingen, sondern auch aus sadistischen Motiven besonders „raffinierte“ Folter anwenden. Obwohl das polnische Gewohnheitsrecht nur zwei Arten der Folter zuließ, nämlich das Ausdehnen der Hand- und Beingelenke sowie das Anbrennen der Körperseiten 36, griffen die Folterknechte oft zu weitaus grausameren und spektakulären Methoden. Unter diesen beschreibt Groicki „Gießen von Wasser, Essig oder siedendem Öl in den Hals, das Bekleckern mit Schwefel, heißem Teer, Speck, […] Foltern mit Hunger und Durst, das Legen von Mäusen, Hornissen oder anderen giftigen Würmern in den Bauchnabel, die mit einem Glas bedeckt werden, damit sie nicht fliehen können und den Gefolterten quälen; oder das Anbinden des Verbrechers an der Bank, das Einreiben seiner Füße mit salzigem Wasser und das Lecken einer Ziege an den Fersen des Verbrechers“. 37 Der Jurist betont, dass solche Grausamkeiten nicht nur die Henker und Folterknechte, die die Folter durchführen, sondern auch die Richter, die sie zulassen, in ein schlechtes Licht stellen und jeglicher Menschlichkeit berauben. Sämtliche Kritikpunkte führen einen weiteren Zweck vor Augen, den die Kritiker verfolgten. Neben der Anprangerung der Mängel im Gerichtswesen waren die Autoren der Praktikerhandbücher bemüht, durch deren Veranschaulichung die Gerichtsparteien gegen Inkompetenz der Beamten und die daraus folgende Ungerechtigkeit ihrer Handlungen zu schützen. Dank der öffentlichen Darstellung der oben genannten Übeltaten konnten nämlich alle Leser gewisse Handlungen der Gerichtsbeamten als falsch identifizieren und ihre negativen Folgen vermeiden. 35 Zbigniew Zdrójkowki, Praktyka kryminalna Jakuba Czechowicza; jej źródła i system na tle rozwoju współczesnego prawa karnego Zachodniej Europy [Jakub Czechowiczs Kriminale Praxis sowie ihre Quellen und ihr System im Vergleich mit der Entwicklung des heutigen Strafrechts], in: Roczniki Towarzystwa Naukowego w Toruniu, Jahresbd. 53, H.2, 15. Thorn 1949; vgl. Mikołajczyk, Proces kryminalny (wie Anm. 32), 283. 36 Mikołajczyk, Proces kryminalny (wie Anm.32), 309f. 37 Groicki, Porządek (wie Anm.3), fol.125: „[I]ako wodą, octem, lanim wrzącego oleiu w gardło, szmarowanim siarką, smołą goraiącą, słoniną, głodem, pragnienim wielkim, przyłożenim na pępek myszy, sierszeni, albo iakich innych iadowitych chrobaków nakrytych bańka, aby tak gdyby wynidź nimogli, ciało cierpiącego dręczyli:iako tez gdy złoczyncę ku ławie przywiążą, nogi iego słoną woąa namażą, potym kozę przywiodą, kthóra rada sól iada, aby pięty onego złoczyńce lizała.“ (Übersetzung: M. F.).
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V. Die Dekonstruktion von Experten in der polnischen Aufklärung – Ignacy Krasicki und seine „Monachomachia“ Die Literatur der polnischen Aufklärung zeichnet ein grauenvolles Bild der ganzen Gesellschaft. Kritisiert werden die Streitsucht der Adeligen, ein Mangel an intellektueller Entwicklung sowie die Probleme des immer schwächeren und von den machtvollen Nachbarn immer mehr abhängigen polnischen Staates. Da alle Gesellschaftsschichten für ihre Fehler angeprangert wurden, konnten auch die Experten verschiedener Lebensbereiche einer scharfen Kritik nicht entkommen. Neben wissenschaftlichen Traktaten, in denen die Schwächen der Gesellschaft kritisiert und Verbesserungen vorgeschlagen wurden, wurden z.B. Romane, Fabeln und Satiren geschrieben, die sich mit diesen Problemen befassten. Obwohl die Kritik oft scharf war, wurde sie meistens in einer heiteren Form präsentiert: Die Autoren gingen davon aus, dass auch das Lachen erhebend sein könne, wenn nicht die einzelnen Personen, sondern allgemeine menschliche Schwächen verspottet wurden. 38 Diesem Zweck dienten zahlreiche Fabeln und Satiren, die den Mängeln der Gesellschaft gewidmet waren. In diesem Kontext ist das Werk von Ignacy Krasicki besonders bemerkenswert. Der Autor, zum Zeitpunkt der Abfassung bereits Bischof von Ermland, war für seine scharfe Feder bekannt. Krasicki ist vor allem durch die Novelle „Mikolaja Doswiadczynskiego przypadki“ (Die Zufälle des Nikolaus Doswiadczynskis) berühmt, die nach dem Vorbild von Voltaires „Candide“ entstand. Seine Epopöen und Fabeln sind durch eine deutliche Kritik an den Lastern und Untugenden der polnischen Gesellschaft charakterisiert. Um die Schwächen, die er kritisiert, sowie die literarischen Mittel, mit denen er seine Kritik äußert, darzustellen, wurde hier Krasickis Antiepopöe „Monachomachia“ ausgewählt. In dem um 1778 herausgegebenen Werk „Monachomachia“ (etwa „Mönchsschlacht“; lat. monachus, griech. μάχη) steht das Mönchtum im Mittelpunkt der Kritik. Zeitlich ist die Handlung wahrscheinlich im Mittelalter anzusiedeln, genauer in der Hochzeit der Bettel- und Kontemplationsorden. 39 Erzählt wird die Geschichte
38
Vgl. Ignancy Krasicki, Monachomachia [Mönchsschlacht]. Krakau 2012, 48: „I śmiech niekiedy może
być nauką / kiedy się z przywar, nie z osób natrząsa.“ [Auch das Lachen kann eine Lehre sein, wenn man über die Schwächen und nicht über die Personen lacht.] (Übersetzung: M. F.). 39
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In der „Monachomachia“ werden nur die Dominikaner und unbeschuhte Karmeliten ausdrücklich
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des Kampfes zweier Orden, nämlich der Karmeliter und der Dominikaner. Aufgewiegelt von der Göttin Eris nahmen die Dominikaner den lange zuvor beigelegten Krieg zwischen den Orden wieder auf. Um ihre Überlegenheit zu beweisen, forderten sie die Karmeliter zu einem wissenschaftlichen Diskurs auf, der sich jedoch schnell in eine regelrechte Schlacht verwandelte. Die „Monachomachia“ besteht aus sechs in Oktavenform geschriebenen Liedern. Als Antiepopöe ist sie nach den homerischen Epen gestaltet. Alle Merkmale des Epos sind erfüllt: der pathetische Stil, die Invokation sowie zahlreiche Apostrophen, ausgedehnte Vergleiche und heroische Heldenfiguren, deren Schicksal in den Händen der Götter liegt. In der „Monachomachia“ wird dieser hohe Ton jedoch einer banalen Thematik gegenübergestellt. Abwertend ist bereits die Auswahl der Worte, die der Autor zur Bezeichnung der Ordensbrüder benutzt. Sie werden nicht nur als „ehrwürdige Dummköpfe“ 40 und „heilige Faulenzer“ 41 bezeichnet, auch einige ihrer Eigennamen beinhalten ein satirisches Element. So erscheint neben dem Raphael des Herrenleibs, dem Elias der St. Barbara oder dem Lukas der Drei Könige auch der Hermenegildus der Sieben Leibschmerzen. Am stärksten werden die Mönche aber durch die Art und Weise diskreditiert, mit der Krasicki sie in einzelnen Situationen agieren lässt. Zu Beginn des Werks kritisiert der Autor die Streitsucht der Mönche. Er verhöhnt die Gründe, aus denen es in der Vergangenheit zu Streitigkeiten zwischen den Orden kam. „Schon sind die berühmten Kriege vorbei, die einst die erstaunte Welt verwundert hatten. Der seraphische Orden war schon ruhig, niemand widersprach den Karmelitern. Die Prediger schauten die spitze Kapuze mit ihren frommen Augen nicht mehr schief an.“ 42
genannt; die im Text geäußerte Kritik betrifft aber höchstwahrscheinlich auch die Barmherzigen Brüder vom hl. Johannes vom Gott, Franziskaner, Jesuiten, Augustiner, beschuhte Karmeliten sowie die Dominikanerinnen; vgl. Jacek Sokolski, Einführung und Kommentar zur Krasickis „Monachomachia“. Breslau u.a. 1987, 2. 40 Krasicki, Monachomachia (wie Anm.38), 24: „wielebne głupstwo“ (Übersetzung: M. F.). 41 Ebd.25: „święci próżniacy“ (Übersetzung: M. F.). 42 Ebd.4: „Już były przeszły owe sławne wojny, / Którym się niegdyś świat zdumiały dziwił. / Już seraficzny zakon był spokojny, / Już Karmelowi nikt się nie przeciwił; / Już kaznodziejski wzrok mniej bogobojny / Oka na kaptur śpiczasty nie krzywił.“
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Im Appendix weist Krasicki darauf hin, dass es zwischen den beiden Orden oft zu Streitigkeiten über Nichtigkeiten gekommen sei, wie die Frage, ob die Kapuzen der Habite spitz oder rund sein sollten. 43 Ihre Streitsucht beweisen die Helden in der großen Schlacht, die den Mittelpunkt des Werks bildet, ein Bild, das nur schwer mit der weitverbreiteten Vorstellung der Mönche als Verkörperung aller Tugenden in Einklang zu bringen ist. Am anschaulichsten wird die Trunksucht der Mönche beschrieben. Sie geben die Askese auf und geben sich den irdischen Freuden hin: „Die Weisen haben mal den Unsinn geredet, es ließe sich bei Wasser und Brot gut denken. Da man aber durch Schaden klug wird, leistet man diesem Irrtum Widerstand. Die Zurückhaltung ist nicht mehr modern, die wahrhaftig Weisen trinken wie alle anderen auch. Der Met belebt die guten Gedanken Und der Wein macht die betrübten Herzen froh.“ 44
Die Dominikaner konnten sich die Ursache der Unruhe, die sie aus dem Schlaf gerissen hatte, nur dadurch erklären, dass Diebe in ihre Keller eingebrochen seien oder ihre Bier- und Weinkannen eingetrocknet sein könnten. In einem Trinkwettkampf sahen die Dominikaner auch einen möglichen Weg, ihre Ehre zu retten, falls ihnen dies im Diskurs misslänge. Diese Idee wird jedoch aufgegeben, da sie zu folgendem Schluss kommen: „,Lass das, Bruder‘, sagte der Vater Hilarys. ,Bringen wir diese berühmten Helden nicht gegen uns auf. Glaube an die Erfahrung eines alten Menschen, der viele Trinkmeister gesehen hat: Sie haben starke Pfeiler, und uralte Bauten bewegt man nicht. Ich und der Bruder Antoni kennen sie gut: Wir trinken nicht schlecht, sie jedoch besser.‘“ 45
43
Vgl. ebd.33.
44
Ebd.15: „Że dobrze myśleć o chlebie i wodzie, / Bajali niegdyś mędrcy zapalczywi. / Wierzył świat baj-
kom, lecz mądry po szkodzie, / Teraz się błędom poznanym przeciwi. / Już wstrzemięźliwość nie jest teraz w modzie, / Piją, jak drudzy, mędrcowie prawdziwi. / Miód dobrym myślom żywości udziela, / Wino strapione serce rozwesela.“ 45
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Ebd.16: „Daj pokój, bracie – rzekł ociec Hilary – / Nie zaczepiajmy rycerzów zbyt sławnych! / Wierz
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Den Großteil der Antiepopöe bildet jedoch der Spott über den Mangel an Bildung sowie die Kritik an dem Streben der Mönche, bedeutsame Ursachen für nichtige Angelegenheiten zu suchen. Bereits im ersten Lied richtet der Prior Hilarys eine Schlachtrede an die Dominikaner, um ihren Kampfgeist zu wecken. Er sagt: „Chrisoppos schreibt über König Alfons, der, als er mit den Baktriern einen Krieg führte, während einer Schlacht in Lykien von seiner Armee getrennt wurde und, nachdem er das Wasser von Paktolos getrunken hatte, so erfrischt war, dass er die Heiden besiegte.“ 46
Der Prior Hilarys vermischt in seiner Rede nicht nur die Epochen miteinander, sondern nimmt auch eine geographische Neuordnung der Welt vor. Bei König Alfons handelt es sich vermutlich um den spanischen König Alfons VIII., der sich im Krieg mit den Mauren befand. Bei Hilarys kämpft Alfons jedoch in Lykien gegen die Baktrier und damit nicht auf der Iberischen Halbinsel, sondern auf dem Gebiet der heutigen Türkei. Dort fließt in der Version des Hilarys auf wundersame Art und Weise auch noch der lydische Fluss Paktolos. Krasicki schreibt dazu im Appendix: Das Heer sei wahrscheinlich durch den Sand Abisyniens gesegelt und Alfons selbst habe vermutlich mit einem Greifenwagen den Paktolos erreicht. 47 Die Ursache für diesen himmelschreiend geringen Wissensstand wird deutlich, wenn die Dominikaner sich auf den Weg in die Klosterbibliothek machen, um sich auf die Debatte mit den Karmelitern vorzubereiten. Sie stehen plötzlich vor dem Problem, dass sie gar nicht wissen, wo die Klosterbibliothek ist, weil sie sie seit dreißig Jahren nicht mehr aufgesucht haben. Selbst nachdem sie die Bibliothek gefunden haben, können sie aus ihr nur wenig Nutzen ziehen, da sie nicht in der Lage sind, zwischen ernstzunehmenden wissenschaftlichen Werken und Werken von zweifelhafter Qualität zu unterscheiden. Ihrer Ansicht nach sind die „Mística Ciudad de Dios“ der Maria de Agreda, ein Liebesroman namens „Julia und Hipolit“ sowie eine
doświadczeniu, wierz, co mówi stary: / Widziałem nieraz w tej pracy zabawnych. / Zbyt to są mocne kuflowe filary, / Nie zdołasz wzruszyć gmachów starodawnych. / Znam ja ich dobrze, zna ich brat Antoni – / Pijemy dobrze, ale lepiej oni.“ 46 Ebd.7: „Pisze Chryzyppus o Alfonsie krolu, / Kiedy prowadził wojnę z Baktryjany, / Iż/ wpośród bitwy na licejskim polu / Od wojska swego będąc odbieżany, / Stanął, a wody czerpnąwszy z Paktolu, / Tak się orzeźwił, iż zgnębił pogany.“ 47 Vgl. ebd.34.
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theologische Schrift mit dem Titel „Die Stimme der Lachtaube“ die wertvollsten Werke in der Klosterbibliothek. Trotz ihrer augenscheinlich gravierenden Wissensmängel halten sich die Dominikaner selbst für sehr gebildet. Dass sie wie das ungebildete Volk dem Aberglauben anhängen, ist ihnen nicht bewusst. So deutet Bruder Rajmund einen unglücklichen Sturz, verursacht durch einen entglittenen Pantoffel, wie selbstverständlich als ein schlechtes Omen. Auf die Idee, dass es sich um ein bloßes Missgeschick handeln könnte, kommt er nicht. Auch die Erklärung der Weltordnung suchen sie in der Literatur. Für den Prior ist besonders Alfons Tostat eine wissenschaftliche Autorität. Tostat, einst Bischof von Avila, war ein spanischer Theologe des 15.Jahrhunderts. Sein Nachlass umfasst siebenundzwanzig dicke Folianten mit teilweise nicht belegbarem Inhalt. 48 Laut Krasicki soll auf seinem Grabstein gestanden haben: „Hic stupor est mundi, qui scibile discutit omne.“ 49 Prior Hilarys muss vom Inhalt seiner Werke sehr beeindruckt gewesen sein, denn er zitiert ihn zur Bekräftigung seiner Argumentation wie folgt: „Ich weiß es, denn ich habe bei dem Gelehrten Tostat gelesen, dass nach einer dunklen Nacht ein heller Tag kommt.“ 50 Anhand der beiden Beispiele – der Praktikerhandbücher und der Antiepopöe – konnten die epochen- und ständeübergreifenden Kritikpunkte an Experten festgemacht werden. Besonders scharf kritisiert wurden Fälle von Inkompetenz: Kritiker erwarten von den Experten, dass sie die an sie als Wissensträger und -vermittler gestellten Erwartungen erfüllen und sich ihre herausgehobene soziale Stellung auf diese Weise verdienen sollten.
VI. Fazit Die angeführten Beispiele haben gezeigt, dass die Inszenierungsstrategien der unterschiedlichen Expertengruppen stets einen Angriffspunkt für Dekonstruktionsversuche ihrer Kritiker bildeten. Man kann also sagen, dass die Spezifik der Inszenie-
48
Christoph M. Wieland, Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit. (Sämtliche Werke, Bd. 14.)
Leipzig 1795, 376f.
244
49
Vgl. Krasicki, Monachomachia (wie Anm.38), 4.
50
Ebd.7: „Wiem, bom to czytał w uczonym Tostacie, / Po ciemnej nocy ze jasny dzien wschodzi.“
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rung die Art und Weise der Dekonstruktion bedingt. Anhand der Beispiele ist aber auch deutlich geworden, dass es scheinbar nicht jedem Zeitgenossen gelang, diese Inszenierungsstrategien zu durchschauen. Zur Offenlegung einer Inszenierung brauchte man also bestimmte Voraussetzungen. Daher drängt sich bei jedem Versuch der Analyse einer konkreten Inszenierungsstrategie unweigerlich die Frage auf, welcher Personenkreis über diese Voraussetzungen verfügte und worin sie bestanden. Ebenso ist zu fragen, an wen die Inszenierungen gerichtet waren und wer durch sie beeindruckt werden sollte. Schließlich ist die Funktion der jeweiligen Inszenierung zu ermitteln. Es wäre eine Übertreibung festzustellen, dass die Inszenierungen das Ziel hatten, die Schwächen der kritisierten Experten sofort zu beheben. Sicherlich haben sich aber die Autoren das Ziel gesetzt, die Empfänger ihrer Werke auf die dort dargestellten Mängel aufmerksam zu machen. Dafür waren ihre Schriften nicht nur direkt an diejenigen gerichtet, die kritisiert wurden, sondern auch an diejenigen, die mit den „bösen Experten“ umgehen mussten. Eine erfolgreiche Dekonstruktion bedarf einer besonderen Vorsicht in der Auswahl von Mitteln, die die Autoren benutzt haben: Die Kritik konnte sich nicht direkt an einzelne Personen richten, musste aber auf solche Weise geäußert werden, dass auch ungebildete Leser verstehen konnten, was von den Autoren intendiert wurde. Dieses Ziel haben alle genannten Beispiele erfüllt. Sowohl die unmittelbare Kritik von Groicki und den Humanisten als auch der verdeckte Hohn Krasickis (der seine Meinung im späteren Epos „Antymonachomachia“, statt einer posorierten Milderung der in der „Monachomachia“ geäußerten Kritik noch schärfer dargestellt hat) wurden von den Empfängern korrekt verstanden und hat eine lebhafte Reaktion hervorgerufen. Bei den angeführten Beispielen handelt es sich um eine „von innen“ kommende Kritik. Die Autoren der dekonstruierenden Werke stammen selbst jeweils aus dem Expertenkreis im angegebenen Wissensgebiet. Deswegen verfügen sie über ein praktisch erworbenes Wissen, mit welchen Schwächen ihre Kollegen behaftet waren und was eventuell getan werden könnte, um ihre Handlungen bzw. zumindest ihr Ansehen in der Gesellschaft zu korrigieren. Der Erfolg hängt nicht nur von der Erfahrung der Autoren ab, sondern auch von der Konsequenz, mit der sie ihre Ziele durchsetzen. Die dargestellten Figuren, die ihre Kritik erfolgreich vorgebracht haben, lassen sich – egal ob sie einzeln (Groicki, Krasicki) oder in einer strukturierten Gruppe (Humanisten von Bourges) handeln – durch einen einmaligen Misserfolg nicht entmutigen. Ihre Vorwürfe wiederholen sie erneut, bis sie endlich erhört wer-
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den. Den auf solche Weise erreichten Erfolg der juristischen Humanisten bemerkt man in zahlreichen Werken der Juristenliteratur, deren Autoren die Richtlinien des „mos gallicus“ übernommen haben. So hat die mehrmals von Groicki, seinen Zeitgenossen und Nachfolgern geäußerte Kritik der Folter dazu geführt, dass sie schließlich am Ende des 18.Jahrhunderts in Polen verboten wurde. Nicht so erfolgreich waren die „Monachomachia“ und andere Werke Krasickis. Die Intention des Autors war zwar klar und wurde richtig interpretiert, die einzige Reaktion war aber eine scharfe Kritik der Thematik, und Krasicki wurde eine Übertreibung vorgeworfen. Der Misserfolg seiner Schriften kann jedoch damit entschuldigt werden, dass die in ihnen dargestellten Probleme angesichts der politischen Lage Polens am Ende des 18.Jahrhunderts unwichtig und ihre Diskussion unnötig scheinen konnten. Das Letztgenannte führt zu dem Schluss, dass eine Kritik an Experten nicht nur dann erfolgreich war, wenn sie von den richtigen Personen und in richtiger Form, sondern auch zum richtigen Zeitpunkt geäußert wurde, sofern keine anderen Faktoren die Wichtigkeit der Äußerung abschwächten.
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Rituale
Erschaffen Rituale Experten? Attribuierung von Meisterschaft bei Theologen und Medizinern von Lars Röser und Jana Madlen Schütte
Throughout the medieval and the early modern period experts were necessary for the performance of rituals. The role of an expert consisted of rather different parts, one of which was the self-representation in a ritual or the reference to rituals. The present paper focuses on the relevance of rituals for theologians and physicians in the fields of university, church and town. In these fields, theological and medical experts can be observed in different roles: They are examiners as well as examinees. This paper explores experts in rituals exemplarily by comparing and contrasting the doctoral graduation of theologians and the examination of barbers and surgeons for mastership. In general theologians of the early modern period received their doctorate only when they obtained a professorship or a leading position in the church. Later, these theologians were questioned as experts for advisory opinions, catechisms, or in confessional disputes. As professors they were also experts for the graduation of theologians. The more they were sought for advice, the more validated their expertise became. In the field of medicine physicians participated in the examination of barbers and surgeons as supervisors. For the examination, the candidate was expected as a masterpiece to produce ointments or adhesive bandages and to demonstrate skills in healing injuries and fractures. Sometimes there was an oral examination required in addition. Once awarded their mastership, surgeons made use of their title on leaflets or in announcements in order to acquire new customers.
I. Melchior Bus als Doppelexperte Im Repertorium Poenitentiariae Germanicum (RPG) findet sich zum 24.März 1500 ein Eintrag für den Priester und studierten Arzt Melchior Bus aus der Diözese Konstanz. Er wandte sich mit einer Supplik an den Heiligen Stuhl, in der er erklärte, dass er seinen Lebensunterhalt aus den Erträgen und Einkünften seiner Pfründe nicht bestreiten könne. Daher bat er um Dispens, um die Kunst der Chirurgie ausüben zu dürfen, weil er „in arte cirurgica expertus existat“. Das Ersuchen wurde vom Regenten Julianus de Maffeis, dem Bischof von Bertinoro, in Vertretung des Großpönitentiars genehmigt. Allerdings wurden zwei Einschränkungen vorgenommen: Die Erlaubnis galt nicht für die Amputation von Körperteilen und nur, solange es für den Petenten finanziell erforderlich war. Zu Beginn des Eintrags wird Melchior Bus als „presbiter rector parochialis ecclesie in Monster Constantiensis diocesis, in arte
DOI
10.1515/9783110576030-009
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medicine magister“ bezeichnet. 1 Er verfügte also sowohl über eine akademische Ausbildung in der Medizin als auch über eine Pfründe als Priester, die eine theologische Ausbildung wahrscheinlich erscheinen lässt. 2 Besonders bemerkenswert ist, dass er sich als erfahren in der Chirurgie beschreibt, d.h. möglicherweise ein Medizinstudium in Italien absolviert hatte, das im Gegensatz zu dem Studium an deutschen Universitäten Vorlesungen in der Chirurgie beinhaltete. Melchior Bus war also sowohl Theologe als auch Mediziner und verfügte in beiden Bereichen über anerkanntes Wissen. Allerdings erfolgte die Zuschreibung des Wissens unterschiedlich: Seine pastorale Kompetenz wurde von der Kirche anerkannt, indem ihm eine Pfründe zugeteilt wurde. Sein medizinisches Wissen schrieb er sich selbst zu, indem er auf seine Erfahrung in der Chirurgie verwies. Konnte Melchior Bus damit einen Status als Doppelexperte, also als Experte für pastorale und medizinische Fragen, für sich beanspruchen? Welche Stationen in seinem Leben haben zu dieser Doppelexpertise geführt? Wurde er durch Rituale und Zuschreibungen legitimiert? Sein Studium und seine Selbstzuschreibung lassen dies vermuten. Eine solche Doppelexpertise kam immer wieder vor, entbindet jedoch nicht von der Frage, wie die Zuschreibung von Expertise in den einzelnen Feldern erfolgen konnte. Melchior Bus ist zunächst als Angehöriger des Feldes ‚Kirche‘ zu verstehen, bewegte sich darüber hinaus aber mindestens noch im Feld ‚Stadt‘ und konnte wahrscheinlich auf Erfahrungen an der Universität zurückblicken. Die Herausbildung des Typus des Experten 3 ist mit der Differenzierung von Wis-
1 Siehe Archivio della Penitenzieria Apostolica (APA), Registri Matrimonialium et Diversorum 48, fol. 479r–479v und das Regest bei Ludwig Schmugge (Hrsg.), Alexander VI. 1492–1503. (Repertorium Poenitentiariae Germanicum, 8.) Berlin/Boston 2012, Bd. 1, 411 Nr.2910. Ein Hinweis auf diesen Eintrag zu Melchior Bus findet sich auch bei Arnold Esch, Wahre Geschichten aus dem Mittelalter. Kleine Schicksale selbst erzählt in Schreiben an den Papst. München 2012, 62; Ludwig Schmugge, Der Papst und die Ärzte. Medizinische Gutachten in den Entscheidungen der Poenitentiarie, in: Christian Hesse/Klaus Oschema (Hrsg.), Aufbruch im Mittelalter. Innovationen in Gesellschaften der Vormoderne. Studien zu Ehren von Rainer C. Schwinges. Ostfildern 2010, 177–195, hier 186. 2 Die Verwendung des Magistertitels ist ungewöhnlich, da das Medizinstudium zumeist mit einem Doktorgrad abgeschlossen wurde. Ob die Bezeichnung Magister hier nur einen zugeschriebenen Titel ohne akademischen Grad darstellt oder auf einen Magistergrad der Artesfakultät verweist, ist unklar. Möglicherweise bezieht er sich auch lediglich auf akademische Expertise an sich. Vgl. zum Gebrauch des Titels „magister“ bei Medizinern Michael R. McVaugh, Medicine before the Plague. Practitioners and Their Patients in the Crown of Aragon, 1285–1345. (Cambridge Studies in the History of Medicine.) 2nd Ed. Cambridge 2002, 80. 3 Zur Definition des Experten siehe Frank Rexroth, Systemvertrauen und Expertenskepsis. Die Utopie vom maßgeschneiderten Wissen in den Kulturen des 12. bis 16.Jahrhunderts, in: ders./Björn Reich/Mat-
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sensbeständen in diesen Feldern verbunden 4. Es lassen sich innerhalb der Felder Kommunikationssituationen untersuchen, in denen Expertenhandeln und die Zuschreibung von Expertise aufgezeigt werden können. Im Folgenden wird der Frage nach der Zuschreibung von Meisterschaft exemplarisch für die Theologie und die Medizin nachgegangen. Es wird gefragt, ob Rituale Expertise hervorbringen konnten und welche Rollen Experten bei der Durchführung von Ritualen zugewiesen wurden. 5 Dazu werden verschiedene Rollenkonstellationen der Personen betrachtet, die ein Ritual ausführen, wie dies auch Jörg Gengnagel und Gerald Schwedler vorführen. Während Gengnagel und Schwedler aber von der Figur des „Ritualmachers“ ausgehen, die auf Rituale gestaltend Einfluss nimmt, wird hier eine andere Fragerichtung verfolgt und von der Expertenrolle aus, die zunächst auch unabhängig von Ritualen existiert, untersucht, welche Funktion dieser im Ritual zukommen konnte. 6
II. Promotion und Disputation als Ausweis theologischer Expertise Ausgehend von der dargestellten Definition des Experten ist zu fragen, inwieweit Pfarrer und Priester, aber auch Mönche und Universitätstheologen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit als Experten in Erscheinung treten konnten bzw. als solche angefragt wurden. Trat der Pfarrer seiner Gemeinde in seiner Funktion als Prediger und Seelsorger in der Rolle des Experten gegenüber? Wurde Melchior Bus
thias Roick (Hrsg.), Wissen, maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne. (Historische Zeitschrift, Beihefte, Neue Folge, Bd. 57.) München 2012, 12–44, hier 22. 4 Zu den vier Feldern siehe ebd.26–33. 5 Zur mediävistischen Arbeit mit dem Ritualbegriff siehe den Überblick bei Frank Rexroth, Rituale und Ritualismus in der historischen Mittelalterforschung. Eine Skizze, in: Hans-Werner Goetz/Jörg Jarnut (Hrsg.), Mediävistik im 21.Jahrhundert. Stand und Perspektiven der internationalen und interdisziplinären Mittelalterforschung. (MittelalterStudien, 1.) München 2003, 391–406; zum Überblick Iris Gareis, Art. „Ritual“, in: Friedrich Jäger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 11. Stuttgart 2010, 297–306. Vgl. dazu auch den Sammelband Jörn Gengnagel/Gerald Schwedler (Hrsg.), Ritualmacher hinter den Kulissen: zur Rolle von Experten in historischer Ritualpraxis. (Performanzen: interkulturelle Studien zu Ritual, Spiel und Theater, 17.) Münster 2013. 6 Dies., Ritualmacher. Überlegungen zu Planern, Gestaltern und Handlungsträgern von Ritualen, in: dies. (Hrsg.), Ritualmacher hinter den Kulissen (wie Anm.5), 13–39.
L . RÖSER
/ J . M . SCHÜTTE , ERSCHAFFEN RITUALE EXPERTEN ?
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als Priester in der Diözese Konstanz von den Gläubigen als Experte wahrgenommen? Die Beantwortung dieser Fragen hängt vor allem davon ab, inwieweit man die Predigttätigkeit als eine Form der nachgefragten Wissensvermittlung ansieht. 7 Die Predigt erhielt im 15.Jahrhundert besonders im städtischen Kontext eine immer größere Bedeutung, die dann im 16.Jahrhundert durch die Reformation als Katalysator noch erheblich zunahm. Gleichfalls kam es im Zuge der Reformation zu einer Zunahme der Katechetik und des volkssprachlichen Kirchenliedes. Dass es sich in den beiden letztgenannten Fällen um eine Form von Wissensvermittlung handelt, ist offensichtlich. Ebenso ist nicht zu bestreiten, dass die Sakramentsverwaltung als Teil der priesterlichen bzw. pastoralen Amtsausübung keine eigentliche Expertentätigkeit ist. Zwar ist für den heilsnotwendig einwandfreien Vollzug der Sakramente ein „Knowing how“ unerlässlich, um eine Wissensvermittlung handelt es sich allerdings nicht. Ob und inwiefern nun aber bei der Predigt Wissen vermittelt wurde, ist nicht eindeutig. Denn die Predigt steht, insbesondere in den reformatorischen Kirchen, in unmittelbarer Nähe zu den Sakramenten. Wie Taufe und Abendmahl vollzieht sich in der Predigt die Buße, indem durch die Predigt des Gesetzes dem Menschen seine Sünde vor Augen gestellt, durch die Predigt des Evangeliums der so erschütterte Mensch wiederaufgerichtet wird. 8 Es geht hier mithin nicht um die Vermittlung neuen Wissens, sondern um die immer wieder neu notwendige Sündenerkenntnis und die daraufhin ergehende Gnadenzusage. Dieser Zusammenhang zwischen Predigt und Sakramenten ist allerdings kein spezifisch reformatorischer, sondern trifft auch sonst auf das Verhältnis von Predigt und Sakramenten zu. Neben diesen heilsvermittelnden Kern der Predigt trat aber mit der zunehmenden Predigttätigkeit immer mehr auch die Wissensvermittlung. In den Predigten des Konfessionellen Zeitalters bestand diese oft in einer kontroverstheologischen Orientierung. Es floss aber auch historisches oder geographisches Wissen ein. Ebenso
7 Zur Predigt des Luthertums siehe Sabine Holtz, Theologie und Alltag. Lehre und Leben in den Predigten der Tübinger Theologen 1550–1750. (Spätmittelalter und Reformation, Neue Reihe, 3.) Tübingen 1993; Albrecht Beutel, Lehre und Leben in der Predigt der lutherischen Orthodoxie. Dargestellt am Beispiel des Tübinger Kontroverstheologen und Universitätskanzlers Tobias Wagner (1598–1680), in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 93, 1996, 419–449. 8 Diese grundlegende Unterscheidung von Gesetz und Evangelium legt Philipp Melanchthon schon seinen „Loci communes theologici“ von 1521 und damit seiner theologischen Lehre zugrunde. Siehe zur Bedeutung der Buße in der Predigt auch Beutel, Lehre und Leben (wie Anm.7), 438–441.
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wurden in der Predigt moralische und normative gesellschaftliche Werte vermittelt, insofern die Predigt auch Mittel der Sozialdisziplinierung war. Auch wenn also Pfarrer nicht grundsätzlich als Experten anzusehen sind, so wurden Universitätstheologen und kirchenleitende Amtsträger doch immer wieder in verschiedenen Situationen als Experten angefragt. Es kam dabei oft auch zur Verstetigung von Expertenrollen. Die Frage, unter welchen Bedingungen Theologen zum Experten werden konnten, wird ebenso wie diejenige, welche Rituale dabei bedeutsam waren, ausgehend vom Beispiel Melchor Bus für die Zeit vom 15. bis zum Beginn des 17.Jahrhunderts untersucht. Eine typische Aufgabe, die Theologen in der Rolle von Experten wahrnahmen, war die Gutachtertätigkeit. Für die Wittenberger Theologen war diese so bedeutsam, dass sie 1664 ihre wichtigsten Gutachten seit Martin Luther zusammenstellten und drucken ließen. 9 Ähnliche Gutachtensammlungen von lutherischen Theologen, die sich aber nicht auf eine einzige Universität beschränkten, waren bereits zuvor von Felix Bidembach und Georg Dedekenn herausgegeben worden. 10 Die Wittenberger Sammlung von 1664 ist in vier Teile unterteilt. Der erste befasst sich mit Religions-, Lehr- und Glaubensinhalten, der zweite mit dem kirchlichen Amt, der dritte mit Moral- und Policeysachen und der vierte schließlich mit Matrimonial- und Eheangelegenheiten. Dabei antworten alle Gutachten, auch die des ersten, theologisch-dogmatischen Teils, auf konkrete Anfragen
9 Consilia Theologica Witebergensia, Das ist / Wittenbergische Geistliche Rathschläge Deß theuren Mannes Gottes / D. Martini Lutheri, seiner Collegen, und treuen Nachfolger / von dem heiligen Reformations-Anfang / biß auff jetzige Zeit / in dem Namen der gesampten Theologischen Facultät außgestellete Urtheil / Bedencken / und offentliche Schrifften: In Vier Theilen / Von Religion- Lehr- und Glaubens- Ministerial- und Kirchen- Moral- und Policey- Matrimonial- und Ehe-sachen / Und allerhand darbey vorfallenden Casibus, Ordentlich zusammen gebracht / Und zur Ehre Gottes … abgefertiget / Von Der Theologischen Facultät daselbsten. Frankfurt am Main 1664; siehe dazu Martin Brecht, Die Consilien der Theologischen Fakultät der Universität Wittenberg. Dokumente ihrer Eigenart und ihrer spezifischen Geschichte, in: Irene Dingel/Günther Wartenberg (Hrsg.), Die Theologische Fakultät Wittenberg 1502 bis 1602. (Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie, 5.) Leipzig 2002, 201– 221, sowie Armin Kohnle, Wittenberger Autorität. Die Gemeinschaftsgutachten der Wittenberger Theologen als Typus, in: ebd. 189–200; Udo Sträter, Wittenberger Responsen zur Zeit der Orthodoxie. Eine Quelle zur Fakultätsgeschichte, in: Stefan Oehmig (Hrsg.), 700 Jahre Wittenberg. Stadt – Universität – Reformation. Weimar 1595, 289–302. Siehe zur Gutachtertätigkeit lutherischer Theologen mit dem Fokus auf die Universität Rostock Thomas Kaufmann, Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts. (Spätmittelalter und Reformation, Neue Reihe, 29.) Tübingen 2006, 323–363. 10 Brecht, Consilien (wie Anm.9), 202f.
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und haben damit einen konkreten Alltagsbezug. 11 Mag es hier auch um scheinbar abgehobene theologische Fragen wie der nach der Prädestinationslehre oder der Christologie gehen, so steht doch immer eine konkrete Anfragesituation dahinter. Dedekenns Sammlung wird so in den Vorreden der theologischen Fakultäten der Universitäten Leipzig, Greifswald und Wittenberg als Ratgeberliteratur für die Laien wie die Amtsträger charakterisiert. 12 In religiöse und konfessionelle Streitigkeiten griffen Theologen aber nicht nur durch Gutachten ein. Bekannt wurde das Konfessionelle Zeitalter besonders auch durch seine Flut an kontroverstheologischen Streitschriften. Dass hier hinter jeder einzelnen Streitschrift immer eine konkrete Anfragesituation stand, trifft grundsätzlich zwar nicht zu, denn dafür waren der theologische Eifer wie das seelsorgerliche Pflichtgefühl ihrer Verfasser oft zu groß. Aber die Widmungsvorreden machen oft einen konkreten Situationsbezug deutlich. Hier lässt sich häufig erkennen, dass der Widmungsempfänger durchaus den Wunsch nach einer solchen Schrift geäußert hat. Dieser praktische seelsorgerliche Bezug der Buchproduktion trifft sowohl für kontroverstheologische wie auch für erbauliche Schriften zu. Wiewohl hier eine klare Trennung nicht möglich ist, lässt sich eine Unterscheidung dahin gehend treffen, dass die erbaulichen Schriften der Funktion der Predigten nahekommen, aus denen sie oft auch hervorgegangen sind, und Sünden- und Selbsterkenntnis wie Trost in Anfechtungssituationen vermitteln. Die kontroverstheologischen Schriften dagegen wollen Orientierungswissen in konfessionell undurchsichtigen Zeiten bieten. Auch in Katechismen und Lehrbüchern wird theologische Expertise sichtbar. Sie dienten sowohl der häuslichen als auch der schulischen theologischen Bildung. Zum Grundtext des Luthertums wurde Martin Luthers „Kleiner Katechismus“. Weite Verbreitung fanden dort später auch David Chytraeus „Catechesis“, Jakob Heerbrands „Compendium“ oder Matthias Hafenreffers „Loci theologici“. 13 Sie standen wie das nachhaltig wirksame „Compendium“ Leonhart Hütters auf der Grenze zwischen schulischem und universitärem Unterricht. Hütters erstmals 1610 erschienenes „Compendium locorum theologicorum“ erfuhr über hundert lateinische und
11
Ebd.210.
12
Ebd.204.
13
Siehe dazu Andreas Ohlemacher, Lateinische Katechetik der frühen lutherischen Orthodoxie. (For-
schungen zur Dogmen- und Kirchengeschichte, 100.) Göttingen 2011.
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deutsche Auflagen und wurde bis in das 18.Jahrhundert hinein als Lehrbuch an höheren Schulen und teils auch an Universitäten benutzt. 14 In diesem Fall war die theologische Fakultät Wittenberg durch Kurfürst Christian II. von Sachsen mit der Aufgabe der Erstellung eines Kompendiums betraut worden, die diese an Hütter delegierte. Schließlich ist auch die universitäre Ausbildung von Theologen als Ort zu verstehen, an dem Theologen zu Experten wurden. Mittel des universitären Unterrichts waren vor allem Vorlesung und Disputation. 15 Letztere diente sowohl dem Unterricht als auch der akademischen Qualifikation, insofern die Promotion zum Bakkalaren, Magister, Lizentiaten oder Doktor diese gemäß den jeweiligen Universitätsstatuten erforderte. An diese eigentliche Prüfungsleistung schloss sich dann der „ritus promotionis“ an, in dem der Promovend symbolisch in den Stand des Gelehrten erhoben wurde. 16 Dazu gehörten oft ein gemeinsamer Zug der Fakultät in eine der städtischen Kirchen, die Eidleistung des Promovenden, die Verleihung des Titels und der Zeichen der Doktorwürde wie Doktorhut, Ring und Buch. Daran schloss sich das Doktoressen an. Ritualisiert waren beide Teile, insofern sowohl Disputation als auch „ritus promotionis“ einem festen Set von Regeln und Rollen unterlagen. Das Gros der Disputationen – zumindest an den theologischen Fakultäten – wa-
14 Siehe dazu Johann A. Steiger, Nachwort, in: ders. (Hrsg.), Leonhart Hütter, COMPENDIUM LOCORUM THEOLOGICORUM EX SCRIPTURIS SACRIS ET LIBRO CONCORDIAE. Lateinisch – deutsch – englisch, Teilbd. 1. (Doctrina et pietas II/3.) Stuttgart-Bad Cannstatt 2006, 699–791. 15 Zur Disputation siehe Ewald Horn, Die Disputationen und Promotionen an den Deutschen Universitäten vornehmlich seit dem 16.Jahrhundert. Mit einem Anhang enthaltend ein Verzeichnis aller ehemaligen und gegenwärtigen deutschen Universitäten. (Zentralblatt für Bibliothekswesen, Beih. 11.) Leipzig 1893; Arno Seifert, Das höhere Schulwesen. Universitäten und Gymnasien, in: Notker Hammerstein (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 1. München 1987, 197–374, hier besonders 203, 268f.; Hanspeter Marti, Dissertation und Promotion an frühneuzeitlichen Universitäten des deutschen Sprachraums. Versuch eines skizzenhaften Überblicks, in: Rainer A. Müller (Hrsg.), Promotion und Promotionswesen an deutschen Hochschulen der Frühmoderne. (Abhandlungen zum Studenten- und Hochschulwesen, 10.) Köln 2001, 1–20; Marion Gindhart/Ursula Kundert, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Disputatio 1200– 1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur. (Trends in Medieval Philology, 20.) Berlin u.a. 2010, 1–18; Anita Traninger, Disputation, Deklamation, Dialog. Medien und Gattungen europäischer Wissensverhandlungen zwischen Scholastik und Humanismus. (Text und Kontext, 33.) Stuttgart 2012. 16 Siehe zum „ritus promotionis“ insbesondere Marian Füssel, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit. Darmstadt 2006.
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ren aber keine offiziell qualifizierenden Disputationen. 17 Zu dieser Gruppe gehören sowohl die in den Universitätsordnungen geregelten „disputationes publicae“ wie auch die zahlreichen Übungsdisputationen der Privatkollegs. Die „disputatio publica“, auch als „disputatio ordinaria“ oder „disputatio solennis“ bezeichnet, war ebenso wie die Promotionsdisputation bei den Fakultäten gebührenpflichtig. Ebenso war hier die Anwesenheit der ganzen Fakultät gefordert. Die Privatdisputationen dagegen fanden im Rahmen privater Kollegs statt, die von den Professoren oder anderen von der Fakultät dazu bevollmächtigten Universitätsmitgliedern abgehalten wurden. Auch diese beiden Arten der Disputation konnten als Leistungsnachweis dienen, denn durch den Druck der Thesen wurden auch sie zum Ausweis der Kenntnisse und Fähigkeiten ihres Respondenten. Für die theologische Fakultät der Universität Wittenberg lässt sich für den Zeitraum von 1592 bis 1627 ein Verhältnis von Promotionsdisputationen zu „disputationes publicae“ zu Privatdisputationen von 1:5:40 ermitteln. 18 Zum Doktor promoviert wurden an den theologischen Fakultäten meist nur spätere Professoren, teils auch Superintendenten oder Hofprediger. Bei den Theologieprofessoren erfolgte die Doktorpromotion oft auch erst nach dem Stellenantritt. 19 Für sie war der Doktorgrad in jedem Fall unerlässlich für eine universitäre Laufbahn. Das Phänomen eines so umfangreichen Disputationswesens betraf aber wohl nicht die theologischen Fakultäten der reformierten Universitäten, sondern war ein lutherisches und katholisches Phänomen. 20
17
Siehe zum Disputationswesen an den theologischen Fakultäten Kenneth G. Appold, Orthodoxie als
Konsensbildung. Das theologische Disputationswesen an der Universität Wittenberg zwischen 1570 und 1710. (Beiträge zur Historischen Theologie, 127.) Tübingen 2004; Thomas Kaufmann, Universität und lutherische Konfessionalisierung. Die Rostocker Theologieprofessoren und ihr Beitrag zur theologischen Bildung und kirchlichen Gestaltung im Herzogtum Mecklenburg zwischen 1550 und 1675. (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, 66.) Gütersloh 1997, 409–420. 18
Die Zahlen beruhen auf der quantitativen Auswertung der Wittenberger theologischen Disputatio-
nen im Rahmen der Dissertation des Verfassers (Lars Röser). 19
So hatte z.B. Johann Georg Volckmar bereits im April 1595 seine Wittenberger Theologieprofessur an-
getreten, wurde aber erst im Oktober des Jahres durch seinen Kollegen Salomon Gesner zum Doktor der Theologie promoviert. 20
So wurde in Heidelberg in den 1580er Jahre anscheinend nur einmal im Monat disputiert, vgl. Her-
mann J. Selderhuis, Eine attraktive Universität. Die Heidelberger Theologische Fakultät 1583–1622, in: ders./ Markus Wriedt (Hrsg.), Bildung und Konfession. Theologenausbildung im Zeitalter der Konfessionalisierung. (Spätmittelalter und Reformation, Neue Reihe, 27.) Tübingen 2006, 1–30, hier 26. Darüber hinausgehende Privatdisputationen werden nicht genannt. Auch der Blick in den VD16 und VD17 zeigt keine umfangreiche Disputationstätigkeit in Heidelberg. Als Gegenbeispiel sei die lutherische Universität Rostock
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Ein grundsätzliches Problem bei der Erforschung frühneuzeitlicher Disputationen besteht darin, dass die gedruckten Disputationsthesen in der Regel keinen Aufschluss über den mündlichen Disputationsakt geben. Der Thesendruck lässt einen Einblick in das Disputationsgeschehen nicht zu. Disputationsprotokolle sind aber für das 16. und 17.Jahrhundert selten. Zugleich steht damit auch die Frage nach der Verfasserschaft der Disputationsthesen im Raum: Die Forschung neigt hier mehrheitlich dazu, diese dem Präses der Disputation zuzuschreiben, ohne dabei eine Mitwirkung des Respondenten grundsätzlich auszuschließen. 21 Lassen sich Promotion oder Disputation als ‚rite de passage‘ zum Experten verstehen? Genauso wie bei den Meisterprüfungen ist diese Frage nicht nur für den Promovenden, sondern auch für den Promotor zu stellen. Zunächst lässt der Promotor sich hier als Experte ansehen, weil er als Promotor einerseits durch die Universität, andererseits durch den Promovenden angefragt wurde. Seine Expertise ist Voraussetzung für die Promotion. Allerdings ist die Promotion für ihn kein einmaliger Vorgang, so dass sie für ihn kein ‚rite de passage‘ sein kann, da dieser durch seine Einmaligkeit gekennzeichnet ist. Aber die wiederholte Tätigkeit als Promotor stellt den Theologieprofessor als Experten auf Dauer. Daher konnte sich z.B. die Wittenberger theologische Fakultät in ihrer Gutachterfunktion als Expertengremium verstetigen. Hinsichtlich des Promovenden lässt sich die Frage dagegen nicht eindeutig beantworten. Da der historische Befund gezeigt hatte, dass vor allem Professoren, Superintendenten und andere kirchenleitende Amtsträger die Promotion durchliefen, scheint die Promotion für diesen Personenkreis die Voraussetzung für die weitere Karriere gewesen zu sein. Diese Personen waren es aber auch, die zumeist als theologische Experten angefragt wurden. Sie verfassten Gutachten, Lehrbücher und Streitschriften. Sie sind es auch, die für die theologische Ausbildung zuständig waren. Die Promotion machte hier zwar nicht den Experten, aber sie machte den Experten möglich. Aber auch hier gibt es auffällige Ausnahmen. Insbesondere der Markt
genannt, für die Kaufmann, Universität (wie Anm.17), 409–420, zwischen 1580 und 1639 280 Disputationen nachweist. Auf der Seite der Katholiken waren es vor allem die Jesuiten, die als Meister der Disputation galten. 21 Siehe dazu nur Ulrich Rasche, Die deutschen Universitäten und die ständische Gesellschaft. Über institutionsgeschichtliche und sozioökonomische Dimensionen von Zeugnissen, Dissertationen und Promotionen in der Frühen Neuzeit, in: Rainer A. Müller (Hrsg.), Bilder – Daten – Promotionen. Studien zum Promotionswesen an deutschen Universitäten der frühen Neuzeit. (Pallas Athene, 24.) Stuttgart 2007, 150– 273, hier 189–201; Horn, Disputationen (wie Anm.15), 51–72.
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der Erbauungsliteratur wird stark, aber nicht allein von nicht promovierten Theologen bedient. Ein prominentes Beispiel hierfür ist Johann Arndt, der zwar Theologie studiert hat und in den Pfarrdienst berufen wurde, aber keinen akademischen Grad erlangt hat. Marian Füssel hat die Promotion als Übergangsritus zum Gelehrten überzeugend dargestellt. 22 Während es sich bei den Gelehrten um einen Stand handelt, nehmen die Experten eine Rolle ein. Daher stellt sich die Frage nach dem Übergangsritus des Experten erneut. Für die theologischen Doktoren gilt, dass ihre Promotionsdisputation in der Regel nicht ihre erste Disputation war, sondern dieser Übungsdisputationen vorangingen. 23 Was auch sonst zu vermuten gewesen wäre, zeigt sich hier noch einmal deutlich: Die Disputation selbst ist kein ‚rite de passage‘ hin zum Experten. Auch wenn durch die Promotionsdisputation die akademische Bellizität unter Beweis gestellt worden ist, so ist dies allein Voraussetzung der Voraussetzung, insofern sie den Erwerb des Doktorgrades erst möglich macht, der selbst Ermöglichungsgrund des Experten ist. Erst die feierliche Verleihung des Titels und seiner Insignien erschuf den Doktor und nahm ihn in den Kreis der Gelehrten auf. Die Promotion wird so im Sinne van Genneps zum Angliederungsritual: Der Promovend wird in die Gemeinschaft der Gelehrten aufgenommen. 24 Hinsichtlich seines Expertentums bedeutet dies allerdings nur eine Erhöhung seines kulturellen Kapitals und damit eine quantitative und qualitative Steigerung der Anfragen an seine Expertenrolle. Mit dem Doktortitel verbindet sich nämlich die berechtigte Erwartung gelehrten Wissens und moralischer Integrität seines Trägers. Dieser Zusammenhang zwischen Expertentum und akademischer Qualifizierung, wie er sich insbesondere für die Theologen darstellt, ist allerdings nur dort
22
Marian Füssel, Ritus Promotionis. Zeremoniell und Ritual akademischer Graduierungen in der Frühen
Neuzeit, in: Rainer C. Schwinges (Hrsg.), Examen, Titel, Promotionen. Akademisches und staatliches Qualifikationswesen vom 13. bis zum 21.Jahrhundert. (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitätsund Wissenschaftsgeschichte, 7.) Basel 2007, 411–450, hier 415–429; ders., Gelehrtenkultur (wie Anm.16), 149–187. 23
Diesen Befund zeigt das von Lars Röser für Wittenberg ausgewertete Material.
24
Arnold van Gennep, Übergangsriten (Les rites de passage). Hrsg. v. Klaus Schomburg u. Sylvia M.
Schomburg-Scherff. 3.Aufl. Frankfurt am Main u.a. 2005, 29. Anders Füssel, Gelehrtenkultur (wie Anm.16), 423. Füssel sieht hier die Promotion als Übergangsritual bzw. liminale Phase, wie sie Victor Turner aufbauend auf van Gennep beschrieben hat. Anders als bei den Meisterprüfungen (s.u.) erscheint allerdings die Dauer der Promotion als weniger ausgeprägt, so dass eine eigentliche Phase des Übergangs nicht entsteht. Vielmehr steht hier die Aufnahme in die neue Bezugsgemeinschaft der Gelehrten im Vordergrund.
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möglich, wo Expertentum obrigkeitlich kontrolliert wird. Das trifft aber für die Theologen in besonderem Maß zu: Kirchliche Predigt und schulische Unterweisung, die Gutachtertätigkeit und die theologischen Fakultäten stehen unter obrigkeitlicher Aufsicht. Ebenso wird versucht, den Buchmarkt durch Zensur zu kontrollieren. Gerade hier fällt ein Experte wie Johann Arndt auf, der zwar obrigkeitlich bestellter Pfarrer ist, aber häufiger in theologischen Widerspruch gerät. 25 Und doch kann er sich, ohne die Insignien des akademisch privilegierten Theologen, erfolgreich auf dem Markt der Erbauungsliteratur behaupten. Will man also auch diese Experten in den Blick bekommen und zwischen Gelehrten und Experten unterscheiden, erscheint die Promotion als denkbar ungeeignet, weil sie diese Differenz einzuebnen droht. Ein Universitätstheologe wie Leonhart Hütter wird zum erfolgreichen Experten beispielsweise durch sein „Compendium“, das er in kurfürstlichem Auftrag verfasst. Salomon Gesner wird – zumindest in dieser Hinsicht – nicht zum Experten, obwohl er formal mit Hütter gleich qualifiziert war: Sein „Compendium Doctrinae coelestis“ fand bei Fakultät und Kurfürst nicht die nötige Zustimmung, so dass der Auftrag an Hütter weitergegeben wurde. Umgekehrt erreichte Hütter nie den Markt der Erbauungsliteratur, ganz im Gegensatz sowohl zu Johann Arndt als auch seinem Schüler, dem Jenaer Theologieprofessor Johann Gerhard. Der Nutzen einer Promotion für einen Experten zeigt das Beispiel des in den 1580er Jahren in Wittenberg wirkenden Theologieprofessors Johannes Matthaeus. Seine Biographie war alles andere als konfessionell eindeutig, denn er war zuvor bereits in der reformierten Kurpfalz als Superintendent tätig gewesen und dort unter dem Verdacht des ‚Arianismus‘ entlassen worden. Als er daher später Angriffen von seinen reformierten Gegnern hinsichtlich seines Wechsel von der reformierten zur lutherischen Konfession ausgesetzt war, wurden auch die Umstände seiner Doktorpromotion thematisiert, die 1565 an der damals reformierten Universität Heidelberg stattfand. Seine Gegner warfen ihm dabei vor, dass er allein aus Ehrgeiz und „Doktorsucht“ nach dem Doktortitel gestrebt habe. 26 In ähnlicher Weise hatte sich
25 Siehe zu Arndt nur Hans Schneider, Art.„Arndt, Johann“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. 4. Aufl. Bd. 1. Tübingen 1998, 788 f.; sowie zuletzt ders., Der fremde Arndt. Studien zu Leben, Werk und Wirkung Johann Arndts (1555–1621). (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, 48.) Göttingen 2006. 26 Gegenwarnung auff Doctor Johannes Matthei etc. verschlagene lesterliche warnung / etc. darin gründtlich bewiesen vnd außgeführt wirdt / das er noch wie vor / seiner bekantnuß halben vom H.Abendmal vnauffrichtig handle. Vnd demnach vns vnd andern die er für Caluinisten vnd Sacramentschwermer außschreit / sonderlich aber herrn Johanni Calvino in anziehung seiner außlegung über etliche oͤter der
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auch Kurfürst Friedrich III. von der Pfalz kurz vor der Promotion in einem Brief an Matthaeus geäußert: Matthaeus’ Doktortitel nütze nichts für den Predigtdienst und sei daher Ausdruck von Eitelkeit gegen Gott und die Menschen. 27 Matthaeus verteidigt sich gegen diese Vorwürfe in zweifacher Weise. Zum einen versucht er seine eigene Integrität darzustellen, zum anderen nimmt er die Institution der Doktorpromotion in Schutz. Für die Graduierung führt er deren Herkommen von den Vorfahren an: „ES haben / on zweifel / unsre Vorfaren / aus zeitigem vnd wolbedachtem rath / die gradus scholasticos des Magisterij / Doctorats vnd anderer / weislich erfunden vnd eingefuͤret. Erstlich das solche gradus vnd Tituli weren praemia, belonung | der geschickligkeit / kunst vnd tugent / welche one grosse erbeit / muͤhe vnd fleiss nicht koͤnnen erlanget werden.“ 28
Denn unter den Menschen solle es nicht nur Strafen, sondern auch Belohnungen geben. Als zweiten Grund nennt Matthaeus für die akademischen Grade, dass sie „oͤ ffentliche Zeugnus der Lere vnd redligkeit“ seien. Denn so nützen sie Schule und Kirche, indem sie eine Qualitätskontrolle der dort Tätigen hinsichtlich Lehre und Leben seien. 29 Der dritte und letzte Grund sei schließlich die ethische Konsequenz für den Graduierten, da „[S]olche verlihene gradus vnd tituli honoris / einheimische vnd stetige anmaner weren / bey denen / so Magistri oder Doctores sein / jmerdar je fleissiger zu studiren / vnd Erbarlicher zu leben / auff das sie mit geschickligkeit / kunst vnd Erbarkeit jren gradum vor meniglichen schuͤtzen vnd verteidigen koͤndten.“ 30
Die geringere Promotions- und Disputationstätigkeit bei den Reformierten und ihre Vorbehalte dagegen deutet Matthaeus dabei so, dass sich darin das „sakramenHeiligen schrifft von der ewigen Gottheit vnd geburt Christi vom Vatter / gewalt vnd unrecht thue. Gestelt durch die Kirchendiener in der obern Fürstlichen Pfaltz zu Newmarckt. Neustadt an der Haardt 1584, A4r f. 27
Abgedruckt bei Johannes Matthaeus, Glaub vnd Bekentnus Johannis Matthei von Schmalkalden / der heiligen Schrifft Doctoris I. VOn der heiligen Goͤttlichen Dreyfaltigkeit. II. VOn beyden Naturen in Christo. III. VOn dem heiligen hochwirdigen Abendmal vnsers HERRN vnd einigen Heylands IESV CHRISTI Sampt
dem widerruff der Sacramentschwermerey / ausgegangen Zum ersten mal / Anno 1575. Itzt aber auff ein newes widerholet / vnd der vnwaren / vngegruͤndten / gifftigen / feindseligen vnd ehrenruͤrigen Gegenwarnung der Sacramentirischen Kirchendiener zu Neumarck / entgegen gesetzt / aus vrsachen / Wie in diesem buͤchlein allenthalben vnd durchaus zu sehen. Wittenberg 1584, E2v f.
260
28
Ebd.E1r f.
29
Ebd.E1v.
30
Ebd.
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tiererische“ und „wiedertäuferische“ Wesen der Reformierten zeige, die aus Opposition gegen die traditionellen Werte darin nur persönlichen Ehrgeiz sehen könnten. 31 Die Argumente, die Matthaeus vorbringt, lassen sich zwei Gesichtspunkten zuordnen. Zunächst sichert für ihn die Graduierung den Bildungsstandard ihres Trägers. Dies geschieht sowohl zum Zeitpunkt der Prüfung als auch darüber hinaus, indem der erworbene Grad steter Ansporn bleibt, ihm auch gerecht zu werden. Darüber hinaus scheint die ethische Funktion der Graduierung einen weitaus höheren Anteil zu haben. Indem er sie in den Kontext von Belohnung und Strafe einordnet, gehört auch die Graduierung zu den Mitteln, die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten. Ebenso bescheinigt die Graduierung nicht nur die Ehrbarkeit des Graduierten, sondern sichert diese auch über den Zeitpunkt der Graduierung hinaus. Die durch das Ritual der Promotion geschaffene Gemeinschaft der Gelehrten, der „Doctores“, konstituiert sich so also nicht allein durch einen bestimmten Wissensbestand, sondern mindestens ebenso stark durch den Kodex der Ehrbarkeit. Dies kommt nicht zuletzt dadurch zum Ausdruck, dass der Wissensaspekt der Graduierung, die Leistungszertifizierung durch ihren „nutz für Kirchen und Schulen“ in den Aspekt der Ehrbarkeit überführt wird, indem die Leistungszertifizierung letztendlich dem gemeinen Nutzen dient. Matthaeus beschreibt hier also, wie durch „disputatio“ und „ritus promotionis“ eine Veränderung des Graduierten vorgeht (oder idealerweise vorgehen sollte) und eine Gemeinschaft konstituiert wird, in die man durch eigenen Verdienst eintreten kann. Es lässt sich beobachten, dass Theologen in bestimmen Anfragesituationen als Gutachter oder Verfasser kontroverstheologischer oder katechetischer Schriften zu Experten wurden. Vielfach hatten diese Theologen die Doktorpromotion durchlaufen. Allerdings finden sich gerade unter den Erbauungsschriftstellern, die sich in gewisser Hinsicht ebenfalls als Experten verstehen lassen, auch nicht promovierte Theologen. Und ebenso lassen sich Universitätsprofessoren, die Doktorpromotionen abnehmen, in dieser Rolle als Experten verstehen. Wie aber das Beispiel Johannes Matthaeus’ zeigt, wurden Experten nicht durch das Ritual der Doktorpromotion geschaffen, da die Theologen erst in bestimmten Anfragesituationen zu Experten wurden. Allerdings konnte ein Doktortitel hier Ausweis der eigenen wissenschaftli-
31 Ebd.E2r.
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chen Qualifikation zu einer solchen Expertise sein. Matthaeus nutzte ihn eher, um seine moralische Integrität unter Beweis zu stellen. Der Doktortitel konnte also mehr als nur die eigene Expertise ausweisen.
III. Die Generierung medizinischer Expertise durch Rituale – die Meisterprüfung als Beispiel Auch im Feld ‚Stadt‘ finden sich zahlreiche Beispiele, mit denen gezeigt werden kann, dass nicht nur der gelehrte Theologe zum Experten werden kann, sondern auch der handwerklich ausgebildete Bader, Barbier oder Wundarzt. 32 Die Zünfte setzten seit dem späten Mittelalter zunehmend Rituale ein, um den Zugang zu ihrer Gemeinschaft zu regulieren und somit auch die Anwendung ihres Wissens und ihrer Fertigkeiten zu kontrollieren. 33 Ein zukünftiger Barbiermeister musste verschiedene Rituale durchlaufen 34, an deren Ende die Meisterprüfung stand. Der Ablauf konnte von Stadt zu Stadt variieren, wurde aber meist genau in den Zunftordnungen festgehalten. Bevor ein Bewerber die Meisterwürde erwerben konnte, hatte er eine Reihe persönlicher Voraussetzungen zu erfüllen. In der Leipziger Baderordnung von 1556 wurde festgehalten 35, dass derjenige, der Meister und Mitglied der Handwerksbruderschaft werden wollte, zwei Arten von Bedingungen erfüllen musste. Diese lassen sich in formale und inhaltliche Bedingungen unterteilen, die in einer festen Reihen32
Siehe dazu auch Jana Madlen Schütte, Medizin im Konflikt. Fakultäten, Märkte und Experten in deut-
schen Universitätsstädten des 14. bis 16.Jahrhunderts. (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance, 53.) Leiden/Boston 2017, 198–282. 33
Rexroth, Systemvertrauen (wie Anm.3), 30. Von den offiziellen Ritualen einer Zunft sind informelle Ri-
tuale z.B. unter den Gesellen zu unterscheiden, die nur im Alltagsverständnis als Rituale bezeichnet werden können. Siehe dazu z.B. Arnd Kluge, Die Zünfte. Stuttgart 2007, 375–383. 34
Zur Lehrlings- und Gesellenzeit eines Baders oder Barbiers siehe z.B. Gertrud Wagner, Das Gewerbe der
Bader und Barbiere im deutschen Mittelalter. Zell im Wiesenthal 1917, 64–66; Gustav Mittelbach, Das Handwerk der Bader, Barbiere und Wundärzte, in: Kulturreferat der Steiermärkischen Landesregierung (Hrsg.), Das steirische Handwerk: Meisterschaft als Träger der Kultur und Wirtschaft des Landes. Katalog zur 5. Landesausstellung Juni bis Oktober 1970. Graz 1970, 533–545, hier 536, und Rudolf Endres, Handwerk – Berufsbildung, in: Notker Hammerstein/August Buck (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 1: 15. bis 17.Jahrhundert. München 1996, 375–424, hier 392. 35
Stadtarchiv Leipzig, LXIV – Innungen 27: Acta, die Barbier-Innungs-Artikel und deren Confirmation
betref. 1556.
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folge erfüllt werden mussten. Zunächst die formalen Bedingungen: So hatte ein Meisterkandidat seine eheliche Geburt und sittliche Unbedenklichkeit nachzuweisen. Zudem musste er seine städtischen Pflichten erfüllen, d.h. über das Bürgerrecht verfügen und die erforderliche Ausbildung von zwei Jahren außerhalb und zwei Jahren innerhalb Leipzigs abgeleistet haben. 36 Erst wenn die formalen Bedingungen abgegolten waren, konnte der Kandidat überhaupt zur Erfüllung der inhaltlichen Bedingungen zugelassen werden. Der Kandidat musste seine Eignung durch die Anfertigung von Meisterstücken unter Beweis stellen, die verschiedene Salben und Pflaster umfassten und den Nachweis praktischer Fähigkeiten im Heilen von Verletzungen und Brüchen beinhalteten. 37 Auffällig ist dabei, dass das Wissen auf die äußere Heilung von Verletzungen und Wunden beschränkt blieb, während die akademischen Ärzte traditionsgemäß die Sorge für die inneren Erkrankungen ohne äußere Behandlungen übernahmen. Wenn der Kandidat durch die Ablieferung der Meisterstücke seine Kunstfertigkeit unter Beweis gestellt hatte, musste er eine Aufnahmegebühr für die Bruderschaft leisten und für die Meister und ihre Ehefrauen ein Essen ausrichten. 38 In der Leipziger Baderordnung wird keine theoretische Prüfung erwähnt; der Nachweis der Eignung wurde nur durch die Meisterstücke erbracht. Nach der Annahme der Meisterstücke wurden anderenorts noch die Zunftrollen verlesen und das neue Mitglied musste wie z.B. in Köln in Form des Meistereids von 1442 die Satzung beschwören. 39 In den Zunftordnungen wurden verschiedene Stufen festgehalten, die für das Meisterwerden erforderlich waren. Entsprechen diese dem Drei-Phasen-Modell eines Übergangsrituals? Arnd Kluge hält fest, dass die Karriereschritte einer beliebigen Zunftkarriere nur in Ansätzen als Übergangsriten nach Arnold van Gennep gedeutet werden können. 40 Für den hier vorgestellten Ablauf der Meisterwerdung bei
36 Ebd.fol.2r, 5r. Vgl. dazu auch allgemein Endres, Handwerk – Berufsbildung (wie Anm.34), 396, und Kluge, Zünfte (wie Anm.33), 229. Speziell zu Badern und Barbieren siehe Wagner, Bader (wie Anm.34), 58f. 37 Stadtarchiv Leipzig, Barbier-Innungs-Artikel (wie Anm.35), fol.2r–5r. Zum Meisterstück siehe auch Wagner, Bader (wie Anm.34), 61f., und Mittelbach, Handwerk der Bader (wie Anm.34), 536. 38 Stadtarchiv Leipzig, Barbier-Innungs-Artikel (wie Anm.35), fol.5r. Zum weiteren Vorgehen siehe allgemein auch Wagner, Bader (wie Anm.34), 54–56. 39 Siehe Historisches Archiv der Stadt Köln, Bestand 95 Zunft A 354: Statutenbuch der Barbierzunft, 1397/1442–1771, fol.1v–4r. Vgl. dazu allgemein auch Wagner, Bader (wie Anm.34), 62. 40 Eine Trennungsphase kann Kluge gar nicht ausmachen, eine Schwellen- oder Umwandungsphase sei nur schwach ausgeprägt und lediglich die Festmähler im Anschluss an die Meisterprüfung könnten als Angliederungsphase verstanden werden; Kluge, Zünfte (wie Anm.33), 377.
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den Barbieren können verschiedene Phasen eines Übergangsrituals ausgemacht werden. Die Bitte um die Aufnahme in die Zunft kann als Herauslösung aus dem zünftischen Alltag verstanden werden (Trennungsphase), da der Kandidat noch kein Meister ist, sich von nun an aber in einer Schwellenphase, d.h. nach Victor Turner in einem Zustand der Liminalität bzw. einer labilen Zwischenexistenz 41, befindet, in der er seine Meisterstücke anfertigt und damit für die Zunft als künftiger Meister gehandelt wird. Die Anfertigung der Meisterstücke konnte eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen, so dass hier von einer längeren liminalen Phase ausgegangen werden kann. Nach Pierre Bourdieu bewirkt die Macht des Rituals eine Verwandlung der eingesetzten Person auf zwei Ebenen. Erstens ändert sich von diesem Zeitpunkt an das Verhalten der anderen Akteure gegenüber dieser Person. Zweitens verändert sich die Vorstellung, die die eingesetzte Person von sich selbst hat. 42 Der neue Meister zeigt seine Veränderung der Gemeinschaft beim anschließenden Mahl. Damit wird innerhalb der Zunft festgestellt, dass dieser von seiner Statusgruppe dazu ermächtigt wurde, in Zukunft Patienten selbstständig behandeln zu dürfen (Angliederungsphase). Der neue Meister unterscheidet sich durch das gerade durchlaufene Ritual nicht nur von den Gesellen, die diese Stufe noch nicht überschritten haben, sondern auch von denen, die dieses Ritual nie durchlaufen werden, da sie entweder die persönlichen Voraussetzungen wie eheliche Geburt nicht erfüllen können oder aufgrund anderer Bedingungen die Aufnahme in eine Zunft für sie nicht als erstrebenswert erscheint. 43
41
Victor W. Turner, Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. Neuausgabe. Frankfurt
am Main/New York 2009, 35. Siehe dazu auch Erika Fischer-Lichte, Performance, Inszenierung, Ritual: Zur Klärung kulturwissenschaftlicher Schlüsselbegriffe, in: Jürgen Martschukat/Steffen Patzold (Hrsg.), Geschichtswissenschaft und ‚performative turn‘. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit. Köln/Weimar/Wien 2003, 33–54, hier 49. 42
Siehe Pierre Bourdieu, Was heißt Sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches. Wien 1990, 86.
Dazu Kathrin Audehm, Macht der Sprache. Performative Magie bei Pierre Bourdieu, in: Christoph Wulf/Michael Göhlich/Jörg Zirfas (Hrsg.), Grundlagen des Performativen. Eine Einführung in die Zusammenhänge von Sprache, Macht und Handeln. München 2001, 101–128, hier 117. Vgl. zur Auswirkung eines Rituals z. B. auch Doris Bachmann-Medick, Performative turn, in: dies. (Hrsg.), Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. 4.Aufl. Hamburg 2010, 104–143, hier 112. 43
Diese Grenzziehung des Rituals gegenüber denjenigen, die an diesem Ritual nicht teilnehmen dürfen,
geht auf Bourdieu zurück; Bourdieu, Sprechen (wie Anm.42), 84. Dazu auch Audehm, Macht der Sprache (wie Anm.42), 116.
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Wer kann nun aber bei einem Ritual wie der Meisterwerdung als Experte bezeichnet werden? Derjenige, der Meister werden wollte, oder die, die es schon waren und den Ablauf des Rituals überwachten? Beide können unter gewissen Prämissen als Experte bezeichnet werden. Der Meisterkandidat nutzte die Prüfungssituation dazu, seine Expertise vorzuführen und mit seinen Fähigkeiten zu überzeugen. In der Prüfung selbst, die als Anfrage an sein Wissen verstanden werden kann, erweist er sich als Experte. Die Verleihung des Meistertitels schreibt ihm diesen Status auch von außen zu. Allerdings handelt es sich damit um keinen Status, den er wie den Meistertitel auf Dauer erworben hat. Er muss vor seinen Patienten weiterhin bestehen, um Anfragesituationen an sein medizinisches Wissen zu provozieren. Der Prüfer erweist sich ebenfalls als Experte, da er einerseits vor dem Kandidaten einen Wissensvorsprung besitzt und andererseits als Experte für die Durchführung der Prüfung bestellt wurde. Ihm kommt die Funktion zu, das Ritual zu überwachen. Musste er aber selbst zuvor das Ritual erfolgreich absolviert haben? Und schließlich stellt sich die Frage, welche Auswirkungen Rituale wie dieses für das Zunftleben hatten. Konnten sie dazu beitragen, Ordnung zu stiften und Krisen zu bewältigen? 44 Neben dem soeben beschriebenen Ablauf einer Meisterprüfung nach der Leipziger Ordnung von 1556 wurde einige Jahrzehnte später zusätzlich zur Anfertigung von Meisterstücken auch eine theoretische Prüfung gefordert. In den Leipziger Gesellenartikeln der Barbiere wurde am 17.November 1613 festgehalten: „Unndt do er derinnen [in den Meisterstücken] bestehenn, so wohll im examine, so Jedesmahl inn beijsein zweijer Doctorn Medicinae, von denn Barbierern gehaltenn wirdt, so hat es seine maß, Undt wirdt er zum Meisterrecht billich zurgelassenn.“ 45
Diese Artikel fügen zur praktischen Anfertigung der Meisterstücke noch eine weitere inhaltliche Bedingung hinzu: das erfolgreiche Bestehen einer theoretischen Prüfung. Die angehenden Barbiermeister sollten von ihren Zunftgenossen im Beisein zweier Doktoren der Medizin examiniert werden. Letzteren kam dabei die Funktion zu, das Ritual von außen zu überwachen, da die akademischen Mediziner die Prüfung wohl nicht selbst abnahmen, aber möglicherweise für deren rechtmäßigen Ablauf und die Qualitätssicherung zuständig waren. Zusätzlich konnten sie
44 Kluge, Zünfte (wie Anm.33), 281f. 45 Stadtarchiv Leipzig, Inn Chir. A Nr.1: Die vom Rat zu Leipzig bestätigten Gesellenartikel der Chirurgeninnung zu Leipzig vom 17.November 1613, fol.2r.
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nach der Prüfung auch vor den anderen akademischen Ärzten den neuen Status der Barbiermeister bezeugen. In einem solchen Rahmen ist die Anwendung eines Fragenkatalogs zur Prüfung des Meisterkandidaten vorzustellen. Im wundärztlichen Manual des Meisters Hans Seyff von Göppingen vom Ende des 15.Jahrhunderts ist ein solcher Fragenkatalog enthalten. 46 Der Prüfungskatalog geht auf die „Chirurgia magna“ von Lanfrank von Mailand zurück. Lanfrank studierte in Bologna Medizin und war ab 1295 in Paris als Professor für Chirurgie tätig. Dort verfasste er auch seine „Chirurgia magna“, die in zahlreiche Volkssprachen übersetzt wurde. Am Ende des Mittelalters wurde die Übersetzung der „Chirurgia magna“ für den deutschen Wundarzt zur Grundlage von Ausbildung und Praxis 47; die Inhalte wurden durch das Frage-Antwort-Schema für den Lernenden didaktisch aufbereitet. 48 Damit könnte der Text durch seine übersichtliche und eingängige Art dem angehenden Meister auch als Lernhilfe gedient haben, die ihm das Auswendiglernen der richtigen Antworten erleichtern sollte. 49 Die Fragen sind sehr kurz gehalten, meist handelt es sich nur um einen Satz, und auch die Antworten fallen entsprechend aus. Außerdem bauen die Fragen und Antworten aufeinander auf, indem z.B. die Fragen Elemente der vorausgehenden Antwort aufnehmen. Daher kann sich der Lernende die Fragen und Antworten leicht merken; die repetitive Art der Fragen und Antworten erhöht ihre Eingängigkeit.
46
Der Fragenkataloge zur Wundarztprüfung ist in verschiedenen Handschriften überliefert: Stuttgarter
Papierhandschrift Cod. med. et phys. 2° 5; Stuttgarter Pergamenthandschrift Cod. med. et phys. 2° 8; Wellcome-Codex MS 398 (London). Siehe dazu Manfred Gröber, Das wundärztliche Manual des Meisters Hans Seyff von Göppingen (ca. 1440–1518); der Cod. med. et phys. 2° 8 der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 656.) Göppingen 1998, 15–17. 47
Ebd.88 und Rolf Müller/Gundolf Keil, Deutsche Lanfrank-Übersetzungen des 14. und 15.Jahrhunderts.
Zur Wertung der Lanfrank-Zitate in Brunschwigs ‚Chirurgie‘, in: Hans H.Eulner (Hrsg.), Medizingeschichte in unserer Zeit. Festgabe für Edith Heischkel-Artelt und Walter Artelt zum 65. Geburtstag. Stuttgart 1971, 90–110, hier 99. 48
Gröber, Das wundärztliche Manual (wie Anm.46), 72. Die These, dass der Fragenkatalog auf die Chir-
urgie von Lanfrank zurückgeht, haben schon Moorat und Müller/Keil aufgestellt. Moorat führt dazu aus: „[T]he ,Question and Answer‘ treatise is an epitomized and popular version of Lanfranc’s more elaborate surgical text-book.“ Samuael A. J. Moorat, Catalogue of Western Manuscripts on Medicine and Science in the Wellcome Historical Medical Library. Vol.1. London 1962, 269. Müller und Keil weisen sogar darauf hin, dass die Fragen entsprechend der bei Lanfrank verwendeten Reihenfolge angeordnet und die Antworten ebenfalls aus seiner Chirurgie entnommen worden seien. Siehe dazu Müller/Keil, Lanfrank-Übersetzungen (wie Anm.47), 100. 49
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Gröber, Das wundärztliche Manual (wie Anm.46), 166.
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Zudem finden sich zahlreiche Beispiele für Anaphern mit kleinen Variationen. Beispielsweise wird in den Fragen die Formel „wie welltest im thon?“ mehrfach aufgegriffen und die Antwort dann jeweils mit „So welt ich“ eingeleitet. 50 Hier ist besonders auffällig, dass das Modalverb „wellen“ von der Frage in die Antwort übernommen wird 51, so dass die Antwort nicht nur eine inhaltliche Aufnahme der Frage beinhaltet, sondern auch durch den Wortgebrauch auf sie eingeht. Gerade dieses Stilmittel ist aber auch eine Hilfestellung für den Antwortenden, da ihm durch die Frage schon der Beginn seiner Antwort vorgegeben wird. Diese Art der Fragen- und Antwortstellung lässt auf eine didaktische Intention schließen. Die angehenden Wundärzte waren zu dieser Zeit zwar meist lese- und schreibkundig, aber trotzdem gehörte die Arbeit mit und an Texten nicht zu ihren täglichen Aufgaben. Fragender und Antwortender traten sich in einer inszenierten Lehrerund Schülerrolle gegenüber, die nicht nur dem richtig Antwortenden eine Meisterschaft in Aussicht stellte, sondern auch den Fragenden als Meister seines Faches, der über ein umfassendes Wissen verfügte, in Szene setzte. Außerdem erzeugte die rhetorische Ausgestaltung der Fragen und Antworten einen performativen Charakter des Textes, der zum Gelingen des Rituals beitrug. Genau dieses Frage-Antwort-Schema rückt die Prüfung auf den ersten Blick in die Nähe einer universitären „Quaestio“. Im Unterschied zu dieser war aber der Charakter einer Barbierprüfung mit strenger Rollenverteilung klar geregelt. Die Fragen zielten auf die Überprüfung des Wissens des angehenden Meisters, keinesfalls sollte durch die Fragen Wissen einer kritischen Reflexion unterzogen oder neues Wissen generiert werden. 52 Die Fragen griffen das Wissen auf, das für den angehenden Wundarzt von zentraler Bedeutung war. So reichten die Themen von Wundvernähung und -behandlung mit Salben bis zur Entstehung und Behandlung von Tierbissen und Geschwüren. 53
50 „[W]ie welltest im thon? […] So welt ich […] wie wolltest im thun? […] So welt ich […] wie wolltest thun? […] So welt ich […] Wie wolltest im thun […] Item so wolt ich“. Karl Sudhoff, Beiträge zur Geschichte der Chirurgie im Mittelalter: graphische und textliche Untersuchungen in mittelalterlichen Handschriften. T.2. (Studien zur Geschichte der Medizin, H.10–12.) Leipzig 1918, 615. 51 Für eine ähnliche Verwendung des Verbes siehe „Wie muß […] Item sie muß […] Wie muß […] Item er muß“. Ebd.616. 52 Gröber, Das wundärztliche Manual (wie Anm.46), 72, 167. 53 Der Fragenkatalog ist ediert bei ebd.274–296 und Sudhoff, Chirurgie (wie Anm.50), 603–616.
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Der Fragenkatalog 54 beginnt mit einer vorangestellten Überschrift, „Ains gelerten arczttes frag“, und verweist damit darauf, dass die Fragen in dieser Prüfungssituation von gelehrten Ärzten, d.h. von Medizinern mit Universitätsabschluss, gestellt wurden. Ob die Antwort durch einen Meisterkandidaten erfolgte oder eine Prüfung vor einer Anstellung etwa als Stadtarzt vorzustellen ist, lässt sich aus der Überschrift: „Anttwort im ain maister“ nicht abschließend klären. 55 Kann im gelehrten Arzt ein weiterer Typ des Experten ausgemacht werden? Diesem wurde die Autorität zugebilligt, die Prüfung der Wundärzte zu überwachen. D. h. derjenige, der ein Ritual überwachte, musste dieses nicht zwingend selbst durchlaufen haben. Welche anderen Legitimierungsstrategien griffen hier für den gelehrten Arzt? Er hatte selbst während seines Universitätsstudiums andere, aber ebenso legitimierende Rituale – wie am Beispiel der Theologen dargestellt – durchlaufen und inszenierte seine Expertise im Umgang mit Patienten und anderem Heilerpersonal. Eindeutig einer Meisterprüfung zuordnen lässt sich ein sehr kurzer Pariser Prüfungskatalog aus der Mitte des 15.Jahrhunderts. 56 Dieser befindet sich nach einem anonymen chirurgischen Traktat auf der Rückseite des letzten beschriebenen Blattes einer Pariser Handschrift. Die Fragen und Antworten sind überschrieben mit „Questions pour examiner vng barbier“ und richteten sich damit eindeutig an Barbiere. Es folgten Fragen zu den verschiedenen Adern, Venen und Gliedern des Menschen und zu Behandlungsmethoden wie dem Aderlass. 57 Wer allerdings die Prüfungsfragen stellte, ist aus diesem Dokument nicht zu ersehen. Vom allgemein üblichen Vorgehen in Paris kann aber gefolgert werden, dass wahrscheinlich Chirurgen die Prüfung der Barbiere abnahmen. In Paris war seit der Gründung der medizinischen Fakultät Ende des 13.Jahrhunderts das Verhältnis von akademischen Medizinern und Chirurgen durch zahlreiche Konflikte belastet. Daher wurden Chirurgen zur medizinischen Fakultät nicht zugelassen, obwohl dies im
54
Diese Zeilen sind nur in der Stuttgarter Papierhandschrift Cod. med. et phys. 2° 5 und im Wellcome-
Codex MS 398 (London) erhalten geblieben. Der Text ist abgedruckt bei Sudhoff, Chirurgie (wie Anm.50), 615. 55
Müller/Keil, Lanfrank-Übersetzungen (wie Anm.47), 100.
56
Ediert bei Karl Sudhoff, Fragen bei der Barbierprüfung in Paris im 15.Jahrhundert, in: Sudhoffs Archiv
2, 1909, 71f., hier 72. Dazu auch Müller/Keil, Lanfrank-Übersetzungen (wie Anm.47), 100. 57
Der Prüfungskatalog aus Mscr. 2512 der Bibliothèque de l’Arsenal zu Paris ist ediert in Sudhoff, Barbier-
prüfung (wie Anm.56), 72.
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italienischen und französischen Raum durchaus üblich war. 58 Folgerungsgemäß bemühten sich die Chirurgen ihrerseits um Abgrenzung von den Barbieren und unternahmen auch Versuche, diese unter ihre Aufsicht zu stellen; dieses Vorgehen erschien besonders dringlich, da die Barbiere in Zahlen gefasst weit bedeutender waren als die Chirurgen. 59 Daher wurde schon 1301 im Zunftbuch der Chirurgen geregelt, dass sie selbst sechs „Maîtres du Métier“ stellen wollten, um die Barbiere zu prüfen; die Barbiere durften sich nach erfolgreicher Prüfung „chirurgiens-barbiers“ nennen. 60 Allerdings versuchte die medizinische Fakultät wiederum in der Auseinandersetzung mit den Chirurgen die Barbiere auf ihre Seite zu ziehen, indem sie diese förderte und beispielsweise zu Behandlungen hinzuzog. 61 Daher ist es auch nicht gänzlich auszuschließen, dass der vorliegende Fragenkatalog von der medizinischen Fakultät erstellt wurde. Zum Ende des Fragenkatalogs hin wird die Annahme einer Meisterprüfung bestätigt, da sich dort die folgende Aussage findet: „Et tout barbier expert du mestier le doit savoir.“ 62 Jeder Barbier, der in seinem Metier als erfahren gelten wollte, musste also über dieses soeben abgefragte Wissen verfügen. Die hier verwendete Bezeichnung „expert“ für den Barbier ist adjektivisch zu verstehen und leitet sich vom lateinischen „expertus“ ab. Nach dem Ende der Prüfung wurde dem Kandidaten also explizit Expertise in Form von Erfahrungswissen zugeschrieben. Die Ausbildung des Barbiers war erst mit der Meisterprüfung abgeschlossen. 63 Der Meistertitel bewirkte
58 Zur Entwicklung des Pariser Medizinalwesens im Mittelalter siehe Eduard Seidler, Die Heilkunde des ausgehenden Mittelalters in Paris. Studien zur Struktur der spätscholastischen Medizin. (Sudhoffs Archiv, Beih. 8.) Wiesbaden 1967; Vern L. Bullough, The Medieval Medical University at Paris, in: Bulletin of the History of Medicine 31, 1957, 197–211; Danielle Jacquart, Le milieu médical en France du XIIᵉ au XVᵉ siècle. En annexe 2ᵉ supplément au ‚Dictionnaire‘ d’Ernest Wickersheimer. Genf 1981, und Pearl Kibre, The Faculty of Medicine at Paris, Charlatanism, and Unlicensed Medical Practices in the Later Middle Ages, in: Bulletin of the History of Medicine 27, 1953, 1–20. Zum Verhältnis der Universitätsmediziner zu den nichtakademischen Heilern in Paris siehe jüngst Wolfgang E. Wagner, Doctores – Practicantes – Empirici. Die Durchsetzung der Medizinischen Fakultäten gegenüber anderen Heilergruppen in Paris und Wien im späten Mittelalter, in: Rainer C. Schwinges (Hrsg.), Universität im öffentlichen Raum. (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, 10.) Basel 2008, 15–43, hier besonders 23–33. 59 Seidler, Heilkunde (wie Anm.58), 25. 60 Ebd.25; Vern L. Bullough, The Development of the Medical Guilds at Paris, in: Medievalia et Humanistica 12, 1958, 33–40, hier 37; und Wagner, Doctores (wie Anm.58), 32. 61 Seidler, Heilkunde (wie Anm.58), 26. 62 Sudhoff, Barbierprüfung (wie Anm.56), 72. 63 Endres, Handwerk – Berufsbildung (wie Anm.34), 396.
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eine Steigerung des kulturellen Kapitals des Wundarztes, das er einsetzen konnte, um Patienten für sich zu gewinnen. Zudem konnte er in Zukunft auf soziales Kapital in Form von persönlichen Netzwerken seiner Zunftgenossen bauen. Wie konnte nun dem Laien, also hier dem Patienten, mitgeteilt werden, dass ein neuer Meister als Medizinexperte zur Verfügung stand und angefragt werden konnte? Durch weitere Rituale? So nahmen die Barbiere z.B. an städtischen Prozessionen teil, um sowohl die Abgeschlossenheit ihrer Gruppe nach außen hin zu zeigen als auch um ihr exklusives Wissen im Bewusstsein der Stadt präsent zu halten. 64 Spielten aber auch der Meistertitel und die Inszenierung von Meisterschaft in der Praxis des Wundarztes eine Rolle? Eine Möglichkeit die eigene Meisterschaft herauszustellen boten wundärztliche Niederlassungsankündigungen und Reklamezettel. Gerade umherziehende Wundärzte standen vor der Herausforderung, ihre Patienten von ihrer Expertise in Kenntnis zu setzten. Seit dem späten Mittelalter nutzten akademische Ärzte und Wundärzte Niederlassungsankündigungen zur Selbstpräsentation und Werbung. 65 Mit diesen Texten wurde also weder der akademische Austausch unter Medizinern noch die Information weiterer Kreise über Krankheiten oder Behandlungsmethoden bezweckt. 66 Neben ausführlichen Niederlassungsankündigungen verwendeten Wundärzte auch Reklamezettel, die nur wenige Zeilen umfassten. Hans von Toggenburg, der uneheliche Sohn des Grafen Friedrich VII. von Tog-
64
Rexroth, Systemvertrauen (wie Anm.3), 30. Zu Prozessionen im Spätmittelalter siehe allgemein
Andrea Löther, Prozessionen in spätmittelalterlichen Städten. Politische Partizipation, obrigkeitliche Inszenierung, städtische Einheit. (Norm und Struktur, 12.) Köln/Weimar/Wien 1999. 65
Medizinische Werbetexte wie Niederlassungsankündigungen sind bisher von der Forschung noch
nicht intensiv untersucht worden, obwohl Sudhoff schon 1911 und 1913 erste Exemplare veröffentlicht hat. Karl Sudhoff, Entwurf zu Reklamezetteln des Meisters Pancratius Sommer aus Hirschberg, in: Sudhoffs Archiv 4, 1911, 157, und ders., Vier Niederlassungsankündigungen von Ärzten aus dem 15.Jahrhundert, in: Sudhoffs Archiv 6, 1913, 309–312. Erste Forschungen fanden in den 1960er Jahren satt: Gundolf Keil, Die Niederlassungsankündigung eines Wundarztes aus dem 15.Jahrhundert. Untersuchungen zum ärztlichen Werbe-Formular, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 89, 1967, 302–318; und ergänzend in den 1980er Jahren: Ahmed Malak, Drei Wundärztliche Niederlassungsankündigungen des 15. Jahrhunderts. Untersuchungen zur Frühgeschichte des medizinischen Werbeformulars in Deutschland. Würzburg 1985. 66
Jürgen Konert, Der wundärztliche Werbetext am Beispiel der Werbezettel des Johann Andreas Eisen-
barth, in: Udo Benzenhöfer/Wilhelm Kühlmann (Hrsg.), Heilkunde und Krankheitserfahrung in der frühen Neuzeit. Studien am Grenzrain von Literaturgeschichte und Medizingeschichte. Tübingen 1992, 144– 154, hier 144.
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genburg, hatte nach einer Ausbildung zum Wundarzt und Starstecher Matthias Corvinus 1468 von einer Pfeilspitze befreit. Daraufhin wurde er von diesem zum Ritter geschlagen und war neben seiner Tätigkeit als Wundarzt auch auf verschiedenen diplomatischen Missionen unterwegs. 67 Als Hans von Toggenburg 1477 die Leipziger Oktobermesse besuchte 68, ließ er eine Ankündigung seines Könnens aushängen. 69 In seinem Text benutzt er mehrfach den Meistertitel und bezeichnet sich zweimal als „bewerter meister“. 70 Implizit macht er dadurch deutlich, dass er über eine Ausbildung mit abgeschlossener Meisterprüfung verfügt. Das Adjektiv „bewert“ zeigt an, dass er die Prüfung nicht gerade eben, sondern schon vor längerer Zeit abgelegt hatte. Danach hat er sich in seinem Beruf – nach seiner Ansicht durch Behandlungserfolge und Sachkenntnis – bewährt. Der Meistertitel dient hier also der Legitimation des Wundarztes. Außerdem stellt er seine Erfahrung heraus, indem er auf seine Anstellung bei Matthias Corvinus hinweist. Er habe „seyn meisterschafft“ durch seinen Behandlungserfolg unter Beweis gestellt; aus Dankbarkeit habe ihn sein berühmter Patient nach seiner geglückten Heilung zum Ritter geschlagen. 71 Hans von Toggenburg verwendet hier die Vokabel „meisterschafft“ im Sinne von Expertise: Durch seinen Behandlungserfolg hat er sich nach eigener Aussage als Experte erwiesen und wurde als solcher auch von seinem Patienten geehrt. Neben dem Verweis auf seinen Titel, seine Erfahrung und seinen berühmten Patienten versucht Hans von Toggenburg mit seiner Fachkompetenz, seiner gemeinnützigen Art und seiner Bescheidenheit zu punkten. Er gibt sich bewandert in „allerley stucken der wundt erczney von dem houbt biß uff dy fusse“ 72, die er genau auflistet und auch seine Kompetenz in der Behandlung beider Geschlechter und sogar
67 Malak, Drei Wundärztliche Niederlassungsankündigungen (wie Anm.65), 39f. Ein Bericht über die Behandlung von Matthias Corvinus findet sich auch in Hieronymus Brunschwigs Chirurgia. Siehe dazu ebd.40. 68 Ebd. 69 Der Text ist ediert ebd.42–50; und Karl Sudhoff, Die medizinische Fakultät zu Leipzig im ersten Jahrhundert der Universität. (Studien zur Geschichte der Medizin, H.8.) Leipzig 1909, 91f. Hier zitiert nach Malak, Drei Wundärztliche Niederlassungsankündigungen (wie Anm.65). Siehe dazu auch Gundolf Keil, Art. „Johann (Hans) von Toggenburg“, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bearb. v. Wolfgang Stammler u. Karl Langosch. Bd. 4. 2.Aufl. Berlin/New York 1983, 783f . 70 Malak, Drei Wundärztliche Niederlassungsankündigungen des 15.Jahrhunderts (wie Anm.65), 42f. 71 Ebd.43. 72 Ebd.
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der Pest anpreist; dabei gehe er bei Krankheiten, die nicht öffentlich bekannt werden sollen, wie z.B. Geschlechtskrankheiten, diskret vor. 73 Außerdem erklärt er seine Bereitschaft, Arme umsonst oder gegen eine ermäßigte Gebühr zu behandeln; er verlange erst dann eine Bezahlung, wenn eine Behandlung erfolgt und nicht nur ein Rat eingeholt worden sei. 74 Hans von Toggenburg versucht sich gegenüber Konkurrenten abzugrenzen, indem er beschreibt, dass er nicht durch schriftliche Werbung auf sich aufmerksam machen wolle, sondern durch Heilerfolge: „Eß hat auch mancher meyster vil brife, auch gehanghen; duncket mich, wann ich eynen krancken gesundt mache, das seyn die besten brieffe; wann die brieff machen nymant gesunt.“ 75
Dieses Zitat verweist auf die Konkurrenz, die auf dem medizinischen Markt nicht nur zwischen verschieden ausgebildeten Heilern bestand, sondern auch zwischen formal Gleichrangigen wie den Handwerksmeistern. Der Verfasser versucht sich hier positiv von anderen Meistern abzuheben, denen er vorwirft, zu viel Wert auf ihre Werbung und damit auch auf ihren Titel zu legen. Bemerkenswert erscheint die „beispielhafte […] Selbstbeschränkung“ 76, die sich der Wundarzt auferlegt, wenn er sich in Abgrenzung zum akademischen Arzt, sowohl die Fähigkeit die Uroskopie durchzuführen als auch innere Krankheiten zu behandeln, nicht anmaßt. Diese Aussage wirkt umso auffälliger, als in dieser Zeit gerade die Uroskopie kein Alleinstellungsmerkmal der akademischen Ärzte mehr war und es zu einem beliebten Instrument auch der ungelehrten Heiler wurde. 77 Möglicherweise ist diese Selbstbeschreibung aber gerade kein Ausweis der Bescheidenheit, sondern eine bewusste Abgrenzungsstrategie von den Universitätsärzten, und damit die Festlegung des eigenen, nämlich des wundärztlichen Kompetenzbereichs. Zentral erscheint hier die Beobachtung, dass der Wundarzt Hans von Toggenburg neben anderen Argumenten mehrfach auf seinen Titel und seine Expertise hin73
Ebd.43–47.
74
Ebd.48–50.
75
Ebd.49.
76
Ebd.49 Anm.148.
77
„Item den harn zcu besehen und jnwendiger [kranckheyt] oder doctor czu steet, nympt er sich nicht
an.“ Ebd.49. Zur Entwicklung der Uroskopie im Spätmittelalter siehe besonders Michael Stolberg, Die Harnschau im 16. und frühen 17.Jahrhundert, in: Franz Fuchs (Hrsg.), Medizin, Jurisprudenz und Humanismus in Nürnberg um 1500. (Pirckheimer Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung, 24.) Wiesbaden 2010, 129–143; und ders., Die Harnschau. Eine Kultur- und Alltagsgeschichte. Wien 2009, 167–212.
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weist, um sich als Medizinexperte zu empfehlen. Die absolvierte Meisterprüfung bietet dem Meister über das Ritual hinaus Sicherheit und Legitimation. Die Zuschreibung von Meisterschaft konnte entweder durch den Betroffenen selbst erfolgen oder durch die Anfragenden, die im Moment der Anfrage vom Experten Meisterschaft in seinem Gebiet erwarteten. In beiden Fällen konnte die Zuschreibung durch rituelle Inszenierungen verstärkt, erst neu geschaffen oder auch gegen Widersprüche verteidigt werden.
IV. Expertise durch Rituale Die Ausführungen haben gezeigt, dass sich das Verhältnis von Ritual und Experte aus zwei Richtungen betrachten lässt: Einerseits können in Ritualen verschiedene Konstellationen von Expertenrollen ausgemacht werden; z.B. traten Experten als Teilnehmer oder als Überwacher eines Rituals auf. Andererseits erfüllte das Ritual selbst verschiedene Funktionen für den Experten; so gab es Rituale, die er sozusagen als Voraussetzung absolvieren musste, um überhaupt die Möglichkeit zu schaffen, als Experte anerkannt zu werden. Man denke beispielsweise an den Theologen, der erst promoviert werden musste, um später als Professor in Religionskontroversen Rede und Antwort stehen zu können, oder den Barbiermeister, der erst nach seiner erfolgreichen Prüfung selbstständig Kranke behandeln durfte. Der akademische Arzt, der als Überwacher oder Prüfer bei Meisterprüfungen auftreten konnte, hatte dieselben Rituale absolviert wie ein promovierter Theologe. Für die Prüfung der Bader und Barbiere wurde seine medizinische Expertise angefragt, die er benötigte, um das Wissen des Meisterkandidaten zu überprüfen. Kann Melchior Bus, der sowohl in der Theologie als auch in der Medizin über Fachwissen verfügte und wahrscheinlich in beiden Disziplinen einschlägige Rituale durchlaufen hatte, nun als multipler Experte bezeichnet werden? Diese Frage ist entschieden zu verneinen, da er in einer spezifischen Anfragesituation nur einen seiner Wissensbereiche bemühen konnte. Gläubige wandten sich mit theologischen und Kranke mit medizinischen Fragen an ihn, denen er auch entsprechend als Glaubensexperte oder Medizinexperte entgegentrat. Daher stellt Melchior Bus bei der Frage nach der Legitimation durch Rituale keinen Sonderfall dar und kann nicht als multipler Experte, sondern nur als ein multipler Wissensträger verstanden werden. Die Beobachtungen zeigen, dass Rituale keinesfalls direkt einen Experten kreie-
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ren, ihn gleichsam aus dem Nichts gebären konnten; vielmehr schufen sie erst die notwendige Basislegitimation für einen Theologen oder Mediziner, um sich selbst als Experte zu inszenieren und als solcher angefragt zu werden. Ebenso konnte die Kritik an einem Experten seine Inszenierung in einem Ritual nach sich ziehen. Die Werbung, die Hans von Toggenburg für sich selbst betrieben hat, zeigt eindrücklich, welche Bedeutung hierbei der Hinweis auf erfolgreich durchlaufene Rituale spielte. Er beugte damit etwaigen Zweifeln oder Kritik an seiner Expertise vor. Johannes Matthaeus versuchte ebenso unter Verweis auf seine Doktorpromotion und die damit verbundene Bestätigung seiner moralischen Integrität die Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit aufgrund seines Konfessionswechsels auszuräumen. Er nutzte die Macht des Rituals, um als Religionsexperte zu bestehen. In den hier behandelten Feldern ‚Kirche‘, ‚Universität‘ und ‚Stadt‘ erfolgte die Zuschreibung von Meisterschaft sehr ähnlich. Auch wenn auf dem medizinischen Markt im Spätmittelalter verschiedene Heilertypen unterschiedliche Rituale verwendeten oder wie umherziehende Empiriker ganz auf offiziell legitimierte und verstetigte Rituale verzichteten, beanspruchten sie doch alle medizinische Meisterschaft für sich. Rituale, durch die Expertise generiert und Meisterschaft attribuiert werden konnte, gab es vielfältige. Sie reichten von anatomischen Sektionen und Promotionen über städtische Prozessionen bis hin zu Meisterprüfungen. Ein Ritual konnte sowohl neue Zuschreibungen von Expertise performativ gestalten als auch prekäre Situationen auflösen und Experten bestätigen. Rituale dieser Art sind sowohl an der Universität als auch im Handwerk üblich. Ein Vergleich zwischen Promotion und Meisterprüfung zeigt, dass neben offensichtlichen Unterschieden wie der Anfertigung eines Meisterstücks viele Gemeinsamkeiten zu finden sind. So gibt es feste Rollen wie Teilnehmer, Beobachter und Überwacher. Kernstück des Rituals ist eine Prüfung, die von einem eingesetzten Expertengremium abgenommen und für den Kandidaten zur performativen Trennung von seiner vorherigen Statusgruppe wird und die Aufnahme in die Zunft bzw. die Fakultät ankündigt. Gemeinsam sind auch der sich an die Prüfung anschließende Aufnahmeritus und das Festmahl mit den Mitgliedern der Zunft bzw. der Fakultät. Festzuhalten bleibt, dass Rituale der Experten bedurften, die für die Durchführung unerlässlich waren, Experten aber nicht ausschließlich durch Rituale konstituiert wurden. ‚Experte werden‘ erforderte vielmehr ein Mit- und Nebeneinander verschiedener Faktoren, von denen die Inszenierung in einem Ritual oder der Rückverweis auf Rituale ein Bestandteil war.
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Erasmus und die Dialektik Zum Zusammenhang von Expertentum und Performativität von Anita Traninger
This article draws on Gilbert Ryle’s discussion of the relationship between „knowing how“ and „knowing that“ in order to understand and interpret an early sixteenth-century debate about the capability of oral disputation as a benchmark for theological expertise. It takes its cue from the exchange of letters on Erasmus’s „Praise of Folly“ between Erasmus himself, Maarten van Dorp, and Thomas More. In the correspondence, the discussion moves swiftly from the „Moria“ to Erasmus’s edition of the New Testament and to his lack of qualifications as a theologian. In examining Dorp’s and More’s letters I show how Erasmus’s ignorance of dialectics and refusal to engage in disputation was perceived by some scholars as proof of him being an „antitheologus“ – a point of particular sensitivity to Erasmus, who, despite the scorn he heaped on the theologians in his satirical writings, continually aspired to be recognized by the theological profession.
Erasmus von Rotterdam machte sich auf der internationalen Bühne der Gelehrsamkeit und weit darüber hinaus einen Namen mit einem Werk, das zwar einen griechischen Titel trug, aber auf Latein verfasst war: „Morías Enkomion“, lateinisch „Laus stultitiae“, das „Lob der Torheit“. Angesichts der Komplexität des Textes ist seine Beliebtheit, die ihn bis heute als Erasmus’ bekanntestes Werk figurieren lässt, durchaus bemerkenswert. Doch wenngleich die „Moria“, wie Erasmus selbst seine Schrift nannte, ein internationaler Bucherfolg war, blieb Kritik nicht aus. Maarten van Dorp berichtet Erasmus im Herbst 1514, also rund drei Jahre nach der Erstpublikation 1511, dass die „Moria“ unter den Theologen der Universität von Löwen einige Unruhe ausgelöst habe. 1 Dies ist natürlich kaum verwunderlich angesichts der Tatsache, dass die Schelte der Theologen als Narren allein insgesamt rund 10 Prozent des Gesamttexts ausmacht. 2 Zudem gehören die Passagen über die Theologen zu je1 Siehe Erasmus von Rotterdam, Opus epistolarum Desiderii Erasmi Roterodami. 12 Vols. Ed. by P. S. Allen /H.M. Allen/H.W. Garrod/B. Flower. Oxford 1906–1958, Ep. 304, 15f. Zur Kritik an der „Moria“ im Allgemeinen Myron P. Gilmore, Apologiae: Erasmus’s Defenses of Folly, in: Richard L. DeMolen (Ed.), Essays on the Works of Erasmus. New Haven/London 1978, 111–123. 2 James K. Farge, Erasmus, the University of Paris, and the Profession of Theology, in: Erasmus of Rotterdam Society Yearbook 19, 1999, 18–46, hier 28.
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10.1515/9783110576030-010
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nem Teil der „Moria“, in dem die kommunikationspragmatische Fiktion verlassen wird, die dem Text eigentlich zugrunde liegt: Eigentlich lobt die Torheit sich selbst und ihre Anhänger; die Theologen werden hingegen Opfer einer geradlinigen Attacke. So scheint der lebensweltliche Erasmus durchzuschimmern, wenn die Torheit die Definitionsmacht der Theologen und die performativen Mittel von deren Durchsetzung anklagt: Die Theologen „reiten am Ende mit ihren Schlußsätzen schwadronsweise Attacke, um mich zum Widerruf zu zwingen, und weigere ich mich, so schreien sie gleich: ‚Ketzerei!‘“ 3 Der performative Sprechakt der Verurteilung als Häretiker ist das ultimative Machtinstrument der Theologen. Die sich anschließende Verspottung ist eigentlich nichts anderes als die Enumeration weiterer theologischer Machttechniken, so dass sie insgesamt qua Satire den herausgehobenen Platz der Theologen in der gesellschaftlichen Hierarchie nur bestätigt. Nicht zuletzt ihre dialektischen Verfahren immunisieren sie gleichsam nach außen: „Sie verschanzen sich hinter einer so dichten Hecke von magistralen Definitionen, Konklusionen, Korollarien und Propositionen, bald explicite, bald implicite zu verstehen, und halten sich ein raffiniertes System von Schlupflöchern offen, daß auch die Netze Vulkans sie nicht zu fangen vermöchten: Immer wieder beißen sie sich mit ihren Distinktionen heraus, die ihnen so glatt wie das Beil von Tenedos die Knoten der Maschen durchschneiden, und eine Unzahl neuersonnener Wörtchen und ungeheuerlicher Ausdrücke kommt ihnen zu Hilfe.“ 4
Es folgen überspitzte Beispiele für theologische „quaestiones“, mehr Belege für die ungelenke Fachsprache und die a-grammatische Latinität, die Klage über die Sektenbildung sowie über die regulären Titel („Magister noster“) ebenso wie über die Ehrentitel der großen Lehrer des Mittelalters 5 – doch so sehr wir daran gewöhnt sein mögen, diese schneidig und unter Rückgriff auf allerlei literarische Vokabeln aus der klassischen Latinität formulierten Angriffe als Beleg für die unzweifelhafte
3 Erasmus von Rotterdam, ΜΩΡΙΑΣ ΕΓΚΩΜΙΟΝ sive Laus Stultitiae. Lat.-dt. Übers. v. Alfred Hartmann, eingel. und mit Anm. v. Wendelin Schmidt-Dengler. (Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften, hrsg. v. Werner Welzig, Bd. 2.) Darmstadt 1995, 131. „[N]e forte turmatim sexcentis conclusionibus adoriantur, et ad palinodiam adigant, quod si recusem, protinus haereticam clamitent.“ Ebd.130. 4 Ebd.131–133. „[D]um tanto magistralium definitionum, conclusionum, corollariorum, propositionum, explicitarum et implicitarum agmine septi sunt, tot exuberant χρησφυγέτοις, ut nec Vulcaniis vinculis sic possint irretiri, quin elabantur distinctionibus, quibus nodos omneis adeo facile secant, ut non Tenedia bipennis melius, to nuper excogitatis vocabulis, ac prodigiosis vocibus scatent.“ Ebd.132–134. 5 Ebd.133, 135, 155.
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Obsoletheit dieser Kaste der Doktoren zu lesen, so sehr muss festgehalten werden, dass Erasmus’ Satire zeitgenössisch ihre Kraft aus dem Angehen gegen die mächtigsten Experten seiner Zeit bezieht und nicht etwa aus dem Lächerlichmachen einer ohnehin schon in die Bedeutungslosigkeit entschwindenden Gruppe Unverbesserlicher. Dorps Bericht über den Unmut der Löwener Theologen zieht schließlich eine ausgedehnte Korrespondenz nach sich. Nach einem Antwortschreiben des Erasmus vom Mai 1515, das allen späteren Ausgaben der „Moria“ beigegeben wurde, und einem weiteren Brief Dorps an Erasmus vom August 1515 schaltet sich schließlich auch Thomas More, mit dessen Familiennamen der griechische Titel des Lobs der Torheit spielt und in dessen Haus Erasmus die „Moria“ verfasst haben will, in die Debatte ein. 6 In dem Briefwechsel geht es explizit sowohl um die „Moria“ als auch um Erasmus’ geplante (und im Vergleich mit der „Moria“ um ein vielfaches problematischere) Publikation seiner Ausgabe des lateinischen Neuen Testaments im Abgleich mit dem griechischen Original 7, doch kommen gegen Ende hin immer deutlicher Fragen von Kompetenz und ihres Erweises zur Sprache. Es soll im Folgenden darum gehen zu zeigen, wie dieser Briefwechsel einen Zusammenhang von Expertentum und Performativität sichtbar macht, indem die Frage diskutiert wird, was es denn sei, das einen Theologen ausmacht – ein Titel, der Erasmus, dem großen Bibelphilologen, für immer verwehrt bleiben sollte. Bereits im zweiten Brief Dorps und dann in Mores Antwort nimmt die Frage nach der Methode theologischer Argumentation nicht unbeträchtlichen Raum ein. Auf-
6 Dorps erster Brief: Erasmus, Opus epistolarum (wie Anm.1), Ep. 304; Brief des Erasmus: Ebd.Ep. 337; Dorps zweites Schreiben: Ebd.Ep. 347; Antwort Thomas Mores an Dorp: Thomas More, In Defense of Humanism. Ed. by Daniel Kinney. (The Complete Works of St. Thomas More, 15.) New Haven 1986, 2–127. Eine Darstellung der Abfolge der Argumente, die bereits viele der Themen aufbieten, die spätere Auseinandersetzungen um Erasmus’ Schriften kennzeichnen sollten, bietet Erika Rummel, Erasmus and His Catholic Critics. Vol.1. Nieuwkoop 1989, 1–13, unter dem Titel „An Early Storm Warning“. Trotz des Titels bietet Pierre Mesnard, Comment les théologiens de Louvain lisaient l’Éloge de la folie, in: Bulletin de l’Association Guillaume Budé 4e série 3, 1964, 356–368, keine Darstellung der Position der Löwener Theologen. 7 Zur Publikationsgeschichte von Erasmus’ erstmals 1516 bei Froben erschienenen Ausgabe des Neuen Testaments, die zunächst nur aus den Annotationen bestehen sollte, dann aber auch den griechischen Text und eine korrigierte Version der Vulgata enthielt und mithin in den sakrosankten Offenbarungstext der Bibel eingriff; vgl. Erika Rummel, Erasmus’ Annotations on the New Testament. From Philologist to Theologian. Toronto 1986.
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hänger ist für Dorp Erasmus’ harscher Vorwurf, die Theologen verträten „doctrinam perturbatissimam, immo insulsissimam“ (eine völlig verwirrte und absurde Lehre). Dorp antwortet knapp und scharf: „Aber Du wirst Dich erinnern, Erasmus, dass dem Reiher alles Wasser aufgewühlt (,perturbatam‘) erscheint und er dem Wasser dafür die Schuld gibt, wie es in deinen Adagia steht; genauso erscheint Anfängern die Aristotelische Dialektik (und nur diese wird hier [in Löwen] gelehrt) verworren (,perturbata), sobald sie in die Disputationsarena hinabsteigen.“ 8
Dorps Kurzschluss von dem das Wasser verabscheuenden Reiher und dem theologiekritischen Erasmus erfolgt über die Doppelbedeutung von „perturbatus“ als aufgewühlt und verworren. Konsultiert man freilich Erasmus’ „Adagia“, auf die Dorp hier explizit hinweist, zeigt sich, wie hart Dorps Vorwurf eigentlich ist. In Erasmus’ ‚Adagium‘ beschuldigt der Reiher das Wasser, das es schmutzig sei, weil er selbst nicht schwimmen kann. 9 Es geht also in dem ‚Adagium‘ nicht allein um ein Missfallen, sondern um eine Unfähigkeit. Der große Erasmus, so legt es der Intertext nahe, inkriminiert die Theologen, weil er sich selbst nicht auf die Haupt- und Kernmethode der institutionalisierten Wissenschaft, die Dialektik, versteht. Gleich eingangs unterfüttert Dorp diesen Vorwurf mit einer Diskreditierung von Erasmus’ eigenem methodischen Zugriff auf die Bibel – denn es ist Erasmus’ Arbeit am Neuen Testament, das als inhaltlicher Gravitationspunkt den eigentlichen Gegenstand, die „Moria“, in den Schatten stellt –, indem er spiegelbildlich zu Erasmus’ Charakterisierung der Theologen eine satirische Abrechnung mit den Verfahrensweisen der Grammatiker, ‚Poeten‘ und Rhetoriker konstruiert: Wenn jemand umgekehrt die Gesamtheit der Grammatiker, Poeten und Rhetoriker und die Schar jener, die sich den „bonae litterae“ verschrieben haben, in einer Schrift angriffe und behauptete, sie würden nur unbedeutende Spielereien, Ammenmärchen und sogar reine Lügen hervorbringen, nur über Trivialitäten wie die Irrfahrten des Aeneas, die Zahl der Kinder der Niobe oder den Stammbaum des Jupiter Bescheid wissen und so ihre besten Jahre mit Studien, die der christlichen Religion schädlich seien, ver-
8 Erasmus, Opus epistolarum (wie Anm.1), Ep. 347, 238–243 (Übersetzung A. T.). „Sed memineris, Erasme, ardeae omnem aquam esse perturbatam, ideoque aquam culpare ardeam, extat in Adagiis tuis; itidem et dialecticae Aristotelicae (que hic sola docetur) imperitis omnia sunt perturbata, quoties in disputandi palestram descenditur.“ 9 „Aquam culpat ardea“, Opera omnia Desiderii Erasmi Roterodami. Amsterdam 1969ff. = ASD II, 9, Nr. 500, 192.
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schwenden – das würde Erasmus doch wohl kaum gefallen. 10 So sind zwei Parteien benannt, die Theologen oder Scholastiker und die ‚Poeten‘ oder Humanisten, die hier vermeintlich gegeneinanderstehen, und Dorp und Erasmus erscheinen als die jeweiligen Exponenten. Doch der Fall ist komplizierter. Um diese „altercatio“ besser einschätzen zu können, sei das Profil der dramatis personae kurz beleuchtet. Erstaunlicherweise gerieren sich sowohl Dorp als auch Erasmus in den Paratexten zur „Moria“ als Theologen: Dorp, indem er sich zum Sprachrohr des theologischen Kollegiums seiner Universität macht; Erasmus, indem er sich im Widmungsbrief zur „Moria“ als Theologe stilisiert, der mit Kritik für die Vorlage eines ebenso leichtgewichtigen wie spitzzüngigen Werks zu rechnen habe: „Es werden sich nämlich wohl bald Kritikaster finden, die dem kleinen Ding nachreden, es sei teils zu wenig ernst und schicke sich nicht für einen Theologen, teils sei es zu boshaft und widerspreche dem Gebot der christlichen Milde.“ 11
Dennoch sind beide zu dem Zeitpunkt nicht vollumfänglich als Theologen qualifiziert: Dorp war Erasmus’ „castigator“ in der Offizin des Dirk Martens in Löwen. Zur Zeit des Briefwechsels arbeitete er an der Editio princeps von Rudolf Agricolas „De inventione dialectica“ – einer von Erasmus nicht allein befürworteten, sondern, wie Lisa Jardine gezeigt hat, nachgerade usurpierten Publikation. 12 Ein Team von Lektoren war mit der Erstellung einer Druckvorlage befasst, darunter Alardus von Amsterdam und Gerard Geldenhauer (Noviomagus) sowie eben Dorp, der wegen seiner Ausbildung in der Dialektik herangezogen werden musste, weil die Manu-
10 „Si quis inuicem vniuersum gramaticorum, poetarum, oratiorum eorumque omnium agmen qui literas istas bonas profitentur, stilo insectaretur, affirmaretque fabulosis illis nugis et poeticis figmentis anilibusque deliriis, meris mendaciis, prestigiis, imposturis ludicris – Dum Aeneae discuntur errores, proprii iubentur valere; dum Niobes quot filii fuerint, que Iouis sit Iouialiumque genealogia – dum hec, inquam, tanto studio disquiriuntur, si quis affirmaret maximo dispendio optimam estatem perdi, nihilque pernitiosius esse Christianae religioni, quid, Erasme, nihil in talibus dictis punctus doleres? Omnia placerent? Non credam.“ Erasmus, Opus epistolarum (wie Anm.1), Ep. 347, 34–43. 11 Ders., ΜΩΡΙΑΣ ΕΓΚΩΜΙΟΝ (wie Anm.3), Widmungsschreiben an Thomas More, 2–7, hier 5. Lat. 4: „Etenim non deerunt fortasse vitilitigatores, qui calumnientur partim leuiores esse nugas quam ut theologum deceant, partim mordaciores quam vt Christiane conueniant modestie“. 12 Zu Erasmus’ sorgfältiger Konstruktion seiner Beziehung zu Agricola siehe Lisa Jardine, Erasmus, Man of Letters. The Construction of Charisma in Print. Princeton 1993, bes. Kap. 3: „Inventing Rudolph Agricola: Recovery and Transmission of the De inventione dialectica“, 83–98.
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skriptgrundlage für die Edition korrupt war. Die Ausgabe, die Anfang 1515 erschien, trägt dann allerdings allein Dorps Namen auf dem Titelblatt. 13 Dorp war zwischen Oktober 1513 und Februar 1514 Lizentiat der Theologie geworden; ab Juni 1515 figurierte er als „Magister noster“ in der theologischen Fakultät von Löwen. 14 Während sich also Dorp an durchaus umstrittenen humanistischen Projekten beteiligte, während er im Begriff war, den Qualifikationsschritt zum Doktor der Theologie zu machen, stellt sich die Situation im Fall des Erasmus komplexer dar. Erasmus war 1495 nach Paris gegangen mit der später explizit deklarierten Absicht, dort sein Doktorat in der Theologie zu erwerben. 15 Als er 1501 Paris wieder verließ, lag schon allein angesichts der dreizehn- bis fünfzehnjährigen vorgeschriebenen Studiendauer der Abschluss in unerreichbarer Ferne. 16 Über seine Zeit am Collège de Montaigu hat sich Erasmus in mehreren, in der Regel viel später verfassten Schriften ausgelassen und sich bitterlich über die körperliche und psychische Belastung durch die exzessive Disziplin beklagt. 17 Seine eindringlichen Klagen über die Preka-
13
Siehe ebd.96. Jardine argumentiert, dass die teilweise sehr fehlerhafte Ausgabe für Dorp ein „profes-
sional embarrassment“ war (ebd.103) und dass ihn die Mitarbeit an dem Projekt in ein Spannungsverhältnis zur Löwener Theologie brachte: „In spite of this affiliation to the theology faculty at Louvain, Dorp associated himself with what seems to have been, for him, an open and provisional establishing of a working text of Agricola. But with the hardening of doctrinal positions between 1515 and 1520, the Agricola text became fixed and closed; Dorp’s endorsement of it became an endorsement of a position rather than of a work“ (ebd.111). 14
Zu Dorps weiterer Karriere siehe Jozef Ijsewijn, Maarten van Dorp, in: Contemporaries of Erasmus. A
Biographical Register of the Renaissance and Reformation. Vol.1. Toronto/Buffalo/London 1995, 398–404; Henry de Vocht, Monumenta Humanistica Lovaniensia. Texts and Studies about Louvain Humanists in the First Half of the XVIth Century: Erasmus, Vives, Dorpius, Clenardus, Goes, Moringus. Löwen 1934, bes. 139–178. 15
Erasmus, Opus epistolarum (wie Anm.1), Ep. 48, 23f. Die Frage, ob es Erasmus ernst war mit dem Plan,
den Grad eines Doktors zu erwerben, ist in der Erasmusforschung viel diskutiert worden, vgl. den Literaturbericht in Farge, Erasmus (wie Anm.2), 19. 16
Im Detail zu den Anforderungen siehe James K. Farge, Orthodoxy and Reform in Early Reformation
France. The Faculty of Theology of Paris, 1500–1543. Leiden 1985, 16–28. 17
Erasmus behauptete in der 1529 publizierten „Declamatio de pueris statim ac liberaliter instituendis“,
dass durch die pädagogische Härte und vor allem die exzessive physische Disziplin alle Liebe zum Studium aus ihm herausgeprügelt worden sei; Erasmus, Declamatio de pueris statim ac liberaliter instituendis. Ed. par. Jean-Claude Margolin. Genf 1966, 427 [504f.]. Während diese Erfahrung vielfach als Ursache für Erasmus’ Abneigung gegenüber der Scholastik und der mittelalterlichen Universität zitiert wird, stellte das Programm, dem Erasmus unterworfen wurde, eine rezente Neuerung dar, die erst von seinem Lehrer Jean Standock eingeführt worden war. Siehe Hastings Rashdall, The Universities of Europe in the Middle Ages. Ed. by F. M. Powicke/A. B. Emden. Vol.3. Oxford 1936, 369. Körperliche Züchtigung, wie sie Erasmus dem
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rität der Umstände sind geeignet, den Blick auf das Faktum zu verstellen, dass Erasmus die vorgesehenen Studienleistungen offenbar bei weitem nicht erbrachte. Erasmus hätte zudem als unehelich Geborener um einen Dispens ansuchen müssen; dies wäre möglich gewesen, wurde von ihm aber nicht betrieben. 18 Dennoch war ihm der Erwerb des Grades eines Doktors der Theologie ein Anliegen, und es sei vorerst dahingestellt, ob es ihm wirklich allein um die gesteigerte Aufmerksamkeit für seine ‚Botschaft‘ zu tun war, die er dadurch erzielt hätte. 19 Bereits ab 1498 trug sich Erasmus offenbar mit dem Gedanken, in Bologna zu promovieren. Als sich 1506 die Gelegenheit einer Italienreise ergab, hatten sich diese Pläne aber offenbar wiederum geändert. Erasmus nahm einen umständlichen und beschwerlichen Abstecher nach Turin in Kauf, wo er zur Zeit der Universitätsferien Mitte August eintraf. Zwei Wochen später, am 4.September 1506, wurde ihm die Doktorurkunde überreicht, nachdem er „per saltum“, also im Schnellverfahren, promoviert worden war. Dass er, wie Erasmus mehrfach schreibt, widerwillig dem Drängen von Freunden nachgegeben habe 20, erscheint angesichts der langwierigen Anreise nach Turin nicht ganz glaubhaft. Und strategisch scheint dieser Schachzug eher schädlich gewesen zu sein: Der überhastet an einer nachrangigen Universität erworbene Titel wurde nicht nur von den theologischen Fakultäten der Universitäten von Paris und Löwen nicht anerkannt, er bot auch den Aufhänger für polemische Attacken auf einen vermeintlichen Blender, die darin gipfelten, dass Pierre Cousturier Erasmus einen „antitheologus“ schimpfte, von dem nicht einmal sicher sei, ob die Titelverleihung an dieser gänzlich unbekannten Universität überhaupt stattgefunden habe. 21 Ein echter Dissens oder ein dauerhaftes Zerwürfnis erwuchs aus dem Briefwechsel über die „Moria“ also zunächst offensichtlich nicht. Die beiden primären Kontra-
Collège zum Vorwurf macht, war den Universitäten des Mittelalters notorisch fremd. Vgl. den kurzen Abriss bei Émile Durkheim, L’évolution pédagogique en France. 2ième éd. Paris 1969, 182–185. 18 Farge, Erasmus (wie Anm.2), 25f. 19 So Paul F. Grendler, How to Get a Degree in Fifteen Days. Erasmus’ Doctorate of Theology from the University of Turin, in: Erasmus of Rotterdam Society Yearbook 18, 1998, 40–69, hier 41. 20 Erasmus, Opus epistolarum (wie Anm.1), Ep. 200, 8f.: „Doctoratum in sacra Theologia accepimus, idque plane contra animi mei sententiam ac precibus amicorum expugnati.“ 21 „Dicat iam erasmus mihi nouus magister noster in achademia non incelebri sed innominata sed nobis incognita sed infausta quae talem antitheologum admisit si tamen admisit.“ Pierre Cousturier (Petrus Sutor), Antapologia P. Sutoris, in quandam Erasmi Apologiam. Paris 1526, fol.62r; siehe dazu Grendler, How to Get a Degree (wie Anm.19), 63. Zur Anerkennung des Doktorats ebd.62f.; sowie Farge, Erasmus (wie Anm.2), 27. Laut Grendler hat Erasmus den Namen seiner Alma mater in seinen Briefen niemals genannt.
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henten waren zum Zeitpunkt der Debatte prekär legitimierte Theologen und gemeinsam an einem Projekt arbeitende Humanisten. Die Auseinandersetzung entzweite die beiden Parteien auch nicht etwa nachhaltig. Bereits im Juli 1516 hielt Dorp in Löwen eine Rede über die Briefe des Paulus, in der er die erasmianischen Prinzipien der Textkritik befürwortete, woraufhin ihm für das folgende akademische Jahr die Venia Legendi entzogen wurde. Während Erasmus’ Aufenthalt in Löwen 1517 pflegten sie offensichtlich freundschaftlichen Umgang 22, und 1519 versuchte Erasmus, der sich von dem Streben nach Anerkennung durch die institutionelle Theologie lange nicht befreien konnte, in die theologische Fakultät der Universität Löwen aufgenommen zu werden. Falls die „Kooptierung“, von der Erasmus spricht, überhaupt stattfand, war sie von kurzer Dauer: Bereits 1521 war Löwen in den Augen des Erasmus ein zweites Paris geworden. 23 Während sich also sowohl Dorp als auch Erasmus zum Zeitpunkt des Briefwechsels auf einer – jeweils anders gearteten – Schwellenposition zwischen humanistischer Textkritik und scholastischer Theologie befinden, ist Dorp soweit in den theologischen Schulbetrieb integriert, dass eine polemische Angriffslinie jene der erasmianischen Inkompetenz in den Techniken und Methoden des Fachs sein kann. So insinuiert er nicht nur, wie oben erwähnt, dass Erasmus im „mare dialecticum“ nicht zu schwimmen vermöge 24, sondern zeiht Erasmus auch der mangelnden Kompetenz in der Disputation – das Bild vom Hinabsteigen in die Arena hatte dies schon angedeutet. Erasmus möge sich, so Dorp, davor hüten, die zeitgenössischen Dialektiker als Sophisten zu denunzieren – außer natürlich, er erachte jene, die ihm in der Disputation überlegen seien, als Sophisten. 25 Thomas More greift diese Sticheleien in seinem Antwortbrief an Dorp, der erst 1563 publiziert wurde, mehrfach auf. Einen Beweis dafür, dass Erasmus ein guter Disputator sei, kann More nicht beibringen, seine diesbezüglichen Affirmationen 22
Siehe Ijsewijn, Maarten van Dorp (wie Anm.14), 403.
23
Farge, Erasmus (wie Anm.2), 30.
24
Wenn in der Forschungsliteratur im Zusammenhang mit der „Moria“ von „Dialektik“ die Rede ist,
dann ist oft nicht die Methode gemeint, sondern eine „Dialektik“ von „vie raisonnable“ und „démence“; vgl. z.B. Pierre Mesnard, Erasme et la conception dialectique de la Folie, in: Enrico Castelli (Ed.), L’Umanesimo e ‚la Follia‘. Scritti di E. Castelli, M. Bonicati, P. Mesnard, R. Giorgi, I. L. Zupnick, E. Grassi, A. Chastel, F. Secret, R. Klein. Rom 1971, 43–61, hier 46. 25
„Etiam hoc caue, mi Erasme, ne falsa opinione sophistas voces qui syncerissimi sunt omnium quie ho-
die viuunt dialecticorum. […] Nisi forte tibi sophistae sunt omnes quibus disputatione videaris inferior“. Erasmus, Opus epistolarum (wie Anm.1), Ep. 347, 298–300, 311–313.
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beruhen nicht auf Beispielen, sondern auf – wie gleich zu zeigen sein wird – teils schief konstruierten Schlussfolgerungen. Insgesamt geht es ihm darum, die Äquivalenz von Erasmus’ eigenen Kompetenzen herauszustellen, denn auf keinen Fall dürfe dieser vom Theologenthron auf die Sitzbank des Grammatikers hinabgestoßen werden. 26 In Entgegnung auf Dorp bringt nun Thomas More das Zeno dem Stoiker zugeschriebene Argument vor, dass Rhetorik und Dialektik ja genau wie Faust und Handfläche auf das Engste verbunden seien: Wenn Dorp zugestehe, dass Erasmus herausragende Fähigkeiten in der Rhetorik habe, könne ihm eine Kompetenz in der Dialektik nicht gänzlich abgesprochen werden. Doch selbst wenn Rhetorik und Dialektik nichts miteinander zu tun hätten: Nur weil Erasmus nicht in den Schulen disputiere und mit den Knaben streite, bedeute das nicht, dass er den Dialektikern unterlegen sei. Sein Scharfsinn („ingenium“) und seine Gelehrsamkeit („doctrina“) würden allseits bewundert, und er sei daher weit davon entfernt, allen Dialektikern in der Disputation unterlegen zu sein. 27 Die Beziehung zwischen enthymematischen Prämissen (Erasmus ist ein brillanter Rhetoriker bzw. Erasmus wird allseits bewundert) und dem gleichermaßen daraus gezogenen Schluss (er ist Dialektikern nicht unterlegen) bleibt notwendig undeutlich und entfaltet mithin ihre Überzeugungskraft allein im Kontext des rhetorisch strukturierten Briefes und den unter diesen Bedingungen zulässigen, weniger zwingenden Beweismitteln. Dass sich Erasmus freilich der Kernpraxis theologischer Tätigkeit, der Disputation, entzieht, ist insofern prekär, als More ihn als Grammatiker und Theologen positionieren will, als Grammatiker vom Zuschnitt eines Varro und als Theologen vom
26 „Nec ille tamen e theologorum solijs in grammaticorum subsellia depellendus.“ More, In Defense of Humanism (wie Anm.6), 12. 27 „At Rhetoricam opinor uel tu propriam ei, ac quodammodo peculiarem esse concedes, quam si tribuas, nescio qui possis Dialecticen tam prorsus adimere. Si quidem recte senserunt non infimi philosophorum, qui tantum censuerunt inter dialecticam Rhetoricamque differre, quantum pugnus distat a palma, quod, quae dialectice colligit astrictius, eadem omnia Rhetorice copiosius explicat, utque illa mucrone pungit, ita hec ipsa mole penitus prosternit, obruitque. Sed age nihil sit Dialecticae cum Rhetorica commune. Ergo quia non in scholis disputat, quia non in puerorum corona rixatur, quia iam (quod tu quoque postea facies) questiunculas illas ualere sinit, ninquam eum putas illas didicisse? sed existimas in disputando inferiorem esse dialecticis omnibus? […] Tantum abest ut Erasmus, cuius et ingenium, et doctrinam mirantur omnes, futurus sit in disputando omnibus prorsus dialecticis, hoc est etiam pueris inferior.“ More, In Defense of Humanism (wie Anm.6), 16.
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Zuschnitt des Dorp selbst. 28 Die beiden Referenzfiguren sind mit Bedacht gewählt. Varro gilt als der Erste, der Methoden der Dialektik als Darstellungsform für Themen der Grammatik nutzte 29 – und damit die Tätigkeit des Grammatikers in den Methodenbereich der Philosophie hinein reklamierte. Die Nennung Dorps schließlich ist mehr als eine captatio benevolentiae, wenn man in Betracht zieht, dass Dorp zwar erst am Beginn seiner Karriere als Theologe stand, aber eben ein institutionell verankerter Theologe mit humanistischer Kompetenz war. Doch warum das Getöse um die Disputation? Weil man erstens von der Sicherheit der Methode überzeugt war, und weil so zweitens Theologen als professionelle Gruppe von den aufstrebenden Bibelphilologen differenziert wurden. Methode, Institutionenzugehörigkeit und Habitus sind die Distinktionsaspekte, auf die es in der Auseinandersetzung mit den in die Gefilde der Schultheologie vorstoßenden Humanisten ankommt: „The scholastics’ attacks against humanists were not directed at their predilection for the studia humanitatis. Had the humanists been content to apply philology to secular texts alone, the two sides may well have continued to live in relative harmony. […] Moreover, they [the scholastic theologians] believed their own systematic method of resolving questions according to dialectical principles was unquestionably more certain than the more elegant but unsystematic approaches of the Fathers. […] A theologian held an office for which he was trained and tested by a proper university and canonically invested by its chancellor. To accept otherwise was to invite social and ecclesiastical chaos.“ 30
Das Bestehen der Universitätstheologen auf dem Kompetenzerweis in der Disputation war so prononciert, dass es sich selbst wiederum als Gegenstand der Satire eignete. Eine Szene aus den „Epistolae obscurorum virorum“, den „Dunkelmännerbriefen“, mag dies illustrieren: Ein Johannes Strausfederius berichtet Ortwin Gratia-
28
Ebd.14.
29
Siehe Wolfram Ax, Disputare in utramque partem. Zum literarischen Plan und zur dialektischen Metho-
de Varros in de lingua Latina 8–10, in: Rheinisches Museum für Philologie 138, 1995, 146–177, hier 156f. u. passim. 30
Farge, Erasmus (wie Anm.2), 43. Und die Disputation ist umgekehrt der Ankerpunkt für die Bestre-
bungen Mores, Erasmus’ Tätigkeit als anders gelagert, aber gleichwertig auszuweisen. Dies betrifft nicht zuletzt die Debattenformate – nachdem sich Erasmus nicht disputierend auseinandersetzte, mussten seine Schriften einen äquivalenten Status erhalten; siehe dazu Anita Traninger, Disputation, Deklamation, Dialog. Medien und Gattungen europäischer Wissensverhandlungen zwischen Scholastik und Humanismus. Stuttgart 2012, 111–196.
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nus von einer Unterhaltung bei Tisch, bei der ein „nobilista“ den Magister noster Petrus Meyer „scandalizavit“, indem er Reuchlin als den größeren Gelehrten bezeichnete. Meyer ist empört, Reuchlin sei doch in der Theologie nur, so sagt er im unvergleichlichen Latein der Dunkelmänner, „sicut unus puer“. Um seine Kenntnisse zu erweisen, müsse Reuchlin ihm eine „quaestio“ vorlegen und dann beide Rollen in der Disputation einnehmen, jene des Angreifers und jene des Verteidigers. 31 Die Disputation an sich, vor allem aber die Fähigkeit, erfolgreich für und gegen eine Sache eintreten zu können, werden mithin einem herausragenden Gelehrten wie Reuchlin als alleingültiger Nachweis seiner Befähigung zur Äußerung in theologischen Fragen abverlangt. 32 Es geht also, um es zuzuspitzen, nicht darum, was ein Gelehrter weiß, sondern was er kann: Erasmus’ Ruf als Bibelgelehrter mag noch so groß sein, an den Maßstäben der Universitätstheologie gemessen rangiert er noch unter dem blutigsten Anfänger. Und diese theologischen Maßstäbe erscheinen hier als solche des Könnens, der Praxis, des Habitus, nicht zuvorderst der Bibel- oder ganz allgemein Sachkenntnis. An mittelalterlichen wie frühneuzeitlichen Universitäten wurde unentwegt und quer durch alle Statusgruppen disputiert: Zunächst war die Disputation der einzige Ort im universitären Betrieb des Mittelalters, der Studenten eine aktive Rolle zuwies, als singuläres Format für Übung und Kompetenzerweis gleichermaßen. 33
31 Epistolae obscurorum virorum. Hrsg. v. Aloys Bömer. Heidelberg 1924, Ndr. Aalen 1978, I, 5, 13–15. 32 Wichtig für das Verständnis der Reichweite dieser Passagen ist der Umstand, dass „humanistae“ in den „Dunkelmännerbriefen“ mit den „Reuchlinistae“ in eins gesetzt werden; vgl. Arno Seifert, Das höhere Schulwesen: Universitäten und Gymnasien, in: Notker Hammerstein/August Buck (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 1: 15. bis 17.Jahrhundert. Von der Renaissance und der Reformation bis zum Ende der Glaubenskämpfe. München 1996, 197–374, hier 250. 33 Walter J. Ong, Ramus, Method, and the Decay of Dialogue. From the Art of Discourse to the Art of Reason. 2nd Ed. Cambridge, MA/London 1983, 154, betont, dass schriftliche Übungsarbeiten erst im Zuge der humanistischen Reform installiert wurden. Ong beruft sich auf Charles Thurot, De l’organisation de l’enseignement dans l’Université de Paris au Moyen-âge. Paris 1850, 99f. Das frühneuzeitliche Promotionswesen ist in den vergangenen Jahren insbesondere von Hanspeter Marti kartiert und erforscht worden, vgl. u. a. Hanspeter Marti, Der wissenschaftsgeschichtliche Dokumentationswert alter Dissertationen. Erschließung und Auswertung einer vernachlässigten Quellengattung der Philosophiegeschichte – Eine Zwischenbilanz, in: Istituto Italiano per gli Studi Filosofici (Ed.), Nouvelles de la Republique des Lettres 1. Neapel 1981, 117–132, und ders., Dissertation und Promotion an frühneuzeitlichen Universitäten des deutschen Sprachraums. Versuch eines skizzenhaften Überblicks, in: Rainer A. Müller (Hrsg.), Promotionen und Promotionswesen an deutschen Hochschulen der Frühmoderne. Köln 2001, 1–20.
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Doch war sie selbstredend nicht auf die didaktische Komponente beschränkt, ganz im Gegenteil; Streitfragen mit gewichtigen religiösen, ökonomischen und politischen Implikationen wurden der disputatorischen Aushandlung überantwortet. Die Beteiligung an den regelmäßig angesetzten Veranstaltungen war allen institutionellen Akteuren vorgegeben. Neben den „disputationes ordinariae“, also den regelmäßigen Disputen im Rahmen der Lehrveranstaltungen, wurden Disputationen auch als universitätsöffentliche Dispute veranstaltet. Die universitären Korporationen markierten darüber hinaus ihre Festtagsperioden im Jahreskreis durch die Abhaltung einer weiteren Art von Disputation, der „disputatio de quolibet“, wobei von allen Anwesenden – „a quolibet“ – Fragen zu allen denkbaren Gebieten – „de quolibet“ – eingebracht werden konnten. Die Disputation war Ausbildungsformat, Instanz des Kompetenzerweises, Modus der Reflexion und der Prüfung von Positionen und Argumenten, aber auch Bühne für das Erlangen internationalen Ruhms und, nicht zuletzt, ein akademisches Unterhaltungsgenre. Die Organisationsform von Disputationen war in ganz Europa mit nur geringfügigen lokalen Abweichungen auf lange Frist – und auch über den Epochenbruch zwischen Mittelalter und Renaissance hinweg bis, in Teilen Europas, in das späte 17. und frühe 18.Jahrhundert – mehr oder weniger konstant dieselbe. 34 Darauf gründete sich eine wahrhaft gemeinsame europäische Kultur, in der man nach Paris, Bologna, Wien oder gar Salamanca reisen und dort nahtlos in eine Disputation einsteigen konnte, aber auch eine, in der man sich darauf verließ, dass die Kompetenz eines Gelehrten im Rahmen einer durch ein enges methodisches Korsett regulierten mündlichen Auseinandersetzung überprüft und erwiesen werden kann. Die Disputation dient mithin der punktuellen Leistungsfeststellung – insbesondere in der Disputation „pro gradu“ 35 –, mehr aber noch der Habitusformierung. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass der wesentliche Teil dialektischen wie auch disputatorischen Agierens eine Frage der Übung und Gegenstand mündlicher und interaktioneller Einprägung waren. Methodische Grundlage der Disputa-
34
Olga Weijers, La ‚disputatio‘ dans les Facultés des arts au moyen âge. Turnhout 2002, 25; siehe für De-
tails Georg Kaufmann, Geschichte der deutschen Universität im Mittelalter. Bd. 2: Entstehung und Entwicklung der deutschen Universitäten bis zum Ausgang des Mittelalters. Stuttgart 1896, Ndr. Graz 1958, 369– 395. 35
Werner Allweiss, Von der Disputation zur Dissertation. Das Promotionswesen in Deutschland vom
Mittelalter bis zum 19.Jahrhundert, in: Rudolf Jung/Paul Kaegbein (Hrsg.), Dissertationen in Wissenschaft und Bibliotheken. München 1979, 13–28, hier 18.
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tion ist die Syllogistik, wie sie Aristoteles in den beiden Analytiken darstellt. Den Syllogismus bestimmt er in den „Analytica priora“ als eine „Rede, in der, wenn etwas gesetzt wird, etwas von dem Gesetzten Verschiedenes dadurch folgt, das dieses ist“ (An. Pr. I, 1, 24b18). Formal handelt es sich um jene dreigliedrige Deduktion, bei der aus zwei Prämissen (Obersatz und Untersatz bzw. „propositio maior“ und „minor“), die einen Terminus – den Mittelbegriff – gemeinsam haben, eine Konklusion folgt. Seine Kraft und Verbindlichkeit bezog der Syllogismus daraus, dass man ihn für die natürliche Form des Denkens hielt, die sogar im Schlaf weiterlaufe 36; zugleich wurden – ähnlich wie in der Rhetorik – Regeln extrapoliert, um das Verfahren steuern und optimieren zu können. So waren dann drei Figuren des Syllogismus zu erlernen, die sich in der Position des Mittelbegriffs unterscheiden, sowie 19 Modi, mit denen die gültigen Kombinationen von Propositionen unterschiedlichen Aussagetypus’ (universell affirmativ, universell negativ, partikulär affirmativ, partikulär negativ) benannt sind. Es ist kaum überraschend, dass man dafür einen Merkvers ersann: „Barbara celarent darii ferio baralipton. Celantes dabitis fapesmo frisesomorum. Cesare camestres festino baroco darapti. Felapton disamis datisi bocardo ferison.“ 37
Damit sind gerade einmal die Eckpfeiler der Syllogistik benannt, eine Vielzahl an weiteren Begriffen, Termini und Regeln ist damit verbunden. Gelehrt wurde diese zu Beginn des Studiums in der Artistenfakultät im Verbund eines auf dem aristotelischen Organon aufbauenden Logik-Grundkurses, wie er prominent von Petrus Hispanus im 13.Jahrhundert mit seinen „Summulae logicales“ vorgelegt wurde. 38 Inhalt und Struktur dieser Einführung waren Prüfungsstoff, und Werke wie die „Logica memoratiua“ des Thomas Murner, die als Kartenspiel organisiert ist, geben Zeugnis davon, dass und wie Kapitel und Unterkapitel zu memorieren versucht
36 Vgl. Thomas von Aquin, ST Ia q. 84 a. 8 ad 2, und im Anschluss daran Marsilio Ficinos schöne Formulierung von Leben als fortlaufendem Syllogismus: „Et quia [sc. ratio] disputat semper, etiam dum tacemus, et dumdormimus (tota enim hominis vita perpetua quaedam ratiocinatio est).“ Marsilio Ficino, Théologie Platonicienne de l’immortalité des âmes. Texte critique établi par Raymond Marcel. Paris 1964, XI, 6, 435. 37 Petrus Hispanus, Summulae Logicales cum Versorii Parisiensis Clarissima Expositione. Venedig 1572, Ndr. Hildesheim 1981, Tractatus IV, 13. 38 Eine knappe Zusammenfassung des „cursus artium“ gibt Seifert, Das höhere Schulwesen (wie Anm. 32), 208–211.
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wurden. 39 Mnemotechnik spielte mithin bei der Stoffbewältigung eine Rolle, doch konnte sich die Einübung in die Dialektik nicht im Memorieren erschöpfen. Die Verinnerlichung insbesondere der syllogistischen Regeln musste sich in eine Geistesgegenwart übersetzen, in ein automatisiertes Formulieren von Argumenten in korrekten Schlüssen. So formuliert Johannes Eck in der „explanatio textus“ seiner „Organon“-Ausgabe: „Non sufficit scire formare syllogismos sed oportet habere promptitudinem syllogisandi.“ 40 Die Disputation verbindet nun präzise die unmittelbare Anwendung komplexer logischer Regeln im Gang des Argumentierens sowie die Fähigkeit, dies in unterschiedlichen Rollen zu tun. Die Konfiguration der Disputation fußt in ihren Grundzügen auf der „Topik“ des Aristoteles, wenngleich die Forschung gezeigt hat, dass sich der Disputationsbetrieb an den Universitäten durchaus unabhängig davon konstituiert hat. 41 Was wir über den regulären Disputationsbetrieb an den Universitäten wissen, entnehmen wir zunächst den Universitätsstatuten, die Teilnahmebedingungen und -verpflichtungen, Rhythmus und Typus der Disputationen regelten. Die Statuten der Universität Bologna von 1405 – die auf denen der Universität von Paris gründen – schreiben beispielsweise vor, dass alle lehrberechtigten Fakultätsmitglieder („actu legentes“) einmal wöchentlich disputieren. Alle Magistri der jeweiligen Fakultät hatten bei diesen Disputationen Anwesenheitspflicht. Mit dem Disputator zusammen trat der „respondens“ auf, ein Student, der mindestens zwei Jahre an der Lehrveranstaltung teilgenommen hatte, im Rahmen derer die Disputation stattfand. Es fiel dem „respondens“ zu, Thesen gegen die in der Disputation vorgebrachten Angriffe zu verteidigen. Vorgebracht werden mussten diese von vier Studenten, einem aus jeder der vier Nationen, die die Rolle des „opponens“ übernah-
39
Thomas Murner, Logica memoratiua. Chartiludium logice / siue totius dialectice memoria: & nouus Pe-
tri hyspani textus emendatus: Cum iucundo pictasmatis exercitio. Straßburg 1509; siehe dazu Ong, Ramus, Method, and the Decay of Dialogue (wie Anm.33), 85–91; Paolo Rossi, Clavis universalis. Arti mnemoniche e logica combinatoria da Lullo a Leibniz. Mailand/Neapel 1960, 78–80. 40
Aristoteles, Dialectica cum quinque vocibus Porphyrii Phenicis: Argyropilo traductore: a Joanne Eckio
Theologo facili explanatione declarata: adnotationibus compendiarijs illustrata: ac scholastico exercitio explicata: videbis o Lector priscam Dialecticam restitutam: ac Neotericorum subtilitati feliciter copulatam. Augsburg 1517, Primus Priorum, fol. XXVIIIv. Zu Ecks Kommentarprojekt siehe Arno Seifert, Logik zwischen Scholastik und Humanismus. Das Kommentarwerk Johann Ecks. München 1978. 41
Zu den wichtigsten Differenzen siehe knapp Olga Weijers, De la joute dialectique à la dispute scolas-
tique, in: Académie des Inscriptions & Belles Lettres. Comptes-rendus des séances 2, 1999, 509–518.
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men. 42 Sie mussten das Fach, in dem die Disputation stattfand, mindestens für ein Jahr studiert haben. Im Anschluss an die Studenten traten die anwesenden lehrberechtigten Magistri als Opponenten auf, wobei jeder Opponent zwei Einwände („rationes“) vorbringen konnte. Jede der beiden Rollen hatte ihre Schwierigkeiten und ihre Beschränkungen, und die Spielräume der jeweiligen Rolle optimal auszunutzen zeichnete den erfolgreichen Disputator aus. Der Veranstalter der Disputation, „doctor ordinarie sive generaliter disputans“ genannt, war dann verpflichtet, eine Woche später eine „determinatio“ vorzulegen, also eine Lösung der disputierten Frage. 43 Abgesehen von den Regularien der Statuten verfügen wir – trotz der Ubiquität der Disputation und des Umstandes, dass sie über Jahrhunderte an allen europäischen Universitäten praktiziert wurde – über erstaunlich wenige Quellen für ihre verfahrensmäßige Rekonstruktion. Die Disputation war über sehr lange Zeit reine Praxis, und zwar sowohl im Hinblick auf den je konkreten Verlauf als auch die zugrundeliegenden regelhaften Verfahren, denen sie folgte. Die mittelalterlichen Lehrbücher, allen voran die „Summulae logicales“ des Petrus Hispanus, sind notorisch uninformativ hinsichtlich des Vorgehens in der Disputation selbst – wer wann spricht, wie die Argumente aufeinanderfolgen, etc. Dieses wurde als „knowing how“, als ein praktisches, verinnerlichtes und appliziertes Regelwissen im universitären Alltag eingeübt, aber nicht theoretisch-methodisch im Sinn einer im Detail verschriftlichten Anleitung aufbereitet. Im Rahmen der dialektischen Einführungskurse an den Universitäten wurde eine Kombination von Term- und Propositionenwissen auf der einen Seite und disputatorischem Handlungswissen auf der anderen eingeübt, die in den höheren Fakultäten (Theologie, Medizin, Recht) gleichermaßen zum Einsatz kam – das disputatorische „Knowing how“ freilich war wesentlich der universitären Praxis und nicht der schriftlichen Tradierung überantwortet. Teilhabe an diesem zentralen Modus der Wissensgenerierung war über lange Zeit allein über die persönliche Initiation in ein hochcodiertes Verfahren reguliert. Die Praxis des Disputierens wurde damit auf das Engste an exklusive Tradierungsmechanismen und Machtrelationen gekoppelt. Die frühesten
42 Zur Geschichte von „opponens“ und „respondens“ als Funktionen in der Disputation vgl. Bernardo C. Bazàn, Les questions disputées, principalement dans les facultés de théologie“, in: ders./John Wippel/Gerard Fransen/Danielle Jacquart, Les questions disputées et les questions quodlibétiques dans les facultés de théologie, de droit et de médecine. Turnhout 1985, 21–147, hier 39–42. 43 Alfonso Maierù, University Training in Medieval Europe. Leiden/New York/Köln 1994, 65f.
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Handbücher, in denen das Verfahren als solches beschrieben und aufgeschlüsselt wurde, stammen aus dem frühen 16.Jahrhundert. 44 Wenn ich von „knowing how“ spreche, dann beziehe ich mich auf Gilbert Ryles Unterscheidung von „knowing how“ und „knowing that“. Sie geht auf einen Vortrag zurück, den Ryle 1945 als Präsident der Aristotelian Society in London gehalten hat. 45 In jüngster Zeit wurde diesem Ansatz wieder verstärkt Interesse entgegengebracht, denn während man seit den 1960er Jahren vorrangig die Rekonstruktion von Wissensordnungen vorangetrieben hat, erfolgte seit den 1980er Jahren eine offensive ‚Praxeologisierung‘ in den „science studies“. 46 Es geht dabei um ein „performative image of science“ 47, bei dem die wissenschaftlichen Praktiken selbst in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken. Nachdem die Wissenschaftsgeschichte ihrem Selbstverständnis nach in erster Linie eine Geschichte der Naturwissenschaften ist, erwuchsen aus diesem Ansatz zunächst die „laboratory studies“ und ähnliche Ausprägungen. Erst nach und nach rückt die Wissenschaftsgeschichte der Geisteswissenschaften in den Fokus der Aufmerksamkeit. Für den hier behandelten Untersuchungsbereich sind natürlich beide Begriffe anachronistisch, und zudem waren Naturphilosophie wie Theologie methodisch gleichermaßen durch die Dialektik geprägt. Ryle geht es nun darum, Können, „knowing how to do things“ als eine Wissensform eigener Geltung zu etablieren – das gelingt im Englischen besser als im Deutschen, wo die Parallelprägung „knowing how / knowing that“ verfügbar ist, wäh-
44
Eine der frühesten derartigen Publikationen, die einen Hinweis auf das konkrete Vorgehen beim Dis-
putieren geben, sind die „Introductiones artificiales in logicam“ von Jacques Lefèvre d’Étaples, die im Verbund mit Ergänzungen von Josse Clichtove in den ersten Dekaden des 16.Jahrhunderts zahlreiche Auflagen erlebten. Siehe dazu E. J. Ashworth, Renaissance Man as Logician: Josse Clichtove (1472–1543) on Disputations, in: History and Philosophy of Logic 7, 1986, 15–29; sowie zur Gattung insgesamt Donald Felipe, Notes on Some Early Disputation Handbooks, in: Reimund B. Sdzuj/Robert Seidel/Bernd Zegowitz (Hrsg.), Dichtung – Gelehrsamkeit – Disputationskultur. Festschrift für Hanspeter Marti zum 65. Geburtstag. Wien/Köln/Weimar 2012, 448–460. 45
Gilbert Ryle, Knowing How and Knowing That: The Presidential Address, in: Proceedings of the Aris-
totelian Society, New Series 46, 1945/46, 1–16; der Aufsatz ist als zweites Kapitel eingegangen in: ders., The Concept of Mind. London 1949. 46
Vgl. etwa Andrew Pickering, The Mangle of Practice. Time, Agency, and Science. Chicago/London 1995;
Bruno Latour/Steve Woolgar, Laboratory Life: The Construction of Scientific Facts. 2nd Ed. Princeton 1986; Karin Knorr-Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft. Frankfurt am Main 2002. 47
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Pickering, The Mangle of Practice (wie Anm.46), 7.
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rend im Deutschen Können und Wissen keine unmittelbare semantische Relation haben und unterschiedlichen Wortfeldern angehören; gleichzeitig stellt sich Ryle damit gegen die traditionelle Privilegierung des Wissens als Faktenwissen, was er als „intellectualist legend“ verurteilt. Das, was also in jüngster Zeit unter den Schlagworten von Praktiken und Performanzen verhandelt wurde, ist mit Ryle als ein Typus von Wissen zu konstruieren. Er insistiert darauf, dass in der bisherigen Forschung die grundsätzliche Differenz zwischen Können und Wissen übersehen oder aber „knowing how“ immer auf ein „knowing that“ zurückgeführt worden sei: „Philosophers have not done justice to the distinction which is quite familiar to all of us between knowing that something is the case and knowing how to do things. In their theories of knowledge they concentrate on the discovery of truths and facts, and they ignore the discovery of ways and methods of doing things or else they try to reduce it to the discovery of facts.“ 48
Ryle präzisiert, dass es beim „knowing how“ nicht darum geht, dass man eine Regel formulieren kann, sondern dass man in der Lage ist, den entsprechenden Akt zu vollziehen; „knowing how“ sei auch nicht das radikal Andere eines in Propositionen fassbaren Wissens, vielmehr erschöpft es sich nur nicht im Referieren oder Kontemplieren von Regeln 49: „When a person knows how to do things of a certain sort (e. g., make good jokes, conduct battles or behave at funerals), his knowledge is actualised or exercised in what he does. It is not exercised (save per accidens) in the propounding of propositions or in saying ‚Yes‘ to those propounded by others. His intelligence is exhibited by deeds, not by internal or external dicta.“ 50
Was Ryle hier beschreibt, ist die für performative Prozesse spezifische Doppel48 Ryle, Knowing How and Knowing That (wie Anm.45), 4. 49 Es wird vielfach argumentiert, dass sich das „knowing how“ der Propositionalisierung entziehe. In eben diese Richtung scheint Günter Abel, Knowing-How. Eine scheinbar unergründliche Wissensform, in: Was sich nicht sagen lässt. Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion. Berlin 2010, 319– 340, hier 320, zu gehen, wenn er schreibt: „Doch ersteres [i.e. knowing that] ist ein Tatsachen- und ein theoretisches Wissen, das ich in einer dass-Proposition sprachlich artikulieren und mitteilen kann. Letzteres [i.e. knowing how] dagegen ist ein praktisches und prozedurales Wissen, ein in Fähigkeiten, Fertigkeiten und Geschicklichkeiten bestehendes Können, das sich (soweit es um mich als Akteur in der Ersten-PersonPerspektive geht) auf eigentümliche und scheinbar unergründliche Weise der propositionalen Artikulation und Analyse entzieht.“ Doch Abel präzisiert späterhin (ebd.330), was genau sich der Artikulation entzieht: Nicht die Regeln, sondern das Regelfolgen: „[D]ass sich das praxisinterne Regelfolgen-Können einer Artikulation auf eigentümliche Weise entzieht, eigentümlich elusiv ist“. 50 Ryle, Knowing How and Knowing That (wie Anm.45), 8.
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gestalt einer Handlung: Indem jemand etwas tut, führt er gleichzeitig vor, dass er etwas kann. Natürlich kann man a priori oder – so will es Ryle – a posteriori die Regeln zu formulieren bzw. zu rekonstruieren versuchen, die dem Tun zugrunde liegen, doch ist diese apriorische oder aposteriorische Formulierung qualitativ verschieden vom Vollzug des regelhaft formulierbaren Wissens im Moment der Handlung selbst. Ryle geht so weit, wissenschaftliche Tätigkeit insgesamt primär als ein Können zu charakterisieren und erst sekundär als Akkumulation von Wissensquanten; er behauptet sogar, dass das Können dem Wissen voraufgeht („knowing-that presupposes knowing-how“ 51): „A scientist or an historian is primarily a man who knows how to decide certain sorts of questions. Only secondarily is he a man who has discovered a lot of facts, i. e., has achieved successes in his application of these rules, etc. […] A scientist, that is, is primarily a knower-how and only secondarily a knowerthat.“ 52
Der „knowing how“-Begriff ist damit mit Blick auf das oben hinsichtlich der Praxis der Disputation Gesagte weiter zu fassen: Er betrifft nicht allein das Rollenhandeln in der Debattensituation, sondern auch das Formen der Argumente auf der Grundlage der Syllogistik. Syllogismen sind in diesem Sinne Regeln des Denkens, und ihre Beherrschung manifestiert sich nicht darin, die drei Figuren, die Modi und ihre Memorialchiffren hersagen zu können, sondern darin, korrekte Schlüsse im Gang der Argumentation zu formulieren. Das Beherrschen der Syllogistik erweist sich im Tun, nicht im Referieren: „Knowing a rule is knowing how. It is realised in performances which conform to the rule not in theoretical citations of it.“ 53 Dieser Typus von Performance stellt das Gravitationszentrum der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen universitas scholarum dar: Die Gemeinschaft der Universitätsgelehrten definierte sich über eine Praxis, in der internalisiertes Regelwissen (die Syllogistik) und Beherrschung des disputativen Rollenhandelns in einem performativen Akt zugleich die Zugehörigkeit zur Institution und damit die Legitimation ihrer Expertise ausdrückten. In diesem Sinn formuliert Marcia Colish, dass
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„scholasticism as an intellectual movement is marked less by adherence to common doctrines or by agreement on a common agenda than by the common status of scholastics as professional scholars and the common educational experience and methodology that shaped their outlook.“ 54
Die Teilhabe war nicht über theoretische Kenntnis des Codes allein geregelt. In der Disputation reichte es nicht aus, dieses Regelwissen zu rezitieren – man musste im Tun bestehen. Umgekehrt konnten aber Zuhörer intervenieren und zugleich die identitätsstiftende Arkanität des Ereignisses ausstellen, indem sie die richtige Merkchiffre in die Runde warfen. Denn in der Tat konnten Argumente in der Disputation gleichsam stenographisch verknappt werden – ein Argumentationsgang konnte durchaus mit einem Verweis auf die Chiffre eines syllogistischen Modus abgekürzt werden, indem jemand ausrief, „consequentia tenet in baroco“, wie Rudolf Agricola diesen Initiiertenduktus in „De inventione dialectica“ durchaus kritisch referiert. 55 Auch Philipp Melanchthon erinnert sich an die Gewohnheit zu seinen Studienzeiten, dass, sobald jemand ein Argument beim Disputieren zu entfalten begann, gerufen wurde, es gelte, weil sich der Schluss im Modus Darii oder Ferio ergebe. 56 Die Memorialchiffren haben damit auch die Funktion von Passwörtern, von Parolen, die ein geteiltes Diskursuniversum demarkieren. Dadurch, dass die Syllogistik aber ein Wahrheitsinstrument ist, erscheint es auf den ersten Blick kontraintuitiv, dass die Regeln selbst – genau wie performative Aussagen im Sinne Austins – nicht nach dem Kriterium wahr oder falsch zu beurteilen sind: „But when we try to express these principles [rules] we find that they cannot easily be put in the indicative mood. They fall automatically into the imperative mood. Hence comes that awkwardness for the intellectualist theories of stating what are the truths or facts which we acknowledge when we acknowledge a rule or maxim. We cannot call an imperative a truth or falsehood.“ 57
54 Marcia L. Colish, Medieval Foundations of the Western Intellectual Tradition, 400–1400. New Haven /London 1997, 274. 55 Rudolf Agricola, De inventione dialectica libri tres. Drei Bücher über die Inventio dialectica (auf der Grundlage der Edition von Alardus von Amsterdam 1539). Hrsg. v. Lothar Mundt. Tübingen 1992, III, 14, 538. 56 Philipp Melanchthon, De dialectica libri qvatvor. Wittenberg 1529, fol.G4r–v: „Et placet consuetudo quae nobis pueris erat in scholis, ut cum recitasset aliquis argumentum in disputando, statim subjiceret, consequentiam ualere, quia quadraret admodum Darij, aut ferio aut alium quampiam.“ 57 Ryle, Knowing How and Knowing That (wie Anm.45), 12.
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Ryle diskutiert dies und insgesamt die Praxis der Dialektik explizit als einen Fall von „Knowing how“, indem er festhält, dass die Schlussregeln eben keine zusätzlichen Propositionen vom Typ einer Prämisse sind, sondern dass sie sich als argumentationsgenerierendes Können allein erweisen: „Principles of inference are not extra premisses and knowing these principles exhibits itself not in the recitation of formulae but in the execution of valid inferences and in the avoidance, detection and correction of fallacies, etc.“ 58
Die Konvergenz von Regeln, internalisierendem Können und wahrheitsfähigem Wissen, die für die Disputation charakteristisch ist, lässt sich trefflich zum Zweck der Diskreditierung des Verfahrens auseinanderdividieren. Eine Anekdote, die Thomas More in seinem Beitrag zum eingangs diskutierten Briefwechsel vorbringt, mag dies belegen. Sie handelt von einem Theologen (More nennt ihn einen „religiosus“ und meint damit ein Mitglied eines Bettelordens), der zu einem Abendessen eingeladen ist, an dem neben More auch ein reicher und gebildeter italienischer Kaufmann teilnimmt. Die déformation professionelle und in der Folge die Deplatziertheit des Mannes im Kontext amüsanter und angenehmer Konversation wird gleich zu Beginn unterstrichen: Was immer gesagt wird, kontert der Theologe unpassend, weil im Modus der Agonalität, mit einem Syllogismus. Ganz wie den Dunkelmännern kommt es ihm, der von More als „egregius disputator“ eingeführt wird, darauf an, dass er über jedes erdenkliche Thema pro oder contra zu handeln imstande ist („professus est enim se, in utramque partem, de re quacunque disputaturum“). 59 Der Kaufmann bringt schließlich theologische Themen auf, die ihn interessieren, der Theologe attackiert ihn aus Prinzip („utramcunque aliquis asseruisset, illam oppugnabat“ 60). Als man sich schließlich dem Thema außerehelicher Affären zuwendet („de concubinis“), beginnt der Kaufmann, fiktive Autoritätenstellen zu zitieren, nicht zuletzt, weil er bemerkt, dass der Theologe in der Bibel nicht sattelfest ist. Damit müsste der Theologe eigentlich von der Sache her erledigt sein. Vielmehr stellt er aber, so More, wie ein Igel seine Stacheln auf, rollt sich ein („tanquam herinacius spinis sese suis obuoluit“ 61) – und entkommt („euasit tamen“): „Tantum ualet ars, et
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More, In Defense of Humanism (wie Anm.6), 50.
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exercitatio disserendi“, vermerkt More widerwillig, aber anerkennend mit Blick auf die Leistungsfähigkeit der dialektischen Kunst. Was hatte der Theologe getan? Obwohl ihm die vom Kaufmann zitierten Schriftstellen fremd waren (wie auch anders, waren sie doch erfunden), zerlegte er die Argumente mit den ihm vertrauten dialektischen Methoden des Distinguierens und Definierens und wies sie so Punkt für Punkt zurück. Es war die Methode, das „knowing how“, das ihn rettete, nicht eine wie immer geartete Sachkenntnis. Die Praxis der Disputation bindet mithin Wissen und Können; das Können freilich, und dies sollte in diesem Durchgang deutlich geworden sein, erweist sich als der wahre Lackmustest scholastischer Expertise.
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„Age nunc, vates & Poeta praeclare“ – Macht die Krönung erst den Dichter? Über die Inszenierung des „poeta laureatus“ als Experte im frühneuzeitlichen Reich von Albert Schirrmeister
To what extent can the coronations of poets in the early modern Empire be considered as „rites de passage“? In how far did such performances define them as experts in the first place? In this paper, both issues will be considered in three different chronological steps: at the beginning of the sixteenth century, at the turn of the seventeenth century and finally at the beginning of the eighteenth century. The German situation will be compared with the tiny French range of coronations of poets: Whereas more than 1300 „poetae laureati“ were recorded for Germany until 1800, for France, we only know three (Italian) poets laureate at the turn of the sixteenth century. This article shows that „poetae laureati“ could establish themselves in the Holy Roman Empire as experts with a relevant function within the early modern society and its specific mediality, orientated to a quality of presence: The poets claimed to be experts for promulgating monarchic glory and more generally (solemn) events. Coronations of poets could be used as important instruments to establish poets as a social corporation within the early modern society due to the multifaced character of the coronation as a literary and academic award and as a nobiliating distinction. This character lead at the same time to a multi-layered development during the seventeenth century: Above all, the academic character – established since the coronation of Petrarch – lost its relevance, whereas its meaning as a unifying group-building instrument gained a new significance. In the long run, however, coronations became a vehicle for the crowning of the „comes palatinus“: These „Hofpfalzgrafen“ were almost without exception professors at universities and used the performance of coronation to enhance their own position compared to competing scholars. During the eighteenth century and due to the changing ideal for the autonomy of poetry the ritual lost its importance for the poets.
I. Dichterkrönung als „rite de passage“: Petrarca und die Folgen Nürnberg, 18.April 1487, 6 Stunden, 1 Minute und 20 Sekunden nach Mittag (in gleichen Stunden gezählt; in ungleichen Stunden: 5 Uhr, 41 Minuten und 12 Sekunden) also wenige Minuten vor Sonnenuntergang: Kaiser Friedrich III. setzt Conrad Celtis den Lorbeerkranz auf und macht ihn damit zum „poeta laureatus“. So jeden-
DOI
10.1515/9783110576030-011
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falls nach der Datierung in der „figura caeli“ im „Proseuticum“, das Celtis in Nürnberg gleich nach der Dichterkrönung auf dem Reichstag hat drucken lassen. 1 Wenn man tatsächlich von einer Dichterkrönung sagen möchte, dass sie als eine existentielle Verwandlung dargestellt wird, wie es „rites de passage“ sein sollen, dann sicherlich angesichts eines solchen Geburtshoroskops auf die Stunde, nein: die Sekunde der Dichtergeburt. Zugleich kann man dieses Horoskop nutzen, um auf einige Dinge aufmerksam zu machen, die relevant sind, wenn über die Performativität von Dichterkrönungen nachgedacht wird: Alle Nachrichten von der Dichterkrönung stammen von Celtis selber (oder sind, wie in der Schedel’schen Weltchronik, von ihm abhängig). Sichtbar wird die Performativität in ihrem Nachvollzug im Druck, ansonsten wäre sie als ephemeres Ereignis gar nicht mehr wahrnehmbar. Die Performativität beschränkt sich also nicht auf den Moment – hier den 18.April 1487 –, sondern ist selbstverständlich auch auf die Phasen nach der Zeremonie bezogen. Ein „rite de passage“, um den es sich zumindest als Arbeitshypothese bei der Dichterkrönung handeln soll, ist ja als „séquence de céremonies“ idealtypischerweise dreigliedrig, mit jeweils „rite de ségrégation“, „rite de marges“ und „rite d’agrégation“. Dazu sind sicherlich auch die „rites de mise à l’épreuve“ zu rechnen – an all diesen „Teilriten“ lassen sich performativ beglaubigende Elemente bestimmen. 2 Versteht man schließlich, wie das hier die Hypothese ist, Dichterkrönungen als Rituale, die eine Meisterschaft zuerkennen, so ist ganz offensichtlich, dass es eben nicht nur um denjenigen geht, der gekrönt wird, sondern auch darum, von wem er oder – allerdings erst ab dem 17.Jahrhundert – sie gekrönt wird, wer also die Meisterschaft zuerkennt. Das ist allerdings ein Element, das ausgehend von der knappen Übersicht, die ich mir zur Verwendung der Denkfigur 3 des „rite de passage“ gemacht
1 Conrad Celtis, Conradi Celtis proseuticum ad diuum Fridericum tercium pro laurea Appollinari, Nürnberg [nach 25.April 1487]. [GW 6467], unpaginiert, letzte Seite [a vi]v, online unter: http://nbn-resolving.de/ urn:nbn:de:bvb:12-bsb00026493–4; Aufschlüsselung der Datierung nach: Dieter Mertens, Die Dichterkrönung des Konrad Celtis. Ritual und Programm, in: Franz Fuchs (Hrsg.), Konrad Celtis und Nürnberg. Akten des interdisziplinären Symposions vom 8. und 9.November 2002 im Caritas-Pirckheimer-Haus in Nürnberg. (Pirckheimer Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung, 19.) Wiesbaden 2004, 31–50, hier 33. 2 Arnold van Gennep, Les rites de passage (Erstausgabe 1909). Ndr. Paris 1981 des erweiterten Ndr. von 1969, 13f. 3 Denn allein als anregende Denkfigur, nicht als komplexe Theorie wird hier „rite de passage“ verwendet
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habe, in der Forschung mehr oder weniger vernachlässigt wird. Es geht nahezu ausschließlich um die Teilnehmer an den Riten, die den Wechsel unternehmen. Ein Weiteres fällt mit der Verwendung des Begriffs „rite de passage“ für akademische oder andere Expertenauszeichnungen deutlicher auf als in den Fällen, in denen es um die Wechsel von Kindheit zu Jugend, zu Erwachsenenalter bis hin zum Tod geht: Es gibt nicht nur diejenigen, die dem Ritual unterworfen worden sind oder es irgendwann einmal sein werden, sondern auch diejenigen, die niemals die „passage“ durchlaufen werden, die als Kandidaten gar nicht in Frage kommen. Bei den Dichterkrönungen – ebenso wie bei anderen universitären Diplomierungen oder auch handwerklichen Meisterprüfungen – handelt es sich um Konsekrationsrituale, oder, wie Pierre Bourdieu es einmal vorgeschlagen hat zu nennen: „rites d’institution“. 4 Die Fragen, die ich auf diese Vorbemerkungen aufbauend behandeln möchte, heißen vornehmlich: Inwieweit sind Dichterkrönungen tatsächlich „rites de passage“, die die Zugehörigkeit zu einer Gruppe sichern? Denn in der ständischen Gesellschaft bilden die Dichter zunächst einmal keinen eigenen Stand: Können also Dichter durch die Dichterkrönung eine Korporation begründen? 5 Es bedarf der sozialen Verhandlung, ob die Konsekration anerkannt wird, welche Bedeutung ihr zuerkannt wird. Eine solche Bedeutung kann durch eine postliminale Performanz gesichert werden. Dennoch kann sie immer wieder auch gefährdet sein, z.B. durch eine zu große oder auch eine zu kleine Zahl der konsekrierten Personen. Die Geltung kann zudem in speziellen sozialen und kulturellen Zusammenhängen aberkannt werden – wenn z.B. das Wertesystem der Experten angezweifelt wird. Die Effizienz einer solchen Investitur, die eine vorherbestehende Differenz kenntlich machen und ihre Anerkennung durchsetzen soll, bedarf einer Fundierung in der Sache und der impliziten Anerkennung dessen, dass diese Differenz sozial und kulturell rele-
– ich verzichte also auf die Auseinandersetzungen und Weiterentwicklungen mit der Theorie seit van Gennep. 4 Pierre Bourdieu, Les rites comme actes d’institution, in: Pierre Centlivres/Jacques Hainard (Eds.), Les rites de passage aujourd’hui. Actes du colloque de Neuchâtel 1981. Lausanne 1986, 206–215, hier 206: „Instituer une différence durable entre ceux que ce rite concerne et ceux qu’il ne concerne pas. C’est pourquoi, plutôt que rites de passage, je dirais volontier rites de consécration, ou rites de légitimation ou, tout simplement, rites d’institution (en donnant à ce mot le sens actif qu’il a par exemple dans l’expression ,institution d’un héritier‘).“ 5 Vgl. zu dieser Frage insbes. die Forschungen von Christian Jouhaud zum französischen 17.Jahrhundert: Christian Jouhaud, Les pouvoirs de la littérature. Histoire d’un paradoxe. Paris 2000, z.B. 14ff. zur Rolle der Académie als einer Körperschaft innerhalb des patronalen Systems.
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vant ist. 6 Wofür können solche gekrönten Dichter dann als Experten im Sinne des Tagungskonzepts benannt werden, in dem die soziale Rolle des Experten als Ergebnis eines kommunikativen Wechselspiels zwischen einer gesellschaftlichen Anrufung als Experte und dem aktiven Handeln als (Rat gebender) Experte beschrieben wurde? Um auf diese Fragen zu antworten, werde ich die kaiserlichen Dichterkrönungen des 16. bis 18.Jahrhunderts mit den an ihnen beteiligten Akteuren behandeln, beileibe nicht vollständig, denn John Flood hat zuletzt 1335 Poeten gezählt 7, sondern vornehmlich mit drei zeitlichen Fenstern, die sich erstens zu Beginn des 16.Jahrhunderts, zweitens zu Ende des 16.Jahrhunderts sowie drittens zu Beginn des 18.Jahrhunderts öffnen. Durch diese Fenster sollen Blicke auf die Aktualisierungen, situativen Anpassungen des Rituals ermöglicht werden, die insbesondere auch die Frage nach der Expertenrolle des Dichters und der sozialen Gruppe, zu der er zu zählen ist, betreffen. Vergleichend beziehe ich mich dabei auf die französische Situation. Vorangestellt ist aber ein weiterer Blick auf die Dichterkrönung Petrarcas, die ja keine kaiserliche, sondern eine römische war. Mit ihr möchte ich beginnen, da dies die einzige Dichterkrönung ist, die zu jeder Zeit immer neu gedeutet und bei neuen Krönungen als Referenz in Anspruch genommen wurde. In ihr werden die verschiedenen Phasen der Dichterkrönung und auch die Probleme sichtbar, die sich durch die verschiedenen kulturellen Referenzen, auf die die Gestaltung des Rituals aufgebaut wird, ergeben. Sie wird hier also nicht als Kritik am Experten, sondern als eine eigenständige Konstruktion einer Expertenfigur gelesen. 8 Ähnlich wie Celtis versucht Petrarca, die Kontrolle über die Darstellung der Krönung, die wahrscheinlich am 9.April, dem Ostermontag 1341, stattgefunden hat, zu behalten. 9 Man könnte diese Versuche der Kontrolle unter die Überschrift stellen:
6 Vgl. dazu Bourdieu, Les rites (wie Anm.4), 208. 7 John L. Flood, Poets Laureate in the Holy Roman Empire. A Bio-Bibliographical Handbook. 4 Vols. Berlin /New York 2006. Das Handbuch bietet nicht nur eine alphabetische Übersicht aller kaiserlich gekrönten Dichter mit dem Versuch, zweifelhafte Dichterkrönungen auszusortieren, sondern auch eine weitgespannte Einleitung mit detailliertem historischem Überblick (The Laureation of Poets in the Holy Roman Empire, xlvii–cclv). 8 Für die erste Sichtweise vgl. Matthias Roick, Der Fahnenflüchtige lässt sich krönen. Petrarca und die Anfänge der humanistischen Kritik am Experten, in: Björn Reich/Frank Rexroth/Matthias Roick(Hrsg.) Wissen maßgeschneidert. Expertenkulturen im Europa der Vormoderne. (Historische Zeitschrift, Beihefte, Neue Folge, Bd. 57.) München 2012, 45–82, passim. 9 Ich greife hier auf eigene frühere Überlegungen zurück: Albert Schirrmeister, Petrarcas Dichterkrönung:
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„Es kann nur einen geben“. Der Verlauf wird von ihm in seinen „Familiares“ derart geschildert, dass er wunderbarerweise an ein und demselben Tag eine Einladung zur Dichterkrönung zuerst vom römischen Senat und dann vom Kanzler der Universität Paris, seinem Freund Roberto de’ Bardi, erhalten habe. 10 An der Wegkreuzung zwischen, wie Petrarca es in einem anderen Brief (Fam. IV, 6, 5 an Giacomo de Colonna) am präzisesten schreibt, Paris als der Mutter der Studien und Rom als Hauptstadt der Welt und Königin der Städte sei die Anwesenheit König Roberts von Neapel in Italien ausschlaggebend gewesen, sich gegen die Universität zu entscheiden. Also sei er in Avignon am 15.Februar aufgebrochen, um nach einem Examen bei König Robert in Neapel sich in Rom auf dem Kapitol zum Dichter krönen zu lassen – so beschreibt er es in einem Brief an Giacomo de Colonna, den Bischof von Lombez bei Toulouse und seinen Mäzen (Fam. IV, 6). Zwischen diesem und den folgenden beiden Briefen vom 30.April an König Robert und seinen Sekretär Barbato da Sulmona soll dann die Krönung stattgefunden haben. Dieser siebte und achte Brief bieten in der zeitlichen Folge bereits den Nachhall des Ereignisses, das selbst damit ausgespart bleibt. In Neapel wurde Petrarca, wie er „Rerum memorandum libri“ I, 37 berichtet, dem Examen der Krönungswürdigkeit durch Robert unterzogen. Diese „rites de mise à l’épreuve“ in der präliminalen Phase werden in den auktorial geformten Briefen, die zur Stabilisierung der neugewonnenen Identität des gekrönten Dichters gehören, vorgeführt. Der Dankesbrief an König Robert benennt in seinem Titel die selbstgestellten Aufgaben des „poeta laureatus“: „Ad Robertum regem siculum, de laurea sua et contra laudatores veterum semper presentia contemnentes.“ 11 Nicht das Lob der Alten, sondern das des gegenwärtigen Königs, dem er seinen Dank für die Gunsterweise und wenigstens mittelbar auch für die Dichterkrönung ausspricht, will Petrarca verbreiten. Entscheidend ist für den weiteren Gebrauch der Dichterkrönung, dass sich Pe-
Das Verschwinden des Ereignisses in seiner Erzählung, in: Ulrike Auhagen/Stefan Faller/Florian Hurka (Hrsg.), Petrarca und die römische Antike. (NeoLatina, 9.) Tübingen 2005, 219–232; dort finden sich ausführlichere Zitate und vor allem Hinweise auf die grundlegenden Forschungen zur Krönung Petrarcas. 10 Francesco Petrarca, Le familiari. Familiares IV. Edizione critica per cura di Vittorio Rossi. (Edizione nazionale delle opere di Francesco Petrarca, 10–13.) Florenz 1933–1942, Vol.1, 4: Ad Johannem de Columna Romane Ecclesie cardinalem, consultatio super loco percipiende lauree, hier vor allem Satz 1. 11 Ebd.7: An König Robert von Sizilien über seine Krönung und gegen diejenigen, die die Alten loben und die Zeitgenossen verachten.
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trarca nicht alleine für eine Verweigerung des universitären Grades entschieden hat. Er hat, wie Dieter Mertens gezeigt hat, sowohl eine akademische Rede zu seiner Dichterkrönung gehalten als auch im Privileg eine akademische Graduierungsurkunde nachgebildet und überschrieben. 12 Der Sinn dieser Überschreibung ist deutlich: Er soll den Wert wahrer Bildung und den Ort einer tatsächlich wertvollen Auszeichnung eines gekrönten Dichters im Kontrast verdeutlichen. Allerdings handelt sich Petrarca zugleich ein für ihn substantielles Problem ein: Privileg und Rede sind als akademische und herrscherliche Gewohnheiten auf Wiederholung angelegt. Ein Diplom kann, auch wenn es von einer Herrscherperson an eine einzige Person ausgestellt wurde, von der herrscherlichen Institution immer wieder verwendet werden und erneut anderen Personen ausgestellt werden. Eine Rede akademischer Art kann ebenso erneut von einer anderen Person vorgetragen werden, eine Graduierung ist ein institutioneller Akt. Der Dichter dagegen, der schon in der Form der Ehrung dem König gleich ist – denn beide können einen Lorbeerkranz erhalten – 13, sollte ihm so auch in seiner Einzigartigkeit gleich werden. 14 Es ist also tatsächlich ganz passend, wenn in dem Band des Heidelberger SFB 619 „Ritualdynamik“, der Herrschaftsritualen gewidmet ist, auch ein Beitrag zur Dichterkrönung des Petrarca zu finden ist. Dort wird die Dichterkrönung als Ritualerfindung gedeutet, die es Petrarca erlaubt habe, seine Unterwerfung unter die königliche Macht als Triumph umzudeuten und den „poeta laureatus“ sowohl als kulturpolitischen Fürstenberater als auch als poetischen Eremiten zu etablieren. Marion Steinicke argumentiert, dies sei Petrarca wenigstens fiktiv gelungen, in dem er fingiert habe, ein altehrwürdiges Ritual in seine Gegenwart zu
12
Vgl. Dieter Mertens, Petrarcas ,Privilegium laureationis‘, in: Michael Borgolte/Herrad Spilling (Hrsg.),
Litterae Medii Aevi. Festschrift für Johanne Autenrieth zu ihrem 65. Geburtstag. Sigmaringen 1988, 225– 247. 13
Vgl. neben vielen anderen möglichen Belegen in der Krönungsrede Kap 11, 1 in der Edition von Carlo
Godi, La „Collatio laureationis“ del Petrarca nelle due redazioni, in: Studi petrarcheschi N. S. 5, 1988, 1–58, hier 47 f: „Laurea igitur, et Cesaribus et poetis debita est.“ 14
So in Petrarca, Familiares IV (wie Anm.10), 2, 11: Ein König im emphatischen Sinne ist eine Seltenheit
und wird erst durch sittliches Königtum erreicht. Deshalb bedeutet die Krönung Zanobi da Stradas durch Karl IV. nicht nur den Skandal einer Krönung außerhalb Roms und durch einen Deutschen als Kaiser, sondern weil in der Krönung eine erste Wiederholung des Einzigartigen zum Ereignis wurde. Vgl. mit den notwendigen Hinweisen zu Zanobis Krönung Dieter Mertens, „Bebelius ... patriam Sueviam ... restituit“. Der poeta laureatus zwischen Reich und Territorium, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 42, 1983, 145–173, hier 153f.
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transferieren. 15 Allerdings ist damit, wie gezeigt, nur die Hälfte gesehen. Für das Weiterleben des Rituals und seine Fortentwicklung ist aber gerade die Kombination aus der kulturellen Referenz „Antike“ und der sozialen Referenz der universitären Diplome entscheidend. Aus ihr entsteht die bleibende Doppelgesichtigkeit dieser Dichter, die als Experten des Ruhms und damit einer entscheidenden Kategorie der aristokratisch-monarchischen politischen Kultur der Vormoderne ein Diplom erhalten, das der universitären Gelehrtenkultur entstammt.
II. Ohne Folgen: Gekrönte Dichter in Frankreich Das von Petrarca beabsichtigte Überschreiben der akademischen Referenz setzt sich in der Form des Rituals nicht durch, das zeigen sogar die beiden offenbar einzigen Dichterkrönungen, die französische Könige vorgenommen haben und der in der römischen Akademie des Pomponius Laetus gekrönte Faustus Andrelinus, der in Paris akademisch wirkte und seinen Titel als „poeta laureatus“ führte. 16 Es ist sicherlich kein Zufall, dass die beiden Dichter, die König Ludwig XII. und König Franz I. krönten, Italiener waren und die Krönung durch Ludwig XII. in Italien stattfand: Hier sind die kaiserlichen Dichterkrönungen, die Friedrich III. und zuvor Sigismund vorgenommen haben, sowie die Krönungen der römischen Akademie des Pomponius Laetus präsent. 17 Ludwig XII. hat 1507 Quintianus Stoa Conti sogar in Mailand gekrönt, um ihn, wie es explizit in der Krönungsurkunde heißt, für seine Dichtung über die italienischen Feldzüge des französischen Königs zu belohnen (angesichts des bescheidenen Erfolgs dürfte das auch nötig gewesen sein). 18 Er spricht ihm aber
15 Marion Steinicke, Dichterkrönung und Fiktion. Petrarcas Ritualerfindung als poetischer Selbstentwurf, in: dies./Stefan Weinfurter (Hrsg.), Investitur- und Krönungsrituale. Herrschaftseinsetzungen im kulturellen Vergleich. Köln u.a. 2005, 427–446, hier 445f.: „Der Triumph des Dichters, der mit der Lorbeerkrönung inauguriert werden sollte, meint dezidiert den poeta doctus in seiner Doppelfunktion: einerseits als homo politicus, der als kulturpolitischer (Fürsten-)Berater oder revolutionärer Propagandist Einfluß nimmt, andererseits als auratischer Dichter, als poetischer Eremit, der durch Triebverzicht und Arbeit ewigen Ruhm erlangt. Beide Vorstellungen koinzidieren in der triumphalen Dichterkrönung, die durch den fingierten Transfer eines altehrwürdigen Rituals legitimiert wird.“ 16 Vgl. Godelieve Tournoy-Thoen, Fausto Andrelini et la cour de France, in: L’Humanisme français au début de la Renaissance. (De Pétrarque à Descartes, 29.) Paris 1973, 65–79. 17 Vgl. hierzu Flood, Poets Laureate (wie Anm.7), lxxiii–lxxxii. 18 Vincenzo Lancetti, Memorie intorno ai poeti laureati d’ogni tempo e d’ogni nazione. Mailand 1839, 292–
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gleichzeitig, wie es bei anderen gekrönten Dichtern üblich sei, das Recht zu, öffentlich und privat zu lehren. Ebenso wie der 1533 von König Franz I. im Rahmen der Hochzeit des späteren Königs Heinrich II. mit Caterina de’ Medici in Marseille gekrönte Paolo Belmisseri 19 verbringt auch Conti einige Zeit in Paris. Ebenso wie später Belmisseri lehrt Conti dort um 1512 in einem allerdings nicht eindeutig zu bestimmenden Rahmen – Belmisseri dürfte wohl zu den „lecteurs royaux“ gehört haben, er hat in Paris offenbar über Aristoteles’ „De anima“ gelesen. 20 Belmisseri ist es auch, der seine Dichterkrönung in einer Sammlung seiner „Opera poetica“ öffentlich macht und als Titelblatt einen Schnitt wählt, der die Dichterkrönung als eine Ehrung unter Gleichen darstellt: Der König krönt den Dichter, während der Papst freundschaftlich seinen Arm um ihn legt (Abb.1). 21 In dieser Szene manifestiert sich der bei Petrarcas Interpretation der Dichterkrönung bereits angelegte Versuch, über den Status des eingesetzten Experten hinauszugehen und sich als „Intellektueller“ eigenen Rechts darzustellen. 22 Durchgesetzt hat sich die Dichterkrönung in Frankreich allerdings nicht – es fehlte an stabilisierenden Momenten, um das Ritual tatsächlich zu einer Standesverbesserung und dadurch attraktiven Auszeichnung für die Dichter werden zu lassen. Außer einer herausragenden literarischen Qualität kann hier auf die zu kleine Zahl verwiesen werden: Nicht zuletzt sind es lediglich die genannten drei „poetae laure-
298, 294–297 die Krönungsurkunde; Stoa wird als Rhetorik- und Griechischprofessor an der Universität Pavia bezeichnet. Zur Dichterkrönung gehört: „Ad invictissimum christianissimumque Ludovicum XII Galliarum regem Quntiani [sic] Stoae Elegia cui titulus est Paraclesis, qua hortatur ne adversam extimescat fortunam immo augustius perseveret“ (Paris u.a. 1512). Gedruckt lassen sich außerdem Werke zur Silbenquantität, ein Trauergedicht zum Tod der Königin Anna von Frankreich, Herzogin der Bretagne, sowie eine Sammlung „Christiana Opera“ (Paris 1514) nachweisen. 19
Dazu in Paolo Belmisseri, Elegiae tres exhortatoriae ad bellum adversus Turcas. O. O. o .J. [1533]: Epi-
thalamium in nuptiis Henrici, filii Christianissimi Gallorum Regis Francisci, celebratis Massiliae, anno Domini 1533. 20
So ist es jedenfalls seinen eigenen gedruckten Werken zu entnehmen: Paolo Belmisseri, [Opera poetica.]
O. O. o.J. [Paris 1534], fol.70v: „Elegia sexta scholasticis Septuaginta Collegiorum Parisiis pro lectione librorum Aristotelis de anima.“ 21
Ebd.Titelseite sowie wiederholt fol.108v.
22
Vgl. zu dieser Einschätzung der Dichterkrönung Albert Schirrmeister, Triumph des Dichters. Gekrönte
Intellektuelle im 16.Jahrhundert. (Frühneuzeitstudien, Neue Folge, 4.) Köln/Weimar/Wien 2003, bes. 271 f.; sowie ders., Wann können Humanisten Intellektuelle sein? Überlegungen anhand dreier Beispiele, in: Rainer Bayreuther (Hrsg.), Kritik in der Frühen Neuzeit. Intellektuelle avant la lettre. (Wolfenbütteler Forschungen, 125.) Wiesbaden 2011, 103–133, hier bes. 126f., 132.
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Abb.1: Paolo Belmisseri, Opera poetica, Titelblatt.
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ati“, die in Paris als solche lehren – sieht man vom kaiserlich gekrönten Heinrich Glarean ab, der 1517–1522 als Stipendiat des französischen Königs in Paris lehrte, aber keine panegyrischen, herrschaftsrelevanten Dichtungen für Franz I. schrieb. 23 In welcher Weise konnte dagegen im deutschen Kontext die Auszeichnung stabilisiert werden?
III. Performanz und Akademisierung: Celtis, das Poetenkolleg und die Folgen Conrad Celtis, der ebenso viel Wert wie Petrarca darauf legte, dem Herrscher gleichberechtigt gegenüberzutreten, hat strategisch dafür gesorgt, die Verbindung von herrschaftlichem Dienst und akademischer Ehrung als konstitutiv für die Dichterkrönung festzuschreiben, wodurch sie tatsächlich zu einem „rite de passage“ werden konnte. Diese Verbindung erfolgte durch mehrere performative Elemente. Das eingangs erwähnte Horoskop findet sich als Abschluss eines Krönungsdruckes, wie er mit der Krönung des Celtis für die weiteren Dichterkrönungen geradezu zum notwendigen Bestandteil wurde. In diesem findet die ganze Sequenz der Zeremonien einen vorläufigen Abschluss: Er fasst alle Elemente zusammen, auf die es Celtis zu diesem Zeitpunkt ankam, und bildet den zeitlichen Verlauf der Krönung in sich ab. Sie wird wieder erfahrbar, bis hin zur Verwendung einer Schmuckinitiale, die den Krönungsvorgang selber zeigt. 24 Angesichts der performativen Qualität des Druckes lohnt es sich, die einzelnen Bestandteile chronologisch (in mehrfachem Sinn: als Wiedergabe der Krönung und in der Reihenfolge des Druckes) durchzugehen 25: Bereits im Titel „Proseuticum“ beginnt die poetische Bezugnahme auf Horaz, wie Wilfried Stroh zuletzt betont hat,
23
Vgl. zu ihm als Übersicht ders., Glarean, Heinrich, in: Wilhelm Kühlmann/Jan-Dirk Müller/Michael
Schilling u.a. (Hrsg.), Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. Bd. 3. Berlin/Boston 2014, 1–13. 24
Celtis, Proseuticum (wie Anm.1), unpaginiert fol.[a 3]r; online unter: http://daten.digitale-sammlun-
gen.de/~db/0002/bsb00026493/image_6 (25.2.2014). 25
Zum Folgenden als Übersicht und Zusammenfassung Jörg Robert, Celtis, Konrad, in: Franz J. Werst-
brock (Hrsg.), Verfasserlexikon – Deutscher Humanismus 1480–1520. Bd. 1. Berlin/Boston 2009, 378–427, hier 414; sowie Wilfried Stroh, Horaz und das Proseuticum des Celtis, in: Ulrike Auhagen/Eckard Lefèvre/ Eckart Schäfer (Hrsg.), Horaz und Celtis. (NeoLatina, 1.) Tübingen 2000, 87–119.
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wie auch die Zusammenstellung der verschiedenen Gedichte mit ihren verschiedenen Versmaßen die dichterischen Fähigkeiten hervorhebt. 26 Horaz wird so nicht allein als „geistiges Vorbild“ etabliert, der immer mitzuhören sei, wie Ulrike Auhagen zurückhaltend formuliert 27, sondern auch als soziales Vorbild für einen Dichterfürsten. Auf eine Widmungsvorrede an Herzog Georg von Sachsen folgt eine sapphische Ode des italienischen Humanisten Fridianus Pighinucius an Celtis, in der er die „begünstigte Nativität sowie die Macht seiner Verse“ 28 anpreist. Zwei Voraussetzungen, um die Schwelle des Rituals zu überschreiten, sind in diesen beiden Bestandteilen präsent: Der Vermittler der Krönung im Feld der Macht ist angesprochen, und die Anerkennung durch einen Dichter, der seine poetischen Qualitäten wertschätzt, wird dokumentiert. Darauf folgt, eingeleitet durch einen kurzen Brief an den Kaiser, eine Elegie, mit der Celtis um den apollinischen Lorbeer bittet. Celtis lehnt sich im Versmaß und in der Aussage an das Eröffnungsgedicht von Horaz’ Oden an, um, wie Jörg Robert konstatiert, die Symbiose von Dichter und Fürst zu feiern. Auf zwei Dinge zielten die Dichtungen deshalb, so Robert: Einerseits auf formaler Ebene „die Beherrschung horazischer Strophenformen und Odentöne“, andererseits auf inhaltlicher Ebene „die Herrschaft Friedrichs III. als epochale Wiederkehr einer goldenen Zeit“ 29 – der, so wäre Robert mit Auhagen zu ergänzen, der Dichter Celtis gerecht wird. Die Beherrschung der literarischen Techniken sowie der panegyrischen Themen sind Elemente, die den Dichter im Moment der Prüfung zeigen
26 Ebd.89: Der Titel stamme aus Gedicht-Überschriften der Horaz-Überlieferung, ungefähr „Gebetshymnus“; Der Anteil der Texte des Celtis besteht aus Prosa, einer Elegie, einer asklepiadeischen Ode, einer sapphischen Ode, einer Epode und einer Kurzelegie. 27 Ulrike Auhagen, Konrad Celtis, ein neuer Horaz. Die zwei Fassungen der Ode 1,1, in: dies./Lefèvre/Schäfer (Hrsg.), Horaz und Celtis (wie Anm.25), 55–66, hier 56 f: Horaz könne auch in der strukturellen Entsprechung als geistiges Vorbild immer mitgehört werden: Friedrich ist zugleich Maecenas und Augustus. Deutlicher in diese Richtung formuliert Auhagen, ebd.60: „Die Ode ist auf den ersten Blick vor allem eine Lobeshymne auf die Macht und den Glanz Kaiser Friedrichs. Sie ist aber noch mehr: Das ganze Gedicht ist auf die letzten acht Verse hinkomponiert; es ist eine Klimax: Neben dem Glanz Friedrichs strahlt noch jemand: Celtis, der Literatur-Rex, Celtis, der neue Horaz. Zur Macht gehört auch das öffentliche Besingen der Macht. Dazu wird einzig Celtis in der Lage sein, wie er selbstbewußt sagt.“ Als bedeutsam werden insbesondere die Veränderungen der zweiten Fassung (ebd.64f.) aufgefasst, in der die Zuschreibung auf Friedrich verunklärt wird und eine Anwendung auf Maximilian möglich wird. 28 Fridiani Pghinucii itali oratoris et poete Ernesti Perthenopolitani archipresulis ad Conradum Celtis Ode paranetice, in: Celtis, Proseuticum (wie Anm.1), unpaginiert Fol. [a]v–[a ii]v: also nicht an Pighnucius, wie Robert, Celtis (wie Anm.25), 414, missverständlich schreibt, sondern von diesem. 29 Robert, Celtis (wie Anm.25), 414.
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(also beim „rite de mise à l’épreuve“). Deshalb sind es Gedichte unterschiedlicher Versmaße, die Celtis an den Kaiser für die Lorbeerkrönung richtet: Auf ein „Elegiacum proseuticum pro laurea Apollinari“ folgen die „Ode Monocolos tetrametros Choriambicos“ und eine sapphische Ode. Am Schluss des Druckes, vor dem Horoskop, steht unter der Überschrift „gratiarum actio“ eine Seite mit Dank- und Preisepigrammen an den Kaiser, an den Kurfürsten Friedrich, an Johann Schrenck und an den kaiserlichen Astronomen Johannes Canter 30: Erst hier gebraucht Celtis innerhalb des Bandes den Titel des „poeta laureatus“, im Verlauf der Lektüre wird der Leser also zum Zeugen der Dichterwerdung des Conrad Celtis. Poetisch findet die Dichterkrönung ihren Platz zwischen den letzten beiden Strophen der sapphischen Ode, wo es heißt: „Kaiser, gedenkenswert in alle Zukunft, winde mir die Kränze des laubreichen Lorbeers und / Schmücke mit delphischen Ehrenzeichen den Seher, / herb in seinem Gedicht. Die Muse kann dann in der weiten Welt den Kaiser mit lieblichem Plektron erklingen lassen, / auf tönenden Saiten die langen Jahre des Kaisers / kräftig begleiten.“ 31
Das „dann“ („tunc“) sagt es: An dieser Stelle wird in der Krönung der Dichter. Der performative Charakter des Druckes ist noch durch eine weitere konsequente Übernahme der Form der Dichterkrönung präsent: Wilfried Stroh hat darauf aufmerksam gemacht, dass Celtis bei seinen Krönungsoden systematisch gegen die pro-
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Celtis, Proseuticum (wie Anm.1), unpaginiert Fol. [a vi]r: „Ad imperatorem Fridericum tercium Conra-
di Celtis poete laureati gratiarum actio post impositionem poetice crinalis; Ad Fridericum ducem Saxonie Electorem; Ad doctorem Schrenck ducalem senatorem; Ad astrologum imperialem.“ Genau genommen ist „gratiarum actio“ also allein die Überschrift des Gedichtes an den Kaiser, die aber in der Seitengestaltung besonders abgehoben ist und inhaltlich auch die anderen Gedichte trifft. 31
Celtis, Proseuticum (wie Anm.1), unpaginiert Fol. [a iv]r–[a v]r: Ode sapphica hendecasyllaba dicolos te-
trastrophos Conradi Celtis prosphonetice et symbuleutice, ad Fridericum Tertium Invictissimum. Übersetzung von Eckart Schäfer in: Conrad Celtis, Oden, Epoden, Jahrhundertlied. Libri odarum quattuor, cum Epodo et Saeculari Carmine. Hrsg. v. Eckart Schäfer. (NeoLatina, 16.) Tübingen 2008, 22–27, hier 27; vgl. Stroh, Horaz (wie Anm.25), 97–100: Text und Übersetzung der Sapphischen Ode, Verse 69–76: „Cesar eterno memorandus euo / Necte frondosi mihi serta lauri / Delphico signo rigidum decorans / Carmine vatem / Musa tunc vastum poterit per orbem / Cesarem blandis resonare plectris / Perstrepens longos fidibus canoris / Cesaris annos“ („Caesar, den man in Ewigkeit singen muß, winde mir den Kranz vom Laube des Lorbeers, / indem du mit Delphis Zeichen den Dichter schmückst, / dessen Lied noch rauh ist. Dann wird meine Muse überall in der weiten Welt mit lieblichem Leierspiel von Caesar / klingen können; und durch all die langen Lebensjahre Caesars hindurch wird sie / melodisch ihre Saiten tönen lassen.“).
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sodischen Regeln verstoßen hat, um die Gedichte den Hörern besser verständlich zu machen. Dichtung wurde auf diese Weise auch für unkundige Hörer erlebbar. Stroh spricht von einer geradezu konsequenten Missachtung der Silbenquantität in der sapphischen Ode, „die zu so barbarischen Längungen wie imperii, duces, Rapiens, usw. führt, und nicht mehr als ein durch Nachlässigkeit entstandenes Versehen erklärt werden kann“. 32 Dass Celtis diese Verstöße auch nicht im Druck bereinigt hat, obwohl sie ihm, dem Autor einer Dichtungslehre, als solche bewusst sein mussten, kann m.E. für den bewussten performativen Charakter des Drucks in Anspruch genommen werden. Blickt man bei Celtis aber noch ein Stück weiter, dann fallen, immer noch auf der individuellen Ebene, die Strukturierung und die Datierung seiner Briefsammlung auf: Eröffnet wird sie von einer Abschrift der Dichterkrönungsurkunde – diese ist allerdings nun ganz im Gegensatz zur übergroßen Genauigkeit des „Proseuticums“ gar nicht mehr datiert. Die Briefsammlung selber ist nach Jahren des Lorbeers geordnet, die Briefe setzen aber nicht mit 1487, sondern mit dem Jahr 1491 ein. 1491 aber ist das Jahr, in dem Celtis als Poetikdozent an der Universität Ingolstadt zu lehren beginnt, wo er im darauffolgenden Jahr seine programmatische Rede hält, die die Aufgabe der Dichter bestimmt und darauf beharrt, dass die Dichterkrönung als ein kaiserliches Recht den Deutschen vorbehalten werden solle. Celtis moniert 1492, dass Pomponius Laetus und seine römische Akademie seit 1484 auch Dichter krönen dürfen. 33 Im Sinne eines „rite de passage“ müsste man diese Lehrtätigkeit wohl als „rite d’agrégation“ ansehen, vor allem, das hat Eckart Schäfer hervorgehoben, weil mit den zehn Lorbeerjahren, die das Briefbuch von 1491 zählt, genau die Gründung des Collegium poetarum et mathematicorum in Wien erreicht wird. 34 In dessen Rahmen wurden poetisch-panegyrische Festspiele für Kaiser Maximilian abgehalten und als dessen Studienabschluss war eine Krönung zum Dichter vorgesehen: Die Krönung wurde also institutionalisiert, die maximilianeische Auffassung des Dich-
32 Stroh, Horaz (wie Anm.25), 106. 33 Conrad Celtis, Oratio in gymnasio in Ingelstadio publice recitata [1492], in: Joachim Gruber (Hrsg.), Conradi Celtis Protucii Panegyris ad duces Bavariae. Mit Einleitung, Übersetzung und Kommentar. (Gratia, 41.) Wiesbaden 2003, IV, 5, 16 f, 24; Vgl. dazu Godelieve Tournoy-Thoen, La laurea del 1484 all’Accademia romana. Bulletin de l’Institut historique Belge de Rome 42, 1972, 211–235. 34 Eckart Schäfer, Nachlese zur Odenedition des Conradus Celtis, in: Auhagen/Lefèvre/Schäfer (Hrsg.), Horaz und Celtis (wie Anm.25), 227–259, hier 230.
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ters als Ruhmesexperte festgeschrieben. Zur Bekräftigung der akademischen Qualität erhielt das Kolleg auch eigene, akademische Insignien wie Ring, Zepter, Hut und Siegel, deren Existenz wiederum in einem eigenen Druck des Celtis publik gemacht wurde 35 – erhalten ist noch die sogenannte „Celtis-Kiste“, die nicht allein nach dem Tod des Gründers zur Aufbewahrung der Insignien diente, sondern selber in ihrer (zumindest auf Dürer zurückgehenden) Gestaltung ihre Bedeutung und die dichterische Würde akzentuiert. 36 Mit dem Collegium ist also eine deutliche Verfestigung der Verbindung von politischem und akademischem Feld vollzogen. Auch außerhalb des Wiener Poetenkollegs verfestigen sich die Formen und die mit einer Dichterkrönung verbundenen Elemente. Die Formulierungen der Urkunde sind in den meisten Fällen nahezu gleich, wichtig ist die Verbindung der politischen Ehrung mit den akademischen Würdenzeichen. 37 Deshalb heißt es immer wieder, dass es die Fähigkeiten der Dichter im Dienste der Res publica und des Ruhmes des Monarchen sind, die den Kaiser zur Verleihung des Lorbeers veranlasst hätten und dass der Poet, dem als Zeichen seiner Würde auch ein Ring verliehen wird, als „in den Disziplinen Poetik und Rhetorik in ausreichendem Maße gelehrten und verdienten Mann die Berechtigung und die Befugtheit erhielte, in den obengenannten Disziplinen als Verfasser und Herausgeber aufzutreten, Vorlesungen zu halten, zu lehren, einen Lehrstuhl anzunehmen“. 38 Auf Dauer allerdings verfestigen sich auf diese Weise in der sich differenzierenden Gesellschaft die Probleme, die in einer gleichzeitigen Zuerkennung von Meisterschaft auf der Ebene des „Auctor“ und des „Lector“ liegen. 39 Es stellte sich einer35
Conrad Celtis, In hoc libello continentur. Divo Maximiliano Augusto Chunradi Celtis rhapsodia. Lau-
des et Victoria de Boemannis per septem Electores et Regem. Augsburg 1505, am Schluss des Druckes; Abb. z.B. bei Schirrmeister, Triumph (wie Anm.22), Abb.14. 36
„Celtis-Kiste“, Archiv der Universität Wien, Inv.-Nr.n4,1, online unter: http://www.habsburger.net/
de/medien/celtis-kiste-1508?language=de (25.2.2014); detaillierte Beschreibung der Inschriften: Franz Gall, Die Celtistruhe, in: Kulturreferat des Landes Tirol (Hrsg.), Ausstellung Maximilian I. Innsbruck. Katalog der Ausstellung vom 1.Juni bis 15.Oktober 1969. Innsbruck 1969, Objekt-Nr.382, 101. 37
Urkundentranskriptionen bei Schirrmeister, Triumph (wie Anm.22), 273ff., Anhang (Th. Reysmann
1533; Christoph Aulaeus 1548); sowie Karl A. Enenkel, Kulturoptimismus und Kulturpessimismus in der Renaissance. (Frühneuzeit Studien, 3.) Frankfurt am Main 1995, 69–71. 38
Diese Formulierungen aus der Urkunde Jacob Canters, des Bruders des kaiserlichen Astronomen, aus-
gefertigt 1494 in Antwerpen (Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien RR X, 1, fol.10v); in der Übersetzung von ebd.69–71. 39
Vgl. hierzu Schirrmeister, Triumph (wie Anm.22), 206 zu Nikolaus Mameranus, gekrönt 1555, der 1560
lorbeerbekränzt eine Vorlesung halten möchte.
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seits die Frage, ob in beiden Rollen in ein und demselben Akt eine gleichzeitige Meisterschaft zuerkannt werden konnte und andererseits, ob die Zuerkennung der beiden Meisterschaften von ein- und derselben Person, und zwar aus kaiserlicher Macht erfolgen konnte. Zur Verschärfung dieser Probleme trug bei, dass die zunächst nur wenig genutzte Möglichkeit, das kaiserliche Recht zu delegieren, verstärkt als vermittelte Herrschaftsausübung an die Hofpfalzgrafen weitergegeben wurde. Das kaiserliche Hofpfalzgrafenprivileg wurde in unterschiedlichen Formen, als großes, vererbbares, als kleines und als institutionelles Privileg (z.B. an Universitäten) vergeben. Zu den immer enthaltenen Rechten gehören die Ernennung von Notaren, die Abstammungslegitimierungen und eben die Dichterkrönung. 40 Die Dichterkrönung wurde als ständische Verbesserung fest in die gesellschaftliche Ordnung des Reiches integriert. Die Kombination dieser sozialen Anerkennung mit der kulturellen, professionellen Anerkennung einer Meisterschaft sollte durch die Übertragung der Hofpfalzgrafenrechte an Universitäten gesichert werden. Da sich aber die Figur des „Lector“ und die des „Auctor“ auseinanderentwickelten, wurden die grundlegenden Probleme der Dichterkrönung damit nur unvollkommen behoben.
IV. Dichter als Experten der frühneuzeitlichen Medienkultur Zwei Fälle zeigen im Folgenden kulturell-soziale Möglichkeiten und Konfliktlinien, die um die Wende des 16. zum 17.Jahrhundert die Dichterkrönung als Auszeichnung und die Figur des gekrönten Dichters prägen. Es sind kaum zufällig mit der Krönung des Johann Paul Crusius in Straßburg und mit dem Konflikt um den gekrönten Dichter Salomon Frenzel in Helmstedt zwei Fälle, die sich in regionalen kulturellen Zentren 41 des Reichs ereignen. Der Krönungsdruck als publizistische Repräsentation der Dichterkrönung, dem
40 Zu der Figur des Hofpfalzgrafen existiert kaum analytische Forschung; positivistische Grundlagen sind gelegt bei: Jürgen Arndt, Hofpfalzgrafen-Register. 3 Bde. Neustadt an der Aisch 1964–1988, dort insbes. Bd. 1, V–XXIV: Zur Entwicklung des kaiserlichen Hofpfalzgrafenamtes von 1355–1806. 41 Zum Begriff vgl. Claudius Sittig, Kulturelle Zentren der Frühen Neuzeit, in: Wolfgang Adam/Siegrid Westphal (Hrsg.), Handbuch kultureller Zentren der Frühen Neuzeit. Städte und Residenzen im alten deutschen Sprachraum. Berlin 2012, XXXI–LV, hier insbes. XXXIII ff. zur spezifischen Polyzentralität des Reiches; zur „Kultur vor Ort“ XXXIX f.
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„rite d’agrégation“, hat in Straßburg 1616 ein gänzlich anderes Gesicht als bei Conrad Celtis. „Daphnis seu actus Caesareus“ nennt als Titel die beiden wichtigsten Bezugssysteme: Die antik-mythologische Beglaubigung des kulturellen Status des Dichters in der Nachfolge des Apoll und die ständische Bedeutung als kaiserliche Handlung. Zuerst und deutlich mit größter Schriftgröße wird der Spender der Auszeichnung genannt, der Jurist und Hofpfalzgraf Johann Thomas Obrecht, Sohn des (berühmteren) Juristen Georg Obrecht, dann erst etwas kleiner Johann Paul Crusius 42, Magister der Artes liberales, dem in einer feierlichen Zeremonie am 23.Dezember 1615 der Lorbeer verliehen wurde. Die Formulierungen heben zudem besonders hervor, dass die Lorbeerkrönung in der Straßburger Hochschule und unter Anwesenheit zahlreicher Straßburger Honoratioren (Adliger, Gelehrter und Bürger) vollzogen worden ist. 43 Die Gewichtung des Titelblatts setzt sich in der Zusammensetzung des Bandes fort: Der einleitende Brief rekapituliert mit Datum vom 1.März 1616 nicht allein die Krönung selber, sondern setzt sie in einen größeren Kontext, der vor allem Obrechts Rolle und soziale Position inszeniert. Gerichtet ist der Brief an drei hochrangige kaiserliche Diener, die als Zeugen seiner eigenen Erhebung in den Pfalzgrafenstand durch Kaiser Rudolf II., der „cooptatio in illustre comitum palatinorum collegium“, angesprochen werden. 44 Obrecht benennt anlässlich seiner ersten nun durchgeführten Dichterkrönung alle mit dem Pfalzgrafenpatent verbundenen Rechte, bevor
42
Vgl. zu ihm Wilhelm Kühlmann, Johann Paul Crusius, in: ders. (Hrsg.), Killy-Literaturlexikon. Autoren
und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. Bd. 2. 2.Aufl. Berlin u.a. 2008, 513. 43
In diesem Fall ist die genaue Wiedergabe des Titelblatts aussagekräftig, da es die soziale, kulturelle,
zeitliche und räumliche Einordnung des Aktes und der beiden wichtigsten beteiligten Personen leistet: [Johann P. Crusius/Johann T.Obrecht,] DAPHNIS seu ACTUS CAESAREUS Sacratißima Scaratißima CAESAREAE MAIESTATIS Authoritate A IOHANNE THOMA OBRECHTO JURECONSULTO ARGENTORAtense, Sacri Lateranensis Palatij, Aulaeque Caesareae, & Imperialis Consistorij Comite, &c. in Inclyta Academia Patria publico applausu in Acroasi celebratus: QVO JOHANNI PAVLO CRVSIO ARGENTORATENSI LIBERALIVM Artium Magistro in Illustrißima atque Frequentißima Comitum, Baronum, Patrum Patriae, Epherorum Academicorum, Doctorum, Magistrorum, Studiosorum, et Civium honoratiorum Praesentia Antiquissimum illud, dignissimum, & nunquam emoriturum Poetarum Praemium CORONA LAVREA Est Decreta, eiusquam Capiti Solenni Ritu imposita: X. Calend. Jan. Anno Salutis per Christum recuperatae M.DC.XVI. ARGENTORATI Typis JOHANNIS CAROLI. Straßburg 1616/17.
44
Ebd.)( 2r – [)( 6]r: Genannt werden (in dieser Reihenfolge): Johann Ludwig von Ulm auf Erbach und
Marbach, Wangen und Mittelbiberach (Geheimer Rat und Reichs-Vizekanzler), Johann Anton Barvitius (Barwitz) (Geheimer Rat, Mitglied des Reichshofrates), Johann Matthäus Wacker von Wackenfels (bis 1612 Mitglied des Reichshofrates, 1616 Ernennung zum Hofpfalzgrafen).
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er die Krönung des Crusius schildert. Es schließt sich ein Gedicht des zu krönenden Lehrers an der Straßburger Akademie an, mit dem er seine Krönungswürdigkeit nachweist – es ist ein Lobgedicht zu Ehren des Johann Thomas Obrecht. 45 Dann ergreift wieder Obrecht das Wort mit einem an die Leser gerichteten Brief, datiert auf den 20.Dezember 1615, also drei Tage vor dem Krönungsakt. Er skizziert anhand historischer Belege die Bedeutung literarischer Bildung und Fähigkeiten für das Gemeinwesen, insbesondere in politischen und höfischen Dingen. 46 Mit einem kurzen Epigramm des Krönungskandidaten beginnt der „Actus“ selbst, dessen erster und umfangreichster Bestandteil eine Rede des Hofpfalzgrafen Obrecht über die Bedeutung der poetischen Künste ist. 47 Auch im weiteren Verlauf werden der (standes-)rechtliche Charakter der Zeremonie und die Rolle Obrechts hervorgehoben, indem die Urkunde Kaiser Rudolfs II. zur Erhebung in den Pfalzgrafenstand abgedruckt, ausführlich die Zeremonie beschrieben, ihre Zeugen genannt und eine Anrede des Notars eingefügt werden. 48 Die rechtlichen Elemente im Krönungsdruck legitimieren zugleich den in seiner kulturellen Bedeutung prekären, weil von der ungewissen Anerkennung der anderen Literaten abhängigen Akt. Die eigentliche Dankeshandlung, die „gratiarum actio“, des soeben gekrönten Poeten nimmt lediglich einen geringen Raum ein (F 4v–[F 5]v). Sie eröffnet allerdings dann den letzten Teil des Druckes, der eine für die weitere soziale und kulturelle Einordnung der Dichterkrönung bedeutsame Erweiterung bietet. Bereits die als Zeugen des Rechtsaktes angegebenen Personen weisen den Weg. Es sind neben dem Notar Heinrich Geiger vor allem Caspar Brülow 49 und Georg Stoll als Kollegen
45 Ebd.[)( 6]v – [)( 8]v: „ΔΕΗΣΙΣ Ad Nobilissimum amplissimum Virum, Dominum Johannem Thomam Obrechtum, Magni Georgii Obrechti Filium, Jurisconsultum Argentoratensem, Sacri Lateranensis Palatii, Aulaeque; Caesareae & Imperialis Consistorii Comitem, &c.“ 46 Ebd.Ar – A 4v: „Iohannes Thomas Obrechtus Jureconsultus, et Sacri Palatii Aulaeque Caesareae, & Imperialis Consistorii Comes, Lectoribus benevolis S. P.D.“, insbes. fol.A 2v. 47 Ebd.A 5r – [C 6]v: „Oratio comitis palatini de utilitate, necessitate Authoritate & Praestantia Artis Poëtice“; Obrecht bedient sich der üblichen Argumente einschließlich biblischer Referenzen, vielleicht am auffälligsten ist ([A 6]v) die Ansprache an die Zuhörer, die darüber entscheiden sollten, ob Crusius der Dichterkrone würdig sei. 48 Ebd.D 4r – D 5r: Zeremonie, [D 6]v – [E 5]r: Urkunde Kaiser Rudolfs II., [E 5]v – [E 6]r: weitere Beschreibung, [E 6]r – [E 7]r: Usitata juramenti Formula [E 7]r – F 4r: Juramenti Praestatio. 49 Zu ihm umfassend Michael Hanstein, Caspar Brülow (1585–1627) und das Straßburger Akademietheater. Lutherische Konfessionalisierung und zeitgenössische Dramatik im akademischen und reichsstädtischen Umfeld. (Frühe Neuzeit, 185.) Berlin u.a. 2013, mit zahlreichen Erwähnungen des Crusius.
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des gekrönten Dichters am „Gymnasium“. Die letzten sechs Seiten des Drucks präsentieren als „patroni, fautores, amici“ eine Gruppierung vornehmlich Straßburger Poeten und adliger Studenten unterschiedlicher Herkunft, wobei die anderen gekrönten Dichter Caspar Brülow und Matthäus Zuber (Poetiklehrer in Sulzbach) ihre Titel angeben. 50 Sie leisten die erforderliche kulturelle Anerkennung, die die rechtliche Anerkennung des Titels ergänzen muss. John Flood hat die Gewohnheit Matthäus Zubers, seine Laureatenwürde als eine „Melissea“ zu qualifizieren, als Zeichen dafür interpretiert, dass die Bindung an die kaiserliche Autorität an Ansehen verloren habe. 51 Doch dieser Verweis darauf, den Lorbeer vom Hofpfalzgrafen und zugleich angesehenen Dichter Paul Melissus Schede erhalten zu haben, den außer Zuber auch andere Literaten einsetzen, ist vor allem ein Beleg für die Entwicklung einer eigenen Hierarchie durch Literaten, die sich dennoch nicht aus der ständischen Logik entfernen wollen oder können: Nicht jeder Hofpfalzgraf krönt auch Dichter, wie Sittig betont, sind es fast ausschließlich Dichter, die Dichter krönen. 52 Die Dichterkrönung wird so zur Kooptation in eine Literatengemeinschaft, die sich ständisch-korporativ zu charakterisieren versucht. Mit anderen Mitteln und auf
50
[Crusius/Obrecht,] Daphnis (wie Anm.43), [F 6]r – [F 8]v: „Melismata, queis M. Johanni Paulo Crusio P.
L. fausta omina precantur. Patroni, Fautores, Amici: Jan Bernhard Maltzan, Liber Baro a Wartenberg & Penclin, in Militz &c.; Jan Georg Czigan, Lib. Baro de Slupska, &c.; Joan-Ludovicus Wolzogen, Liber Baro, &c.; Andreas Kochtitzky Jun: Lib: Baro a Kochtitz, & c.; Carolus Schmidt à Freyhofen in Cunstadt & Tonnhausen; Anagramma: M. Joannes Paullus Crusius poeta coronatus: Jo Aemulus os nactus Nasonis purpro lacte: von Joannes Jacobus Riepp U.J.D.; Theophilus Dachtler [selber kurze Zeit später zum Dichter gekrönt], Affinis; Paulus Friderici. J.U.D. Affinis; M. Caspar Brülovius Pomeranus, Curiae Secundae Praeceptor, Poet. Laur. Caesar.; Matthaeus Zuberus, Poeta Laur. Melis.“ [Fac. Solisbaci, 17. Jan A 1617!!]; Thomas Grenzerus Carnovinus Silesius. 51
John L. Flood, Viridibus lauri ramis et foliis decoratus. Zur Geschichte der kaiserlichen Dichterkrönun-
gen, in: Anette Baumann/Peter Oestmann/Stephan Wendehorst u.a. (Hrsg.), Reichspersonal: Funktionsträger für Kaiser und Reich. Köln u.a. 2003, 353–378, hier 369: „Symptomatisch für das sinkende Ansehen der Bindung der Auszeichnung an die kaiserliche Autorität ist vielleicht der Umstand, daß etwa die Krönung durch den Poeta laureatus und Pfalzgrafen Paul Schede (1539–1602), genannt Melissus, hoch im Kurs stand. Matthaeus Zuber, selber durch Melissus gekrönt, redet in seinen Poemata (1627) mehrmals von sich und anderen Dichterkollegen wie Philipp Glaser und Johannes Philipp Vollockius als P. L. Melisséus. Auch Martin Mylius, 1601 gekrönt, spricht von der Laurea Melissea.“ Mit dieser Wertung übersieht Flood allerdings, dass auch hier immer noch die ständisch-rechtliche Qualität als – wenn auch vermittelte – kaiserliche Krönung entscheidend ist. 52
Als klare Tendenz des 17.Jahrhunderts beschrieben bei Claudius Sittig, Die Dichterkrönung als Instru-
ment der Literaturförderung in der Frühen Neuzeit, in: Jochen Strobel/Jürgen Wolf (Hrsg.), Maecenas und seine Erben. Von der Förderung der Künste und von den Freiheiten der Künstler. Stuttgart 2015, 16f.
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einen begrenzteren Raum bezogen setzt dieser Titelgebrauch Bestrebungen fort, wie sie oben bereits für Celtis anhand seiner mehrdeutigen Horazrezeption gezeigt worden sind. Ähnliches geschieht bereits im Krönungsdruck des Salomon Frenzel, der am 4. Mai 1584 in Heidelberg durch den Pfalzgrafen Hartmannus Hartmanni von Eppingen d. J. zum Dichter gekrönt wurde. Der zweite Teil seiner „Poemata sacra“ von 1585 ist der Wiedergabe seiner Dichterkrönung vorbehalten, den das Titelblatt bereits ankündigt als „Actus solennis & lectu iucundus quo Authori in magnifico confessu Laurea Poetica, Authoritate Imperatoria, imposita est: adiunctis clarissimorum virorum iudiciis. Cum praefatione Nicodemi Frischlini Comitis Palatini Caesarii et Poetae laureati.“
Wie im Straßburger Fall wird poetisch und oratorisch die Bitte um die Krönung ausgesprochen. Es folgt eine Rede des Pfalzgrafen Hartmanni, Hofrichter in Heidelberg, zum Lob der Dichtkunst, die ausführlich auf antike und neuere Dichter und Dichterkrönungen eingeht – nicht zuletzt die Krönung Petrarcas nacherzählt, auf Conrad Celtis hinweist, dann aber mit Enea Silvio Piccolomini endet, um auf Frenzel überzuleiten, der sich der Dichterkrone ebenfalls als würdig gezeigt habe. Nach rituellen Proben der Dichtkunst folgt der Akt der Dichterkrönung selbst. Auffällig sind dann die noch ausführlicher als in Straßburg folgenden umfangreichen Zeugnisse befreundeter, vielfach ebenfalls gekrönter, Dichter, die als „rite d’agrégation“ der Literatengemeinschaft aufzufassen sind. 53 Sie können als Belege aufgefasst werden, eine eigene ständische Korporation der Literaten zwischen Universität (bzw. allgemeiner Institutionen der Gelehrsamkeit) und Hof (bzw. Politik) zu bilden. Die soziale Integration ins literarische Feld wird durch drei Elemente akzentuiert, die die Gratulationen ergänzen: erstens ein programmatischer Einleitungsbrief zum gesamten Druck durch den gleichzeitigen Pfalzgrafen und „poeta laureatus“ Nikodemus Frischlin, dessen kulturelles Kapital im literarischen Feld nicht allein aus
53 Salomon Frenzel, Poemata sacra. Straßburg 1585, fol.[I 7]v – L 5v: auf ca. 60 Seiten finden sich Prosatexte und Lyrik vornehmlich süd(west)deutscher Autoren, darunter Professoren aus Straßburg, Tübingen und Basel, u.a. die „poetae laureati“ Paul Melissus Schede, Joh. Posthius, Nicolaus Reusner, Joh. Lauterbach; daneben Joh. Sturm, Christian Egenolph, Joh. Lundorp (Rektor in Gelnhausen), Nathan Chytraeus, David Wolkenstein, Theodor Zwinger, Petrus Portius, Diacon in Straßburg, außerdem Beiträge des Vaters Salomon Frenzel und der Brüder Ambrosius, Lucas und Johannes, mit Antworten von Salomon Frenzel auf einige Beiträge, ein griechischer Beitrag eines Medizin-Studenten und Freundes Janus Fersch.
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dieser kaiserlichen Auszeichnung bestand 54, zweitens das abgedruckte Krönungsprivileg Frenzels und schließlich die Abweisung zweier ungenannter „Pseudopoeten“, die sich ungerechtfertigt „laureati“ nennen. 55 Dieser umfänglichen Anerkennung Frenzels durch Gelehrte und Literaten stehen ebenso umfangreiche Probleme gegenüber, denen er an der Universität Helmstedt begegnete und die ebenso bezeichnend für die Entwicklung der Rolle eines „poeta laureatus“ im späten 16. und im 17.Jahrhundert sind. Nach weiteren Studien in Tübingen, Straßburg und Ingolstadt und der Teilnahme an der Schlacht bei Pitschen 1588 in Diensten des Erzherzogs Maximilian und im Zusammenhang mit der Thronfolge in Polen hatte Frenzel eine Zeitlang am Hof des Kaisers in Prag verbracht. Dort hatte er sich die Gunst des Kaisers nicht zuletzt durch ein Kleinepos erworben – dauerhafter Lohn war 1589 die Erhebung in den Adelsstand. 56 Vor allem aber gelangte er so 1593 an die Helmstedter Universität, wie Ingrid Henze auf der Grundlage eines reichen Aktenbestandes dargestellt hat. 57 Herzog Heinrich Julius von Braunschweig-Lüneburg präsentierte ihn der Universität zur Versorgung, „weil er uns nicht allein vom Kayß. hofe commendiret, sondern auch wir Ihn seiner geschicklichkeit halber ruhmen hören“. 58 Da Frenzel aber – trotz seiner vielfältigen Studien – sonst nicht graduiert war, konnte nur die Poesieprofessur das Ziel sein, das ihm aber verwehrt wurde: An der Universität war bereits seit 1583 Heinrich Meibom als „poeta“ und „latinus historicus“ verpflichtet, nachdem er dort auch studiert hatte und 1580 zum Magister promoviert worden war. Meibom hatte selber 1590 von Kaiser Rudolf II. die Dichterkrönung erhalten. Noch von Prag aus hatte Salomon Frenzel selber zu Heinrich Meiboms Krönungsdruck (1591 zur 1590 geschehenen Krönung), der ähnliche Gestalt hatte wie die erwähnten des Crusius und Frenzels selber, ein „Epigramma de lauro Henrici Meibomii“
54
Nikodemus Frischlin, [Epistola], in: Frenzel, Poemata (wie Anm.53), fol.)( 5r – * 3v; vgl. mit weiterführen-
der Literatur Robert Seidel, Frischlin, Nikodemus, in: Kühlmann u. a (Hrsg.), Frühe Neuzeit in Deutschland (wie Anm.23), Bd. 2, 460–477. 55
Frenzel, Poemata (wie Anm.53), L 5v: Privileg; N 2v: De duobus Pseudopoetis Laureatis.
56
Robert Seidel, Frenzel, Salomon, in: Kühlmann u.a. (Hrsg.), Frühe Neuzeit in Deutschland (wie Anm.
23), Bd. 2, 440–448, hier 441. 57
Ingrid Henze, Der Lehrstuhl für Poesie an der Universität Helmstedt bis zum Tode Heinrich Meiboms
d. Ält. († 1625). Eine Untersuchung zur Rezeption antiker Dichtung im lutherischen Späthumanismus. (Beiträge zur Altertumswissenschaft, 9.) Hildesheim/Zürich/New York 1990, bes. 82ff. 58
Zitiert nach ebd.82: ein Schreiben an die Universität vom 6.12.1593, Niedersächsisches Hauptstaats-
archiv Hannover, Cal. Br. 21, 3999, Bl. 9.
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beigetragen. 59 Bei Meibom ist es der Herzog selber, der offenbar daran interessiert war, dass er zum „poeta laureatus“ wurde, denn er übernahm die Kosten für die Krönung (also die Ausstellung des Diploms) und vermittelte auch den Kontakt an den Kaiserhof, kurz nach einem 1589 auf zehn Jahre abgeschlossenen Anstellungsvertrag, der auch die Verpflichtung vorsah, eine deutsche Übersetzung der „Historia Julia“ des Reiner Reineccius anzufertigen. 60 Zur gleichen Zeit unternahm auch Nikodemus Frischlin einen vergeblichen Versuch, „poeta“ an der Helmstedter Universität zu werden – abgelehnt wurde er offenbar nicht zuletzt wegen seiner Kritik an den in Helmstedt verwendeten alten Grammatiken. 61 Doch im Gegensatz zu Frischlin konnte sich die Universität bei Frenzel nicht durchsetzen. Trotz des fehlenden akademischen Grades erhielt Frenzel die Professur für Ethik und trat mit Gedichtrezitationen und Reden für universitäre Festakte in Konkurrenz zum eigentlich dafür bestellten Heinrich Meibom, der diese Aufgabe deshalb ausdrücklich für sich beanspruchte. Frenzel machte gegen den Einspruch Meiboms seine Rechte als „poeta laureatus“ geltend, wogegen Meibom als ebenfalls kaiserlich gekrönter Dichter nichts einwenden konnte, ohne eine Wertminderung seiner eigenen Auszeichnung zu riskieren. Auch wenn Heinrich Meibom und Salomon Frenzel in den Vorlesungsankündigungen mit Gedichtvorträgen und Reden „soluta et ligata“ nebeneinander genannt werden, worauf Lothar Mundt hinweist, verschwindet damit dennoch der Konflikt zwischen beiden „poetae“ nicht. 62 Offenbar erregte Frenzel besonders dadurch Ärgernis bei den akademischen Kollegen, dass er sich auf seine kaiserliche Würde und seine kaiserlich-höfische Vergangenheit berief, auch um einen höheren Rang in der Sitzordnung der philosophischen Fakultät einzunehmen. 63 Frenzel machte Meibom auch außerhalb der Universität, im städtisch-höfischen Bereich, Konkurrenz und hat durch poetische Gelegenheitsarbeiten „propter poesin et bonos mores“ außerhalb der Universität „in 59 Heinrich Meibom, Laurea poetica. Helmstedt 1591, 41; Lothar Mundt, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Heinrich Meibom der Ältere, Poemata selecta – Ausgewählte Gedichte (1579–1614). (Frühe Neuzeit, 174.) Berlin 2012, XI–XCVI, hier XXI f. nennt die wichtigsten Beiträger. 60 Henze, Lehrstuhl für Poesie (wie Anm.57), 78. 61 Ebd.79. 62 Mundt, Einleitung (wie Anm.59), XXVI. 63 Henze, Lehrstuhl für Poesie (wie Anm.57), 83, nach Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover, Cal. Br. 21, 4237, 53v: „Sie [sc. Martini und Meibom] scherzten, das ehr immer oben aus wolle, und vielleicht keine ander ursach habe, alß daz ehr in Aula Imperatoris gewest, das nichts zur sache thue, und mache solches keinen Professorem.“
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ettlich Jahren über die drey tausent taler geldes wert als honoraria empfangen“, wie er selber einmal zusammenfasste. 64 Frenzel vertrat also offensiv die Wertigkeit der kaiserlichen Auszeichnung sowohl in den Auseinandersetzungen innerhalb der akademischen Welt als auch bei seinen poetischen Dienstleistungen außerhalb der Universität. An dieser Stelle kommt der in den „Poemata sacra“ Frenzels programmatisch formulierte Anspruch Frischlins ins Spiel: Dichter hätten das Recht, zu moralischen, theologischen und politischen Themen zu sprechen, sie dürften sich nicht auf Grammatikpflege festlegen lassen und die Behandlung gesellschaftlich relevanter Themen den „gubernatores“ überlassen. 65 Auf Frischlin allerdings berief sich Frenzel in seiner Rechtfertigung gegenüber den Kollegen angesichts der vergangenen Auseinandersetzungen wohlweislich nicht. Er verwies auf anerkannte protestantische Dichter und Gelehrte der jüngeren Vergangenheit wie den Schotten George Buchanan, Joachim Camerarius d. Ä. und Philipp Melanchthon, vor allem aber auf den Helmstedter Gelehrten Johannes Caselius, der ihm einmal geschrieben habe, „er solle sich in der Poesie der Grammatik nicht so heftig annehmen“ 66, um zu rechtfertigen, dass er weniger die sprachliche Korrektheit als eine poetische Vielseitigkeit pflegte. 67 Der Straßburger und der Helmstedter Fall zeigen, dass um die Jahrhundertwende die Dichterkrönung als „rite de passage“ zu einer sich konstituierenden, tendenziell polyzentrischen Literatengemeinschaft genutzt werden konnte. Dies ist wohl auch mit der Spezifik der frühneuzeitlichen Mediengesellschaft zu erklären. In ihr kommt es darauf an, die für sie grundlegende, spezifische Qualität der Präsenz nicht nur der höfischen Feste durch Literarisierung zu erweitern, die in dieser Präsenz angelegte Flüchtigkeit aufzuheben und für die nicht an den Ereignissen Teilnehmen-
64
Zitiert nach ebd.86.
65
Frischlin, [Epistola] (wie Anm.54), insbes. fol.)( 5v. Frischlin führt eine illustre Reihe humanistischer
Dichter an, einschließlich des Franziskaners Thomas Murner, des Erasmus von Rotterdam, des Sebastian Brant, des protestantischen „poeta laureatus“ Joh. Stigel u. v. m. 66
Henze, Lehrstuhl für Poesie (wie Anm.57), 101.
67
Auch wenn Mundt, Einleitung (wie Anm.59), XXXVIII, zu Recht Kritik an Henzes Interpretation eines
Gegensatzes zwischen dem angeblich von „ingenium“ und Inspiration getriebenen Dichter Frenzel und dem „Schulmeister“ Meibom übt, bleibt doch, dass Frenzel eben genau die geradezu klassische Gegnerschaft zu Grammatikern konstruiert, um seinen eigenen Status exklusiv zu halten und sein Poetenamt hervorzuheben.
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den eine Repräsentation als Medienereignis zu produzieren – hierfür konnten gekrönte Dichter eine Expertise geltend machen. 68 Gleichzeitig mit dieser stabilen eminenten kulturellen Bedeutung verlor die Dichterkrönung aber zusehends ihre doppelte Qualität zur Qualifikation zugleich in universitären Zusammenhängen. Der Einspruch der universitären Kollegen in Helmstedt gegen die Qualifikation Frenzels kann als ein In-Frage-Stellen der Wirkung des Rituals gelesen werden. Die Macht der Repräsentation der Dichterkrönung, das Recht der Dichterkrönung als existenzielle Veränderung wird angezweifelt. Die Einbildungskraft, die die Macht der Zeichen garantiert oder eben eher verhandelt – verwirft das Zeichen der Dichterkrönung. Denn die Repräsentation ist ja nicht allein ein geistiger Vorgang, sondern fundamental abhängig von sozialen und kulturellen Kontexten, in denen sie wirksam werden soll. Anfällig für eine Ablehnung wird die Dichterkrönung durch die in ihr angelegte gleichzeitige Qualifikation zum hervorragenden „Auctor“ und zum hervorragenden „Lector“: Sie ist fragwürdig, die zweite Kompetenz wird nur durch die universitäre Diplomierung garantiert.
V. Dichterkrönung als Expertenhandeln: Die Rolle der Hofpfalzgrafen Auf diese im Laufe des 17.Jahrhunderts offensichtlich werdende Fragwürdigkeit ist häufig genug hingewiesen worden, sie wurde als besondere Eigenheit der Dichterkrönung verstanden und ursächlich mit der großen Zahl an literarisch teilweise fragwürdigen Ehrungen in Zusammenhang gebracht. 69 Dabei wurden zwei Aspekte vernachlässigt: einerseits, dass der Dichterkrönung dies gemeinsam ist mit anderen Standeserhöhungen, die, als kaiserliches Instrument genutzt, durch die pure Quantität an Wert verlieren und wegen ihrer Konsequenzen für das ständische Gefüge im
68 Vgl. Thomas Weißbrich/Horst Carl, Präsenz und Information. Frühneuzeitliche Konzeptionen von Medienereignissen, in: Joachim Eibach/Horst Carl (Hrsg.), Europäische Wahrnehmungen 1650–1850. Interkulturelle Kommunikation und Medienereignisse. (The Formation of Europe / Historische Formationen Europas, 3.) Hannover 2008, 75–98, hier 78f. mit Hinweis auf Julius Bernhard Rohrs „Einleitung zur Ceremonial-Wissenschaft der großen Herren“ (1728) und dem Zeitungswesen gegenüberstellend: Nicht die Neuigkeit ist entscheidend, sondern die Repräsentation für Abwesende. 69 Vgl. insbes. Flood, Viridibus lauri (wie Anm.51), 368, und ders., Poets Laureate (wie Anm.7), cxciii–cc. Differenzierend: Sittig, Dichterkrönung (wie Anm.52), insbes. 12.
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Reichssystem strittig sind. 70 Andererseits aber auch, dass es in der frühneuzeitlichen Gesellschaft des Reiches einen gesteigerten Bedarf für eine größere Zahl literarischer Dienste, mithin auch einen gesteigerten Bedarf an literarischen Experten gegeben hat. Immerhin wird der Dichterlorbeer auch im 18.Jahrhundert weiterhin vergeben und vor allem als Recht – gegen eine beträchtliche Summe – neu erworben, so von der neugegründeten Universität Göttingen für ihren Vizerektor. 71 Doch ist mehr als zweifelhaft, ob diesen Krönungen die Qualität eines „rite de passage“ und den so gekrönten Dichtern der Rang eines Experten zuzuschreiben ist. Damit komme ich zu dem im Titelzitat angedeuteten Fall der ersten Helmstedter Dichterkrönung, die am 15.Januar 1704 stattgefunden hat. Hier darf ich mich für den Poeten kurz fassen: Von Paul Martin Nolte ist nichts weiter bekannt, veröffentlichte literarische Aktivitäten sind nur an diesem Anlass belegt, er war Konrektor der Lateinschule in Schöningen bei Helmstedt und gebürtig aus Timmerlah (heute ein Ortsteil Braunschweigs). Schon diese regionale Enge weist darauf hin, dass die Bedeutung der Dichterkrönung kaum beim Poeten zu finden ist, ähnlich wie dies Claudius Sittig für die zeitnahen Krönungen der Dichter und Pfalzgrafen Zesen und Birken nachweist. 72 Die ganze Zeremonie – und hier scheint es eben kein Ritual mehr zu sein – fügt sich in die Einweihungsfeiern der Helmstedter Universitätskirche ein, deren Leitung Hermann von der Hardt als Vizerektor hat. Dieser bemüht sich zwar, die Aufgabe des Dichters als eines moralischen Lehrers hervorzuheben. Insgesamt aber ist die Zeremonie viel eher als ein Akt zur Repräsentation von der Hardts aufgebaut, der in eben jener Zeit einen Streit mit den Doktoren der oberen Fakultäten über seine eigene (nicht vorhandene) Doktorwürde ausgefochten hat. 73
70
Vgl. Volker Press, Kriege und Krisen. Deutschland 1600–1715. München 1991, 64.
71
Wilhelm Ebel (Hrsg.), Die Privilegien und ältesten Statuten der Georg-August-Universität zu Göttin-
gen. Göttingen 1961, 8: In einem weiteren „Praeliminar-Plan“ vom 1.10.1732 hielt [der Hofrat] Gruber „ein kaiserl. Privilegium vonnöthen, damit sonderlich die auf der Universitaet promovierte Personen überall im Heil. Röm. Reich für solche gehalten werden mögen“, freilich sollte es, da die protestantischen Fürsten das jus erigendi academias „für ein Stück Landeshoheit“ hielten, „mehr unter dem Nahmen eine Confirmation als eines „Privilegii“ nachgesucht werden. Die Kosten des kaiserlichen Privilegs, „zumal wenn es mit der dignitate Comitis Palatii Caesarei für den jedesmaligen Prorector versehen seyn soll“, wurden auf 4000 Reichstaler veranschlagt, und es sollte sich inhaltlich an das von Kaiser Leopold dem Kurfürsten Friedrich III. von Brandenburg im Jahre 1693 für die Universität Halle erteilten anschließen.
72
Sittig, Dichterkrönungen (wie Anm.52), 13ff.
73
Zu Hermann von der Hardt vgl. mit Literatur Ralph Häfner, Hermann von der Hardt, in: Kühlmann
(Hrsg.), Killy-Literaturlexikon (wie Anm.42), Bd. 5, 2.Aufl. Berlin u.a. 2010, 8–10; Marian Füssel, Gelehrten-
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Ein lateinisches und ein deutschsprachiges gedrucktes Programm notieren penibel die einzelnen Elemente der Feierlichkeiten, die sich über mehrere Tage (inklusive eines Vortags, an dem das Programm publiziert wurde) hinziehen. 74 Während der erste Tag einer Rede des Vizerektors selber, „Herrn Abt Schmidts Einweihungs=Predigt / über Luc. II. 41–52“, sowie einer feierlichen Rede des Theologieprofessors Christoph Tobias Wideburg vorbehalten ist, wird der zweite Tag durch Akte des Hofpfalzgrafen von der Hardt geprägt. Im deutschen Programm heißt es dazu: „Dienstag Vormittags Wird ein Poëta Laureatus Caesareus vom Vice-Rectore Comite Palatino solenniter gekrönet. Nachmittags Werden einige Notarii Publici Caesarei publice creiret. Mittwoch Vormittags Wird ein Werck der Barmhertzigkeit an vielen armen Knaben und Mädgens erwiesen / Welche legitimiret werden / daß sie einst zum ehrlichen Amt und Stande gelangen können.“ 75
Den Auftakt bildet also die Dichterkrönung, die durch die oratorische Praxis des Krönenden wie des zu Krönenden geprägt ist. Dieser Teil der Feierlichkeiten wird in einer weiteren Publikation eigens festgehalten. 76 Auch hier ist es der krönende Pfalzgraf und Vizerektor, der das Wort führt und im Vordergrund der Zeremonie und ihrer Repräsentation im Druck dargestellt wird. Hermann von der Hardt rühmt in seiner Rede die Dichtkunst als „thesaurus“ göttlicher und verborgener Weisheit, als Poeten nennt er noch vor den Griechen und Römern Moses und David und die Propheten. 77 Das Amt des Dichters erhält in dieser Darstellung zwar prinzipiell eine kultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit. (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne.) Darmstadt 2006, 235 und 286ff. 74 Auspiciis Conditorum munificentissimorum Rudolphi Augusti et Anthonii Ulrici Bruns. ac. Lunaeb. Ducum in Academia Helmstadiensi Solenniter inaugurati Academici Collegialis templi praecipua Monumenta. Helmstadt 1704; mehr ins Detail geht die deutschsprachige Publikation, die u.a. auch die vorgetragenen Chorstücke nennt: Reglement. Wie es bey Einführung Der Neuen Universitäts=Collegien=Kirche zum Helmstädt / PORTA COELI genannt / Am Tage Felicis, und folgenden / Den 14.15.16. Jan. Anno 1704. wird gehalten werden. O. O. o.J. [Helmstedt 1704]. 75 Ebd., unpaginiert. 76 [Paul M. Nolte/Hermann von der Hardt,] Poëta Laureatus Caesareus Vir CL. Paulus Martinus Noltenius in publica Panegyri In Academia Julia d. XV. Jan. A. MDCCIV. in novo Academico Collegiali templo coronatus. O. O. o.J. [Helmstedt 1704]. 77 Ebd.A3: „Hermanni von der Hardt, Vice-Rectoris, Comitis Palatini, Oratio Poesis antiquissimum rerum divinarum, doctrinaeque religiosae reconditae venerabile monumentum. Poesis locupletissimus divinae & abstrusae sapientiae thesaurus. Poesis providentiae coelestis & facinorum magnorum, a religionis antistibus egregie quondam perpetratorum, adorandum theatrum. Poesis elegantissimum omnium virtutum sacellum. Moses, David, Prophetae, Poetae: Graecorum & romanorum primi doctores, Poetae. Sacra apud omnes gentes ligata oratione decantata.“
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herausgehobene, religiöse und gewissermaßen „gesellschaftliche“ Funktion zugesprochen, doch was hier tatsächlich zelebriert wird, ist nicht das Ingenium des Dichters, sondern vielmehr die konsekrierende Macht des Hofpfalzgrafen, der seine Rolle nicht allein als die eines den Titel verleihenden Rechteinhabers verstehen möchte, sondern vielmehr als die eines die Fähigkeit des Dichters durch das Spenden des Titels „auslösenden“ Meisters. Nicht umsonst heißt es (was von der Hardt betont) in der Formel der Urkunde „Creavimus et coronavimus poetam“. 78 Er ist es, der den von ihm gekrönten Dichter auffordern kann, seinem Namen als Dichter gerecht zu werden und als solcher zu handeln: „Age nunc, vates & Poeta praeclare, his honoribus quos ex animor gratulor, utere ex voto, ingenii vim jam porro praeclaris carminibus exerce, & quam sit poesis dos non humana sed divina, sed excellens, Deum & virtutem canendo, magno spiritu posthac demonstra.“ 79
Doch trotz dieser emphatischen Anrufung des Poeten gibt es in den gleichen Veröffentlichungen Zeichen dafür, dass sich die Position des Dichters in der Gesellschaft und der Rang des gekrönten Dichters seit dem frühen 16.Jahrhundert verändert haben: Wenn zu Beginn des 16.Jahrhunderts eine Satire über einen Dichter geschrieben wurde, der entgegen der bacchantischen Lebensweise der Poeten ein Haus gekauft hatte, so wird ganz offensichtlich auf diesen theatralischen Dialog referiert, wenn die Regel explizit zurückgewiesen wird, dass Dichter arm sein sollten: „Unde etiam Poeticae Giessensium praefatio aliquem e poetarum numero recenset, qui cum splendidam doum emisset, portae inscribendum curavit HANC DOMUM EMIT POETA. Sic falsi convicit obtrectatores, qui omnes poe-
tas ad mendicorum classem referunt.“ 80
Dieser Rekurs auf die literarische Darstellung des armen Poeten ergänzt die schon in den Krönungsdrucken von Johann Paul Crusius und Salomon Frenzel präsenten historiographischen Elemente, auf die auch von der Hardt in seiner Rede nicht ver78
Von der Hardt wiederholt dies in der Einleitung zum Akt der Notarskreation: ebd.23.
79
Ebd.12.
80
Christoph F. Timaeus, Surdus de Musica […] in Solemni Coronationis actu, quum Magnificus et Summe
Reverendus Dominus, Dominus Hermannus de Hardt [...] Viro Nobilissimo et Clarissimo, Domino Paulo Martino Noltenio [...] Potestate Caesarea Laurum d. 15. Jan. 1704 imponeret. O. O. o.J. [Helmstedt 1704], 12; 1521 wurde anonym ein satirischer Dialog unter namhaften „poetae laureati“ mit dem Titel „Poeta domum emit“ gedruckt, der den Freiburger Philipp Engelbrecht verspottete, der einerseits vergeblich versucht hatte, den Lorbeer vom Kaiser zu erhalten und andererseits in Freiburg ein Haus gekauft hatte. Vgl. hierzu Schirrmeister, Triumph (wie Anm.22), 240ff.
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zichtet. Sie erscheinen prägend auch für Krönungsdrucke im 18.Jahrhundert, wie den anlässlich der Krönung der Traugott Christiana Dorothea Löber (1724–1788) 81 durch den Göttinger Prorektor Johann David Köhler zu Weihnachten 1741. Der Geschichtsprofessor setzt der Urkunde einen „commentariolo in Diploma Imp. Friderici III. quo Aeneas Sylvius Piccolomineus A. 1452 creatus fuit poeta laureatus“ voran. 82 Dieser Kommentar nimmt den Hauptteil der Broschüre ein, er bietet eine historisch-antiquarische Darstellung der Dichterehrung in der antiken griechischen und römischen (historiographischen) Literatur, im Mittelalter seit Albertino Mussato (1261–1329), dessen zeitlichen Vorrang gegenüber Petrarca er hervorhebt, eine summarische Darstellung zu Celtis und zu Maximilian I. und schließt mit Nennung der ersten lorbeergekrönten Frau, der Engländerin Elizabeth Jane Weston (gekrönt von Melissus Schede). Ähnlich wie dies durch die Betonung der rechtlichen Elemente bei Frenzel oder Crusius geschehen war, wird bei von der Hardt und Köhler versucht, den Wert und wenigstens die kulturelle Legitimation des Aktes durch die historiographische Einbettung zu sichern. Bei Köhler tritt hinzu, dass er im Kommentar sein eigenes Fachwissen präsentieren und sich als akademischer Fachmann profilieren kann – mithin wiederum der „comes palatinus“ vor den „poeta laureatus“ tritt.
VI. Resümee Während im Reich der „poeta laureatus“ nach und nach seine besondere Qualität als standesrechtliche und kulturelle Auszeichnung verliert und die Dichterkrönung im 18.Jahrhundert kein „rite de passage“ mehr ist, lässt sich in Frankreich gleichzeitig eine erneuerte Nutzung des Titels beobachten: Der 1662 gestorbene „poète menuisier“ Adam Billaut aus Nevers wird auf seinem Epitaph als „poeta laureatus“ bezeichnet 83, vor allem aber wird in einem aufsehenerregenden Akt der greise Voltaire am 30.März 1778 auf dem Theater mit einem Lorbeerkranz gekrönt. Doch ganz im
81 Vgl. zu ihr: Flood, Poets Laureate (wie Anm.7), Vol.3, 1168. 82 [Johannes D. Koelerus,] Johannes David Koelerus H.T.Prorector Academiae Georgiae Augustae Virgini nobilissimae ornatissimaeque Traugott Christianae Dorotheae Loberiae poetriae Germanicae eximiae indolis et doctrinae singularis Lauream poeticam largitur. Göttingen o.J. [1741]. 83 Lancetti, Memorie (wie Anm.18), 559f.
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Unterschied zu den Dichterkrönungen im Reich handelt es sich hier um eine Auszeichnung durch das Publikum, es handelt sich nicht um einen Eintrittsritus in das literarische Feld, sondern um eine theatralische Inszenierung nach „60 Jahren der Arbeit, des Ruhms und der Verfolgung“, wie es der Baron Grimm in einem brieflichen Bericht formuliert. 84 Es ist eine Mischung aus spontaner Begeisterung und geplanter Ehrung, die die Dichterkrönung zu einem vorrevolutionären Ereignis macht. Die Krönung findet während einer Aufführung der „Irène“, dem letzten vollendeten Theaterstück Voltaires statt: Vor der Aufführung wird er zunächst selber unter dem Jubel der Zuschauer gekrönt, zieht aber sogleich den Lorbeerkranz wieder herunter. Nach dem vierten Akt wird auf der Mitte der Bühne eine Büste Voltaires aufgestellt, alle Schauspieler mit Girlanden und Lorbeerkronen in den Händen darum herum und das Publikum hinter ihnen auf der Szene, so dass – wie Grimm weiter schreibt – das Theater in diesem Augenblick einem wahrhaft öffentlichen Platz geglichen habe, würdig Roms und Athens, wo dem Ruhm des Genies ein Denkmal errichtet worden sei. Ehrende, (wenigstens vorgeblich) ad hoc gedichtete Verse wurden von einer Schauspielerin rezitiert, die den Ruhm der Unsterblichkeit für Voltaire verhießen und die Krone als Gabe Frankreichs an ihn bezeichneten. 85 Fast ist aus der Dichterkrönung auf diese Weise wieder ein Übergangsritus geworden. Voltaire kommentierte: „Ils veulent donc me faire mourir. Ils m’ont accablé de bonheur.“ 86 Und tatsächlich steht diese Lorbeerkrönung in mehrfachem Gegensatz zu den Auszeichnungen im Reich: Statt einer Krönung aus kaiserlichem, obrigkeitlichen Recht mit ständischer Bedeutung eher zum Beginn und als Eintritt in eine Karriere steht Voltaires Krönung als Erfüllung am Ende einer Laufbahn eines modernen Intellektuellen, im Namen einer Nation und nicht im Namen eines Herrschers gespendet. Die Inszenierung des Dichters in seiner Krönung als Experte für panegyrische ze84
Für das folgende William Marx, Le couronnement de Voltaire ou Pétrarque perverti, in: Histoire, éco-
nomie et société 20, 2001, 199–210, hier das Zitat 200 nach: Correspondance littéraire, philosophique et critique par Grimm, Diderot, Raynal, Meister, etc. […]. Ed. Maurice Tourneux. Vol.12. Paris 1880, 68–73. 85
Marx, Le couronnement (wie Anm.84), 201, die Stegreifverse von Jean Paul André de Razins: „Aux
yeux de Paris enchanté / Reçois en ce jour un hommage / Que confirmera d’âge en âge / La sévère postérité. / Non, tu n’as pas besoin d’atteindre au noir rivage / Pour jouir de l’honneur de l’immortalité. / Voltaire, reçois la couronne / Que l’on vient de te présenter; / Il est beau de la mériter / Quand c’est la France qui la donne.“ 86
Zitiert nach Marx, Le couronnement (wie Anm.84), 203, nach Voltaire, Correspondance. Ed. by Theo-
dore Besterman. Banbury, Oxfordshire 1976, Vol.45, 280f.
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remonielle Dichtung im weiteren Sinn konnte nur in der frühneuzeitlichen Gesellschaft und aufgrund ihrer spezifischen, auf Präsenz angelegten Medienkultur gelingen. Sie bewirkte auch die Erweiterung der Aufgaben vom Herrscherdienst auf allgemeine literarische Dienstleistungen, die einerseits die Entwicklung einer sozialen Gruppenbildung der Literaten beförderte, aber gleichzeitig für eine Überdehnung der Rolle des Dichters verantwortlich war und den Verlust der Exklusivität für den Titel des „poeta laureatus“ bedeutete. Die Verbindung von kultureller Auszeichnung und akademischer Graduierung sollte den Status des Poeten als Experte sichern, was für eine gewisse Zeit gelang: Prüfende Instanzen, Prüfungsinhalte und geprüfte Personen besaßen eine klare, funktionale Verbindung zur sozialen und kulturellen Umwelt, in der die Prüfung ihre Geltung sicherte. Auf Dauer aber führten die Tendenzen zur professionellen Spezialisierung und die Institution der Universität mit ihrer Monopolisierung akademischer Auszeichnung zur Trennung der Rollen. Poeten, die als eigenständige Intellektuelle auftreten wollten, benötigten die Dichterkrönung nicht mehr oder mieden sie eher. Umso stärker entwickelte sich die Rolle des die Konsekration spendenden Hofpfalzgrafen, der zur eigentlichen Hauptperson der Lorbeerkrönung wurde und insbesondere die performativen Möglichkeiten der Dichterkrönung für sich nutzte. Doch auch hier bietet die in Göttingen 1822 gefundene Lösung für das nach dem Ende des Alten Reiches auch rechtlich obsolete Hofpfalzgrafenrecht einen Anhalt dafür, dass letztendlich die finanziellen Interessen des Prorektors entscheidend wurden: Als Ersatz erhielt der Prorektor Renteneinkünfte. 87
Für hilfreiche Diskussionen danke ich besonders Christian Jouhaud und Claudius Sittig, Letzterem außerdem für die freundlich gewährte Lektüre eines noch nicht publizierten Aufsatzes.
87 Hartmut Boockmann, Die Verfassung der Georg-August-Universität von den Anfängen bis 1968, in: Hans G. Schlotter (Hrsg.), Die Geschichte der Verfassung und der Fachbereiche der Georg-August-Universität zu Göttingen. Göttingen 1994, 11–24, hier 14.
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Die Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Matthias Bauer, Europa-Universität Flensburg, Seminar für Germanistik, Auf dem Campus 1, 24943 Flensburg Dr. des. Marcel Bubert, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Historisches Seminar, Domplatz 20–22, 48149 Münster Magistra iuris Maria Filipiak, McKinsey & Company, ul. Baraniaka 88E, 61–131 Poznań Dr. Uta Kleine, FernUniversität Hagen, Historisches Institut, Universitätsstraße 33B, 58084 Hagen
Lydia Merten, M.A., Georg-August-Universität Göttingen, Graduiertenkolleg „Expertenkulturen des 12. bis 18. Jahrhunderts“, Heinrich-Düker-Weg 14, 37073 Göttingen Prof. Dr. Frank Rexroth, Georg-August-Universität Göttingen, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Heinrich-Düker-Weg 14, 37073 Göttingen Prof. Dr. Bernd Roling, Freie Universität Berlin, Institut für Griechische und Lateinische Philologie, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin Dipl. theol. Lars Röser-Israel, Pastor in Brunkensen, Kirchstraße 1, 31061 Alfeld Dr. Albert Schirrmeister, Kopernikusstraße 5b, 33613 Bielefeld Dr. Teresa Schröder-Stapper, Universität Duisburg-Essen, Historisches Institut, Universitätsstraße 12, 45141 Essen Dr. phil. Jana Madlen Schütte, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Potsdamer Straße 33, 10785 Berlin
DOI
10.1515/9783110576030-012
327
Prof. Dr. med. Dr. phil. Michael Stolberg, Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Institut für Geschichte der Medizin, Oberer Neubergweg 10a, 97074 Würzburg Prof. Dr. Anita Traninger, Freie Universität Berlin, Institut für Romanische Philologie, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin Prof. Dr. Wolfgang Eric Wagner, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Historisches Seminar, Domplatz 20–22, 48149 Münster
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Personenregister
Adorno, Theodor W. 32
Brahe, Tycho 130, 152, 155, 160
Aeneas
Brant, Sebastian 212–215
278
Agricola, Rudolf
Braun, Michael
279, 293
Alardus v. Amsterdam
Brecht, Bertolt
279
186 31
Alexander III. (Papst)
99
Brülow, Caspar 313f.
Alexander IV. (Papst)
110, 112
Bruno, Giordano
147
Alfons VIII., Kg. v. Spanien 243
Buchanan, George 318
Altieri, Lorenzo 168
Budde, Johannes 165
Andrelinus, Faustus 303
Bulgarus 82f.
Apian, Peter
Burnet, Thomas 171
207
Bus, Melchior 249–253, 273
Apian, Philipp 207 Aristoteles 130, 278, 287 Arndt, Johann 258f.
Camerarius d. Ä., Joachim 318
Arnulf v. Soissons 80
Canter, Johannes 308
Austin, John L. 16, 17, 34, 39, 293
Cardoso, Isaac 156
Azo 98, 105, 233
Caselius, Johannes
318
Cassini, Giovanni Domenico 159, 163 Bardi, Roberto di
Cassirer, Ernst 35
301
Castel, Louis Bertrand 166f.
Barthes, Roland 43
Celsius, Anders
Bartolus 233 Becker, Johann Heinrich Behn, Aphra
172
166
Celtis, Conrad 26, 297f., 300, 306–312, 315, 323 Cennini, Cennino
161
138
Behrens, Konrad Barthold 190
Cerasinus, Johannes 233, 238
Belmisseri, Paolo
Cervus, Johannes 233
304f.
Benjamin, Walter 30f.
Christian II., Kurfürst v. Sachsen 255
Bentley, Richard 164
Cicero, Marcus Tullius 88, 229 Clemens III. (Papst)
99
71f., 79f., 83
Clemens VI. (Papst)
210
161f., 164, 167, 172
Clemens VII. (Papst)
Berger, Peter 10 Bernhard, Abt v. Clairvaux Bernhard v. Fontenelles Bertrand v. Pavia
98
Bidembach, Felix 253
Collins, Randall
Billaut, Adam
Colish, Marcia 292
323
224
Coelestin III. (Papst) 99 45
Birken, Sigmund v.
320
Colonna, Giacomo de 301
Blumenberg, Hans
123f., 129
Constantin I. (Papst) 99, 103
Böldicke, Joachim
171
Corvinus, Matthias 271
Bonifaz VIII. (Papst) 224
Costus v. Zypern
Borel, Pierre 152
Cousturier, Pierre 281
206
Bourdieu, Pierre 17, 46, 227, 264
Crusius, Johann Paul 311–313, 316, 322f.
DOI
10.1515/9783110576030-013
329
Czechowicz, Jakub
238
Damhouders, Joos de
232
36
Decartes, René
259
Gesner, Salomon
259
Girald (Gerald) v. Wales
Damian, Hl. 23, 203, 205, 208, 216–226 Debray, Régis
Gerhard, Johann
Glarean, Heinrich 306
156, 161
Goffman, Erving 27–39, 47f.
Dedekenn, Georg 253f.
Gratian (Kanonist) 70
Derham, William 164
Grew, Nehemia 164
Diokletian, röm. Ks. 216
Grimm, Friedrich Melchior Baron v.
Dominicus, Hl. 205
Groicki, Bartlomiej
Dorp, Marten van 25, 275, 277–280, 282–284
Guericke, Otto 156, 173
Drake, Francis
Habermas, Jürgen 39 Hafenreffer, Matthias
Eck, Johannes 288 Eco, Umberto
324
24, 230f., 233–239, 245f.
151
Duracotus 130
254
Haimerich, Kanzler Papst Innozenz’ II. 70, 79,
41f., 120f., 123, 127
82f., 89, 102
Ehrenberg, Andreas 169
Hamberg, Georg
Eligius v. Noyon, Hl. 109
Hamel, Jean-Baptiste du 156
Erasmus v. Rotterdam
Handsch, Georg 179, 186f., 195, 198
25, 275–283, 285
159
Eugen III. (Papst)
72, 97
Hardt, Hermann v. der 320–323
Fabri, Honoratus
156f., 173
Hariulf v. Oudenburg 77–88, 94, 102, 104,
Falck, Johannes
168
106, 108, 110, 115
Fischer-Lichte, Erika 19, 22, 36, 38, 43, 54, 59
Hartmann, Frank 32, 34
Flood, John 300, 314
Hartmannus Hartmanni v. Eppingen d. J. 315
Folz, Hans 49f.
Havelock, Eric A. 32
Foreest, Pieter van
200
Heerbrand, Jakob
254
Franz I., Kg. v. Frankreich 303f., 306
Heinrich II., Kg. v. Frankreich 305
Frenzel, Salomon 311, 315–319, 322f.
Heinrich Julius, Herzog v. Braunschweig-
Friedrich III. (Ks.) 297, 303, 307, 323
Lüneburg
316
Friedrich III., Kurfürst v. der Pfalz
260
Hempel, Christian 160
Friedrich VII., Graf v. Toggenburg
270f.
Hennings, Johann 159
Frischlin, Nikodemus Fuchs, Leonhart
315, 317f.
Heuperger, Matthias
207
Fuscariis, Aegidius Galilei, Galileo
113
Heyn, Johannes
21, 119f., 123–129, 132–134, 137,
139f., 142, 146, 148–151, 161
171 205
Hill, Nicholas 148 Hoffmann, Friedrich 184
Gassendi, Pierre 157, 173
Honorius II. (Papst)
Geertz, Clifford 34
Honorius III. (Papst)
Geiger, Heinrich 313
Horaz
Geldenhauer, Gerald (Noviomagus) 279
Horer, Ananius 199
Gengnagel, Jörg 251
Horkheimer, Max
Gennep, Arnold van
219
Hevelius, Johannes 149 Hieronymus, Hl.
24–26, 258, 263
Georg, Herzog v. Sachsen
330
77, 91f., 94–100, 102, 104,
108–110
307
87 209
306f. 32
Hubert Walter, Ebf. v. Canterbury 92 Hütter, Leonhart 254f., 259
Gerald s. Girald
Hugo v. Folieto 72
Gerhard v. Santa Croce 84
Hugolino (Gregor IX., Papst)
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71 / 2018
93, 108
Huygens, Christiaan 161–165, 167, 172
Langer, Susanne 122 Langner, Beatrix
Innis, Harold 32f.
131, 142
Leibniz, Gottfried Wilhelm 171
Innozenz II. (Papst)
69–72, 77–79, 84, 87, 89, 99,
102
Lem, Stanisław
143, 145
Löber, Traugott Christina Dorothea 323
Innozenz III. (Papst) 89, 91, 93–104, 107f.
Longomontanus, Christian
Innozenz IV. (Papst) 112
Lotichius, Petrus 180
Iser, Wolfgang
Luckmann, Thomas 10
40, 45
Ivo, Hl. (Hélory) 23, 203, 205, 208–218, 225
155
Ludwig XII., Kg. v. Frankreich 303 Luhmann, Niklas 35, 75
Jaszlinsky, Andreas
167f.
Jauß, Hans Robert
Lukas, Hl. 205
40
Luther, Martin
Johannes der Evangelist 218 Johannes der Täufer
253f.
Lysia, röm. Präfekt 216
215
Johannes v. Saint-Éloi 77, 110–112
Macrobius 146
Julianus de Maffeis, Bf. v. Bertinoro 249
Maestlin, Michael
Jupiter
Maier, Michael
135
Mann, Thomas
66
278
Justinian, Ks. 71
150
Marolf v. Friedberg¸ Johannes 216 Kant, Immanuel
30, 144
Kantemir, Antioch Karl V. (Ks.)
Martens, Dirk
161
233
Mauss, Marcel
Katharina v. Alexandrien, Hl. Kepler, Johannes
279
Matthaeus, Johannes 205–207, 218
21, 130–137, 139–142, 160
259–262, 274
40
Maxentius (Ks.) 206 Maximilian I. (Ks.) 309, 323
Khunrat, Heinrich 135
Maximilian, Erzherzog v. Österreich 316
Kiening, Christian
McLuhan, Marshall
59
Kirchner, Athanasius Kirstein, Jan
151, 154f., 161
238
Kittler, Friedrich A.
18, 32–35
Medici, Cosimo de’ 139 Medici, Caterina de’ 304
33
Meibom, Heinrich 316f.
Klausing, Heinrich 160
Melanchthon, Philipp 151f., 293, 318
Kleine, Uta 20f.
Meradus v. Spanien 98
Kluge, Arnd 263
Mersenne, Marin
Köhler, Johann David 323
Mielich, Hans
Koch, Jacob 172
Mittelstraß, Jürgen
Koch, Peter
More, Thomas
75
153
206 14
277, 283, 294f.
Kopernikus, Nikolaus 132, 147, 152, 155
Müller, Johann Christian
Kosmas, Hl. 23, 203, 205, 208, 216–226
Mundt, Lothar 317
Krämer, Sybille 33, 35f.
Murner, Thomas
Krafft v. Talmessingen, Gregorius
188
7f.
287
Mussato, Albertino
323
Krasicki, Ignacy 240–246 Kues, Nicolaus v. s. Nicolaus Cusanus
Nicolaus Cusanus 146–148, 151f., 157, 163 Niobe 278
La Galla, Julius Caesar
155
La Hire, Philippe de 159
Niuwentijd, Bernard 164 Roger Norreys (Norris), Abt v. Evesham
91
Lalande, Joseph Jérôme de 166 Lanfrank v. Mailand 266
Obrecht, Georg 312
PERSONENREGISTER
331
Obrecht, Johann Thomas 312f.
Sebald, Hl. 205
Odo v. Rouen 114
Seel, Martin
Oestreicher, Wulf
75
35
Seneca 229 Seyff, Hans, von Göppingen
266
Paulus (Apostel) 282
Shakespeare, William
Peter der Große, Zar v. Russland 161
Sigismund (Ks.)
Peter v. Benevent 89, 98, 106
Sigmund I., Kg. v. Polen
Petraca, Francesco 297, 300–306, 323
Sixtus IV. (Papst) 224
Petrus Hispanus 287, 289
Walter, Abt v. St. Dogmaels 92, 102
Pfizer, Nicolaus 192
Staphylus, Friedrich 207
Piccolomini, Enea Silvio
315, 323
50
303
Stoa, Quintianus
237
303
Pighinucius, Fridianus 307
Stoll, Georg 313
Platon 30
Strawinsky, Igor 31
Platter, Felix 177, 179–181, 191
Sturm, Johannes Christoph 165
Plessner, Helmut 38
Sulmona, Barbato da 301
Plinius 229
Swedenborg, Emanuel 173
Plutarch
125, 146
Pomponius Laetus 303, 309
Tacitus, Publius Cornelius
Posthius, Johannes 180
Tankred v. Bologna, Kanonist 89
Pritchard-Evans, Edward E. 193
Tanner, Adam
Pseudo-Isidor
Tarkowskij, Andrej 143
86
151–154
Tasso, Torquato Quintianus Stoa, al. Conti
304
230
125
Terrasson, Jean 169 Theobald, Ebf. v. Canterbury
Radbot v. Tournai Raphson, John
80
Thomas v. Aquin
164
97
167, 205
Thomas v. Evesham 77, 89f., 92–108, 110
Reginald Foliot 102
Toggenburg, Hans v. 270–272, 274
Reineccius, Reiner 317
Tostat, Alfons 244
Reuchlin, Johannes 285
Turmair, Johann Georg
Riccioli, Giovanni Battista 155
Turner, Victor 16, 24, 264
207
Robert v. Anjou, Kg. v. Neapel 301 Robert v. Clipstone 99f.
Ulger v. Angers 87f.
Rohault, Jacques
Ursula, Hl. 205
156
Roselli, Salvator Maria 168 Rosenplüt, Hans Rudolf II. (Ks.)
49f.
Varro 283f.
312f., 316
Vasari, Giorgio 138
Ryles, Gilbert 26, 290–292, 294
Vinci, Leonardo da Vitruv
Samsonow, Elisabeth v. 140f. Schede, Paul Melissus
332
11, 125
121
Voltaire 240, 323f.
314, 323
Scheiner, Christoph 150
Weber, Max 45
Schmidt, Johannes Andreas 158f., 173
Wedekind, Georg Christian Gottlieb v. 184
Schrenck, Johann
Weigel, Erhard 155f.
308
Schütz, Alfred 10
Weston, Elizabeth Jane 323
Schudt, Johann Jacob 165
Whiston, William
Schyrlaeus Rheita, Antonius de 146, 148, 155, 163
Wideburg, Christoph Tobias
Historische Zeitschrift //
BEIHEFT
71 / 2018
166 321
Wilkins, John
149–151, 155, 157, 166
Winterburger, Johann Wolff, Christian 165f.
219
Zasius, Ulrich
230
Zeno, stoischer Philosoph
283
Zesen, Philipp v. 320
PERSONENREGISTER
333
Ortsregister
Abensberg Angers
Köln
207
211, 263
Konstantinopel
211
216
Arezzo 87
Konstanz
40, 249, 252
Avignon 210, 301
Kres 186
Basel 177, 179, 191, 211f., 214f., 225
La Roé 87
Bertinoro 149
Leipzig
211, 254, 262f., 265, 271
Bochum 174
Löwen
211, 275, 277–282
Bologna
88f., 93, 96, 266, 281, 286, 288
Lombez
301
Bourges
229, 245
London
290
Braunschweig 320 Magdeburg 156, 230 Caen
Mailand 266, 303
211
Canterbury
91f., 94, 97, 102
Mainz
211
Marseille 304 Montpellier 177, 179, 211
Delphi 192
Münster
44
Erfurt 211 Evesham 93, 100, 102, 106f. Frankfurt am Main Freiburg im Breisgau
165 211
Nantes
211
Neapel
301
Nevers
323
Noyon
109f.
Nürnberg Göppingen
297f.
266
Göttingen 174, 320, 323, 325
Orlamünde 169
Graz
Orléans
142
Greifswald 253
209, 211
Oudenburg 77–79 Oxford 90
Heidelberg
211, 259, 302, 315
Helmstedt
26, 158, 311, 316–320
Padua Paris
Ingolstadt 152, 205f., 207, 211, 309, 316 Innsbruck
174
195 90, 162, 209, 211, 220, 266, 268, 280–282, 286,
288, 301, 303f., 306 Pitschen 316 Prag 211, 316
Jena 7f., 259 Rennes 209 Krakau Kiel
230, 232
159
Rom 51, 70, 91f., 94f., 97, 102, 111, 218, 301, 303, 308
DOI
10.1515/9783110576030-014
335
Saint-Éloi 109, 113
Tréguier
Saint-Riquier
Trier 211
Salamanca
80 286
Tübingen
Schöningen 320 Siena
208f.
87f.
Soissons
78
Vendôme 87
St. Davids
91, 95, 97, 102
Straßburg
26, 311–313, 315f., 318
Sulzbach
Venedig 50, 66
314
Wien 211, 218–220, 286, 308f. Wittenberg
Timmerlag
320
151, 155, 160, 211, 253–257, 259
Wittnau (Wytnaw) 188
Toronto 32
Worcester
Toulouse 301
Würzburg 179
Tournai 80
336
134, 211, 316
Turin 281
Historische Zeitschrift //
BEIHEFT
71 / 2018
90, 98f.