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German Pages 32 Year 1915
„Wirtschaftswissenschaft?“ Von Gerhart v. Schulze-Gaevernitz
Duncker & Humblot reprints
Wirtschaftswissenschaft ?" Von
Oerhart v. Schulze-Gaevernitz.
München und Leipzig. V e r l a g von D u n c k e r & H u m b i o t . 1915.
Alle
Rechte
vorbehalten.
Altenbürg Pierersche Hofbuchdruckerei Stephan Geibel & Co.
Lujo Brentano zum siebzigsten G e b u r t s t a g in alter Verehrung zugeeignet.
Das Manuskript wurde am 25. J u l i 1914 eingereicht und unverändert gedruckt, da der Verfasser als Kriegsfreiwilliger
in das Feld gerückt ist; daher
die Nichterwähnung
der Tatsache
des Krieges.
J l l E Nationalökonomie als Lehre wie Schriftstellerei ist W i r t j s c h a f t s W i s s e n s c h a f t oder W i r t s c h a f t s p o l i t i k . M i t j Recht fordert man scharfe u n d bewußte Trennung beider zmm Gebiete. Vermengung m i t P o l i t i k verfälscht die Wissenschaft: wissenschaftliche Interessenvertretung? Der Schein unpersönlicher Wissenschaftlichkeit entmannt den stets persönlichen W i l l e n zur P o l i t i k : P o l i t i k zwischen den Zeilen? W i r hoffen nicht mehr m i t Roscher, durch volkswirtschaftliche Erkenntnis die politischen Parteizwiste zu versöhnen, u n d w i r lehnen m i t Prince S m i t h zwar „unwissenschaftliche Sonderinteressen'' ab, wissen aber sehr wohl, daß die W a h r nehmung des Allgemeininteresses nicht wissenschaftlicher wäre. Die Wirtschafts W i s s e n s c h a f t kennt keine andere G ö t t i n als die Wahrheit. Sie hat weder das Privatinteresse der Unternehmer, noch das der Arbeiter, noch das „ G e m e i n w o h l " zu fördern; sie hat nicht zu klagen, nicht zu loben, sondern lediglich das, was ist, festzustellen u n d kausal zu erklären. Die Wirtschaftspolitik dagegen m i ß t das Sein an offen auszusprechenden Werten u n d sucht es, so weit an ihr liegt, zu „bessern".
A
I. Begriff der Wirtschaftswissenschaft. a) D i e W i r t s c h a f t s w i s s e n s c h a f t ist Kulturwissens c h a f t in dem heute üblich gewordenen W T indelband-Rickertschen Sprachgebrauch. E r wurzelt i n der Kantschen Unterscheidung der N a t u r als dem Reiche allgemeingültiger, letzthin mathematisch formulierbarer Gesetze u n d der M e n s c h h e i t (Gattung) als dem einmaligen Reiche der Zwecke. D o r t wertneutraler Naturmechanismus — , hier wert verwirklichender Fortschritt der Geschichte; dort Newton -— hier Fichte. Als Kulturwissenschaft hat die Wirtschaftswissenschaft einen t e l e o l o g i s c h e n A u s g a n g s p u n k t , insofern sie nach einem Wertgesichtspunkt ihr Gebiet absteckt, was sehr w o h l vereinbar ist m i t einer rein kausalen, völlig wertfreien Behandlung ihrer Gegenstände. Man scheide scharf zwischen Zweck als Auswahlprinzip des erkennenden Subjekts u n d Zweck als psychologischer Tatsache i m handelnden Objekt — beides wohl vereinbar m i t rein kausaler Wissenschaft, die lediglich den Zweck als metaphysische, hinter den Dingen wirkende „Zweckursache" ablehnt.
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A u c h die B i o l o g i e arbeitet m i t bestimmten teleologischen Grundbegriffen, wie Leben, K r a n k h e i t , Tod, Anpassung usw. Der Organismus •— eine Aufhäufung ewig wechselnder chemischer Stoffe, aber doch ,,ein Ganzes'', zusammengehalten durch die Beurteilung, daß die Teile auf äußere Reize für den Zweck der E r h a l t u n g des Ganzen reagieren. Trotzdem erstrebt die Biologie die kausale, letzthin mechanistische E r k l ä r u n g der Lebens Vorgänge, ,,die Zurückführung der K a u s a l i t ä t i m organischen Leben auf die der anorganischen Körper' '. E i n D a r w i n arbeitet m i t dem teleologischen Begriff des Lebens, er spricht von ,,Mitteln'', die den Organismus ,,befähigen" zu existieren — aber er sucht unter Ausschaltung aller zwecktätigen Kräfte die E n t stehung der A r t e n rein kausal zu erklären. So schon K a n t : der Begriff des Organismus ist teleologisch auf das zweckmäßige Wechselverhältnis zwischen dem Ganzen u n d den Teilen gestellt; aber ,,ich soll über die Organismen nach dem Prinzip des bloßen Mechanismus reflektieren, weil, ohne i h n der Naturforschung zugrunde zu legen, es gar keine eigentliche Naturerkenntnis geben k a n n " . Die Wertgesichtspunkte, durch welche die Kulturwissenschaften ihr Gebiet begrenzen, umfassen jene Werte, die w i r i n ihrer Gesamtheit als „ K u l t u r " (das zu Pflegende) bezeichnen. Teils sind es die letzten (absoluten) Werte der K u l t u r i n Recht u n d Staat, i n Wissenschaft, K u n s t u n d Religion, teils die mittelbaren (relativen) Werte der K u l t u r i n Sprache u n d Wirtschaft. Nach dem System dieser Werte gliedert sich das Gebiet der Kulturwissenschaften. Es liegt einem solchen Gedankengange nahe, wenn Stammler den Naturwissenschaften die Z w e c k Wissenschaften gegenüber stellt, indem er als Zweck nur den „berechtigten" Zweck gelten läßt, ,,der einem allgemeingültigen Gesetz des telos e n t s p r i c h t " ; aber er faßt diesen Zweck zu eng, indem er lediglich an das politische Ideal: eine Gemeinschaft freiwollender Menschen denkt. Die Wirtschaftswissenschaft ist durch die Besonderheit ihres Auswahlprinzips von den anderen Kulturwissenschaften unterschieden. Aus der unendlichen Mannigfaltigkeit der Erscheinungen liest sie diejenigen heraus, welche w i r t s c h a f t l i c h bedeutsam sind, d. h. wesentlich für die Unterwerfung der äußeren N a t u r durch menschliche T ä t i g k e i t unter die Zwecke der menschlichen Bedürfnisbefriedigung: ,,Sachgüterbeschaffung" i m weitesten Sinn (Herstellung, Verteilung, Verbrauch), als solche stets eine ,,Form- oder Ortsveränderung" des Stoffes. Objektive Voraussetzung für ein solches Gebiet v o n Erscheinungen ist eine gewisse Beschränktheit der N a t u r gegenüber dem sich i n das unbegrenzte entfaltenden Bedürfnis: Es handelt sich u m einen K a m p f m i t der N a t u r , u m Aufwendung von Mühe u n d
IV irtschafts w is sense h ci ft?"
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Opfern. Lebten w i r „ v o n L u f t u n d Liebe", so gäbe es kein Wirtschaftsleben, also auch keine Wirtschaftswissenschaft, ebenso wenig wie es eine solche auf jener glücklichen Südseeinsel gibt, auf der, wie Cook erzählt, der Mann, der einmal i n seinem Leben z e h n Brotfruchtbäume pflanzte, ebenso die Pflicht gegen seine Nachkommen erfüllt hat, wie der Mann, der i n unserem K l i m a das ganze Leben hindurch pflügt, sät u n d erntet. Gegenstand alles Wirtschaf tens ist die Beschaffung der „ G ü t e r " als sachlicher Bedürfnisbefriedigungsmittel (Philippovich). „ A r b e i t " ist das M i t t e l ihrer Beschaffung — ein M i t t e l zum M i t t e l . „ R e c h t e " sind das Mittel, wodurch die Staatsgewalt die Verfügungsmacht über die Güter dem Wirtschafter sichert — also ebenfalls M i t t e l zum M i t t e l . (Böhm-Bawerk.) Die „Sachgüterbeschaffung" ist insofern ein geeignetes wissenschaftliches Auswahlprinzip, weil sie ein a l l g e m e i n g ü l t i g e s Interesse besitzt. Wirtschaftliche Güter haben zwar keinen Anspruch auf allgemeingültigen E i g e n w e r t , aber sie haben „Bedingungswert" — Wert für die Allgemeinheit —- insofern, als die Verwirklichung der menschlichen K u l t u r a u f gaben ohne sie unmöglich ist. Zwar mag es sein, daß das Wirtschaftsleben nicht die „ W ü r d e " des Wissenschaftsoder Kunstlebens besitzt (Dilthey), aber die Enge des Universitätsbudgets mahnt den deutschen Wissenschaftler nur zu oft an die w i r t schaftliche Grundlage auch der idealsten Kulturaufgaben u n d verbindet insbesondere die Naturwissenschaft m i t der Staatsfinanz. W e n n die Künstler nicht verkaufen, verhungert die K u n s t . Breiter bürgerlicher Besitz war allzeit der beste Nährboden der bildenden K u n s t , den staatliche Protektion nicht ersetzen kann. Das „ K a p i t a l " eines K a r l Marx wäre nicht geschrieben worden ohne das K a p i t a l , das der stets hilfsbereite Freund Engels besaß. Überall meldet sich der „nervus r e r u m " . b) D i e W i r t s c h a f t s w i s s e n s c h a f t i s t S o z i a l W i s s e n s c h a f t . N i c h t der Einzelne, auch nicht das Genie, sondern allein der menschliche Makrokosmos, die „Menschheit" i n ihrem zeitlichen u n d räumlichen Nach- u n d Nebeneinander, v e r w i r k l i c h t schrittweise die K u l t u r . Die K u l t u r ist ein sozialer Prozeß. Hierdurch unterscheidet sich die m e n s c h l i c h e „Gesellschaft" von der naturwissenschaftlich gewiß hochinteressanten Ameisen- u n d Bienengesellschaft. „ G e s e l l s c h a f t " i n diesem Sinne ist ein teleologischer Begriff: dasjenige Zusammensein von Menschen, welches bedeutsam ist für die Entstehung u n d den Fortschritt der K u l t u r . Man darf also nicht fragen: Wie entsteht die Gesellschaft? sondern: W a n n setzt die kulturwissenschaftliche Betrachtung ein? W a n n ist es z. B. möglich, die Horde — zunächst Gegenstand der Anthropologie — unter K u l t u r werten zu betrachten als eine wenn auch noch so p r i m i t i v e Stufe für die K u l t u r e n t w i c k l u n g der Menschheit?
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Es soll damit ein naturwissenschaftlich-psychologistischer Gesellschaftsbegriff keineswegs abgelehnt werden ; es k a n n etwa nach Spencer „dauernde psychische Wechselwirkung", nach Tarde „Wechselwirkung durch Nachahmung", nach Giddings „Gattungsempfindung" (consciousness of kind) zum Merkmal des Gesellschaftsbegriffs gemacht werden. Man k a n n die Frage aufrollen, ob überhaupt eine scharfe Grenze zwischen Einzelorganismus („Zellenstaat") u n d Gesellschaft möglich ist. V o n hier ausgehend, k o m m t m a n vielleicht zu einer naturwissenschaftlichen Soziologie, welche die einfachsten Formen der Vergesellschaftung behandelt, z. B. Unterordnung, Wettbewerb, Nachahmung, Opposition usw., sodann das Gemeinsame der Tier- u n d Menschengesellschaft aufsucht u n d als Naturwissenschaft Allgemeinbegriffen u n d Gesetzen zustrebt. Anders die W i r t s c h a f t s Wissenschaft, welche gesellschaftliche Zusammenhänge von „ M e n s c h e n " aus der Masse des Naturgeschehens heraushebt, wobei das W o r t Mensch einen Wertakzent trägt. Die Wirtschaftswissenschaft als Sozialwissenschaft beruht auf der A n erkennung des sozialen Wertes: Stets hat m a n — oft recht unklar — das g e s e l l s c h a f t l i c h e G a n z e in die Begriffsbestimmung der Wirtschaftswissenschaft hineingezogen, dessen „ G l i e d e r " die einzelnen Wirtschaften seien. I n der T a t : Wer Nationalökonomie treibt, t u t es, weil i h m die wirtschaftliche Sicherung des gesellschaftlichen Ganzen — der Menschheit, der N a t i o n — bedeutsam erscheint. Die Verpflichtung zur Nationalökonomie beruht letzthin darauf, daß der K u l t u r m e n s c h sich für die soziale Gemeinschaft als den K u l t u r t r ä g e r interessieren s o l l . Wer den sozialen W e r t leugnet, w i r d sinnvollerweise nicht der Nationalökonomie als W i s s e n s c h a f t dienen, sondern für seine Privatwirtschaft sorgen. U m den eigenen Beutel zu füllen, braucht es vielleicht eine Kunstlehre, eine Nationalökonomie als „ L e h r e von der K u n s t , reich zu werden", wie sie die Kameralisten (nicht ohne einen staatlich-kulturellen Einschlag) verstanden — keine W i s s e n s c h a f t , deren Betrieb stets auf überpersönliche Beweggründe zurückgeht. Rein individualwirtschaftliche Tatsachen als solche scheiden aus dem Bereich der wirtschaftswissenschaftlichen Betracht u n g aus. Wirtschaftswissenschaft im weitesten Sinne also ist die W i s s e n s c h a f t von der U n t e r w e r f u n g der ä u ß e r e n N a t u r u n t e r die Zwecke der Gesellschaft. H a t innerhalb dieser Wissenschaft der Gedanke des „ F o r t s c h r i t t s " einen Sinn ? Zweifellos ja, da dem Begriff unserer Wissenschaft ein Zweckgedanke zugrunde liegt. Wirtschaftlicher Fortschritt
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bedeutet bessere, d. h. dem Kulturzweck entsprechendere Sachgüterversorgung der Gesellschaft. Der Gedanke des Fortschritts — ein christliches Erbstück der westeuropäischen W e l t : Reich-Gottes-Idee, — wurde von der modernen Naturwissenschaft (von ihrem Standpunkt aus m i t Recht) zertrümmert: Brunos unzählige, sich wiederholende Welten! V o n K a n t neu begründet, wurde er von Fichte u n d Hegel zur geschichtsphilosophischen Weltanschauung des deutschen Idealismus gesteigert. V o n den neueren Kantianern des metaphysischen Rankenwerkes entkleidet, durchzieht er alle Kulturwissenschaft. Ist das a priori der Naturwissenschaft die überempirische Naturgesetzlichkeit, die auch dort gilt, wo w i r sie nicht beobachtet haben, so ist das a priori aller Kulturwissenschaft ein überempirischer W e r t , in dem alle empirischen K u l t u r w e r t e verankert sind: ,,Das Ziel, nach dem die Leute ausspähen von ferne" (Hiob). W o aber ein Ziel, da besteht die Möglichkeit des Fortschritts — und des Rückschritts, des „Fortschritts zum Teufel" nach Carlyle. Wirtschaft u n d Technik ? Der Mensch k ä m p f t den K a m p f m i t der N a t u r nicht nur für gesellschaftliche Zwecke, sondern w e i t h i n auch i m Zusammenwirken m i t seinesgleichen, also m i t gesellschaftlichen Mitteln. Der Mensch t r i t t als Gruppe über die Schwelle der Geschichte. Hiernach scheidet sich Technik u n d Wirtschaft i m engeren Sinne: V ο 1 k s Wirtschaft. Unter T e c h n i k verstehen w i r die Wege, die der Mensch i m u n m i t t e l b a r e n Kampfe m i t der N a t u r beschreitet — zuerst in roher Empirie, später unter Beratung der Naturwissenschaft i m rationellen Verfahren. Unter V o l k s w i r t s c h a f t dagegen verstehen wir denselben K a m p f , soweit er m i t gesellschaftlichen M i t t e l n geführt wird, also Beziehungen von Mensch zu Mensch herstellt. M i t Recht sagt K . Menger: Wirtschaft ist ,,die auf Deckung des Güterbedarfs gerichtete vorsorgliche T ä t i g k e i t " , V o l k s Wirtschaft „ d i e g e s e l l s c h a f t l i c h e F o r m derselben". Bei der häufigen Vermengung von Technik und Volkswirtschaft ist diese Unterscheidung von erheblicher Bedeutung. Seit wie lange ist die physiokratische Illusion verschwunden, daß die Grundrente aus der Erde wächst, nicht aus der Gesellschaft ? Marx hat demgegenüber erklärt : Die W a r e n form des Arbeitsproduktes hat m i t der technischen Herstellung nichts zu tun, sondern entspringt dem g e s e l l s c h a f t l i c h e n Verhältnis der Menschen. Technik ζ. B. ist die Dreifelderwirtschaft — ein Verhältnis von Mensch zu N a t u r ; ein volkswirtschaftliches Verhältnis dagegen ist der Flurzwang u n d die Gemengelage, wobei Mensch zu Mensch i n Beziehung t r i t t . Sache der Technik ist die Speicherung, Sache der Wirtschaft die Verpfändung der lagernden Güter. M i t Recht sagt Stammler: N i c h t die Dampfmaschine bewirkte
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die Umgestaltung der sozialen Verhältnisse, sondern ihre Verwendung i m Lohnvertrag. U n t e r Wirtschaftswissenschaft i m engeren Sinn, , , V o l k s W i r t schaftswissenschaft" (Sozialoder Nationalö k o n o m i e ) verstehen w i r demnach die W i s s e n s c h a f t von der U n t e r w e r f u n g der äußeren N a t u r unter die Z w e c k e der G e s e l l s c h a f t m i t gesellschaftlichen Mitteln. Das sogenannte P r i n z i p d e r W i r t s c h a f t l i c h k e i t — größter Erfolg m i t kleinstem M i t t e l — hat demgegenüber m i t der Bestimmung des Begriffs unserer Wissenschaft nicht das mindeste zu t u n . Es ist nach Dietzel das „ V e r n u n f t p r i n z i p jeder zweckmäßigen H a n d l u n g " u n d gilt als solches weit über das Wirtschaftsgebiet hinaus — etwa v o m Betriebe jeder Wissenschaft. Es gilt beispielsweise auch vom Betriebe unserer deutschen Nationalökonomie: Während w i r Lehrer von heute mühselige A u t o d i d a k t e n sind, führen w i r unsere Schüler durch Seminare, Proseminare, Examinatorien u n d Spezialvorlesungen aller A r t unter erheblicher Kraftersparnis „spielend" zu dem, was w i r auf I r r - u n d Umwegen erreichten— w i r führen sie damit zu der Einsicht, daß unsere Wissenschaft noch i n den Kinderschuhen steckt u n d zu dem Entschluß u m so kräftigeren Vorstoßes ins Reich des Unbekannten weit über uns Lehrer hinaus. Anderseits deckt das Prinzip der W i r t schaftlichkeit nicht entfernt das gesamte wirtschaftliche Dasein der Menschheit; sonst wäre die p r i m i t i v e u n d mittelalterliche Wirtschaft unserer Wissenschaft entzogen, da nicht der homo oeconomicus, sondern ein „Vorwirtschaftsmensch'' diese breitesten Gefilde alles Wirtschaftslebens beherrscht. Ebensowenig hat das Prinzip der Wirtschaftlichkeit m i t dem Begriff der Technik etwas zu t u n : Jahrtausende hindurch hat der Mensch die „ T e c h n i k " der Dreifelderwirtschaft betrieben, nicht u m den größten Erfolg m i t den geringsten M i t t e l n zu erzielen, sondern weil er „ d i e Gewohnheit seine A m m e " nannte!
IL Die Methoden der Wirtschaftswissenschaft. Die menschliche Wirtschaft ist eine einmalige, durch ihren K u l t u r zweck zur Einheit zusammengebundene Tatsache — wie die Gesellschaft selbst eine historische Erscheinung erster Ordnung, die ihresgleichen auf diesem Globus nicht gehabt hat u n d nicht haben wird. W i r erfassen sie zunächst u n d unmittelbar auf dem Wege der G e s c h i c h t s f o r s c h u n g . W7as immer w i r v o n der „Wirtschaftstheorie" halten: die b r e i t e Masse alles w i r t s c h a f t l i c h e n Seins ist nur h i s t o r i s c h z u e r f a s s e n . Die Wirtschaftsgeschichte beginnt dort, wo der K a m p f m i t der N a t u r den Zwecken der Gesellschaft dient u n d
W ir Is eh aj ts w is sens chcift?"
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ein — wenn auch noch so primitives — Kulturgebäude trägt. Der Ackerbau des W i l d e n w i r d damit zur A g r i k u l t u r (Rickert). Vorher gibt es nur Natur, keine Geschichte — Ethnographie als N a t u r wissenschaft, keine Wirtschaftswissenschaft als Kulturwissenschaft. Letztes Ziel der Wirtschaftsgeschichte ist es, die W i r t s c h a f t s e n t w i c k l u n g d e r g e s a m t e n M e n s c h h e i t a l s G a n z e s zu umfassen u n d darzustellen. Hierfür gilt es zuerst die Teile dieses Ganzen der Sonderforschung zu unterwerfen. Jede dieser Teilentwicklungen ist verschieden; jedes V o l k hat eine verschiedenartige Bedeutung für die allgemeine Wirtschaftsgeschichte u n d ist i n dieser seiner Eigenart zu erfassen. Ehe m a n z. B. die Entstehung des europäischen K a p i talismus i m großen schildert, gehe m a n den kapitalistischen Anfängen i n Italien und Deutschland, Frankreich u n d England nach, v o n denen keineswegs ohne weiteres feststeht, daß sie gleichartig gewesen sein müssen. Aber auch derjenige, welcher — sei es monographisch, sei es zusammenfassend — die AVirtschaftsverhältnisse der Gegenwart schildert, arbeitet m i t den M i t t e l n der Geschichtsforschung. Auch sogenannte „ T h e o r e t i k e r " wandeln historische Wege dort, wo sie vorkapitalistische Gefilde durchschreiten oder i m kapitalistischen Felde sich der konkreten Einzelerscheinung nähern. Ziel derartiger Teildarstellung aber sollte es immer sein, einen Baustein zu liefern zur Erkenntnis der Volkswirtschaften, der allumspannenden Weltwirtschaft der Gegenwart als einmaligen Hervorbringungen der Wirtschaftsgeschichte. Jede Monographie hat sinnvoller Weise über sich selbst hinaus auf ein größeres Ganzes hinzustreben. Die Monographie k a n n letzthin bis zur E i n z e l w i r t s c h a f t hinabsteigen, soweit diese, als einmaliges K o n k r e t u m , wirtschaftsgeschichtliche Bedeutung gehabt hat, z. B. die Wirtschaft der Fugger, der Rothschild, der K r u p p u. a. I n allen diesen Fällen — ob kapitalistisches Zeitalter, ob italienischer Frühkapitalismus, ob das Haus Medici — immer handelt es sich u m einmalige, in ihrer Eigenart für den W T irtschaftsverlauf wesentliche Erscheinungen: das „ a b s o l u t H i s t o r i s c h e". Durch die historische Methode hat die d e u t s c h e N a t i o n a l ö k o n o m i e — nicht anders als die deutsche Sprach-, Rechts- u n d Religionswissenschaft — die W e l t erobert: Eine wissenschaftliche T a t ersten Ranges, die einem jüngeren, mehr „theoretisch" gerichteten Geschlecht unverloren sein soll ! A n ihrem Stamme erblühten Brentanos Arbeitergilden der Gegenwart, Knapps Bauernbefreiung, die Jugendarbeiten Schmollers. Ihre Meister schufen anschauliche Bilder, geschaut m i t dem Auge wissenschaftlicher Phantasie u n d umrissen m i t dem Stifte des Künstlers. Ihre Musterleistungen waren weder A k t e n exzerpte, noch Materialhäufungen — „ n i c h t dem Stoffe mühsam ab-
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gerungen". Ernsteste archivalische Bemühung war eingeschmolzen in den Guß einheitlicher Darstellung. Aber es gilt auch von diesem Erbstück, es immer wieder neu zu erwerben, u m es zu besitzen. Wie weit w i r noch v o m Ziele der Erkenntnis entfernt sind, zeigen Sombarts tastende Versuche einer Gesamtdarstellung des modernen Kapitalismus, welche gewagt werden mußten, u m zu gründlicherer Untermauerung i m einzelnen anzuregen. Aber w i r kennen i h n auch, jenen ,, Stoff huber", welcher i m einzelnen stecken bleibt. Wahllos druckt er alles Material ab, was i m A r c h i v über sein Thema et quaedam alia auffindbar ist; insbesondere druckt er „obrigkeitliche" Verordnungen ehrfurchtsvoll ab, ohne zu fragen, ob u n d wie sie gewirkt haben. Brentano macht einmal m i t Recht darauf aufmerksam, daß gerade die häufige Wiederholung von Verordnungen gleichen Inhalts darauf hinweise, wie wenig sie befolgt worden sind. „Geistloses A n t i q u a r i e r t u m " , mag es sich „reine Lektüre der Quellen" oder „deskriptive Volkswirtschaftslehre" nennen, hat die deutsche Wissenschaft i n Verruf gebracht, u n d „Befreiung v o m Aktenstaube" wurde zur Losung des Tages. Aber hüten w i r uns, das K i n d m i t dem Bade auszuschütten! Eine einzige Tatsache, richtig festgestellt, kann w e r t v o l l werden für den „ S i n n h u b e r " , der sie später einmal entdeckt — etwa i n den Schriften des Vereins für Sozialpolitik, diesem gewaltigen Steinbruch volkswirtschaftlichen Rohstoffes. Ehrfurcht vor der Tatsache ! Die wirtschaftsgeschichtliche Methode ist die Methode der Geschichtswissenschaft überhaupt, aber sie weist daneben auch Eigentümlichkeiten auf, die sie etwa von der politischen oder Kunstgeschichte tiefgreifend unterscheiden. Das G e m e i n s a m e der wirtschaftsgeschichtlichen m i t aller historischen Methode fällt aus dem Rahmen vorliegender Untersuchung heraus, wobei auf die grundlegenden Arbeiten Rickerts verwiesen sei. Alle Historie verwendet, u m das Einmalige anschaulich zu machen, Allgemeinbegriffe, die sie dem vorwissenschaftlichen Denken entnimmt. A u c h die Wirtschaftsgeschichte benutzt zahlreiche „ G r u n d w o r t e " , deren gemeinsprachliche Bedeutung festzulegen nicht unnütz ist. Alle Historie gipfelt in der A u f W e i s u n g historischer Kausalzusammenhänge. Es ist ein I r r t u m , wenn die „Anhänger der Willensfreiheit" kausale Feststellungen i n der Sozialwissenschaft für unmöglich erklären, weil freie menschliche Handlungen ihr Gegenstand seien. Der Gegensatz v o n Kausalität u n d Freiheit gehört nicht i n die Wissenschaft, sondern i n die Lebenspraxis — auch die des Wissenschaftlers. Die kausale Gebundenheit alles Seins ist nach K a n t keine „ E n t s c h u l d i g u n g " für
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eine Gemeinheit, auch nicht für eine wissenschaftliche Liederlichkeit. Die Freiheit des Willens ist ein Postulat, ohne dessen praktische Bejahung keine K u l t u r a r b e i t , auch keine wissenschaftliche Arbeit möglich ist. Denn die Willensfreiheit ist die Voraussetzung für die pflichtmäßige Anwendung der Denkgesetze, insbesondere der rein kausalen Denkform i n der Wissenschaft. Die Abweisung des Wunders — des deus ex machina — als einer Durchbrechung der Kausalität ist eine wissenschaftliche Pflicht, die zu verletzen w i r frei sind. Hinsichtlich der „ h i s t o r i s c h e n K a u s a l i t ä t " arbeitet die Wirtschaftsgeschichte nicht anders als sonstige historische Disziplinen. Sie verwendet allgemeine Kausalbegriffe — teils populäre Vorstellungen über wiederkehrende Ursachenverknüpfung, teils naturwissenschaftliche Gesetze, z. B. Gesetz des abnehmenden Bodenertrags. A u c h die sogenannten Gesetze der theoretischen Nationalökonomie können Verwendung finden, z. B. die Quantitätstheorie zur E r k l ä r u n g der neuzeitlichen Preissteigerung. Es ist ein I r r t u m zu vermeinen, daß nur psychologische Ursachen i m Wirtschaftsleben eine Rolle spielen; nicht minder t u n das auch geographische, meteorologische, physiologische Ursachen. Man folgert z. B. die bestimmte A r t der Wirtschaftsentwicklung eines Volkes aus der N a t u r des von i h m bewohnten Landes. Zwar dehnen sich die Kausalketten endlos nach allen Seiten aus, aber die Geschichtsforschung begrenzt u n d gliedert sie nach dem Gegenstand ihres Interesses. Trotz Schopenhauer ist ihr die Kausalität ein Fiaker, den sie verläßt, sobald die Fahrt nicht mehr interessiert: sie begnügt sich d a m i t , den Vorgang, der nach ihrem Auswahlprinzip ihr wesentlich ist, i n seiner kausalen Notwendigkeit nacherleben zu lassen. Sie wendet sich damit an die Phantasie des Lesers und streift an die Tätigkeit des dramatischen Dichters. Insbesondere muß die Wirtschaftsgeschichte zur kausalen Erklärung wirtschaftlicher Tatsachen die Vorgänge der p o l i t i s c h e n und g e i s t e s g e s c h i c h t l i c h e n V o r - u n d U m w e l t i n reichstem Maße heranziehen. Der geschichtliche Mensch ist „der volle u n d ganze Mensch", nie bloßer Wirtschaftsmensch, u n d A. Comte hat noch heute Recht: „ E s gibt keine Wissenschaft v o m Magen". Beispiele : Zwecks p o l i t i s c h e n Aufschwungs des Papsttums dekretierte der Papst Honorius zunächst an die ungarischen Bischöfe 1217: „ U t vicesimam redigant i n pecuniam". Dieser Befehl — politische Ursache — war i n seinen Folgen wirtschaftsgeschichtlich höchst bedeutsam, weil er die Monetarisierung größerer Vermögensbeträge einleitete u n d die „usurarli curiae Romanae" — Siena u n d Florenz — emporhob. — Unter den Ursachen der wirtschaftlich wichtigsten Tatsache des X I X . Jahrhunderts, der britischen Wirtschaftssuprematie, unter
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den Ursachen unseres neudeutschen Wirtschaftsaufschwungs stehen p o l i t i s c h e Tatsachen voran: Trafalgar, Sedan! Die Entstehung des Kapitalismus i n Westeuropa weist auf die Geistesgeschichte: auf die Zertrümmerung des Traditionalismus gegen Ausgang des M i t t e l alters, welche Dante vorahnend i n die W o r t e faßte: ,,Sei d u fortan dein Bischof u n d dein F ü r s t , " nicht minder aber auf die geistige Neubindung durch den britischen Puritanismus u n d den deutschen Idealismus. Befreiung u n d Selbstgesetzgebung brachten jene „starken" Menschen hervor, die das Rückgrat der germanischen Wirtschaftswelt bilden u n d ihren Kapitalismus— eine vorwiegende Erscheinung d i e s e r W e l t — tragen. I n letzter Linie hat die wirtschaftsgeschichtliche Kausalforschung nicht selten bis zu e i n z e l n e n M e n s c h e n vorzudringen : Aberw i t z ist es, neudeutsche Wirtschaftsgeschichte zu schreiben, ohne den Namen Bismarck zu nennen. Oder — v o m großen zum kleinen: Bei Gelegenheit einer Monographie über ein Dorf badischer „Reformbauern" stießen w i r auf den Einfluß eines namenlosen, vor Jahren verstorbenen Mannes, auf dessen geistigen Schultern das Dorf ruhte; als Lokalgeologe hatte er durch einen Aufsatz i n einer wissenschaftlichen Zeitschrift die Aufmerksamkeit des großen D a r w i n auf sich gelenkt, dessen Schreiben als Reliquie der Dörfler aufbewahrt wurde. N i c h t anders ging es bei den Anfängen vieler Industrien, denen zumeist e i η Mann Pate gestanden hat. Aber gerade hier stoßen w i r auf die Grenze der historischen Kausalität. Der einzelne Mensch w i r d dadurch geschichtlich, daß er weite Kreise m i t „einem Abglanz seines inneren Lichtes übergießt" (Lagarde). Dieses „innere L i c h t " ist ein irrationaler Rest, den keine Geschichtsforschung auflösen, sondern nur als solchen feststellen kann. Deswegen ist jeder Versuch abzulehnen, die W i r t schaftswissenschaft restlos zu rationalisieren, so ζ. B. der historische Materialismus. Der Versuch des h i s t o r i s c h e n Materialismus, das Ökonomische als die „ p r i m ä r e " Ursache alles geschichtlichen Geschehens auszurufen, ist uns heute unrealistische Geschichtsmetaphysik, nicht anders, als wenn m a n den religiösen oder den politischen Faktor zum Alleinherrscher machen wollte! M i t Recht macht Stammler ζ. B. darauf aufmerksam, daß die technisch-ökonomischen Wandlungen in eine bestimmte Rechtsordnung einschlagen — die Wirkungen wären ganze andere gewesen bei Vorhandensein einer anderen Rechtsordnung, ζ. B. einer sozialistischen. I c h denke dabei an meine Studien über die gutsherrliche Fabrik Rußlands: Die moderne Technik schlägt i n eine W T elt der Leibeigenschaft ein. Welch' andere Wirkungen als i n England! Der echte Historiker packt die Kausalien am Schopf, wo er
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sie findet. I h m ist der historische Materialismus ein nützliches heuristisches Prinzip, u m wirtschaftliche Kausalreihen auch dort zu suchen, wo sie versteckt sind u n d bisher nicht beachtet wurden, ζ. B . i n der Kunst- u n d Religionsgeschichte. Wirtschaftsgeschichtliche Untergründe können ähnliche Stimmungen hervorbringen, welche i n ähnlichen K u n s t formen ihren Ausdruck suchen: Z u m Barock des fürstlichen Merkantilismus neigt ζ. B. der nicht minder absolutistische Industrie- u n d Bankkapitalismus unserer Tage. Neben diesen Gemeinsamkeiten weist die Wirtschaftswissenschaft etwa gegenüber der politischen Historie bestimmte E i g e n t ü m l i c h k e i t e n auf, die — richtig verstanden — nicht übel m i t der Unterscheidung zwischen „ k o l l e k t i v e r u n d individueller Geschichtsforschung" bezeichnet werden. Es handelt sich hierbei jedoch nicht u m einen eigentlichen Gegensatz, sondern nur u m ein i n den Gegenständen begründetes Mehr oder Minder. Das letzte Ziel aller Geschichtswissenschaft ist es, e i n m a l i g e Vorgänge als die eigentlichen Kulturträger — das „absolut Historische" — zu veranschaulichen und zum „Nacherleben" zu bringen. Es gilt dies, wie w i r sahen, a u c h von der Wirtschaftsgeschichte. Aber innerhalb dieses E i n maligen — ζ. B. „moderner K a p i t a l i s m u s " — handelt es sich weit überwiegend u m das ähnliche Verhalten zahlreicher Einzelner : ähnliche Bedürfnisse, die in ähnlichen Formen ihre Befriedigung finden, wom i t ihre Bedeutung für das gesellschaftliche Dasein erschöpft ist. Die Wirtschaftsgeschichte braucht seltener als die Staats- oder die Religionsgeschichte zum einzelnen Menschen als dem einzigartigen Träger von K u l t u r w e r t e n hinabzusteigen. I h r ist das „Namenlose" weithin das Wesentliche; das Persönliche w i r d zum „ F a l l " des Massenvorganges. Der Mensch ist Unternehmer, Arbeiter, Leihkapitalist, Grundrentner u. a. Innerhalb des wirtschaftlichen Geschichtsverlaufs spielt das Gemeinsame oder Ähnliche vielfach die leitende Rolle — das „ r e l a t i v Historische". Die Wirtschaftsgeschichte arbeitet daher i n ihren einzelnen Teilen m i t Allgemeinbegriffen, vielfach nicht nur als Mittel, sondern auch als nächstem Ziel der Darstellung. Diese Allgemeinbegriffe sind zunächst G a t t u n g s b e g r i f f e , entnommen dem Sprachgebrauch des vorwissenschaftlichen Denkens, aber der Wissenschaftler bearbeitet sie für seine Zwecke durch das t y p i s c h e Verfahren. Derjenige Fall, welcher unter gegebener U m w e l t die Verwirklichung des wirtschaftlichen Zweckes am besten gewährleistet, der „ I d e e " des betreffenden Wirtschaftssystems am besten entspricht, w i r d herausgehoben, durch „einseitige Steigerung einiger Gesichtspunkte u n d durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus vorhandenen Einzelerscheinungen zu
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einem in sich einheitlichen Gedankengebilde gesteigert", dem die anderen Fälle ,,in mehr oder minder großer Reinheit" entsprechen (Max Weber): ,,Idealtypus", weil i n dieser Einseitigkeit vielleicht niemals verwirklicht. Die Wirtschaftswissenschaft steigt damit zu e i g e η e η Allgemeinbegriffen auf, bei denen das Gattungsmäßige u m so mehr z u r ü c k t r i t t , das Typische u m so mehr h e r v o r t r i t t , je mehr die Eigenart verwickelter geschichtlicher Kulturerscheinungen i n das Bewußtsein gebracht werden soll. So schilderte ich einen Cecil Rhodes nicht als den Durchschnitt der Imperialisten, der das aufwies, was i h m m i t den anderen gemeinsam war, sondern als den Typus des Imperialisten, der die Züge verwirklichte, welche den Zweck des Imperialismus am besten gewährleisten: der „ I m p e r i a l i s t , wie er sein soll". Diese Typen werden zunächst als Z u s t ä n d e gefaßt, indem die unveränderten Elemente gedanklich hervorgehoben werden. Aber sodann werden sie v o m Simultanen i n das Sukzessive übersetzt und damit gewinnt man — durch einseitige Betonung einzelner Ursachenreihen, unter Vernachlässigung anderer mitwirkender Ursachen — typische V o r g ä n g e . V o n mitwirkenden Nebenursachen, die i n einzelnen Fällen wirksam wurden, w i r d abgesehen. Die i n a l l e n Fällen mehr oder minder wirksame gemeinsame Ursache w i r d gedanklich isoliert und als die allein wirksame betrachtet. Man erfaßt damit nicht die W i r k l i c h k e i t ; denn selbstverständlich sind alle konkreten Vorgänge voneinander verschieden, aber der Wirtschaftswissenschaftler setzt für seine Zwecke zahlreiche Vorgänge als gleich unter Vernachlässigung ihrer Unterschiede. ,,Der Wechsel w i r d der Wiederkehr untergeordnet" (Gotti). Aber dieses Verfahren bedeutet nicht Naturwissenschaft: sein letzter Zweck ist nicht, allgemeingültige Gesetze aufzufinden, wie dort, sondern auf einem „ U m w e g e " die e i n m a l i g e geschichtliche E n t w i c k l u n g verständlich zu machen. Beispiel: Die mittelalterliche „ S t a d t w i r t s c h a f t " (nach Bücher) ist ein typischer Begriff, etwa bezeichnet durch die Begriffe: Nahrungsidee, Kundenproduktion, Autarkie von Stadt und zugehörigem L a n d usw. I h r Ablauf w i r d sodann dadurch verständlich gemacht, daß m a n von Ursachen, die den einzelnen F a l l oft einschneidend bestimmten — z. B . Krieg u n d Seuchen — absieht und die gemeinsamen Ursachen der Veränderung als allein wirksam denkt : Erweiterung' des Monopolmarktes zum Konkurrenzmarkt, Fernabsatz, Fortschritt von der Nahrungsidee zum „kapitalistischen Geist". Ich erinnere ferner an Marxens Schema : Feudalität — Kapitalismus — Sozialismus ; an Büchers Schema: Hauswirtschaft — Stadtwirtschaft — Volkswirtschaft. Man k o m m t so zu einer T h e o r i e d e r Geschichte. Ihre Schemata werden — irreführenderweise — auch historische „Entwicklungsgesetze" genannt — nach einer falschen
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Analogie m i t der Naturwissenschaft. Daß es sich, auch i m Sinne der Autoren, nicht u m allgemeingültige Naturgesetze handelt, ergibt die Erklärung Marxens, wonach Rußland „ v i e l l e i c h t " den Kapitalismus überspringen könne, u n d Büchers Geständnis, daß seine Wirtschaftsstufen nur für Westeuropa gelten. F ü r die westeuropäische K u l t u r w e l t ist es vielleicht nach dem Stande unserer Kenntnis möglich, ein gemeinsames Schema von Wirtschaftsstufen aufzustellen, etwa: von der traditionalistischen H a u s w i r t s c h a f t m i t unfreier Arbeit und Gesamteigentum am Boden — über die geistig entbundene T a u s c h w i r t s c h a f t konkurrierender Einzelunternehmer m i t „anarchischer" Produktion auf dem Boden der freien Arbeit und des Privateigentums am Produktionsmittel — über die verschiedenen Stufen der Tauschwirtschaft, je nachdem das Produktionsm i t t e l dem Produzenten selbst oder grundsätzlich einem D r i t t e n eignet : einfache Geldwirtschaft oder Kreditwirtschaft — bis h i n zu der heute aus dem Dämmer der Z u k u n f t auftauchenden Gesamtwirts c h a f t (Kollektivwirtschaft) m i t zentralistischer Organisation u n d rationaler Anpassung der Gütererzeugung an den Güter verbrauch, unter Verbeamtung der Arbeit u n d Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Man kann diesen Typen der Wirtschaftsorganisation: Hauswirtschaft, Tauschwirtschaft, Gesamtwirtschaft vielleicht die psychologischen Typen des „Vorwirtschaftsmenschen", des „Wirtschaftsmenschen", des „Überwirtschaftsmenschen" zur Seite setzen. Aber solche Entwicklungsgesetze sind nicht das Ende der Wissenschaft, vielmehr lediglich ein „Erkenntniswerkzeug". Der Geschichte entnommen, nützlich für ihre weitere Befragung, sind sie immer von neuem an der geschichtlichen Tatsächlichkeit nachzuprüfen und, wenn nötig, umzuprägen. Es genügt nicht, ein geistvolles Schema gegenüber den nüchternen Einwenden der Spezialforscher als „ T h e o r i e " zu verteidigen. Ferner : Je allgemeiner solche Schemata sind, u m so weniger mehr erfassen sie das wirtschaftsgeschichtlich Wesentliche. D a n n interessieren gerade die v o m Hintergrunde solchen Schemas sich abhebenden Verschiedenheiten. Je kultureller das Ganze ist, u m so wertvoller erscheinen seine Eigenarten, so innerhalb der E n t w i c k l u n g des modernen Kapitalismus ζ. B. die Eigenarten des italienischen Frühkapitalismus, des britischen Industriekapitalismus, des neudeutschen Kreditkapitalismus. E i n Beispiel dieser Methode, welches für mich besonders überzeugend gewirkt h a t : Mein ausgezeichneter Schüler, Dr. Heiander, w i l l die Zentralisation i m Notenbankwesen verständlich machen. I n bewußt unrealistischem Verfahren geht er v o m juristisch vorgearbeiteten Begriff der Notenbank aus; innerhalb dieses ins Wirtschaftliche gesteigerten Begriffes bildet er den „ T y p u s der vollen N o t e n f r e i Schulzc-Gae vernitz.
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Sclze-Gaevernitz,
h e i t " u n d führt durch Hervorhebung a l l g e m e i n wirkender (dem gesamten europäischen Kapitalismus gemeinsamer) Kausalien zum Typus Z e n t r a l n o t e n b a n k hin. Der Verfasser w i l l „den historischen Zusammenhang v o n theoretischen Begriffen nachweisen". Es geschieht dies durch Darstellung des typischen Verlaufs. Als typische, überall mehr oder minder wirkende Kausalien hebt der Verfasser folgende hervor: i . Privatwirtschaftliche Tendenzen: der spekulative Augenblicksgewinn t r i t t zurück gegenüber dem „ P r i n z i p der Werkfortsetzung". 2. Volkswirtschaftliche Tendenzen: die gesellschaftlichen Organisationen werden für den Verlauf des Wirtschaftslebens entscheidender gegenüber rein privatwirtschaftlicher Gewinn- und Verlustrechnung des Frühkapitalismus. 3. Politische Tendenzen zweierlei A r t : a) der nationale Gedanke, gipfelnd i m Imperialismus u n d „Neomerkantilismus" der Gegenwart; b) der demokratische Gedanke, gipfelnd über den formalen Liberalismus hinaus i n der „ k o n s t r u k t i v e n " , i n h a l t l i c h bestimmten Demokratie. So „ e n t s t e h t " der Typus der Zentralnotenbank : Eine staatssozialistische Organisation m i t dem letzten Ziele der „ K o n j u n k t u r r e g u l i e r u n g " . Unter Berufung auf Marx w i r d Marxens Schema bewahrheitet u n d widerlegt: „ D i e sozialistischen Gebilde, die i n Übereinstimmung m i t den Marxschen Prophezeiungen entstanden sind (z. B. die Zentralnotenbank), üben einen selbständigen Einfluß auf die Gesamtentwicklung aus („verhindern" z. B. Krisen). M a r x behandelt aber nur.die Einflüsse der alten kapitalistischen Institutionen u n d läßt diese die Gesamtentwicklung so lange allein beeinflussen, bis der dialektische Umschlag k o m m t . Durch seine erfüllten Prophezeiungen entstehen Hindernisse für die Erfüllung der anderen. Die gesteigerten Aufgaben der Zentralnotenbank sprengen den erstgebildeten Begriff der Notenbank u n d führen zum Begriff der Z e n tralbank. Die große Bedeutung des relativ Historischen erlaubt es, dasselbe i n einer besonderen Disziplin zu sammeln : „ A l l g e m e i n e N a t i o nalökonomie". Sie geht aus von den natürlichen Voraussetzungen alles Wirtschaftslebens : N a t u r u n d Bevölkerung, faßt sodann die ursprüngliche u n d stets wiederkehrende wirtschaftliche Grundtatsache aller Wirtschaft ins Auge — Sachgüterbeschaffung — und zerlegt diesen Vorgang i n eine Anzahl von Grundbegriffen, anknüpfend an die gemeinsprachliche Bedeutung der „ G r u n d w o r t e " . Solche Begriffe sind : Bedürfnis, A r b e i t , Werkzeug, G u t , Güterherstellung u n d Güterverbrauch. Sie sind teils technischer, teils psychologischer H e r k u n f t , zunächst Gattungsbegriffe, nicht Typen. Sie interessieren den Nationalökonomen nur insofern, als sie Vorgänge bezeichnen, welche wirtschaftlich, d. h. für die Befriedigung des ge-
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sellschaftlichen Sachgüterbedarfs m i t gesellschaftlichen Mitteln, wesentlich sind. Wie wenig es sich aber hierbei u m rein wirtschaftliche Ausgangspunkte handelt, ergibt folgendes Beispiel: Man bezeichnet als Gut praktischerweise nur das S a c h gut, nicht die Arbeitskraft. W a r u m ? W e i l der menschliche Träger der Arbeitskraft keine Sache sein s o l l — ein positiver Rechtssatz, der auf geistesgeschichtliche Bestände der Neuzeit zurückgeht u n d i n Marxens Unterscheidung von konstantem und variablem K a p i t a l seine berühmteste Verkörperung gefunden hat. Demgegenüber hat Goldscheid neuerdings gerade i m sozialethischen Interesse die Lehre v o m „organischen K a p i t a l " aufgestellt. Alle diese Begriffe sucht man „Entwicklungsgesetzen" i m obigen Sinne zu unterwerfen, d. h. zu wiederkehrenden Verläufen auszubauen. Beispiele: Fortschritt v o m physiologischen über das traditionelle zum rationalen Bedürfnis — Fortschritt i n der Rechtsform der A r b e i t von der unfreien Arbeit über den freien Arbeitsvertrag zum Beamtenverhältnis — Fortschritt i n der psychologischen M o t i v a t i o n zur A r b e i t von der Peitsche des Sklavenhalters über den Zwang des Hungers, über das verfeinerte Bedürfnis zum überwirtschaftlichen W e r t — Fortschritt v o m Werkzeug roher Allgemeinheit über das spezialisierte, arbeitzerlegende Werkzeug zum Werkzeugsystem der Arbeit ersetzenden Maschine usw. Von diesen allgemeinsten Tatsachen alles Wirtschaftslebens aufsteigend, bemüht sich die Allgemeine Nationalökonomie, irgendwelches allgemeingültige westeuropäische Entwicklungsschema aufzustellen, etwa nach der A r t des oben angedeuteten, u m dann innerhalb der einzelnen W i r t schaftsstufen die Grundtatsachen nach ihren verschiedenen Seiten hin begrifflich auseinanderzufalten. Je höher sie auf der K u l t u r l e i t e r aufsteigt, desto mehr t r i t t an Stelle des Gattungsbegriffs der Idealtypus. Die Grundbegriffe der Tauschwirtschaft sind vielfach von der Rechtswissenschaft vorgeformt: Kauf, Preis, Geld, Lohn, K a p i t a l , Zins, Grundrente, nicht minder die Allgemeinbegriffe der Kreditwirtschaft, wie Darlehen, Hypothek, Wechsel, Banknote, Effekten usw. Der Nationalökonom hat die tausendjährige Arbeit der Juristen sich dankbar anzueignen — Rechtsstudium erwünschte Vorbildung des Nationalökonomen ! — , aber i h n interessiert die w i r t s c h a f t l i c h e Bedeutung der juristischen I n s t i t u t i o n . Seine Arbeit beginnt da, wo die des Juristen endigt, indem er von juristischer zu wirtschaftlicher Begriffsbildung fortschreitet, z. B. v o m Darlehen zum K r e d i t , indem er nur den gezogenen Datowechsel als Wechsel i m wirtschaftlichen Sinne gelten läßt u. a. Den so festgestellten Allgemeinbegriffen setzt er typische Entwicklungsreihen zur Seite, z. B. Fortschritt v o m rechenhaften, privatwirtschaftlichen Kapitalbegriff zum klassenbildenden, sozial-
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wirtschaftlichen Kapitalbegriff — Fortschritt v o m Geld als allgemeinem Tauschgut zum Geld als ideeller Wertquote — Fortschritt von der Notenfreiheit zur Zentralnotenbank usw. Die Allgemeine Nationalökonomie sammelt so den Begriffsinhalt der Wirtschaftsgeschichte — ι.) das, was v o m Wirtschaftsleben i m allgemeinen, 2.) das, was gemeinsam von Westeuropa gilt, ohne England, Frankreich, Deutschland zu nennen — u n d stellt es i n systematisch-chronologischer Folge an der H a n d eines allgemeinsten Entwicklungsschemas dar, das seinen geschichtlichen Ursprung nicht verleugnet. E i n solcher Aufriß wäre m i t allem Vorbehalt etwa folgender: ι . Natürliche Voraussetzungen des Wirtschaftslebens: Natur und Bevölkerung. 2. Allgemeine Tatsachen a l l e s Wirtschaftslebens : B e d ü r f n i s , Arbeit, Werkzeug, Gut, Wert, Produktion, Konsumtion. 3. Allgemeine Tatsachen der T a u s c h Wirtschaft: T a u s c h , Preis, Geld,Lohn, Kapitalzins, Grundrente. Höchster Typus der Tauschwirtschaft : K a p i t a l i s m u s . 4. Allgemeine Tatsachen der Κ r e d i t wirtschaft : K r e d i t , Bank, K r e d i t b a n k , Notenbank, Bodenkredit. Höchster Typus der Kreditwirtschaft : E f f e k t e n k a p i t a l i s m u s . 5. Allgemeine Tatsachen der G e s a m t (Kollektiv-)Wirtschaft : Kartell, Genossenschaft, Kommunalund Staatsunternehmung, Zentralbank. Der allgemeinen Nationalökonomie gegenüber steht die sp e ζ i e 11 e N a t i o n a l ö k o n o m i e , welche die Wirtschaftsentwicklung der einzelnen Völker m i t dem Begriffsmaterial· der Allgemeinen Nationalökonomie, aber gerade i n ihrer E i g e n a r t , darstellt. Für uns ist aus wirtschafts p o l i t i s c h e n Gründen Gegenstand der speziellen Nationalökonomie die d e u t s c h e Volkswirtschaft der G e g e n w a r t als v e r a n k e r t in der j ü n g s t e n Vergangenheit. Es bleibt noch die Frage nach der Bedeutung der „ T h e o r i e " i m engeren Sinne, d. h. der klassischen Nationalökonomie der Engländer u n d ihrer Nachfolger, sowie der neueren deutschen Privatwirtschaftswissenschaft . Die klassische Nationalökonomie ist nichts anderes als ein Anwendungsfall des typischen Verfahrens, wobei die Verhältnisse einer zur „ K o n k u r r e n z w i r t s c h a f t " gesteigerten Tauschwirtschaft als unverändert angesehen u n d i m Gleichgewicht befindlich vorausgesetzt werden. Als Causa der Veränderungen w i r d sodann der i n d i v i d u a l p s y c h o l o g i s c h e F a k t o r des Strebens nach größtmöglichem Ertrag isoliert.
lì T iris eli aftsw iss ens c ha fi?'
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Die Möglichkeit solchen Verfahrens setzt verhältnismäßig spät ein. Zunächst u n d für lange Zeit sind es s o z i a l e Ordnungen, welche die Wirtschaft des Einzelnen bestimmen u n d zur E r k l ä r u n g der w i r t schaftlichen Kausalität ausreichen. Der Mensch t r i t t i n die Geschichte als g e b u n d e n e s Glied einer unreflektierten Gemeinschaft. In der Dorfgemeinde Indiens, wie Sir H e n r y Maine sie schildert, ist die Technik des Ackerbaues, sind die Preise der Handwerks waren, die Löhne, die grundherrlichen Renten a u t o r i t a t i v u n d gewohnheitsmäßig bestimmt. Noch schlummert die Seele des Einzelwirtschafters, deren Regungen i m Schatten der wissenschaftlichen Gleichgültigkeit verharren. Nicht minder i n der früheuropäischen Hauskommunion, i n der Markgenossenschaft, i n der mittelalterlichen Z u n f t ; nicht viel anders aber auch noch i n der obrigkeitlich geregelten Hausindustrie des Merkantilismus. A u c h heute noch w i r d das Wirtschaftsleben weithin durch s o z i a l e Mächte bestimmt. Es ist das Verdienst der historischen Nationalökonomie — eines Schmoller, auf den F a k t o r „ S t a a t " — eines Brentano, auf den Faktor „Organisation" (Arbeitergilden der Gegenwart u n d als einer der ersten auf das Kartell) als solche soziale Mächte hingewiesen zu haben. Ebenso betont K . Marx einen s o z i a l e n Faktor, wenn er die von französischen Schriftstellern übernommene Idee des Klassenkampfes i n den M i t t e l p u n k t alles Wirtschaftsgeschehens stellt. Wie immer man zu der Marxischen Wert- und Preislehre stehe, jedenfalls ist der M e h r w e r t von Marx als s o z i a l e Erscheinung gedacht — Ergebnis des Klassenkampfes. Unabhängig von individualpsychologischen Erwägungen, j a ohne Wissen und Willen der Beteiligten, w i r k t er vermittels des Ausgleichs der Mehrwerte zur Durchschnittsprofitrate auf die Preisbildung ein. Aber die Alleinherrschaft des sozialen Faktors wurde durchbrochen. Nach Maine unterliegt i n der indischen Dorfgemeinde der Getreidepreis von vornherein der „freien" Preisbildung; denn Getreide w i r d ursprünglich überhaupt nicht gehandelt, u n d der erste Getreidehändler ist ein Fremder. I n i h m gewinnen individualpsychologische Strebungen zuerst eine sozialökonomische Bedeutung. Der H ä n d l e r ist es, der als sozial entbundener Einzelunternehmer — als „ P r i v a t w i r t " — die ganze mittelalterliche Gesellschaft umstürzt. Das revolutionäre Werk des Händlers beschleunigt der F ü r s t , dessen privatwirtschaftliche Strebungen nunmehr sozialökonomische Bedeutung erlangen. Der Fürst zwingt seinen Untertanen aus finanzpolitischen Gründen privatwirtschaftliches Denken auf. F ü r Zwecke „kaiserlicher Machtp o l i t i k " peitscht der Steuererheber den russischen, den indischen Bauer aus sozialpsychologischer Gebundenheit i n die Arena individualpsychologischer Selbstbestimmung, auf der er, der ungewohnte Einzel-
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fechter, hilflos zusammenbricht. M i t dieser geschichtlichen W a n d l u n g treten Schriftsteller auf, zunächst u m der Einzelwirtschaft des Händlers u n d des Fürsten erfolgreiche Wege zu weisen — „Privatwirtschaftsp r a k t i k e r " . Alle diese Schriftsteller — M e r k a n t i l i s t e n , Kameralisten — sind lediglich „ V o r l ä u f e r " der Volkswirtschaftswissenschaft, denn es fehlt ihnen das Ziel der E r k e n n t n i s des volkswirtschaftlichen G a n z e n . Solche Ziele stellen sich zuerst die Physiokraten u n d die Klassiker. Die klassische Nationalökonomie bedeutet den kühnen Versuch, das wirtschaftliche Ganze zu erkennen unter völliger Ausschaltung des sozialen Faktors allein aus individualpsychologischen Beweggründen heraus. D i e k l a s s i s c h e N a t i o n a l ö k o n o m i e w a r d e r e r s t e V e r s u c h einer P r i v a t w i r t s c h a f t s l e h r e , die weit über ihr Ziel hinausschoß. Dieser Versuch mußte scheitern wegen Vernachlässigung des sozialen Faktors. Der typische Vertreter obiger R i c h t u n g ist bekanntlich R i c a r d o . H a t t e Steuart die E t h i k aus der politischen Ökonomie verbannt u n d sie der Domäne des Staatsmannes überwiesen, aber dabei die Deduktion aus dem Eigeninteresse nur als theoretisches H i l f s m i t t e l betrachtet > so deckt diese D e d u k t i o n für Ricardo das empirische F a k t u m . Das Konkurrenzsystem ist für i h n nicht historische Voraussetzung, sondern das „ n a t ü r l i c h e " Wirtschaftssystem u n d insofern jenseits aller E n t wicklung. Dabei schillert der Begriff „ n a t ü r l i c h " zwischen dem, was von N a t u r i s t , u n d d e m , was nach N a t u r r e c h t sein soll. Seine Gesetze gelten für Ricardo räum- u n d zeitlos, nicht anders als das Gravitationsgesetz. Ricardo glaubt als Rationalist, aus seinen Schlußfolgerungen ergebe sich die W i r k l i c h k e i t — naiver Abbildtheoretiker,, der aus dem Begriff auf das Dasein desselben schließt. A u f methodologischem Boden versuchte J. St. M i l l die Rechtfertigung der klassischen Theorie als „hypothetischer Wissenschaft". Die politische Ökonomie ist eine abstrakte Wissenschaft; ihre Methode ist eine deduktive. Ihre Ergebnisse sind, wie die der Geometrie, i n abstracto w a h r : auf Grund freigewählter Prämissen korrekt gezogene Schlüsse. I n concreto nicht immer wahr. Das störende Moment ergibt sich aus der Anwendung der Resultate auf die W i r k l i c h k e i t : hier t r i t t die Unsumme der „ d i s t u r b i n g causes" i n W i r k s a m k e i t ; aber allmählich werden viele von ihnen „ w i t h i n the pale of the abstract science" gebracht, so daß sie i n Z u k u n f t m i t unter die Voraussetzungen der deduktiven Forschungen aufgenommen werden können. Die Theorie w i r d i m m e r wahrer! Die klassische Nationalökonomie der Engländer setzt eine höchst bestimmte, n u r e i n m a l g e g e b e n e U m w e l t voraus, a) Der Rechtsstaat schützt E i g e n t u m u n d p e r s ö n l i c h e F r e i h e i t . Der staat^
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liehe Rechtsschutz hält das Streben nach Gewinn auf dem Boden des „friedlichen" Wettbewerbs. W o Reichtum ein Ergebnis der Beraubung ist, wo z. B. der Germane m i t Schweiß zu erwerben verachtet, was m i t B l u t erworben werden kann, wo der Feudale „aus dem Sattel l e b t " u n d die Pfeffersäcke beraubt, statt selber Pfeffersäcke auf den Markt zu bringen, da gibt es kein Gesetz der Preisbildung. Die Whigs erklärten, Bankwesen sei unvereinbar m i t der Monarchie — einer Monarchie wie die der Stuarts, die da ernteten, wo sie nicht gesät hatten, die insbesondere Depositen sich aneigneten, wo sie sie fanden, b) Die Rechenkunst ist durch Einführung des arabischen Ziffernsystems fortgeschritten genug, u m Buchhaltung u n d Bilanzierung zu ermöglichen. Der mittelalterliche Mensch „verrechnet" sich grundsätzlich und kann es schon u m deswillen nicht zur vollen Rechenhaftigkeit bringen, c) A n Stelle der rein persönlichen Wertschätzungen ist ein g e s e l l s c h a f t l i c h e r W e r t getreten innerhalb einer mehr oder minder großen „Bewertungsgesellschaft". Dieser W e r t ist quantifiziert. Das G e l d ist a l l g e m e i n e r Wertmesser. Das persönliche Verhältnis des Einzelnen zum einzelnen Gut ist immer individuell; der Geschmack u n d Sättigungsgrad ist verschieden. Erst das Geld ermöglicht die Übersetzung des Gewinnstrebens ins Ziffernmäßige, damit i n das Unbegrenzte u n d Vergleichbare: „ A m e r i kanismus". ,,Der Gegenstand ist hier gewissermaßen ganz durch seinen Preis ersetzt worden; er genießt genau die Achtung, die seinem Marktwert entspricht u n d k a n n durch jeden anderen, der denselben Marktpreis hat, ersetzt werden" (Simmel). d) Der Wirtschafter ist geistesgeschichtlich zur A r b e i t u n d i n gewissem Grade auch zur W a h r h e i t erzogen, während der Feudale grundsätzlich faullenzt u n d der Frühhändler grundsätzlich betrügt. Der Wirtschaftsmensch der Klassiker dient dem „Geschäft", statt zu genießen: „ D e r frugale Unternehmer" m i t dem „ g u t e n Gewissen des Reichtums" (Max Weber). Ohne diese Pflichtmäßigkeit schlägt der Wirtschaftsmensch nur zu schnell i n den Rentner u m ; er w i r d zum Sportsmann oder Ästheten. Der Sklave der Buchbilanz rebelliert u n d liebäugelt m i t der H a l b w e l t des Rentnerstaates. N i c h t minder beruht der Wirtschaftsmensch auf einer gewissen Pflicht zur Wahrheit. Die Lüge erschien den homerischen Göttern u n d den jüdischen Erzvätern als „läßliche Sünde" u n d ist auf p r i m i t i v e n Gesellschaftsstufen sozial ungefährlich, j a vielleicht zur Gewinnung priesterlicher K u l t u r m u ß e nützlich. Das wirtschaftliche Leben steht auf einfachen Tatsachen, v o n denen jeder die richtige Ansicht gewinnen kann. Dagegen ist ein g e w i s s e s Maß v o n W a h r heit die Voraussetzung jeder höheren Verfeinerung des Wirtschaftslebens. Die Lüge als ein „geistiges Faustrecht", b r u t a l wie dieses,
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ist heute i m Kleinhandel zulässiger als i m Großhandel, der Millionen „ a u f Treu u n d Glauben" nach Muster kauft. Grundlage des Kredits ist in den meisten Fällen (neben der Auskunftei u n d Bilanzprüfung) eben doch ein gefühlsmäßiger Glaube an den Schuldner. Die Gefahr des Wirtschaftens m i t fremdem Geld w i r d u m so größer, als gerade die moderne Kreditwirtschaft i n ihrer Abstraktheit ungeheure Dissimulierungsmöglichkeitenschafft (Simmel, Soziologie). Insbesondere r u h t alles Bankwesen auf Vertrauen. Der Wirtschaftsmensch schifft weislich zwischen der „ h o n e s t y " als „best p o l i c y " und der vielbewunderten Smartness des Yankee hindurch, e) Hierzu k o m m t der Druck des B e v ö l k e r u n g s g e s e t z e s , gewiß auch keine „ n a t ü r l i c h e " Gegebenheit, die ein für allemal feststeht. Ricardo hat das Malthussche Gesetz als notwendige Prämisse seiner Theorie eingebaut. I m Hintergrunde steht der jüdisch-puritanische Sollsatz: „ S e i d fruchtbar und mehret euch!" Dieser Satz, gegen den Naturvölker oft verstoßen, verliert auch bei K u l t u r v ö l k e r n infolge Zersetzung der ihn tragenden Weltanschauung nur zu schnell seine K r a f t . Es sind dies höchst verwickelte Voraussetzungen, wie sie nur e i n m a l i m westeuropäischen Geschichts verlauf e u n d von hier über den Globus ausstrahlend, verwirklicht worden sind. Vielleicht handelt es sich nur u m eine kurzlebige Episode in der Menschheitsentwicklung. A u f diesem gebrechlichen Boden, welchen Puritanismus u n d Aufklärung zimmerten, fragen die Engländer: „ W i e würde das Wirtschaftsleben ablaufen, wenn nur Wirtschaftsmenschen miteinander in Verkehr träten — als Käufer u n d Verkäufer von W a r e n , Grundstücken, Arbeitskräften ? Dieser „Wirtschaftsmensch", der, unbekümmert u m die Lockungen des Rentnertums, dem unbegrenzten Streben nach größtmöglichem Buchgewinn folgt, Ziffern an Ziffern reiht, als erster des Morgens auf dem Kontorbock hockt, als letzter herabsteigt, ist gewiß kein Durchschnitt, sondern ein Typus, der i n solcher Reinheit vielleicht niemals v e r w i r k l i c h t worden ist. Mittelst der Isolierung dieses Typus als individualpsychologischer Kausa gelangte die Theorie zu sogenannten „Gesetzen", d. h. zu Regelmäßigkeiten: A u f Grund gleichartiger Tatbestände w i r d ein gleichartiger Ablauf als notwendig erlebt. Aber diese Gesetze sind nur dann m e h r als eine gedankliche Spielerei, wenn sie „ g e l t e n " — ob auch i n mehr oder minder großer Reinheit. Es ist zu prüfen, ob wirtschaftlich relevante Situationen tatsächlich d i e s e n Verlauf nehmen (Max Weber). Die Wirtschaftstheorie hat nur insofern einen Zweck, soweit sie den konkreten Ablauf des W i r t schaftslebens — das einmalige wirtschaftliche Ganze — der wissenschaftlichen Erkenntnis näher bringt. Sie hat nur den Zweck (sit venia verbo) einer H i l f s w i s s e n s c h a f t d e r W i r t s c h a f t s g e s c h i c h t e .
W irisch a jts w is sen schalt?"
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Es ist nun kein Zweifel, daß für i h r e Zeit die Gesetze der Klassiker ein wertvolles M i t t e l zur Erklärung der W i r k l i c h k e i t abgaben, da i n vielen Fällen die Voraussetzungen der Wirtschaftstheorie i n der T a t sachenwelt vorlagen. Es war gerade der Vorteil dieser Theorie, daß sie nicht „ r e i n e " Ökonomie — keine K o n s t r u k t i o n i n den luftleeren R a u m — war, sondern eine höchst bestimmte soziale Organisation zur Voraussetzung hatte. N i c h t u m die reinliche Lösung von Schachaufgaben handelte es sich, was Diehl einem Schumpeter entgegenhält. Die Gesetze der Klassiker haben demgegenüber als Tendenzen das konkrete Geschehen vielfach beherrscht, u n d Ricardo war ein Interpret jener Zeit, da die Manchesterlehre britisches Weltherrschaftsinteresse war und der Handlungsreisende „ m i t dem Preiskourant" die W e l t für England eroberte. Heute haben sich die historischen Grundlagen vielfach verschoben — geographisch wie geistesgeschichtlich verschoben — , u n d es erhebt sich die Frage, inwieweit die Gesetze des britischen Industriekapitalismus des 19. Jahrhunderts auch den deutschen u n d amerikanischen Hochkapitalismus des 20. Jahrhunderts noch beherrschen. Nach dem A n s t u r m der historischen Schule scheint zunächst wenig mehr als ein Trümmerfeld von der britischen Theorie noch übrig zu sein. Trotzdem glaube ich, daß eine Anzahl tragfähiger Grundmauern aus dem Schutt herauszuarbeiten sind. I c h rechne hierzu etwa: das Preisgesetz der höchsten und niedrigsten Produktionskosten bei beschränkt oder beliebig vermehrbaren Waren, die Grundrentenlehre, die jeder tieferen Betrachtung der städtischen Bodenfrage zugrunde gelegt werden muß, das Greshamsche Gesetz, eine verbesserte Quantitätstheorie. Aber auch diese Restbestände sind nicht unbezweifelt, u n d an der veränderten Tatsächlichkeit nachzuprüfen. Wie das Ergebnis auch immer sei, wirtschaftsgeschichtlich, als Interpreten i h r e r Zeit, werden die B r i t e n steigen, je mehr ihr theoretischer Stern sinkt. Dagegen ist auf die Fortbildung der B r i t e n viel Gedankenarbeit ohne entsprechenden Erfolg aufgewandt worden. Wie wenig zur Erkenntnis konkreter Preisbildungsvorgänge hat z. B. die Grenznutzentheorie beigetragen — etwa zur Aufklärung des Problems der allgemeinen Teuerung des letzten Jahrzehnts! Während innerhalb der deutschen Reichsgrenzen der Ausbau des deutschen Hochkapitalismus die w i r t schaftswissenschaftlichen wie wirtschaftspraktischen Interessen eines ganzen Menschenalters in Anspruch nahm, vollzog sich i n Österreich die Fortbildung der Theorie m i t großem Fleiß, großem Scharfsinn — aber studierstubenmäßig unter Ablösung von der Muttererde. Der Boden Wiens war weder von Puritanern noch von Aufklärern durchpflügt worden!
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Sclze-Gaevernitz,
Es ist gegenüber den Mißerfolgen der Epigonen nur zu verständlich, wenn v o n Jüngeren heute erklärt w i r d : Das Wirtschaftsleben ist seit den Tagen der Klassiker verwickelter geworden ; die historischen Voraussetzungen, welche die B r i t e n machten, sind demnach weiter zu vervielfältigen. Die Kategorien der Wirtschaft, von denen jene ausgehen — K a p i t a l i s t , Arbeiter, Grundrentner — sind frühkapitalistisch u n d britisch u n d genügen nicht mehr für den deutschen Hochkapitalismus der Gegenwart. Die p r i v a t wirtschaftlichen Gesichtspunkte sind konkreter zu fassen, nicht u m ihrer selbst willen, sondern behufs besserer Erkenntnis des sozialen Ganzen. Aber zur Erforschung dieses Ganzen begibt m a n sich zunächst auf den „ U m w e g " , den Standpunkt des privaten Wirtschaftssubjekts einzunehmen u n d dessen individualpsychologischen Erwägungen u n d Strebungen nachzugehen. Es ist methodologisch einwandfrei, den Versuch der Klassiker.mit verfeinerten M i t t e l n dadurch zu wiederholen, daß man die historischen Voraussetzungen der B r i t e n vervielfältigt u n d umprägt u n d die Seele des Wirtschaftsmenschen i n verschieden gefärbte Typen auseinander faltet. I n d e m m a n den Wirtschaftsmenschen konkreter faßt, kann man sich auf Marx berufen, dessen privatwirtschaftliche Erörterungen — ich erinnere u. a. an das berühmte K a p i t e l über den Fetischcharakter der Ware — nicht einen farblosen Kapitalisten schlechthin, sondern den britischen Industrieunternehmer der dreißiger u n d vierziger Jahre, eigentlich den „ C o t t o n l o r d " , zum Gegenstande haben. Der Privatwirtschaftler fragt: Wie würde das Wirtschaftsleben verlaufen, wenn ein bestimmter Händlertypus (ein Wirtschaftsmensch konkreter Färbung) m i t Waren bestimmten Charakters, bestimmten Verwendungszweckes usw. auf den M a r k t t r i t t ? W i e würde das Wirtschaftsleben verlaufen, wenn ein bestimmter Produzententypus i n der Rohstoffoder Verarbeitungsindustrie, m i t überwiegender Maschinen- oder Handarbeit, m i t ungelernter oder qualifizierter Lohnarbeit t ä t i g w i r d ? E r scheidet den Einzelunternehmer v o m Aktienunternehmer, den arbeitsintensiven v o m kapitalintensiven Fabrikunternehmer usw., aber er zerlegt auch den Arbeiter, den Ricardo als „ H a n d " , Marx als „Prolet a r i e r " unterschiedslos sich vorstellten, i n zahlreiche Typen. I n dieser R i c h t u n g liegen die sozialpsychologischen Untersuchungen des Vereins für Sozialpolitik. So vorgehend, ist man auch viel eher i n der Lage, all' die Übergänge zu erfassen, welche v o m konkurrierenden Unternehmertum größtmöglichen Gewinnstrebens zum organisierenden, auf festes Gehalt gestellten Beamten hinüberführen. Unter fiktiver Loslösung von der sozialen Verkettung u n d Einfühlung i n die individualpsychologische Verursachung gelangt die P r i v a t w i r t schaftslehre zu typischen Vorgängen, die i m Wirtschaftsleben wirksam
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werden, oder die Tendenz haben, dort wirksam zu werden, wo gerade d i e s e r geistige Typus an der Arbeit ist. Man legt d a m i t i n bewußter Isolierung einzelne Kausalstränge des volkswirtschaftlichen Geschehens bloß, soweit letzteres von der Privatwirtschaft her beeinflußt wird, u n d bietet i n diesem Sinne eine „Hilfswissenschaft" der allumfassenden Wirtschaftswissenschaft, nicht anders als die klassische Wirtschaftstheorie. Ist jene Wirtschaftstheorie der Klassiker methodologisch berechtigt, so ist es auch die neuere Privatwirtschaftswissenschaft, denn die Struktur beider Disziplinen ist die gleiche. Wie weit die Privatwirtschaftslehre tatsächlich unseren v o l k s wirtschaftlichen Erkenntniszwecken dienen mag, w i r d von den Leistungen ihrer Anhänger abhängen, denen freie B a h n zu gönnen ist. Vielleicht sind die Aussichten keine ganz schlechten; denn die neuere Privatwirtschaftslehre bildet engere u n d inhaltsreichere Begriffe u n d steht insofern dem tatsächlichen Wirtschaftsleben näher als die klassische Ökonomie. I h r Ziel ist es, zu einer „realistischen Theorie" zu gelangen. Ich selbst überzeugte mich von der Anwendbarkeit u n d Nützlichkeit p r i v a t wirtschaftlicher Betrachtungsweise bei Gelegenheit meiner Studien über deutsches Bankwesen der Gegenwart. Weitreichende psychologische Umschichtungen weisen g e r a d e a u f d i e s e m G e b i e t e über den blassen „ h o m o oeconomicus" der Vorzeit hinaus u n d sind nur auf dem Wege privatwirtschaftlicher Typenbildung zu fassen: Der alte Privatbanker — der durch das Telephon an die Zentrale angeschlossene Direktor der Filiale oder „ K o n z e r n b a n k " — der leitende K o p f der Großbank — der Bankbeamte nach seinen verschiedenen Schichten — der Reichsbankpräsident — das alles sind Typen, denen durch individualpsychologische Einfühlung nachzugehen ist. Es ist eine reine Zweckmäßigkeitsfrage nationalökonomischer Lehre u n d Schriftstellerei, ob diese p r i v a t wirtschaftlichen Untersuchungen i n einer besonderen Hilfsdisziplin zu sammeln u n d zu lehren sind. Ich bejahe diese Frage. Bei der fortschreitenden Komplizierung unseres Wirtschaftslebens ist es heute schwieriger als bisher, die i m Inneren der Unternehmung obwaltenden Beweggründe festzustellen — zumal sie nicht selten m i t dem Schleier des Geschäftsgeheimnisses verdeckt sind. U m so erforderlicher w i r d eine besondere Schulung zum privatwirtschaftlichen Denken, welche „ d u r c h die Brille der Beteiligten" zu schauen lehrt. Der so gebildete National Ökonom versteht dort nachzuempfinden, wo die psychologischen Fäden versteckt unter der Oberfläche laufen. Sodann leiden wir in unserer volkswirtschaftlichen Lehre u n d Schriftstellerei vielfach an einer unheilvollen Vermengung volkswirtschaftlicher und privat wirtschaftlicher Betrachtungen. Die Privatwirtschaft-
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liehe Schulung soll unsere Nationalökonomen veranlassen, zunächst bewußt privatökonomisch zu denken, aber auch des Endpunktes sich bewußt zu werden, an dem die volkswirtschaftliche Betrachtung die p r i v a t wirtschaftliche ablöst. Es wTäre kein geringer Erfolg des E i n bruchs der Privatwirtschaftler i n die schulmäßige Nationalökonomie, wenn w i r in Z u k u n f t scharf u n d bewußt scheiden lernten: W o spricht der Privatwirtschaftler, wo der Sozialökonom ? Hinsichtlich der Begriffsbildung w i r d m a n m i t Vorteil den privatwirtschaftlichen und volkswirtschaftlichen Begriff der Wirtschaft, des Kapitals usw. scheiden; überall w i r d man die privatwirtschaftliche Verursachung von der volkswirtschaftlichen F u n k t i o n einer Wirtschaftsinstitution sondern. E n d l i c h : Der nationalökonomische Student von heute strebt in vielen Fällen der Praxis der Industrie, des Handels u n d des Bankwesens zu. Es ist erwünscht, daß dasjenige Geschlecht, das i n mehr oder minder leitender Stellung den Vormarsch der deutschen Arbeit i n das Reich dieses „irdischen Weltwesens" anführen soll, v o m erfrischenden L u f t h a u c h der Universität berührt sei u n d hier aus dem wiedererschlossenen Quell des deutschen Neuidealismus geschöpft habe. Möge es hier lernen, daß das Geld zwar ein mächtiges M i t t e l darstellt, daß aber der, welcher es zum letzten Ziele macht, ein armer Mensch ist, ob er auch Millionär sei. Jedoch gerade diese Studenten haben ein Recht darauf, von der Universität auch Brauchbares für die W i r t schafts p r a x i s mitzunehmen. I n erster Linie rechne ich hierzu eine großzügige, aus dem Gedanken des neudeutschen Industriestaates einheitlich aufgebaute W T irtschafts p o l i t i k — keine Rezeptensammlung ! Hierzu aber trete eine privatwirtschaftliche Unterweisung, die dem künftigen Juristen nicht minder zugute k o m m t . Wie hilflos steht nicht selten der Richter, der Rechtsanwalt und der Verwaltungsbeamte gegenüber Bilanzen u n d Geschäftsberichten, gegenüber Fragen kaufmännischer Buchhaltung, gegenüber dem Börsenkurszettel u n d dem Handelsteil der Tagesblätter — hilflos, ohne daß die Grenznutzenlehre i h m zu nützen vermag ! Dabei handelt es sich nicht etwa nur u m die rein technische Kenntnis dieser Dinge, u m Unterweisung i n Buchh a l t u n g u n d kaufmännischer A r i t h m e t i k . Wichtiger ist es, die toten Ziffern auf ihren privatwirtschaftlichen Gedankeninhalt entziffern zu können. Die Universitäten sollten durch eine angegliederte Hilfsdisziplin der Privatwirtschaftslehre den nationalökonomischen Studenten von solcher Hilflosigkeit befreien. Abwehr von I r r t ü m e r n : I . Die Wirtschaftswissenschaft, auch die Wirtschaftstheorie, ist k e i n e P s y c h o l o g i e , auch keine „angewandte", obgleich der Nationalökonom, ähnlich wie der dramatische Dichter und der politische
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Historiker, psychologische Tatsachen als Ursachen der i h n interessierenden Vorgänge reichlich berücksichtigen muß. Hierzu h i l f t i h m vielleicht auch die psychologische Wissenschaft. Aber die S t r u k t u r dieser Wissenschaft ist eine grundsätzlich andere. Schon K a n t erklärt die Psychologie als der Naturlehre zweiten Teil. Die wissenschaftliche Psychologie ist eine Naturwissenschaft u n d sucht als solche die psychologischen Erscheinungen zu vereinfachen, die verwickelten auf einfachste Elemente wie Reiz, Empfindung, Vorstellung zurückzuführen. So sagt ζ. B. Münsterberg in seiner Psychologie, daß selbst Wille u n d Gefühl nicht aus einfachen Elementartatsachen bestehen, sondern ebenfalls E m p findungsverbindungen sind, die sich nur durch eigentümliche Anordnung von den Vorstellungen unterscheiden. Als Naturwissenschaft strebt die Psychologie über Allgemeinbegriffe hinaus zu allgemeingültigen Gesetzen. Gegenüber der Naturwissenschaft von der Körperwelt weist sie zunächst den Nachteil auf, ihren Gegenstand, ,,die Erfahrung des inneren Sinnes", zwar nachfühlen, auch zeitlich messen, aber nicht räumlich quantifizieren zu können. Sie überwindet diese Schwäche durch die Hypothese v o m p s y c h o p h y s i s c h e n Zusammenh a n g : Zuordnung jedes psychischen Vorganges zu einem physischen. E t w a : Vorstellung — ein biochemischer Vorgang i n gewissen Zellen . des Gehirns ; U r t e i l — ein biochemischer Vorgang i n der R i c h t u n g des geringsten Widerstandes zwischen zwei Nervenzentren; Wille — ein antagonistischer Vorgang i m motorischen A p p a r a t ; Schlaf — eine Ausschaltung des Zusammenhangs zwischen sensorischem u n d motorischem A p p a r a t ; Sprache — ein Instrument, u m den Nervenapparat eines anderen durch einen bestimmten Reiz auf eine bestimmte Reaktion einzustellen usw. Ohne zu dieser Hypothese Stellung zu nehmen, liegt doch auf der Hand, daß ihre Richtigkeit u n d ihre Nutzanwendung i m einzelnen — Umsetzung psychologischer Vorgänge i n biochemische — m i t der Wirtschaftswissenschaft auch nicht das geringste zu t u n hat. Letztere Wissenschaft steigert die höchst komplexe, kulturerzeugte Psyche des ,,Wirtschaftsmenschen" zum Idealtypus, ohne irgendwie den Versuch zu machen, diesen Typus auf einfachere psychologische Elemente zurückzuführen. Dagegen k a n n die Psychologie m i t dem einfachen Seelenleben des Kindes, des Naturvolkes, des Tieres vielfach mehr anfangen, als m i t der verwickelten Psyche des Kulturmenschen 1 . Sollte das Grenznutzengesetz ein Spezialfall eines allgemeinen psychologischen Gesetzes sein, wie Ehrenfels, Meinong, K r e i b i g u. a. behaupten, so belegt es dadurch nur, daß es nicht zur Nationalökonomie gehört, sondern höchstens eine psychologische Voruntersuchung bedeutet, 1
Max Weber, A r c h i v für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. Bd. 2 / .
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wie es auch biologische Voruntersuchungen (Darwinismus u n d W i r t schaftsleben ?) gibt. Dagegen kann das psychologische Experiment für die Wirtschafts ρ r a χ i s , z. B. die Reklamekunst, die Ermüdungsbekämpfung bei gewerblicher Arbeit usw., wie jede naturwissenschaftliche Technik, von größtem Nutzen sein. Während wir dem toten Stoffe durch Anwendung der Physik u n d Chemie weite Gebiete aberobert haben, steckt unsere Technik gegenüber der W e l t der lebenden Wesen noch in den Kinderschuhen; es eröffnen sich hier für Biologie u n d Psychologie aussichtsvolle Weiten. 2. Die Wirtschaftswissenschaft ist k e i n e S o z i o l o g i e . Wenn auch die Soziologie selbst bisher zu einer scharfen Begriffsbestimmung ihres Wesens noch nicht gelangt ist, so scheint doch so viel festzustehen, daß der Begriff des gesellschaftlichen Lebens hier ohne jeden Wertakzent gedacht w i r d i m Sinne einer Mehrheit von Menschen, die i n psychologischer Wechselwirkung stehen. So ist „Gesellschaft" nach Simmel eine psychische Zuständlichkeit, welche auf die anderen w i r k t u n d von ihnen beeinflußt w i r d ; sie umfaßt als solche alle Formen des M i t - u n d Füreinander, ζ. B. Kohäsion, A t t r a k t i o n , Repulsion usw. — nicht minder Sitte, Recht, Sittlichkeit. Alle diese Zusammenhänge sind psychologische Tatsachen. W o das I n d i v i d u u m die selbständige Bes t i m m u n g seines Verhaltens verliert u n d der Bestimmung durch fremde Seelen unterliegt, dort entfaltet sich die Gesellschaft. D o r t scheidet die Soziologie aus dem breiten Felde der psychologischen Tatsachenwelt das ihr eigene Gebiet aus, ohne grundsätzlich andere Forschungsmethoden anzuwenden als die umfassendere Wissenschaft der Psychologie selbst: sie ist Sozialpsychologie. Die Soziologie geht also psychologistisch vor als die Naturwissenschaft v o m sozialen Seelenleben, die Wirtschaftswissenschaft geht idealtypisch vor als die Kulturwissenschaft der menschlichen Wirtschaft. Selbstverständlich soll damit die Möglichkeit einer Psychologie u n d Soziologie als Kulturwissenschaft nicht geleugnet werden : eine Lehre von der E n t f a l t u n g des Seelenlebens u n d des Gesellschaftslebens als der K u l turträger i m Sinne Hegels. Die Frage ist nur, wie weit eine solche kulturwissenschaftliche Psychologie u n d Soziologie durch die bisherigen Kulturwissenschaften alten Bestandes das Feld schon besetzt fände. 3. Die Wirtschaftswissenschaft mathematische
ist k e i n e
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ob-
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N u t z e n sein mögen (Alfred Weber!). Aber über die Richtigkeit des mathematisch formulierten Inhalts k a n n die M a t h e m a t i k nichts aussagen. Es gilt hier noch heute das W o r t eines Fr. L i s t (Zollvereinsb l a t t 1844): „ E s k o m m t für die Resultate alles auf die Voraussetzungen an, deren Einkleidung i n mathematische Zeichen ganz gleichgültig
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ist. Der K a l k ü l ist überhaupt i m Gebiete der Wirtschaftswissenschaft nur eine gleichgültige, zufällig gewählte Form, m i t der sich die Reflexionen umhüllen, u n d der Beweis gewinnt durch diese Einkleidung n i c h t die geringste Schärfe mehr, als die Gedankenreihe durch sich zu erzeugen fähig i s t . " Letzthin, u m zum Ausgangspunkt zurückzukehren: Die Wirtschaftsw i s s e n s c h a f t — wertfrei, wTie sie sein so 11 — ist keine W i r t schafts p o l i t i k . Die Wirtschafts g e s c h i c h t e , als Geschichtsforschung, versenkt sich „restlos" i n fremde Werte. Das Streben nach größtmöglichem Gewinn, welches die Wirtschafts t h e ο r i e als weitverbreitete Tatsächlichkeit zum kausalen Erklärungsprinzip zahlreicher wirtschaftlichen Erscheinungen macht, gewinnt d a m i t keine verbindliche K r a f t für den handelnden Menschen, weder für die F ü h r u n g der Einzelwirtschaft, noch weniger für die Bearbeitung des volkswirtschaftlichen Ganzen durch die P o l i t i k . I n d e m die P r i v a t w i r t s c h a f t s l e h r e die Strebungen der Unternehmerpsyche bloßlegt, hat sie m i t dem „Unternehmerinteresse" nicht das mindeste zu t u n . N i c h t als Nationalökonomen, sondern als Kulturmenschen sollen w i r uns für P o l i t i k interessieren, für welche uns die Wirtschaftswissenschaft vielleicht nützliche Ratschläge erteilt u n d die Wege weist, wenn w i r wissen, wohin die Reise gehen soll. Diese Ziele entstammen ganz anderen Quellen — nicht, wie man gemeint hat, subjektiver W i l l k ü r , sondern jener Weltanschauung, durch welche der deutsche Geist die letzten u n d unwandelbaren Ziele alles Kulturstrebens i n u n s e r e r Sprache u n d i n den Erkenntnisformen u n s e r e r Zeit zum Ausdruck gebracht hat. Der neudeutschen Wirtschaftspolitik leuchten die Leitsterne unserer klassischen Philosophie : P e r s ö n l i c h k e i t und M e n s c h h e i t . W e n n ich vorstehende Ausführungen dem hochzuverehrenden J u b i l a r widme, so geschieht es nicht nur u m deswillen, weil sie der Rechtfertigung der historischen Methode unserer Wissenschaft dienen. Diese Methode hat i n B r e n t a n o ihr Höchstes geleistet — v o n den Arbeitergilden der Gegenwart an bis zu seinem Kolleg über Wirtschaftsgeschichte, dessen sprühenden Glanz keiner von denen vergessen w i r d , die i h m zu folgen das Glück hatten. Nicht minder u m deswillen seien i h m diese Blätter dargebracht, weil w i r den M u t zur P o l i t i k an Brentano bewundern. Auf dem Boden des neudeutschen Industriestaates m i t beiden Füßen stehend, i h n gegen Angriffe von rechts u n d links verteidigend, hat Brentano — über das rein Wirtschaftliche hinaus — Menschenrechte u n d Menschenwürde zeitlebens i n jedem, auch i m einfachen Arbeitsmann, verfochten — ein jugendfrischer, unermüdlicher Kämpfer.