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German Pages [496] Year 2019
Kristoffer Klammer
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›Wirtschaftskrisen‹ Effekt und Faktor politischer Kommunikation Deutschland, 1929–1976
Historische Semantik Herausgegeben von Bernhard Jussen, Christian Kiening, Klaus Krüger und Willibald Steinmetz
Band 28
Kristoffer Klammer
›Wirtschaftskrisen‹
Effekt und Faktor politischer Kommunikation Deutschland 1929–1976
Mit 14 Abbildungen
Vandenhoeck & Ruprecht
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Daniela Weiland, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-0084 ISBN 978-3-666-31059-1
Inhalt
I.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Perspektive: Krisen als Deutungsmuster . . . . . . . . . . . . . . 13 2. Methodik: satzsemantische Sonden in den Krisendiskurs . . . . 16 3. Quellen: Parlamentsprotokolle und Presseberichterstattung . . . 20 4. Anknüpfungen: Baustein verschiedener Geschichten . . . . . . . 35 5. Historisch-semantische Krisenerzählungen: zur Darstellungsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
Teil 1 Krise aus und inmitten Krisen: 1929–1933 II.
Forschungsperspektiven und gängige Narrative: zwei Verfallsgeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 1. Deutschland in der Weltwirtschaftskrise: die ökonomische Dreifachkrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2. Politische Schlussperiode: die Krise als Ende der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . 71
III. Verzögert und beschleunigt: Wirtschaftskrise zwischen
›Ultimokrise‹ und ›Umschwung‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
1. Finanziell prekär und latent rezessiv: Deutungen zum Jahreswechsel 1929/30 . . . . . . . . . . . . . . . 81 2. ›Weltwirtschaftskrise‹ als Diagnose und Argument: Frühsommer 1930 bis Spätsommer 1931 . . . . . . . . . . . . . . 94 3. Implizite Historisierungen und disparate Erwartungen: Herbst 1931 bis Winter 1932/33 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
6
Inhalt
IV. Missstände bezeichnen, Herausforderungen benennen –
wirkmächtige Begriffsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 1. Referenzen und Beurteilungskriterien: die Macht der Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 2. Abstraktes fassen: ›Vertrauen‹ und ›Psychologie‹ . . . . . . . . . . 139 3. Leid und Abwehr – prävalente Semantiken . . . . . . . . . . . . . 143 3.1. ›Not‹, ›Elend‹ und ›Opfer‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 3.2. Anleihen an ›Kampf‹ und ›Krieg‹ . . . . . . . . . . . . . . . . 147 4. Elementare Metaphern: Bilder von ›Reinigung‹, ›Krankheit‹, ›Körper‹ und ›Mechanik‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 4.1. Geduld ausreichend? Sprachbilder organischer Wirtschafts-Konzeptualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . 154 4.2. Eingriff erforderlich: das Aufkommen mechanistischmaschinistischer Metaphern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 5. Von steter Konjunktur? ›Krisen‹-Komposita . . . . . . . . . . . . 159
V.
Einzelbetrachtungen: Akteure und spezifische Sprachgebrauchsmodi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 1. Begrenzte Diskussionsbereitschaft: Scheidelinien zwischen ›politischer Mitte‹ und Extremen . . . . 164 2. Krisendiskurs und Systemfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 3. Raum-Bezüge: Deutschland als wesentliche Referenz, Interdependenz-Narrative und ›Welt‹-Krise . . . . . . . . . . . . 174
VI. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
Teil 2 1966/67 – Die reduzierte Krise VII. Forschungsperspektiven und Narrative: drei Geschichten und
eine Leerstelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
1. Die fast vergessene ›Wachstumsdelle‹ . . . . . . . . . . . . . . . . 188 2. Der glücklose Kanzler und die große Rochade in Bonn . . . . . . 191 3. Die (nicht ganz so) rasante Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
7
Inhalt
VIII. Ein kurzer Krisenwinter mit langem Vor- und Nachlauf . . . . . . . 203
1. Vorspiel zur ›Krise‹: ›führungsschwacher Kanzler‹, ›zerstrittene Union‹, ›uneinige Koalition‹ . . . . . . . . . . . . . . 204 2. Eine ›Krise‹ politischer Steuerung? Herbst 1966 . . . . . . . . . . 222 3. Der Krise zentraler Akt? die ›Wirtschaftskrise‹ des Winters 1966/67 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 4. Früher Optimismus und langes Warten – Nachspiel zur ›Krise‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 IX . Zwischen Steuerungsphantasien und Krankheitsfurcht:
konzeptuelle Konfigurationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 1. Kontinuität der Ziele: Stabilität, Wachstum, Vertrauen . . . . . . 253 2. Krankheits- und Maschinenbilder – tragende Metaphern . . . . 259 2.1. Gesundung nötig und möglich: Krise als überwindbare Störung . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 2.2. Was treibt die Wirtschaft an? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 3. Krise ohne ›Krise‹? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
X .
Einzelbetrachtungen: Akteure und Konstellationen . . . . . . . . . 266 1. Kontraktion der Sichtweisen – oder: vom dreifachen Glück, zu regieren . . . . . . . . . . . . . . 266 2. Kontraktion der Zukunft? der geschrumpft-stabile Horizont . . 268 3. Reflexionsleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 3.1. Ein Schleier der Semantik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 3.2. Über den Tag hinaus? – Zäsurdeutungen . . . . . . . . . . . 278 3.3. »Wir haben der Krise ins Antlitz gesehen …« – Historisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 4. Erwartung statt Erfahrung: vorgelagerte Semantik und verschwiegene Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
XI. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
8
Inhalt
Teil 3 Komplex und konturlos: die Krise 1973–1976 XII. Forschungsperspektiven – mit vagem Alpha und ohne Omega . . . 293
1. Geschichten ›nach dem Boom‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 2. Inflation und andere Übel: wirtschaftsgeschichtliche Zugänge . . 302 3. Der Ölpreisschock als Schlüsselereignis . . . . . . . . . . . . . . . 307 XIII. Abrupter Beginn und schrittweises Ende:
Vom ›Ölschock‹ zum Aufschwung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311
1. Herrschende Zukunft von kurzer Dauer: Spätherbst 1973 . . . . 313 2. Prognosen in neuer Tonlage: Revidierte Erwartungen im Frühjahr 1974 . . . . . . . . . . . . . 337 3. Spürbarer Steuerungsverlust: Problemdeutungen im ›Krisenjahr‹ 1974/75 . . . . . . . . . . . . . 346 4. Expansion, die (k)ein Ende bedeutet: Winter 1975/76 . . . . . . . 360 XIV. Dominante Semantiken und fluide Übergänge –
zwischen ›Krise‹ und neuer Normalität . . . . . . . . . . . . . . . . . 370
1. Zuspitzung und Gewöhnung: der Krisenbegriff in der Presse . . 370 2. Metaphorische Heterogenität als Folge struktureller Komplexität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 3. ›Opfer‹- und ›Vernunft‹-Semantiken . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 XV. Einzelbetrachtungen: Akteure, Strategien und Meta-Deutungen . . 385
1. Narrative von Regierung und Opposition . . . . . . . . . . . . . . 385 1.1 Blick ›nach draußen‹: Synchrone Vergleiche als Argumente bei SPD und FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 1.2. Blick zurück: Diachrone Vergleiche als Argumente bei CDU und CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 2. Das Dilemma der Referenzlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 3. Kein Opfer und ein Profiteur: Brandt und Schmidt 1973/74 . . . 401 4. Raum-Bezüge: Westdeutschland als primärer Fokus, Transnationalität als Erklärung – und die ›Weltwirtschaft‹ . . . . 416
9
Inhalt
5. Frühe Meta-Deutungen: eine Epochenwende? . . . . . . . . . . . 420 6. Späte Meta-Deutungen: die Frage der (Un-)Regierbarkeit . . . . 426 XVI. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432
Fazit XVII. Wirtschaftskrisen als politische Kommunikation . . . . . . . . . . . 437
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492
I. Einleitung
Wer heute weder jung noch steinalt ist und an große Wirtschaftskrisen denkt, erinnert zwei Ereigniskomplexe. Bereits gegen Ende der 1960er Jahre unter Druck geraten, implodierte das Währungssystem von Bretton Woods im März 1973. Die Abwertung des US -Dollars und global zunehmende Inflationsraten veranlassten eine Reihe ölproduzierender Staaten, deren Exporte auf dem Weltmarkt in Dollar abgerechnet wurden, den Anfang Oktober 1973 ausgebrochenen Jom-Kippur-Krieg zu exorbitanten Preissteigerungen zu nutzen. Zusammen mit Anpassungsschwierigkeiten beim Übergang zu einer kombinierten Industrieund Dienstleistungsstruktur stürzten bestehende Inflation und Ölpreisschock die westlichen Industriegesellschaften in eine tiefe Rezession. Ex post markierte sie das Ende der »trente glorieuses« (Fourastié);1 bald galt sie nicht nur in der Wissenschaft als »kleine Weltwirtschaftskrise«.2 Szenenwechsel: USA, Sommer 2007. Nach kontinuierlichen Steigerungsraten in den Jahren zuvor brachen die US -amerikanischen Immobilienpreise massiv ein. Nun rächte sich die dank niedriger Leitzinssätze jahrelang großzügige Kreditvergabepraxis US -amerikanischer Banken auch an schwache Schuldner, bei der die rasant an Wert verlierenden Immobilien als Sicherheit gedient hatten. Das Risikobewusstsein der Investoren stieg; auf den Märkten erodierte das Vertrauen in die sogenannten Subprimekredite. Gravierende Wertberichtigungen in den Bilanzen der Banken waren die Folge. Geldhäuser, die eine Vielzahl solcher Papiere besaßen, gerieten ins Taumeln. Spätestens seit dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 erstreckten sich die Schwierigkeiten nicht mehr bloß auf die USA . Mit groß angelegten Rettungsschirmen mussten Staaten existenzgefährdeten Banken zur Hilfe eilen. Zugleich wurden Konjunkturpakete zur Stützung der Realwirtschaft notwendig, da der weit verbreitete Vertrauensverlust das gesamte Bank- und Kreditwesen lähmte und infolgedessen die Investitions- und Konsummöglichkeiten einschränkte. Trotz aller Bemühungen schrumpfte die Weltwirtschaft erstmals seit den 1930er Jahren. 1 Fourastié, Les Trente Glorieuses. 2 Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 392.
12
Einleitung
Das Urteil, beide – stark gerafften – Beispiele stellten einschneidende Wirtschaftskrisen dar, kann kaum Widerspruch hervorrufen. Doch bereits die Frage, wann die Krisen begannen, wann sie endeten und worin das Krisenhafte bestand, führte zu einem weniger einhelligen Votum. So bildete in der deutschen Öffentlichkeit weder das Platzen der amerikanischen Immobilienblase noch der Zusammenbruch von Lehman Brothers den entscheidenden Ausgangspunkt der ›Krise‹.3 Als bedeutungsschwer erwies sich hingegen eine Pressekonferenz, zu der Bundeskanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Peer Steinbrück am 5. Oktober 2008, einem Sonntag, einluden. Angesichts der ebenfalls in existenzielle Nöte geratenen deutschen Bank Hypo Real Estate versprach die Bundes regierung sämtlichen Sparern eine staatliche Garantie ihrer Guthaben. Form und Inhalt der ungewöhnlichen Mitteilung evozierten Aufmerksamkeit und Verunsicherung, vermittelten vor allem aber jedem Bürger das Gefühl, die Krise könne ihn selbst betreffen. Mithin bedeutete das Versprechen einen wichtigen Schritt bei der Etablierung des Deutungsmusters der ›Krise‹. Sehr ähnliche Beobachtungen ermöglichen die 1970er Jahre. Nicht die Turbulenzen des Weltwährungssystems seit 1971, die stetig ansteigende Inflation, der Ausbruch des Nahostkriegs Anfang Oktober 1973 oder Gedankenspiele über eine etwaige Drosselung der Öllieferungen auch an Deutschland seit Mitte dieses Monats provozierten eine Interpretation der Situation als ›Krise‹. Vielmehr war es die Berichterstattung über die Einschränkungen des öffentlichen Lebens in den Niederlanden, dem ersten Opfer des Ölboykotts, die binnen weniger Tage um den Monatswechsel Oktober / November 1973 das Reden von einer ›Krise‹ auslöste.4 Gegenstand der vorliegenden Studie sind Mechanismen und Dynamiken der Hervorbringung und Aktualisierung genau dieser Interpretationsweise. Sie perspektiviert Krisen als Phänomene, die sich nicht unvermeidlich aus bestimmten ökonomischen Konstellationen ergeben, sondern diskursiv erzeugt werden. Damit nähert sich die Arbeit Wirtschaftskrisen nicht über den klassischen Zugriff, der Ereignissen und ihren langfristigen Ursachen – der Frage: Was passierte warum? – nachgeht. Sondern sie fragt, wann, wie und mit welchen Folgen sich Wirtschaftskrisen als im politischen Sprachgebrauch dominierende Deutungen etablierten und verstetigten. Im Zentrum des Interesses steht die Frage, in welchen Situationen und auf welche Weise öffentlich wirkmächtige Akteure, speziell Politiker und Journalisten, ihre Gegenwart als ›Krise‹ deuteten – und: ob und wie sie sich die ›Krise‹ aneigneten. 3 Doppelte Anführungszeichen sind ausschließlich Zitaten vorbehalten. Um einen bestimmten Begriff zu thematisieren, einen Ausdruck zu relativieren oder den metaphorischen Gehalt eines Wortes zu betonen, werden einfache Anführungszeichen verwendet. 4 Siehe exemplarisch: Benzinpreis explodiert: Bald 1 Mark, in: BILD, Nr. 256, 01.11.1973, S. 1 (»Jetzt werden die deutschen Autofahrer Opfer der Erdöl-Krise«).
Perspektive
13
In Form einer historisch-semantisch angelegten Sprach- und Argumentations geschichte verfolgt die Arbeit dieses Erkenntnisziel am Beispiel dreier Krisen, die – obgleich sehr unterschiedlicher Ausmaße – für die (bundes-)deutsche Geschichte prägend und folgenreich waren: der Weltwirtschaftskrise ab 1929, der bundesdeutschen ›Wachstumsdelle‹ 1966/67 sowie der ›kleinen Weltwirtschaftskrise‹ der 1970er Jahre. Die Analyse erfasst die für jene Zeiträume gemeinhin unterstellte Krisenhaftigkeit in ihrem Zustandekommen, betrachtet ihre sprachlichen Erscheinungsformen und politischen Wirkungen. Sie kon zentriert sich auf die zeitgenössischen Prozesse der Bedeutungsproduktion und rückt die bedeutungsgenerierende Funktion des Sprachgebrauchs in den Mittelpunkt. Bewusst geht damit einher, auf einen ex ante formulierten analytischen Krisenbegriff zu verzichten. Einem potenziellen Missverständnis sei vorgebeugt: Die gewählte Perspektive soll nicht implizieren, die Krisen auf ein reines Sprechakt-Phänomen zu reduzieren. Vielmehr geht es um einen neuen Blickwinkel: Die historisch-semantische Untersuchung zeigt, dass und wie die Krisen Effekt politischen Sprachgebrauchs waren und so Faktor politischer Kommunikation wurden.
1. Perspektive: Krisen als Deutungsmuster Wie Reinhart Koselleck aufgezeigt hat, ist das Reden von Krisen ein Grundkennzeichen der Neuzeit.5 Von Wirtschaftskrisen zu sprechen ist im deutschen Sprachraum spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts üblich.6 Doch trotz – oder gerade infolge – der Verbreitung des Begriffs respektive der ständigen Konfrontation mit Krisenerscheinungen ist keineswegs leicht zu fassen, was Krisen ausmacht. Krisen stellen prinzipiell, Wirtschaftskrisen vielleicht in besonderer Weise abstrakte Größen dar. Ein essentialistisches Moment, ein wesentlicher Kern, ist ihnen genauso wenig inhärent, wie sie irgendeine Form von Gegenständlichkeit aufweisen. Entsprechend ist es praktisch ein unmögliches Unterfangen, einzelfallübergreifende Aussagen darüber zu treffen, was genau volkswirtschaftlich geschehen oder drohen muss, damit von einer ›(Wirtschafts-) Krise‹ die Rede ist. Vielmehr bilden Krisen ein kognitives Korrelat, das auf einer Kombination aus Erfahrungshintergrund, eigener und wahrgenommener Gegenwartsdeutung, Erwartungshaltungen, Assoziationen, letztlich impliziten
5 Vgl. Koselleck, Art. Krise, S. 627, 635–637. Zur Anwendungsweise und Konzept-Genese von ›Krise‹ im Verlauf der Frühen Neuzeit siehe den Band von Schlögl / Hoffmann-Rehnitz / Wiebel (Hg.), Krise in der Frühen Neuzeit. 6 Vgl. Koselleck, Art. Krise, S. 641.
14
Einleitung
Maßstäben und Beurteilungen basiert.7 Prägen und vermitteln – und für die Analyse erreichen – lassen sie sich durch ihren sprachlichen oder bildlichen Niederschlag. Überindividuelle Wirkmächtigkeit erlangen sie, sobald sich die Interpretation einer Situation als ›Krise‹ als weithin geteilte Deutung verbreitet, sich folglich Regelmäßigkeiten in den vorgebrachten Äußerungen und Praktiken beobachten lassen. Anders ausgedrückt: wenn ›Krise‹ zum Deutungsmuster wird, verstanden als »übergreifendes sprachliches Paradigma der Wirklichkeitswahrnehmung und -interpretation.«8 Auf die zu beobachtenden Regelmäßigkeiten – genauer: deren Basis, ein Organisationsprinzip von Aussagen – bezieht sich die Ausgangsthese, dass Krisen Ereignisse sind, die diskursiv zustande kommen. In dieser Annahme, dass verbreitete Aussagen keine Zufallserscheinungen sind, sondern Regeln unterliegen beziehungsweise von einer Ordnungs- oder »Tiefenstruktur« organisiert werden, finden die vielfältigen diskursanalytischen Ansätze ihren gemeinsamen Nenner, unabhängig davon, ob sie an historisch-semantische, diskurslinguistische oder wissenssoziologische Konzepte anknüpfen.9 Keine Einigung besteht hingegen bei der Frage, wer oder was diskursiven Wandel bewirkt. Gerade die Wirkmächtigkeit von Akteuren gegenüber den scheinbar ›unpersönlichen‹ Strukturen von Diskursen wird unterschiedlich bemessen. Radikale, an den jeweiligen Polen diskurstheoretischer Debatten angesiedelte Positionen, die Akteure entweder als weitgehend autonom handelnd oder als den strukturalen Regeln des Diskurses vollständig unterworfen konzeptualisieren, sind weder erkenntnistheoretisch überzeugend noch arbeitspraktisch hilfreich.10 Dies gilt umso mehr, wenn konkrete Situationen des Sprachgebrauchs analysiert werden sollen. Schon in der Vergangenheit ist daher vielfach dafür plädiert worden, akteurs- und strukturorientierte Positionen zu verknüpfen.11 Akteure bewegen sich demnach in einem Rahmen diskursiver Regeln, können diese aber durch semantische Impulse beeinflussen und verändern.12 Einem solch pragmatischen Diskursverständnis folgt auch die vorliegende Arbeit.
7 Diese Überlegungen sind eng angelehnt an Wengeler / Ziem, »Wirtschaftskrisen« im Wandel, S. 335 f. In vergleichbarer Weise fassen Föllmer / Graf / Leo, Einleitung, S. 9, Krisen als konstruiert durch einen »Komplex von Assoziationen, Stereotypen und Erwartungen« auf. 8 Leonhard, Liberalismus, S. 21. 9 Vgl. Kaldewey, Semantik, S. 2–6, Zitat (u. a.) S. 2. Vgl. ferner: Schöttler, Angst vor dem »linguistic turn«, S. 139; Steinmetz, Art. Diskurs, S. 60. 10 Vgl. u. a.: Schöttler, Angst vor dem »linguistic turn«, S. 138 f.; Graf, Zukunft der Weimarer Republik, S. 33 f. 11 Vgl. exemplarisch: Metzler, Konzeptionen, S. 20; Graf, Zukunft der Weimarer Republik, S. 34. 12 Vgl. hierzu – inhaltlich ähnlich, wenngleich mit anderer theoretischer Herleitung – auch Füssel / Neu, Doing Discourse, S. 221 f.
Perspektive
15
Die hervorgebrachten sprachlich-bildhaften Vorstellungen – oder analytisch: die diskursiven Formationen – (von) der ›Krise‹ existieren weder unabhängig von materiellen Faktoren noch wirken sie einzig auf einer sprachlichen Ebene. Sie sind rückgebunden an situativ konkrete Gegebenheiten und bestimmte Ereigniskomplexe, die als kurzfristig fixe »Konstellationen« betrachtet werden.13 Zu Konstellationen gehören beispielsweise die zu einem bestimmten Zeitpunkt etablierten Organisationsweisen von Märkten oder des Währungssystems, ebenso Ereignisse wie Börsencrashs oder Handelsembargos. Außerdem sind die politischen Ordnungen und die jeweilige mediale Infrastruktur wichtige konstellative Faktoren. Gemeint sind folglich sämtliche möglichen institutionellen, materiellen oder räumlichen Einflussfaktoren auf sprachliches Handeln, die in einer bestimmten Kommunikationssituation ›gegeben‹ sind, unabhängig davon, ob dies den Akteuren bewusst ist, sie diese Gegebenheiten also zum Beispiel begrifflich fassen können.14 In ihrer Gesamtheit konstituieren diese Konstellationen die Rahmenbedingungen sprachlichen Handelns. Man kann darüber sinnieren, inwiefern die Konstellationen selbst diskursiv organisiert sind, und wird, je nach epistemologischem Standpunkt, zu unterschiedlichen Antworten gelangen. Für die Analysen der vorliegenden Studie ist diese Frage zweitrangig; daher wird sie schon aus heuristischen Gründen ausgeblendet. Die Folgen des Sprachgebrauchs verbleiben nicht auf einer reinen Diskussionsebene, sondern ein veränderter Sprachgebrauch aktualisiert und wandelt politische und ökonomische Deutungsweisen, Handlungsstrategien und Aktionsmodi. Dies betrifft politisch-gesetzgeberische Akteure, zum Beispiel Parlamentarier, die Maßnahmenpakete zur Bewältigung einer Krise schnüren, genauso wie Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschaftsjournalisten, die über die richtigen Wege und Lehren zur Überwindung der Krise streiten. Das in den vergangenen vier Jahrzehnten in krisenperiodischer Regelmäßigkeit zu beobachtende Rütteln an den Zielkoordinaten wirtschaftspolitischen Handelns, etwa durch die Predigten »plötzlich […] bekehrte[r] Wachstumsideologen«15 oder das Ausrufen eines »Abschied[s] vom Wachstum«16, stellt hierfür nur die Speerspitze, aber ein besonders eindrückliches Beispiel dar. Betroffen ist nicht zuletzt die ›gewöhnliche‹ Bevölkerung, die beispielsweise überlegt, Erspartes vom Bankkonto abzuheben, Anschaffungspläne zurückzustellen oder die Ölvorräte 13 Eine solche Verwendung des Konstellationsbegriffs als heuristisches Werkzeug zur Verbindung von Semantik und außersprachlichen Faktoren entwickelte Steinmetz, Semantics, S. 3, 7 f. 14 Vgl. ebd., S. 7. 15 Das Streiflicht, in: SZ , Nr. 253, 02.11.1973, S. 1. 16 Petra Pinzler, Abschied vom Wachstum. Haben wir nicht genug? Wie sich Ökonomen ein System vorstellen, in dem nicht zwanghaft immer mehr produziert werden muss, in: DIE ZEIT, Nr. 50, 08.12.2011, S. 29.
16
Einleitung
aufzufüllen. Sprachliches Handeln löste damit einerseits sehr anschauliche, gut fassbare Konsequenzen aus. Andererseits zeitigte es längerfristige Veränderungen der Vorstellungen von dem als ›richtig‹ anerkannten wirtschaftsideologischen Konzept oder ›der Ökonomie‹. So ist der Konnex von Krisenerfahrung und Hegemonie spezifischer ökonomischer Denkschulen evident, wenn man an die Etablierung des Keynesianismus als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre oder den wachsenden Einfluss monetaristisch geprägter Konzepte ab Mitte der 1970er Jahre denkt.17
2. Methodik: satzsemantische Sonden in den Krisendiskurs Einen Gegenstand aus einer historisch-semantischen Warte zu beleuchten, mithin die »Konstitutionsmechanismen und -bedingungen von Bedeutung […] und damit von gesellschaftlich artikulierter Wirklichkeit« zu rekonstruieren,18 erklärt zunächst weder die konkrete Perspektive noch den genauen methodischen Zugriff. Einen Krisendiskurs in der Gesamtheit seiner thematischen Stränge samt angrenzender Debatten sowie zugrundeliegender Erfahrungs- und Wissenskontexte zu untersuchen, stellt ein unlösbares Unterfangen dar. Daher beschränkt und konzentriert sich die vorliegende Studie auf Diskussionen, die Krisendeutungen konstituierten und aktualisierten. Zuvorderst rücken Auseinandersetzungen um Zeitdeutungen ins Blickfeld. Denn gerade das Spannungsfeld von Vergangenheitswahrnehmung, Gegenwartsdiagnostik und Zukunftserwartung prägt die politische Deutungskultur. Dies galt sowohl für Auseinandersetzungen um die Ursachen von Krisen als auch hinsichtlich der erwarteten Auswirkungen, somit des Zäsur-Charakters der Krise.19 Krisen bewirkten einen neuen Blick auf die zurückliegende Zeit; ebenso – und wie die Studie zeigen wird: insbesondere – veränderten sie die Erwartungen an die künftige Entwicklung. Auch hierfür liefert der Einschnitt von 1973/74 ein eingängiges Beispiel. Binnen kürzester Zeit entwickelte sich die Zukunft von einer gestaltbaren zu einer ›herrschenden‹ Instanz, die Handlungsspielräume massiv einschnürte, Verunsicherung evozierte und längst überwunden geglaubte Problemkomplexe zurückkehren ließ. Mit den gewandelten Zukunftsvorstellungen ging eine Veränderung des Blicks auf die Vergangenheit
17 Zum Wandel der wirtschaftspolitischen Konzepte in der Bundesrepublik der 1970er Jahre siehe Schanetzky, Ernüchterung. Mit Blick auf die gleiche Frage, bezogen auf die Krise ab 2008: Hesse, Keynes’ zweiter Frühling. 18 Busse, Historische Semantik, S. 13. 19 Vgl. auch die erste Ausgangshypothese zur sprachlichen Repräsentation von Krisen bei Kämper, Krise und Sprache, S. 248–252.
Methodik
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einher. Sie konnte ebenfalls Gegenstand politischer Deutungskämpfe werden, schließlich ›mussten‹ in ihr die Ursachen der Krise liegen. Der letztgenannte Aspekt zeigt, dass nicht nur zu klären ist, auf welche Weise (Lesarten von) ›Vergangenheit‹, ›Gegenwart‹ und Zukunft‹ entworfen wurden. Genauso ist zu fragen, welche Akteure sich mit welchen pragmatischen Absichten die Zeitdeutungen aneigneten, um die Vorstellung einer ›Krise‹ zu etablieren oder ihr zu widersprechen. Eine Perspektive, die Zeitdeutungen ins Zentrum rückt, befähigt folglich, den Aspekt der zeitgenössisch offenen Situation einer Krise, in der sich neue Situationen formieren und Unsicherheiten ergeben, Entscheidungen für die künftige Entwicklung zu treffen, aber noch nicht getroffen sind, adäquat zu erfassen.20 Ein noch immer derart breit gefächerter Interessenkomplex erfordert einen umso klareren Analysezuschnitt. Wie aber lassen sich die wesentlichen Äußerungen zielgerichtet umkreisen, fixieren und begrenzen? Denkbar wäre es, sich strikt auf Sätze zu konzentrieren, die das Substantiv ›Krise‹ oder von diesem Wortstamm abgeleitete Adjektive und Adverbien aufweisen. Dies führte zu einer erweiterten Begriffsgeschichte, die neben der Semantik des Begriffs dessen pragmatischen Einsatz beleuchtet. Somit entstünde eine Wortverwendungsgeschichte von ›Krise‹, gerecht würde sie dem Gesamtinteresse aber nicht. Ein komplexes Deutungsmuster wie das einer Krise ist nicht auf einen einzigen Terminus zu reduzieren, vielmehr setzten Redner und Autoren den Krisenzusammenhang in vielen Äußerungen implizit voraus. Dies erzwingt die Wahl eines anderen Weges. Zwar bilden ›Krise‹ und vom Wortstamm abgeleitete Formen das entscheidende Aufmerksamkeitskriterium, zumal man einen solchen Schlüsselbegriff als »Kristallisationskern[ ]« des Diskurses betrachten kann.21 Einem Lotsen ähnlich lenken sie den Blick auf die Diskussionen, die mit dem ›Krisen‹-Begriff belegt waren und den Inhalt der Krisendebatten ausmachten.22 Diesen Debatten bleibt die Analyse fortan auf der Spur. Vergleichbar mit einem onomasiologischen Vorgehen werden nicht nur explizite ›Krisen‹-Belegstellen gesucht, sondern es wird ebenso gefragt, mit welchen Begriffen jene Inhalte weiterverhandelt wurden, die zuvor als ›krisenhaft‹ erschienen. Ein Beispiel: Als Presse und Politiker Anfang November 1973 plötzlich von einer ›Krise‹ sprachen, 20 Zu diesem Merkmal von Krisen vgl.: Koselleck, Kritik und Krise, S. 134; Goeze / Strobel, Art. Krisenrhetorik, Sp. 513. Zum ›Krisen‹-Begriff siehe ferner: Koselleck, Art. Krise; ders., Einige Fragen; Starn, Historische Aspekte. 21 Linke, Begriffsgeschichte, S. 40. 22 Diese Grundidee ist keineswegs neu. Bereits vor mehr als drei Jahrzehnten kritisierte Schultz, Begriffsgeschichte und Argumentationsgeschichte, S. 72, dass für eine Analyse »[p]rozessualer Argumentationen in politisch-sozialen Diskursen […] eine Beschränkung auf einzelne Lexeme unzureichend« sei, weshalb er für eine »argumentations geschichtliche Ausweitung der Begriffsgeschichte« (ebd., S. 73) plädierte.
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bezeichneten sie damit zunächst jene Schwierigkeiten, die aus der sogenannten ›Öl- und Energiekrise‹ resultierten.23 Doch bereits wenige Tage später begannen Journalisten, vor der Gefahr einer ausgreifenden »große[n] Wirtschaftskrise« zu warnen.24 Rasch fand das Schlagwort Eingang in den Sprachhaushalt der Politiker, zumal als im Januar 1974 das Öllieferungsproblem kurzfristig gelöst erschien, sich zugleich jedoch eine Rezession ankündigte und die Inflation auf hohem Niveau verharrte. Damit war in den Grundzügen ein Problem komplex konstituiert, der bis 1976 die Referenz der Diskussionen bildete: Eine mittel- und langfristig unsicher erscheinende Energieversorgung, vor allem aber das Wegbrechen der gewohnten Wachstumsraten, verbunden mit merklicher Geldentwertung und ansteigenden Arbeitslosenzahlen. Primär war es dieser Problemzusammenhang, der als ›(Welt-)Wirtschaftskrise‹ firmierte. Die Arbeit berücksichtigt mithin jene Äußerungen, die sich auf Elemente ebendieses Themenkomplexes beziehen. So gelingt es, das von ›Krise‹ aufgespannte Begriffsfeld und Debattenspektrum zu fokussieren, ohne einseitig am Krisenbegriff zu haften. Ein so konturierter Interessenfokus provoziert zunächst zwei Herausforderungen: Erstens sind Kriterien zu formulieren, die eine Konzentration auf eine begrenzte Zahl an Aussagen ermöglichen. Zweitens ist das Quellenkorpus so zuzuschneiden, dass es wichtige Akteursgruppen umfasst, ohne ein Ausmaß anzunehmen, das eine detaillierte semantische und sprachpragmatische Analyse unmöglich macht. Das Meistern der ersten Herausforderung besteht in der konsequenten Beschränkung auf für Krisenkonstruktionen typische Äußerungen. Genauer: auf Sätze respektive Sinnabschnitte, die beantworten, woher die aktuell krisenhafte Situation rührt, worin genau sie besteht, wen sie betrifft oder welche Szenarien für die weitere Entwicklung unter welchen Bedingungen erwartbar sind.25 Sie fungieren als satzsemantische Sonden in den Krisendiskurs. So ergibt sich ein klar umrissenes untersuchungsleitendes Fragenset, das aus den unten aufgeführten Einzelfragen besteht. Es setzt voraus, zunächst die Zeitpunkte zu ermitteln, an denen erstmals breitenwirksam erfolgreiche Versuche unternommen wurden, das Deutungsmuster ›Krise‹ zu etablieren. Sodann ermöglicht es, den zeit genössischen Diskursverlauf in seinen wesentlichen Elementen nachzuverfolgen. 23 Exemplarisch: [Die Krise verschärft sich] Araber drehen den Ölhahn weiter zu. Drosselung der Förderung um 25 Prozent gegenüber September beschlossen / Treffen der EG Außenminister in Brüssel / Bundeskabinett berät über Gesetz zur Sicherung der Energieversorgung, in: SZ , Nr. 256, 06.11.1973, S. 1 f. 24 Rollt auf uns die große Wirtschaftskrise zu? Kurs stürzte an der Börse, Öl-Erpresser fügen unserer Industrie schweren Schaden zu, in: BILD, Nr. 265, 13.11.1973, S. 2. 25 Die Ausrichtung der Untersuchung auf eine solche satzsemantische Methode ist i. w. S. orientiert am Beispiel der Studie von Steinmetz, Das Sagbare, S. 33–40.
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Nicht zu leugnen und nahezu unvermeidbar ist, dass in den Fragenkatalog Vorannahmen über mögliche Entwicklungen von Krisendiskursen einfließen. Sie orientieren sich zum einen partiell an Ansätzen anderer – hier konkret: soziologischer und diskurslinguistischer – Arbeiten.26 Zum anderen beruhen sie letztlich auf einer Vielzahl kleinerer eigener Beobachtungen; diese rührten aus einer ersten Durchsicht des Quellenmaterials genauso wie aus der beinahe alltäglichen Konfrontation mit heutigen ›Krisen‹-Debatten. Aus den Quellen aufgenommen werden die zeitgenössischen Äußerungen zu folgenden Fragen, zunächst: – Worin besteht die ›Krise‹? / Inwieweit unterscheidet sich die gegenwärtige Situation von der unmittelbaren Vergangenheit? – Welche Ereignisse sind die Auslöser der ›Krise‹? – Wer ist für diese verantwortlich? – Welche unmittelbaren Folgen provoziert die ›Krise‹? – Wie ist auf diese Entwicklung zu reagieren? – Ist eine Orientierung an Vergleichsreferenzen möglich? Sodann: – Welche Folgen haben die bisherigen Reaktionen auf die ›Krise‹ gezeitigt? – Wie ist auf diese Folgen zu antworten? – Mit welchen weiteren Auswirkungen der ›Krise‹ ist zu rechnen? – Woran ist das Krisenausmaß zu bemessen? – Liegen der ›Krise‹ grundsätzliche Fehlentwicklungen zugrunde, und wer trägt für diese ggf. die Verantwortung? Schließlich: – Welche Lehren sind aus der ›Krise‹ zu ziehen und welche bereits gezogen? – Ist die ›Krise‹ beendet, oder droht ein neuer ›Krisenschub‹? – Markiert die ›Krise‹ eine Zäsur? Inwieweit wird sich die Situation nach der ›Krise‹ von jener vor der ›Krise‹ unterscheiden? Mit diesen einfach anmutenden Leitfragen lässt sich der Sprachgebrauch treffsicher untersuchen. Zugleich erlaubt das Fragenset, die Prozesse der Umstrukturierung und Neuvermessung von Erfahrungsräumen und Erwartungshorizon26 Einige der Fragen sind grob inspiriert von Friedrichs, Gesellschaftliche Krisen, S. 14 f., der Merkmale verschiedener Krisenphasen herausarbeitet. Weniger beeinflusst als vielmehr bestätigt wurde das Fragenset zudem von den teils ähnlichen Fragen, die Wengeler, Historische Diskurssemantik, S. 51 f., formuliert. Mit dem hier gewählten Fragenset soll indes keineswegs ex ante eine Differenzierung verschiedener Krisenabschnitte vorgegeben werden. Diese wird vielmehr erst aus dem Analyseergebnis – dem Wandel des zeitgenössischen Sprachgebrauchs – abgeleitet; siehe hierzu Kap. I.5.
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ten im Detail zu verfolgen.27 Somit ermöglicht es – ganz im Sinne des eingangs formulierten Erkenntnisziels –, die Herausbildung des Krisenbewusstseins aus der historischen Situation selbst, präziser: den zeitgenössischen Deutungsversuchen, nachzuvollziehen.
3. Quellen: Parlamentsprotokolle und Presseberichterstattung Während nun erklärt ist, nach welchen Kriterien dem Quellenkorpus das zu analysierende Quellenmaterial entnommen wird, bleibt weiter unbeantwortet, woraus das Korpus besteht. Es liegt nahe, sich dieser zweiten Herausforderung über die Frage nach den maßgeblichen Diskursbeteiligten zu nähern. Zweifellos trägt zur Etablierung des Interpretationsmusters einer ›Wirtschaftskrise‹ eine große Anzahl von Akteuren bei. Zu denken ist an Journalisten, Politiker, Wissenschaftler, Gewerkschafter, Unternehmer oder (andere) Intellektuelle.28 Sich dieser heterogenen Formation vollständig anzunehmen, ist kaum praktikabel. Doch fraglos spielen bei der Etablierung des Deutungsmusters Politiker und Journalisten eine wichtige Rolle. Aus diesem Grund steht ihr Sprachgebrauch im Zentrum der Untersuchung. Dass die Texte, die somit zu analysieren sind, verschiedenen Textgattungen mit je spezifischen Produktionsregeln entstammen, liegt auf der Hand. Ein Problem resultiert daraus nicht. Wohl niemand würde behaupten, dass Krisendiskurse dieser Art in den Grenzen der Text arten Schranken finden. Sie konstituieren sich über Textgrenzen hinweg. Mithin stellen die den Diskurs repräsentierenden »Texte […] in thematischer Hinsicht eine Einheit dar[, aber eben] nur in thematischer Hinsicht«.29 Entsprechend wird das im Folgenden vorgestellte Korpus in der Analyse konsequent als ein verschränktes Korpus betrachtet und behandelt; es zielt nicht auf eine kontrastierende Untersuchung und Darstellung im Sinne separiert gedachter Politikerund Pressediskurse. Politiker können sich in unterschiedlicher Weise zu und in Krisendiskursen verhalten. Auf den ersten Blick geraten sie durch Ereignisse und Prozesse, die sie oder andere als ›krisenhaft‹ deuten, unter einen beträchtlichen Aktions- und Legitimationszwang. Oft entwickelten sie sich zu den zentralen Figuren der Krisenabwehr. Sie mussten sowohl kurzfristig reagieren als auch mittel- und langfristige Strategien entwickeln, um den Problemen, die als krisenauslösend 27 Zum Konnex der Ergänzungs-, nicht aber symmetrischen Gegenbegriffe ›Erfahrung‹ und ›Erwartung‹ vgl. Koselleck, ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹, S. 352 f., 355 f., 359. 28 Vgl. auch Maeße, »Krisenmanagement«, S. 85, der sich auf die Diskursmacht der Ökonomen konzentriert. 29 Kämper, Sprachgeschichte, S. 213.
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galten, dauerhaft zu begegnen. Vor allem zur Begründung ihrer Handlungsstrategien fielen Zeitdeutungen ins Gewicht, etwa im Sinne der Vergangenheit als Erklärungsinstanz oder der Zukunft als Legitimationsressource. Gleichwohl sollte die Rolle von Politikern nicht zu eindimensional gedacht, sollten sie nicht als Akteure betrachtet werden, die Krisendiskursen ausschließlich passiv ausgesetzt waren. Denn genauso ist eine Aneignung oder Instrumentalisierung der Krisendiskurse durch Politiker denkbar. Zumindest scheint es nicht abwegig, dass Politiker Krisendeutungen bisweilen aktiv vornahmen oder forcierten, um Themen zu besetzen, andere Themen aus der politischen Debatte zu verdrängen, Erwartungshaltungen an politisches Handeln zu senken oder sich selbst als erfolgreiche Krisenmanager zu inszenieren. Journalisten beobachten politische und wirtschaftliche Entwicklungen, greifen Reaktionsweisen von Politikern sowie Expertenaussagen auf, vermitteln und kommentieren sie. Durch Auswahl, Gewichtung oder eigenes Generieren von Themen und Deutungen ist ihr Handeln mit-entscheidend dafür, welche Themen und Interpretationen Gegenstand politischer Diskussion werden.30 Letztlich trugen sie wesentlich dazu bei, Krisendeutungen zu transportieren und / oder zu erzeugen. Darüber hinaus sind diskursgeschichtliche Forschungen zum 20. und 21. Jahrhundert ohne die Berücksichtigung von Zeitungstexten ohnehin nahezu undenkbar, weil diese themenunabhängig jegliche politischen Diskurse repräsentieren.31
Korpuszuschnitt Auf diese Überlegungen fußt die konkrete Zusammenstellung der Quellenbasis. Im Detail bestehen vielfältige Möglichkeiten, das Netz zum Erfassen der Quellen so zu knüpfen, dass ein historisch-semantisch angemessen zu bearbeitender Ausschnitt des Krisendiskurses eingefangen wird. Parlamentsdebatten aus dem Reichstag und dem Bundestag bilden den Zugang zu Politikern als erster Akteursgruppe im Quellenkorpus.32 Wegen des seltenen Zusammentritts des Reichstags seit Beginn des unverschleierten Präsidialsystems im Herbst 30 Vgl. auch Frevert, Neue Politikgeschichte, S. 17–19. 31 Vgl. Kämper, Sprachgeschichte, S. 214. 32 Einem etwaigen Einwand sei vorab begegnet: Die stenografischen Berichte bzw. Plenarprotokolle geben nicht in jeder Einzelheit den tatsächlichen Wortlaut der Reden wieder, sondern unterlagen (im Reichstag genauso wie im Bundestag) einer Korrektur sowohl durch die Stenografen als auch die Redner. Diese Korrekturen sollten und durften indes lediglich zur Verbesserung grammatikalischer Fehler, unklarer Bezüge oder grober stilistischer Mängel dienen, die Texte ansonsten aber nicht verändern, vgl. Olschewski, Verschriftlichung von Parlamentsdebatten, S. 337–346. Insofern wird die Brauchbarkeit der Quellen für die hier beabsichtigte Art der Analyse nicht nennenswert beeinträchtigt.
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1930 werden vereinzelt auch Sitzungsprotokolle aus dem Preußischen Landtag herangezogen. Entsprechend der Kriterien zur Quellenanalyse interessieren ausdrücklich krisenbezogene Statements und Ansprachen, des Weiteren Parlamentsdebatten, die konkrete Rückschlüsse über die Bedeutung zulassen, die Politiker der ›Krise‹ beimaßen. Zu diesen gehören jene Debatten, in denen die ›Krise‹ zum ersten Mal thematisiert wurde, in denen Bewältigungsstrategien oder Problemkomplexe diskutiert wurden, die unter ›Krise‹ firmierten, aber auch Generaldebatten, beispielsweise zum Haushalt. Letztgenannte Aussprachen lassen erkennen, inwieweit die ›Krise‹ noch als ein außergewöhnliches, bereits als ein einkalkuliertes oder als ein überwunden geglaubtes Ereignis betrachtet wurde. Zusätzlichen Einblick in den Sprachgebrauch von (Regierungs-) Politikern liefern überdies situativ ebenfalls einbezogene Reden, die außerhalb des Parlaments gehalten wurden. Hierzu zählen beispielsweise über den Rundfunk und das Fernsehen verbreitete Weihnachts- und Neujahrsansprachen. Für die Presse-Ebene werden pro Krise jeweils je eine Qualitätszeitung mit nationalem Ansehen und Anspruch sowie ein Boulevardblatt berücksichtigt: für die Weltwirtschaftskrise ab 1929 die Vossische Zeitung sowie die B. Z. am Mittag, für die Krisen 1966/67 und der 1970er Jahre die Süddeutsche Zeitung und BILD. Aufgrund des täglichen – im Falle der Vossischen Zeitung ab 1931 zweimal-täglichen – Erscheinens dieser Zeitungen erlaubt diese Auswahl zum einen, potenziell rasante Dynamiken im Krisendiskurs, also Sprachwandel, der sich in kurzer Zeit vollzieht, zu erfassen. Zum anderen fällt die Auswahl bewusst auf je ein Qualitäts- und ein Boulevardblatt, weil sich diese gleich mehrfach unterscheiden: in Adressatenkreis, Berichtsumfang, inhaltlichen Schwerpunkten, Sprachwahl und der Art der Aufmachung, mithin den auch ökonomisch begründeten Thematisierungslogiken, die nicht zuletzt mit den unterschiedlichen Vertriebswegen der Zeitungen zusammenhängen.33 (Oder einfacher formuliert: Eine Zeitung, die täglich von neuem ›auf der Straße‹ die Aufmerksamkeit und das Kaufinteresse potenzieller Leser wecken muss, folgt mutmaßlich einem anderen Kalkül als ein Blatt, bei dem ein Teil der Leserschaft aus Abonnementkunden besteht.) An einigen Stellen werden weitere Zeitungen herangezogen, die politisch, wie im Fall der rechtsliberalen Frankfurter Allgemeinen Zeitung, oder, wie bei Wirtschaftsdienst und Handelsblatt, inhaltlich divergent ausgerichtet waren und abermals andere Adressatenkreise ansprachen. Gerade der für Weimar ausgewertete Wirtschaftsdienst, Organ des 1908 gegründeten Hamburger Weltwirtschaftsarchivs, ist eine interessante Quelle, weil er mit Volkswirten eine Gruppe repräsentiert, die sich während der Weimarer Krise selbst in der »Krise« be-
33 Diese Kriterien sind angelehnt an Raabe, Art. Boulevardpresse, S. 33 f.
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fand.34 Zusätzlich steigert sich sein Quellenwert dadurch, dass es Kurt Singer, dem Schriftleiter des Wirtschaftsdienstes, gelungen war, die alleinigen Rechte zum Druck deutschsprachiger Übersetzungen aktueller Artikel von John Maynard Keynes zu erwerben.35 Keynes schrieb sich somit über den Wirtschaftsdienst unmittelbar in die Weimarer Wirtschaftsdiskussionen ein. Außerdem wird der SPIEGEL berücksichtigt als Nachrichtenmagazin, dem spätestens für die Zeit nach der SPIEGEL-Affäre 1962 der Status eines politischen Leitmediums36 der Bundesrepublik zugeschrieben wird,37 sowie punktuell die ZEIT ausgewertet – als Zeitung, die grundlegende politische Debatten der Bundesrepublik prägt und spiegelt und in der Phase der SPD / FDP-Koalition ebenfalls Eigenschaften eines (sozialliberalen) Leitmediums besaß.38 Rolle und Stellenwert der genannten Pressorgane in der Weimarer und bundesrepublikanischen Medienlandschaft unterschieden sich merklich. Da sich dies auf die Einschätzung des jeweiligen Quellenwerts und letztlich die Belastbarkeit der gewonnenen Thesen auswirkt, scheinen einige einordnende Betrachtungen nützlich: Die Weimarer Medienlandschaft war zuvorderst printmedial geprägt;39 die Gesamtauflagenhöhe allein der Tageszeitungen lag bei 18–20 Millionen Exemplaren.40 Der Einfluss des Radios, das in Deutschland seit 1923 sendete, stieg zum Ende der Weimarer Republik allerdings deutlich an, weshalb Axel Schildt schon in der Weimarer Schlussphase den Durchbruch des Radios zum Massenmedium verortet.41 Ende 1933 betrug die Anzahl angemeldeter Radiogeräte ungefähr
34 Hierzu grundlegend: Köster, Wissenschaft der Außenseiter. Siehe zudem Kap. II .1. 35 Vgl. Schönhärl, Wissen und Visionen, S. 96 f. 36 Die Kriterien für ein ›Leitmedium‹ sind nicht scharf und eindeutig definiert. Unter einem ›Leitmedium‹ sei an dieser Stelle mit Wilke, Leitmedien und Zielgruppenorgane, S. 302, ein Medium verstanden, »dem gesellschaftlich eine Art Leitfunktion zukommt«, weil ihm »Einflu[ss] auf die Gesellschaft und auf andere Medien beigemessen wird«. Wilke nennt eine Reihe von Merkmalen, die ein Presseorgan zu einem Leitmedium machen können, aber nicht zwingend machen müssen (ebd., S. 302 f.); zu diesen zählen unter anderem eine hohe Auflage, die Struktur der Rezipienten (Eliten, Entscheidungsträger), die Zitierquote in anderen Medien respektive eine herausgehobene Position beim Setzen von Themen, die sodann die Aufmerksamkeit anderer Medien wecken. 37 Zur Einordnung des SPIEGEL als Leitmedium vgl.: ebd., S. 318–320; Münkel, Ein neues Selbstverständnis, S. 241. 38 Vgl.: Wilke, Leitmedien und Zielgruppenorgane, S. 317; Schildt, Immer mit der Zeit, S. 24 f. (Schildt spricht wörtlich von »[s]ozialliberale[m] Leitorgan« [S. 24] bzw. »sozialliberale[m] Leitmedium« [S. 25].) 39 Vgl.: Moores, Presse und Meinungsklima, S. 31; Schilling, Das zerstörte Erbe, S. 18–21. 40 Genauere Schätzungen sind schwierig. Dussel, Deutsche Tagespresse, S. 129, geht von einer Gesamtauflagenhöhe der Tageszeitungen von etwa 18 Millionen aus, während Fulda, Press and Politics, S. 14, für die späten 1920er Jahre von circa 20 Millionen spricht. 41 Vgl. Schildt, Jahrhundert der Massenmedien, S. 197 f.
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5 Millionen; damit verfügten 6,5 Prozent der Bevölkerung über ein Radio.42 Wie hoch die tatsächliche Zahl der Hörer pro Gerät war, lässt sich schwerlich taxieren. Konrad Dussel geht davon aus, dass trotz der Expansion in der Schlussphase der Weimarer Republik nur etwa jeder Vierte gelegentlich und mittelbar Zugang zum Radio hatte, 75 Prozent der Bevölkerung hingegen nicht.43 Der Rundfunk selbst schätzte die maximale Hörerzahl am Jahresende 1932 sogar niedriger ein. Während Dussel die Zahl potenzieller Hörer entsprechend bei 15 bis 20 Millionen veranschlagt, ging der Rundfunk von weniger als 15 Millionen aus.44 Möglicherweise konnte unter dem Gesichtspunkt der tatsächlich erreichbaren ›Masse‹ von einem Massenmedium, zu dem das Radio während des Nationalsozialismus ohne Zweifel wurde, also doch erst in Ansätzen die Rede sein. Insbesondere galt dies für ländliche Regionen. Sie profitierten zwar massiv von einem großangelegten Senderausbau zwischen 1930 und 1934, dennoch lebten auch danach 30 Prozent der Bevölkerung in Gebieten, in denen kein Empfang möglich war.45 Die Presselandschaft Weimars lässt sich schlagwortartig auf drei Merkmale verdichten: höchst heterogen, räumlich regional angesiedelt, politisch fragmentiert. Ungleich höher als in der Bundesrepublik war der Stellenwert von Parteizeitungen, unter ihnen so bekannte Beispiele wie Vorwärts, Rote Fahne und Völkischer Beobachter, sowie der parteinahen Presse, allen voran der DNVP-nahe Hugenberg-Konzern,46 neben ihm mit deutlichem Abstand aber etwa auch der KPD -nahe Münzenberg-Konzern.47 Einfluss übte Hugenberg zuvorderst über Beteiligungen an Verlagen und Zeitungen aus.48 Zudem belieferten seine konzerneigenen Presse- und Materndienste weitere Zeitungen mit Meldungen und druckfertigen Texten, was ihm mediale Macht über die Grenzen seines Konzerns hinaus sicherte.49 Seine Möglichkeiten der Meinungsbeeinflussung ragten so bis hinein in die Provinz, wo die große Mehrheit der Zeitungen – reichsweit deutlich 42 Vgl. Dussel, Radiowahlkampf, S. 128. 43 Vgl. ebd., S. 128 f. 44 Vgl. ebd., S. 129, Anm. 5. 45 Vgl. Cebulla, Rundfunk und ländliche Gesellschaft, S. 49 f. 46 Übersichten bei Dussel, Deutsche Tagespresse, S. 138–158, und Moores, Presse und Meinungsklima, S. 34–37. 47 Vgl. Gossel, Medien und Politik, S. 205 f. Sehr kritisch bzw. ablehnend zum Begriff ›Münzenberg-Konzern‹ positioniert sich Schildt, Jahrhundert der Massenmedien, S. 195, wobei nicht ganz deutlich wird, worauf sein Unbehagen gründet, sofern man den Begriff rein beschreibend verwendet und nicht etwa eine mit dem ›Hugenberg-Konzern‹ vergleichbare mediale Macht unterstellt. 48 Das Ausmaß des jeweiligen direkten Einflusses schwankte freilich, da nicht jede Beteiligung unmittelbare Auswirkungen auf die redaktionelle Arbeit zeitigen musste, vgl. Gossel, Medien und Politik, S. 261–263. 49 Vgl.: Ebd., S. 264–271; Stein, Adolf Stein alias Rumpelstilzchen, S. 9–11; Schildt, Jahrhundert der Massenmedien, S. 195.
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mehr als 3000 Blätter, darunter allerdings ein beträchtlicher Teil unselbständiger Ableger anderer Zeitungen – ihren Sitz hatte.50 Mit der kleinräumig-regionalen Struktur und hochgradigen politischen Fragmentierung der Presselandschaft – zumindest die Organe der politischen Extreme wiesen bisweilen kaum mehr inhaltliche Schnittmengen auf, sondern produzierten ein »Klima hochantagonistischer veröffentlichter Meinung«51 – korrespondierte, dass es keine Zeitungen mit dem Stellenwert landesweiter Leitmedien gab. Selbst renommierten Blättern wie der Frankfurter Zeitung und der Vossischen Zeitung blieb dieser Rang verwehrt. Überregionale Tageszeitungen in der heute bekannten Art, die im Quellenkorpus ein direktes Pendant zu SZ oder FAZ bilden könnten, existierten schlicht nicht.52 Weniger als zwei Dutzend Zeitungen erreichten eine Auflage von mehr als 100.000 Exemplaren. Angesiedelt waren sie insbesondere in Berlin (z. B. Berliner Morgenpost, B. Z. am Mittag, Berliner Lokal-Anzeiger), zudem unter anderem in München (z. B. Münchner Neueste Nachrichten), Frankfurt (z. B. Frankfurter Generalanzeiger), Hamburg (z. B. Hamburger Anzeiger) und Leipzig (Leipziger Neueste Nachrichten).53 Bei den für die vorliegende Arbeit ausgewerteten Organen, Vossische Zeitung und B. Z. am Mittag, handelte es sich um das Vorzeige- und das Boulevardblatt des liberalen und republikfreundlichen Ullstein-Konzerns.54 Er war das größte der drei in Berlin dominierenden Verlagshäuser Ullstein, Mosse und Scherl.55 Wenngleich die Auswahl angesichts der beschriebenen Kontur der Presselandschaft fraglos auch auf andere Zeitungen hätte fallen können, sprechen für die getroffene Entscheidung folgende Überlegungen: Erstens umfasst die Analyse so einerseits ein Boulevardblatt mit verhältnismäßig großer Auflage,56 anderer50 Vgl. zu den Gesamtzahlen Gossel, Medien und Politik, S. 197–199. Verlässliche Angaben, wie viele unter ihnen Kunden der Hugenberg’schen Materndienste waren, scheinen kaum möglich; zugleich ist hinsichtlich des potenziell meinungsbildenden Einflusses stets einzukalkulieren, dass Zeitungen parallel Kunden weiterer Dienste, z. B. des W. T. B., sein konnten – vgl. zu beiden Aspekten die Diskussion ebd., S. 265–268. 51 Fulda, Politik der »Unpolitischen«, S. 48 f. Vgl. ferner dens., Press and Politics, S. 17 f. 52 Vgl. Fulda, Press and Politics, S. 14. 53 Vgl. Gossel, Medien und Politik, S. 203 f. 54 Zum Ullstein-Konzern siehe: Hundert Jahre Ullstein 1877–1977; sowie insbes. Oels / Schneider (Hg.), »Der ganze Verlag ist einfach eine Bonbonniere«. 55 Vgl. Gossel, Medien und Politik, S. 204. 56 Den steigenden Stellenwert der Boulevardpresse im Berlin der 1920er Jahre und ihren politischen Charakter beleuchtet konzise Fulda, Politik der »Unpolitischen«, ohne indes genauer die B. Z. am Mittag zu thematisieren. Unter dem formalen Gesichtspunkt des Straßenverkaufs war sie mit Gründungsjahr 1904 die älteste deutsche Boulevardzeitung, vgl. Requate, Kommerzialisierung der Presse, S. 132. Requate weist gleichwohl deutlich darauf hin, dass unter einem stärker inhaltlichen, das ›Boulevardeske‹ zum Kriterium machenden Fokus bereits die sechs Jahre zuvor gegründete Berliner Morgenpost als Boule vardzeitung einzuordnen wäre, vgl. ebd., S. 132 f.
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seits eine Zeitung mit staatstragendem Selbstverständnis und Anspruch sowie Verortung in der ›politischen Mitte‹ – auch, aber keineswegs ausschließlich in der Nähe der DDP.57 Da die Aussagekraft bei jeder Auswahl auf das jeweilige politische Spektrum beschränkt bliebe, werden zweitens nicht einseitig Positionen eines politischen Extrems rekonstruiert, zumal dessen Sprachgebrauch über die Auswertung der Parlamentsdebatten ohnehin erfasst wird. (Zumindest erscheint es plausibel, davon auszugehen, dass sich keine fundamentale Diskrepanz zwischen dem Sprachgebrauch der Parteipolitiker und den Darstellungen in der parteinahen, vor allem aber der Partei-Presse auftat.58) Drittens kann bei etwaig ausgemachten Unterschieden, sei es im Sprachgebrauch oder im Ausmaß der Berichterstattung, ausgeschlossen werden, dass diese mit der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Verlagen bzw. Pressekonzernen zusammenhingen. Viertens erhöht sich der Quellenwert der Vossischen Zeitung zusätzlich, weil sie in Form einer mehrseitigen Beilage, dem »Finanz- und Handelsblatt«, einen ausführlichen Wirtschaftsteil bot, was in der zeitgenössischen Presselandschaft nicht selbstverständlich war.59 Die Presselandschaft der Bonner Republik unterschied sich erkennbar von diesen skizzierten Weimarer Verhältnissen. Zwar existierten nach wie vor zahlreiche Lokal- und Regionalzeitungen; sie machten das Gros der Blätter aus.60 Insofern war auch diese Presselandschaft deutlich dezentral strukturiert.61 Partiell war die Vielfalt freilich weiter dadurch bedingt, dass die Verlage eine Reihe unterschiedlicher Kopfblätter produzierten, die sich nur im Namen und Lokalteil nennenswert unterschieden.62 Kleinstzeitungen, die es Anfang der 1950er Jahre noch beziehungsweise wieder gegeben hatte, verschwanden in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik beinahe vollständig. Ebenso büßten die
57 Zu Geschichte, politischer Ausrichtung und geistigem Anspruch der Vossischen Zeitung siehe: Sösemann, Ende der Weimarer Republik, S. 47–51; Koszyk, Deutsche Presse 1914–1945, S. 251–258. 58 Wie Marquardt, Polis contra Polemos, S. 177 f., herausstellt, gilt dies in jedem Fall und besonders großem Maß für die SPD -Presse. Mit gleicher Stoßrichtung, aber in gewissermaßen umgekehrter Perspektive argumentieren auch Eitz / Wengeler, Semantische Kämpfe, S. 363, dass man über die Analyse der parteinahen Presse auch den Sprachgebrauch der politischen Parteien erfassen könne, da Politiker nicht selten als Autoren oder Herausgeber der Zeitungen aktiv gewesen seien. 59 Vgl. Fulda, Press and Politics, S. 174 f. 60 Vgl.: Dussel, Deutsche Tagespresse, S. 226 f.; Wilke, Leitmedien und Zielgruppenorgane, S. 310. 61 Vgl. auch Kruip, Das »Welt«-»Bild« des Axel Springer Verlags, S. 65 f. 62 Die beiden zuletzt genannten Umstände waren Faktoren, die eine wichtige Rolle spielten in den Diskussionen um ›Pressekonzentration‹, die speziell in den 1960er Jahren energisch ausgetragen wurden. Hierzu konzise: Dussel, Deutsche Tagespresse, S. 226–231; Schütz, Entwicklung der Tagespresse, S. 114–124.
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im engen Sinne parteinahe Presse und Parteizeitungen gravierend an Stellenwert ein, wenngleich das Genre fortbestand, prominent unterstrichen durch Vorwärts und Bayernkurier.63 (Auch kann speziell auf der ökonomischen bzw. unternehmerischen Ebene durchaus von einer Verbindung von Presse und Parteien die Rede sein, besonders augenscheinlich im Fall der Medienbeteiligungen der SPD.64) Ein relatives Pressezentrum, wie es Berlin gewesen war, bildete sich in Bonn nicht heraus. Im Unterschied zu vielen anderen Staaten, wie England, Frankreich und Italien, blieb die Bonner Republik zudem ein Land ohne Hauptstadtpresse.65 Zwar unterhielten zahlreiche Zeitungen Redaktionsbüros in Bonn, doch die einzige größere Zeitung vor Ort, der Bonner Generalanzeiger, entwickelte sich kaum zu einem gewichtigen, gar überregional oder international rezipierten Presseorgan.66 Eine überregionale Presse, Organe mit landesweitem publizistischem Anspruch, gab es in der Bonner Republik mit der Welt und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, gegründet 1946 und 1949, jedoch von Beginn an.67 (Ein weiteres überregionales Blatt, die bereits im Mai 1945 in der amerikanischen Besatzungszone gegründete Neue Zeitung, wurde 1955 wieder eingestellt.68) Als unter Auflagegesichtspunkten bei weitem erfolgreichste überregionale Zeitung begleitete ferner BILD, das seit 1952 bestehende, führende Boulevardblatt des Springer-Konzerns, die Bundesrepublik beinahe seit ihrer Gründung. Ebenfalls einen gewichtigen Unterschied zur Weimarer Republik markierte der Stellenwert der Presse im ›massenmedialen Ensemble‹.69 Sie war nicht mehr das einzige oder zumindest klar vorherrschende Massenmedium. Nicht nur war das Radio inzwischen vollends etabliert, vielmehr avancierte seit den 1960er Jahren das Fernsehen zum führenden Massenmedium.70 In der Zeit, die in dieser Studie interessiert – der Phase zwischen Mitte der 1960er und Mitte der 1970er Jahre –, waren die Printmedien nur mehr ein Element in einem aufgefächerten massenmedialen Spektrum. Gleichwohl hat Daniela Münkel unter Verweis auf Studien zur Pressenutzung argumentiert, dass damit nicht per se ein politischer Einflussverlust der Presse zu unterstellen sei.71 Vielmehr sei das Interesse an der politischen Berichterstattung der Tagespresse bis in die 1970er Jahre sogar 63 Vgl.: Pürer / Raabe, Presse in Deutschland, S. 159 f.; Dussel, Deutsche Tagespresse, S. 230. 64 Vgl. Requate, Vorbild Amerika, S. 166. Primär aus einer juristischen Warte eingehend zu diesem Komplex: Cao, Parteien als Eigentümer. 65 Vgl. Pürer / Raabe, Presse in Deutschland, S. 160. 66 Vgl. ebd. 67 Vgl. Wilke, Leitmedien und Zielgruppenorgane, S. 310 f. 68 Vgl. ebd., S. 310. 69 Terminologie übernommen von Schildt, Jahrhundert der Massenmedien, z. B. S. 188. 70 Vgl. ebd., S. 203. 71 Vgl. Münkel, Selbstverständnis der Medien, S. 235 f.
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gestiegen und der Stellenwert der Presse »als politisches Informationsmedium« entsprechend »herausragend[ ]« geblieben.72 Die beiden Fallstudien zur Bundesrepublik behandeln jenen Zeitraum, der im Kontrast zum tendenziell konsens- und kooperationsorientierten Journa lismus der 1950er Jahre als kritisch und polarisiert gilt.73 Ordnet man die herangezogenen Zeitungen in diese Presselandschaft ein, bekleidete die Süddeutsche Zeitung den Platz einer linksliberalen Tageszeitung, die sich gerade neu als überregionales Medium etabliert hatte. Nach ihrer Gründung 1945 war sie »zunächst eine Münchener Lokal- bzw. bayerische Regionalzeitung« gewesen, hatte sich in den folgenden zwanzig Jahren aber sukzessive zu einem überregional ausgerichteten und verbreiteten Blatt entwickelt.74 BILD dominierte mit einer Auflage, die seit Mitte der 1960er Jahre bei über 4 Millionen lag, bundesweit unangefochten unter den Boulevardblättern.75 Im politischen Spektrum war sie infolge der konservativen Wende im Springer-Verlag – von der die Welt76 noch drastischer betroffen war – rechts der Mitte einzuordnen.77 Rechtsliberale Positionen vertrat die FAZ als überregionale Tageszeitung, sozialliberale Positionen die ZEIT als überregionale Wochenzeitung.78 Zu einer solchen hatte sie sich nach einer nationalliberalen Anfangsphase ab 1946 und einer rechtskonservativen Epoche in den 1950er Jahren gewandelt, seit Gerd Bucerius 1957 zum alleinigen ZEIT-Gesellschafter aufgestiegen war und Josef Müller-Marein den Posten des Chefredakteurs übernommen hatte.79 Zusammen mit Marion Dönhoff ver änderte Müller-Marein die Ausrichtung der ZEIT spürbar.80 Von 1963 an war sie die größte Wochenzeitung in der Bundesrepublik.81 Der SPIEGEL verstand und 72 Ebd., S. 236. 73 Ausführlich zu diesen Wandlungsprozessen: Hodenberg, Konsens und Krise, zur Polarisierung bes. S. 361–396. Siehe auch Mergel, Politischer Journalismus und Politik, S. 196–204. Wie dichotomisch der Kontrast zu den 1950er Jahren gedacht werden kann oder muss, ist hier nicht das Thema. Dennoch sei darauf hingewiesen, dass Münkel, Selbstverständnis der Medien, S. 240–244, mit einigen Beispielen für eine regierungskritische Berichterstattung aus SPIEGEL , Stern und BILD, die bereits aus den 1950er Jahren stammen, dafür plädiert, die Zeiträume nicht zu schematisch einander gegenüberzustellen, sondern auch Kontinuitäten zu berücksichtigen. 74 Wilke, Leitmedien und Zielgruppenorgane, S. 312. Zur Geschichte der Süddeutschen Zeitung in der ersten Dekade nach ihrer Gründung siehe zudem: Hoser, Vom provinziellen Lizenzblatt, bes. S. 143–145; Harbou, Als Deutschland seine Seele retten wollte, S. 12 f. 75 Vgl. Wilke, Leitmedien und Zielgruppenorgane, S. 313. 76 Die Welt, zuvor britische Zonenzeitung, war 1953 vom Axel Springer Verlag gekauft worden, vgl. Kruip, Das »Welt«-»Bild« des Axel Springer Verlags, S. 92 f. 77 Vgl.: Ebd., S. 121–128; Hodenberg, Konsens und Krise, S. 362–364. 78 Vgl. Wilke, Leitmedien und Zielgruppenorgane, S. 311, 315–317. 79 Vgl.: Schildt, Immer mit der Zeit, S. 14–26; Heyde / Wagener, »Weiter rechts als die CDU«, bes. S. 182–184. 80 Vgl. Schildt, Immer mit der Zeit, S. 21. 81 Vgl. ebd., S. 22.
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positionierte sich als regierungskritisches Nachrichtenmagazin (mit Monopolstellung in diesem Genre), das gleichwohl seit Ende der 1960er Jahre eine Nähe zu sozialliberalen Positionen erkennen ließ.82 Das 1946 gegründete Handelsblatt war die größte und führende Zeitung innerhalb der täglich erscheinenden deutschen Wirtschaftspresse, vertrat einen prinzipiell wirtschaftsliberalen Kurs und richtete sich an den Kreis zuvorderst ökonomisch interessierter Leser.83
Korpuskritik Das beschriebene Korpusdesign aus Parlamentsreden und Presseartikeln sowie der begrenzte zeitliche Rahmen der Fallstudien ermöglichen, semantischen Wandel in konkreten Kommunikationssituationen und klar benennbaren politischen und wirtschaftlichen Konstellationen nachzuverfolgen. Indem den Sprachuntersuchungen kurze Überblicke zur Entwicklung ökonomischer Schlüsseldaten – Arbeitslosenzahlen, Inflationsraten und Wirtschaftswachstum – vorangestellt werden, verharrt die Analyse nicht in einem Vakuum. Sondern ein für Wirtschaftskrisendiskurse besonders interessanter Aspekt kann mitberücksichtigt werden: die Frage nach dem Bedingungsverhältnis zwischen realwirtschaftlichen84 und politischen Rahmenbedingungen und Ereignissen auf der einen Seite, Versuchen, Deutungsweisen zu verankern, auf der anderen Seite.85 Spätestens in der Zusammenschau der Fallstudien wird diskutiert werden 82 Vgl.: Wilke, Leitmedien und Zielgruppenorgane, S. 319 f.; Hodenberg, Konsens und Krise, S. 367. 83 Vgl.: Wilke, Leitmedien und Zielgruppenorgane, S. 322 f.; Pürer / Raabe, Presse in Deutschland, S. 154 f., 391. Die Terminologie »Zeitung innerhalb der täglich erscheinenden deutschen Wirtschaftspresse« ist sehr bewusst gewählt. Denn seit 1959 erschien das Handelsblatt zwar an jedem Börsentag, also i. d. R. von Montag bis Freitag, und war unter diesem Gesichtspunkt de facto eine Tageszeitung. Da pressestatistisch für die Einstufung als ›Tageszeitung‹ zusätzlich die thematische Breite ein Kriterium ist, sich das Handelsblatt aber zunächst fast ausschließlich auf Wirtschaft, Börse und Finanzmärkte konzentrierte, erst 1971 um Politik und Kultur erweiterte und andere Ressorts nicht vor 2001 hinzukamen, kann das Handelsblatt formal erst seit gut anderthalb Dekaden als Tageszeitung gelten und wäre für die Zeit zuvor als »täglich erscheinende Fachzeitschrift« (Pürer / Raabe, Presse in Deutschland, S. 155) einzuordnen. Seinen Quellenwert für diese Arbeit tangiert dies nicht. 84 Man mag einwenden, dass es sich bei den herangezogenen Schlüsseldaten wiederum nur um bestimmte Semantiken handelt, nämlich um numerische Repräsentationen der Ergebnisse (späterer) volkswirtschaftlicher Erhebungen. Das ist streng genommen richtig; es erscheint mir jedoch legitim, hier vereinfachend davon auszugehen, dass diese Indikatoren durchaus als belastbare Indizien für den Zustand außersprachlicher ökonomischer Gegebenheiten interpretiert werden können. 85 Vgl. auch die Hypothesen zur gesellschaftlichen Konstruktion wirtschaftlicher Phänomene bei Grabas, Die Gründerkrise von 1873/79, S. 69 f.
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können, inwieweit sich generalisierbare Ablaufmuster von ›Wirtschaftskrisen‹ herauskristallisieren. Anders ausgedrückt: Es wird zu prüfen sein, ob die Ergebnisse zu einem abstrahierenden Schema befähigen, das prinzipiellere (Hypo-) Thesen zum Verhältnis von wirtschaftlicher sowie politischer Sachgeschichte und semantischem Wandel erlaubt. Neben dem für dieses Analyseinteresse unbestreitbaren Vorzug des Korpus sind genauso die Erkenntnisgrenzen zu benennen, die mit dem Korpuszuschnitt einhergehen. Wie bei jedem Korpus, das auf einer Auswahl aus einer Gesamtmenge theoretisch heranziehbarer Quellen beruht, ist zu reflektieren, was bei diesem Korpusdesign erfasst wird und wozu keine belastbaren Aussagen möglich sind. Speziell zwei Aspekte sollen hier behandelt werden: zum einen die Reichweite der auf dieser Quellenbasis formulierbaren Thesen, also der Gesichtspunkt der begrenzten Verallgemeinerbarkeit (a), zum anderen die Frage, wie der Zuschnitt der Arbeit aus einem öffentlichkeitstheoretischen Fokus einzuordnen ist (b). a) Reichweite möglicher Thesen: In einer eng gefassten Perspektive – das sei betont, auch wenn es einer Selbst verständlichkeit gleichkommt – befähigt das Korpus lediglich dazu, zu den konkret untersuchten Debatten und ausgewerteten Artikeln Aussagen zu treffen. Weder sollen Allgemeingültigkeit beanspruchende Thesen zum Sprachgebrauch einer so ohnehin nicht vorhandenen Einheit ›der Presse‹ noch zu einer Gesamtheit ›der Politiker‹ aufgestellt werden. Hinsichtlich der Politiker ist es besonders präzise zu benennen: Erfasst werden nur Äußerungen von Politikern der in den betrachteten Parlamenten vertretenen Parteien sowie von Regierungsmitgliedern (die weder in der Weimarer Republik noch in der Bundesrepublik zwingend zugleich Abgeordnete sein mussten). Genauer: In den Blick geraten diejenigen unter ihnen, die sich in den analysierten Debatten als Redner an der Diskussion im Plenum beteiligten. Ein Problem ergibt sich daraus nur bedingt, da weder eine Presse- noch eine Parlamentsgeschichte angestrebt wird. Eine Pressegeschichte würde die untersuchten Zeitungen weit eingehender und in stärkerem Maße vergleichend untersuchen. Zudem wären vor allem für die Weimarer Republik mehr Zeitungen heranzuziehen, speziell solche mit höherer Auflage. Daneben stellten sich Fragen nach der Art und Weise journalistischen Arbeitens, von Verlags- und redaktionellem Hintergrund bis zu der Frage, welche Kanäle (einzelne) Journalisten nutzten, um an Informationen und Interpretationen zu gelangen – beziehungsweise, von wem sie diese konkret erhielten oder übernahmen. Eine Parlamentsgeschichte hingegen erforderte, auch Ausschuss- und fraktionsinterne Kommunikation sowie Drucksachen zu berücksichtigen, genauso kulturgeschichtliche Fragen nach dem Wie parlamentarischen Handelns – vom Führen informeller
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Gespräche über das Verhalten von Rednern und Zuhörern im Plenarsaal bis zur Achtung oder Infragestellung parlamentarischer Rituale.86 All das wird in dieser Arbeit nicht beabsichtigt. Vielmehr dient das verschränkte Korpus aus Plenarreden und Zeitungs artikeln dazu, einen Ausschnitt des jeweiligen Krisendiskurses zu erfassen, um an ihm wiederholt gebrauchte semantische Versatzstücke und in Anschlag gebrachte Argumente, mithin musterhaften politischen Sprachgebrauch, zu analysieren. Für die mittelbare, d. h. die plausibel zu unterstellende Aussagekraft über die einzelnen Reden und Texte hinaus ergeben sich nun Unterschiede für die Betrachtungen zu Weimar und zur Bundesrepublik: Für Weimar gilt, dass als Konsequenz der höchst heterogenen Zusammensetzung des Reichstags und tendenziell auch des Preußischen Landtags – von Nationalsozialisten über eine Reihe oftmals konservativ-rechtslastiger Mittelparteien bis zu Kommunisten – der Sprachgebrauch eines weiten politischen Spektrums in den Blick gerät. Dagegen sind Aussagen ›zur Presse‹ nur möglich für den verhältnismäßig kleinen Sektor der republikbejahenden, liberalen (Ullstein-) Presse und zum Wirtschaftsdienst als Organ einer wirtschaftswissenschaftlichen Teilöffentlichkeit. Für die Bundesrepublik stellt sich das Bild anders dar. Über die Parlamentsdebatten ist allein das politische Spektrum von christlich-konservativ bis sozialdemokratisch zu erfassen. Herauszustreichen ist allerdings, dass diese Parteien – CDU / C SU, FDP und SPD – gemessen an den Zweitstimmenergebnissen bei den Wahlen zum fünften (1965–1969) und siebten (1972–1976) Deutschen Bundestag zusammen 96,4 % beziehungsweise 99,1 % des Wählerwillens repräsentierten.87 Dennoch ist einzuräumen, dass durch den Verzicht auf eine Berücksichtigung der – sich in ihrer Radikalität massiv unterscheidenden – außerparlamentarischen Strömungen, von der NPD bis zu linksalternativen Positionen, ein Teil des politischen Spektrums außen vor bleibt. Sofern diese Stimmen Gegenstand der Zeitungsberichterstattung wurden, sind sie als politische Position gegebenenfalls zu greifen. Der Sprachgebrauch dieses Spektrums ist so allerdings in der Regel nicht zu ermitteln; dies wäre nur in den Fällen möglich, in denen die Zeitungen entsprechende Zitate abdruckten (und man annimmt, dass diese korrekt wiedergegeben wurden). Die ausgewerteten Presseorgane gestatten hingegen einen größeren Einblick in den regelhaften Sprachgebrauch des – in der Bundesrepublik anders als in Weimar vorhandenen – überregionalen printmedialen Mainstreams, zumindest seines linksliberalen Anteils. 86 Vgl. auch Schulz / Wirsching, Parlamentarische Kulturen in Europa, S. 11 f., 16–23. Für eine solch umfassende Parlamentarismusgeschichte Maßstäbe setzend: Mergel, Parlamenta rische Kultur. 87 Vgl. Ritter / Niehuss, Wahlen in Deutschland, S. 101.
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b) Öffentlichkeitstheoretische Einordnung: Vor dem beschriebenen Hintergrund – und, noch mehr, weil diese Studie ausdrücklich von öffentlichem, nicht privatem oder arkanem Sprachgebrauch handelt – ist zu überlegen, welche Bereiche ›der Öffentlichkeit‹ mit dem Korpus zuschnitt eingefangen werden. Hierfür ist ein kurzer Seitenblick auf Ansätze der historiografischen Öffentlichkeitsforschung notwendig: Bekannte ältere Studien untersuchten die Entstehung des Konzepts ›Öffentlichkeit‹ im (deutschsprachigen Raum im) Verlauf der Frühen Neuzeit88 sowie – im Fall von Jürgen Habermas’ berühmtem, hinsichtlich empirischer Details bisweilen kritisiertem Werk – ihre Etablierung und ihren Verfall im Sinne einer normativ konnotierten bürgerlich-kritischen Öffentlichkeit zwischen Ende des 18. und ab Mitte des 19. Jahrhunderts.89 Dagegen beschäftigte Arbeiten, die sich der empirischen Struktur ›der Öffentlichkeit‹ widmeten, in den vergangenen drei Jahrzehnten vor allem die Vielgestaltigkeit der Öffentlichkeit.90 Hierzu und zur Frage, welcher Stellenwert Massenmedien für die veränderte Struktur der Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert zukam, entstanden zahlreiche programmatische Arbeiten.91 Trotz unterschiedlicher Akzentsetzungen teilen sie im Kern die Auffassung, Öffentlichkeit nicht als kohärentes Ganzes, sondern als vielfach segmentiert zu verstehen. So lasse sie sich, wie zuerst die Soziologen Jürgen Gerhards und Friedhelm Neidhardt vorgeschlagen haben, zum einen in drei Ebenen von Kommunikationsräumen differenzieren: massenmediale, Versammlungs- und Encounteröffentlichkeit.92 Letztere kann mit ›jeglicher unmittelbarer Begegnungsöffentlichkeit‹ übersetzt werden und beginnt bei Kommunikation in kleinsten öffentlichen Räumen, zum Beispiel einem Gespräch in einem Omnibus.93 Zum anderen fächere sich ›die Öffentlichkeit‹ in zahlreiche Teilöffentlichkeiten auf.94 Diese Teilöffentlichkeiten, die etwa auf unterschiedliche Akteursgruppen, politische 88 Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis. 89 Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit [ab der 1990 bei Suhrkamp (Frankfurt a. M.) erschienenen Neuauflage ergänzt um ein Vorwort, in dem Habermas auf Kritik eingeht]. Konzise zu Habermas’ Kernthesen und an ihnen aus geschichtswissenschaftlicher Warte geübtem Widerspruch: Gestrich, Habermas’ Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit. Zahlreiche Literaturhinweise zur Auseinandersetzung mit und Kritik an Habermas’ Studie ferner bei Schildt, Jahrhundert der Massenmedien, S. 186 f., Anm. 48. 90 Neben einem empirisch orientierten Begriff existiert (unter anderem) auch eine Perspektive, die ›Öffentlichkeit‹ als Akteur betrachtet und beispielsweise im Sinne einer Kontrollinstanz normativ auflädt, vgl. zu dieser Differenzierung Requate / Schulze Wessel, Europäische Öffentlichkeit, S. 13. 91 Zur Bedeutung von Massenmedien und Öffentlichkeit: Daniel / Schildt, Einleitung, bes. S. 10–13; Schildt, Jahrhundert der Massenmedien. 92 Vgl. Gerhards / Neidhardt, Strukturen und Funktionen, S. 50–56. 93 Vgl. Requate, Öffentlichkeit und Medien, S. 12. 94 Vgl.: Ebd., S. 10–12; Führer / Hickethier / Schildt, Öffentlichkeit – Medien – Geschichte, S. 11 f.
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Weltanschauungen oder Funktionen zurückgehen, können nebeneinander existieren, einander mitunter aber auch überlappen.95 Daneben können sie stets Teil der permanent bestehenden massenmedialen Öffentlichkeit werden oder in diese hineinragen.96 Unter diesem Blickwinkel wird deutlich, dass die vorliegende Arbeit wichtige, aber zugleich sehr begrenzte Öffentlichkeits-Bereiche erfasst: die parlamen tarische Plenaröffentlichkeit einerseits, einen Ausschnitt aus der printmedialen Öffentlichkeit, die ein Element der massenmedialen Öffentlichkeit ausmacht, andererseits. Drittens kann man den Wirtschaftsdienst, weniger eindeutig hingegen das Handelsblatt, als Medium einer wirtschaftswissenschaftlichen Teil öffentlichkeit interpretieren. Selbst wenn man einrechnet, dass Politiker mit ihren Äußerungen und Taten oft danach streben, massenmedial rezipiert zu werden, was beispielsweise in der trialogischen Kommunikationssituation einer Parlamentsdebatte zu erkennen ist,97 die zu »Fensterreden«98 bzw. einer »Doppeladressierung parlamentarischer Plenarkommunikation« führt,99 entspricht das Korpus nicht den Anforderungen, die für eine originäre Öffentlichkeitsoder Mediengeschichte zu erfüllen wären. Im Gegenteil: Die Arbeit ist konzeptuell ausdrücklich anders angelegt. Im Unterschied zu aktuellen mediengeschichtlichen Forschungen steht nicht die Frage im Mittelpunkt, wie in medial geprägten Öffentlichkeiten Deutungsmuster konstituiert werden und wie diese im Zusammenspiel mit anderen (Teil-)Öffentlichkeiten politische Handlungen beeinflussen.100 Für eine solche Untersuchung müssten weit mehr Teilöffentlichkeiten einbezogen werden, darunter zusätzliche wissenschaftliche Experten-, gewerkschaftliche sowie unternehmerische Verbands- und Parteiöffentlichkeiten. Auch wäre ein größerer Ausschnitt aus dem massenmedialen Spektrum notwendig; neben politisch divergenter ausgerichteten Presseorganen erschiene es für die Fallstudien zur Bundesrepublik nahezu unabdingbar, auch das Fernsehen zu berücksichtigen. Eine solche Korpusbreite und Quellendichte ist mit Blick auf die Untersuchung einzelner Ereignisse denkbar. Für eine historischsemantische Einzelstudie mit einem ausgedehnten Untersuchungszeitraum ist ein derart umfassendes Korpus forschungspraktisch kaum zu bewältigen.
95 Vgl.: Bösch, Mediengeschichte, S. 16; Zimmermann, Politischer Journalismus, S. 17. 96 Vgl. Requate, Öffentlichkeit und Medien, S. 12 f. 97 Vgl. Burkhardt, Parlament und seine Sprache, S. 304–318. Ursprünglich geht eine solche Perspektivierung einer parlamentarischen Debattensituation zurück auf Überlungen von Dieckmann, Probleme der linguistischen Analyse. 98 Burkhardt, Parlament und seine Sprache, S. 327. 99 Burkhardt, Debattieren im Schaufenster, S. 303. Vgl. auch Mergel, Funktionen und Modi des Sprechens, S. 231. 100 Vgl. Bösch, Mediengeschichte, S. 16–18.
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Daraus ergeben sich jedoch keine grundlegenden Probleme, denn der analytische Fokus des hier verfolgten Ansatzes ist, wie schon dargelegt, anders ausgerichtet: Die Herausbildung und Veränderung des Deutungsmusters ›Wirtschaftskrise‹ wird nicht über das Zusammenwirken von Öffentlichkeiten nachverfolgt, sondern – eine Ebene tiefer ansetzend – über eine semantisch orientierte Untersuchung des Sprachgebrauchs bestimmter Akteursgruppen in begrenzten Öffentlichkeitsbereichen. Anders ausgedrückt: Akzent und Ziel der Studie bestehen darin, anhand einer detaillierten Analyse politischer Sprache herauszuarbeiten, durch welche semantischen Impulse und Verschiebungen das Deutungsmuster einer ›Wirtschaftskrise‹ zu einem Element und Faktor politscher Kommunikation wurde, wie es argumentativ einsetzbar war, welchen semantischen Veränderungen es unterlang – und inwiefern der Krisenvergleich Muster sprachlicher Krisenkonstruktionen erkennen lässt. Obwohl das Interessenspektrum eines historisch-semantischen Zugriffs somit sichtbar anders konturiert ist als bei öffentlichkeits- oder mediengeschichtlichen Arbeiten, besteht prinzipiell (perspektivisch die Hoffnung auf) das Potenzial einer produktiven Ergänzung der Erträge dieser unterschiedlichen Zugänge. So können einige der hier gewonnenen Ergebnisse für öffentlichkeitsorientierte Perspektiven interessant sein, eröffnen sie doch belastbare Einblicke in einzelne wichtige Öffentlichkeitssektoren. Sie eignen sich entsprechend sowohl als Basis für Thesen über diese Öffentlichkeitsbereiche als auch als Lieferant für Hypothesen zur Untersuchung anderer Öffentlichkeiten respektive Quellengruppen. Falls in Zukunft eine hinreichend große Zahl entsprechender Studien entstehen sollte, ließe sich so zum einen die Geschichte eines verschiedene Öffentlichkeiten durchdringenden Sprachwandels schreiben. Zum anderen ergäbe sich die Möglichkeit, genauer zu benennen, auf den Einfluss welcher Teilöffentlichkeiten bestimmte Aspekte semantischen Wandels und damit einzelne Konturen des Deutungsmusters ›Wirtschaftskrise‹ zurückzuführen waren.
Transnationale Bezüge in den Quellen Zu guter Letzt verbleibt als dritte Herausforderung die transnationale Dimension der Krisen ab 1929 und in den 1970er Jahren. Vordergründig mutet es wie eine unzulässige Linsenverengung an, über Weltwirtschaftskrisen zu schreiben, ohne den Blick auf mehr als ein Land zu richten. In der Tat wäre es wünschenswert, im Sinne einer transnationalen Kommunikationsgeschichte die Sprachhandlungen und deren Konstellationsbedingungen in den USA, Großbritannien, Frankreich und anderen relevanten Staaten ebenfalls zu untersuchen. Begreift man als Ziel transnationaler Geschichte allerdings schlicht, »die Nationalfixierung
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zu überwinden«,101 stellt ein Arbeiten mit den genannten Quellen kein unüberwindliches Hindernis dar. Schließlich versucht die Studie nicht, die Krisen als ein nationalstaatsspezifisches, deutsches Phänomen zu interpretieren. Vielmehr ermöglicht es das Quellenkorpus, zu erkunden, wie innerhalb der deutschen Öffentlichkeit das globale Element der Welt-Wirtschaftskrisen konstruiert wurde. Anders ausgedrückt: Die Arbeit spürt dem transnationalen Element in den deutschsprachigen Quellen nach. Hierzu läuft bei der Analyse des Quellenmaterials eine zusätzliche Frage mit: – Auf welche – wie benannten – Räume beziehen sich die Äußerungen? Sind sie regional oder national begrenzt, oder kennzeichnet sie eine darüber hinausgehende Dimension? Auf diese Weise kann aufgezeigt werden, wie die Texte Vorstellungen von Beziehungsgeflechten zwischen ›von außen‹ kommenden Einflüssen und sich innerhalb Deutschlands vollziehenden Prozessen hervorbrachten. Es lässt sich verfolgen, welche räumlichen Dimensionen den Krisen zugrunde lagen, auf welche Räume sich Ursachendiskussionen und Reaktionsempfehlungen bezogen und wie sich diese veränderten. Mithin wird erkennbar, wie Räume und welche Vorstellungen von Räumen semantisch hervorgebracht wurden.102 So berücksichtigt die Perspektive, dass Räume als »durch soziale Diskurse und Praktiken konstruierte[ ] Vorstellungen« verstanden werden können.103 Und sie befähigt, einzu beziehen, wie solche »räumliche[n] Ordnungsmuster […] bewusstseinsprägend und handlungsleitend wirkten«.104 Indem mit der bundesdeutschen ›Wachstumsdelle‹ 1966/67 eine Krise behandelt wird, die keine transnationale Dimension aufwies, kann gezeigt werden, inwiefern sich die öffentliche Konstruktion ›kleiner‹ und ›großer‹ Wirtschaftskrisen unterschied. Dabei wird deutlich werden, dass trotz ihrer räumlich größeren Komplexität auch im Fall der ›Weltkrisen‹ primär das Denken in nationalstaatlichen Raumbezügen prägend war.
4. Anknüpfungen: Baustein verschiedener Geschichten Die Arbeit operiert in verschiedenen Teildisziplinen des Fachs und ordnet sich keinem dieser Felder eindeutig zu. Sie ist sowohl ergänzendes Element vor handener Forschungen als auch der explizite Versuch, ein Terrain historisch101 Patel, Überlegungen zu einer transnationalen Geschichte, S. 73. 102 Zur semantischen Konstruktion von Räumen vgl. Osterhammel, Räume, S. 90–93. 103 Rau, Räume, S. 180. Zum Konstruktionscharakter räumlicher Strukturen vgl. auch Löw, Raumsoziologie, S. 9–13. Vgl. ferner Bachmann-Medick, Cultural Turns, S. 292–295. 104 Dipper / Raphael, »Raum« in der Europäischen Geschichte, S. 38.
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semantisch auszuleuchten, das bislang selten Gegenstand entsprechender Zugriffe wurde. Zuvorderst – und in einem methodischen Sinne – ist sie ein Beitrag zu einer (geschichtswissenschaftlichen) Sprach- und Argumentationsgeschichte. In diesem Forschungsfeld liegt das Kernanliegen der Studie. Sie erprobt die Tragfähigkeit neuerer Ansätze historisch-semantischer Forschung, speziell die Kombination semantischer und sprachpragmatischer Perspektiven mit Konstellationsanalysen. Damit bezweckt sie, das komplexe »Bedingungsverhältnis[ ] zwischen Sprachgebrauch, Begriffsbildung und sogenannter ›Sachgeschichte‹« explizit zu berücksichtigen.105 Ferner nimmt sie eine mikrodiachrone Perspektive ein – verstanden als »Beobachtung sprachlicher Interaktion in [kurzen] Zeit- und konkreten Handlungsräumen« –, um den Wandel von Wortgebrauch und Argumentationsmustern erklären zu können.106 So begegnet sie einer typischen Achillesferse sowohl konventionell begriffsgeschichtlich als auch stärker diskursanalytisch verfahrender Arbeiten, die semantischen Wandel oft gut aufzeigen, ihn aber infolge der Vernachlässigung sprachpragmatischer Faktoren kaum begründen können.107 Darüber hinaus leistet die Studie einen Beitrag zur Politikgeschichte der Weimarer und der Bonner Republik. Mit der Konzentration auf öffentlich geäußerte Gegenwartsdeutungen, Vergangenheitsbilder und Zukunftserwartungen, letztlich Erklärungen für Problemlagen und Handlungsanleitungen zu ihrer Überwindung, untersucht sie jene Kommunikationsinhalte, mit denen Zwänge, Ziele und Spielräume konstituiert, mitunter Modi des Zusammenlebens stabilisiert oder aktualisiert werden. Damit reiht sie sich ein in Entwürfe, die das Politische als kommunikativ hervorgebrachte Entität begreifen.108 In diesen Konzeptio105 Steinmetz, Vierzig Jahre Begriffsgeschichte, S. 178. 106 Ebd., S. 183. 107 Ausführlich zu diesen nicht seltenen Leerstellen begriffsgeschichtlicher und diskurs analytischer Studien: Ebd., S. 183–185; Landwehr, Diskurs und Wandel, S. 16. 108 Eine solche Perspektivierung des Politischen prägte insbesondere der Bielefelder Sonderforschungsbereich 584 »Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte«. Vgl. hierzu: Frevert, Neue Politikgeschichte; Steinmetz / Haupt, The Political as Communicative Space, bes. S. 21–33; zur entsprechenden Definition politischer Kommunikation vgl. ebd., S. 28, oder Steinmetz, Neue Wege einer historischen Semantik, S. 15, Anm. 20. Einen dem Bielefelder Entwurf ähnelnden, aber die diskursive Konstituierung des Politischen stärker betonenden Ansatz verfolgt Landwehr, Diskurs – Macht – Wissen. Auch für jene programmatischen Entwürfe einer kulturgeschichtlich ausgerichteten Politikgeschichte, die das Politische selbst nicht neu entwerfen – wie Mergel, Kulturgeschichte der Politik –, oder es – wie Stollberg-Rilinger, Einleitung – konkreter auf die Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen beziehen, ist die Fokussierung auf Kommunikation(-sformen) zentral. Einen konzisen Überblick zur Gesamtdebatte liefern Bösch / Domeier, Cultural History of Politics. Konstruktiv-kritisch hingegen: Weisbrod, Das Politische und die Grenzen; Rödder, Klios Neue Kleider.
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nen entsteht und wirkt das Politische durch Kommunikation: Es formiert und strukturiert sich kommunikativ, zugleich ist politisches Handeln in vielfältiger Weise kommunikatives Handeln.109 Wenn Deutungs- und Argumentationsweisen darauf zielen, »breitenwirksam verbindliche Sichtweisen [zu stiften] oder einschlägige Konflikte über solche Sichtweisen fundamental [zu] präg[ ]en«, sind und wirken sie ›politisch‹, machen mithin politische Geschichte aus.110 Weniger abstrakt beschrieben, sondern konkreter eingeordnet, analysiert die Arbeit also politischen Sprachgebrauch als eines der wichtigsten Elemente politischer Kommunikation. Sie verfolgt anhand der Äußerungen zweier Akteursgruppen, wie das Deutungsmuster einer ›Wirtschaftskrise‹ in unterschiedlichen historischen Konstellationen durch semantische Verschiebungen hervorgebracht, verändert und als Argument nutzbar (gemacht) wurde. So wird erkennbar, dass und wie politischer Sprachgebrauch Probleme, Sichtweisen und Interessen, die fortan die politische Agenda bestimmten und zu teils weitreichenden Entscheidungen führten, nicht nur abbildete, sondern maßgeblich erzeugte.111 Damit soll nicht gesagt werden, dass der Zugang zum politischen Kommunikationsraum stets über die Analyse politischer Redeweisen erfolgen müsse – oder gar, dass nur diese einen solchen Zugang eröffne. In anderen Fällen sind fraglos abweichende Annäherungen plausibel und geboten, etwa über einzelne sym bolische Handlungen, Rituale, Entscheidungen oder die visuellen Dimensionen politischer Kommunikation. Bei ›Wirtschaftskrisen‹ stellte sich hingegen schon die Frage, wie man sie als Deutungsmuster – und in zweiter Sicht das Deutungsmuster als politisch wirkmächtigen Faktor – entschlüsseln könnte, ohne von der Sprache auszugehen und diese einer präzisen semantischen Untersuchung zu unterziehen. Zumindest führt die Testfrage, wie sich unter Ausblendung politischen Sprachgebrauchs das Zustandekommen einer ›Wirtschaftskrise‹ und ihrer politischen Folgewirkung erfassen ließe, zu keiner offenkundigen Antwort. So lässt sich, um bei den Wirkungen zu bleiben, beispielsweise die Herausbildung neuer politischer Herausforderungen und Ziele oder der Vollzug eines wirtschaftspolitischen Richtungswechsels zwar auch als Ergebnis eines Vergleichs (Ziele und Handlungsreferenz zum Zeitpunkt x verglichen mit Zeitpunkt y) auf mehreren Wegen feststellen. Ihr sukzessives Zustandekommen ist aber kaum ohne den Blick auf semantischen Wandel und veränderte Argumentations weisen zu rekonstruieren.
109 Vgl. zu diesem »gemeinsamen Nenner« der verschiedenen neueren Ansätze einer Konzeptualisierung des Politischen Weidner, Geschichte des Politischen, S. 60–77. Siehe ferner Bluhm, Diskursiver Wandel, S. 181–186. 110 Weidner, Geschichte des Politischen, S. 76. 111 Zur Relevanz politischer Sprache für politische Kommunikation vgl. u. a.: Frevert, Neue Politikgeschichte, S. 21 f.; Mergel, Kulturgeschichte der Politik, S. 593–599.
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Wenn die Arbeit die Sprache in den Mittelpunkt rückt und argumentiert, dass ihr die ›Krise‹ entspringt, soll damit nicht gesagt werden, dass sich diese als Kommunikationsphänomen allein in politischem Sprachgebrauch erschöpft. Abseits des hier verfolgten Interesses berührt sie eine Reihe weiterer Dimensionen politischer Kommunikation. Obgleich ein inhaltliches Aufgreifen nachfolgend nicht möglich ist, seien drei besonders offensichtliche kurz angesprochen: Mit dem hier verfolgten Ansatz am nächsten verwandt ist die Frage nach der Visualität der ›Krise‹. Neben der Sprache ist die Ebene der Bilder – Grafiken, Karikaturen, Fotos, Fernsehaufnahmen – mutmaßlich diejenige, die am stärksten Wissen über Vorliegen, Art und Fortbestehen einer ›Krise‹ produziert. Daneben sind die Verhaltens- und Inszenierungsweisen einzelner Akteure ein Faktor, der sowohl Redeweisen und möglicherweise entstehende Bilder betrifft als auch darüber hinausweist. So kann ein Redner einer Äußerung etwa durch Kunstpausen, einen ernsten Blick oder das Heben des Zeigefingers eine besondere Bedeutung zuschreiben – und darauf spekulieren, größere Aufmerksamkeit zu wecken oder den Stellenwert seines Arguments zu erhöhen. Duktus, Mimik und Gestik werden so zu mehr als bloßem Beiwerk einer Äußerung. (Ein besonders augenfälliges Exempel für den Einsatz derartiger inszenatorischer Mittel bot Helmut Schmidt, was ihm bereits in den 1970er Jahren das Etikett »Staatsschauspieler« einbrachte.112) Ähnliches kann für die Kleidungswahl gelten.113 Beispielsweise vermitteln Politiker, die sich bei Pressekonferenzen in legerer Freizeitkleidung präsentieren, ebenfalls eine Botschaft, speziell wenn diese Termine am Wochenende stattfinden. Die Botschaft ist allerdings weniger eindeutig und äußerst kontextabhängig; sie reicht von Beruhigung (Beratungen in entspannter, vertrauensvoller und konfliktarmer Atmosphäre) bis zu Dramatisierung (aufgrund der außerordentlichen Situation und gebotenen Eile blieb keine Zeit mehr für Kleiderfragen). Als dritter Faktor sei auf planmäßig angelegte Sprach- und Kommunikationsstrategien hingewiesen. So können Redeweisen gut überlegt und innerhalb bestimmter Gruppen, unter anderem Parteiführungen oder Regierungen, abgestimmt sein. Genauso können die Orte, an denen bestimmte Akteure (nicht) kommunizieren, gezielten Erwägungen und Verab redungen unterliegen. Dies betrifft beispielsweise das Festlegen von Rednerlisten seitens der Fraktionen, also die Entscheidung darüber, wer die Möglichkeit erhält, in einer Debatte im Plenum zu sprechen und wer nicht. Genauso tangiert es die Frage, welcher Politiker zu welchem Zeitpunkt Kontakt zu welchen Medien 112 Mutmaßlich war es zuerst Franz Josef Strauß, der mit dem Begriff Schmidts Inszenierungsweisen als solche entlarven, kritisieren und ironisch untergraben wollte – vgl. Sommer, Unser Schmidt, S. 45. 113 Siehe zu dieser eminent politischen Dimension solcher Symbolik z. B. Mergel, Kulturgeschichte der Politik, S. 594.
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aufnimmt oder hält und so letztlich in diesen präsent ist. Umgekehrt gewendet, betrifft es die Frage, wen Medien ansprechen, in Form von Hintergrundgesprächen oder Interviews befragen und wem sie schließlich – im Extremfall durch Gastbeiträge – Raum geben, Deutungen und Positionen zu lancieren und zu vertreten. Um ein Beispiel vor Augen zu führen: Dass die Minister Strauß und Schiller kurz nach Amtsantritt der Großen Koalition Ende 1966 medial höchst präsent waren, zu Interviews oft gemeinsam erschienen und ihre Einigkeit gar durch demonstratives Nicken und Schulterklopfen, während der jeweils andere sprach, ausdrückten,114 lässt sich kaum als Zufall oder allein als ›logische‹ Folge der wirtschaftlichen Problemlage interpretieren. Diese Aspekte zu behandeln, erforderte ein ungleich größeres und heterogeneres Quellenkorpus. Heranzuziehen wären insbesondere Bildquellen, Rede- und Textentwürfe, Notizen und Vermerke sowie Schriftwechsel. So entstünde eine umfassendere politische Kommunikationsgeschichte von Wirtschaftskrisen. Dennoch wird erkennbar werden, dass auch die hier eingenommene, auf den Sprachgebrauch beschränkte Perspektive zu zahlreichen Thesen über ›Krisen‹ als Faktor im politischen Kommunikationsraum befähigt. Die politische und entsprechend politikgeschichtliche Dimension der ›Wirtschaftskrisen‹ wird mithin vielfach greifbar; insofern erscheint der begrenzte Blickwinkel legitim. Doch auch abseits dessen wäre selbst mit den Augen konventioneller Politikhistoriker, nicht zuletzt infolge der Auswahl der Politiker als Akteursgruppe, vermutlich unstrittig, die politikgeschichtliche Relevanz der Arbeit zu erkennen. Komplizierter verhält es sich aus Sicht der Wirtschaftsgeschichte. Während sich kulturgeschichtliche Perspektiven in den meisten Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft etabliert haben, pflegt die Wirtschaftsgeschichte mit ihnen einen uneinheitlichen, teils fortgesetzt stiefmütterlichen, teils aufgeschlossenen Umgang.115 Mutmaßlich resultiert dies aus ihrer spannungsreichen disziplinären Verortung: Unschlüssig steht die Wirtschaftsgeschichte zwischen einer Wirtschaftswissenschaft, die sich durch Mathematisierung und Fixierung auf den methodologischen Individualismus kulturalismusfeindlich positioniert, und einer Geschichtswissenschaft, die kulturwissenschaftliche Spielereien mitunter übertreibt.116 Dennoch sind in den vergangenen Jahren mehrere Arbeiten entstanden, die Prozesse der Generierung und die diskursiven Bedingungen der
114 Vgl. Lütjen, »Superminister«, S. 222. 115 Vgl. auch die Einschätzungen von: Tschopp, Die Neue Kulturgeschichte, S. 601 f.; Landwehr, Diskurs und Wandel, S. 15; Dejung / Domann / Speich Chassé, Editorial. 116 Zur Entfremdung von Kultur- und Wirtschaftswissenschaften (und möglichen neuen Annäherungen) siehe den glänzenden Überblick von Tanner, »Kultur« in den Wirtschaftswissenschaften; zum Verhältnis von Geschichte und Wirtschaftswissenschaft bes. S. 203–208.
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(Re-)Formulierung ökonomischen Wissens117 behandeln.118 Auch lassen sich in jüngerer Zeit Impulse erkennen, die in explizit brückenbauender Absicht versuchen, die Verständigungsprobleme zwischen Kultur- und Wirtschaftsgeschichte zu überwinden.119 Allzu großen Erfolg kann man ihnen bislang nicht attestieren, wenigstens dann nicht, wenn man kulturelle Faktoren nicht als einen Erklärungsfaktor neben anderen betrachtet, wie es etwa in der Neuen Institutionenökonomie geschieht. Fragt man stattdessen gezielt nach Arbeiten, die ernst nehmen, dass »[j]edes Wirtschaftssystem und alles ökonomische Handeln […] auf Sinnkonstruktionen [basiert] und […] zugleich selber Sinn [produziert]«120 respektive »that no economic process can be understood independently of its cultural dimensions«,121 bleibt die Trefferliste kurz; dies gilt in besonderer Weise, sofern man nach ausdrücklich sprachanalysierenden Arbeiten sucht.122
117 Unter einer solchen ›Wissensgeschichte der Ökonomie‹ seien, wie definiert bei Speich Chassé, Erfindung des Bruttosozialprodukts, S. 12, jene Forschungsansätze verstanden, welche »die politischen Anwendungskontexte von ökonomischer Expertise und [den] Wandel des Gegenstandsverständnisses der Ökonomie parallel untersuch[en] und argumentativ« verknüpfen. 118 Siehe insbesondere: Tooze, Statistics and the German State; Nützenadel, Stunde der Ökonomen; Schanetzky, Ernüchterung; Hesse, Wirtschaft als Wissenschaft; Köster, Wissenschaft der Außenseiter; Speich Chassé, Erfindung des Bruttosozialprodukts. Vgl. auch die entsprechenden Einschätzungen und weiteren Ausführungen bei Scholl, Begrenzte Abhängigkeit, S. 28 f. 119 Siehe: Siegenthaler, Geschichte und Ökonomie; Berghoff / Vogel, Bergung transdisziplinärer Synergiepotentiale; Conrad, »How much, schatzi?«; Hilger / Landwehr (Hg.), Wirtschaft – Kultur – Geschichte. Aus interdisziplinärer, nur partiell historischer Perspektive siehe Klein / Windmüller (Hg.), Kultur der Ökonomie, zu Wirtschaftskrisen darin: Klammer, Annäherungen aus historisch-semantischer Perspektive. Einen vielsagenden Einblick in die Debatte innerhalb der Wirtschaftsgeschichte bieten zudem die teils ausgesprochen kritischen Positionierungen bei einer Podiumsdiskussion zum Thema »Kultur in der Wirtschaftsgeschichte«, die der Wirtschaftshistorische Ausschuss des Vereins für Socialpolitik im März 2007 organisierte: Grabas / Boyer / Berghoff / Spoerer, »Kultur in der Wirtschaftsgeschichte«. 120 Berghoff / Vogel, Bergung transdisziplinärer Synergiepotentiale, S. 13. 121 Mitchell, Culture and Economy, S. 447. 122 Beispiele für Ausnahmen bilden: Amariglio, The body; Hesse, »Im Anfang war der Markt«; ders., Zur Semantik von Wirtschaftsordnung; Männel, Sprache und Ökonomie; Wengeler, »Der alte Streit ›hier Marktwirtschaft, dort Planwirtschaft‹ ist vorbei«; ders., Wirtschaftsgeschichte als Begriffsgeschichte; Samuels (Hg.), Economics as Discourse; Amariglio, Economics as a Postmodern Discourse; Stäheli, Spektakuläre Spekulation. Eine frühe Analyse der Sprache von Ökonomen, ohne indes die diskursive Konstruktion des Ökonomischen herauszustellen, bietet McCloskey, The Rhetoric of Economics. Aus rein kommunikationswissenschaftlicher Perspektive, zeitlich auf die 1980er Jahre beziehungsweise die Gegenwart bezogen (und für historische Fragestellungen von sehr geringem Nutzen): Becker, Wirtschaft in der deutschsprachigen Presse; Beck u. a., Wirtschaftsberichterstattung in der Boulevardpresse.
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Insofern sind die Anknüpfungsmöglichkeiten der vorliegenden Arbeit begrenzt, sodass sie in mehrfacher Hinsicht Neuland betritt. Lediglich implizit tangiert sie die historische und, enger gefasst, wirtschaftsgeschichtliche Krisen forschung.123 Die historische Krisenforschung verwendet ›Krise‹ einerseits als Kategorie und Begriff zur Klassifizierung von Problemkonstellationen und Wandlungsprozessen, die institutionalisierte Ordnungen, Normen oder Verhaltensweisen infrage stellten und veränderten. In dieser Sicht erscheinen Krisen als Erklärungsfaktoren.124 Sie verweisen auf strukturelle, längerfristige Gegebenheiten. In anderer Weise – und auf eine andere Zeitschicht bezogen – wird der Begriff auf einzelne, zeitlich kürzer gefasste Situationen angewandt, die eine zugespitzte Entscheidungssituation hervorrufen. Hier erscheint die Krise als Ereignis.125 Eine eindeutige Definition von ›Krise‹ liegt der Begriffsverwendung in der Krisenforschung folglich nicht zugrunde. Letztlich berührt sie einen neuralgischen Punkt respektive eine Grundfrage der Geschichtswissenschaft: das Verhältnis von Struktur und Ereignis.126 Am Ende dieser Arbeit, soviel sei vorweggenommen, soll argumentiert werden, dass bei den hier untersuchten Krisendiskursen der zeitgenössisch verwendete Krisenbegriff jeweils beide Bedeutungsgehalte aufwies. Dabei ging der ereignisbezogene Krisenbegriff einem Begriff, der sich auf längere Zeiträume und strukturell bedingte Problemlagen bezog, voraus. Aufgrund der terminologischen Unschärfe wird gerade in letzter Zeit verstärkt diskutiert, wie weit die analytische Tragfähigkeit und theoretische Fassbarkeit des Begriffs für historiografische Studien reicht, er mithin als Konzept 123 Grundlegend hierzu: Vierhaus, Zum Problem historischer Krisen. Vierhaus formulierte – ebd. S. 320–323 – einen Katalog von Krisenmerkmalen, insistierte, epistemologisch konträr zur vorliegenden Arbeit, aber auf einen objektiven Kern von Krisen, den es jenseits von Wahrnehmungen oder Bezeichnungspraxen zu ermitteln gelte. Siehe außerdem Vobruba (Hg.), Krisen. Zur ökonomischen Krisen- und Konjunkturtheorie i. e. S. bereits: Sombart, Systematik der Wirtschaftskrisen. 124 Ein solches Krisenverständnis, bei dem das Hauptaugenmerk auf Krisen als Ausgangspunkte für längerfristige wirtschaftliche, politische und kulturelle Umbruchprozesse gerichtet wird, liegt auch dem Band von Adamczyk / Lehnstaedt (Hg.), Wirtschaftskrisen als Wendepunkte, zugrunde. Vgl. hierzu explizit die entsprechenden Bemerkungen der Herausgeber in ihrer Einleitung: Krisen ohne Ende?, S. 9 f. Bemerkenswerterweise verorten sie sich – ebd., S. 10 – mit Verweis auf die thematische Breite der im Band verfolgten Fragen sowie die Vielfalt der methodischen Zugänge (und trotz des Titels) ausdrücklich außerhalb der »klassische[n] Wirtschaftsgeschichte«. 125 Vgl. zu beiden Polen der Krisenforschung die präzisen Ausführungen zum aktuellen Stand der Diskussionen um die Tragfähigkeit des ›Krisen‹-Konzepts in der Historiografie von Sawilla, Normabweichung und Revolution, bes. S. 147–151. 126 Zu den Diskussionen zum Verhältnis von Struktur und Ereignis aus sozialgeschichtlicher Sicht siehe insbesondere Hettling / Suter, Struktur und Ereignis. Die Frage nährt die Fachdiskussion freilich schon sehr viel länger, siehe exemplarisch Koselleck / Stempel (Hg.), Ereignis und Erzählung.
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überhaupt taugt.127 In dieser Diskussion bezog Lutz Raphael jüngst unmissverständlich Stellung. Leicht resigniert monierte er, infolge der unpräzisen und ubiquitären Begriffsverwendung, des nahezu vollständigen Verzichts auf normative Einordnungen und umfassende, gar geschichtsphilosophisch angeregte Krisenmodelle habe sich die Geschichtswissenschaft möglicher analytischer Potenziale des Krisenbegriffs weitgehend beraubt.128 Raphael plädierte gleichwohl dafür, Krisen als Interessenobjekt der Geschichtswissenschaft und strukturierendes Element historiografischer Darstellungen zu erhalten, nicht zuletzt, weil sie die Chance böten, Wandlungsprozesse wenigstens partiell als Kausalzusammenhänge zu narrativieren.129 Seine ziemlich abstrakt bleibenden Vorschläge zielen auf vier Ansatzpunkte für eine geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit Krisen: Zum einen erkennt er Potenziale der Krisenforschung bei der Frage nach Überraschungsmomenten in spezifischen historischen Situationen und ihrer Relevanz für Prozesse sozialen Wandels.130 Zum anderen scheint es ihm lohnenswert, im Zusammenhang mit der Herausbildung neuer Handlungs strategien in Umbruchphasen zielgerichteter dem »Innovationspotenzial sozialer Akteure« nachzuspüren.131 Drittens ließe sich expliziter nach der Uneindeutigkeit und Vielfalt – respektive den (unintendierten) »Nebenfolgen« – des Krisenhandelns von Akteuren fragen.132 Viertens erfreuen Raphael Signale aus den Sozialwissenschaften, auch aktuelle Krisen als eingebunden in längerfristigen Wandel und rückgebunden an spezifische räumliche und zeitliche Konstellationen zu erfassen; hier erkennt er neue und gewinnbringende Möglichkeiten interdisziplinärer Kooperation.133 Die wirtschaftsgeschichtliche Krisenforschung im engeren Sinne betrachtet die ökonomischen und politischen Prozesse, die der Etablierung des Topos ›Krise‹ vorangingen oder sie begleiteten, und fragt nach den Ursachen und Verläufen der Krisen sowie ihren längerfristigen ökonomischen Implikationen und – beispielsweise Strukturwandel beschleunigenden – Effekten.134 Dies zeigt 127 Vgl. Sawilla, Normabweichung und Revolution, S. 146–148. 128 Vgl. Raphael, »Gescheiterte Krisen«, bes. S. 78 f., 87–89. Ein wenig schleicht sich bei dieser Kritik indes der Eindruck ein, dass Raphael das Beispiel der Krisenforschung heranzieht, um prinzipiell die Scheu heutiger HistorikerInnen zu bedauern, umfassende Geschichtsinterpretationen vorzunehmen oder (auch normativ konnotierte) Großthesen aufzustellen. 129 Vgl. ebd., S. 89. 130 Vgl. ebd., S. 89 f. 131 Ebd., S. 91. 132 Ebd. 133 Vgl. ebd., S. 92. 134 Exemplarisch sei verwiesen auf die einschlägigen Arbeiten von: Abelshauser, Aus Wirtschaftskrisen lernen; Borchardt, Zwangslagen und Handlungsspielräume; Clavin, The Great Depression; Hesse / Köster / Plumpe, Große Depression; Hohensee, Ölpreisschock;
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sich eindrücklich an der umfangreichen Forschung zur Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik.135 Oder sie konzentriert sich auf wirtschaftspolitische und wirtschaftstheoretische Einzelaspekte.136 Grundsätzlich aber verwenden diese Studien – und hier liegt der entscheidende Unterschied zur vorliegenden Arbeit – implizit einen analytischen Krisenbegriff, der sich an Makro-Indikatoren orientiert, speziell an der Entwicklung des Sozialprodukts.137 Krisen werden hier forschungspraktisch oft schlicht als »mehr oder weniger regelmäßige[ ] Störungen der gesamtwirtschaftlichen Leistung« definiert.138 Im Übrigen verzichten diese Arbeiten in der Regel darauf, sich ausführlicher mit alternativen oder weitergehenden Krisenverständnissen zu beschäftigen. Stattdessen setzen sie ›Krise‹ einerseits oft mit den konjunkturbeschreibenden Termini ›Rezession‹ und ›Depression‹ gleich. Andererseits darf unterstellt werden, dass sie unbewusst zeitgenössische Deutungsweisen übernehmen. Kurzum: Die Wirtschaftsgeschichte beschäftigt sich ganz selbstverständlich mit Wirtschaftskrisen, ohne sie umfassend zu definieren oder dezidiert ihren Konstruktionscharakter einzubeziehen. Für den Krisenbegriff, seine Semantik und ihre Veränderungen entwickelten Wirtschaftshistoriker, abgesehen von einer herausragenden Ausnahme aus jüngster Zeit, oft nur ein rudimentäres Gespür. Die Ausnahme bildet ein äußerst dicht argumentierender Aufsatz Jakob Tanners.139 Ausgehend von Kosellecks Befund des Redens von ›Krise‹ als einer spezifischen Form der ›Kritik‹ in der Moderne, plädiert Tanner dafür, Krisen als gesellschaftliche Erzählund Verständigungsmuster über die Wirtschaft und ihren Zustand zu interJames, The German Slump; ders. (Hg.), The Interwar Depression; Kindleberger, Die Weltwirtschaftskrise; ders., Manias, Panics, and Crashes; Plumpe, Wirtschaftskrisen; Reinhart / Rogoff, This Time is different. 135 Siehe Kap. II . I. 136 Siehe etwa: Hesse, Bewältigungsstrategien nach der Krise; Nützenadel, Transformation des Sozialstaats. Mit Blick auf die aktuelle Krise siehe zudem die in den Zeithistorischen Forschungen / Studies in Contemporary History 7 (2010), H. 2, geführte Debatte, in der »Überlegungen zur Historisierung der jüngsten Weltwirtschaftskrise« diskutiert werden, darin v. a. von Interesse: Schanetzky, Ereignis, Skandal und Legitimation. 137 Dass ein expliziter, analytisch definierter Krisenbegriff nicht verbreitet ist, mag auf die Spezifika einer jeden Krise genauso zurückzuführen sein wie auf die Tatsache, dass auch die moderne Wirtschaftswissenschaft einen solchen Begriff nicht kennt bzw. nicht formuliert hat; zu letztgenanntem Aspekt siehe Nützenadel, Krisenbegriff der modernen Ökonomie, S. 48–50. 138 Plumpe, Wirtschaftskrisen, S. 11. In vergleichbarer Weise behandelt Hesse, Wirtschaftsgeschichte, S. 34–40, Krisen in einem engen Zusammenhang mit der Entwicklung des Sozialprodukts und Konjunkturtheorien. Ohne den Versuch einer expliziten Definition zu unternehmen, versteht Hesse unter Krisen offenbar zuvorderst die Phasen »einer Schrumpfung des durchschnittlichen Sozialprodukts« (S. 36); in diese Richtung deutet auch seine Formulierung vom »Wachstumsmuster, das immer wieder von schweren wirtschaftlichen Krisen durchbrochen wird« (S. 37). 139 Tanner, Krise.
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pretieren.140 Sodann folgt eine Reihe präziser Einzelbetrachtungen. Sie reichen vom Einfluss semantischer Restbestände des ›Krisen‹-Begriffs (Umschlagpunkt eines Krankheitsverlaufs) und damit verbundener typischer Verwendungsweisen (Problemkomplex, der Veränderung mit offenem Ausgang mit sich bringt) über die politischen Bedingungsfaktoren, die Krisendiskurse ermöglichen oder – wie im Fall der sog. Ostblockstaaten lange Zeit – verhindern, bis zu den spezifischen Verständnissen von ›Krise‹ in unterschiedlichen Krisentheorien. Das trotz dieser Ausnahme überwiegend geringe Interesse an der Semantik von Krisen zeigt sich umso deutlicher an Arbeiten, die weniger auf einzelne Krisenkonstellationen fixiert, sondern interessierter an Wachstums- und Konjunkturtheorien sind und versuchen, in mittelfristiger Sicht wirtschaftliche Wechsellagen zu erklären.141 Ihr Anspruch ähnelt jenen umfassender Krisen- oder Konjunkturtheorien, am prominentesten Marx’scher oder Schumpeter’scher Provenienz, weit mehr als Krisenanalysen im engeren Sinne.142 Sie unterziehen die zeitgenössischen Bedeutungsproduktionen und Sinngebungen keiner expliziten Beobachtung.143 Ebenso wenig existieren Studien, die Knut Borchardts – an die Marx’sche Klassentypologisierung angelehnten – Vorschlag, zwischen ›Krisen an sich‹ und ›Krisen für sich‹ zu unterscheiden, anhand einer größeren Krisenuntersuchung aufgegriffen hätten.144 Nichtsdestotrotz – das sei ausdrücklich betont – sind die Ergebnisse der wirtschaftsgeschichtlichen Krisenforschung für die Analyse der Konstellationsbedingungen ausgesprochen hilfreich. Aufgrund ihrer Theoriefixierung bei gleichzeitiger empirischer Verknappung überlappen sich auch die Interessen politikwissenschaftlicher Krisenanalysen kaum direkt mit denen einer historisch-semantisch ausgerichteten Kommunikationsgeschichte.145 Wenngleich rar gesät, bieten hingegen einzelne historischsozialwissenschaftliche Perspektiven partielle Anknüpfungsmöglichkeiten, speziell Hansjörg Siegenthalers Überlegungen zum Zusammenhang von Krisen, der Infragestellung institutionalisierter Handlungsmuster und dem Entstehen neuer 140 Vgl. ebd., S. 153. 141 Siehe etwa: Grabas, Konjunktur und Wachstum; Rohwer, Theorie und Empirie der Produktionsentwicklung. 142 Zu einer geschlossenen Konjunkturtheorie reichte es freilich nur bei Schumpeter, Konjunkturzyklen. 143 Entsprechende Leerstellen in der wirtschaftsgeschichtlichen Forschung zu Konjunktur und Krisen konstatiert auch Grabas, Wirtschaftskrisen in soziokultureller Perspektive, S. 263–267. 144 Borchardt, Wandlungen im Denken, S. 143. Borchardts Differenzierung zufolge beschreiben ›Krisen an sich‹ Konstellationen ökonomischer Indikatoren, die analytisch betrachtet das Urteil zulassen, es handele sich um eine Krise, während ›Krisen für sich‹ i. S. ›wirklicher‹ Wirtschaftskrisen erst entstehen, sobald ein entsprechendes Krisenbewusstsein hinzu kommt. 145 Siehe hierzu als jüngstes Beispiel, das neben den Krisen 1981/82 und 2009 auch die Jahre 1966/67 sowie 1974/75 berücksichtigt: Kiesow, Wirtschaftskrisen in Deutschland.
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Institutionen.146 Mit Blick auf die Ebene individueller Akteure perspektivierte Siegenthaler Krisen als kommunikationsbasierte Lernprozesse, in denen bisherige (wirtschaftliche) Handlungsweisen hinterfragt und neue herausgebildet werden. Zu Krisen kommt es entsprechend, wenn Akteure nicht mehr darauf vertrauen, mit ihrem bisherigen Wissen erwarteten (wirtschaftlichen) Herausforderungen adäquat bzw. erfolgversprechend begegnen zu können.147 In noch größerem Maße anschlussfähig sind Arbeiten zur Geschichte von Krisenkonstruktionen und -wahrnehmungen, die in der übrigen Geschichtswissenschaft neuerdings eine beachtliche Konjunktur erfahren.148 Sie verstehen Krisen überwiegend als gesellschaftliche Deutungs-, Beobachtungs- und Selbstbeschreibungsmodi, die insbesondere in Phasen beschleunigter Umbruchserfahrungen aufkommen.149 Indes liegt bei den Studien, die von ›Wahrnehmung‹ sprechen, doch ein gewichtiger Unterschied zum hier verfolgten Ansatz vor. Denn der Begriff impliziert zumindest, dass die Krise eine wie auch immer geartete, analytisch fassbare Substanz aufweise, die ›lediglich‹ wahrgenommen, verarbeitet und ausgedrückt werde – oder auch nicht.150 Eine wirklichkeitskonstituierende Dimension wird den Krisendiskursen somit abgesprochen, wenigstens nicht ausdrücklich attestiert.151 Sprache kann in diesen Arbeiten schlicht auf eine Abbildungs- oder Repräsentationsfunktion reduziert werden. So bleibt ihre Faktorfunktion unberücksichtigt. 146 Siegenthaler, Regelvertrauen, Prosperität und Krisen. Siehe zudem Friedrichs, Gesellschaftliche Krisen. 147 Prägnant zu Siegenthalers Krisentheorie auch Tanner, Krise, S. 172–174. 148 Föllmer / Graf (Hg.), »Krise« der Weimarer Republik, darin in theoretischer Hinsicht besonders beachtenswert dies. / Leo, Einleitung; Mergel, Krisen als Wahrnehmungsphänomene. Zur Wahrnehmungs- und Konstruktionsgeschichte von Krisen siehe ferner: Drehsen / Sparn (Hg.), Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse, darin insbes. dies., Kulturkrise und Konstruktionsgeist; Scholten (Hg.), Wahrnehmung von Krisenphänomenen, darin insbes. dies., Einführung, sowie dies., Gemeinsame Tendenzen. 149 Vgl. z. B. Mergel, Krisen als Wahrnehmungsphänomene, S. 10, 13 f. 150 So spricht etwa Mergel, ebd., S. 16, von der »reale[n] und [der] wahrgenommene[n] Krise«, oder, ebd. S. 18, von »Krisen, die zeitgenössisch gar nicht als solche wahrgenommen werden«, und Scholten, Gemeinsame Tendenzen, S. 323, erklärt, bei der »Auswahl der Fallbeispiele«, die ihr Sammelband behandelt, sei »eine von der heutigen Geschichtswissenschaft auf der Sachebene als krisenhaft gewertete Situation zugrunde gelegt [worden], um zu überprüfen, welche Indizien von den Zeitgenossen als besonders bedrückend empfunden wurden.« 151 Ähnlich verhält es sich z. B. auch bei dem pressegeschichtlichen Aufsatz von Wilke, Finanz- und Wirtschaftskrisen, der überblicksartig die Zeitungsberichterstattung aus Anfangsphasen verschiedener Wirtschaftskrisen zwischen 1857 und 2008 vergleicht. Allerdings beschäftigt sich Wilke nicht dezidiert mit der Faktorwirkung des Sprach gebrauchs (und lässt zudem die Krisen der 1960er und 1970er Jahre außer Acht), was die unmittelbare Anschlussfähigkeit der Beobachtungen für die vorliegende Studie deutlich einschränkt.
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Besonders augenscheinlich trifft sich die Untersuchung hingegen mit jenen Arbeiten, ebenfalls überwiegend aus jüngerer Zeit, die Krisen in ihrer diskursiven Tiefenstruktur, als narratives Muster oder Kommunikationsereignis betrachten und somit epistemologisch ähnliche Akzente setzen.152 Vor dem Hintergrund dieser Arbeiten kann man die nachfolgende Analyse als eine große, ergänzende Fallstudie zur Thematik der Wirtschaftskrisen lesen und schließlich Divergenzen und Konvergenzen zu anderen (Arten von) Krisendiskursen ausmachen.153 Als noch ergiebiger erweist sich ein Blick in die Nachbarwissenschaften Diskurslinguistik sowie Kommunikations- und Literaturwissenschaft. Dort finden sich gegenwärtig verstärkt Ansätze, der sprachlichen und sprachbildlichen Konstruktion von Wirtschaftskrisen nachzugehen. Einige der grundlegenden Erkenntnisinteressen dieser Studien decken sich mit denen der vorliegenden Arbeit; theoretische Annahmen, methodisches Vorgehen und einzelne empirische Befunde bieten interessante Anregungen. Ein direkter Ergebnisvergleich ist indes schwierig. Die Untersuchungen sind überwiegend auf aktuelle Krisen bezogen und gehen allenfalls bis in die 1970er Jahre zurück.154 Auch untersuchen sie zumeist nur die Ebene der Printmedien, hingegen keine anderen Quellengruppen wie (hier) zum Beispiel Parlamentsreden. Auch die Bemessung der Untersuchungszeiträume unterscheidet sich merklich. Die diskurslinguistischen Arbeiten, die insbesondere im Rahmen einer von den Germanisten Martin Wengeler und Alexander Ziem initiierten Forschergruppe entstanden und entstehen, sind weit weniger am Verlauf von Krisendiskursen und ihrer möglichen Verschränkung mit angrenzenden Diskursen interessiert. Um ihrem Kerninteresse, der höchst differenzierten und feindgliedrigen Analyse der sprachlichen Bauprinzipien der Krisendiskurse im Vergleich von fünf Krisen nachgehen zu können, wählen sie vielmehr eng begrenzte Betrachtungszeiträume von wenigen Monaten.155 Ein zusätzlicher und noch bedeutenderer Unterschied betrifft den 152 Exemplarisch: Steil, Krisensemantik (eine wissenssoziologische Untersuchung der Grundstrukturen fachdisziplinärer Krisendiskurse); Mergel (Hg.), Krisen verstehen; Meyer / Patzel-Mattern / Schenk (Hg.), Krisengeschichte(n). Pointiert und Krisendiskurse am stärksten hinterfragend: Schulze, Das Alarmdilemma. 153 Zu deren Vielfalt siehe nur die Beiträge in Fenske / Hülk / Schuhen (Hg.), Die Krise als Erzählung. 154 Siehe vor allem die Beiträge in Wengeler / Ziem (Hg.), Sprachliche Konstruktionen von Krisen, sowie: Dies., Wie über Krisen geredet wird (eine Zusammenfassung der Kernergebnisse des von Martin Wengeler und Alexander Ziem geleiteten Projekts); Cetin, »Denn sie wissen nicht, was sie tun.«; Peter / Knoop / Wedemeyer u. a., Sprachbilder der Krise; Ziem / Scholz / Römer, Korpuslinguistische Zugänge; Wengeler, (Wirtschafts-)Krisen in den Printmedien. 155 Nach Ziem / Scholz / Römer, Korpuslinguistische Zugänge, S. 332, betrugen beispielsweise die Untersuchungszeiträume für die Krise 1973/74 genau vier Monate, für die Krise 2008/09 acht Monate. Offenbar wurden sie zudem nur indirekt an Ereignis- oder seman-
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Grad der historischen Kontextualisierung. Zumindest bei den bislang publizierten Ergebnissen der Projekte werden die sprachgeschichtlichen Befunde recht isoliert präsentiert. Speziell aus linguistischer Sicht kann dies – nicht nur bei prinzipiellen ›Vokabularvergleichen‹ auf Basis lexikometrischer Analysen156 – von großem Reiz und Gewinn sein; Wiederholungsstrukturen, zum Beispiel bezogen auf Argumentationsmuster, Begriffe oder Metaphern, werden so sehr plastisch und überzeugend aufgezeigt.157 Ferner wird es angesichts eines methodisch ungleich strengeren Vorgehens möglich, zu detaillierten Subdifferenzierungen, Kategorisierungen oder Systematisierungen etwa von Topoitypen158 zu gelangen oder wiederkehrende grammatikalische Einbettungsstrukturen einzelner Begriffe herauszuarbeiten.159 Für eine historisch-semantische Arbeit, also eine Studie, die Sprache sehr viel deutlicher als Zugang zu einer Problemgeschichte wählt, nicht aber zum allein interessierenden Gegenstand macht, verspricht ein solches Maß an sprachwissenschaftlicher Differenziertheit allerdings nicht unbedingt einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn. Zugleich ist aber die Verortung des Sprachgebrauchs in der jeweiligen konkreten historischen Konstellation, also die auch darstellerische Einbindung semantischer Befunde in die ›allgemeine‹, vor allem die Politik- und Wirtschafts-Geschichte, für eine geschichtswissenschaftliche Betrachtung wichtiger.160 Hier liegen letztlich disziplinär begründete Unterschiede der Ansätze. Dennoch bietet sich insgesamt die reizvolle Option, auf Basis der eigenen Ergebnisse nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden tischen Zäsuren festgemacht und primär schematisch bemessen – dies jedenfalls legen die Anfangs- und Endpunkte der Untersuchungszeiträume (01.10.1973 bis 31.01.1974 bzw. 01.09.2008 bis 30.04.2009) nahe. Im Pilot-Aufsatz zum Forschungsprojekt – Wengeler / Ziem, »Wirtschaftskrisen« im Wandel, S. 341 – war sogar ein noch enger gefasster zeitlicher Rahmen avisiert worden; demnach »sollten die untersuchten Zeitspannen jeweils etwa zwei Monate umfassen.« 156 Exemplarisch hierzu Kuck / Scholz, Quantitative und qualitative Methoden, bes. S. 236–249. 157 Ein kompaktes und eindrückliches Beispiel für wiederkehrenden Sprachgebrauch in Krisendiskursen bietet Wengeler, Analyse von Argumentationsmustern, S. 52–55. Anhand ähnlicher Argumentationen in Krisendiskussionen aus den Jahren 1973, 1982, 2002/03 und 2008/09 führt er sehr plastisch und überzeugend die Persistenz politischer Redeweisen vor Augen, die sich auf den »Topos der düsteren Zukunft« und den »Singularitätstopos« (beide S. 54) stützen. 158 Diesen Vorzug hebt Wengeler, ebd., S. 56, mit Blick auf ein von David Römer entwickeltes »Modell einer relationalen Topos-Analyse« (ebd.) auch explizit hervor. 159 Siehe als Beispiel die Unterscheidung von Topoitypen bei Kuck / Römer, Metaphern und Argumentationsmuster, S. 77, 80; als Beispiel für die Untersuchung grammatikalischer Einbettungsstrukturen siehe Ziem / Scholz / Römer, Korpuslinguistische Zugänge, S. 347– 355 (u. a. differenzieren sie, ebd., S. 348, nach ›Krise‹ als Subjekt, Genitivobjekt und »nominaler Kern einer Präpositionalphrase«, was zu verschiedenen syntaktischen Strukturen – Transitivkonstruktionen und Possesivkonstruktionen – führt). 160 Siehe hierzu auch bereits die ähnlichen Überlegungen und Argumente bei Steinmetz, Das Sagbare, S. 41–44.
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zwischen vergangenen und gegenwärtigen Modi der sprachlichen Konstruktion von Wirtschaftskrisen zu fragen, was mithin im Fazit geschieht.
5. Historisch-semantische Krisenerzählungen: zur Darstellungsform Die Ergebnisse dieser Studie könnten auf zwei grundlegend verschiedenen Wegen präsentiert werden. Denkbar wäre eine konsequent aspektorientierte Abhandlung, welche die drei untersuchten Krisen durchweg gemeinsam behandelt. Dem direkten Krisenvergleich käme dies sehr zugute. Ein solcher Aufbau erwiese sich allerdings entweder als ausgesprochen voraussetzungsreich – im Hinblick auf elementares Wissen um die sachgeschichtlichen Bezüge und den chronologischen Verlauf der Krisen sowie das Erinnerungsvermögen des Lesers –, oder aber er riefe die Gefahr lästiger Redundanzen hervor. In jedem Fall ergäbe sich keine Erzählform, die den narrativen Anforderungen an eine geschichtswissenschaftliche Darstellung in befriedigender Weise entspräche. Aus diesem Grund wird der zweite mögliche Weg gewählt: Die Krisen werden in drei unabhängigen Fallstudien behandelt. Jede Fallstudie folgt einem systematisch ähnlichen Aufbau. In einem vorangestellten Überblickskapitel werden einschlägige Forschungsergebnisse respektive gängige Krisennarrative referiert. Hierbei geht es nicht um eine im Detail erschöpfende Abhandlung, sondern darum, vorhandene Perspektiven auf die Krise zu skizzieren und den sachgeschichtlichen Hintergrund so zu umreißen, dass die Orientierung des Lesers in den nachfolgenden Kapiteln gewährleistet ist. Diese Kapitel untersuchen sodann die Sprache der jeweiligen Krise. Dies geschieht auf den drei Ebenen, die sich aus historisch-semantischer Warte als konstitutiv für Wirtschaftskrisendiskurse erweisen: Zunächst wird der Krisenverlauf anhand phasenspezifischer Sprachmuster (Topoi)161 aufgezeigt; sie sind die Grundlage der vorgeschlagenen Periodisierung. Die unterschiedlichen Krisenabschnitte resultieren unter diesem Blickwinkel aus den dominierenden Argumentations-, Deutungs- und Redeweisen, deren Verwendungsweisen an ausgewählten Beispielen konkretisiert werden. In welchen Zeitabschnitten traten welche Topoi auf? Wer prägte sie, wer griff sie auf, und wer konnte sie zu welchen Zwecken einsetzen? Zu welchen
161 Genauer seien unter Topoi bzw. Rede- / Sprachmustern (die Termini werden – nicht zuletzt zur Redundanzverminderung – in vorliegender Arbeit synonym verwendet) Verdichtungen wiederkehrender Äußerungen verstanden, die diskursiv hergestelltes Wissen repräsentieren und aktualisieren. Eine solche Definition ist nicht gänzlich kongruent mit dem, aber angelehnt an das Topos-Verständnis bei Palonen, The Struggle with Time, S. 21–26, und – stärker noch – Wengeler, Möglichkeiten und Grenzen, S. 165–171.
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Zeitpunkten änderten sie sich? Und in welchem Verhältnis standen sie zu konkreten Ereignissen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen? Anschließend stehen in einem engeren Sinne sprachliche Merkmale im Mittelpunkt, darunter tragende Einzelbegriffe, Begriffsbeziehungen, die verwendeten Beurteilungs- respektive Wissenskategorien sowie Metaphern. Drittens folgen grundlegendere Betrachtungen zu einzelnen Akteursgruppen und ihrer Verwendung bestimmter Begriffe und Argumentationsmuster, Veränderungen (der Breite) des Spektrums möglicher Aussagen, sprachlich hergestellten Raumbezügen sowie dem Verhältnis des Krisendiskurses zu angrenzenden Diskursen. Für eine übergeordnete Perspektive besonders relevant und interessant sind die Befunde, die im abschließenden Teil der Arbeit vorgestellt werden. Er bietet eine aspektorientierte Synthese der wichtigsten Ergebnisse aus den Fallstudien. Gefragt und gezeigt wird, worin die jeweils krisenspezifischen Merkmale der sprachlichen Konstruktion von Wirtschaftskrisen liegen und welche Aspekte einzelfallübergreifende Muster erkennen lassen. Nicht zuletzt mit dem Blick auf das Krisengeschehen seit 2008 lässt sich mithin fragen: Was war neu am jeweiligen Krisengeschehen – und wo wiederholt sich die (Sprach-)Geschichte?
Teil 1 Krise aus und inmitten Krisen: 1929–1933
II. Forschungsperspektiven und gängige Narrative: zwei Verfallsgeschichten
Der exzeptionelle Stellenwert, den die Weltwirtschaftskrise der Zwischenkriegszeit errang, beruht auf zwei Faktoren: ihrem Ausmaß und ihren Folgewirkungen. Zeitlich war sie die weitreichendste aller Wirtschaftskrisen. Ihre ersten Anzeichen können Mitte der 1920er, ihre letzten Symptome Ende der 1930er Jahre ausgemacht werden. Sie erstreckte sich primär auf Nordamerika, West-, Ost- und Südeuropa, war aber auch in Asien und Lateinamerika zu spüren.1 Als langfristig bedeutendste wissenschaftliche und politische Konsequenz etablierte sie die keynesianische Wirtschaftstheorie.2 Von John Maynard Keynes als Ansatz zur Krisenüberwindung erdacht, entwickelte sie sich während der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte in den industrialisierten Staaten zur politisch wirkmächtigsten wirtschaftstheoretischen Lehre. Überdurchschnittlich lang erscheint auch die Halbwertszeit der Erinnerung an die Krise. In Deutschland zeigte sich der lange Krisenschatten symptomatisch in den Jahren 2008 und 2009, als die Weltwirtschaftskrise unmittelbar zur Referenz geriet. Nicht nur Journalisten, auch wirtschaftshistorische Experten versuchten, das potenzielle Krisenausmaß durch Vergleiche und Fragen nach vermeintlichen Parallelen zu verdeutlichen.3 Diese reflexhaften Bezugnahmen auf die Referenz ›Weimar‹ respektive ›Weltwirtschaftskrise‹ ließen sich ebenso bei den beiden anderen in dieser Studie behandelten Krisen der Nachkriegszeit beobachten. Mithin handelte es sich um ein wiederkehrendes Phänomen. Zugleich galt aber stets, dass derartige Vergleiche nicht tragend für den jeweiligen Diskurs waren. Zu einer permanent abgerufenen Orientierungsinstanz, die dauerhaft politisch handlungsleitende Aussagemuster hervorbrachte, wurden die Vergleiche nicht. Vielmehr offenbarten die einzelnen Krisenkonstellationen 1 Kompakte Darstellungen zu den Krisenverläufen in einzelnen Staaten bieten: Balderston (Hg.), Interwar Slump; Hesse / Köster / Plumpe, Große Depression. 2 Keynes, The general theory. 3 Abelshauser, Ist es schon so schlimm wie im Jahr 1929?; Ritschl, War 2008 das neue 1931? Als Beispiel für eine zeitlich spätere, publizistisch ähnliche Bezugnahme siehe Bähr / Rudolph, Finanzkrisen.
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und -verläufe rasch Spezifika, die auf Sprachmustern beruhten, für die eine Bezugnahme auf 1929 und die Folgejahre unerheblich war. Das wiederholte Aufkommen der Vergleiche kann eher mit ihrem pragmatischen Wert erklärt werden; als Schlüsselbegriffe beinhalten ›Weimar‹ und ›Weltwirtschaftskrise‹ bis heute kondensierte Erinnerungen, die unmittelbar den Ernst einer (wirtschafts-) politischen Lage ausdrücken und dämpfend auf Erwartungshaltungen wirken. Aus dieser Perspektive gehört die Geschichte der Weimarer Republik, obwohl ihr Ende inzwischen mehr als acht Jahrzehnte zurückliegt, nach wie vor zur Zeitgeschichte. Ohnehin ist die Geschichte Weimars ein fortgesetzt prosperierendes Forschungsfeld. Mehr noch: Je deutlicher sie aus der epochal eng gefassten Zeitgeschichtsschreibung herausfällt, desto vielfältiger gestalten sich die Forschungs fragen. Beginnend mit Karl Dietrich Brachers beispielgebendem Werk zur »Auflösung der Weimarer Republik« widmeten sich zahlreiche Studien aus politikgeschichtlicher Warte lange Zeit den Gründen für den Nieder- und Untergang der ersten deutschen Demokratie.4 Die prominentesten Darstellungen stammen von Hans Mommsen, Heinrich August Winkler, Peter Longerich und jüngst Ursula Büttner.5 Detlev Peukert verfolgte mit seiner Interpretation der Weimarer Geschichte als Krisenphase der Moderne ein komplexeres Narrativ, das jedoch auf denselben Ausgang zulief.6 In ähnlicher Weise fokussierte die Wirtschaftsgeschichte oftmals die Problemkomplexe Weimars, zum einen die Hyperinflation, zum anderen die Weltwirtschaftskrise.7 Umfassendere Darstellungen, die sich aus einem anders konturierten Blickwinkel der Weimarer Geschichte näherten, setzten zwar schon früh divergente Akzente, brachen das Grundnarrativ aber nur teilweise auf; dies gilt beispielsweise für Peter Gays Studie zur Weimarer Hochkultur.8 Zu diesen Problemgeschichten (im doppelten Wortsinn) traten in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten verstärkt Studien, deren Fluchtpunkt nicht prinzipiell das Ende der Republik war, sondern die verschiedene kulturgeschichtliche Sonden in die Geschichte der Zwischenkriegszeit legten. Sie akzentuierten die 4 Bracher, Auflösung der Weimarer Republik. 5 Mommsen, Aufstieg und Untergang; Winkler, Weimar 1918–1933; Longerich, Deutschland 1918–1933; Büttner, Die überforderte Republik. 6 Peukert, Krisenjahre der klassischen Moderne. 7 Siehe zahlreiche entsprechende Literaturangaben in Kap. I.4, Anm. 134 sowie – als grundlegende Arbeiten zur Inflationskrise – das monumentale Werk von Feldman, Politics, und Holtfrerich, Die deutsche Inflation, bes. S. 93–331. Der hohe Stellenwert, der beiden Problemkomplexen zugemessen wird, zeigt sich auch in einer aktuellen Gesamtdarstellung zur Weimarer Wirtschaftsgeschichte: Knortz, Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik, widmet bei einem Gesamttextumfang von 262 Seiten der »Große[n] Inflation« und der Weltwirtschaftskrise alleine 114 Seiten. 8 Gay, Die Republik der Außenseiter.
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prinzipielle Offenheit der Entwicklung, die Weimar hätte nehmen können, und plädierten für Perspektiven, die mit der starren Gegensätzlichkeit eines florierenden kulturellen Lebens einerseits, einer politischen und ökonomischen Problem- und Verfallsgeschichte andererseits, brechen.9 Ihr Betrachtungszeitraum orientierte sich nicht länger stur an den politischen Zäsuren von 1918 und 1933.10 Interessante Studien finden sich in ganz unterschiedlichen Themenfeldern: Arbeiten wie jene von Thomas Mergel zum Weimarer Reichstag leuchten aus, auf welche Weise zentrale politische Institutionen trotz aller ideologischen Konfrontation verhältnismäßig lange funktionierten.11 Literatur- und film geschichtliche Untersuchungen fragen nach Repräsentationsformen ›der Wirtschaft‹ in unterschiedlichen Mediengattungen.12 So untersucht beispielsweise Robert Radu in seiner Analyse kulturpolitischer Zeitschriften die Sinngebungen, die Intellektuelle unterschiedlicher politischer Couleur der Bankenkrise des Sommers 1931 verliehen.13 Während einerseits die Heterogenität der Ereignisdeutungen zutage trat, streicht Radu als Gemeinsamkeit heraus, dass die Intellektuellen allesamt die Folgen des Zusammenbruchs der Danatbank (Darmstädter und Nationalbank) als katalysatorischen Effekt und dramatischen Wendepunkt im Krisenverlauf interpretierten.14 Die Einschätzungen, auf welchen Fluchtpunkt sich die Krise zubewege, waren höchst disparat und rangierten im Spektrum zwischen einem merklichen ordnungspolitischen Wandel innerhalb des bestehenden politischen Systems und einem uneingeschränkten Systemzusammenbruch.15 Sprachwissenschaftliche Analysen, wie sie Thorsten Eitz und Martin Wengeler vornahmen, arbeiten Schlüsselbegriffe wirtschaftspolitischer Kontroversen – hier konkret ›Sozialisierung‹ in den ersten drei Jahren der Republik und ›Wirtschaftsdemokratie‹ in den Diskussionen zwischen 1927 und 1929 – heraus.16 Größer angelegte diskursgeschichtliche Arbeiten, von Eitz zusammen mit Isabelle Engelhardt vorgelegt, entfalten das breite Panorama gesellschaftlicher Diskurse in der Weimarer Republik. Sie behandeln unter anderem Debatten über Staatsform und Reichsfarben, Diskussionen zu Ehe und Homosexualität und nicht zuletzt rüstungs- und wirtschaftspolitische Auseinander9 Hung / Weiss-Sussex / Wilkes (Hg.), Beyond Glitter and Doom. Eine Reihe weiterführender Literaturhinweise findet sich in den einleitenden Bemerkungen von Hung, The New Paradigm of Contingency. 10 Hardtwig (Hg.), Ordnungen in der Krise. 11 Mergel, Parlamentarische Kultur. Die Arbeit ist nur ein Beispiel für das verstärkt bearbeitete Feld der symbolischen Politik in der Weimarer Republik; für einen weitergespannten Überblick siehe z. B. Laak, Symbolische Politik, bes. S. 36–46. 12 Ackermann / Delabar / Grisko (Hg.), Erzählte Wirtschaftssachen. 13 Radu, »Der schwärzeste Tag in der Geschichte des Kapitalismus«. 14 Vgl. ebd., S. 28 f. 15 Vgl. ebd. 16 Eitz / Wengeler, Semantische Kämpfe.
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setzungen.17 Aufgrund dieser thematischen Vielfalt liefern sie faszinierende Einblicke in das Gesamtfeld der Weimarer Sprachgeschichte und leisten so eine imposante Pionierarbeit. Eines ihrer Hauptanliegen besteht darin, empirisch die These zu untermauern, dass sich bei zahlreichen Themenkomplexen diskursive Verschiebungen bereits im Verlauf der Weimarer Republik vollzogen und die Sprache der Nationalsozialisten oft schlicht auf diesen aufbaute, während die Nationalsozialisten selbst nur wenige neue Schlagwörter prägten und eher vorhandenes Vokabular umsemantisierten.18 Dies relativiert die mögliche Annahme einer auch semantischen Zäsur um 1933. (Die knapp gehaltenen Kapitel zur wirtschaftlichen ›Krise‹ vermitteln einen Einblick in das Spektrum politischer Redeweisen, ähneln aufgrund ihrer spärlichen Einbettung in den Gesamtverlauf des Krisendiskurses allerdings tendenziell eher einer Belegstellenreihung.)19 Verschiedene konsumgeschichtliche Arbeiten, um ein fünftes Beispiel anzuführen, suchen die Ursachen für die latente Destabilität der Weimarer Gesellschaft in einem anhaltenden Missverhältnis von ökonomischen Erwartungshaltungen und tatsächlicher Potenz der Weimarer Wirtschaft.20 Erwartungshaltungen und Zukunftsvorstellungen spielen eine zentrale Rolle auch in jenen neueren Arbeiten, deren Zugänge und Ergebnisse für die vorliegende Studie besonders anschlussfähig sind.21 Sie zeigen auf, dass nicht nur gegenwärtig und unmittelbar erfahrene Missstände, sondern ebenso Vorstellungen über die künftige Entwicklung für die vielfältigen Weimarer Krisendiskurse prägend waren. Wenngleich methodisch gänzlich anders verfahrend, ähneln sie thematisch den älteren Forschungssträngen. Und auch bei den nachfolgend skizzierten Forschungsergebnissen stehen die Erkenntnisse der älteren Forschungszugänge im Mittelpunkt, schlicht, weil sie jenen Zeitraum intensiv bearbeitet haben, der Gegenstand der vorliegenden Fallstudie ist. Dabei werden zunächst wirtschaftsgeschichtliche Erklärungen umrissen. Diese machen das Spezifikum der Wirtschaftskrise im Deutschen Reich in der Kombination aus (globaler) Absatz- und (deutscher) Bankenkrise aus (Kap. II.1). Die Bedeutung, die der wirtschaftlichen Entwicklung für die Geschichte der Weimarer Republik insgesamt zugemessen wird, zeigt sich nicht zuletzt in Periodisierungen. Der Zeitraum ab 1929/30 erscheint als Schlussperiode 17 Eitz / Engelhardt, Diskursgeschichte. 18 Vgl. Eitz / Engelhardt, Diskursgeschichte, Bd. 1, S. 14–17. 19 Vgl. ebd., S. 284 f., 313–319. (Das Unterkapitel »Die Weltwirtschaftskrise 1929«, ebd., S. 406–417, behandelt nicht die sprachliche Konstruktion der ›Krise‹ oder den wirtschaftspolitischen Debattenverlauf, sondern die Diskussionen um Rolle und Stellung der Frau in diesem Zeitraum.) 20 Vgl.: Heßler, Visionen des Überflusses, bes. S. 460–464, vor allem aber Torp, Konsum und Politik, prägnant S. 19, 23 f. 21 Graf / Föllmer (Hg.), »Krise« der Weimarer Republik, insbesondere jedoch Graf, Zukunft der Weimarer Republik, bes. S. 359–378.
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der Republik, als Phase einer sich gegenseitig verstärkenden ökonomischen, politischen und staatlich-institutionellen Destabilisierung.22 Das zweite Unterkapitel (II.2) weitet daher den Blickwinkel und behandelt die politischen Rahmenbedingungen, in die sich der Wirtschaftskrisendiskurs einschrieb. Beide Skizzen können nicht sämtliche Teilaspekte der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung aufgreifen. Vielmehr heben sie die wichtigsten inhaltlichen und argumentativen Fixpunkte der mehrdimensionalen Weimarer Schluss-Krisenerzählungen hervor und erhellen so den Kontext der anschließenden semantischen Detailanalyse.
1. Deutschland in der Weltwirtschaftskrise: die ökonomische Dreifachkrise Obgleich die Intensität der Beschäftigung mit ihr in den letzten Jahren zurück ging,23 hat keine Wirtschaftskrise vergleichbar großes wissenschaftliches Interesse auf sich gezogen wie die Weltwirtschaftskrise. Dennoch muss Werner Plumpe in seiner knappen, aber weithin rezipierten Darstellung zu Wirtschaftskrisen konstatieren, die wirtschaftsgeschichtliche Forschung sei sich »nicht wirklich einig, was die Ursachen und die Tiefe der Weltwirtschaftskrise bestimmte.«24 Leicht lakonisch folgert Plumpe, unwidersprochen bliebe vermutlich nur die Meinung des US -amerikanischen Volkswirts und WirtschaftsNobelpreisträgers Paul A. Samuelson, »die Weltwirtschaftskrise sei letztlich die Folge einer zufälligen Verkettung unglücklicher Umstände gewesen.«25 Worin diese Umstände bestanden, lässt sich einigermaßen verlässlich benennen; warum sie sich wie verketteten, bleibt zu einem Gutteil Spekulation.26 Ohnehin ergeben sich, obwohl es sich um eine Welt-Krise handelte, je nach Land verschiedene Krisengeschichten, die auf Bestimmungsfaktoren mit je eigener Wirkmächtigkeit beruhten. Verdichtet man die Hauptergebnisse der wirtschaftsgeschichtlichen Forschungen, erscheinen für Deutschland drei Kernkomplexe als relevante Problemfelder, die sich in drei Phasen aneinanderreihten. Erstens die bereits vor 1929 vorhandenen ökonomischen Probleme und die dauerhaft prekäre Finanzlage des Reiches (Phase I). Zweitens die Parallelität 22 Entsprechende Periodisierungen finden sich explizit etwa bei Longerich, Deutschland 1918–1933, sowie in verbreiteten Einführungswerken zur Geschichte der Weimarer Repu blik, so z. B. bei Kolb / Schumann, Die Weimarer Republik. 23 So auch die Einschätzung bei Geyer, What Crisis?, S. 9 f. 24 Plumpe, Wirtschaftskrisen, S. 89. 25 Ebd. 26 Vgl. Spoerer / Streb, Neue deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 83, die sich auf eine ähnliche Einschätzung Ben Bernankes beziehen.
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von zyklischem Konjunkturrückgang und der Auswirkungen des New Yorker Börsencrashs vom Oktober 1929, dem ein drastischer Kapitalabzug aus Europa folgte (Phase II). Drittens die nach dem Zusammenbruch der Österreichischen Credit-Anstalt im Mai 1931 entstandene Situation einer gleichzeitigen Wirtschafts-, Banken- und schließlich Währungskrise, die mitentscheidend für das Implodieren des Goldstandards und den weitgehenden Zusammenbruch der Weltwirtschaft war (Phase III). Hinzu kam, dass die Politik speziell Heinrich Brünings, der sich nahezu ausschließlich auf finanzielle Konsolidierung konzentrierte, die schon zuvor vorhandenen – und in nahezu allen anderen krisengeschüttelten Ländern ebenso auszumachenden – Deflationstendenzen verstärkte.
Phase I Eine schematische Zeichnung der Weimarer Geschichte verleiht dem Zeitraum von 1924 bis 1928 eine einigermaßen problemfreie Kontur;27 er tritt als »Phase der relativen Stabilisierung« hervor.28 Das Bild ökonomischer Stabilität ergibt sich vor allem durch den Vergleich mit dem vorangegangenen und dem nachfol genden Zeitraum, der Hyperinflationskrise und der Weltwirtschaftskrise. Betrachtet man indes nur drei Felder etwas genauer – die Lage der Landwirtschaft, die Staatsfinanzen und die Ursachen der konjunkturellen Erholung –, relativiert sich dieser Eindruck sogleich. Nach dem Ersten Weltkrieg verpasste es die deutsche Landwirtschaft, sich technisch zu modernisieren und so ihre Produktivität im erforderlichen Maße zu steigern. Vielmehr litt sie fortgesetzt unter einem geringen Kapitalisierungsgrad, also niedrigem Maschineneinsatz.29 Zugleich ergaben sich Belastungen aus dem hohen Zinsniveau, das Verschuldung mit enormen Folgekosten belegte, und einer gegenüber der Zeit vor 1914 um den Faktor 3,7 gestiegenen Steuerlast der Landwirtschaft.30 In dieser Verfassung war sie international kaum wettbewerbsfähig. Drastisch erkennbar wurde dies, als die Weltmarktpreise für Agrarerzeugnisse ab 1925 deutlich sanken, was sich – durch Schutzzölle zunächst verzögert – in Deutschland erst 1927 mit Wucht zeigte.31 Mit seinen protektionistischen Versuchen, die eigene Landwirtschaft zu schützen, stand Deutschland nicht allein. Mithin ließ sich international vor der Weltwirtschaftskrise bereits
27 Vgl. auch Balderston, Economics and Politics, S. 61. 28 Hardach, Wirtschaft im Umbruch, S. 22. 29 Vgl.: Knortz, Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik, S. 200 f.; Balderston, Economics and Politics, S. 76. 30 Vgl. Knortz, Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik, S. 200 f. 31 Vgl. ebd., S. 201.
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eine latente Neigung zum Protektionismus ausmachen, die sich Anfang der 1930er Jahre verstärken und 1931 faktisch zum Ende der Weltwirtschaft führen sollte.32 Dabei markierte die Landwirtschaft keinen Sonderfall; vielmehr zeigten sich gerade auch in anderen Wirtschaftsbereichen, etwa dem Industriegüterhandel, seit den frühen 1920er Jahren teils erhebliche protektionistische Tendenzen, die den internationalen Handel merklich bremsten.33 Als mit Beginn der Krise die Nachfrage nach Agrarprodukten deutlich zurückging, trat das Problem der Überproduktion noch stärker zutage. Das Angebot, das schon zuvor schneller als die Nachfrage gewachsen war, ließ sich jetzt noch schlechter absetzen. Infolgedessen verschärfte sich die Problemlage der Landwirtschaft abermals. Ihre Einnahmen sanken in den fünf Jahren zwischen 1928 und 1933 schließlich um mehr als 33 %.34 In einem ähnlich prekären Zustand wie die Landwirtschaft befand sich Ende der 1920er Jahre der Reichshaushalt. Gemessen als Anteil am Volkseinkommen stiegen die Ausgaben des Staates über alle Ebenen (Reich, Länder, Gemeinden) auf 24 % gegenüber 14,5 % im Jahr 1913, wobei der Anteil des Reichs um fünf Prozentpunkte auf 45 % zunahm.35 Die staatlichen Sozialleistungen wurden ausgebaut und die Beamtengehälter, vor allem unter dem von 1927 bis 1928 amtierenden Reichsfinanzminister Heinrich Köhler (Zentrum), massiv erhöht.36 Außerdem stützte das Reich die Landwirtschaft dauerhaft mit Agrarsub ventionen und versuchte, der Konjunkturkrise 1925/26 mit einer Kombination aus Steuersenkungen und staatlichen Ausgaben beizukommen. Zwischen der Ausgaben- und der Einnahmeseite des Haushalts entwickelte sich spätestens seit Mitte des Jahrzehnts ein gravierendes Missverhältnis. Im Vergleich der Jahre 1925 und 1930 nahmen die Ausgaben des Reichs um ca. 50 % zu, die Steuereinahmen lediglich um ca. 38 %.37 Ab 1927, spätestens 1928 geriet der Reichshaushalt aus dem Gleichgewicht; die aufkommenden Defizite mussten überwiegend mit kurzfristigen Auslandskrediten ausgeglichen werden. In den Vorjahren war dies relativ einfach gelungen, da das Einwerben von Auslandskrediten durch die im Dawesplan vorgesehene (und 1929 im Young-Plan aufgehobene) Transferschutzklausel begünstigt wurde. Sie besagte, dass Zinszahlungen zur Bedienung von Auslandskrediten Vorrang vor den Reparationsverpflichtungen hatten und letzteren nur nachzukommen sei, sofern die Devisenbestände der Reichsbank
32 Vgl.: Spoerer / Streb, Neue deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 83–85; Abelshauser, Geschichte wiederholt sich nicht, S. 567; Berend, Markt und Wirtschaft, S. 50–64. 33 Vgl. Hesse / Köster / Plumpe, Große Depression, S. 59 f. 34 Vgl. Knortz, Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik, S. 201. 35 Vgl. James, Deutschland in der Weltwirtschaftskrise, S. 54. 36 Vgl. ebd., S. 61 f. 37 Vgl. Knortz, Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik, S. 205 f.
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dadurch nicht gefährdet würden.38 Für ausländische Kreditgeber war Deutschland somit ein sicherer und – aufgrund der Hochzinspolitik der Reichsbank – attraktiver Anlageplatz. Deutschland wiederum erlangte über mehrere Jahre auf einfachem Wege Devisen, die es unter anderem zur Zahlung der Reparationen einsetzte, was zu einem System von Devisentransfer ohne »Ressourcentransfer[ ]« führte.39 Versuche, durch das Auflegen inländischer Anleihen Kapital zu akquirieren, verliefen sowohl bei einem ersten Versuch 1927 als auch im Fall der sogenannten Hilferding-Anleihe von 1929 weitgehend erfolglos.40 Zusätzlich belastend wirkte sich aus, dass Deutschland 1928 gemäß der Vereinbarungen des Dawes-Plans zum ersten Mal eine volle Reparationsrate zahlen musste. Sie betrug 2,5 Milliarden R-Mark und war jeweils annähernd hälftig aus dem allgemeinen Haushalt und von der Deutschen Reichsbahn zu erbringen.41 Mehr und mehr geriet das Reich in eine heikle Finanzlage. Seit Ende 1928 lavierte es fast ununterbrochen am Rand der Staatsinsolvenz. Im Verlauf des Jahres 1929 war das Ausmaß der finanziellen Schieflage nicht mehr zu übersehen. Die Kreditwürdigkeit Deutschlands an den internationalen Kreditmärkten war rapide zurückgegangen.42 Um abermals an kurzfristig dringend benötigtes Kapital zu gelangen, nahm das Reich im Juni einen Kredit bei Dillon, Read & Co. auf, einer New Yorker Investmentbank, die als risikoaffin, nicht unbedingt als seriös galt.43 Als Deutschland im Herbst 1929 nochmals versuchte, bei derselben Bank einen Kredit zu erlangen, scheiterte es. Verantwortlich dafür war nicht der verhandlungsführende Finanzminister Hilferding, sondern Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht, der eigenmächtig absagte und stattdessen ergebnislose Verhandlungen mit anderen Bankinstituten führte.44 Schachts Schachzug ließ seine eigene Macht wachsen, schließlich konnte das Finanzministerium jetzt nur mehr über die Reichsbank an die benötigten Kredite gelangen.45 In den kommenden Monaten entwickelte sich der Notenbankchef zu einer immer zentraler werdenden Figur. Mahnend 38 Vgl. Ritschl, Deutschlands Krise und Konjunktur, S. 122 f. 39 Ebd., S. 123. 40 Vgl.: James, Deutschland in der Weltwirtschaftskrise, S. 65–68; Knortz, Wirtschafts geschichte der Weimarer Republik, S. 207. 41 Vgl. Spoerer / Streb, Neue deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 75 f., 79. Der genau vorge sehene Anteil der Reichsbahn an der gemäß den Dawes-Gesetzen festgelegten Reparationslast variierte von Jahr zu Jahr, 1927/28 belief er sich auf 55 %, ausführlich dazu Kolb, Die Reichsbahn, hier S. 117. 42 Vgl. James, Deutschland in der Weltwirtschaftskrise, S. 68 f. 43 Vgl.: Knortz, Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik, S. 206; Kopper, Aufstieg und Fall, S. 159. 44 Vgl.: James, Deutschland in der Weltwirtschaftskrise, S. 69; Kopper, Aufstieg und Fall, S. 159 f. 45 Vgl. Kopper, Aufstieg und Fall, S. 160.
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wies er auf das strukturelle Defizit des Haushalts hin und forderte massive Einsparungen oder Steuererhöhungen, die eine Tilgung von Schulden in Höhe von 500 Millionen R-Mark möglich machen sollten.46 Mit einem am Nikolaustag 1929 veröffentlichten Memorandum wagte Schacht einen Frontalangriff gegen die Regierung.47 Er rechnete nicht nur mit deren Finanzpolitik ab, sondern kritisierte auch den von ihm mitausgehandelten Young-Plan, der die deutsche Reparationslast auf 36 Milliarden R-Mark, in Raten zahlbar bis 1988, senkte.48 Letztlich nötigte er das Parlament, im Jahr 1930 einen Tilgungsfonds mit zunächst 450 Millionen R-Mark aufzulegen.49 Spätestens jetzt, also noch zu Zeiten der Großen Koalition unter SPD -Kanzler Hermann Müller, etablierte sich in der Regierung endgültig die Überzeugung, die Finanzpolitik dringend auf einen Haushaltsausgleich ausrichten zu müssen.50 Bereits am 12. Dezember beschloss der Reichstag Erhöhungen von Tabak- und Biersteuer sowie höhere Beiträge zur Arbeitslosenversicherung, zugleich billigte er steuerliche Entlastungen für Unternehmen.51 Der Blick auf die Konjunkturentwicklung der Jahre 1925/26 bis 1928/29 legt nicht sogleich nahe, auch hier einen Problemfaktor zu suchen. Im Gegenteil: Zieht man das ex post rekonstruierte Maß des Bruttoinlandsprodukts heran, zeigen sich zwischen 1926 und 1928 deutliche Zunahmen. Jeweils im Vergleich zum Vorjahr lag die Steigerungsrate 1926 bei 1,3 %, 1927 bei 10,2 % und 1928 bei 3,2 %.52 Nicht zuletzt deshalb erhält der Zeitraum zwischen Inflationsende und Weltwirtschaftskrise oftmals das Label der »Stabilisierungsphase« der Weimarer Republik.53 Verfehlt wäre aber die Einschätzung, die Weimarer Wirtschaft hätte sich noch unmittelbar vor 1929/30 in einem verwerfungsfreien Zustand und einer konjunkturellen Hochphase befunden. In der Tat hatte sich die Weimarer Industriestruktur nach dem Ersten Weltkrieg und insbesondere nach Ende der Hyperinflation modernisiert. ›Rationalisierung‹ avancierte zum Schlüssel begriff.54 Sie meinte nicht nur den verstärkten Einsatz von Maschinen anstelle menschlicher Arbeitskraft, zum Beispiel im Bergbau, also die Substitution von Arbeit durch Kapital.55 Sondern sie bezeichnete genauso die Optimierung von 46 Vgl. ebd., S. 162. 47 Siehe hierzu auch Kap. III .1. 48 Vgl.: James, Deutschland in der Weltwirtschaftskrise, S. 70; Kopper, Aufstieg und Fall, S. 162 f.; Spoerer / Streb, Neue deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 79. 49 Vgl. James, Deutschland in der Weltwirtschaftskrise, S. 70. 50 Vgl. bereits Maurer, Reichsfinanzen und Große Koalition., S. 99 f., 113–120. 51 Vgl. Knortz, Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik, S. 234. 52 Daten entnommen aus Ritschl / Spoerer, Das Bruttosozialprodukt, S. 51, Tabelle A.1. Prozentuale Änderungsraten selbst berechnet. 53 Ambrosius, Von Kriegswirtschaft zu Kriegswirtschaft, S. 287. 54 Vgl. James, Deutschland in der Weltwirtschaftskrise, S. 151–165. 55 Vgl. Ambrosius, Von Kriegswirtschaft zu Kriegswirtschaft, S. 291 f.
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Arbeitsverfahren, Produktstandardisierungen sowie sozialtechnologische Ansätze, die zu Effizienzsteigerungen infolge einer optimierten Einstellung der Arbeitnehmer zu Betrieb und Produktionsprozess führen sollten.56 Subsumiert wurden sie unter dem Terminus der ›Psychotechnik‹.57 Die Produktivität in der deutschen Industrieproduktion lag 1925 wieder auf dem Niveau, das sie vor Kriegsausbruch 1913 erlangt hatte; das Nettolohnniveau des Jahres 1913 wurde hingegen erst 1928 wieder erreicht.58 Hieraus ergab sich eine Schwäche in der Binnennachfrage nach und Produktion von Konsum gütern, die nicht zur Deckung des Alltagsbedarfs benötigt wurden.59 Diese wurde bis 1929 durch eine Produktionszunahme in der Investitionsgüterindustrie kaschiert; spätestens seit 1929 aber nahm die industrielle Produktion nicht mehr zu, und eine konjunkturelle Abschwungphase setzte ein.60 Als dauerhaftes Dilemma erwies sich ferner eine permanent niedrige Investitionsquote. Auch in der Prosperitätsphase der Weimarer Wirtschaft gelang es nie, auf das Niveau der Vorkriegswerte zurückzukehren. Hatte die Quote zwischen 1910 und 1913 bei 15,2 % (NSP MP 61) gelegen, blieb sie zwischen 1925 und 1929 bei 11,1 %.62
Phase II Die Ausgangslage war mithin alles andere als günstig, als seit Ende 1928 die Anhaltspunkte für eine bevorstehende Wirtschaftskrise zunahmen. Spätestens Anfang 1929 mehrten sich die Anzeichen eines erwartbaren zyklischen Konjunkturrückgangs.63 Als Ende Oktober 1929 – drastisch am ›Schwarzen Donnerstag‹ (24.10.) und ›Schwarzen Dienstag‹ (29.10.) – zusätzlich die Kurse an der New Yorker Börse erdrutschartig zurückgingen, kam es zu dem Ereignis, das gemeinhin als Ausgangspunkt der ›Great Depression‹ in den USA und der gesamten Weltwirtschaftskrise betrachtet wird. Es war Folge einer Spekulationsblase, die über mehrere Jahre entstanden war.64 Der Aktienboom hatte teils bis hinein in die amerikanische Mittelschicht gestrahlt und Hunderttausende von Amerikanern verleitet, Aktien zu kaufen. Im Herbst 1929 offenbarte sich die 56 Vgl. ebd., S. 291–293. 57 Hierzu ausführlich: Patzel-Mattern, Ökonomische Effizienz. 58 Vgl. Knortz, Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik, S. 202. 59 Vgl. ebd. 60 Vgl. ebd., S. 202 f. 61 Nettosozialprodukt zu Marktpreisen. 62 Vgl. James, Deutschland in der Weltwirtschaftskrise, S. 118 f. 63 Vgl. Hesse / Köster / Plumpe, Große Depression, S. 54. 64 Hierzu als thesenfreudiger und unterhaltsamer Klassiker: Galbraith, The Great Crash [zuerst 1954].
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Diskrepanz zwischen realwirtschaftlicher Potenz der Unternehmen und ihren zumeist völlig überhöhten Aktienwerten.65 Die Kapitalvernichtung durch den Aktiencrash wirkte sich unmittelbar auf die weltweiten Kapitalströme aus; Kapital, das beispielsweise über Kredite ins Ausland vergeben worden war, wurde von dort abgezogen, um erlittene Einbußen an verfügbarem Kapital wenigstens partiell auszugleichen.66 Unmittelbar zeitigte der Crash keine großen Folgen für Deutschland. Er zog die deutsche Volkswirtschaft nicht ruckartig, sondern schleichend in den weltwirtschaftlichen Abwärtsstrudel.67 Der Kapitalabzug erwies sich als am schnellsten spürbarer Problemfaktor. Betroffen waren private Unternehmer genauso wie die öffentliche Hand, die sich als Folge der restriktiven Kreditpolitik der Reichsbank im Ausland verschuldet hatte – zumeist mit kurzfristigen und infolgedessen schnell abziehbaren Anleihen. Im Verlauf des Jahres 1930 schlug die prekäre Parallelität von vorbelasteter Wirtschaft, zyklischem Abschwung und weltwirtschaftlicher Verwerfung in eine Depression um, die in Deutschland bis 1933, in den letzten Ausläufern bis 1936/37 anhalten sollte. Die Daten lesen sich bis heute verheerend. Das Bruttoinlandsprodukt sank drei Jahre infolge rapide. Von 1930 bis einschließlich 1932 ging es, jeweils im Vorjahresvergleich, um 6,7 %, 12,8 % und 8,2 % zurück. Erst ab 1933 nahm es wieder zu, zunächst um 7,7 %, im Folgejahr 1934 gar um 10,2 %.68 Die Arbeitslosenzahlen stiegen, von saisonalen Schwankungen abgesehen, von etwa 1,5 Millionen im Oktober 1929 auf mehr als 6 Millionen in den ersten drei Monaten des Jahres 1932.69 Die Arbeitslosenquote betrug 1932 im Jahresdurchschnitt exorbitante 29,9 %.70 Angesichts der zu vermutenden Dunkel ziffer von mutmaßlich mehr als einer Million nicht gemeldeter Arbeitsloser lag die reale Arbeitslosenzahl noch beträchtlich höher.71 Den Wendepunkt erreichte die Wirtschaftsentwicklung im Jahr 1932. Diese Schlussfolgerung ergibt sich aus den Tendenzen des Konjunkturverlaufs und der Arbeitslosenzahlen und insbesondere aus den Auftragseingängen, die ab Ende 1932 kontinuierlich über den Vorjahresvergleichswerten rangierten. Vor allem aus letztgenanntem Faktor hat der Wirtschaftshistoriker Christoph Buchheim gefolgert, dass die Krisenüber65 Vgl.: Knortz, Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik, S. 210–215; Hesse / Köster / Plumpe, Große Depression, S. 107, 109. 66 Vgl.: Hesse / Köster / Plumpe, Große Depression, S. 42; Spoerer / Streb, Neue deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 85. 67 Vgl. Spoerer / Streb, Neue deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 83. 68 Daten entnommen Ritschl / Spoerer, Das Bruttosozialprodukt, S. 51, Tabelle A.1. Prozentuale Änderungsraten selbst berechnet. 69 Vgl. Balderston, The Origins, S. 2, Table 1.1. 70 Vgl. Peukert, Krisenjahre der klassischen Moderne, S. 246. 71 Vgl. ebd.
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windung keineswegs erst durch die großangelegten Konjunktur- und schließlich Rüstungsprogramme der Nationalsozialisten erfolgte.72
Phase III Wie die Zahlen anzeigen, erfuhr die konjunkturelle Depression 1931/32 ihren Höhepunkt. Bis 1931 hatte sich immerhin der deutsche Außenhandel gut gehalten, erstmals seit Jahren gar wieder einen Überschuss erzielt, und so zu Beginn des Jahres 1931 Hoffnungen genährt, die Krise sei weitgehend überstanden und ein Aufschwung kündige sich an.73 Dass es anders kam, hing maßgeblich mit der zusätzlich eintretenden Banken- und anschließenden Währungskrise – der (German) »twin crisis« – zusammen.74 Als besonders folgenschwer für Deutschland erwies sich der Kollaps der Österreichischen Credit Anstalt im Mai 1931. Zügig griff er auf das deutsche Bankwesen über, Anfang Juli unter anderem auf die Danatbank, die als Gläubiger durch den Konkurs der Delmenhorster Nordwolle AG belastet war.75 Eine Reihe weiterer Insolvenzen destabilisierte das gesamte Bankwesen; die Gleichzeitigkeit von inländischem und ausländischem Kreditabzug, eines Runs auf die Bankschalter und der Erkenntnis, nichtgedeckte Kredite vergeben zu haben, führte das deutsche Bankwesen in akute Existenznot.76 Einen solchen Zusammenhang und Ablauf beschreiben die meisten Darstellungen. Abweichend haben Thomas Ferguson und Peter Temin argumentiert, dass die deutsche Bankenkrise nicht Folge ökonomischer Automatismen, sondern politisch verursacht gewesen sei. Die von der Reichsregierung ab dem Frühjahr 1931 zunehmend signalisierten Schwierigkeiten Deutschlands, seinen internationalen Zahlungsverpflichtungen nachzukommen, hätten das Vertrauen in die Reichsmark erodieren lassen und so zum Ansturm auf die Banken geführt.77 In jedem Fall waren die Reaktionen folgenschwer: Um einen völligen Zusammenbruch des Kreditsektors zu verhindern, schlossen die Banken für mehrere Wochen (14.07. bis 03.08., Sparkassen bis zum 08.08.193178), und die Regierung 72 Vgl. Buchheim, Erholung von der Weltwirtschaftskrise, S. 16 f. 73 Vgl. Hesse / Köster / Plumpe, Große Depression, S. 71–73. 74 Ausführlich hierzu: Ferguson / Temin, Made in Germany; Schnabel, The German Twin Crisis. 75 Vgl.: Hesse / Köster / Plumpe, Große Depression, S. 57; James, Deutschland in der Weltwirtschaftskrise, S. 298. 76 Vgl.: Hesse / Köster / Plumpe, Große Depression, S. 57; James, Deutschland in der Weltwirtschaftskrise, S. 285–289, Knortz, Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik, S. 220–222. 77 Vgl. Ferguson / Temin, Made in Germany, prägnant S. 33. 78 Vgl. James, Deutschland in der Weltwirtschaftskrise, S. 303, 306.
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verstaatlichte einen Teil des Bankensektors und führte restriktive Kapitalverkehrskontrollen ein.79 Die Reichsbank sah sich genötigt, den Diskontsatz massiv zu erhöhen, Ende Juli kurzzeitig auf 15 %; anschließend senkte sie den Satz bis September auf das noch immer hohe Niveau von 8 %.80 Am gravierendsten waren jedoch nicht die innerdeutschen, sondern die weltwährungspolitischen Auswirkungen der Finanzkrise. Infolge der eingeführten Devisenbewirtschaftung war Kapital, das einmal nach Deutschland gelangt war, von dort kaum mehr abzuziehen. Investoren aus den USA und Banken aus kleineren Staaten Europas, wie der Schweiz und den Niederlanden, drängten daher nach England und strebten danach, ihre Devisen in Gold einzutauschen und so ihre entsprechenden Reserven zu erhöhen.81 Infolgedessen geriet das britische Pfund unter Druck; die Bank of England sah sich zur Abwertung gezwungen, obwohl dies nach den Regeln des seit 1924 wieder eingeführten Goldstandards eigentlich unmöglich war.82 International entwickelte sich eine Abwertungsdynamik. Infolgedessen war eine Erosion des Goldstandards nicht mehr aufzuhalten. Das Weltwährungssystem spaltete sich in vier Währungsblöcke auf: einen zusammengeschmolzenen Goldblock mit Frankreich als zentralem Land, zu dem unter anderem die Schweiz, Italien und Polen gehörten; einen Dollarblock im amerikanischen Wirtschaftsraum; einen Sterlingblock, der neben Großbritannien und seinen Kolonien etwa auch die skandinavischen Länder umfasste; und zahlreiche mittel- und osteuropäische Staaten, allen voran Deutschland, die einen ›Devisenbewirtschaftungsblock‹ bildeten.83 Die ökonomische Ausgangslage Ende der 1920er Jahre, die zyklische Konjunkturabflachung zum Ende des Jahrzehnts, die strukturelle Überdehnung des Haushalts, die mittelfristigen Folgen des Börsencrashs, die Bankenkrise und der nachfolgend weiter gravierend zunehmende Protektionismus beschreiben die wichtigsten Faktoren, die zur Erosion der weltwirtschaftlichen Handelsbeziehungen und zum massiven Auslastungseinbruch zahlreicher Volkswirtschaften führten. Auf diese Faktoren hatten Wirtschaftspolitiker wie Wirtschaftspraktiker zu reagieren. Gerade für Deutschland hat die Forschung die politische Antwort auf diese Ausgangslage, die Finanz-, Sozial- und Lohnpolitik der Regierung Brüning, oftmals als weiteres krisenverschärfendes Element ausgemacht.84 Maßgeblichen Ausdruck fand die sogenannte Deflationspolitik in vier Notverordnungen, erlassen im Juli und Dezember 1930 sowie Oktober und Dezember 79 Vgl. Hesse / Köster / Plumpe, Große Depression, S. 57 f. 80 Vgl. James, Deutschland in der Weltwirtschaftskrise, S. 305. 81 Vgl.: Kindleberger, Weltwirtschaftskrise, S. 200; Hesse / Köster / Plumpe, Große Depression, S. 44 f., 58. 82 Vgl. Hesse / Köster / Plumpe, Große Depression, S. 58. 83 Vgl. ebd., S. 47 f. 84 Prägnant Wehler, Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4, S. 518.
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1931. In der Summe war ihre politische Ziel- und Stoßrichtung überdeutlich: Geprägt von der Grundidee, die Krise sei primär kostenverursacht,85 zielten sie auf eine radikale Kostensenkung – sowohl für die private Wirtschaft als auch die öffentliche Hand – und eine Verbesserung der öffentlichen Einnahmen.86 So wurden direkte und indirekte Steuern erhöht (u. a. Lohn- und Einkommensteuer, Steuern auf Bier, Tabak, Zucker), Sozialleistungen und Renten gekürzt, gleichzeitig höhere Beiträge zur Arbeitslosenversicherung erhoben, unter anderem Sonderabgaben für Ledige und Beamte eingeführt, Löhne und Gehälter verringert und staatlich beeinflussbare Preise gesenkt. Wie auch immer einzelne Studien die Absichten gewichten, die Brüning mit dieser Politik verfolgte: Es ging darum, den Haushalt zu konsolidieren, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu stärken und international zu demonstrieren, dass es Deutschland trotz aller Sparanstrengungen nicht möglich sei, die Reparationsforderungen zu erfüllen. Völlig erfolglos blieb diese Politik nicht. Insofern könnte man sie für den Zeitraum bis zur Bankenkrise Mitte 1931 als zwar sozialpolitisch äußerst grenzwertig, aber wirtschaftspolitisch noch vertretbar bewerten, zumal sich – wie gleich anzureißen sein wird – die Frage stellt, ob es überhaupt reale Alternativen zu ihr gab. Die Kostenreduzierung verbesserte die weltwirtschaftliche Wettbewerbsposition der deutschen Wirtschaft. Statistisch sichtbares Zeichen dieser Entwicklung war die Außenhandelsbilanz, die für Deutschland – wie erwähnt – 1931 erstmals wieder einen Überschuss auswies.87 Auch im Reparationskonflikt ergab sich schließlich eine für Deutschland positive Lösung. Mit dem HooverMoratorium vom Juni 1931 wurden die zu erbringenden Zahlungen für ein Jahr ausgesetzt, nach der Lausanner Konferenz vom Juli 1932 alle Reparationsforderungen gestrichen.88 Die Finanz- und Bankenkrise war für beide Erfolge folgenschwer: den ersten – die leicht verbesserte Lage einzelner Wirtschaftszweige – machte sie zunichte, weil die Wirtschaft infolge des hohen Diskontsatzes nun fast völlig von notwendigen Krediten abgeschnitten wurde.89 Den zweiten Erfolg ermöglichte sie hingegen erst. Dass Deutschland als Staat, der praktisch über keinerlei Devisen mehr verfügte, in einem kalkulierbaren Zeitraum wieder in die Situation gelangen könnte, Reparationen zu zahlen, schien ab 1931 unmöglich. Ein Reparationserlass war daher realpolitisch unvermeidlich. Der Preis, den Wirtschaft und Bevölkerung für die Deflationspolitik zahlen mussten, war gleichwohl enorm. Was sich (heute) statistisch als Rückgang des 85 Vgl. auch Kim, Industrie, Staat und Wirtschaftspolitik, S. 60. 86 Eine Übersicht über die wichtigsten Einzelmaßnahmen findet sich bei Wehler, Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4, S. 516 f. 87 Vgl. Hesse / Köster / Plumpe, Große Depression, S. 71. 88 Vgl. Knortz, Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik, S. 113. 89 Vgl. Hesse / Köster / Plumpe, Große Depression, S. 73.
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Bruttoinlandsprodukts und Erhöhung der Arbeitslosenzahlen ausdrückt, bedeutete alltagsweltlich für Millionen Menschen Armut und soziale Not. Gerade deshalb hat Brünings Politik das Urteil eines »unbarmherzig konsequenten Deflationskurs[es]« provoziert.90 Die Frage, inwiefern es zu ihr Alternativen gab, hat die Geschichtswissenschaft über Jahre beschäftigt. Sie lässt sich auf zwei miteinander zusammenhängenden Ebenen behandeln. Erstens können die zeitgenössischen – wie auch immer bedingten – »Zwangslagen und Handlungsspielräume« ausgelotet werden.91 Dieser Weg, den Knut Borchardt Ende der 1970er Jahre beschritt, löste eine wirtschaftshistorisch äußerst produktive Kontroverse aus.92 Darüber hinaus lässt sich fragen, ob und in welchem Ausmaß das Wissen der Wirtschaftswissenschaften den politischen Ansatz deckte oder Alternativen bot. Im Kern lautete Borchardts Hauptthese, dass Brünings Deflationskurs nicht auf einer Fehlentscheidung, sondern auf Alternativlosigkeit beruhte. Sie habe sich aus der dauerhaften Überlastung des Haushalts ergeben, die sich noch verschärft habe, als Deutschland ab 1930 fast keine ausländischen Kredite mehr habe erhalten können. Ein Spielraum für Kredite durch die Reichsbank sei aufgrund der Vorgaben des Reichsbankgesetzes und der Angst vor einer potenziellen Inflation de facto ebenfalls nicht gegeben gewesen.93 Als zweiter Faktor trat hinzu, dass Lohnkosten und Sozialleistungen gemessen an der Entwicklung der Arbeitsproduktivität überproportional gestiegen seien. Damit hätten sie die Wirtschaft schon in den 1920er Jahren anhaltend geschwächt, eine dauerhaft zu niedrige Investitionsquote verursacht und so zur »›kranken‹ Wirtschaft« der Weimarer Republik geführt.94 Angesichts dieser Ausgangslage sei der Deflationskurs unvermeidbar gewesen. Nur eine durch radikale Kostensenkung international wettbewerbsfähige Wirtschaft, so der Borchardt-Schüler Albrecht Ritschl in seiner Fortführung des Arguments, habe die Devisen erwirtschaften können, die zur Zahlung der Reparationen erforderlich gewesen seien.95 Unmittelbar nach der Publikation und bis in die Gegenwart hat Borchardts These Kritik hervorgerufen.96 Carl-Ludwig Holtfrerich errechnete, dass die 90 Wehler, Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4, S. 516. 91 Borchardt, Zwangslagen und Handlungsspielräume. 92 Einen sehr prägnanten Überblick über den Kern der Kontroverse bieten Hesse / Köster / Plumpe, Große Depression, S. 194–199. 93 Vgl. Borchardt, Zwangslagen und Handlungsspielräume, S. 170–173. 94 Ebd., S. 174–182, Zitat S. 181. 95 Vgl. Ritschl, Knut Borchardts Interpretation, S. 237–240. 96 Für einen konzisen Überblick über Inhalt und Verlauf der Debatte inklusive einer zugespitzten eigenen Position siehe ebd. Zahlreiche weiterführende Literaturhinweise zum Diskussionsverlauf ebenfalls ebd. sowie beim Verursacher der Debatte – Knut Borchardt, Beratung in der Krise, S. 115 f., Anm. 21. Zugleich als Beispiel für den Debattenverlauf als auch Quelle für den zeitgenössischen Diskussionsstand siehe Jürgen von Kruedener (Hg.), Economic Crisis and Political Collapse [erschienen 1990].
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Lohnkostenentwicklung in den 1920er Jahren nicht unverhältnismäßig gewesen sei.97 Hans-Ulrich Wehler versuchte noch im vierten Band seiner Gesellschaftsgeschichte, knapp ein Vierteljahrhundert nach der Borchardt-These publiziert, Alternativen zu Brünings Handeln aufzuzeigen. Auch er konnte in der Lohnkostenentwicklung keine gravierende Schwächung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft erkennen.98 Ferner führte er eine Reihe von Einzelstimmen, aus RDI und DIHT genauso wie von Gewerkschaften und Bankiers an, die schon ab Sommer 1931 eine Kreditschöpfung durch die öffentliche Hand und ein staatliches Gegensteuern in der Konjunkturpolitik gefordert hatten.99 Die dagegen stehenden Restriktionen des Reichsbankgesetzes und Young-Plans hielt Wehler für in der politischen Praxis überwindbare Hürden, mithin für überbewertete Argumente.100 Und jüngst vertrat der Diplomatie-Historiker Paul Köppen in einer Untersuchung der deutsch-französischen Beziehungen 1930/31 die Auffassung, Deutschland habe zu dieser Zeit noch reale Optionen besessen, einen französischen Großkredit zu erhalten, und diese ausgeschlagen.101 Mit seiner These befeuerte Köppen die Debatte neu und provozierte prompte Entgegnungen. Knut Borchardt selbst und Roman Köster wiesen vehement darauf hin, dass es sich bei dem Angebot zum einen nur um kurzfristige Kredite gehandelt hätte, die zum anderen nicht an die Reichskasse, sondern deutsche Banken geflossen wären und die strukturelle Problemlage Deutschlands somit nicht verändert hätten.102 In der Summe legen die Arbeiten nahe, dass es in Einzelaspekten durchaus Handlungsalternativen gegeben hat, Brünings Politik also nicht völlig durch Zwangslagen determiniert war. Insgesamt aber können sie die grundsätzliche Problemdiagnose Borchardts nicht erschüttern, weshalb diese heute zum wirtschaftshistorischen Mainstream gehört.103 Ein Faktor, der Brünings Ausgangslage zweifellos zusätzlich erschwerte, war der Zustand der deutschen Nationalökonomie. Eine Antwort auf die Herausforderungen der Krise bot sie nicht an, stattdessen steckte sie selbst seit mehreren Jahren in einer tiefen inneren Krise.104 Gefangen zwischen den Methoden der Jüngeren Historischen Schule, der ökonomischen Theorieentwicklung, die 97 Holtfrerich, Zu hohe Löhne in der Weimarer Republik? 98 Vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4, S. 524–526. 99 Einen ausführlichen Überblick über die einzelnen Forderungen und Initiativen bietet Meister, Die große Depression, S. 322–342. 100 Vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4, S. 526–528. 101 Köppen, Heinrich Brünings Spardiktat. 102 Vgl.: Borchardt, Eine Alternative zu Brünings Sparkurs?, bes. S. 231–235; Köster, Keine Zwangslagen?, S. 242–248. 103 So liest sich beispielsweise auch die Position von Hesse / Köster / Plumpe, Große Depression, S. 77 f. 104 Vgl. Köster, Wissenschaft der Außenseiter.
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maßgeblich in England vorangetrieben wurde, und eigenen Versuchen, zu einer Konjunkturtheorie zu gelangen, war sie innerlich entzweit. Über die (Neu-)Ausrichtung des Fachs stritt sie genauso wie über die erstrebenswerte Wirtschaftsordnung und die Grundausrichtung der Wirtschaftspolitik.105 Überfordert war und wirkte sie gerade deshalb, weil sie sich bis dato überwiegend als eine rückblickend analysierende Wissenschaft verstanden hatte.106 Wie an der in den 1920er Jahren entstandenen Konjunkturlehre zu erkennen, wollte sie vor allem Regelmäßigkeiten der Wirtschaftsentwicklung in liberalen Wirtschaftssystemen aufspüren und zeigte lange Zeit wenig Interesse daran, unmittelbar handlungsleitendes Wissen zu entwickeln.107 Doch nicht nur die Zerstrittenheit der Nationalökonomie erklärt, weshalb zu keinem Zeitpunkt der Wirtschaftskrise eine kohärente Gruppe von Ökonomen zusammenfand, um die wirtschaftspolitischen Entscheidungen wirksam zu beeinflussen. Das Problem lag – hier stellte die deutsche Wissenschaft keine Ausnahme dar – genauso auf der Analyseebene. Bis 1931 herrschte die liberale Sicht vor, die selbstregulativen Funktionsmechanismen des Marktes würden automatisch zur Krisenüberwindung führen. In dieser Sicht war die Krise sogar notwendig, um die Wirtschaft von ineffektiv agierenden Subjekten zu befreien und so zu stärken.108 Als sich diese Hypothese im Zuge der Turbulenzen im Bankensektor als Trugschluss erwies und Erklärungen, die mit den üblichen konjunkturtheoretischen Annahmen arbeiteten, an Überzeugung verloren, änderten sich zwei wichtige Einschätzungen. Erstens büßte die liberale Wirtschaftstheorie gravierend an Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft ein,109 auch bei einigen ihrer prominenten Vertreter.110 Als Kehrseite dieses Prozesses konnten sich nun zweitens Vorschläge, die für eine aktivere Beeinflussung des Wirtschaftsgeschehens durch den Staat plädierten, sukzessive mehr Gehör verschaffen. Bekanntestes Beispiel war gewiss der Einflussgewinn, den John Maynard Keynes nicht nur in England erlangte,111 sondern ebenso in der deutschen Öffentlichkeit, die ihn als publizistisch aktiven, praxisorientierten Ökonomen wahrnahm.112 Auch in Deutschland, wo schon in den 1920er Jahren – ohne wirtschaftstheoretischen Überbau – fiskalpolitische Maßnahmen zur Nachfragestützung ergriffen worden waren, diskutierten vor allem Wirtschaftspraktiker entsprechende 105 Vgl.: Ebd., S. 11–23, 258–268; Borchardt, Beratung in der Krise, S. 113–115. 106 Vgl. Knortz, Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik, S. 255. 107 Vgl. ebd. 108 Vgl. Hesse / Köster / Plumpe, Große Depression, S. 56–58. 109 Vgl. Köster, Wissenschaft der Außenseiter, S. 258–260. 110 Vgl. Schulz-Forberg, Die Welt und wie sie sein sollte, S. 177 f. 111 Zur Entwicklungsgeschichte des Keynesianismus in England siehe Clarke, The Keynesian Revolution. 112 Vgl. Köster, Vor der Krise, S. 34–36.
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Pläne. Eine Variante, die das Label eines ›deutschen Keynesianismus‹ verdiente, entstand zwar nicht.113 Immerhin aber trafen sich im Rahmen einer kurzfristig organisierten und nicht-öffentlichen Konferenz der Friedrich-List-Gesellschaft Mitte September 1931 im Berliner Reichsbankgebäude wichtige Vertreter aus Reichsbank, Reichsministerien, Banken und Wissenschaft und diskutierten über »Möglichkeiten einer Konjunkturbelebung durch Investitionen und Kreditausweitung«114 – so der Titel eines Diskussionspapiers115, das Wilhelm Lautenbach, Oberregierungsrat im Reichswirtschaftsministerium, erarbeitet hatte.116 Obwohl die Diskussionsteilnehmer in der Mehrheit übereinstimmten, dass auf eine »Selbstheilung« kaum mehr zu hoffen, sondern stattdessen eine »Ankurbelung« notwendig sei, endete die Konferenz ohne spektakuläre Handlungsempfehlung.117 Vielmehr zögerten die Teilnehmer, eine hohe, tatsächlich konjunkturanregend wirkende Summe vorzuschlagen.118 Schließlich ließen sie eine Summe von 0,6 bis 1,5 Mrd. R-Mark im Raum stehen, wohl auch, weil unsicher blieb, inwieweit die Reichsbank, die als einziger Kreditgeber infrage kam, höhere Summen bereitstellen konnte. Zudem bildete sich im Konferenzverlauf die Meinung heraus, vor einer ›Ankurbelung‹ solle die Flexibilisierung (und damit Senkung) von Preisen und Löhnen stehen. Die Notverordnung vom Dezember 1931 stand somit durchaus im Einklang mit der Diskussionsentwicklung der Arkan-Konferenz,119 obgleich – wie Meister betont – Lautenbach vehement akzentuiert hatte, dass Lohn- und Preissenkungsentscheidungen nur bei einem gleichzeitigen umfangreichen staatlichen Programm zur Produktionsanregung vertretbar seien.120 Auch wenn die Notverordnung vom Dezember noch in eine andere Richtung wies, stand die Idee staatlich erzeugter Konjunkturimpulse und zunehmend auch konkreter Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen fortan im wirtschaftspolitischen Diskussionsraum und war nicht länger bloß die Position einzelner Akteure. 113 Vgl. Borchardt, Beratung in der Krise, S. 109 f. 114 Die Denkschrift ist abgedruckt in der Edition des Tagungsprotokolls: Lautenbach, Möglichkeiten einer Konjunkturbelebung. 115 Um mehr als ein Diskussionspapier handelte es sich offenbar nicht. Die von Meister, Die große Depression, S. 304, vertretene These, die Vorschläge Lautenbachs hätten zu einer »Kabinettsvorlage« werden sollen, ist – so Borchardt, Beratung in der Krise, S. 118 f. – wohl lediglich auf eine spätere Aussage Lautenbachs gestützt und mit entsprechend großer Vorsicht zu behandeln. 116 Vgl.: Meister, Die große Depression, S. 304 f.; Borchardt, Beratung in der Krise, S. 115–119. 117 Vgl. Borchardt, Beratung in der Krise, S. 119–128, Zitate S. 120. 118 Eine detaillierte Rekonstruktion der Positionen der einzelnen Referenten und der Veränderungen des Meinungstenors im Tagungsverlauf bietet Kim, Industrie, Staat und Wirtschaftspolitik, S. 126–133. 119 Vgl. Borchardt, Beratung in der Krise, S. 119–128. 120 Vgl. Meister, Die große Depression, S. 307. Für die entsprechende Originalpassage der Denkschrift siehe Lautenbach, Möglichkeiten einer Konjunkturbelebung, S. 314 f.
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Ende 1931 entwickelten Wladimir Woytinsky, Fritz Tarnow und Fritz Baade im Lager der Freien Gewerkschaften den nach ihnen benannten WTB -Plan, der am 26. Januar 1932 veröffentlicht wurde.121 Er plädierte für kreditfinanzierte staatliche Investitionen in Höhe von zwei Milliarden R-Mark.122 Weil die SPD die Forderungen nicht aktiv unterstützte, wurde der Plan zwar nicht als Antrag im Reichstag behandelt.123 Er signalisierte aber deutlich, dass die Gewerkschaften endgültig und radikal mit der Sicht gebrochen hatten, mit der Verbesserung von Investitionsbedingungen durch Kostensenkung sei der wirtschaftliche Wiederaufschwung zu erreichen.124 Ab dem Sommer 1932 schwenkten schließlich auch die neuen Reichsregierungen auf den Pfad einer aktiveren Konjunkturpolitik ein. Davon zeugten die Maßnahmen der Regierungen Papen und Schleicher zur Anregung der Binnennachfrage.125 Papen verfocht einen Ansatz, der neben einem Ausbau des 1931 gegründeten Freiwilligen Arbeitsdienstes und geringen direkten Investitionen vor allem indirekt konjunkturanregende und beschäftigungsfördernde Maßnahmen in Form von Steuergutschriften bei Schaffung von Arbeitsplätzen und privatwirtschaftlichen Investitionen vorsah.126 Schleicher gab diesen Ansatz auf und ging zu direkten staatlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen über. Sein durch eine Geldmengenerhöhung finanziertes Beschäftigungsprogramm im Umfang von 600 Mio. R-Mark gereichte zum Vorbild für das wesentlich größer dimensionierte Reinhardt-Programm der Nationalsozialisten ab 1933.127 Angesichts dieser Entwicklung markierte die zweite Jahreshälfte 1931 tatsächlich einen Wendepunkt im wirtschaftspolitischen Diskussionsverlauf, der sich zeitlich verzögert ab 1932 in politischen Kurskorrekturen manifestierte.
2. Politische Schlussperiode: die Krise als Ende der Weimarer Republik Keine historiografische Darstellung erklärt das Ende der Weimarer Republik monokausal. Das Bild der letzten drei Jahre ihres Bestehens ist eines sich ergänzender und verstärkender Prozesse: Ökonomischer Verfall samt Massenverelendung, sukzessive Aufgabe des parlamentarischen Regierungssystems und 121 Siehe: [o. N.], Der WTB -Plan zur Arbeitsbeschaffung, veröffentlicht am 26. Januar 1932. 122 Vgl. ebd., S. 172. 123 Vgl. Abelshauser, Aus Wirtschaftskrisen lernen, S. 477. 124 Vgl. auch ebd., S. 476 f. 125 Vgl.: Spoerer / Streb, Neue deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 97; Büttner, Die überforderte Republik, S. 477 f. 126 Vgl.: Hesse, Bewältigungsstrategien nach der Krise, S. 321; Kaiser, Gewerkschaften, S. 127 f. 127 Vgl. Hesse, Bewältigungsstrategien nach der Krise, S. 321 f.
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demokratischen Staates, Zunahme offener politischer Gewalt, Aufstieg des Nationalsozialismus. Die Weltwirtschaftskrise erscheint keineswegs als allein ausschlaggebend für den Republikzerfall, aber als ein das politische Handeln dauerhaft bestimmender Faktor. Kurzum: Die »deutsche Staatskrise« wird nicht allein auf die Wirtschaftskrise zurückgeführt, jedoch impliziert, dass eine ökonomisch weniger geschwächte Republik einen anderen Weg genommen hätte.128 Oder, mit den Worten Detlev Peukerts formuliert: Das folgenschwere Spezifikum der Weltwirtschaftskrise in Deutschland lag in ihrer Wirkung als »Katalysator für den Bruch mit einem politischen System«.129 Wann die Staatskrise begann, ist aufgrund ihrer multifaktoriellen Gestalt nicht eindeutig zu benennen. Zumeist wird der unmittelbare Ausgangspunkt am Scheitern der Großen Koalition am 27. März 1930 und dem Übergang zur ersten Präsidialregierung unter Heinrich Brüning festgemacht. Von hier ausgehend analysiert Dirk Blasius »Weimars Ende«,130 Heinrich August Winkler sieht »keinen Zweifel, daß an diesem Tag die Zeit relativer Stabilität definitiv zu Ende ging und die Auflösungsphase der ersten deutschen Demokratie« einsetzte,131 und Hans-Ulrich Wehler konstatiert, mit diesem Ereignis sei »die parlamentarische Republik gescheitert«.132 Eine Regierung, die gänzlich unabhängig von parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen gebildet wurde, markierte den ersten eklatanten Bruch. Weitere Brüche sollten in den kommenden drei Jahren folgen; sie festigten und beschleunigten den Abschied von der demokratischen Republik. Der nächste folgenschwere Schritt nach dem Koalitionsbruch vom März ereignete sich ein Vierteljahr später. Weil sich die finanzielle Lage des Reiches weiter zugespitzt hatte, schnürte die Regierung ein Maßnahmenpaket zur Haushaltskonsolidierung. Dieses umfasste unter anderem eine Abgabe, die von sämtlichen Angestellten und Beamten zu entrichten war, und – als Forderung der DVP, die sonst ihre Zustimmung verweigert hätte – eine Bürgersteuer. Sie sollte nicht gestaffelt werden, sondern war als ›Kopfsteuer‹ unabhängig von der Einkommenshöhe zu entrichten. Erwartungsgemäß lehnte die SPD eine solche Steuer scharf ab.133 Am 16. Juli fanden die Regierungsvorschläge im Reichstag keine Mehrheit; Brüning machte daraufhin von der Option Gebrauch, die Reichspräsident Hindenburg ihm zuvor eröffnet hatte, und ließ die Vorlagen mittels 128 Eine umfassende Übersicht über die Vielzahl der zu berücksichtigenden Faktoren der »Staatskrise« bieten – trotz inzwischen partiell fortgeschrittenem Forschungsstand – die Beiträge in Winkler (Hg.), Die deutsche Staatskrise, sowie ders., Weimar im Widerstreit. 129 Peukert, Krisenjahre der klassischen Moderne, S. 243. 130 Blasius, Weimars Ende. 131 Winkler, Geschichte der ersten deutschen Demokratie, S. 372. 132 Wehler, Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4, S. 514. 133 Vgl. Winkler, Geschichte der ersten deutschen Demokratie, S. 378 f.
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zweier Notverordnungen nach Artikel 48 der Verfassung in Kraft setzen. Als der Reichstag zwei Tage später einem SPD -Antrag zustimmte, die Notverordnungen aufzuheben, löste der Reichspräsident umgehend den Reichstag auf. Acht Tage später, am 26. Juli, erließ Hindenburg abermals Notverordnungen, die im Kern den abgelehnten Regierungsvorlagen entsprachen, nun aber unter anderem doch eine Staffelung der Bürgersteuer vorsahen.134 Dieser Schritt war in dreierlei Hinsicht erheblich: Er wandelte erstens die ›Regierung ohne Parlamentsmehrheit‹ auf eindeutige Weise zu einer Präsidialregierung. Zweitens beendete er nun auch offenkundig das System parlamentarischer Gesetzgebung. Drittens führten die angesetzten Neuwahlen im September 1930 zum Aufstieg der NSDAP, die ihren Stimmenanteil um 15,7 Prozentpunkte auf 18,3 % ausbauen konnte. Alle anderen Parteien verloren Stimmenanteile, abgesehen von der KPD, die ihren Anteil auf 13,1 % erweitern konnte.135 Einen Wendepunkt markierte die Wahl nicht nur angesichts der Stimmengewinne der beiden klar systemablehnenden Parteien. Vielmehr nahm im Anschluss an die Wahl die Tolerierungspolitik der SPD gegenüber der BrüningRegierung ihren Anfang. Sie war nicht notwendig, um zu regieren, aber um zu verhindern, dass der Reichstag Notverordnungen aufhob oder Misstrauensanträge positiv beschied.136 Die Tolerierungsstrategie sollte bis zu Brünings Sturz im Frühsommer 1932 halten und beraubte die SPD der Möglichkeit, offen und umfassend Kritik zu üben. Die Motive der Sozialdemokraten scheinen klar; sie wollten einen Einfluss der Nationalsozialisten auf die Regierungspolitik verhindern und zugleich sicherstellen, dass die Zentrums-Partei nicht die in Preußen regierende Koalition unter SPD -Ministerpräsident Braun aufkündigte. Dies hätte unweigerlich einen gravierenden sozialdemokratischen Einflussverlust bedeutet, nicht zuletzt die Hoheit über die preußische Polizei gekostet.137 Insofern blieben der SPD keine wirklichen Wahlmöglichkeiten. Obwohl der Kurs ex post fatal erscheint, war die Strategie, wie zum Beispiel Eberhard Kolb vehement argumentiert, weder völlig abwegig noch einfältig. Es musste den Sozialdemokraten darum gehen, »die Republik […] durch die […] Wirtschaftsund Staatskrise hindurchzuretten«, um so die einzige Chance auf eine »spätere, allmähliche Rückkehr zur regulären parlamentarischen Regierungsweise« zu wahren.138 Eine wie auch immer geartete »Auslieferung der Staatsmacht an die NSDAP« hätte demnach die Gefahr eines sofortigen »Ende[s] rechtsstaatlicher
134 Vgl. ebd., S. 380 f. 135 Vgl. Büttner, Die überforderte Republik, S. 419. 136 Vgl. Herbert, Geschichte Deutschlands, S. 288. 137 Vgl. Winkler, Geschichte der ersten deutschen Demokratie, S. 396. 138 Kolb, Chancen und Scheitern, S. 292. Zur Strategie der SPD ausführlich: ders., Rettung der Republik.
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Verhältnisse« heraufbeschworen.139 Realistische Alternativen zur Tolerierungspolitik lagen nicht auf der Hand. Die Beteiligung an einer Großen Koalition schied als Option aus. Hindenburg lehnte sie ab, und auch der SPD selbst schien es kaum vorstellbar, im Herbst 1930 eine Koalition einzugehen, in der sie erneut mit der DVP kooperieren sollte. Ob Brüning tatsächlich ernsthaft auslotete, ob eine Zusammenarbeit seines Kabinetts mit der NSDAP möglich war, ist unklar. Nach einem Sondierungsgespräch, das Anfang Oktober 1930 in der Wohnung des DNVP-Reichministers Treviranus stattfand, sah Brüning keine Basis für eine Zusammenarbeit, wollte diese aber langfristig nicht ausschließen. Während Heinrich August Winkler diesen Standpunkt nicht in Zweifel zieht,140 urteilt Ulrich Herbert eindeutiger, dass es die NSDAP gewesen sei, die ein solches Ansinnen »brüsk zurückgewiesen« habe.141 Das Regierungssystem, das sich so etabliert hatte, hielt für anderthalb Jahre. Das Kabinett Brüning agierte offen als Präsidialregierung, die mit Notver ordnungen regierte und indirekt und passiv von den Sozialdemokraten gestützt wurde. Erst nach der Ablösung Brünings durch Franz von Papen Anfang Juni 1932 endete das Konstrukt. Die erzkonservativen Regierungen Papens und seines von Dezember an amtierenden Nachfolgers, des Reichswehrgenerals Kurt von Schleicher, bedeuteten einen nochmals verschärften Raubbau an den Grund festen der Republik. Abermalige gravierende Kürzungen von Sozialleistungen, die Aufhebung des SA-Verbots, die Absetzung der preußischen Regierung im Zuge des sogenannten Preußenschlags142 vom 20. Juli und die zweimalige Auflösung des Reichstags binnen zweier Monate (Juni und September) formten den Staat weiter um.143 Die Entwicklung der Nationalsozialisten und der Umgang mit ihnen verliefen uneindeutig. Während sie bei der Reichstagswahl im September einen fulminanten Stimmenzuwachs erlangten und mit 37,3 % stärkste Fraktion wurden, verloren sie bei der Wahl im November 4,4 Prozentpunkte, was politische Beobachter und Gegner zu der gravierenden Fehleinschätzung verleitete, der Höhepunkt des Erfolgs der NSDAP sei überschritten.144 Permanent im Raum stand die Frage einer etwaigen Regierungsbeteiligung – und dadurch erhofften Zähmung oder Entlarvung – der Nationalsozialisten. Eine Ernennung 139 Kolb, Chancen und Scheitern, S. 292. 140 Vgl. Winkler, Geschichte der ersten deutschen Demokratie, S. 393 f. 141 Herbert, Geschichte Deutschlands, S. 288. 142 Umfassend zum Preußenschlag bzw. »Papens Staatsstreich in Preußen« noch immer Bracher, Auflösung der Weimarer Republik, S. 491–526. Kompakter und anschaulich quellennah erzählt Blasius, Weimars Ende, S. 68–78. 143 Vgl.: Longerich, Deutschland 1918–1933, S. 325–329; Wehler, Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4, S. 530–532. 144 Vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4, S. 532.
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Hitlers zum Reichskanzler scheiterte im Herbst 1932 am Widerstand Hindenburgs.145 Die von Schleicher angestrebte Bildung einer ›Querfront‹-Regierung, unterstützt vom ›linken‹ Rand der NSDAP bis zur SPD, erwies sich als völlig realitätsfern. Schleichers Angebot der Vizekanzlerschaft an Gregor Straßer provozierte eine entschiedene Absage Hitlers.146 Mit der ›Machtergreifung‹ Hitlers am 30. Januar 1933 endete Schleichers Regierungsintermezzo nach 57 Tagen. Die Aushöhlung des demokratisch-republikanischen Verfassungsstaates, der nahezu völlige Machtverlust des Reichstags und die Verrohung der politischen Sitten bis hin zu eklatanten Gewaltausbrüchen verliefen als drei konvergierende Prozesse. Die Relevanzeinbußen des Reichstags zeigten sich zunächst am Verhältnis von parlamentarisch verabschiedeten Gesetzen zu Notverordnungen. Im Jahr 1930 standen 98 ordentlich zustande gekommenen Gesetzen fünf Notverordnungen gegenüber; 1931 belief sich das Verhältnis auf 35 zu 41, während 1932 auf fünf parlamentarische Gesetze 58 Notverordnungen kamen.147 Tagte das Parlament 1930 noch an 94 Tagen, kam es 1931 nur mehr auf 41, im Folgejahr gar auf nur noch 13 Sitzungstage.148 Der »Funktionsverlust des Reichstags in der Krise« spiegelte sich nicht nur in der Anzahl der Zusammenkünfte des Plenums, sondern ebenso im fast völligen Versiegen der Ausschussarbeiten und in den Anliegen, mit denen sich die Volksvertreter befassten.149 Statt mit Gesetzesvorlagen beschäftigten sie sich nun überwiegend mit Interpellationen, Misstrauensanträgen oder Initiativen, die Maßnahmen und Entscheidungen verhindern oder aufheben sollten.150 Daneben verloren die Parlamentarier zusehends ihre gemeinsame Sprache, das Bindeglied, das in den 1920er Jahren maßgeblich geholfen hatte, trotz inhaltlicher Divergenzen halbwegs funktionierende parlamentarische Abläufe sicherzustellen.151 Der Verlust der Kommunikationsbasis gipfelte in offener körperlicher Gewalt, die zwar nicht zu Schlägereien im Plenarsaal, aber im Mai 1932 immerhin zu einem gewalttätigen Übergriff in einem Restaurant des Reichstags führte. Vier NSDAP-Abgeordnete schlugen auf den SPD -Abge145 Vgl.: Winkler, Weg nach Westen. Bd. 1, S. 516–519; Wehler, Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4, S. 531 f. 146 Vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4, S. 533 f. 147 Zahlen entnommen aus Mergel, Parlamentarische Kultur, S. 223, Tab. 10. Im Detail sind die Zahlen mit einer gewissen Vorsicht zu genießen. Mergel hat (in der hier zitierten, dritten und überarbeiteten Auflage seiner Studie) genau diese Daten nach entsprechender Kritik aktualisiert. Andere Autoren, z. B. Wehler, Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4, S. 519, Übersicht 136, gelangen zu leicht (!) abweichenden Angaben; die Grundtendenz und damit die Aussage ändert sich dadurch allerdings nicht. Für mögliche Ursachen differierender Angaben bei unterschiedlichen Autoren siehe Mergel, Parlamentarische Kultur, S. 223, Anm. 22. 148 Vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4, S. 519. 149 Mergel, Parlamentarische Kultur, S. 466 f. 150 Vgl. ebd., S. 466. 151 Vgl. ebd., S. 450–460.
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ordneten Helmuth Klotz ein.152 Schon seit 1930 hatte sich ein merklicher Verlust parlamentarischer Sitten und Tugenden abgezeichnet. Die Arbeitsabläufe des Reichstags wurden durch eine immer häufigere Thematisierung von Verfahrensfragen gestört, Zwischenrufe und unparlamentarische Äußerungen nahmen zu, eigentlich überparteilich auszuführende Ämter wurden in parteipolitische Auseinandersetzungen hineingezogen.153 Maßgeblich ging diese Pathogenese parlamentarischer Gepflogenheiten auf das Konto der radikalen Flügelparteien KPD und NSDAP sowie der sich radikalisierenden DNVP.154 Gravierender noch als die Schärfe der Konfrontation im Parlament war die Zunahme offener politischer Gewalt auf der Straße. Politische Gewalt hatte es in der Weimarer Republik immer gegeben, nicht nur in ihren teils bürgerkriegshaften Anfangsmomenten zwischen 1919 und 1921.155 Doch in den 1920er Jahren war sie zumeist eine latente Erscheinung geblieben, eine symbolisch aufgeladene Auseinandersetzung. Sie zeigte sich in Wort, Bild und Schrift, teils auch in Straßenkämpfen, nicht zuletzt im Aufeinandertreffen der verschiedenen Wehrverbände, deren bekannteste Beispiele die nationalsozialistische SA und der ebenso rechtskonservativ-nationalistische »Stahlhelm« darstellten.156 Die »Gewalteskalation der letzten Weimarer Jahre« war, wie Dirk Schumann in seiner umfassenden Studie zur politischen Gewalt in Weimar herausstellt, mithin »schon in den vermeintlich ruhigen mittleren Jahren angelegt«.157 Dennoch blieb es »bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise nicht prognostizierbar, ob [die Gewalt] weiter eskalieren oder wieder zurückgehen würde.«158 Dann jedoch gewann sie unter »den neuen Krisenbedingungen an Dynamik« respektive eine neue, brutale Qualität.159 Diese drückte sich insbesondere im zunehmenden Gebrauch von Handfeuerwaffen aus. Der stets brüchige, zu keinem Zeitpunkt wirklich stabile republikanische Grundkonsens fand nun deutlichst sichtbar sein Ende. Der Wahlkampf im Vorfeld der Reichstagswahl 1930 war durch Gewaltexzesse gekennzeichnet, die sich zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten abspielten. Durch Schussverletzungen und Messerstechereien starben auf beiden Seiten mehrere Menschen.160 Noch weitaus blutiger verlief der Sommer 1932. In den Wahlkampfmonaten Juni und Juli kamen (mindestens) 95 Menschen ums Leben, etliche weitere wurden schwer verletzt.161 Mit dem 152 Vgl. ebd., S. 464. 153 Vgl. ebd., S. 428–449. 154 Vgl. ebd., S. 437. 155 Vgl. Schumann, Politische Gewalt, S. 359. 156 Vgl. ebd., S. 359–366. 157 Ebd., S. 366. 158 Ebd., S. 359. 159 Ebd., S. 366. 160 Vgl. Winkler, Geschichte der ersten deutschen Demokratie, S. 388. 161 Vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4, S. 531.
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›Altonaer Blutsonntag‹ ereignete sich am 17. Juli jenes folgenschwere Ereignis, das der Reichsregierung als Vorwand für die Absetzung der preußischen Regierung diente. Im Anschluss an den Wahlkampf eskalierte die Gewalt weiter, als es Anfang August in Potempa, einem Ort im Landkreis Gleiwitz in Oberschlesien, zu einem ausnehmend brutalen Mord an einem KPD -Anhänger kam. Die Täter, fünf Nationalsozialisten, wurden gemäß einer neuen Notverordnung gegen politischen Terror eilends zum Tod verurteilt, was öffentliche Empörung und Solidaritätsadressen seitens Hitlers und der NSDAP auslöste. Vermutlich um eine weitere Verschärfung des politischen Kampfes zu vermeiden, wurde das Urteil vor seiner Vollstreckung zügig in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt.162 Auch wenn es im Sommer 1932 nicht zu einem umfassenden Bürgerkrieg kam, sondern eher zu einer Eskalation politischen Terrors, fand der Begriff doch Verwendung – zeitgenössisch genauso wie später in der Historiografie.163 Die hier umrissene, umfassende Krise als Untergangsperiode der Republik ist das fest etablierte Grundnarrativ der Darstellungen zur Weimarer Schlussphase. Weil es sich um ein fatal wirkendes Konglomerat von Untergangsfaktoren handelte, wird keinem Prozess allein die entscheidende Verantwortung zugeschrieben. Das komplementär ergänzende Motiv zum fortschreitenden Verfallsprozess der Republik findet sich bei der Darstellung der Akteure und Akteurskon stellationen. Letzteres meint vorwiegend die Existenz und Stärke der politischen Ränder. In politisch struktureller Perspektive urteilt Hans-Ulrich Wehler, das demokratische Weimar sei am »Zangenangriff« von »linkstotalitäre[m] Kommunismus und […] rechtstotalitäre[m] Nationalsozialismus« zugrunde gegangen.164 Stärker anhand ihres (anti-)parlamentarischen Verhaltens argumentierend, konstatierte schon Karl Dietrich Bracher, dass sich der »Zustand absoluter Aktionsunfähigkeit der Demokratie […] aus dem Aufstieg radikal antidemokratischer Gruppen zur Linken und zur Rechten des Parteienfelds« ergab.165 Zusätzlich zu diesen politisch-radikalen und ideologisch-extremen Parteigruppierungen erscheinen immer wieder kleinere Interessengruppen als wirkmächtige Akteure, für die das beginnende und fortschreitende Krisenszenario eine willkommene Gelegenheit zur Durchsetzung eigener Ziele und Absichten bot. Neben der Krise als Prozess und permanentem Hintergrund des Schlusskapitels der Weimarer Geschichte bietet die Historiografie so auch das Motiv der ›Krise als Gelegenheit‹. Im Verlauf des Jahres 1929 wuchs bei zwei politischen Einfluss- und Interessengruppen der Wunsch nach einem radikalen politischen Kurswechsel. Politisch und ökonomisch konservative Kreise, repräsentiert unter 162 Vgl. Winkler, Weg nach Westen. Bd. 1, S. 516 f., 519. 163 Vgl. Blasius, Weimars Ende, S. 60–88. 164 Wehler, Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4, S. 534. 165 Bracher, Auflösung der Weimarer Republik, S. 87.
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anderem vom Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI) sowie der DVP und der DNVP, strebten an, die SPD von der Macht zu verdrängen und den ›Gewerk schaftsstaat‹ einzudämmen. Programmatisch plädierte der RDI in seinem »Aufstieg oder Niedergang?«166 betitelten Aufruf dafür, zu einem neuen Einklang von ökonomischer Potenz und Sozialleistungen zu kommen, diese also zu kürzen. Ferner sollten der Haushalt durch Ausgabenminderung konsolidiert und Steuern gesenkt werden.167 Einer zweiten Interessengruppe von rechtskonservativen, vorwiegend ostpreußischen Großagrariern, die Reichspräsident Hindenburg umgarnten, ging es einerseits um weitere Hilfen für die notorisch krisengeschüttelte Landwirtschaft, andererseits ebenfalls darum, perspektivisch »ohne und gegen die Sozialdemokratie zu regieren«.168 Bereits 1929 entstanden im Umfeld Hindenburgs, der erheblich von Reichswehrminister Groener und dessen engem Mitarbeiter Kurt von Schleicher beeinflusst wurde, Pläne für eine Rechts-Regierung. Sowohl im Kreis der Großagrarier als auch bei Vertretern der Schwerindustrie beinhalteten die Pläne die Option, diese neue Regierung als Präsidialkabinett unabhängig vom direkten Einfluss des Parlaments zu installieren und das System der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie wenigstens zeitweilig zu überwinden.169 Wichtigster, zunächst abzuwartender Faktor blieb die Verabschiedung des Young-Plans. Nachdem dieser im Januar 1930 auf der abschließenden Regierungskonferenz in Den Haag unterzeichnet worden war und Anfang März den Reichstag erfolgreich passiert hatte, schien die Situation günstig, die Pläne umzusetzen.170 Der verabschiedete Reparationsvertrag, die sich verschlechternde Konjunktur- und Arbeitsmarktlage, die eine abermalige Neujustierung der Ausgaben und Einnahmen der Arbeitslosenversicherung erforderte, der koalitionsinterne Konflikt um ein ›Notopfer der Festbesoldeten‹, das die SPD zur Haushaltssanierung forderte, und die anhaltende Notlage der Landwirtschaft schufen mithin im März 1930 eine geeignete Ausgangslage zur Umsetzung der seit längerem zirkulierenden Überlegungen. Der Streit zwischen SPD und DVP, der oftmals auf die Frage der Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zugespitzt wird, war nur der Anlass, nicht die Ursache für den Koalitionsbruch. 166 [RDI], Aufstieg oder Niedergang? 167 Vgl. Winkler, Geschichte der ersten deutschen Demokratie, S. 362. Zur Rolle des RDI in und am Ende der Weimarer Republik siehe ferner ausführlich Plumpe, Der Reichsverband der Deutschen Industrie; zur genannten Denkschrift und detailliert zu ihren Inhalten siehe ebd., S. 150–154, bes. S. 151 f. 168 Winkler, Geschichte der ersten deutschen Demokratie, S. 362 f., Zitat S. 363. 169 Vgl.: Ebd., S. 362–364; Herbert, Geschichte Deutschlands, S. 259–262. Zur Entwicklung und Konkretisierung der entsprechenden Pläne im Umkreis von (Schwer-)Industrie / R DI und DVP siehe Weisbrod, Schwerindustrie in der Weimarer Republik, S. 467–475. 170 Vgl. Büttner, Die überforderte Republik, S. 391–395.
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Die Schilderungen und Interpretationen von Brünings Handeln in der Phase seiner Kanzlerschaft stellen ein zweites, noch deutlicheres Beispiel dafür dar, wie die Krise instrumentalisiert wurde, um grundlegende und längerfristige politische Vorhaben zu verfolgen. Spricht Ulrich Herbert mit Blick auf Brünings Amtsantritt noch davon, Ziel sei zu diesem Zeitpunkt gewesen, »die wirtschaftliche und finanzielle Sanierung des Staates ohne Rücksicht auf Parteien und Länder durchführen zu können«,171 attestiert er Brüning schon für die Zeit nach den Wahlen vom September 1930 ein anderes Motiv. Nun sei es Brüning zuvorderst um eine vollständige Überwindung der Reparationsverpflichtungen gegangen. Er habe die »wirtschaftlich katastrophale Lage […] nicht vorrangig bekämpfen, sondern nutzen [wollen], um mithilfe einer rigorosen Spar- und Deflationspolitik die Staatsfinanzen zu sanieren und den Siegermächten die offenbare Zahlungsunfähigkeit des Reiches und die Unerfüllbarkeit ihrer Forderungen vor Augen zu führen.«172 Eine derart eindeutige Interpretation teilen nicht alle Historiker. Philipp Heyde argumentierte, dass Brünings Regierung zwar konzeptionell auf eine Revision des Young-Plans hinarbeitete, aber erst ab 1931 zum Ziel einer vollständigen Reparationsüberwindung übergegangen sei.173 Konträr dazu legte eine biografische Studie hingegen nahe, dass Brüning schon in der Schlussphase der Großen Koalition das Ziel eines Reparationsendes ins Auge gefasst habe.174 Letztlich steht der Mainstream des Fachs näher bei Herbert. So urteilt Hans-Ulrich Wehler ganz ähnlich, Brüning habe die Wirtschafts- und Finanzkrise als Basis zur Legitimierung seiner radikalen Kürzungspolitik genutzt, um so »das Ende der Reparationen [als] das geradezu mit Besessenheit verfolgte Hauptziel« seiner Politik zu erreichen.175 Auf dieser Grundlage und unter Ausnutzen der zeitweise starken Stellung der Regierung angesichts der gleichzeitigen Parlaments- und Staatskrise habe Brüning – so Wehler, aber auch Winkler und Peukert – erstrebt, ein zweites fundamentales Ansinnen zu erreichen: die vollständige Überwindung des Versailler Vertrages und perspektivisch die Etablierung einer deutschen Vormachtstellung in Europa.176 Mit seinem unbeirrten und unverbesserlichen Festhalten an diesen Zielen und der ihnen zugrunde gelegten Politik provozierte der Kanzler die Verschärfung der Krise, die es ab dem Sommer 1932 den Nationalsozialisten in immer kürzer werdenden Abständen ermöglichen sollte, diese für ihre Absichten zu nutzen, d. h. ihren Einfluss zu steigern und schließlich die Regierung zu übernehmen. 171 Herbert, Geschichte Deutschlands, S. 284 f. 172 Ebd., S. 287. 173 Vgl. Heyde, Das Ende der Reparationen, S. 463–469. 174 Vgl. Hömig, Kanzler in der Krise, S. 142. 175 Wehler, Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4, S. 520. 176 Vgl.: Ebd., S. 516; Winkler, Geschichte der ersten deutschen Demokratie, S. 376; Peukert, Krisenjahre der klassischen Moderne, S. 254 f.
SPRACHE DER KRISE
III. Verzögert und beschleunigt: Wirtschaftskrise zwischen ›Ultimokrise‹ und ›Umschwung‹
Wie gezeigt, verortet die wirtschaftsgeschichtliche Forschung den akuten Beginn der Weltwirtschaftskrise im Jahr 1929, betont aber zugleich, dass der Börsencrash an der Wallstreet keine unmittelbar krisenauslösende Wirkung in Deutschland hatte.1 Die historisch-semantische Perspektive stützt, präzisiert und verstärkt diese These. In politischen Debatten zur und Deutungen der wirtschaftlichen Lage spielten die Entwicklungen jenseits des Atlantiks und ihre Konsequenzen im Herbst 1929 nur eine untergeordnete Rolle. Der Umkehrschluss, die ökonomische Situation sei als unproblematisch interpretiert worden und Krisensemantiken seien überhaupt nicht aufgetreten, wäre hingegen falsch. Weithin geteilte Deutungen einer größeren ›Wirtschaftskrise‹ fanden jedoch erst im Verlauf der ersten Jahreshälfte 1930 Verbreitung und hielten sich fortan bis zum Ende des Untersuchungszeitraums Anfang 1933. Dieses und die beiden anschließenden Kapitel untersuchen den Krisendiskurs im Detail. Zunächst wird seine etappenweise Entwicklung nachgezeichnet (III.1–III.3). Beginnend mit den verschiedenen Krisendeutungen seit dem Spätherbst 1929 wird gezeigt, wie sich die Diagnose einer ›Weltwirtschaftskrise‹ im Frühjahr 1930 sukzessive etablierte, ab dem Sommer 1930 verstetigte und in welchen Verwendungsweisen sie jenen politischen Gebrauchswert erlangte, den sie fortan bis 1933 behielt. Unabhängig von den verschiedenen Sprachmustern, die die jeweiligen Krisenphasen kennzeichneten, baute der Krisendiskurs auf einer Reihe tragender Begriffe und Referenzen auf. Sie sind Gegenstand des vierten Kapitels. Das letzte Kapitel (V) fragt zunächst in einer enger parteipolitisch gefassten Sicht, wie sich die einzelnen Elemente des Krisendiskurses in Grundnarrativen der poli tischen Auseinandersetzung wiederfanden. Noch plastischer und kondensierter als zuvor wird die Scheidelinie zwischen den Narrativen der weit gefassten poli1 Vgl. z. B. Spoerer / Streb, Neue deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 83.
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tischen ›Mitte‹ (ein zugegebenermaßen problematischer Begriff) und den krass republikfeindlich gesinnten rechten und linken Extremen des politischen Spektrums aufgezeigt. Anschließend lotet es aus, welche Relevanz der (Wirtschafts-) Systemfrage für diese Narrative und für Wendepunkte im Krisendiskurs zukam, bevor es sich der Frage widmet, in welchem Maße und auf welche Weise die Krise als nationales, transnationales oder weltweites Phänomen sprachlich konstruiert wurde. Sämtliche Betrachtungen in dieser Fallstudie enden mit der ›Machtergreifung‹ der Nationalsozialisten. Mithin orientiert sich das Untersuchungsende – anders als bei den beiden folgenden Fallstudien – nicht an semantischen Befunden, sondern an einer politischen Zäsur. Mit dem Amtsantritt Hitlers änderten sich die medialen und politisch-institutionellen Grundbedingungen des öffentlichen Sprachgebrauchs abrupt und fundamental. Unmittelbar begann die Phase der nationalsozialistischen ›Presselenkung‹2, der sich kein mediales Organ entziehen konnte, auch wenn sich die Ausmaße der Einflussnahme deutlich unterschieden.3 Während kommunistische Zeitungen sofort und sozialdemokratische Presseorgane im Verlauf des Frühjahrs 1933 verboten wurden und die Presse- und Meinungsfreiheit durch die Verordnung »Zum Schutz von Volk und Staat« am 28.02.1933 ihr Ende fand, konnten bürgerliche Zeitungen fortbestehen.4 Die Vossische Zeitung hingegen, wichtige Quelle der vorliegenden Arbeit, stellte 1934 ihr Erscheinen ein.5 Von einer unabhängigen Berichterstattung, die nicht durch das Regime beeinflusst wurde, konnte allerdings bei keinem Presseorgan mehr die Rede sein. Eine semantische Analyse über den Einschnitt von 1933 hinaus wäre gleichwohl spannend; allerdings würde es sich um einen Beitrag zur sprachgeschichtlichen Diktaturforschung handeln. Für die Frage, wie in pluralistischen Öffentlichkeiten politische Deutungsmuster wie das einer ›Wirtschaftskrise‹ etabliert und verändert werden, bedeutet die Zäsur von 1933 eine nicht ignorierbare Veränderung.
1. Finanziell prekär und latent rezessiv: Deutungen zum Jahreswechsel 1929/30 Als herausragend und aufregend schildern auf Prägnanz getrimmte Darstellungen den 24. und 25. Oktober 1929, den großen Crash in New York. Beinahe als pars pro toto – Element einer größeren Entwicklung – und tendenziell unaufge2 Begriffsprägend: Abel, Presselenkung. 3 Vgl. Zimmermann, Medien im Nationalsozialismus, S. 85–90. 4 Vgl. Frei / Schmitz, Journalismus im Dritten Reich, S. 14 f., 22–25. 5 Vgl. Bosch, Liberale Presse in der Krise, S. 5.
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Wirtschaftskrise zwischen ›Ultimokrise‹ und ›Umschwung‹
regt las sich hingegen die zeitgenössische Berichterstattung.6 Von einer ›Börsenkrise‹ war durchaus die Rede, allerdings nicht erst nach den Ereignissen an der Wallstreet und nicht nur bezogen auf diese. Die Berichterstattung der Vossischen Zeitung machte schon zuvor um sich greifende Verlusttendenzen an verschiedenen Börsenplätzen aus, vor allem in London und Paris. Auch die Wirtschaftsentwicklung in Deutschland war längst zum Objekt kritischer Einschätzungen geworden. Bereits am 25. Oktober schrieb die gleiche Zeitung, die zuletzt stetig wachsende Zahl an »Insolvenzen und Schwierigkeiten, teilweise bedeutender Firmen, [hätte] in den letzten beiden Tagen einen unerfreulichen Zuwachs erfahren«; dabei sei die »nicht auf Deutschland beschränkte, sondern internationale Entwicklung […] zum größten Teil von den Börsenereignissen ausgelöst worden.«7 In seiner Einschätzung der »gegenwärtige[n] Wirtschaftslage« diagnostizierte der Hamburger Volkswirt Carl Krämer im Wirtschaftsdienst, »[d]ie permanente Börsenkrise, die zahlreichen Insolvenzen und Zusammenbrüche der letzten Zeit [seien] nur ein Symptom des allgemeinen Wirtschaftszustandes und der psychologischen Voraussetzungen des gegenwärtigen Wirtschaftens.«8 Gleichwohl löste der Börsencrash ebenso optimistische Einschätzungen mit Blick auf seine realwirtschaftlichen Folgen aus. Denn die als Reaktion auf den New Yorker Kollaps von mehreren nationalen Notenbanken veranlassten Diskontsatzsenkungen wurden als Mittel zur Investitionsanregung begrüßt, auch mit Blick auf Deutschland, wo die Reichsbank den Diskontsatz um einen halben Prozentpunkt auf 7 % senkte.9 Der Ende Oktober und Anfang November vorherrschende Sprachgebrauch lässt sich auf drei Muster verdichten: die Topoi der ›notwendigen Reinigung‹ und ›Börsenbereinigung‹, der ›zurückgehenden Konjunktur‹ und der ›internationalen Verflechtung‹. Alle drei verweisen auf prinzipielle Merkmale der zeitgenössischen öffentlichen Interpretationen der Wirtschaftslage: Erstens auf das Abrufen einer Metapher (Krise als ›Reinigung‹), die auf Vertrauen in ein sich selbst korrigierendes (Kapital-)Marktgeschehen hinwies, sich im Einklang mit einem liberalen Ökonomieverständnis befand und ein politisches Eingreifen nicht erforderte.10 Zweitens auf einen zwar zuvorderst auf die deutsche Wirtschaftslage 6 Zu ganz ähnlichen Beobachtungen gelangt auch Hardach, Wirtschaft im Umbruch, S. 24. 7 Opfer der Finanzkrise, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 3. Beilage zu Nr. 255, 25.10.1929, [S. 3]. 8 Carl Krämer, Die Motive der Finanzreform, in: Wirtschaftsdienst 14 (1929), H. 43, 01.11.1929, S. 1889–1891, hier S. 1889. 9 Siehe: Reichsbank-Diskont um ½ Prozent ermäßigt. Schacht vor dem Zentralausschuß, in: B. Z. am Mittag, Nr. 300, 02.11.1929, S. 1 f.; Hans Buschmann, Billigeres Geld für die Wirtschaft, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 3. Beilage zu Nr. 263, 03.11.1929, [S. 1]. 10 Dazu auch Kap. IV.4.
Finanziell prekär und latent rezessiv
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konzentrierten Blick, der aber zugleich – und drittens – volkswirtschaftsübergreifende Grundtendenzen der Konjunkturentwicklung und die direkte gegenseitige Beeinflussung der Kapitalmärkte akzentuierte. Um einzelne Begriffe kreisten die Interpretationen kaum; das heute geläufige Label des ›schwarzen (Donners-)Tags‹ war zu finden, trat aber nur kursorisch, nicht verbreitet auf.11 Die ausgemachte Parallelität der Kapitalmarktbewegungen besonders in New York und London, das Verständnis des Prozesses als erforderliche und be grüßenswerte Bereinigung und das Ausbleiben absturzartiger Kursbewegungen an der Berliner Börse führten zu der erwähnten Unaufgeregtheit in der Berichterstattung.12 Ohnehin wandte sie sich nach wenigen Tagen wieder anderen Themen zu, sodass sich Zeitungsleser Mitte November kaum mit befürchteten Folgewirkungen der Ereignisse vom Oktober konfrontiert sahen. Zudem resultierte die Unaufgeregtheit mutmaßlich genauso aus der Tatsache, dass die Börsenreaktionen erklärlich, zu einem gewissen Grad erwartbar erschienen. Vor allem der nach einem aufgeflogenen Betrugsversuch im großen Stil unvermeidbar gewordene Konkurs der britischen Hatry-Gruppe, eines mehrspartigen Firmenimperiums, das insbesondere in der Fotoindustrie, im Spielautomatengeschäft und Kleinkreditgewerbe agierte,13 provozierte Einschätzungen einer überfälligen Angleichung von realwirtschaftlicher Lage vieler Unternehmen und veranschlagter Börsenwerte. Das Urteil der Vossischen Zeitung war überdeutlich: »Seit über zwei Jahren sind am Londoner Platze für viele Millionen Pfund Aktien emittiert worden von Gesellschaften, die in vielen Fällen keinerlei Existenzberechtigung gehabt haben. Es waren vorwiegend Grammophon-, Radio- und Windhundrenn-Unternehmungen, die gegründet und deren Aktien blindlings vom Publikum aufgegriffen wurden. […] Mit dem Zusammenbruch von Hatry […] ist die lange fällig gewesene Krise über die Börse hereingebrochen.«14
Weiter hieß es, die »Vorgänge, die das Kursniveau der Londoner Börse auch ohne die Paralleltendenz in New York gedrückt hatten«, hätten »die geplante Säuberung des Londoner Kurszettels« unaufschiebbar notwendig gemacht.15 Jetzt aber sei Grund für Optimismus gegeben. Denn die »Londoner Börse [werde] einer neuen Entwicklung entgegengehen«, und »in Zukunft [werde es] schwer sein, 11 Siehe z. B. Nach dem schwarzen Tag. Beruhigungsversuche in Wallstreet, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 4. Beilage zu Nr. 256, 26.10.1929, [S. 2]. 12 Siehe z. B. Berliner Fondsbörse. New York bleibt ohne Einfluß, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 4. Beilage zu Nr. 256, 26.10.1929, [S. 2]. 13 Vgl. Kindleberger, Weltwirtschaftskrise, S. 146 f. 14 Reinigung der Börse, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 4. Beilage zu Nr. 254, 24.10.1929, S. 1. Hervorhebung im Original. 15 Ebd.
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Wirtschaftskrise zwischen ›Ultimokrise‹ und ›Umschwung‹
Emissionen von irgendwie zweifelhaften Gründungen zu placieren«.16 Diese vor dem New Yorker Crash formulierte Sicht gab für diesen durchaus einen Interpretationsrahmen vor, wenn die gleiche Zeitung die Frage aufwarf, »inwieweit der Kurszusammenbruch an der New Yorker Börse reinigend gewirkt hat und infolgedessen endgültig war«.17 Dass die Börsenturbulenzen noch nicht ausgestanden seien, konstatierte Redakteur Hans Buschmann nur einen Tag später. In einem Kommentar erklärte er, »[b]ei der engen Verkettung der internationalen Finanzwelt« werde die Börsenentwicklung weitere Länder erfassen, die Weltwirtschaft befinde sich »mitten in einer Finanzkrise größten Stils.«18 Allein der Wert deutscher Aktien sei binnen eines Monats um ungefähr eine Milliarde R-Mark zurückgegangen.19 Gleichwohl dürfe die Entwicklung, die sich primär auf das Bank-, Handels- und Versicherungswesen, mutmaßlich auch künftig weniger auf die Realwirtschaft beziehen werde, nicht aufgehalten werden.20 Er mahnte, die »Krise [sei] furchtbar, aber notwendig, um die Grundlage für eine gesunde Zukunftsentwicklung zu schaffen«; es wäre »falsch, würde man […] diese Reinigungskrise mit unzulänglichen Hilfsmitteln aufzuhalten suchen«.21 Obwohl sie in den Tagen um den Monatswechsel kurzzeitig eine bemerkenswerte Verwendungsfrequenz erfahren hatten, entwickelte sich weder die ›Börsen-‹ noch die ›Finanzkrise‹ in den Folgewochen zum bestimmenden Interpretament im öffentlichen Sprachgebrauch. Medial aufgegriffen wurden die Konsequenzen der Wallstreet-Verwerfungen im Verlauf des Novembers nur im Zusammenhang mit der von US -Präsident Hoover angekündigten Stützungsinitiative für die amerikanische Wirtschaft. Hoover präsentierte Überlegungen, die Auswirkungen des Börsencrashs auf die Realwirtschaft unter anderem durch die Vergabe von Aufträgen zum Infrastrukturausbau zu begrenzen.22
Der zweite Peak situativer Krisendeutungen – der ›Notruf‹, Schacht und das Sofortprogramm Daraus ist allerdings ganz und gar nicht zu schließen, dass der Jahreswechsel 1929/1930 frei von Krisendeutungen gewesen sei. Bloß etablierten sie zu diesem 16 Ebd. 17 Geldflucht aus New York, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 4. Beilage zu Nr. 256, 26.10.1929, [S. 1]. 18 Hans Buschmann, Reinigungs-Krise, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 3. Beilage zu Nr. 257, 27.10.1929, [S. 1]. 19 Vgl. ebd. 20 Vgl. ebd. 21 Ebd. 22 Vgl. [Folgen des New-Yorker Börsenkrachs] Ueberraschendes Eingreifen Hoovers. Ohne Beispiel in Amerikas Geschichte, in: B. Z. am Mittag, Nr. 314, 16.11.1929, S. 1.
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Zeitpunkt noch nicht die Interpretation einer umfassenden Wirtschaftskrise, erst recht nicht das Bild eines global wirkenden Krisenereignisses. Eher handelte es sich um ein Krisendeutungsmosaik, ein inkohärentes, aus verschiedenen Elementen bestehendes Krisenbild. Kurz: Erzeugt wurde das Bild verschiedener sektoraler Krisen, nicht einer umfassenden Krise. Es prägte den politischen Sprachgebrauch nicht in einer dominanten Weise, war latent aber stets vorhanden und daher jederzeit abrufbar. Zum Ausdruck kam es in den Redemustern vom ›anhaltenden Konjunkturabschwung‹ und der ›Über(-be-)lastung der Wirtschaft‹, das auch als direkte Forderung in den Topos der ›notwendigen Entlastung der Wirtschaft‹ gekleidet wurde. Letzteres verweist auf die pragmatische Nutzbarkeit der Aussagen. Dazu passt, dass im Umfeld der drei Reichstagssitzungen vom 12. bis 14. Dezember, in denen das Parlament über das Sofortprogramm der Regierung zur Entlastung von Haushalt und Arbeitslosenversicherung beriet und entschied, die Anzahl von Äußerungen zur Finanz- und Wirtschaftslage deutlich zunahm. Schon in der zweiten Novemberhälfte hatte sich die Wirtschaft in Gestalt der Kölner Industrie- und Handelskammer mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit gewandt. In der als »Notruf« überschriebenen Stellungnahme argumentierte sie, die deutsche Wirtschaft lebe »von der Substanz«, da sie an einer zu hohen Abgabenlast leide, vor allem zu hohen direkten Steuern; perspektivisch müsse dies die gesamte deutsche Volkswirtschaft in den »Ruin« führen.23 Notwendig sei daher eine Entlastung der Wirtschaft, bei der gleichzeitig die Finanzlage des Reiches durch eine Erhöhung der indirekten Steuern, insbesondere auf Alkohol und Tabak, stabilisiert werde.24 Hier trafen sich die Forderungen mit wichtigen Bestandteilen des Sofortprogramms der Großen Koalition. Die Stellungnahme passte sich in die Grundaussage ein, die der RDI in seiner Denkschrift »Aufstieg oder Niedergang? Deutsche Wirtschafts- und Finanzreform 1929« formulierte – und durch verschiedene Einzelaufrufe verbreitete.25 In der umfangreichen Denkschrift forderte er unter anderem eine »wesentliche Senkung der öffentlichen Ausgaben und Steuern« und plädierte dafür, der Staat solle seine Finanzmittel »stärker als bisher […] durch indirekte Besteuerung« erheben.26 Eine Gelegenheit, diesen Forderungen Nachdruck zu verleihen, nahm der stellvertretende Verbandsvorsitzende Paul Silverberg unmittelbar vor den Reichstagssitzungen bei einem außerordentlichen Verbandstreffen des RDI wahr. Dort mahnte er abermals, die Besteuerung müsse so verändert werden, dass sie die 23 Notruf der Wirtschaft. Ein Appell der Kölner Industrie- und Handelskammer, in: Vossische Zeitung, Nr. 277, 20.11.1929, o. S. 24 Vgl. ebd. 25 [RDI], Aufstieg oder Niedergang? 26 Ebd., S. 13.
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Kapitalbildung in den Unternehmen erleichtere, wenn nötig unter Inkaufnahme verschlechterter Konsummöglichkeiten als Folge höherer indirekter Steuern.27 Nicht nur die inhaltliche Stoßrichtung des Regierungsprogramms, auch dessen Begründung im Reichstag zeigte, wie erfolgreich die Sichtweise sich verbreitet hatte. Reichskanzler Müller erklärte, seine Regierung verfolge das Ziel, »der notleidenden deutschen Wirtschaft die notwendigen neuen und starken Impulse zu geben«, und die »Reform soll[e] vor allem die erforderliche Kapitalneubildung fördern.«28 Das konkrete Bild der überlasteten Wirtschaft ließ sich zielgerichtet einsetzen, um zu unterstreichen, wie dringlich die Verabschiedung des Regierungsprogramms sei. Auch weniger spezifische Aussagen erzeugten den Eindruck eines wirtschaftlichen Abschwungs und entsprechenden Handlungsdrucks. Das Sprachmuster des ›anhaltenden Konjunkturabschwungs‹ konnte in verschiedenen Texten en passant erscheinen und rief das Grundmotiv einer rezessiven Entwicklung hervor. Die Rede war vom »gegenwärtigen Konjunktur abschwung«,29 von einem »konjunkturellen Rückgang[ ], den gewisse Wirtschaftskurven anzeigen«,30 oder einer »Verschlechterung der Wirtschaftskonjunktur«.31 Die beiden letzteren Formulierungen – einem Artikel im Wirtschaftsdienst und einer Rede des SPD -Fraktionsvorsitzenden Rudolf Breitscheid entnommen – waren unmittelbar mit Ursachenanalysen oder Vorschlägen verbunden. Carl Krämer machte im Wirtschaftsdienst eine »der sehr seltenen Krisen der Überkonsumtion« aus, die auf eine falsche Festsetzung von Löhnen und Steuern zurückzuführen sei und in der Wirtschaft zu einem »potenzierten Kapitalman gel[ ]« geführt habe.32 Breitscheid argumentierte, der Konjunkturrückgang habe zu einem Rückgang der Staatseinnahmen geführt und so die Haushaltslage verschärft. Deshalb seien die Verabschiedung des Sofortprogramms und eine umfassende Finanzreform nun dringlich.33 Genauer: Die Verbesserung der Haushaltslage sei Voraussetzung für die Finanzreform, genauso die Verabschiedung des Young-Plans Voraussetzung für eine Steuerreform, die wiederum für die dauerhafte Stabilisierung der deutschen Wirtschaft unabdingbar sei.34 Dieser skizzierte Entscheidungs-Wirkungs-Zusammenhang fasste prägnant die prinzi27 Vgl. S. O. S.-Ruf der Wirtschaft. Sondertagung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, in: B. Z. am Mittag, Nr. 339, 12.12.1929, S. 1 f. 28 Hermann Müller, Deutscher Reichstag [nachfolgend nur: Reichstag], 4. WP, 114. Sitzung, 12.12.1929, S. 3539 A. 29 Für zielbewußte Konjunkturpolitik, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 285, 29.11.1929, o. S. 30 Carl Krämer, Die deutsche Wirtschaft im Jahre 1929, in: Wirtschaftsdienst 15 (1930), H. 1, 03.01.1930, S. 1–5, hier S. 2. 31 Rudolf Breitscheid, Reichstag, 4. WP, 115. Sitzung, 13.12.1929, S. 3561 B. 32 Krämer, Wirtschaft im Jahre 1929, in: Wirtschaftsdienst, 03.01.1930, S. 2. 33 Vgl. Breitscheid, Reichstag, 4. WP, 115. Sitzung, 13.12.1929, S. 3561 B – 3561 C. 34 Vgl. ebd.
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pielle Argumentation der Regierung zusammen. Ähnlich hatte zuvor der Fraktionsvorsitzende des Zentrums, Heinrich Brüning, argumentiert: »Die Zentrumsfraktion des Reichstags hat […] wiederholt die Forderung aufgestellt, daß die Regierung unverzüglich an das Werk der Kassen-Sanierung und der Finanzreform herangehen müsse. […] Es ist selbstverständlich, daß mit der endgültigen Kassen-Sanierung Hand in Hand eine Steuerreform größten Umfanges zu gehen hat, bei der umgekehrt die Möglichkeit der Annahme des Young-Planes in den Kreis der Betrachtungen gezogen werden kann. […] Die Lage der Wirtschaft […] ist unter den augenblicklichen Steuerlasten so bedenklich geworden, daß eine großzügige Reform des bestehenden Steuersystems notwendig ist. Die hohe steuerliche Belastung führt zu einer schleichenden Krise in der Gesamtwirtschaft […].«35
Für die Analyse interessant ist Brünings Debattenbeitrag nicht nur aufgrund seiner inhaltlichen Stoßrichtung. Die Verwendung des Krisenbegriffs verwies auf ein weiteres Merkmal der Diskussionen im Dezember 1929. Zum einen passte sich die Feststellung »einer schleichenden Krise in der Gesamtwirtschaft« in die Diagnose einer latent rezessiven Entwicklung ein. Zum anderen verweist der Beitrag darauf, dass ›Krise‹ (überhaupt) ein möglicher Terminus war, um die Situation begrifflich zu fixieren. Wie um den Monatswechsel Oktober / November nahm auch zwischen Anfang und Mitte Dezember die Zahl von Krisendeutungen signifikant zu. Allerdings stach kein bestimmtes Krisenkompositum hervor. Von einer ›Wirtschaftskrise‹ zu sprechen, war nur eine Möglichkeit.36 Stärker mit expliziten Krisensemantiken behaftet war die Auseinandersetzung zwischen der Regierung und Reichsbankpräsident Schacht nach der Veröffentlichung seines Memorandums. In dem Memorandum vom 5. Dezember, das angesichts der gezielten Freigabe für die Presse am Folgetag fraglos einem offenen Affront gegen die SPD -geführte Regierung gleichkam, hatte sich Schacht von seiner Mitverantwortung für den Young-Plan distanziert.37 Er kritisierte zunächst, dass inzwischen von Gläubiger-Seite eine Reihe zusätzlicher Ansprüche an Deutschland gestellt würde, die nicht durch den Wortlaut des Young-Plans gedeckt seien.38 Die Reichsregierung forderte er auf, den Forderungen der ausländischen Vertragspartner nicht statt-
35 Heinrich Brüning, Reichstag, 4. WP, 115. Sitzung, 13.12.1929, S. 3551 C – 3351 D. 36 Etwa explizit beim KPD -Abgeordneten Theodor Neubauer, Reichstag, 4. WP, 115. Sitzung, 13.12.1929, S. 3547 D. 37 Vgl. Schacht, Memorandum, prägnant S. 1228 f. Dass er das Schreiben ausdrücklich für die »Veröffentlichung durch die Presse [am bzw. ab dem 6. Dezember] frei gegeben habe«, erklärte Schacht in dem an Reichskanzler Müller gerichteten Begleitschreiben – Schacht, Der Reichsbankpräsident an den Reichskanzler, 5. Dezember 1929, S. 1219. 38 Vgl. Schacht, Memorandum, S. 1223 f., 1229.
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zugeben.39 Insbesondere aber warf der Reichsbankpräsident der Regierung vor, die notwendigen innenpolitischen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Umsetzung des Young-Planes nicht geschaffen zu haben.40 Explizit bediente sich auch Schacht des Topos von der ›notwendigen Entlastung der Wirtschaft‹, indem er konstatierte, die »dringend notwendige Lastenerleichterung der Wirtschaft [sei] nur möglich, wenn die Ausgabenseite des Etats von Reich, Ländern und Gemeinden gekürzt« werde.41 Doch auch unabhängig von der seines Erachtens in Aussicht gestellten, aber nicht realisierten »Lastenerleichterung« für die Wirtschaft attestierte er der Regierung finanzpolitisches Versagen. So hätte sie nach Unterzeichnung des Young-Plans unverzüglich die »Ordnung des Haushalts und der Finanzgebarung […] in Angriff« nehmen müssen, was »nicht geschehen« sei.42 Perspektivisch problematisch sei überdies, »daß die ständig steigenden Fehlbeträge zu einer ständig steigenden kurzfristigen Verschuldung der öffentlichen Hand geführt« hätten, »für deren Konsolidierung geraume Zeit benötigt« werde. In der Summe sei mithin »schon heute mit Sicherheit zu übersehen, daß die Einsparung aus dem Young-Plan nicht nur nicht zu einer Lastenverminderung führen, sondern nicht einmal zur Deckung der jetzt bereits übersehbaren Fehlbeträge ausreichen« werde.43 Letztlich stand die Frage im Raum, ob und inwieweit es der Regierung gelingen werde, noch im Dezember das Haushaltssofortprogramm und zeitnah die lange geforderte Finanzreform zu verabschieden. Weil das Vertrauen in den zögerlichen SPD -Finanzminister Hilferding gering und das Abstimmungsverhalten der SPD -Fraktion nicht sicher kalkulierbar schien, die Haushaltslage des Reiches aber prekär anmutete, wurde die Situation zum Showdown stilisiert. Für den Fall, dass das Sofortprogramm im Reichstag scheiterte, schien nicht nur die Zahlungsunfähigkeit des Reiches möglich; ebenso unabsehbar war die Zukunft der Großen Koalition. Die Rede war von der »Ultimokrise der Reichskasse«,44 der (von ›Schacht geschaffenen‹) »Weihnachtskrise«,45 einer drohenden »Regierungskrise«, potenziellen »Young-Krise«, womöglich einer »Staatskrise«.46 Nachdem die Vorlagen den Reichstag erfolgreich passiert hatten, verschwanden
39 Vgl. ebd., S. 1229. 40 Vgl. ebd., S. 1227. 41 Ebd., S. 1228. 42 Ebd. 43 Ebd. 44 Neubauer, Reichstag, 4. WP, 115. Sitzung, 13.12.1929, S. 3547 A. 45 [Der Gegensatz zwischen Finanzminister und Reichsbankpräsident] Schuf Schacht die Weihnachts-Krise? Das Kabinett hält Hilferding, in: B. Z. am Mittag, Nr. 334, 07.12.1929, S. 1. 46 [Fieberhafte Arbeit im Reichshaus] Krisen-Gefahr noch nicht beseitigt, in: B. Z. am Mittag, Nr. 338, 11.12.1929, S. 1.
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die Termini sogleich wieder weitgehend aus dem öffentlichen Sprachgebrauch. Ähnlich wie anderthalb Monate zuvor war eine kurzfristig zugespitzte Situation entstanden, die Krisendeutungen provoziert und plausibilisiert hatte. Auch jetzt kam es nicht zu einer mittelfristig hohen Verwendungsfrequenz des Krisen begriffs, erst recht nicht zu anhaltend verbreiteten Interpretationen einer großen Wirtschaftskrise, genauso wenig jedoch zu Behauptungen einer entspannten Finanz- und Wirtschaftslage. Kurz: ›Krise‹ war ein zwar permanent abrufbarer, aber kein permanent abgerufener Begriff der Gegenwartsdeutung. Wenngleich bisweilen merkliche Überschneidungen in den Sprachmustern von Wirtschaft und Regierungsparteien auszumachen waren und sich so die grundlegende Stoßrichtung der Forderungen aus der Wirtschaft in politischen Absichten der Regierung niederschlug, bedeutet dies nicht, dass keine anders lautenden Stimmen erhoben worden wären. Die argumentative Scheidelinie verlief noch entlang der für parlamentarische Systeme tragenden Grenze von Regierung und Opposition. Allerdings wies die Kritik je nach Oppositionspartei einen merklich anderen Zungenschlag auf. Die Bayerische Volkspartei positionierte sich geradezu diplomatisch. Sie erkenne, so der Fraktionsvorsitzende Johann Leicht, die »Notwendigkeit einer Finanzreform, die der steuerlichen Überlastung und den Schwierigkeiten in den Etats des Reiches […] Rechnung trägt«, an und unterstütze die vorgeschlagenen Sofortmaßnahmen, insbesondere die Erhöhung des Beitrages zur Arbeitslosenversicherung und der Tabaksteuer.47 Aber sie teile nicht die weitergehenden Finanz- und Steuerpläne; gerade die avisierten Steuersenkungen halte sie angesichts der Haushaltslage für kontraproduktiv.48 Die DNVP warf der Regierung zu langes Zögern und ungebührliches Verhalten gegenüber Hjalmar Schacht vor; die Etatprobleme seien seit mehr als einem Jahr absehbar gewesen (und von der DNVP angeprangert worden), und Schachts Kritik sei entsprechend absolut berechtigt.49 Während diese Kritik Lagebeurteilung und Ziel teilte und lediglich das konkrete politische Handeln zu seinem Erreichen monierte, fielen die Positionen am äußersten linken und rechten Rand des Parteienspektrums fundamentaler aus.50 Die KPD lehnte sämtliche diskutierten Vorhaben – vom Sofortprogramm über die Finanzreform bis zum Young-Plan – ab und unterstellte der Regierung, fremdgesteuerter Erfüllungsgehilfe des Großkapitals zu sein.51 Die Ablehnung mündete in eine grundlegende Wirtschaftssystemkritik: Man habe es, so der Abgeordnete Theodor Neubauer, nicht nur mit der »schwere[n] Wirtschaftskrise« 47 Johann Leicht, Reichstag, 4. WP, 115. Sitzung, 13.12.1929, S. 3560 D. 48 Vgl. ebd., S. 3560 D – 3561 A. 49 Vgl. Reinhold Quaatz, Reichstag, 4. WP, 115. Sitzung, 13.12.1929, S. 3553 C – 3554 A. 50 Siehe hierzu ausführlich die Kap. V.1 und V.2. 51 Vgl. Neubauer, Reichstag, 4. WP, 115. Sitzung, 13.12.1929, S. 3545 B – 3545 C.
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zu tun, mit der die Regierung ihr Handeln begründe.52 Vielmehr zeige sich die »wirkliche Krise des Kapitalismus«; sie »besteh[e] darin, daß die besitzende Klasse eines jeden Landes einen unerbitterlichen Klassenkrieg gegen die werktätigen Klassen führt.«53 Ebenfalls radikal, aber mit merklich anderer Akzentuierung formulierte Gregor Straßer die Kritik der Nationalsozialisten. Er behauptete eine »›nicht nur moralisch[e], sondern auch wirtschaftlich[e]‹« »Pleite« der gesamten Republik.54 Der »Bankrott« habe 1918 begonnen, schwerwiegendste Ursache sei das Eingehen auf die geforderte »Tributpolitik«, für deren Erfüllung seither die »Werte des deutschen Volkes verpfändet« würden.55 Die jetzt zu beschließenden Regierungsvorlagen passten sich in dieses Muster ein. Die weltbildliche Basis für Straßers Argumentation bildeten zwei grundlegende Feindbilder: der ›Marxismus‹ und der internationale Kapitalismus, den er klar als ›jüdisch geprägt‹ verstand. Entsprechend warf er Finanzminister Hilferding eine zum Scheitern verurteilte »marxistische[ ] Regierungs- und Finanzkunst« vor.56 Und unverhohlen antisemitisch erklärte er, seit 1918 fließe der »Ertrag deutscher Arbeit in die Säckel internationaler Finanzjuden«, »Herr Schacht, […] der Vertreter der Bankkapitalisten[, sei] der Diktator dieses Hauses« und die Regierungspolitiker seien lediglich »Marionetten, die […] Befehle Schachts und Morgans ausführen« müssten.57 In diesem letzten Punkt, der angeprangerten Fremdbestimmtheit des Handelns, trafen sich rechts- und linksradikale Positionen somit unmittelbar. Sowohl Neubauers als auch Straßers Redebeiträge beinhalteten Motive, die – wie immer wieder deutlich werden wird – für die Argumentationen von Kommunisten und Nationalsozialisten bis 1933 zentral sein sollten. Es handelte sich kaum um konkret problembezogene Aussagen, sondern weltbildliche Grundnarrative. Sie repräsentierten ideologische Konstitutiva und strategische Positionierungen des linken und des rechten Radikalismus. Schon die wenigen hier wiedergegebenen Äußerungen Straßers zeugten von den Kernelementen des nationalsozialistischen Ideenkonglomerats: Antisemitismus, Antimarxismus und (in Hans-Ulrich Wehlers Diktion: Radikal-)Nationalismus, der hier durch die Betonung der Verfallsgeschichte seit dem ›Untergang‹ 1918 zutage trat.58 Konkreter rekurrierte Straßer auf zentrale Elemente der NS -Wirtschaftsideologie, die zugleich Rassenideologie war und den über Jahrhunderte tradierten Topos des ›raffenden Juden‹ in den Mittelpunkt stellte. Er symbolisierte das 52 Ebd., S. 3547 D. 53 Ebd., S. 3548 A. 54 Gregor Straßer, Reichstag, 4. WP, 115. Sitzung, 13.12.1929, S. 3549 B – 3549 C. 55 Ebd., S. 3549 C – 3549 D. 56 Ebd., S. 3550 D. 57 Ebd., S. 3549 D, 3550 D. 58 Vgl. Wehler, Der Nationalsozialismus, S. 11 f.
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Feindbild des ›raffenden‹ (Finanz-)Kapitals, das dem ›schaffenden‹ (Industrie-) Kapital gegenüberstand.59 In Neubauers Rede hingegen kam zum einen die spätestens seit 1929 praktizierte Programmatik der KPD zum Vorschein, »reine Obstruktion(-spolitik)« zu betreiben, um so ihre fundamentaloppositionelle Haltung gegenüber dem Staat und seinen ›faschistischen‹ Trägern auszudrücken.60 Zum anderen zeigte sich die politikökonomische Grundinterpretation eines Kapitalismus, der seine dritte und letzte Stufe erreicht habe, die – in Komintern-Auslegung – durch »wirtschaftliche und politische Erschütterungen der kapitalistischen Länder Europas und der Kolonien« markiert werde.61 Letzteres meinte nicht eng gefasst die aktuellen Finanz- oder Wirtschaftskrisenerscheinungen; erst recht waren diese nicht die Ursache, sondern allenfalls ein Ausdruck der fundamentalen kapitalistischen Krise.62
Die Märzereignisse – spektakulär unspektakulär In der Historiografie markieren das Ende der Großen Koalition und der Amtsantritt des ersten Kabinetts Brüning eine folgenschwere Zäsur. Für zeitgenössische Interpretationen der wirtschaftlichen Lage galt dies nicht. Zwar riefen der Streit innerhalb des Kabinetts Müller und der Koalitionsbruch große Aufmerksamkeit in der Tagespresse hervor und ließen sowohl in der Vossischen Zeitung als auch der B. Z. am Mittag Krisensemantiken in Form einer ›RegierungsKrise‹ aufkommen;63 die Darstellungen der ökonomischen Situation änderten 59 Vgl. Ahlheim, Antisemitismus und politischer Boykott, S. 53–105, bes. S. 67–77. 60 Hierzu klassisch und konzise: Weber, Hauptfeind Sozialdemokratie, S. 13–21, Zitat S. 13. 61 Ebd., S. 17. 62 Vgl. ebd., insbes. auch Anm. 29. 63 Siehe z. B.: [Die Reichstagsauflösung soll vermieden werden] Weg aus der Krise wird weiter gesucht. Seit frühmorgens beraten die Parteiführer, in: B. Z. am Mittag, Nr. 68, 10.03.1930, S. 1; Drohende Krise, in: Vossische Zeitung, Nr. 74, 27.03.1930, S. 1 (»Während im Plenarsaal wenigstens eine Zeitlang heitere Stimmung herrschte, saßen […] im Zeppelinzimmer die Mitglieder der Regierung und die Führer der Fraktionen, um endlich die Einigung über die Arbeitslosen-Versicherung und das Steuersenkungsprogramm zustandezubringen, von der nach der Meinung mancher Parlamentarier das Schicksal des Kabinetts abhängt.«); [Der Kanzler-Sturz soll vermieden werden] Reichstag will zur Eini gung kommen. Mammut-Sitzung im Zeppelin-Zimmer. Parteiführer, Kabinett und Fachspezialisten, in: B. Z. am Mittag, Nr. 85, 27.03.1930, S. 1 (»Noch ist die Krisensitzung in vollstem Gange. Aber im allgemeinen überwiegt bei den Führern die Stimmung, daß es nicht zu einer Krise kommen wird, sondern […] Parteien und Parlament ihre Pflicht tun werden.«). Diese Einschätzung war offenkundig unzutreffend, weshalb das Blatt bereits am Folgetag titelte: Ergebnis des heutigen Besuchs beim Reichspräsidenten: Brüning nimmt Hindenburgs Auftrag an, in: B. Z. am Mittag, Nr. 86, 28.03.1930, S. 1.
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sich hingegen nicht. Vielmehr schrieben sich die in den Vormonaten geprägten Deutungen fort – sowohl vor dem Regierungswechsel als auch in der unmittelbaren Folgezeit, bis hinein in den Frühsommer 1930. In der Berichterstattung waren Wirtschafts- und Finanzfragen keineswegs ein Dauerthema. Wenn die analysierten Printmedien oder Politiker sie aufgriffen, aktualisierten sie die Redemuster vom ›anhaltenden Konjunkturabschwung‹ und der ›Über(-be-)lastung der Wirtschaft‹; die Haushalts- bzw. öffentliche Kostenproblematik blieb in Form des Topos der ›strukturell überlasteten öffentlichen Finanzen‹ ebenso aussageprägend. Der Streitpunkt, der Anlass zum Koalitionsbruch gab – die geplante Erhöhung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung –, spiegelte die Virulenz und politische Brisanz dieses Problems. Einen Einschnitt oder Wendepunkt im Krisendiskurs markierte das Frühjahr 1930 mithin nicht. Die dominierenden Aussagen erzeugten nicht eine Wirtschaftskrise, sondern eine Dauerproblemlage, die (spätestens) seit 1929 die politische Agenda latent bestimmte. Der Wirtschaftspublizist Kurt Singer versuchte sich im Wirtschaftsdienst an einer zeitlich wie inhaltlich noch fundamentaleren Interpretation. Er ordnete die Gegenwart und nahezu die gesamten 1920er Jahre in langfristige ökonomische Entwicklungstrends ein und diagnostizierte eine weltweite »Stockungswelle« im Sinne einer »lange[n] Welle depressiven Charakters […], unterbrochen durch kurzwellige Aufschwungsversuche überwiegend lokalen Charakters, als Ganzes aber im Zeichen fallender Preise, starker Überproduktion, unzureichender Beschäftigung und unbefriedigender Rentabilitäts-Verhältnisse stehend.«64
Weniger grundsätzlich argumentierend, gelangte der Ökonom und Staatswissen schaftler Moritz J. Elsas in der Vossischen Zeitung zu einem ähnlichen, im Tenor aber positiver gestimmten Urteil. Einerseits sei der Preisverfall auf den internationalen Rohstoffmärkten ein »Zeichen schlechter Weltkonjunktur«, anderer seits mehrten sich Indizien, dass die »Voraussetzungen für eine [zumindest saisonale] Wirtschafts-Belebung […] günstig« seien.65 Diese Sprachmuster in den zitierten Printmedien unterschieden sich nicht wesentlich von den Redeweisen, derer sich der neue Reichskanzler Heinrich Brüning bediente. Er sprach von »sozialen und wirtschaftlichen Notstände[n]«, die es erforderten, »wirtschaftliche Aufbauarbeit« zu leisten.66 Während diese Ankündigung inhaltlich vage blieb, standen seine übrigen Handlungsankündi64 Kurt Singer, Zur Diagnosis der Weltwirtschaftsstockung, in: Wirtschaftsdienst 15 (1930), H. 11, 14.03.1930, S. 441 f., hier S. 441. 65 Moritz J. Elsas, Konjunktur-Hoffnungen, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 3. Beilage zu Nr. 75, 28.03.1930, [S. 1]. 66 Heinrich Brüning, Reichstag, 4. WP, 152. Sitzung, 01.04.1930, S. 4728 D.
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gungen in der Linie, die die Regierung Müller seit der zweiten Jahreshälfte 1929 vertreten hatte. Zuvorderst ging es ihm um die »Sanierung der Kassenlage«, die im Rahmen eines »Gesamtprogramms« anzugehen sei und »Sparvorschläge« für alle Gebiete öffentlicher Ausgaben nach sich ziehe. Sie sei die notwendige Basis »zur Senkung der Steuern, zur Hebung der Produktivität der Wirtschaft [und] zur Stärkung der Kreditwürdigkeit Deutschlands«.67 Wenn von einer Krise die Rede war, bezogen sich die Sprecher nicht auf ›die Wirtschaft‹ insgesamt, sondern den Agrarsektor. Hier aktualisierten sie mit dem Topos der ›notleidenden Landwirtschaft‹ ebenfalls seit längerem bestehende politische Deutungen, die gegenwärtig eine Zuspitzung erfuhren. Brüning argumentierte, die »Agrarkrise [habe] in besonders bedrohten Landesteilen den Charakter einer allgemeinen Volks- und Staatskrise angenommen«; dies mache »die Hilfe des Staates« notwendig.68 Diese Handlungsankündigung diente mutmaßlich auch kurzfristigen, pragmatischen Zielen. Denn Alfred Hugenberg, als DNVP-Vorsitzender Sprachrohr der konservativ-nationalen ostelbischen Agrarier, erklärte, angesichts der »angekündigten Maßnahmen zum Schutze der schwer notleidenden Landwirtschaft und der in ihrem Dasein als deutsche Gebiete gefährdeten Ostprovinzen« werde die DNVP-Fraktion die Misstrauensanträge von SPD und KPD gegen die Regierung nicht unterstützen.69 Argumentativ einbinden ließ sich das Bild der hilfsbedürftigen Landwirtschaft indes genauso in anderer Weise. So mahnte der RDI, die Hilfsmaßnahmen für den Agrarsektor dürften nicht zu einer handelspolitischen Abschottung Deutschlands führen; vielmehr sollte die Unterstützung längerfristig helfen, indem Produktion und Absatzorganisation effizienter gestaltet würden.70 Ein für den pragmatischen Gebrauchswert bestimmter Redemuster und grundlegende Sprachstrategien Regierender besonders augenfälliges Beispiel lieferte Reichsfinanzminister Moldenhauer im April. Er verknüpfte den Topos des ›anhaltenden Konjunkturabschwungs‹ mit dem Topos der ›sich bald bessernden Lage‹ – ein Topos, der sich in allen drei Fallstudien dieser Arbeit zeigen wird und eine Redeweise beschreibt, mit der Regierende die Zukunft als Legitimationsressource für gegenwärtiges Handeln nutzten. Dass der Grund für den Gebrauch des Sprachmusters weit eher in seinem pragmatischen Wert als in seiner inhaltlichen Aussage zu suchen war, legen die Zeitpunkte des Sprachgebrauchs nahe. Denn der Topos war bei allen drei Fallstudien bereits auszumachen, bevor die
67 Ebd., S. 4729 B – 4729 C. 68 Ebd., S. 4729 D. 69 Alfred Hugenberg, Reichstag, 4. WP, 154. Sitzung, 03.04.1930, S. 4770 A [Hinweis zur Seitenzahl: auf dieser Seite (wohl versehentlich) abweichende Bezeichnungspraxis, ›eigentlich‹ S. 4770 C]. 70 Vgl. Die Industrie warnt, in: Vossische Zeitung, Nr. 80, 03.04.1930, S. 1.
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Krisenauswirkungen weithin spürbar waren beziehungsweise ihren Höhepunkt erreichten. So auch im Beispiel Moldenhauers: In einem »Es geht aufwärts« überschriebenen Gastbeitrag für die Vossische Zeitung zeigte sich der Minister zuversichtlich, dass »die Krise […], die unsere Wirtschaft in der letzten Zeit durchgemacht hat«, in Kürze überwunden sei.71 Es werde nicht mehr »lange dauern […], bis die Besserung sich allgemein bemerkbar mach[e]«; er habe den »Eindruck, daß das Geschäft bereits anzuziehen beginnt.«72 Als Grund machte Moldenhauer das eigene Regierungshandeln aus, das er damit zugleich legitimierte. Durch das Einwerben zweier umfangreicher Anleihen, darunter die bekannte Kreuger-Anleihe, und die Annahme der Finanzvorlagen seien die »Kreditschwierigkeiten des Reiches beseitigt« und perspektivisch Steuersenkungen möglich.73 Die entsprechenden Aussichten und der entlastete Kreditmarkt würden zeitnah wirtschaftliche Aufschwungtendenzen auslösen. Auch wenn Moldenhausers Äußerung hier primär mit pragmatischen Absichten erklärt wird – ganz allein stand er mit seiner Erwartung nicht. Das Institut für Konjunkturforschung sah in seinem Vierteljahresbericht vom Mai ebenfalls Anzeichen dafür, dass der »konjunkturelle Rückgang […] in den nächsten Monaten zum Abschluß kommen« und in eine »Stagnation« übergehen werde.74 Aufgrund einer zu erwartenden besseren Kapitalversorgung der Wirtschaft werde die »weitere Entwicklung […] in günstigem Sinne beeinflusst werden«.75 Wohl auch ob dieser Einschätzung wertete die Vossische Zeitung den Ausblick des Instituts als von einem »optimistischen Grundton« geprägt.76
2. ›Weltwirtschaftskrise‹ als Diagnose und Argument: Frühsommer 1930 bis Spätsommer 1931 Dennoch: Eine unzutreffendere Prognose als Moldenhauers ist kaum denkbar. Dass er in allen Belangen falsch lag, zeigte sich im Verlauf des Frühsommers immer deutlicher, ab Juli war es unübersehbar. Die Deutung einer ›Weltwirtschaftskrise‹ war ab diesem Zeitpunkt fest im politischen Kommunikationsraum etabliert; sie prägte den Sprachgebrauch der Politiker und der untersuchten Printmedien. Bei allen Spezifika im Detail lassen sich grundsätzlich zwei Ge71 Paul Moldenhauer, Es geht aufwärts, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 3. Beilage zu Nr. 95, 20.04.1930, [S. 1]. 72 Ebd. 73 Ebd. 74 Zit. nach: Am Tiefpunkt der Depression. Konjunkturhoffnung auf lange Sicht, in: Finanzund Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 3. Beilage zu Nr. 126, 28.05.1930, [S. 3]. 75 Zit. nach: ebd. 76 Ebd.
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brauchsweisen der Deutung unterscheiden: Zum einen fungierte sie als Beschreibungsbegriff, zum anderen als Basis für politische Forderungen, kurzum: als Argument. Bereits im Verlauf des Frühsommers mehrten sich sukzessive Stimmen, die eine weltweite Wirtschaftskrise behaupteten. Dies geschah auf einem indirekten und einem direkten Weg. Indirekt wurde das Bild einer sich weltweit ausbrei tenden Krise evoziert, indem verstärkt Presse-Berichte über Krisen oder Krisenbewältigungsanstrengungen in unterschiedlichen Ländern erschienen. Zu lesen waren beispielsweise Nachrichten über die schlechte Konjunkturentwicklung, gefallene Börsenkurse und steigende Arbeitslosigkeit in Japan,77 die (über raschend positiven) Folgen der »politischen und wirtschaftlichen Krisis 1929« für die Nationalbank in Österreich78 oder Ansätze einer aktiven Konjunkturpolitik zur Krisenbekämpfung in den USA .79 Diese Meldungen unterstellten nicht ausdrücklich einen volkswirtschaftsübergreifenden Konnex, sondern hinterfragten einen solchen bisweilen sogar explizit.80 Dennoch setzten sich derartige Nachrichten in der Summe als Mosaiksteine zum Bild weltweit um sich greifender Störungen des Wirtschaftssystems, zumindest aber globaler Abschwungtendenzen zusammen. Diagnosen einer globalen Wirtschaftskrise konnten jedoch genauso direkt formuliert werden. Im Wirtschaftsdienst machte John Maynard Keynes eine »schwere[ ] internationale[ ] Stockung« aus, eine »Stockung, die den schwersten Depressionen der Geschichte an die Seite gesetzt werden wird.«81 In seinem Artikel traten beide Verwendungsweisen der Deutung zutage. Denn Keynes diagnostizierte die »Stockung« nicht nur, sondern nutzte die Diagnose, um geld- und wirtschaftspolitische Gegenmaßnahmen vorzuschlagen und einzufordern. Er begrüßte zwar die länderübergreifende Tendenz zu sinkenden Diskontsätzen, sah sie angesichts rapide fallender Preise aber als unzureichend an, um zeitnah Investitionen auszulösen. Daher plädierte er für ein aktives Eintreten des »Staat[es] als Investor« und für besondere Zinspolitiken: Zen tralbanken und Regierungen sollten inländische Investitionen durch nochmals niedrigere Zinssätze, also Zinssätze unterhalb des Niveaus am allgemeinen An77 Wirtschaftskrise in Japan. Von Richard Katz, Sonderberichterstatter der »Voss. Ztg.«, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 3. Beilage zu Nr. 93, 18.04.1930, [S. 1]. 78 Präsident Reisch polemisiert, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 3. Beilage zu Nr. 93, 18.04.1930, [S. 1]. 79 Richard Lewinshon, [Das neue Wirtschaftswunder. Amerikas gigantischer Abwehrkampf gegen die sinkende Konjunktur] Prosperity for ever!, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 3. Beilage zu Nr. 95, 20.04.1930, [S. 1]. 80 Vgl. ebd. 81 John Maynard Keynes, Die industrielle Krise, in: Wirtschaftsdienst 15 (1930), H. 20, 16.05.1930, S. 833 f., hier S. 833.
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leihemarkt, begünstigen und übriges angelegtes Kapital durch höhere Zinssätze im Land halten.82 Ebenfalls im Mai 1930 war in der Vossischen Zeitung von einer »Wirtschaftsdepression«, einer »mißlichen wirtschaftlichen Lage in der ganzen Welt« die Rede.83 Ursache sei der »falsch geleitete Kapitalstrom« gewesen; seit dem Weltkrieg hätten mit den USA, Großbritannien und Frankreich nur drei Staaten als Kapitalexporteure gewirkt und in den Kapitalimportstaaten eine künstliche Prosperität geschaffen.84 Damit hätten sie langfristig die Absatzmöglichkeiten ihrer eigenen Industrien verringert, zugleich wirke sich das abrupte Versiegen dieses Kapitalflusses seit 1929 in den Kapitalimportstaaten jetzt extrem pro blemverschärfend aus.85 Trotz der offenkundigen latenten Virulenz entsprechender Positionen im Frühsommer dominierten Krisendeutungen den öffentlichen Sprachgebrauch erst ab Mitte Juli. Mit dem Streit um das Maßnahmenpaket der Reichsregierung zur Haushaltssanierung, speziell dem Konflikt um die Bürgersteuer, und die anschließende Inkraftsetzung der vom Reichstag abgelehnten Vorschläge per Notverordnung, entstand eine Konstellation, die für das breitenwirksame und dauerhafte Verankern des Deutungsmusters einer ›(Wirtschafts-)krise‹ symptomatisch war (wie die späteren Fallstudien bestätigen werden): die Verschränkung einer wirtschaftlichen und / oder finanzpolitischen Problemlage mit einem politischen Konflikt, die medial weithin rezipiert und verbreitet wird. Exakt eine solche Konstellation war im Sommer 1930 eingetreten. Über fast zwei Monate – von den Kabinettsberatungen über den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung, die Bürgerabgabe und das ›Notopfer der Festbesoldeten‹ im Juni bis zur Reichstagsauflösung Ende Juli – rückte die finanz- und parteipolitische Auseinandersetzung in den zentralen Fokus der Presse; dies galt im hier zugrundgelegten Quellenkorpus beinahe gleichermaßen für die Qualitäts- wie für die Boulevardpresse. Entsprechend lieferten eindrückliche Exempel sowohl die Vossische Zeitung als auch die B. Z. am Mittag. Die Vossische Zeitung behandelte den Konflikt nicht in ihrem »Finanz- und Handelsblatt« oder auf hinteren Seiten, sondern über mehrere Wochen außergewöhnlich oft auf der Titelseite.86 82 Ebd., S. 834. 83 Willy Heß, Kehrseite des Reichtums, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 3. Beilage zu Nr. 117, 17.05.1930, [S. 1]. 84 Ebd. 85 Vgl. ebd. 86 Siehe u. a.: Nachtsitzung der Reichsregierung. Um die Finanz-Sanierung, in: Vossische Zeitung, Nr. 132, 04.06.1930, S. 1; Brüning an der Finanzklippe. Um das Notopfer / Volkspartei gegen Moldenhauer, Rücktrittsabsichten des Finanzministers?, in: Vossische Zeitung, Nr. 139, 12.06.1930, S. 1; Finanzpolitik: Ungenügend, in: Vossische Zeitung, Nr. 143, 17.06.1930, S. 1; Wer macht mit? Der Reichskanzler verhandelt / Deutschnationale Brü-
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Genauso widmete die B. Z. am Mittag dem Konflikt wiederholt größeren Raum und behandelte ihn mehrfach ausführlich auf dem Titel.87 Ende Juli sprach sie in einer großen Überschrift auf der Titelseite schließlich sehr prägnant und unmissverständlich von der »Verschärfung der Wirtschaftskrise«.88
Juli-Konflikt und Deflations-Konsens Diese Überschrift brachte paradigmatisch auf den Punkt, welche Deutungsund Bezeichnungsverschiebungen sich im Zuge des Notverordnungsstreits vom Juli 1930 vollzogen. Der Konflikt war für den Krisendiskurs weit folgenreicher als der Regierungswechsel vom März. Denn im Zuge des Streits erlangte der Krisendiskurs eine Stellung als vorherrschendes, politisch unhinterfragt dominierendes Interpretament der Gegenwart. Während die vorangegangenen Monate ein latent stets vorhandener Krisendiskurs geprägt hatte, bei dem die Intensität entsprechender öffentlicher Äußerungen stark variierte, verstetigte sich der Krisendiskurs jetzt. Neben der veränderten Frequenz, mit der Krisenbehauptungen zirkulierten, kamen Aussagen auf, die eine neue Krisenqualität behaupteten. Der Hamburger cken / Die Volkspartei verständigungsbereit; in: Vossische Zeitung, Nr. 159, 05.07.1930, S. 1; Dietrich und seine Gegenspieler. Geteilte Aufnahme im Reichstag, in: Vossische Zeitung, Nr. 161, 08.07.1930, S. 1; Brünings letztes Wort. Die Deckungsvorlagen bleiben unverändert, in: Vossische Zeitung, Nr. 163, 10.07.1930, S. 1; Dienstag Entscheidung. Einigung der Regierungsparteien / Das große Fragezeichen / Und wieder Artikel 48, in: Vossische Zeitung, Nr. 167, 15.07.1930, S. 1; Artikel 48 ohne Auflösung. Deckungsvorlagen zurückgezogen und Ablehnung des Artikels 2 / Kommunistischer Mißtrauensantrag abgelehnt / Keine Mehrheit für Aufhebung der Notverordnung, in: Vossische Zeitung, Nr. 169, 17.07.1930, S. 1; Die neuen Notverordnungen. Reichshaushalt, Steuern, Arbeitslosen-Versicherung, in: Vossische Zeitung, Nr. 177, 26.07.1930, S. 1. 87 Siehe u. a.: Der Streit um das Notopfer beginnt. Sanierungsprogramm vor dem Kabinett, in: B. Z. am Mittag, Nr. 148, 02.06.1930, S. 1; [Großes Sanierungsprogramm von Regierung und Wirtschaft] Neue Arbeitsgemeinschaft Unternehmer – Gewerkschaften?, in: B. Z. am Mittag, Nr. 150, 04.06.1930, S. 1; Morgen Krisen-Konferenz bei Hindenburg in Neudeck. Deckungsvorlage soll umgebaut werden, aber wie?, in: B. Z. am Mittag, Nr. 164, 19.06.1930, S. 1; Reichskabinett berät Dietrichs Spar-Anträge. Volkspartei will heraus, in: B. Z. am Mittag, Nr. 169, 24.06.1930, S. 1; Das neue Finanzprogramm, in: B. Z. am Mittag, Nr. 173, 28.06.1930, S. 1; [Dietrich kämpft um sicheren Sieg] Heute Steuer-Erhöhung vor dem Reichstag. Regierung Brüning in Erwartung ihrer alten »Mehrheit«, in: B. Z. am Mittag, Nr. 182, 07.07.1930, S. 1; Reichsregierung will noch heute zu Art. 48 greifen. Brünings Mehrheitssuche vergeblich: Deutschnationale fordern Preußen – ein Preis, der nicht zu zahlen ist, in: B. Z. am Mittag, Nr. 190, 15.07.1930, S. 1. 88 Die Verschärfung der Wirtschaftskrise. Berlin unter schwerstem Druck: Höhere Abgaben und Massen-Entlassungen. Was die höheren Steuern für Lasten auferlegen, in: B. Z. am Mittag, Nr. 201, 26.07.1930, S. 1.
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Volkswirt Paul Berkenkopf machte Ende Juli einen entsprechenden Wandel in der ausgemachten Krisenhaftigkeit aus, als er erklärte, die »Krise in der Weltwirtschaft schwel[e] […] schon Jahre hindurch«, sei jedoch »erst in der letzten Zeit in ein akutes Stadium getreten.«89 Ab dem Sommer 1930 bildeten sich Rede- und Argumentationsweisen heraus, die bis zum Sommer des Folgejahres die (wirtschafts-)politischen Debatten bestimmten. Dies galt zunächst für den Krisenbegriff im engen Sinne: Schaut man auf die Gegenwartsbeurteilungen, die ihn explizit aufwiesen, waren zwei Verwendungsweisen erkennbar. Zum einen konnte unspezifiziert von einer ›Wirtschaftskrise‹ die Rede sein. Zum anderen war seltener, aber genauer von einer ›deutschen (Wirtschafts-)Krise‹ und einer zeitgleichen ›Weltwirtschaftskrise‹ die Rede, die sich – logisch partiell paradox – sowohl verschränkten als auch parallel verliefen.90 In jedem Fall potenzierte sich so ihre problemverursachende Wirkung. Sprachpragmatisch und politisch nutzbar waren diese Befunde einerseits als Basis zur Unterbreitung und Begründung von Handlungsvorschlägen, schematisiert also Argumentationen der Form: ›Angesichts / zur Überwindung der alles bestimmenden Wirtschaftskrise ist es notwendig…‹ Andererseits konnten die Krisenaussagen en passant auftreten, als selbstverständlich erscheinende Folie der unmittelbaren Vergangenheit und (fortdauernden) Gegenwart. Speziell diese Verwendungsweise, die vornehmlich in der Wirtschaftspresse auftrat, verweist auf die tiefe Verankerung des Krisendiskurses. Ähnlich einem Gemeinplatz, der keiner gesonderten Erläuterung bedarf, kam es zu Äußerungen wie: »Die Weltwirtschaftskrise lastet schwer auch auf der belgischen Börsenkonjunktur«,91 »[s]o klar der Tatbestand der Weltwirtschaftskrise ist«92 oder tendenziöse
89 Paul Berkenkopf, Goldmangel und Weltkrise, in: Wirtschaftsdienst 15 (1930), H. 30, 25.07.1930, S. 1273–1277, hier S. 1276. 90 Beispiele: Reichsinnenminister Wirth (Zentrum) konstatierte »die Tatsache, daß wir finanzpolitisch in einer deutschen Krise sind, und daß darüber hinaus Deutschland, verflochten mit der Weltwirtschaft, in die große ökonomische Krise der Welt hineingerissen« worden sei – Karl Joseph Wirth, Reichstag, 4. WP, 204. Sitzung, 18.07.1930, S. 6506 B. Außenminister Curtius (DVP) machte »eine völlige Verlagerung in der Weltwirtschaft« und die »Aufgabe[ ] […] [einer] Überwindung dieser Krise wie der deutschen Krise« aus – Julius Curtius, Reichstag, 5. WP, 22. Sitzung, 10.02.1931, S. 883 B – 883 C. In einem Artikel der Vossischen Zeitung hieß es, »Deutschland [habe mutmaßlich] seine Sonderkrise […], die vielleicht schon ein Jahr früher als die Welt-Depression bei uns ausgebrochen« sei – [Im Kampf gegen die Weltkrise. Aus den Hauptländern berichten die Korrespondenten der »Vossischen Zeitung«] Der verzauberte Erdball, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 123, 24.05.1931, S. 1. 91 Börsensorgen überall, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 3. Beilage zu Nr. 199, 21.08.1930, [S. 1]. 92 Hans Bayer, Zum Problem der Weltwirtschaftskrise, in: Wirtschaftsdienst 15 (1930), H. 49, 05.12.1930, S. 2075–2077, hier S. 2075.
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Steuerschätzungen könnten »den allgemeinen Pessimismus und damit die Wirtschaftskrise steigern«.93 Für die politischen Auseinandersetzungen relevanter war der Gebrauch von Krisensemantik als tragendes Element zur Begründung und Legitimierung politischer Entscheidungen und Gegenvorschläge. Wenig überraschend nutzten in legitimatorischer Absicht vor allem Regierungspolitiker explizite Krisen- und – nicht weniger wichtig, sondern ebenso zentral – Notsemantiken.94 Plakativ zeigte sich dies schon in der Überschrift der ersten zur Anwendung gekommenen Notverordnung vom Juli, die betitelt war als »Verordnung […] zur Behebung finanzieller, wirtschaftlicher und sozialer Notstände.«95 Während für rechtfertigende Argumentationen von Regierungspolitikern die Behauptung von der doppelten (deutschen und Welt-)Krise und der erwähnte Gebrauch von ›Not‹-Diagnosen zentral waren, nutzten sie in handlungsleitender Hinsicht wesentlich die Sprachmuster von der ›primär erforderlichen Haushaltskonsolidierung‹ und der ›notwendigen Kostenreduzierung‹. Bis zum Winter 1930/31 konnte als Schlusspunkt von Argumentationsgängen zusätzlich der Topos von der ›sich bald bessernden Lage‹ abgerufen werden. Dies geschah freilich selten. In der Summe verdichteten sich die Redeweisen zum prinzipiellen Argumentationsmuster der Form: ›Haushaltskonsolidierung ist oberstes Gebot, da Voraussetzung für wirtschaftliche Erholung‹ – spätestens ab dem Herbst erweitert zu: ›nur durch eine allgemeine Kostensenkung (für die öffentliche Hand und die Privatwirtschaft) ist wirtschaftliche Erholung möglich‹ – mitunter ergänzt um: ›bei erfolgter Haushaltskonsolidierung und Kostensenkung tritt ab 1931 (gewiss) eine spürbare wirtschaftliche Erholung‹ ein. Die großen Reichstagsdebatten vom Juli, Oktober und Dezember boten eindrückliche Beispiele für derartig aufgebaute Argumentationen. Reichsfinanzminister Hermann Robert Dietrich erklärte im Juli: »Wenn Sie den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit mit einiger Aussicht auf Erfolg führen wollen, dann ist die Ordnung der Finanzen auch deswegen die Voraussetzung dafür, weil die Wirtschaft ohne eine Ordnung der Finanzen nicht belebt werden kann. Für diese Belebung der Wirtschaft sind eine Reihe von günstigen Momenten vorhanden.«96
Knapper formulierte der Zentrums-Abgeordnete Ernst Föhr. Er argumentierte, die Herstellung intakter öffentlicher Haushalte sei schlicht die Voraussetzung 93 Fritz Neumark, Reichshaushalt und Konjunktur, in: Wirtschaftsdienst 16 (1931), H. 3, 16.01.1931, S. 89–92, hier S. 90. 94 Zur zentralen Bedeutung des Begriffs(-feldes um) ›Not‹ siehe ausführlich Kap. IV.3.1. 95 [o. N.], Verordnung des Reichspräsidenten zur Behebung finanzieller, wirtschaftlicher und sozialer Notstände vom 26.07.1930, S. 311. 96 Hermann Robert Dietrich, Reichstag, 4. WP, 204. Sitzung, 18.07.1930, S. 6515 C – 6515 D.
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für die »Sanierung der Wirtschaft« und so mittelbar der Schlüssel, die »Arbeitslosigkeit [zu] überwinden«.97 Im Dezember meinte der DStP-Politiker Dietrich abermals und unverhohlen optimistisch: »Der Etat ist ausgeglichen, und die Gefahrenmomente, die uns im laufenden Kalenderjahre fortgesetzt bedrängt haben, sind beseitigt. Die Bedeutung dieser Tatsache für den Reichskredit und die Aktionsfähigkeit des Reiches darf nicht unterschätzt werden. […] Die Bewilligung dieses Etats aber im Zusammenhang mit den Bestimmungen der Notverordnung wird imstande sein, den Kredit und damit die Aktionsfähigkeit des Reiches auf die Dauer zu gewährleisten. Das Reich ist dann in keiner akuten Gefahr, und alle unsere Maßnahmen sind auf der Überlegung aufgebaut, daß die Arbeitslosigkeit in diesem Winter noch stark anwachsen wird. Wenn Sie uns helfen, werden wir die letzten Sorgen in Bälde überwunden haben. Damit aber wird eine starke Rückwirkung auf die Privatwirtschaft eintreten; sie ist stark verschuldet im Inland und im Ausland, sie bedarf der Ruhe und braucht stabile Kreditverhältnisse. […] Eine feste Sicherung unserer Finanzen wird unseren Kaufleuten und Industriellen auch das Arbeiten auf dem Weltmarkt erleichtern.«98
Brüning versuchte im Juli speziell mittels des Topos der ›neuartigen Situation‹, unmittelbaren politischen Handlungsdruck zu erzeugen. Er sprach von einer »wirtschaftlichen Entwicklung von einer Bedeutung, wie […] sie in den letzten drei Jahrzehnten« nicht vorgekommen sei, weshalb die »Maßnahmen zur weiteren finanziellen Sanierung der Arbeitslosenversicherung und zur Abdeckung des Etatsdefizits« unaufschiebbar seien,99 und machte einen »Augenblick schwerster wirtschaftlicher Krise« aus.100 Im Oktober hingegen legte er in programmatisch-grundsätzlicherer Weise dar: »Die Grundlinien des Reformplanes der Reichsregierung sind ein vollkommen ausgeglichener Haushaltsplan für 1931, Selbständigmachen der Arbeitslosenversi cherung, Sparsamkeit auf allen Gebieten, auch an den Gehältern, […] eine Steuer politik, die […] die Kapitalbildung, namentlich auch bei den kleinen Sparern, fördert, und schließlich die Vorbereitung eines endgültigen Finanzausgleichs zwischen Reich, Ländern und Gemeinden. […] Die Gehalts- und Preispolitik der Reichsregierung […] will vielmehr das sachlich vielfach nicht gerechtfertigte und daher unhaltbare deutsche Preisgebäude unter allen Umständen ins Wanken bringen. […] Die Aufgabe, die deutschen Preise der Weltpreislage anzugleichen, ist für unsere wirtschaftliche Gesundung so wichtig und dringend, daß sie selbst dann
97 Ernst Föhr, Reichstag, 4. WP, 200. Sitzung, 15.07.1930, S. 6383 D. 98 Hermann Robert Dietrich, Reichstag, 5. WP, 7. Sitzung, 03.12.1930, S. 229 D – 230 A. 99 Heinrich Brüning, Reichstag, 4. WP, 200. Sitzung, 15.07.1930, S. 6373 D. 100 Ebd., S. 6374 D.
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durchgeführt werden muß, wenn alle Schichten des deutschen Volkes unbequeme Opfer tragen müssen.«101
Diese Aussagen repräsentierten den Kern der Regierungsprogrammatik im ersten halben Jahr, nachdem die Krise als so bezeichnete Entität ausgebrochen war. Sie befanden sich im Einklang mit Positionen, die finanzwissenschaftliche Experten wie Fritz Neumark vertraten. Im Januar 1931 forderte dieser eine »effektive Ausgleichung des Haushalts, Beschränkung der Ausgaben auf das den jeweiligen politisch-sozialen Anschauungen entsprechende Minimum [und eine] möglichste Begrenzung nicht nur der Steuer-, sondern auch der Geld- und Ka pitalmarktsansprüche der öffentlichen Finanzwirtschaft (was jegliche Notstands arbeiten und Subventionspolitik ausschließ[e])«.102
Nur auf diese Weise könne die Haushaltspolitik »die Vorbedingungen für einen Wiederaufschwung des Wirtschaftslebens herbeizuführen helfen.«103 Schaut man zurück auf das Konflikthafte, das den Krisensemantiken im Juli zum Durchbruch verhalf, wird deutlich, dass es sich aus zwei Streitfragen speiste. Umstritten waren sowohl inhaltliche Komponenten der Regierungsvorlagen, speziell die aus sozialdemokratischer Sicht inakzeptable ungestaffelte Bürgersteuer, als auch die Frage, inwieweit die aktuelle Situation die Anwendung des Artikels 48 zulasse. Kritik der Opposition wies im Hochsommer 1930 mithin eine politische und eine verfassungsrechtliche Komponente auf. Reichsinnenminister Wirth rechtfertigte eine Anwendung des Artikels 48 mit den möglichen Konsequenzen einer weiteren Verschlechterung der Haushaltslage von Reich, Ländern und Gemeinden. Ohne unverzügliches finanzpolitisches Gegensteuern drohe der öffentlichen Hand im Jahresverlauf die Zahlungsunfähigkeit, weshalb speziell die Gemeinden Gefahr liefen, ihre wohlfahrtsstaatlichen Verpflichtungen nicht länger erfüllen zu können.104 Daher sei zur »Beurteilung der gegenwärtigen politischen Lage« zu »prüfen, ob für das Reich, für die Länder und für die Gemeinden ein finanzieller Notstand vorhanden« sei.105 Für die SPD erklärte Otto Landsberg, seines Erachtens müssten »Artikel48-Verordnungen so offensichtlich und unmittelbar aus einer gegenwärtigen Notlage hervorgehen […], daß für eine Ankündigung auf lange Sicht gar kein Raum« bleibe.106 Aus inhaltlicher Warte warf er die Frage auf, ob »eine Sanierung 101 Heinrich Brüning, Reichstag, 5. WP, 3. Sitzung, 16.10.1930, S. 18 C. 102 Neumark, Reichshaushalt und Konjunktur, in: Wirtschaftsdienst, 16.01.1931, S. 92. 103 Ebd. 104 Vgl. Wirth, Reichstag, 4. WP, 204. Sitzung, 18.07.1930, S. 6506 B – 6506 C. 105 Ebd., S. 6506 C. 106 Otto Landsberg, Reichstag, 4. WP, 204. Sitzung, 18.07.1930, S. 6503 A – 6503 B.
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der Finanzen des Reichs, die wir alle wollen, anders als auf ihrem Wege [dem der Regierung, K. K.] nicht möglich« sei.107 Rhetorisch verdichtete er: »Soll wirklich die berühmte Bürgerabgabe die Ordnung und Sicherheit in höherem Maße garantieren als eine stärkere Heranziehung der höchsten Einkommen und Vermögen?«108 Sein Parteifreund Wilhelm Keil wies die »Kopfsteuer« als »roheste« und »unsozialste Steuer, die sich ersinnen läßt«, zurück, und betrachtete es als verfassungswidrig, diese als Teil der Deckungsvorlagen und nicht als separates Steuergesetz ins Parlament einzubringen.109 Landsbergs und Keils inhaltliche Kritik stand beispielhaft für ein Grundmuster sozialdemokratischer Argumentation, das sich auch im Folgejahr noch zeigen sollte: Sozialdemokraten betonten ihre grundsätzliche Übereinstimmung mit den Regierungszielen, forderten aber nachdrücklich eine stärkere Besteuerung hoher Einkommen (sowie der Landwirtschaft) und einen Verzicht auf steuerliche Belastungen der übrigen Einkommensklassen, wie sie nicht nur die ›Kopfsteuer‹, sondern auch die »Krisensteuer« vom Sommer 1931 vorsah.110 Die Kritik des DNVP-Fraktionsvorsitzenden Ernst Oberfohren nahm ebenfalls verfahrenstechnische und politische Aspekte ins Visier. Zum einen warf er der Regierung vor, »die Autorität des Reichspräsidenten in einer Frage in Anwendung gebracht [zu haben], die sie hätte parlamentarisch erledigen können«.111 Zum anderen flüchte sie aus der eigenen Verantwortung, indem sie die »Weltwirtschaftskrise als entscheidende Ursache [der] wirtschaftlichen Depression und […] sozialen Nöte« anführe und eine »Selbstbefreiung von der Verantwortlichkeit« vornehme, obwohl die eigentlichen Krisenursachen in der »verfehlte[n] Reparationspolitik und [der] sozialistisch geführte[n] Wirtschaftsund Innenpolitik« lägen.112 In den folgenden Monaten ließ sich eindeutig konfrontativ-ablehnend formulierte Kritik gegenüber der Regierung tendenziell seltener erkennen. Aussagemuster, die sich zu einem konsistenten Oppositionsnarrativ verdichtet hätten, entwickelten sich nicht. Was in der Literatur als »Deflationskonsens« – speziell als Übereinkommen zwischen Arbeitgebervertretern und Regierung, aber teils auch den Gewerkschaften – bezeichnet wird,113 zeigte sich in den hier unter107 Ebd., S. 6503 B. 108 Ebd. 109 Wilhelm Keil, Reichstag, 4. WP, 200. Sitzung, 15.07.1930, S. 6378 C. 110 Z. B. Karl Kirchmann, Preußischer Landtag, 3. WP, 242. Sitzung, 11.06.1931, Sp. 21215–21216. 111 Ernst Oberfohren, Reichstag, 4. WP, 204. Sitzung, 18.07.1930, S. 6508 C. 112 Ebd., S. 6508 D. 113 Z. B.: Tooze, Sintflut, S. 626, sowie (deutlicher die inhaltliche Konvergenz zwischen RDI, VDA und Gewerkschaften herausstreichend) Abelshauser, Freiheitlicher Korporatismus, S. 166–168. Ausführlich, speziell mit Blick auf die Positionen der Industrie, siehe Kim, Industrie, Staat und Wirtschaftspolitik, S. 48–81.
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suchten Quellen weniger durch ausdrückliche und umfassende Zustimmung zur Regierungspolitik als vielmehr durch den Verzicht auf fundamental entgegengesetzte Sichtweisen und Forderungen. Die Ansicht, wirtschaftliche Gesundung sei durch die Senkung von Ausgaben und Kosten, Löhnen und Preisen zu erreichen, wurde im Kern nicht bezweifelt. Wesentliche Einschränkung hierbei: Kommunisten und Nationalsozialisten arbeiteten sich kaum an konkreten Problemlagen ab, sondern nutzten jede sich bietende Gelegenheit, um ihre ideologischen Grundnarrative zu wiederholen. Auch wenn sie in Parlamentsdebatten ausgiebig das Wort ergriffen, schlossen sie sich angesichts des Inhalts ihrer Ausführungen weitgehend aus der Sachauseinandersetzung aus und schrieben sich stattdessen in einen grundlegenderen Paralleldiskurs ein. Ihre (aus diesem Grund an anderer Stelle zu behandelnden114) Aussagen sind eher unter dem Gesichtspunkt des nie vorhandenen oder erodierten republikanischen Grundkonsenses als unter dem Aspekt des Deflationskonsenses zu betrachten. Verbleibt man bei den Parteien jenseits der äußersten Ränder des Parteienspektrums, wobei die Hugenberg-geprägte DNVP in ihrer Einstellung zur Republik nah an die NSDAP heranreichte und insofern einen ›Zwischen-Fall‹ bedeutete, blieb wirtschaftspolitische Fundamentalkritik aus. Kritik bezog sich überwiegend auf einzelne ausgemachte Unzulänglichkeiten. So betonte Alt-Reichskanzler Hermann Müller im Oktober 1930 für die (passiv majoritätssichernde) SPD zunächst eine grundlegende Übereinstimmung mit der Regierung Brüning: »Der Herr Reichskanzler hat gestern erklärt, daß die Gesundung unserer wirtschaftlichen Verhältnisse von dem Programm abhänge, das er am 30. September der Öffentlichkeit übergeben habe. […] Wir sind mit einer ganzen Reihe von Vorschlägen in diesen Entwürfen einverstanden.«115 Sodann schloss er eine lange Reihe zu beanstandender Einzelheiten an. Zuvorderst sah die SPD die Gefahr eines perspektivischen, ab 1931 wirksam werdenden Leistungs abbaus bei der Arbeitslosenversicherung und einer Unausgewogenheit zwischen Lohnabbau und Preissenkungen.116 Müller bediente sich des Sprachmusters der ›notwendigen Kosten- und Preisreduzierung‹ und bezweifelte, dass ohne einen zwingenden politischen Impuls aus der Senkung von Löhnen und Gehältern automatisch eine Reduzierung des allgemeinen Preisgefüges resultiere. Neben der so vorgenommenen Erweiterung des Topos der ›notwendigen Kostenreduzierung‹ brachte Müller den Vorschlag einer Verringerung der üblichen Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden inklusive Lohnsenkung ins Spiel. Parlamentarisch geäußerte Einwände spiegelten die spezifischen Anliegen und Akzentsetzungen der Parteien. Hermann Drewitz, Fraktionschef der Wirt114 Siehe Kap. V. I. 115 Hermann Müller, Reichstag, 5. WP, 4. Sitzung, 17.10.1930, S. 51 B – 51 C. 116 Vgl. ebd., S. 52 A – 52 B.
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schaftspartei, mahnte im Rahmen der Debatte über eine Rücknahme der Notverordnungen von Juli und Dezember nicht (nur) pauschale Etatkürzungen, sondern die Revision sämtlicher kostenerhöhender Gesetze an, die in den Vorjahren beschlossen worden waren.117 Otto Rippel, Abgeordneter des Christlich- Sozialen Volksdienstes, begrüßte, dass die Regierung sich »nicht erschöpf[e] in uerquicklichen […] Verhandlungen mit den Fraktionen und Interessentengruppen« und stattdessen den Verordnungsweg beschreite.118 Seine Kritik tangierte Einzelheiten, darunter den Verzicht auf eine soziale Staffelung bei den Gehaltskürzungen und eine Einbeziehung kinderloser Ehepaare in die Ledigensteuer.119 Diese Fragen erschütterten jedoch nicht das prinzipielle Einverständnis seiner Partei mit dem Regierungshandeln; vielmehr sei »die Zeit zu ernst« als dass »kleinliche Wünsche in diesem Augenblick« zum ausschlaggebenden Faktor gemacht werden sollten.120 Rechtfertigungen und Kritik, kurz: prinzipiellen Diskussionsbedarf, rief wiederholt das Missverhältnis von verordneter Gehalts- und verzögerter Preis senkung hervor. Hermann Müller stand mit seiner oben angeführten Kritik nicht allein. Auch Otto Rippel klagte, die »Preissenkungsaktion« habe »eine schicksalhafte Bedeutung für die Gegenwart, denn der Erfolg der Bemühungen der Regierung häng[e] davon ab«; doch während man die »Lohnsenkung und Gehaltskürzung […] erzwungen« habe, sei »auf dem Gebiete der Preissenkungspolitik nicht dieselbe Energie« zu erkennen.121 Deshalb, so seine Forderung, müssten zumindest staatliche Einrichtungen wie Reichsbahn und Post schleunigst ein Zeichen setzen und ihre Tarife senken.122 Hohen Stellenwert erlangte der Topos der ›notwendigen Kosten- und Preisreduzierung‹ nicht nur in der parlamentarischen Auseinandersetzung. Auch die Zeitungen transportierten ihn beständig, insbesondere die Boulevardpresse.123 Im Oktober griff die B. Z. am Mittag die Forderungen der SPD und des Gewerkschaftsbundes der Angestellten nach flächendeckenden und spürbaren Preissenkungen sowie einer Reduzierung der Wochenarbeitszeit zur Eindämmung der Arbeitslosigkeit auf.124 Anfang November berichtete sie über anhaltende Kritik an der »Tatsache […], daß man keine Maßnahme erkennen könne, durch die die Regierung einen wirklichen Preisabbau, der auch bei den breiten Massen 117 Vgl. Hermann Drewitz, Reichstag, 5. WP, 9. Sitzung, 05.12.1930, S. 299 A – 299 B. 118 Otto Rippel, Reichstag, 5. WP, 9. Sitzung, 05.12.1930, S. 290 D. 119 Vgl. ebd., S. 291 B. 120 Ebd., S. 292 C. 121 Ebd., S. 293 B. 122 Vgl. ebd., S. 293 C. 123 Zu einer ähnlichen Beobachtung gelangt auch Torp, Konsum und Politik, S. 240. 124 Vgl. [Die erste Regierungs-Erklärung vor dem neuen Reichstag] Kanzler-Rede und Metallarbeiter-Streik. Der Weg aus der schweren Krise, in: B. Z. am Mittag, Nr. 283, 16.10.1930, S. 1 f.
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fühlbar werden muß, erzwingen könnte.«125 Mitte November versuchte sie – einem Ratgeber vergleichbar – aufzuzeigen, »[w]as eine Familie jetzt einsparen kann.«126 Hierbei wurden, ähnlich wie in der Rede Rippels aus dem Folgemonat, Verbilligungen bei Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge angemahnt. Als Erklärung für ausgebliebene Preissenkungen kam ein Redemuster zum Tragen, das mit der Weimarer Wirtschaftsgeschichte in unterschiedlichen Kontexten, aber regelmäßig verbunden wird: der Topos der ›Kartellverantwortung‹. Weil »[a]uch auf dem Gebiet des Lebensmittelmarktes […] kartellähnliche Gebilde vorhanden« seien, die zum »Hindernis für eine Preissenkung werden«, versuche die Reichsregierung, gegen dieses »Kartellunwesen« vorzugehen.127 Auch im Wirtschaftsdienst erschien die Kartellstruktur der deutschen Wirtschaft als Problem. Mit leicht abweichender Stoßrichtung argumentierte der Wiener Sozialwissenschaftler Hans Bayer aber optimistisch, dass »Zeiten starker Krisen immer eine Lockerung der organisatorischen Bindungen mit sich [brächten], so daß sich vielfach entgegen den Vereinbarungen Preissenkungen durchsetzen« würden.128 Neben grundsätzlichen Überlegungen, woran eine unmittelbare Preissenkung bislang gescheitert und wie sie herbeizuführen sei, kamen Überlegungen auf, die politische Ratlosigkeit kaum verbargen. So standen als weitere Optionen im Raum, Geschäfte öffentlich bekanntzumachen, die Preise senken, und bei Konsumvereinen nachdrücklich darauf zu insistieren, zugunsten schneller Preissenkungen auf Dividenden zu verzichten129 – Ansätze, die auch in den preispolitischen Debatten Mitte der 1920er Jahre verfolgt worden waren.130 Dass sich die Preisfrage im Verlauf der zweiten Jahreshälfte 1930 zu einem drängenden politischen Problem entwickelte, resultierte nicht nur aus (partei-)politischer und medialer Kritik. Auch zivilgesellschaftliche Kräfte, die in Verbraucherausschüssen oder ähnlichen Vereinen zusammenfanden, trugen maßgeblich dazu bei, die Forderung nach einer ›notwendigen Kosten- und Preisreduzierung‹ zu einem gesellschaftlich hochgradig virulenten Topos zu machen.131
125 [Der neue Stichtag der Reichsregierung] Gehaltskürzungen schon zum 1. Januar, in: B. Z. am Mittag, Nr. 303, 05.11.1930, S. 1. 126 [Was eine Familie jetzt einsparen kann] Unzulänglicher Preisabbau. Neue Steuer-Belastungen, in: B. Z. am Mittag, Nr. 309, 11.11.1930, S. 1. 127 [Beschlüsse des nächtlichen Kabinettrats zum Preisabbau] Reichsregierung will energisch durchgreifen. Maßnahmen gegen Kartelle, in: B. Z. am Mittag, Nr. 310, 12.11.1930, S. 1. 128 Bayer, Zum Problem der Weltwirtschaftskrise, in: Wirtschaftsdienst, 05.12.1930, S. 2077. 129 Vgl. ebd. 130 Vgl. Torp, Konsum und Politik, S. 236 f. 131 Vgl. ebd., S. 237–239.
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Zeitfragen: Die fortdauernde Gegenwart Wer die Beobachtung von der inhaltlichen Dimension der Sprachmuster löst und auf die abstraktere Ebene der Zeitebenen hebt, auf die die Aussagen rekurrierten, gerät geradewegs ins Unscharfe. Im öffentlich-politischen Krisendiskurs zwischen Sommer 1930 und Frühjahr 1931 lassen sich schwerlich trennscharfe Gruppen von Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsaussagen herauspräparieren. Die geringste Rolle spielten – lässt man zunächst abermals die Grundnarrative vom linken und rechten Rand des politischen Spektrums unberücksichtigt – Äußerungen zur Vergangenheit. Dennoch reichte sie, bedingt durch den zuvor schon etablierten ›latenten Krisendiskurs‹ 1929/30, in die aktuellen Auseinandersetzungen hinein. Dass vergangenheitsbezogene Aussagen keine hervorstechende Rolle spielten, lag mutmaßlich daran, dass sich keine klar umrissenen Ursachendiskussionen formierten. Vor allem wenn es um das transnationale, volkswirtschaftsübergreifende Interdependenzgeflecht ging, kristallisierten sich in dieser Krisenphase keine wiederkehrenden Erklärungsmuster heraus. Wer sich an umfassenden Erläuterungen versuchte, wie John Maynard Keynes, gelangte schnell zu einem komplexen Bündel zu berücksichtigender Faktoren, darunter vor allem die Unterauslastung des Produktionspotenzials aufgrund deflationsbedingt geringer unternehmerischer Gewinnerwartungen und eine unzureichende und folglich investitionshemmende Kreditversorgung der Unternehmen.132 Anders als bei den später betrachteten Krisen der Nachkriegszeit waren es indes ebenso wenig zukunftsbezogene Aussagen, die diesen Krisenabschnitt eindeutig prägten. Dennoch war der Krisendiskurs in diesem Stadium keineswegs primär, aber zu einem beträchtlichen Teil auch Zukunftsdiskurs. Die Zukunft spielte, konzipiert als Zeitraum mit im Detail unbestimmter, aber geringer zeitlicher Tiefe, sowohl als Legitimationsressource als auch Problemfaktor eine Rolle. Die Funktion als Legitimationsressource für gegenwärtiges politisches Agieren zeigte sich prägnant im Sprachmuster der ›sich bald bessernden Lage‹. Das Ankündigen einer besseren Zukunft fungierte als Rechtfertigung aktueller Entscheidungen. Das machte den Topos – wie an den Beispielen gesehen – gerade für Regierungspolitiker attraktiv. Zeitlich blieben diese Hoffnungsprognosen vage.133 Im Zeithorizont aussagekräftiger waren Warnungsprognosen, also Aussagen, die auf Gefahren und Herausforderungen der unmittelbar folgenden Zeit verwiesen. Im Herbst 1930 erstreckte sich diese Zukunft auf den anstehenden 132 Vgl. John Maynard Keynes, Die große Krise des Jahres 1930, in: Wirtschaftsdienst 15 (1930), H. 51, 19.12.1930, S. 2166 f. 133 Die hier genutzte Terminologie zur semantischen Unterscheidung von Prognoseformen ist orientiert an Differenzierungen, die Lucian Hölscher in seiner einschlägigen Studie: Weltgericht oder Revolution?, S. 18 f., verwendet hat.
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Winter. Mit inhaltlich ganz unterschiedlichen Akzentsetzungen eigneten sich verschiedene Sprechergruppen diese Zukunft an. Finanzminister Dietrich gab im Dezember 1930 vor, eine »in diesem Winter« zu erwartende Erhöhung der Arbeitslosigkeit in die Budgetplanung einkalkuliert zu haben.134 Oppositionspolitiker, vor allem der KPD, warnten vor existenziellen Nöten, in die große Kreise der Bevölkerung im Verlauf des Winters geraten könnten, insbesondere, wenn sie arbeitslos seien. Daher forderten die Kommunisten eine staatliche »Winterhilfe«.135 Doch obgleich der ›Krisen-‹Ausbruch im Sommer anschloss an ein schon zuvor latent vorhandenes Interpretament ›Krise‹, das in Deutungen der Gegenwart einbezogen wurde, und seither Prognosen unterschiedlicher Art aufkamen, entwickelten sich keine kohärenten Vergangenheits- und Zukunftsbilder mit politischer Breitenwirkung. Vielmehr rangierten nahezu sämtliche Redemuster in einem Spektrum, das am präzisesten als ›fortdauernde Gegenwart‹ zu bezeichnen ist: Überwiegend waren die Aussagen gegenwartsbezogen, und hinsichtlich der verwendeten Tempi dominierte unverkennbar das Präsens. Doch zugleich implizierten die meisten Aussagen einen Problembeginn vor der Gegenwart und ein Anhalten bis in die zeitlich überschaubare Zukunft.
Akzentverschiebungen: Das Reparationsproblem und Kurzzeithoffnungen Diese Verortung des Krisendiskurses an einer imaginären Zeitachse änderte sich partiell im Verlauf der ersten Jahreshälfte 1931. Der Wandel vollzog sich schrittweise, nicht plötzlich und radikal. Er war nicht zurückzuführen auf Veränderungen der zuvor bestehenden Redemuster, sondern bedingt durch das zusätzliche Aufkommen eines neuen: des Topos von der ›notwendigen Reparations-Revision‹. Es lässt sich weder ein eindeutiges Ereignis noch ein einzelner Grund ausmachen; dennoch entwickelte sich das Sprachmuster in den ersten Monaten des Jahres 1931 zu einer zunehmend geteilten und verbreiteten Ansicht. Nahe liegt, anzunehmen, dass die Kombination aus konjunkturellem Abschwung, anhaltend massiven Finanzierungsproblemen der öffentlichen Kassen und der Schwierigkeit, in ausreichendem Maße an Devisen zu gelangen, für das Aufkommen des Topos ausschlaggebend war. Hatte die Reparationsfrage in den öffentlichen Diskussionen nach der Verabschiedung des Young-Plans speziell im Wahlkampf vor der Septemberwahl immer wieder geschwelt, war aber weder in 134 Dietrich, Reichstag, 5. WP, 7. Sitzung, 03.12.1930, S. 229 D. 135 Z. B. Wilhelm Pieck, Reichstag, 5. WP, 4. Sitzung, 17.10.1930, S. 67 A. Neben Arbeitslosen sollte die Winterhilfe unter anderem Beziehern von Sozial- und Waisenrenten zuteilwerden.
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der deutschen politischen Diskussion noch im diplomatischen Austausch allzu energisch angegangen worden, änderte sich dies jetzt.136 Für die Zukunftsbilder ergab sich daraus eine doppelte Konsequenz: Kurzfristig erhöhte sich der Handlungsdruck; schließlich sollte in absehbarer Zeit eine möglichst endgültige Lösung für die Reparationsfrage gefunden werden. Während mit dieser politischen Notwendigkeit einmal mehr die unmittelbare Zukunft beschrieben wurde, ergab sich aus der wünschenswerten Perspektive einer überwundenen Reparationsfrage ein sehr viel weiterer Zukunftshorizont: die Erwartung einer – bzw. Hoffnung auf eine – Zukunft, in der eine seit Jahren schwelende Problematik restlos ausgeräumt sei. Dass nach dem Erreichen dieses Ziels mit dem Hoover-Moratorium vom Juni 1931 und der endgültigen Streichung der Reparationen auf der Lausanner Konferenz vom Juli 1932 diese Zukunftsaussichten längst Makulatur geworden waren, unterstreicht die dramatische Entwicklung der Krise in den Folgemonaten. Mit der österreichischen und binnen kurzem deutschen Bankenkrise ab Mai 1931 und dem beschleunigten Zerfall des Goldstandards und Welthandels ab dem Sommer 1931 ergaben sich Konstellationen, die einerseits ein Festhalten am Young-Plan völlig unrealistisch werden ließen, andererseits eine Problemgemengelage hervorriefen, in der mit der Lösung der Reparationsfrage nur ein überschaubares Teilproblem behoben war. Dieser Lauf der Dinge war freilich nicht abzusehen, als bald nach dem Jahreswechsel 1930/31 die dauerhafte Lösung der Reparationsfrage eingefordert wurde. Anfang Februar erklärte Reichsaußenminister Julius Curtius in der Haus haltsdebatte des Reichstags, dass »seit den Haager Konferenzen eine völlige Verlagerung in der Weltwirtschaft stattgefunden ha[be]« und zur Überwindung der globalen wie der deutschen Krise »die Reparationsfrage einen ausschlaggebenden Faktor bilde[ ]«.137 Der DVP-Politiker folgerte, dass die veränderten weltwirtschaftlichen Bedingungen »in Verbindung mit [der] Finanznot und der Verelendung [des] Volkes […] die Reparationsfrage in den Vordergrund auch des außenpolitischen Handlungsbereichs« rückten und sie »der wichtigste« Aspekt des »ganzen Finanzproblems« sei.138 Was bei Curtius noch diplomatisch verklausuliert daherkam, formulierten andere Autoren klarer. In einem Bericht über die Eröffnung des Industrie- und Handelstags schrieb die B. Z. am Mittag, DIHT-Präsident Franz von Mendelssohn habe »auf die Belastung der deutschen Wirtschaft durch den Young-Plan […], der unter völlig anderen wirtschaftlichen Voraussetzungen geschaffen [worden] sei«, verwiesen und daraus die Forderung nach einer »weitgreifende[n] Änderung der deutschen Reparationsver136 Vgl. auch Rödder, Stresemanns Erbe, S. 227–235. 137 Curtius, Reichstag, 5. WP, 22. Sitzung, 10.02.1931, S. 883 B – 883 C. 138 Ebd., S. 883 C.
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pflichtungen« abgeleitet.139 So verband sich der mit inhaltlich leicht veränderter Stoßrichtung versehene Topos der ›Überbelastung der Wirtschaft‹ mit dem der ›notwendigen Reparations-Revision‹. In einem Gastbeitrag für die Vossische Zeitung argumentierte der DDP-Politiker und ehemalige Reichsfinanzminister Peter Reinhold, die »Neuregelung der Reparationen« werde zu einem immer drängenderen Problem.140 Denn »die Dinge entwickel[te]n sich […] schneller, als man es im Winter 1930 auf 1931 voraussehen konnte«, und »[i]mmer klarer stell[e] sich heraus, daß Deutschland in die Leistungen des Young-Planes niemals hineinwachsen« werde.141 Anfang Juni, im Vorfeld vielbeachteter britisch-deutscher Regierungskonsultationen in Chequers, hieß es, »zwischen allen Instanzen besteh[e] volles Einverständnis darüber, was man in Chequers vorzubringen gedenke«; »schon jetzt« könne man »Chequers geradezu das ›Reparationsgespräch‹ nennen«, und es sei sicher, dass die »deutschen Minister es an Eindringlichkeit ihrer Darstellung der deutschen Not nicht fehlen lassen« würden.142 Dieser innerhalb der deutschen Politik bestehende Konsens, verlautete es vier Tage später, werde in der City of London geteilt, die das »Aufrollen des gesamten Schuldenproblems und nicht nur der Reparationsfrage innerhalb der nächsten Monate erwarte[ ]« und einhellig »eine Gesamtrevision des Schuldenproblems […] begrüßen würde«.143 Nur zwei Tage später, zeitgleich mit der Verkündung der dritten Wirtschaftsund Finanznotverordnung, wählte die Reichsregierung ein für sie äußerst ungewöhnliches Kommunikationsmittel, mit dem sie die Bedeutung der Verordnung unterstrich und zugleich den Eindruck einer dramatisch zugespitzten Lage forcierte: Sie schaltete eine Zeitungsanzeige, die sich inhaltlich an verschiedene Adressaten richtete. Die mit »Reichsregierung fordert Revision. Die Grenze erreicht – Entlastung von untragbaren Verpflichtungen nötig« betitelte Anzeige enthielt sowohl die Forderung nach einer Entbindung von der Reparationspflicht als auch den lange bekannten Topos der ›notwendigen Kostensenkung‹, jetzt allerdings gerechtfertigt mit einer Angstprognose. Nach innen gerichtet warnte die Regierung, es sei besser, »in geordneten Formen Leistungen […] zu kürzen und Beiträge von denjenigen zu fordern, die noch ein Einkommen haben, als die Gefahr heraufzubeschwören, daß Zahlungen, auf denen die Lebenshal139 Große Kanzlerrede vor den Wirtschaftsführern. Der Industrie- und Handelstag eröffnet, in: B. Z. am Mittag, Nr. 71, 25.03.1931, S. 1. 140 Die Lage der Reichsfinanzen. Von Dr. Peter Reinhold, Reichsfinanzminister a. D., in: Vossische Zeitung, Nr. 100, 26.04.1931, S. 1 f., hier S. 2. 141 Ebd. 142 Die Welt schaut auf Chequers. Deutschlands Appell an die Vernunft, in: B. Z. am Mittag, Nr. 124, 01.06.1931, S. 1. 143 Was die City erwartet. Neue Reparations-Konferenz, in: Vossische Zeitung, Nr. 133, 05.06.1931, S. 1.
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tung weiter Volksschichten beruht, eines Tages nicht mehr bewirkt werden können.«144 Nach außen gerichtet – und nach innen Akzeptanzgewinn anstrebend – mahnte sie, »daß die aufs Äußerste bedrohte wirtschaftliche und finanzielle Lage des Reichs gebieterisch zur Entlastung Deutschlands von untragbaren Reparationsverpflichtungen zwing[e].«145 Das Aufrücken der Reparationsfrage zu einem immer dringlicher werdenden Faktor auf der politischen Agenda bedeutete eine wichtige und langfristige Akzentverschiebung im Krisendiskurs. Eine zweite Akzentverschiebung lag konträr dazu und beeinflusste die politischen Gegenwartsdeutungen nur kurzzeitig: Der Topos der ›sich abzeichnenden wirtschaftlichen Erholung‹ gründete in der öffentlichen Diskussion auf geringfügigen Verschiebungen am Arbeitsmarkt. Das in der Wirtschaftsgeschichtsschreibung oft angeführte Argument der relativen Exportstärke, die 1931 erstmals wieder zu einem Außenhandelsüberschuss führte,146 spielte dagegen in den betrachteten zeitgenössischen Interpretationen keine nennenswerte Rolle. Vermutlich lag der Grund darin, dass derartige wirtschaftsstatistische Veränderungen mit noch größerer Verzögerung als Verschiebungen am Arbeitsmarkt erkennbar werden und weniger plastisch sind. Stattdessen hieß es im März zaghaft optimistisch, »der geringe Rückgang der Arbeitslosigkeit« spreche dafür, dass »der Tiefpunkt der Wirtschaftskrise« überwunden sei.147 Einen Monat später wurden Arbeitslosenzahlen bekannt, die ebenfalls hoffnungsvoll stimmten. Auch wenn die Tendenz »saisonbedingt« sei, habe sich die »Frühjahrsentlastung des Arbeitsmarktes […] durchgesetzt«; es sei »nicht nur eine Verschiebung der Arbeitslosigkeit eingetreten, [sondern] der Arbeitsmarkt habe […] 224.000 Arbeitslose[ ] tatsächlich wieder aufgenommen.«148 Als um Ostern die Ergebnisse der von der Reichsregierung eingesetzten Kommission zur Lösung der Arbeitslosenproblematik – nach ihrem Vorsitzenden, dem Zentrums-Politiker Heinrich Brauns, »Brauns-Kommission« 144 Reichsregierung fordert Revision. Die Grenze erreicht – Entlastung von untragbaren Verpflichtungen nötig, Zeitungsanzeige, abgedruckt in: Vossische Zeitung, Nr. 135, 07.06.1931, 6. Beilage, [S. 1]. 145 Ebd. Mit ähnlicher Intention veröffentlichte der liberale Alt-Finanzminister Peter Reinhold – Das Maß ist voll, in: Vossische Zeitung, Nr. 135, 07.06.1931, S. 1 f., hier S. 1 – am selben Tag einen Kommentar, in dem er gänzlich einig mit der Regierung die gleiche These vertrat: »Die Reichsregierung kann […] der Zustimmung aller Volkskreise versichert sein, wenn sie in ihrem Aufruf die Unhaltbarkeit der Lage vor aller Oeffentlichkeit klar und unumwunden zugibt und feststellt, daß die Grenze dessen, was dem deutschen Volk an Entbehrungen auferlegt werden kann, erreicht ist, und daß deshalb die aufs äußerste bedrohte wirtschaftliche und finanzielle Lage gebieterisch zur Entlastung Deutschlands von untragbaren Reparationsverpflichtungen zwingt.« 146 Siehe oben Kap. II .1. 147 Große Kanzlerrede vor den Wirtschaftsführern, in: B. Z. am Mittag, 25.03.1931, S. 1. 148 224000 Arbeitslose weniger. Starke saisonmäßige Entlastung des Arbeitsmarktes, in: Vossische Zeitung, Nr. 86, 10.04.1931, 4. Beilage, [S. 1].
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genannt – publik wurden, verlauteten aus Regierungskreisen hoffnungsvolle Stimmen. Die Einschätzung, man könne »im Laufe des Sommers mit einer Verminderung der Arbeitslosen um eine Million« rechnen, spiegelte gewiss den (nicht nur für Regierungen) typischen Hang, das für sie positivste Szenario zu unterstellen.149 Dessen ungeachtet aber verwies sie auf die generelle Annahme, dass der Tiefpunkt der wirtschaftlichen Entwicklung durchschritten sei – eine Annahme, die gelegentlich auch mit Blick auf die weltweite Konjunkturentwicklung vertreten wurde. So ging beispielsweise der scheidende Präsident der Internationalen Handelskammer und belgische Ex-Premier Georges Theunis noch Anfang Mai in seiner Einschätzung der »Weltwirtschaftslage« davon aus, »daß der größere Teil der Depressionsperiode« überwunden sei.150 Der Effekt leicht sinkender Arbeitslosigkeit war bekanntlich kurz; ebenso kurz hielt sich der Hoffnungs-Topos einer ›sich abzeichnenden wirtschaftlichen Erholung‹. Ab dem Zusammenbruch der Österreichischen Creditanstalt im Mai und den folgenden Dominoeffekten im deutschen Bankwesen verschwanden die Hoffnungen auf eine rasche Krisenüberwindung schlagartig.
Zuspitzung: Steuerungsverlust und ›Katastrophen‹-Semantik Mit der österreichischen und deutschen Banken- und anschließenden Währungskrise erlangte die Weltwirtschaftskrise eine neue Qualität, auch, weil alle Annahmen hinfällig wurden, es handele sich (nur) um eine (heftige) Konjunktur krise, die durch systemimmanente ›Selbstreinigung‹ zu überwinden sei. Dieser gängige Befund der Wirtschafts- und Politikgeschichtsschreibung ergibt sich tendenziell auch aus einer historisch-semantischen Perspektive. Wie gesehen, war der Krisendiskurs zu diesem Zeitpunkt seit einem Jahr im öffentlich-politischen Sprachgebrauch fest verankert. Im Sommer 1931 erhielt er keine gänzlich neue Kontur, erfuhr aber merkliche Verschiebungen. Denn in der Tat wandelte sich nicht nur die außersprachliche Problemkonstellation, sondern auch unter den tragenden Sprachmustern des Krisendiskurses ereigneten sich Veränderungen: Jene Topoi, die eine baldige Krisenüberwindung ausdrückten, fielen weg; der Diagnosetopos der ›nie dagewesenen Situation‹ verschob sich zu jenem einer beispiellosen ›fundamentalen Störung des Wirtschaftsgeschehens‹, was – das sei sogleich betont – nicht zwangsläufig auch ›des Wirtschaftssystems‹ bedeuten musste.151 Unter den verbreiteten ›Krisen‹-Komposita behauptete der Begriff 149 Osterbotschaft gegen Arbeitslosigkeit. Brauns-Kommission für gesetzliche Arbeitszeit-Verkürzung, in: B. Z. am Mittag, Nr. 79, 04.04.1931, S. 1. 150 Wirtschaftskrise als Kriegsfolge. Hoover eröffnet die Tagung der Internationalen Handelskammer, in: Vossische Zeitung, Nr. 106, 05.05.1931, S. 2. 151 Siehe ausführlich dazu Kap. V.2.
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der ›Weltwirtschaftskrise‹ seine hervorragende Stellung; das Reden von einer einfachen ›Wirtschaftskrise‹, das auf ein in Relation bekanntes Phänomen von begrenzte(re)m Ausmaß verwies, wurde hingegen seltener. Damit versiegten zugleich die Redeweisen, die ein Nebeneinander von weltweiter und deutscher Wirtschaftskrise unterstellten. Der Terminus ›Weltwirtschaftskrise‹, die Diagnose des gestörten Wirtschaftsgeschehens und das Redemuster der ›notwendigen Reparations-Revision‹ (über das auf ein Jahr befristete Hoover-Moratorium hinaus) wirkten wirtschaftspolitisch passivitätserzeugend: Deutschland und die deutsche Wirtschaft erschienen zum Objekt weltwirtschaftlicher Verschiebungen und unkalkulierbarer Automatismen degradiert. Die Vossische Zeitung stellte Ende Mai fest, Deutschland verfolge den »Gang der Krise in der Weltwirtschaft mit dem Bewußtsein, daß auch unser Schicksal dort entschieden« werde.152 Gegenwärtig sei dieser Fortgang geprägt durch »Kampf« und »Entmutigung« und Deutschlands Lage prekär, da »[d]er politische Zwang zu Reparationszahlungen […] ebenso groß [sei] wie die Notwendigkeit, Auslandsanleihen zu erhalten.«153 Angesichts dessen lautete die ernüchternde Schlussfolgerung: »Solange wir zahlen müssen, werden wir borgen müssen. Und solange man uns nicht borgen will (Frankreich) oder kann (Amerika, England), müssen wir unser Vermögen aufzehren durch Schlenderexport (›aktive Auspowerung‹) oder Ausverkauf (Bewag).«154 Wie die »Erstarrung der Wirtschaft« zu überwinden, die Produktion in den Industrieländern ebenso wie die Ausfuhr in den Rohstoffexportländern wieder anzuregen sei, blieb eine offene Frage, das »erlösende Zauberwort« unbekannt.155 In ähnlicher Weise reflektierte dieselbe Zeitung wenige Tage später die konzeptionelle Ratlosigkeit und Vielstimmigkeit bei der Suche nach einem Weg aus der Krise: »Nicht nur die Zahl der Erwerbslosen in aller Welt« und »die Insolvenzen« vermittelten »ein Bild von der Schwere der wirtschaftlichen Depression«; stärker noch zeige »die Unzahl der ›Allheilmittel‹, die nicht nur Theoretiker, sondern auch hervorragende Wirtschaftspraktiker Tag für Tag der aufhorchenden Öffentlichkeit präsentieren« und die von »extremen Freihandelsforderungen« bis zu einer »internationalen Planwirtschaft« reichten, wie verworren die Situation sei.156 152 Der verzauberte Erdball, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 24.05. 1931, S. 1. 153 Ebd. 154 Ebd. 155 Ebd. 156 Wir notieren: [sic!], in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 128, 30.05.1931, [S. 1]. Ähnlich fragte im gleichen Blatt Wilhelm Düsterwald, Sammlung der Kräfte, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 135, 07.06.1931, [S. 1]: »Was will und kann die Wirtschaft von sich aus tun, um den Weg aus dem Wirrwarr zu finden? Wir müssen uns darüber klar sein, daß selbst der günstigste
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Verlautbarungen der Reichsregierung, wie der zitierte, per Zeitungsanzeige verbreitete Aufruf, adressierten eine deutsche Öffentlichkeit, vermittelten aber Botschaften, die sich nach innen wie außen richteten und sich gleichermaßen als Rechtfertigung wie als Appell lasen. So hieß es: »Die Erwartung, daß die Weltwirtschaftskrise mit dem Frühjahr 1931 abebben […] werde, hat sich als trügerisch erwiesen. Deutschland ist in den Güteraustausch der Erde mit einer jährlichen Summe von 28 Milliarden RM verflochten. Es kann sich allein aus der gemeinsamen Not nicht retten […].«157
Dass Deutschland mit dem Moratorium geholfen wurde, löste zwar kurzzeitig Erleichterung aus. So beobachtete die B. Z. am Mittag: »Die Hoover-Botschaft hat der großen politischen Diskussion über die lebensnotwendigere [sic!] Revision der Reparationspolitik eine völlig neue Wendung gegeben[.] Die Fragen, ob Moratorium oder nicht, ob der Weg zur Revision der Reparationspolitik innerhalb oder außerhalb des Young-Plans gesucht werden soll, […] sind seit gestern überholt[.] Der Präsident der Vereinigten Staaten […] hat den Knoten, in dem sich die europäischen Geschicke heillos verwirrt hatten, durchhauen, indem er das Weltmoratorium, zunächst für ein Jahr, beantragte.«158
Mittel- oder gar langfristig aussageprägend wurden diese Einschätzungen nicht. Im Gegenteil: Schon unmittelbar darauf las man in der Vossischen Zeitung eine kombinierte Hoffnungs- und zuvorderst Warnungsprognose: »Die Kapital- und Geldverhältnisse der Wirtschaft werden […] noch angespannt bleiben und nur auf dem Wege der Heranziehung auch der letzten Reserven […] allmählich zu regulieren sein. Denn es ist […] nicht anzunehmen, daß durch übertriebene Heranziehung eventuell erreichbarer neuer Auslandskredite der Schleier auch weiterhin innere Mißverhältnisse in manchem Wirtschaftszweig verhüllt. Die Krise hat den Punkt erreicht, an dem mit halben Maßnahmen, seien sie poli tischer, seien sie wirtschaftspolitischer Natur, kein Erfolg mehr zu erzielen ist. Wir werden vorerst ein Jahr Zeit haben, um an diese innere Sanierungsarbeit heranzugehen.«159
Verlauf von Chequers und eine noch so gründliche Sanierung der Reichsfinanzen nur die Voraussetzung für die Gesundung schaffen können. […] Die öffentliche Diskussion darüber spitzt sich immer mehr auf die Frage zu, ob für die Unternehmer die freie oder gebundene Marschroute gelten soll […].« 157 Reichsregierung fordert Revision, in: Vossische Zeitung, 07.06.1931, 6. Beilage, [S. 1]. 158 [Weltecho zum Weltmoratorium]. Der Vorschlag Amerikas wird überall freudig begrüßt – nur Frankreich will erst verhandeln] Ganz Amerika steht hinter Hoover. Das »Meisterstück« des Präsidenten, in: B. Z. am Mittag, Nr. 142, 22.06.1931, S. 1 f., hier S. 1. 159 Dr. H. B., Klarer Kurs, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 148, 23.06.1931, [S. 1]. (Autor vermutlich Hans Buschmann.)
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Kurzum: Im Sommer 1931 fanden sich Politiker und mediale Kommentatoren weit stärker als zuvor in einem reaktiven Handlungsmodus wieder. Einzig das außenpolitische und diplomatische Agieren in der Reparationsfrage, das die Deutungen der ökonomischen Lage unmittelbar mit-beeinflusste, ließ sich als aktives Handeln interpretieren, bei dem der Erfolg gleichwohl massiv von den Verhandlungspartnern abhing. Prinzipiell traten weder im Sprachgebrauch politisch Verantwortlicher noch bei Beobachtern konzeptionell neue Handlungstopoi hervor. Passivitätsausdrückende Sprachbilder, wie »schwere[ ] Stürme, die […] über die deutsche Wirtschaft hinweggebraust« seien, bildeten zwar keine tragenden metaphorischen Muster, traten aber vereinzelt hinzu und verstärkten den Eindruck politischer Desorientierung, Resignation und Ratlosigkeit.160 Drastischer manifestiert wurde er durch den Katastrophenbegriff, der nicht permanent, aber immer öfter aufkam. Deutlicher als ›Krise‹ evozierte ›Katastrophe‹ ein verheerendes Problemausmaß, das in seinen Konsequenzen unkalkulierbar war. Argumentativ nutzbar waren ›Katastrophen‹-Behauptungen und Warnungen in unterschiedlichen Zusammenhängen. Ein Kommentar zur dritten großen Notverordnung kritisierte, es seien »nur unzulängliche Maßnahmen vorgese hen, um die Gemeinden, die unter dem Druck der WohlfahrtserwerbslosenUnterstützungen leiden, vor der Katastrophe zu bewahren.«161 Im Zuge der Entscheidung über das Schulden- und Reparationsmoratorium und weitere amerikanische Hilfe angesichts des Gold- und Devisenabflusses aus Deutschland konstatierte die B. Z. am Mittag, »[n]iemand in den Vereinigten Staaten [sei] mehr überzeugt, daß Deutschland schleuniger Hilfe bedarf[,] als der Präsident der Vereinigten Staaten«, andernfalls erwarte er »eine Katastrophe«.162 Die Vossische Zeitung zeigte sich im selben Kontext erleichtert über den »Hoover-Appell«, der zum »Grundstein einer Bereinigung der schweren Weltwirtschaftskrise« werden könne, obgleich »seine Verwirklichung […] nicht das sofortige Ende aller Not« bedeute und »[j]ede Schuldenrevision […] neben der akuten Abwendung von Katastrophen, wie sie am deutschen Geld- und Devisenmarkt drohten«, zunächst nur Handlungsspielräume erweitere.163 Und im Oktober argumentierte Heinrich Brüning, eine in der Reparationsfrage konfrontativer agierende Regierung hätte »eine Situation in der Wirtschaft und in der Außenpolitik herbei 160 Paul Elsberg, Die Stimme der Banken, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 147, 21.06.1931, [S. 1]. 161 Erich Krämer, Not-Subventionen, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 136, 09.06.1931, [S. 1]. 162 Amerika will Deutschland helfen! Ueber 3 Milliarden sollen flüssig gemacht werden. Hoovers große Initiative, in: B. Z. am Mittag, Nr. 141, 20.06.1931, S. 1. 163 Dr. H. B., Klarer Kurs, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 23.06.1931, [S. 1]. (Autor vermutlich Hans Buschmann.)
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geführt […], die eine ganz andere Katastrophe zur Folge gehabt hätte als die Dinge, die im Juni, Juli und August dieses Jahres eingetreten« seien.164 Auch unterhalb der Stufe von ›Katastrophen‹ angesiedelte Aussagen produzierten die Einschätzung einer fundamental gestörten Wirtschaftslage. Als die Berliner Börse, die von der Reichsregierung Mitte Juli als ultima ratio geschlossen worden war, Anfang September 1931 wieder öffnete, verteidigte Wirtschaftsredakteur Paul Elsberg die Entscheidung der Regierung vehement; sie sei erforderlich gewesen, um die »schwer um ihre Existenz ringende[ ] Wirtschaft« vor weiteren Schocks zu schützen.165 Wie sich die Börse jetzt entwickeln würde, stellte für Beobachter Anfang September eine schwer zu beantwortende Frage dar. »[D]ie außen-, innen- und wirtschaftspolitischen Schwierigkeiten Deutschlands wie die immer noch steigende Kurve der Weltwirtschaftskrise« bedeuteten nach wie vor gewichtige Unsicherheitsfaktoren.166
3. Implizite Historisierungen und disparate Erwartungen: Herbst 1931 bis Winter 1932/33 Wie schon im Mai und Juni vollzog sich der diskursive Wandel auch im Herbst 1931 äußerst fluide. Obgleich keine scharfe Zäsur herausragte, zeigt die Gesamtschau doch überdeutlich, dass sich der Zeitraum zwischen Oktober 1931 und Januar 1933 historisch-semantisch merklich von den beiden vorangegan genen Krisenphasen abhob und einen dritten Krisenabschnitt begründete. Seine wichtigsten Kennzeichen waren ein stark erweitertes Aussagespektrum und eine größere Bandbreite auf der Zeitachse. Kurz: Im Zuge häufiger werdender Verantwortungszuschreibungen, vielfältigerer Handlungsvorschläge und polyfonerer Prognosen griff der Diskurs verstärkt auf Vergangenheit und Zukunft aus. Vergangenheit meinte die Entwicklung seit Ende der 1920er Jahre, Zukunft die Zeit, die maximal geringfügig über die Jahresfrist hinausging. Ausnahmen bildeten auch hier rechts- und linksradikale Positionen, die gleichermaßen fundamentale Erklärungsnarrative wie Zukunftsentwürfe artikulierten. Generell aber verblieb der Krisendiskurs – trotz der Erweiterung der Zeitdimension – in einem in beiden temporalen Richtungen überschaubaren Rahmen. Auch die ›fortdauernde Gegenwart‹, die unmittelbar an die Aktualität anschließende Zeit, blieb weiterhin ein wichtiger Bezugspunkt. ›Krise‹ bezeichnete fortan nicht 164 Heinrich Brüning, Reichstag, 5. WP, 53. Sitzung, 13.10.1931, S. 2076 A. 165 Paul Elsberg, Falsche Börsenpolitik, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 211, 04.09.1931, [S. 1]. 166 Oscar Meyer, Der erste Börsentag. Von Staatssekretär a. D. Oscar Meyer, Erster Syndikus der Berliner Börse, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 209, 02.09.1931, [S. 1].
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Wirtschaftskrise zwischen ›Ultimokrise‹ und ›Umschwung‹
länger einen aktuellen volks- und weltwirtschaftlichen Zustand, sondern eine anhaltende Problemlage. Anders ausgedrückt: Der abgerufene Bedeutungs gehalt im semantischen Spektrum von ›Krise‹ verschob sich von der Dimension des Ereignishaften zur Bezeichnung für eine Struktur im Sinne einer längerfristig bestehenden Problemkonstellation. Im Gegensatz zu den beiden zuvor behandelten Krisenabschnitten lassen sich die diskursiven Veränderungen dieser Krisenphase weniger als chrono logisch verlaufende Verschiebungen interpretieren. Sie waren stärker aspektund akteursgebunden. Daher erfolgt die Darstellung in diesem Kapitel thematisch orientiert.
Rechtfertigung, Vorwurf, Analyse: Rückblicke als Krisenhistorisierung Die Relevanzsteigerung vergangenheitsbezogener Aussagen war eng verknüpft mit Sprachstrategien einzelner Akteursgruppen. Kurz: Die Vergangenheit wurde zum Argument gemacht und so zu einem mehr und mehr bemühten Zeitbezug. Dass unterschiedliche Sprecher voneinander abweichende Vergangenheits bilder entwarfen, erzeugte und ergänzte ein generelles Merkmal dieser Krisenphase: das Aufkommen eines offen ausgetragenen Dissens’ in einer Reihe von Einzelfragen. Prinzipiell ließen sich unterschiedliche Typen von Vergangenheitsverweisen ausmachen; zunächst ein Verweis auf die Entwicklung der vergangenen circa zwei Jahre als Erklärung für politische Zwänge und wirtschaftlich-soziale Missstände. Die Vergangenheit fungierte als Rechtfertigung und wurde in dieser Form überwiegend von Brüning und seiner Regierung in Anschlag gebracht. Als Brüning im Oktober 1931 im Reichstag das Programm seines zweiten Kabinetts referierte, rechtfertigte er zugleich seine bisherige Politik mit einem Blick zurück. Unter anderem betonte er die sich rasant verändernden Sachlagen, speziell im zurückliegenden Sommer; so habe die »weitergreifende Zerrüttung der Kreditwirtschaft der Welt […] die Reichsregierung von Woche zu Woche vor neue Aufgaben gestellt.«167 Überdies bekannte er (inhaltlich und im Duktus wie Peer Steinbrück nach der Krise vom Herbst 2008 klingend), er habe »eine besonders große Sorge in den Tagen gehabt, wo wir die Banken stützen mußten und wo wir den Umfang unserer Hilfe für einzelne wirtschaftliche Unternehmungen sehr viel weiter ausdehnen mußten, als uns lieb und als öffentlich bekannt ist.«168 Zusätzlich zu dieser Rückschau auf die unmittelbar zurückliegende Zeit spannte
167 Brüning, Reichstag, 5. WP, 53. Sitzung, 13.10.1931, S. 2070 D. 168 Ebd., S. 2076 A.
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er einen größeren Bogen, der Krisenursachen und Krisenpolitik prinzipieller erklären sollte. So erläuterte der Kanzler: »Es ist nicht Schuld des Kabinetts Hermann Müller[…], daß diese Situation so gewesen ist, sondern es liegt an den Fehlern, die insgesamt die öffentliche Hand und ein Teil der privaten Wirtschaft in den vergangenen sechs Jahren gemacht haben. Es ist eine Kreditinflation aus dem Ausland her eingetreten, die den gesunden Menschenverstand vernebelt und die einen Schleier über alle Dinge gebreitet hat, die ein Anwachsen der öffentlichen und privaten Ausgaben herbeigeführt hat, von der das deutsche Volk unter allen Umständen wieder heruntergebracht werden mußte.«169
Brünings argumentative Strategie fußte darauf, Problemlagen als lange vor seiner Regierungszeit entstanden oder – einem externen Schock vergleichbar – schnell und wenig beeinflussbar aufkommend, darzustellen. Dies unterstrich auch seine Weihnachtsbotschaft, in der er – unter Rückgriff auf notgedrungen Passivität implizierende Wettermetaphorik – das Jahr bilanzierte und zu dem Schluss kam, die »Sturmflut der Krise [habe] die Völker der ganzen Welt erfaßt. Die Verwirrung, in die Krieg und Nachkriegszeit sie gestürzt [hätten], ha[be] in dem bald zu Ende gehenden Jahr die wirtschaftliche, finanzielle und soziale Not überall sehr bedrohlich anwachsen lassen.«170 Sein Staatssekretär in der Reichskanzlei, Hermann Pünder, griff in einem Beitrag für die Vossische Zeitung auf die gleiche Metaphorik zurück und unterstrich, wie unübersichtlich und unbeeinflussbar sich die Krisenlage darstelle: »Die Wetterzeichen auf der ganzen Erde stehen auf Sturm. Der Sturmwind peitscht und pfeift derart, daß der Erdenwanderer kaum einen Augenblick und kaum einen windgeschützten Platz finden kann, der Rückblick und Ausblick bietet. Und ist ein Platz gefunden, so lassen stärkste Nebelwände nur geringen Durchblick zu.«171
Die Argumentationsweise, Schwierigkeiten als extern verursacht und seit langem bestehend darzustellen, war keineswegs ein exklusives Merkmal der Brüning- Regierung. In gleicher Weise rechtfertigte sich Otto Klepper, parteiloser Finanzminister im Kabinett des preußischen SPD -Ministerpräsidenten Otto Braun. Im März 1932 erklärte er in der Haushaltsdebatte des Preußischen Landtags, in der zweiten Hälfte des Jahres 1931 sei im preußischen Haushalt eine »Zuspitzung kritischer Art eingetreten, die einen sichtbaren Reflex [gebe] der Spannungen allgemein-politischer, wirtschaftlicher und sozialer Art, von denen [die] Zeit be169 Ebd., S. 2075 C – 2075 D. 170 Brünings Weihnachtsbotschaft. Staatsführung nutzte den historischen Augenblick, in: Vossische Zeitung, Nr. 607, 25.12.1931, Morgen-Ausgabe, S. 1. 171 Hermann Pünder, Deutsche Weihnachten 1931, in: Vossische Zeitung, Nr. 607, 25.12.1931, S. 1 f.
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wegt« sei.172 Obwohl die Haushalte bis 1930 ausgeglichen gewesen seien, müsse »bemerkt werden, daß dieser Ausgleich von 1925 ab unter dem allmählichen Verzehr früheren Überschusses stattfand.«173 Seither hätten sich Fehlbeträge aufgetürmt, sodass der (erste) von Klepper zu verantwortende »Haushaltsplan für 1932 […] mit rund 449 Millionen unausgeglichenem Fehlbetrag vorbelastet« sei.174 Einer solchen Gebrauchsweise von Vergangenheitsbezügen und Gegenwartsbeschreibungen stellten die regierungskritischen Parteien dreierlei entgegen: einerseits den Vorwurf, die aktuelle (Weltwirtschafts-)Krise als Entschuldigung vorzuschieben, um eigene politische Verantwortlichkeit zu kaschieren; anderer seits den Topos der ›(partiellen) Mitverantwortung‹, der sich nicht primär gegen die Regierung richtete, sondern mit dem sich die Parteien untereinander der Mitschuld an politischen Fehlern bezichtigten, prominent eingesetzt von der KPD gegenüber der SPD. Das Argument war zugleich in umgekehrter, für die eigene Partei oder Person positiv gewendeter Weise nutzbar. Dann verwiesen Sprecher darauf, dass sie auf Probleme und Fehlentscheidungen, die ›jetzt offenkundig sind‹, bereits zum Zeitpunkt xy hingewiesen und Änderungen gefor dert hätten. So warf der DNVP-Fraktionsvorsitzende, Ernst Oberfohren, Reichskanzler Brüning im Oktober 1931 vor, dieser »pflege[ ]« »mit Vorliebe von der Weltwirtschaftskrise als der Ursache der finanziellen und politischen Mißerfolge seines Kabinetts zu sprechen« und begreife nicht, dass »angesichts dessen, was in den letzten Monaten über Deutschland hereingebrochen ist«, eine Abkehr von der Deflationspolitik geboten sei.175 Direkter und pauschaler rechnete ein knappes Dreivierteljahr später Hermann Göring mit der scheidenden Regierung ab. Der NSDAP-Politiker bezichtigte das Kabinett Brüning, sein »ganzes wirtschaftliches Programm vom Young-Plan bis heute [sei] eine gerade Linie des Niederganges der deutschen Wirtschaft«.176 Die innenpolitische Schwäche der Regierung – eine nicht »völkisch-nationale Politik« – verhindere, so hatte er zuvor ausgeführt, auf die »Weltwirtschaftskrise« adäquat zu reagieren. Daher sei die NSDAP sicher: »[W]enn die Weltwirtschaftskrise überhaupt nicht vorhanden wäre, würde es […] Deutschland kaum sehr viel besser gehen […].«177 Eine maßgebliche Verantwortung nicht nur der Regierung, sondern auch der sie lange Zeit stützenden SPD behauptete die KPD. Hatte Wilhelm Remmele der SPD (und dem ADGB) 1931 wegen ihrer indirekten Tolerierungspolitik eine
172 Otto Klepper, Preußischer Landtag, 3. WP, 281. Sitzung, 15.03.1932, Sp. 24572. 173 Ebd. 174 Ebd. 175 Ernst Oberfohren, Reichstag, 5. WP, 54. Sitzung, 14.10.1931, S. 2100 D – 2101 A. 176 Hermann Göring, Reichstag, 5. WP, 62. Sitzung, 10.05.1932, S. 2543 A. 177 Ebd., S. 2537 C.
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Mitverantwortung an den Auswirkungen der Politik Brünings zugeschrieben,178 holte Wilhelm Pieck im Folgejahr zeitlich und inhaltlich wesentlich weiter aus. Pieck prangerte eine Reihe von Einzelentscheidungen an, aufgrund derer die SPD »Verantwortung und Schuld für [das] Massenelend« als Folge der wirtschaftlichen Misere trage: »Sie ist es gewesen, die mit den Ermächtigungsgesetzen an die Stresemann-Regie rung [sic!] den Abbau des Achtstundentages begonnen hat. Sie ist es gewesen, die alle Möglichkeiten dafür geschaffen hat, daß die sozialen Leistungen abgebaut worden sind. […] Der Abgeordnete Karsten hat vollständig vergessen, aufzuzeigen, welche unerhörten Notverordnungen von der Brüning-Regierung erlassen worden sind, mit der der erste große Abbau der Sozialversicherungsleistungen begonnen hat, und daß die Sozialdemokraten diese Regierung toleriert haben, daß sie die Aufhe bung der Notverordnungen, wie sie die Kommunisten forderten, abgelehnt haben.«179
Der DNVP-Abgeordnete Erich Schmidt sah seine Partei mit ihrer seit 1929 betriebenen Anti-Young-Plan-Politik als Erkenntnis-Vorreiter. Im Dezember 1932 bekräftigte er die in derselben Debatte auch von der NSDAP lauthals vertretene Position, »daß die soziale Not, das soziale Elend, das wir heute in Deutschland haben, auf die Erfüllungspolitik, auf den Young-Plan, zurückzuführen« sei.180 Vor diesem Hintergrund zeige sich, dass der »Kampf gegen die soziale Verelendung« zuvorderst von der DNVP geführt worden sei, »deren Führer Hugenberg damals das Volksbegehren gegen den Young-Plan eingeleitet hat.«181 Der SPD -Abgeordnete Reißner warf Schmidt daraufhin vor, dieser habe »auch betont, daß die Tributpolitik an der gegenwärtigen Arbeitslosigkeit Schuld sei«, jedoch verschwiegen, »daß beispielsweise die Hälfte der deutschnationalen Fraktion im Jahre 1924 auch für die Annahme des Dawes-Plans hier im Reichstag gestimmt hat.«182 Die Liste gegenseitiger Verantwortungszuschreibungen wäre mühelos zu verlängern. Sie führt vor Augen, dass die Vergangenheit zum Kampfplatz – präziser: das Handeln von Parteien und Personen in der Vergangenheit zum Objekt fundamentaler gegenseitiger Kritik – wurde und so die Barrieren für einen konstruktiven politischen Dialog eine beinahe unüberwindbare Höhe erreichten. Der dritte Typus von Vergangenheitsverweisen war am wenigsten mit pragmatischen Zwecken aufgeladen und keiner Akteursgruppe direkt zuzuordnen. Er kam vor allem 1932 auf und bestand darin, Entwicklungen der zurückliegenden Zeit wie selbstverständlich als Krisenerscheinungen oder Krisenfolgen 178 Vgl. Hermann Remmele, Reichstag, 5. WP, 54. Sitzung, 14.10.1931, S. 2093 B – 2093 C. 179 Wilhelm Pieck, Reichstag, 7. WP, 2. Sitzung, 07.12.1932, S. 40 B. 180 Erich Schmidt, Reichstag, 7. WP, 2. Sitzung, 07.12.1932, S. 46 A . 181 Ebd. 182 Anton Reißner, Reichstag, 7. WP, 3. Sitzung, 09.12.1932, S. 59 D.
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zu benennen, zu bilanzieren oder und zu behandeln. Dies unterstrich, wie tief sich das Interpretament ›Krise‹ in die Deutungsweisen der Akteure eingeschrieben hatte. Eine indirekte und psychologisch aufgeladene Historisierung formulierte im Reichstag der SPD -Abgeordnete Peter Graßmann. Im Mai 1932 beklagte er, »die beschämende Tatsache […], daß die deutsche Öffentlichkeit anscheinend gegen die Not der Arbeitslosen völlig abgestumpft« sei und »Veröffentlichungen über den Stand der Arbeitslosigkeit mit derselben Gleichgültigkeit hin[nehme] wie etwa Wetterberichte«.183 Graßmanns Vorwurf konnte man lesen als scharfsinnige Beobachtung einer Gewöhnung an die Wirtschaftskrise als schlicht hingenommenen Dauerzustand. Einen solchen Dauerzustand ausdrücklich benannt hatte die Vossische Zeitung schon im Dezember 1931. Sie fasste die Essenz des neuesten Berichts des Instituts für Konjunkturforschung in der Feststellung zusammen, dass »[m]it ihrer zunehmenden Dauer und Intensität […] die gegenwärtige Krise über den Bereich des Konjunkturellen hinausgewachsen« sei.184 Im Sommer bilanzierte dasselbe Institut die Gründe für die seit Jahren anhaltend hohe Arbeitslosigkeit. Sie seien in der »mangelnden Konsequenz der Gesamtpolitik zu suchen, die jahrelang eine widerspruchsvolle Wirtschaftspolitik verfolgen ließ, welche sich in ihren Zielen kreuzte und daher in ihren Wirkungen aufhob.«185 Bisweilen kamen in der zweiten Jahreshälfte 1932 auch Aussagen auf, aus denen nicht nur die These eines seit langem bestehenden Krisenzustandes, sondern einer wenigstens ansatzweisen Überwindung der Krise zu folgern war. So erklärte Reichsbankpräsident Hans Luther, Deutschland »habe[ ] eine Währungs- und eine Wirtschaftskrise erlebt«.186 Der Gebrauch des Perfekts wies darauf hin, dass der Notenbanker die beiden genannten Krisen nicht mehr als hochaktuell einstufte. Kurze Zeit später, im Oktober 1932, diagnostizierte Franz von Papen bei einer Rede vor Wirtschaftsvertretern, das »Ende eines wirtschaft lichen Zusammenbruchs von gigantischem Ausmaß zeichne[ ] sich heute deutlich am Horizont ab«.187 Papen aktualisierte mit der Aussage nicht nur den Topos von der ›Einmaligkeit der Situation‹ respektive ›nie dagewesenen Situation‹. Er 183 Peter Graßmann, Reichstag, 5. WP, 62. Sitzung, 10.05.1932, S. 2530 A. 184 Bilanz der Weltkrise. Entwertete Kreditunterlagen, in: Finanz- und Handelsblatt des Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 595, 18.12.1931, Morgen-Ausgabe, [S. 1]. 185 Deutschlands Arbeitslosennot. Das Konjunkturinstitut zieht Bilanz, in: Vossische Zeitung, Nr. 324, 07.07.1932, Abend-Ausgabe, [o.S]. 186 Zit. nach: Rechtssicherheit über alles. Dr. Luther vor der Kölner Wirtschaft – Louis Hagen gegen Kontingente, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 465, Morgen-Ausgabe, 28.[?]09.1932, [S. 1]. 187 Papen, Rede des Reichskanzlers vor Vertretern der westdeutschen Wirtschaft in der Paderborner Schützenhalle am 16. Oktober 1932, S. 786.
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verfolgte mit ihr auch pragmatische Absichten. Denn, so fuhr er fort, die endgültige »Überwindung der Krise« erfordere ein ambitioniertes politisches Vorgehen, das von der Wirtschaft und der Bevölkerung unterstützt werde.188 Kurz: Papen warb für die Umsetzung des Wirtschaftsprogramms seiner Regierung. Seine Äußerung war mithin eine verschachtelte, bedingte Hoffnungsprognose gemäß der Losung: ›Eine engagierte Unterstützung meiner Wirtschaftspolitik vorausgesetzt, wird es bald möglich sein, die Krise endgültig zu historisieren.‹
›Ankurbelung‹ und ›Arbeitsbeschaffung‹: Semantische Impulse (zu) einer aktiven Wirtschaftspolitik Die Deflationspolitik respektive ihr angebotsorientiertes Credo – Kostensenkungen sowie Haushalts- und Bilanzkonsolidierungen als notwendige und hinreichende Bedingungen für die Wiederherstellung ökonomischer Prosperität – büßte ab 1931 bekanntermaßen rapide an Überzeugungskraft und politischer Legitimität ein. Auf der wirtschaftstheoretischen Ebene kam dies einem merklichen Akzeptanzverlust für den Liberalismus gleich. Wie aber produzierte und präsentierte der zeitgenössische Sprachgebrauch diesen Wandel? Die semantisch orientierte Perspektive führt nicht zu einer scharfen Zäsur. Der Sprach- und Debattenwandel offenbart kein Modell, dem zufolge der Deflationskurs bis zum Sommer 1931 wenig Widerspruch hervorgerufen und nach den Banken- und Währungskomplikationen schlagartig an Zustimmung verloren hätte. Vielmehr schlichen sich Redemuster und Einzelbegriffe, die eine solche Veränderung forcierten, schrittweise in den politischen Diskurs ein. Programmatisch prägnanteste Verdichtung dieser Entwicklung war das Papen-Programm vom Sommer 1932. Kritik an der Umsetzung der Deflationspolitik hatte es – wie gesehen – 1930 schon gegeben, manifestiert im Topos der ›notwendigen Kosten- und Preis senkung‹, die Kritik an der einseitigen Lohnkürzung, aber verzögerten oder ausbleibenden Preisreduzierung bedeutete. Auch Vorschläge, die auf eine Arbeitszeitverkürzung als Mittel zum Abbau der Arbeitslosigkeit zielten, allen voran die Forderung nach Einführung der 40-Stunden-Woche, formulierten Alternativen zum Deflationskurs. Beides konnte man 1931 weiterhin beobachten.189 Darüber 188 Ebd. 189 Beispielsweise in der Entgegnung des SPD -Fraktionsvorsitzenden Rudolf Breitscheid auf die Regierungserklärung Brünings im Oktober 1931: Reichstag, 5. WP, 54. Sitzung, 14.10.1931, S. 2079 D – 2087 B. Breitscheid wiederholte nicht nur die Forderung der SPD nach Einführung der 40-Stunden-Woche (S. 2086 C). Sondern bezugnehmend auf das bisherige Ziel der wirtschaftspolitischen Notverordnungen, »durch Selbstkostensenkung eine Belebung der Produktion herbeizuführen« (S. 2082 A), konstatierte und kriti-
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hinaus nahm das Formulieren weitergehender Alternativen zur bisherigen (Regierungs-)Programmatik ab dem Frühjahr 1931 deutlich an Dynamik zu. Zentrale Einzelbegriffe, die zunächst eine Akzentverschiebung, dann einen prinzipiellen wirtschaftspolitischen Richtungswechsel einleiteten, waren ›(Wieder-) Ankurbelung‹ und ›Arbeitsbeschaffung‹. Sie produzierten breitenwirksam Wissen darüber, dass ein externer Impuls notwendig sei, um die sich offenkundig nicht ›selbstheilende‹ Wirtschaft anzuregen, und die vordringlichste politische Aufgabe darin bestehe, die Arbeitslosigkeit abzubauen. Darüber hinaus verwies ›Arbeitsbeschaffung‹ auf Ansätze, nach denen die Wiedererlangung ökonomischer Prosperität nicht (nur) über die Verbesserung der Wettbewerbsposition der Unternehmen, sondern auch durch eine Stärkung des Binnenmarktes zu erreichen war. Der öffentlich-politische Sprachgebrauch spiegelte die Positionsveränderungen, die sich im arkanen Kommunikationsraum von Wirtschaftspraktikern und Politikern verstärkt seit Sommer 1931 vollzogen,190 wider und trieb sie zugleich an. Augenfälliger Weise handelte es sich bei ›Arbeitsbeschaffung‹ und ›Ankurbelung‹ um Termini, die zwei für den Krisendiskurs zentrale (und später daher separat zu behandelnde191) Phänomene repräsentierten: die Wirkmacht, die hohe Arbeitslosenzahlen ausübten, und eine Verschiebung im dominierenden Metaphernfeld – genauer die Abkehr von Reinigungs- und biologistischen Sprachbildern und schrittweise Hinwendung zu bildhaften Ausdrücken mechanistisch-maschinistischer Art. Mit diesem Wandel wurde das Ökonomische weit stärker als zuvor als ein Raum konzeptualisiert, der aktiver Steuerung bedurfte. Als um Ostern 1931 die Arbeit der Brauns-Kommission ins öffentliche Interesse rückte und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit als politisches Ziel noch vordringlicher wurde, berichtete die B. Z. am Mittag von Kommissionsplänen für ein »wirksame[s] Arbeitsbeschaffungsprogramm[ ]«.192 (Es ging um die Schaffung von bis zu 400.000 Arbeitsplätzen durch Infrastrukturmaßnahmen im Straßen- und Eisenbahnnetz sowie der Bodenbewirtschaftung, die Brüning letztlich aus reparationspolitischen Erwägungen ablehnte, weil sie durch aussierte er ferner: »Die Frage, ob die Idee überhaupt richtig ist, mag strittig sein. Zweifellos aber ist, daß diese Idee bisher nur höchst einseitig durchgeführt worden ist. […] Senkung der Löhne, aber keine Senkung der Preise oder so gut wie keine Senkung der Preise, und diese Preissenkung verhindert in erster Linie durch die Kartelle und in zweiter Linie durch die agrarische Schutzzollpolitik dieser Regierung, durch die Kartellpolitik […], die so gut wie unangetastet durch die staatlichen Behörden ihre Preise hochhält!« (S. 2082 B) 190 Siehe Kap. II .1. 191 Siehe Kap. IV.1 und IV.4. 192 Jetzt Generalangriff gegen die Arbeitslosigkeit. Ministerrat über das Frühjahrsprogramm, in: B. Z. am Mittag, Nr. 73, 27.03.1931, S. 1.
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ländische Anleihen finanziert werden sollten.193). Obwohl der Begriff nicht völlig neu war, sondern schon 1930 Investitionsmaßnahmen bei Reichspost, Reichsbahn und im Wohnungsbau das Label »Arbeitsbeschaffungs-Programm« erhalten hatten194 und gar Brüning – für ihn ungewöhnlich – von »Wiederankurbelung« und »Arbeitsbeschaffung« gesprochen hatte,195 fristeten beide Begriffe zu diesem Zeitpunkt in der öffentlichen Diskussion noch ein tendenziell randständiges Dasein. Prominent trat ›Ankurbelung‹ erstmals im Zuge der Diskussionen über die Notverordnung vom Juni 1931 in Erscheinung. Sowohl der liberale Ex-Finanzminister Reinhold als auch Zeitungskommentator Erich Krämer kritisierten das Vorhaben, staatlicherseits ›Ankurbelungs‹-Impulse in Höhe von 140 Millionen R-Mark zu setzen. Während Reinhold im vorgesehenen Modus, zunächst über Krisensteuer und Lohnreduktion Kaufkraft zu entziehen und sodann aus den Einnahmen zusätzliche Aufträge für die Reichsbahn zu finanzieren, keinen überzeugenden Weg »zur Ankurbelung der Wirtschaft« erkannte,196 stieß sich Krämer in der Vossischen Zeitung zusätzlich am Umfang des Investitionsimpulses. Angesichts einer Gesamtumsatzerhöhe der deutschen Wirtschaft von ungefähr 200 Mrd. R-Mark sei der Versuch, mit einem »Beschaffungsprogramm von 140 Millionen« die Wirtschaft »›ankurbeln‹« zu wollen, »ungefähr dasselbe, als wollte man einen D-Zug, dem die Lokomotive fehlt, durch Droschkengäule in Bewegung bringen«.197 Wenn im Frühjahr oder Sommer 1931 die Rede von ›Ankurbelung‹ oder ›Arbeitsbeschaffung‹ war, verwiesen die Begriffe auf erkannte politische Handlungsnotwendigkeiten oder Ergänzungen des bisherigen wirtschaftspolitischen Kurses, jedoch keinen radikalen Bruch mit diesem. Speziell ›Ankurbelung‹ aber festigte innerhalb kurzer Zeit seinen begrifflichen Stellenwert im politischen Sprachgebrauch. Ende Juni, im Zuge der Diskussionen um das Hoover-Moratorium, beurteilte Hans Buschmann dieses in der Vossischen Zeitung mit Blick auf eine notwendige »Ankurbelung der Wirtschaft«, betrachtete indes nach wie 193 Vgl. Büttner, Die überforderte Republik, S. 441. 194 Z. B.: Das Krisen-Programm der Regierung. Schwere Belastung der Beamten und Angestellten, in: Vossische Zeitung, Nr. 135, 07.06.1930, S. 11 – bzw. zu Umsetzung und Ergänzung auf der Länder-Ebene – Berlin will Arbeit schaffen. Unterstützung von Reich und Preußen gefordert, in: Vossische Zeitung, Nr. 190, 10.08.1930, S. 7. 195 Brüning, Reichstag, 4. WP, 200. Sitzung, 15.07.1930, S. 6373 C (»Wiederankurbelung unserer […] Wirtschaft«) u. S. 6374 B (»Maßnahmen auf dem Gebiete der Arbeitsbeschaffung«). 196 Reinhold, Das Maß ist voll, in: Vossische Zeitung, 07.06.1931, S. 2. 197 Krämer, Not-Subventionen, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 09.06.1931, [S. 1]. (Für seine mit Reinhold deckungsgleiche Kritik bezog er sich ebenfalls auf die ›Ankurbelungs‹-Terminologie: »Die 140 Millionen, die durch die Notverordnung zur ›Ankurbelung der Wirtschaft‹ verwendet werden sollen, werden zunächst durch ebendiese Notverordnung aus der gleichen Wirtschaft herausgepreßt. Sie bestehen aus Steuerbeträgen kleinster Gewerbetreibender, Arbeiter, spärlich entlohnter Angestellter.«, ebd.)
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vor eine Produktionskostensenkung als deren Voraussetzung, auch weil das Reich die Wirtschaft trotz des Moratoriums finanziell nicht wesentlich entlasten könne.198 Im Oktober begründete Ernst Oberfohren sein Urteil eines Scheiterns der Regierung Brüning damit, diese habe beim Amtsantritt 1930 eine »Ankurbelung der deutschen Wirtschaft« versprochen, dieses Versprechen aber nie eingelöst.199 Oberfohrens Wortgebrauch war bemerkenswert, weil er wie selbstverständlich (und ohne Widerspruch zu erfahren) von »Ankurbelung« sprach, Brüning eine solche in seiner damaligen Regierungserklärung allerdings nie angekündigt und den Begriff nicht verwendet, sondern nur indirekt, als Folge einer erfolgreichen Umsetzung seines Sparkureses in Aussicht gestellt hatte.200 Ein Dreivierteljahr später stand ›Ankurbelung‹ schließlich wesentlich eindeutiger für eine neue wirtschaftspolitische Grundausrichtung. Es bezeichnete eine aktive, nachfragestützende Konjunkturpolitik in größerem Stil. Das Papen-Programm im Umfang von 2,7 Mrd. R-Mark sollte durch direkte öffentliche Investitionen, besonders aber die Anregung unternehmerischer Investitionen durch ein Steuergutschein-Modell zu einer Stützung der Inlandsnachfrage führen und durch erhoffte Multiplikationseffekte der Wirtschaft insgesamt Auftrieb verleihen.201 Die Semantik von ›Ankurbelung‹ stimmte somit im und ab Sommer 1932 mit dem heute vorherrschenden Verständnis überein. Als die Verkündung des Wirtschaftsprogramms der Papen-Regierung kurz bevorstand, umriss die B. Z. am Mittag die wichtigsten Elemente des Plans. Anvisiert sei ein »Arbeitsbeschaffungsprogramm«, das »beherrscht [sei] von dem Grundgedanken, daß alle bisherigen Maßnahmen zur Ankurbelung der Wirtschaft […] als unzureichend betrachtet« würden.202 »Deshalb habe sich die Regierung für eine Reihe von Finanzierungsprojekten entschieden, die über den Rahmen aller bisherigen Maßnahmen hinausgehen sollen.«203 Zwei Tage später – ergo einen Tag nach der Vorstellung des Programms – stellte dieselbe Zeitung mit einem großen Aufmacher mehrere Artikel unter den Obertitel »Der Zwölf-Monats-Plan der Reichsregierung. Das Programm für die Wiederankurbelung!«, der nicht nur die Wirtschaftsprogrammatik, sondern auch den angedachten Zeithorizont aufzeigte.204 Der Papen-Plan firmierte in den Folgemonaten wie selbstverständlich 198 Hans Buschmann, Unter neuer Führung, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 153, 28.06.1931, [S. 1 f., hier S. 1]. 199 Oberfohren, Reichstag, 5. WP, 54. Sitzung, 14.10.1931, S. 2101 C. 200 Siehe Brüning, Reichstag, 4. WP, 152. Sitzung, 01.04.1930, S. 4728 A – 4730 B, z. B. S. 4729 B – 4729 C. 201 Vgl.: Minuth, Einleitung, S. XXXVII f.; Golecki, Einleitung, S. XXXVIII . 202 Ueberraschungen im Wirtschafts-Programm. Auch Mieten sollen gesenkt werden, in: B. Z. am Mittag, Nr. 205, 27.08.1932, S. 1. 203 Ebd. 204 Der Zwölf-Monats-Plan der Reichsregierung. Das Programm für die Wiederankur belung [= Obertitel], in: B. Z. am Mittag, Nr. 206, 29.08.1932, S. 1.
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unter dem Label »Ankurbelungsprogramm«.205 Und auch Papens Nachfolger, Kurzzeit-Kanzler Kurt von Schleicher, nannte in einer Rundfunkansprache kurz nach Amtsantritt als wirtschaftspolitische Ansatzpunkte seiner Regierung »Arbeitsbeschaffung, Siedlung und Ankurbelung der Wirtschaft«.206 Zudem zeigte der mit Schleichers Amtsantritt neu geschaffene Posten eines »Reichskommissar[s] für Arbeitsbeschaffung«, den der konjunkturpolitisch progressive Günther Gereke übernahm, wie verankert auch dieser Terminus und das mit ihm verknüpfte Ziel inzwischen waren.207 Schleichers Formulierung fasste die wirtschaftspolitische Debattenentwicklung des zurückliegenden Jahres bündig zusammen. Mit »Siedlung« akzentuierte er einen Faktor, der einerseits von mehreren Parteien als konjunkturstimulierender Ansatz gepriesen wurde, andererseits ideologisch aufgeladen war. Letzteres konkret zu erkennen, erlaubte nur der unmittelbare Kontext des Sprachgebrauchs, denn der Siedlungsdiskurs, um 1900 entstanden, war vielschichtig.208 Anfangs hatte er umfassende Vorstellungen einer Stadt-Land-Symbiose transportiert, nach dem Ersten Weltkrieg war die Siedlungsidee noch ein suburbaner Gestaltungsfaktor im Sinne einer »›grünen Lunge‹« am Rande der Großstadt gewesen.209 Zu Beginn der 1930er Jahre wies ›Siedlung‹ unterschiedlich stark ausgeprägte ideologische Dimensionen auf. In funktionaler Perspektive sollte der Siedlungsbau dazu dienen, Beschäftigung zu schaffen, und zugleich durch »Umsiedlung[en] […] aufs Land« Konfliktpotenziale innerhalb der Städte reduzieren, die für den Fall dort entstehender »wilde[r]« Arbeitslosensiedlungen befürchtet wurden.210 Daneben sollte das Bewirtschaften kleinerer Landflächen innerhalb der Siedlungen eine eigene Versorgungssicherung ermöglichen. Hier zeigten sich neben Autarkievorstellungen auch Ideen vom hohen Wert einer landwirtschaftlich geprägten, bäuerlichen Lebensweise.211 In noch größerem Maße ideologisch, stark völkisch-nationalistisch konnotiert beschrieb ›Siedlung‹ überdies das Konzept einer Vergemeinschaftung bei gleichzeitiger Raumerschließung.212 205 Siehe z. B. Die Wirtschaft braucht Ruhe. C. F. von Siemens’ Appell an die Regierung, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 491, 13.10.1932, Morgen-Ausgabe, [S. 1] (Von Papen hat […] die Unternehmer aufgefordert, die ihnen durch sein Ankurbelungsprogramm gebotene letzte Chance zu ergreifen und damit zu beweisen, daß sie fähig sind, die Schwierigkeiten zu meistern.). 206 Schleicher, Rundfunkrede des Reichskanzlers vom 15. Dezember 1932, S. 109. 207 Vgl. Golecki, Einleitung, S. XXXVII. Die Einrichtung eines solchen Amtes hatte Reichsernährungsminister Magnus von Braun schon im Juni 1932 gefordert, sich zu diesem Zeitpunkt aber nicht durchsetzen können (vgl. ebd.). 208 Einen prägnanten Überblick bietet Schivelbusch, Entfernte Verwandtschaft, S. 115–128. 209 Vgl. ebd., S. 115–117, Zitat S. 117. 210 Ebd., S. 118 f. 211 Vgl. Köhler, Arbeitsbeschaffung, Siedlung und Reparationen, S. 289 f. 212 Vgl. Schivelbusch, Entfernte Verwandtschaft, S. 123–127.
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Besonders explizit und radikal zeigten sich diese Konnotationen von ›Siedlung‹ bei den Nationalsozialisten. Bei ihnen war ›Siedlung‹ nicht nur eng verknüpft mit agrarromantischen, sondern auch klar mit ostkolonisatorischen Zielen und Vorstellungen.213 Im Verlauf der 1930er Jahre offenbarte sich so immer eindeutiger ein Konnex von rassistischem Denken und Siedlungspolitik. Zusammen mit der Idee von zu erschließendem »›Lebensraum‹ im Osten« fungierte die Annahme einer rassisch begründeten Überlegenheit des deutschen Volkes als Basis für die europaweit angelegte Umsiedlungspolitik der Nationalsozialisten.214 ›Siedlung‹ konnte mithin in handlungsanleitenden Aussagen unterschied licher Akteure Erwähnung finden und jeweils spezifisch konnotiert sein. NSDAPPolitiker wie Wilhelm Frick betonten offen, dass Ideen »wie stärkere Berücksichtigung des Binnenmarktes, des Siedlungsgedankens und ähnliches« nicht nur wirtschaftspolitisch zu verstehen seien, sondern »auf viel klarere[ ] und weitergehende[ ] Forderungen der nationalsozialistischen Weltanschauung« referierten.215 Wenn SPD -Politiker wie Peter Graßmann die Forderungen ihrer Partei – neben einer »Verkürzung der Arbeitszeit […] auch ein Arbeitsbeschaffungsprogramm« – konkretisierten, stellten »zweckmäßige Siedlungsbauten« neben »Verbesserung[en] des Straßennetzes« oder »Arbeiten zum Schutz der Hochwassergefahr« hingegen nur einzelne Konkretisierungen sozialdemokratischer Vorstellungen möglicher binnenwirtschaftlicher Impulse dar.216 Äußerungen wie jene des parteilosen preußischen Finanzministers Otto Klepper, der »Veränderungen des Aufwands für den städtischen Wohnungsbau und für die ländliche Siedlung« im Haushaltsplan bekannt gab und hinzufügte, »ob und in welchem Umfange es Aufgabe des Staates ist, sich in Unternehmungen wirtschaftspolitischer Art zu betätigen«, sei umstritten, waren keiner direkten Programmatik oder Weltanschauung unmittelbar zuzuordnen.217 Die in seiner Formulierung mitschwingende Skepsis konnte sowohl auf seinen tendenziell liberal-konservativen Überzeugungen beruhen als auch mit seinen pragmatischen Absichten als Hüter des Haushalts zusammenhängen. Insgesamt lässt sich die Entwicklung von Vorschlägen und Forderungen jenseits der nachgezeichneten Begriffsentwicklung nur eingeschränkt schematisieren. Es handelte sich um eine komplementär verlaufende Akzentverschiebung: Wirtschaftspolitische Handlungsanleitungen enthielten immer seltener deflationistisch ausgerichtete Vorschläge, zugleich nahmen Forderungen nach aktiver Konjunkturanregung immer mehr zu. Beobachtbar war diese Verschiebung so213 Vgl. Mommsen, Der »Ostraum« in Ideologie und Politik, bes. S. 164–168. 214 Vgl. Heinemann, Rasse- und Siedlungshauptamt, prägnant S. 24–32, hier bes. S. 24, 28–32, Zitat S. 24. 215 Wilhelm Frick, Reichstag, 5. WP, 54. Sitzung, 14.10.1931, S. 2088 C – 2088 D. 216 Graßmann, Reichstag, 5. WP, 62. Sitzung, 10.05.1932, S. 2532 C – 2532 D. 217 Otto Klepper, Preußischer Landtag, 3. WP, 281. Sitzung, 15.03.1932, Sp. 24575–24576.
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gar an den Äußerungen Heinrich Brünings. Im Oktober 1931 hatte er seine Politik zwar noch als weltweit beispielgebend verteidigt, da »sie rechtzeitig und als erste im Kreis der großen Nationen mit entscheidenden Sparmaßnahmen an den öffentlichen Ausgaben und mit möglicher Senkung der Erzeugungskosten begonnen« und mit diesem Ansatz »Nachahmung in der ganzen Welt gefunden« habe.218 Zugleich hatte er aber ebenso erklärt, »Regierungsmaßnahmen [künftig] elastischer den jeweilig neu auftretenden Auswirkungen der Weltkrise an[ ]passen« zu wollen,219 und angekündigt, »daß die Bedeutung des Binnenmarktes in der kommenden Zeit stärker in den Vordergrund treten« werde, wofür »Pläne einer erweiterten und beschleunigten Siedlung auf dem Lande und dem Vorfeld der Städte« zentral seien.220 Im Februar 1932 bezog er sich explizit auf die Forderung, »die Reichsregierung [möge] mit der Deflationspolitik Schluß mache[n]« und kündigte in der Tat an, die »Reichsregierung w[erde] alles tun, was in den Kräften der Regierung eines einzelnen Landes steht, um überhaupt angesichts der Verwicklung der weltwirtschaftlichen Schwierigkeiten einer weiteren Deflation zu begegnen.«221 Im Mai lehnte er auch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nicht mehr rundweg ab, sondern warnte lediglich vor übersteigerten Hoffnungen, da »eine Arbeitsbeschaffung […] endgültig das Rad nach oben hin erst treiben [werde], wenn der Tiefpunkt einer Krise schon überwunden« sei.222 Diese Zitate veranschaulichen, dass und wie bereits bei Brüning eine ansatzweise Hinwendung zu einer aktiveren Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik erfolgte. In der Literatur sticht dieser Aspekt zumeist kaum hervor; speziell in knapp gehaltenen Überblicksdarstellungen wird ihm bisweilen wenig oder keine Aufmerksamkeit gezollt, was mutmaßlich damit zusammenhängt, dass die auf Brüning folgenden Regierungen weit stärkere Impulse für eine aktive Wirtschaftspolitik setzten.223 Gleichwohl hat Henning Köhler die Arbeitsbeschaffungspolitik am Ende der Regierungszeit Brünings bereits 1969 in einem Aufsatz ausführlich thematisiert.224 Köhler verortete die Motive und Vorstellungen, die Brüning und sein Kabinett zum Nachdenken über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen verleiteten, nicht zuvorderst in der Sphäre einer aktiven Konjunkturpolitik im heute verstandenen Sinne. Vielmehr seien die Maßnahmen einerseits als Kompensation für einen zur Etatdeckung notwendigen weiteren Abbau von 218 Brüning, Reichstag, 5. WP, 53. Sitzung, 13.10.1931, S. 2070 D – 2071 A. 219 Ebd., S. 2070 D. 220 Ebd., S. 2072 B. 221 Heinrich Brüning, Reichstag, 5. WP, 59. Sitzung, 25.02.1932, S. 2328 A. 222 Ders., Reichstag, 5. WP, 63. Sitzung, 11.05.1932, S. 2601 C. 223 So bleibt dieser Aspekt unter anderem unerwähnt bei Hesse / Köster / Plumpe, Große Depression (vgl. hierzu ebd., S. 71–76), findet aber eine kurze Erwähnung bei Knortz, Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik, S. 249 f. 224 Köhler, Arbeitsbeschaffung, Siedlung und Reparationen.
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Sozialleistungen, andererseits als eine Beschäftigungsform gedacht gewesen, die eher dem freiwilligen Arbeitsdienst ähneln und speziell den Siedlungsbau forcieren sollte.225 Mithin hätten sich in Brünings Überlegungen Motive der Kompensation für anderweitige (Etat-)Kürzungen, der sozialpsychologischen Entlastung für Langzeitarbeitslose und des nationalistisch-agrarromantischen Siedlungsbaus überlagert. Auch abseits der – fraglos interessanten, aber hier nicht zu klärenden – Frage, inwieweit man Köhlers Interpretation folgt, zeigt seine Arbeit auf der Basis regierungsinterner Quellen, wie seit Beginn des Jahres 1932 Konzepte zu einer Arbeitsbeschaffung schrittweise Kontur gewannen.226 Darin liegt auch heute noch ein großer Wert; nicht zuletzt ergibt sich so ansatzweise eine Komplementärperspektive zum hier eingenommenen Blickwinkel. Zugleich verdeutlichen die in der vorliegenden Studie angeführten Zitate, wie im öffentlichen Sprachgebrauch durch einen sukzessiven semantischen Wandel Ideen und Ansätze einer aktiveren Wirtschaftspolitik als real erscheinende Option in der politischen Debatte zusehends Platz fanden und auf diese Weise – unabhängig von den ihnen zugrundeliegenden Motiven – schrittweise politisch umsetzbar(er) wurden. So wird die Bedeutung sprachlichen Wandels für perspektivisch folgenreichen programmatischen Wandel plastisch erkennbar.
Wegbrechender Welthandel: Protektionismus als Erklärung und Hürde Der Aufbau höherer Zollschranken und die Erosion des Goldstandards schränkten die internationalen Handelsbeziehungen gravierend ein. Zu dieser Erkenntnis gelangten nicht nur einzelne hellsichtige Zeitgenossen oder die Situation ex post analysierende Historiker. Speziell das Protektionismus-Problem trat schon in den politischen Debatten ab Ende 1931 in Form des Topos ›der zu überwindenden Handelsschranken‹ wiederholt zutage. Das Sprachmuster kam in zwei argumentativen Gebrauchsweisen zum Einsatz: erstens als Erklärung für den Verfall der Weltwirtschaft und dringend anzugehendes politisches Pro blem, zweitens – integriert in vorsichtige Hoffnungsprognosen – als Schlüssel zu einer wirtschaftlich besseren Zukunft. In der Summe freilich überwog die erste Gebrauchsweise. Das Urteil der Vossischen Zeitung im Dezember 1931 war eindeutig: »Die protektionistische Krisenreaktion in den einzelnen Ländern schnürt die Welthandelsbeziehungen mehr und mehr ab. Eine konjunkturelle Konsolidierung ist
225 Vgl. ebd., S. 280 f., 286–295. 226 Vgl. ebd., bes. S. 279–285.
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in der Weltwirtschaft somit noch nicht erkennbar.«227 Im Tenor ähnlich klang wenige Tage später Brünings Weihnachtsbotschaft. Der Reichskanzler sprach von der »immer stärker« werdenden »Erkenntnis […], daß kein Land durch den Niedergang des andern gewinnen kann und daß eine Rettung aus dem drohenden Zusammenbruch aller nur in der Aufrichtung einer Interessengemeinschaft zu erblicken« sei.228 Das Institut für Konjunkturforschung konstatierte im März 1932, »der währungs- und zollpolitische Wirrwarr, in den die Weltwirtschaft hineingeraten [sei], mach[e] sich, je länger, desto stärker, zum Nachteil der deutschen Wirtschaft geltend«, vor allem die »Ausfuhr ha[be] sprunghaft abgenommen«.229 Unverkennbar zeige sich, »wie stark sich die Wettbewerbsverhältnisse durch die Abkehr Englands vom Goldstandard zu […] Ungunsten [Deutschlands] verschoben« hätten.230 Eindringlich für die Wiederherstellung eines funktionierenden Welthandels und gegen jegliche Autarkiepläne plädierte ungewöhnlich offensiv die Vossische Zeitung. In einem »Welthandel tut not« überschriebenen Artikel lobte die Zeitung die Stellungnahme mehrerer Vertreter der deutschen Wirtschaft, die ihre »Erfahrungen den Ignoranten und Demagogen entgegen[ ]halten, die mit dem Wohl des Volkes ein frivoles Spiel treiben und […] die autarke Wirtschaftsform für Deutschland als die Rettung aus der gegenwärtigen Not bezeichnen.«231 Genauso argumentierte der preußische Finanzminister. Otto Keppler erklärte, er »glaube nicht an den Erfolg einer Wirtschaftspolitik, die sich autarke Ziele setzt«.232 Eine »isolierte Konjunktur« werde sich in Deutschland nicht ergeben, vielmehr werde der »konjunkturelle Aufschwung […] dann [kommen], wenn man in internationalen Übereinkommen der Erkenntnis Rechnung tr[age], daß der Sinn der modernen wirtschaftlichen Entwicklung in einer Erleichterung des zwischenstaatlichen Güteraustausches, nicht aber in seiner Hemmung« liege.233 Trotz des warnenden Tonfalls in seiner Äußerung stellte Keppler für den Fall eines wiederhergestellten Welthandels wirtschaftliche Erholung in Aussicht, formulierte mithin sehr vorsichtig eine bedingte Hoffnungsprognose. Vergleichbar und nach dem erfolgreichen Verlauf der Lausanner Konferenz optimistischer 227 Bilanz der Weltkrise, in: Finanz- und Handelsblatt des Vossischen Zeitung, 18.12.1931, Morgen-Ausgabe, [S. 1]. 228 Zit. nach: Brünings Weihnachtsbotschaft, in: Vossische Zeitung, 25.12.1931, MorgenAusgabe, [S. 1]. 229 Zit. nach: Entspannungs-Zeichen. Im Urteil des Konjunktur-Instituts. Kritik an der Deflation, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 114, 08.03.1932, Morgen-Ausgabe, [S. 3]. 230 Zit. nach: ebd. 231 Welthandel tut not, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 158, 01.04.1932, Abend-Ausgabe, [S. 1]. 232 Otto Keppler, Preußischer Landtag, 3. WP, 281. Sitzung, 15.03.1932, Sp. 24581. 233 Ebd., Sp. 24581–24582.
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beurteilte Wirtschaftsredakteur Wilhelm Düsterwald in der Vossischen Zeitung die Lage im Sommer 1932. Düsterwald schätzte, »daß die Ergebnisse von Lausanne allein noch nicht den wirtschaftlichen Wiederaufstieg bedeuten«, aber »die Voraussetzung dafür, indem sie die wichtigste Wurzel des allgemeinen Mißtrauens beseitigen und […] der Wiederherstellung eines normalen Warenund Kreditverkehrs, der allein die Erfüllung der Konjunkturhoffnungen bringen kann, die Wege ebnen.«234 Deutschland, so plädierte er, solle helfen, »die neue Welthandelsära zur Wirklichkeit« werden zu lassen, damit »vertrauensvolle Arbeitsteilung und Kreditgewährung, nicht Industrierüstung und Goldhortung für den ›Ernstfall‹ die Wirtschaftspolitik der Völker bestimm[t]en.«235
Problemkontinuität oder ›Umschwung‹? Später Optimismus Düsterwalds Prognose war zurückhaltend formuliert, tendenziell aber eine Zukunftserwartung, die Zuversicht vermitteln konnte. Damit fügte sie sich passgenau in das Prognosespektrum ein, das sich im Sommer 1932 etablierte. Prinzipiell gilt: Wer im Zeitraum zwischen Mitte 1931 und Anfang 1933 nach Prognosen sucht, stößt lange Zeit auf drastische Warnungsprognosen, die Erwartungen an einen unverändert anhaltenden wirtschaftlichen Verfall produzierten. Ab dem Spätsommer 1932 wurden sie abgelöst von zunächst vorsichtig optimistischen, bald überzeugt optimistischen Annahmen, den Krisenwendepunkt erreicht zu haben und endlich vor einem Aufschwung zu stehen. Wohl gemerkt: Es ging um eine ›Wende‹ im Krisenverlauf, nicht um das Ende der Krise. Mithin handelte es sich oft um indirekte Prognosen: Wer einen Wendepunkt behauptete, suggerierte, dass sich die Situation fortan bessern würde. Explizit formuliert wurden solche Hoffnungsprognosen selten; sie blieben implizit logisch abzuleiten. Selbst in optimistischen Zukunftsaussagen entwickelten sich um die Jahreswende 1932/33 noch keine Gegenbegriffe zu ›Krise‹. Nicht die einzige, aber die vorherrschende Grundlage für die bisweilen gegensätzlichen Annahmen über die Zukunft war das (Un-)Wissen über die Entwicklung des Arbeitsmarktes. Er stellte das wichtigste Kriterium zur Beurteilung der Krisenentwicklung dar. Bis zum Sommer 1932 lasen sich Meldung über den gegenwärtigen und künftigen Zustand der deutschen Wirtschaft als permanente Hiobsbotschaften. Das Finanzministerium ließ im Dezember 1931 verlauten, bei der Etataufstellung
234 Wilhelm Düsterwald, Welthandels-Wende?, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 329, 10.07.1932, Morgen-Ausgabe, [S. 1]. 235 Ebd.
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für 1932 vorsorglich mit weiter steigenden Arbeitslosenzahlen zu kalkulieren,236 und das Institut für Konjunkturforschung konstatierte zum gleichen Zeitpunkt: »Die schwere internationale Kredit- und Währungskrise dauert an. Produktion und Umsätze schrumpfen weiter. In den überwiegend industriellen Volkswirtschaften hat sich der Rückgang, der sich im ersten Halbjahr verlangsamt hatte, wieder verschärft.«237 Der zugehörige Artikel in der Vossischen Zeitung betonte den absoluten Ausnahmecharakter der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation. Er aktualisierte das Redemuster der ›nie dagewesenen Situation‹, indem er vermerkte, dass »[n]och niemals in den letzten 50 Jahren […] bei einer wirtschaftlichen Krise das Volkseinkommen so stark zurückgegangen« sei wie momentan.238 Im März stellte das Konjunkturforschungsinstitut fest, dass »die Wirtschaftsschrumpfung an[halte]« und sich die »heimische Investitionstätigkeit […] obwohl nicht mehr weit von der Null-Linie entfernt, weiter vermindern« werde.239 Und noch im Juli mahnte es, »mit einer weiteren konjunkturellen Verschlechterung des Arbeitsmarktes [sei] zu rechnen.«240 Doch ab dem Folgemonat kamen zunehmend Aussagen auf, die auf eine latent positivere gegenwärtige und künftig erwartbare Wirtschaftslage deuteten. Dies zeigte sich zum einen bei Börsennachrichten. So reagierte das Berliner Parkett auf die Verkündung des Papen-Programms Ende August unmittelbar mit gefestigten Kursen,241 wenige Tage später kamen Meldungen über eine seit Monaten anhaltende »phantastische Hausse-Bewegung[ ] auf den amerikanischen Finanzmärkten« auf242 und Mitte Oktober über die positiven Auswirkungen der »kräftige[n] Erholung in Wallstreet« und des »dabei hervorgetretene[n] Wirtschaftsoptimismus«, der »an der Berliner Börse in erster Reihe dem Aktienmarkt zugute« komme.243
236 Vgl. Der gesäuberte Reichs-Etat. Nüchterne Schätzungen bilden die Grundlage, in: Finanzund Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 582, 10.12.1931, Abend-Ausgabe, [S. 1]. 237 Zit. nach: Bilanz der Weltkrise, in: Finanz- und Handelsblatt des Vossischen Zeitung, 18.12.1931, Morgen-Ausgabe, [S. 1]. 238 Ebd. 239 Entspannungs-Zeichen. Im Urteil des Konjunktur-Instituts, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 08.03.1932, Morgen-Ausgabe, [S. 3]. 240 Deutschlands Arbeitslosennot, in: Vossische Zeitung, Nr. 324, 07.07.1932, Abend-Ausgabe, o. S. 241 Vgl. [Der Zwölf-Monats-Plan der Reichsregierung. Das Programm für die Wiederankurbelung] Das System der Steueranrechnung, in: B. Z. am Mittag, Nr. 206, 29.08.1932, S. 1. 242 Die Hintergründe der Amerika-Hausse. Wirtschaftsplan oder Wahlmanöver, in: B. Z. am Mittag, Nr. 215, 08.09.1932, S. 1 f., hier S. 1. 243 Wirtschaftsbelebung regt an. Montan- und Kunstseidenwerte führend, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 496, 15.10.1932, Abend-Ausgabe, [S. 3].
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Wirtschaftskrise zwischen ›Ultimokrise‹ und ›Umschwung‹
Zum anderen und zuvorderst war es aber die Arbeitsmarktentwicklung, die als Indikator für einen Wendepunkt in der Krisenentwicklung herangezogen wurde. Hatte Papen im September von »einer langsamen Besserung, zum mindesten eine[m] bevorstehenden Stillstand[ ] der Krise« gesprochen, schien dieser ab Oktober klarer erkennbar.244 Die zu Monatsbeginn bekannt gegebenen Arbeitslosenzahlen zeigten einen Rückgang der Arbeitslosigkeit um 163.000 allein in den letzten beiden Septemberwochen.245 In Unternehmerkreisen war die Rede von der »Hoffnung […], daß der Rückgang in der Beschäftigung zum Stillstand gekommen« und so der »wichtigste Schritt getan« sei für einen »neuen Anstieg« der Wirtschaft.246 Der Vierteljahreswirtschaftsbericht der niederrheinisch-westfälischen Handelskammern äußerte die Hoffnung, »es scheine[ ], als ob die rückläufige Konjunktur im großen und ganzen abgestoppt sei«.247 Am Monatsende vermeldete die Vossische Zeitung knapp »Beschäftigung steigt«.248 Sie bezog sich auf den neuesten Wochenbericht des Instituts für Konjunktur forschung, der ausweise, dass der »Umschwung zum Besseren eingetreten« sei.249 »Aus der Tatsache, daß diese Besserung [auf dem Arbeitsmarkt, K. K.] sich sogar gegen die jahreszeitlichen, zum Rückgang drängenden Kräfte durchgesetzt« habe, folgere »das Konjunktur-Institut um so deutlicher auf eine konjunkturelle Besserung schließen zu dürfen.«250 Entsprechend gute, auf eine anhaltend positive Tendenz hinweisende Nachrichten verbreitete das Konjunkturforschungsinstitut auch Ende November.251 Zum Jahreswechsel bemerkte die Vossische Zeitung erfreut, die »Silvesterstimmung der Börse [werde] nach sechs Jahren zum ersten Male wieder von einem gewissen Optimismus beherrscht«, der Berliner Wertpapiermarkt sei »zu neuem Leben erwacht«.252 Wilhelm Düsterwald konstatierte, dass sich die Anzeichen für einen »große[n] Umschwung« in der Weltwirtschaft und in Deutschland 244 Papen, Rundfunkrede des Reichskanzlers vom 12. September 1932, S. 551. 245 Vgl. Abnahme der Arbeitslosigkeit, in: Vossische Zeitung, Nr. 483, 08.10.1932, MorgenAusgabe, S. 1. 246 Die Wirtschaft braucht Ruhe, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 13.10.1932, Morgen-Ausgabe, [S. 1]. 247 Zit. nach: Optimismus an der Ruhr. Handelskammer-Berichte für das III . Quartal, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 493, 15.10.1932, Morgen-Ausgabe, [S. 3]. 248 Beschäftigung steigt. Die Industrie im September, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 516, 27.10.1932, Abend-Ausgabe, [S. 1]. 249 Ebd. 250 Ebd. 251 Vgl. Industrie-Beschäftigung steigt. Weihnachts-Geschäft als Stimmungsbarometer, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 564, 24.11.1932, AbendAusgabe, [S. 2]. 252 Wiederaufbau der Börse, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 623, Morgen-Ausgabe, 29.12.1932, [S. 1 f., hier S. 1].
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verdichteten, die »letzte Phase der Not« nun »hoffentlich« erreicht sei.253 Seine Feststellung gründete unter anderem auf die gesteigerte Konsumneigung im Weihnachtsgeschäft sowie die im Jahresvergleich gesunkenen Arbeitslosen- und Insolvenzzahlen. Kurzum: Die Befunde zeigen, dass Ende 1932 die Kenntnis über eine offenbar erreichte wirtschaftliche Wende vorhanden war. Die von der wirtschaftsgeschichtlichen Forschung aufgestellte These, der Krisenwendepunkt sei eindeutig schon vor Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft erreicht worden,254 beschrieb mithin ein Wissen, das sich in den letzten Monaten der Weimarer Republik auch im öffentlichen Sprachgebrauch bereits niederzuschlagen begann. Mehr noch: Die Entwicklung der deutschen Wirtschaft seit September 1932 wurde schon Anfang Februar 1933 im Wirtschaftsdienst resümiert. Ähnlich wie Düsterwald argumentierend, erklärte Egon Bandmann, eine »sorgfältige Vergleichung der Entwicklung des deutschen Arbeitsmarktes im Jahre 1932 mit den Vorjahresergebnissen führ[e] zu der Annahme, daß man später einmal rückschauend das Berichtsjahr als das Jahr der entscheidenden Wendung zum Besseren bezeichnen« werde.255 Zwar gebe es noch immer sechs Millionen Arbeitslose in Deutschland, erstmals seit Jahren aber sei nicht nur eine kurzfristige Arbeitsmarktentlastung, sondern auch im Jahresvergleich ein Ende des Beschäftigungsabbaus statistisch manifest.256
253 Wilhelm Düsterwald, Der große Umschwung. Die Lehren der Wirtschaftskrise, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 1, 01.01.1933, Morgen-Ausgabe, [S. 1]. 254 Siehe Buchheim, Erholung von der Weltwirtschaftskrise. 255 Egon Bandmann, Der Arbeitsmarkt an der Jahreswende, in: Wirtschaftsdienst 18 (1933), H. 5, 03.02.1933, S. 135–138, hier S. 135. 256 Vgl. ebd.
IV. Missstände bezeichnen, Herausforderungen benennen – wirkmächtige Begriffsfelder
Der Krisendiskurs brachte nicht nur spezifische Rede- und Argumentationsweisen hervor. Neben solchen Topoi fußte er auf wiederkehrenden Einzelbegriffen und Metaphern, die ebenso das Deutungsmuster ›Krise‹ produzierten. Prägnanter als einzelne Redemuster waren sie bestimmten inhaltlichen Komplexen zuzuordnen: Die Arbeitslosigkeit und ihr numerischer Ausdruck, die Arbeitslosenzahl, fungierte als Indikator für das Krisenausmaß und wirkte sich maßgebend auf die Hierarchie politischer Ziele aus (IV.1). ›Vertrauen‹ und ›Psychologie‹ eigneten sich, um wirkmächtige, aber nicht exakt zu kalkulierende Einflussfaktoren begrifflich zu fassen (IV.2). Termini wie ›Not‹, ›Elend‹ oder ›Kampf‹ schufen Vorstellungen von den gesellschaftlichen Folgen der Wirtschaftsentwicklung und erzeugten politischen Handlungsdruck (IV.3). Die Analyse verbreiteter Metaphern öffnet den Blick auf grundlegendere Denkfiguren und prinzipiellere Problemkonzeptualisierungen (IV.4). Ein scharf auf den Krisenbegriff gerichteter Fokus erlaubt schließlich, die Bandbreite verwendeter ›Krisen‹-Komposita zu ermessen – und zeigt, welche expliziten Krisendeutungen zeitgenössisch ausdrückten, was heute unter ›Wirtschaftskrise‹ subsumiert wird (IV.5).
1. Referenzen und Beurteilungskriterien: die Macht der Arbeitslosigkeit Das Ausmaß der wirtschaftlichen Misere zu erkennen und zu benennen verlangte nach Maßstäben und Kriterien. Gleiches galt für Prognosen möglicher Verläufe der Krise. Und auch die Frage, auf wessen Einschätzung zur Plausibilisierung von Meinungen und politischen Handlungsvorschlägen rekurriert wurde, berührte die Suche nach tauglichen Referenzen. Zwei denkbare Einflussfaktoren spielten hierbei nur eine marginale Rolle: Verweise auf vorangegangene Krisen oder ökonomische Experten. Beides kam vor, jedoch selten und nicht im Sinne musterhafter, sich wiederholender Rückbezüge.
Referenzen und Beurteilungskriterien
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Vereinzelt gerieten die Inflationskrise zu Beginn der 1920er Jahre1, die Wirtschaftskrise 1925/262 oder gar die Konjunkturverlaufsgeschichte seit der Gründerkrise ab Mitte der 1870er Jahre3 in den Blick.4 Insgesamt aber blieben die Bezugnahmen rar; die Krisen fungierten nicht als Speicher an Erfahrungswissen, der im Sinne eines politisch handlungsleitenden Orientierungsgebers nutzbar gemacht wurde. Mutmaßlich rührte dies auch daher, dass die außerordentliche Dimension der gegenwärtigen Krise spätestens ab 1931 offenkundig wurde. Ein ähnlich randständiges Phänomen blieb das Verweisen auf ökonomische Experten. Obgleich diese in politischen Arkana zeitweise Gehör fanden, nicht zuletzt bei der berüchtigten Geheimtagung der List-Gesellschaft 1931, gerieten sie kaum explizit zur Referenz in den untersuchten Rede- und Argumentationsweisen von Politikern und Printmedien. Es liegt nahe, einen Grund hierfür im Zustand der deutschen Nationalökonomie zu suchen, die keine einheitliche Linie vertrat, vor allem aber kein kohärentes Krisenbewältigungskonzept entwarf. Prominente Figuren wie John Maynard Keynes fanden zwar gelegentlich Erwähnung,5 zumal sich dieser im Wirtschaftsdienst regelmäßig mit Einschätzungen und Vorschlägen selbst zu Wort meldete.6 Insgesamt aber waren Argumentationen, die sich ausdrücklich auf Expertenmeinungen stützten, nicht verbreitet. Ebenso wenig geriet die Krisenpolitik anderer Staaten erkennbar zur Orientierungsreferenz. Diffuser fällt die Beurteilung der Orientierungsmacht aus, die von der aufkommenden Wirtschaftsstatistik ausging. Bis zu Beginn der 1920er Jahre hatte Deutschland den Prozess wirtschaftsstatistischer Professionalisierung, der in den
1 Siehe: Luthers Appell an die Wirtschaft. Zentralismus nur auf Zeit, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 88, 21.02.1932, Morgen-Ausgabe, [S. 3]. 2 Siehe: Reinhold, Lage der Reichsfinanzen, in: Vossische Zeitung, 26.04.1931, S. 1 f. 3 Siehe: Bilanz der Weltkrise, in: Finanz- und Handelsblatt des Vossischen Zeitung, 18.12.1931, Morgen-Ausgabe, [S. 1]. 4 In ganz seltenen Fällen konnten Bezugnahmen auf vorangegangene Krisen gar in ein und demselben Argument vorkommen, so bei Brüning, Reichstag, 4. WP, 200. Sitzung, 15.07.1930, S. 6374 A, der die aktuelle Krise zugleich von der Inflationskrise 1923 als auch der Konjunkturkrise 1926 abgrenzte. 5 Siehe: Singer, Zur Diagnosis der Weltwirtschaftsstockung, in: Wirtschaftsdienst, 14.03.1930, S. 442 (»Auf die wichtigste dieser Hemmungen [des Wirtschaftsverlaufs] hat J. M. Keynes […] hingewiesen […]«); Graßmann, Reichstag, 5. WP, 62. Sitzung, 10.05.1932, S. 2529 C (»Die Leute, die vor aller Welt als die Leiter der Banken, der Finanzgeschäfte angesehen wurden und sich selber damit großgetan haben, geben zu, daß das richtig ist, was Keynes vor kurzem geschrieben hat[.]«) 6 Exemplarisch: Keynes, Die große Krise des Jahres 1930, in: Wirtschaftsdienst, 19.12.1930, S. 2165–2168; ders., Die wirtschaftlichen Aussichten für 1932, in: Wirtschaftsdienst 17 (1932), H. 2, 15.01.1932, S. 39–42.
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Missstände bezeichnen, Herausforderungen benennen
industrialisierten Staaten ab den 1870er Jahren einsetzte, weitgehend ignoriert.7 Dies änderte sich in der Weimarer Republik grundlegend; dabei ging 1925 ein wichtiger Modernisierungsschub von der Gründung des Instituts für Konjunkturforschung aus. Es handelte sich um eine Ausgründung aus dem Statistischen Reichsamt, mit dem das neugeschaffene Institut weiter eng kooperierte.8 Den Berichten und Einschätzungen des Konjunkturforschungsinstituts schenkte die öffentliche, mediale Diskussion regelmäßig Beachtung.9 Auch abseits dieser Berichte war die Wirtschaftsberichterstattung, insbesondere der Wirtschaftspresse, zwar eine weitgehend, aber keineswegs eine rein deskriptiv zahlenlose, sondern statistisch unterfüttert. Die Vossische Zeitung argumentierte insbesondere ab 1931 mit Daten, etwa zur Rohstoffeinfuhr10, zu Produktionsmengen in einzelnen, für aussagekräftig gehaltenen Branchen wie der Stahlindustrie11, zu Arbeitslosigkeit12 und Arbeitsstunden13 oder auch zur umstrittenen Größe des Volkseinkommens.14 Genauso waren für Artikel im Wirtschaftsdienst lange Textabschnitte üblich, die teils mit kurzen, teils jedoch auch mit differenzierteren Statistiken angereichert wurden. Sie beinhalteten verschiedene Daten, beispielsweise zu Zinssatz-Entwicklungen15, Haushalts-Posten16, Arbeitssuchenden17, Beschäftigungsständen18 und Arbeitslosigkeit je nach Berufsgruppe19, Produktionsmengen in verschiedenen Regionen und Branchen20 oder zur Entwicklung der Dollar-Kaufkraft21.
7 Vgl.: Tooze, Statistics and the German State, S. 4, 33; Lepenies, Macht der einen Zahl, S. 123–128. 8 Vgl. Lepenies, Macht der einen Zahl, S. 129 f. 9 Vgl. ebd., S. 130 f. 10 Wilhelm Düsterwald, Gradmesser für die Konjunktur, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 50, 23.10.1932, Morgen-Ausgabe, [S. 1]. 11 Düsterwald, Der große Umschwung, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Nr. 1, 01.01.1933, Morgen-Ausgabe, [S. 1]. 12 Ebd. 13 Industrie-Beschäftigung steigt, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 24.11.1932, Abend-Ausgabe, [S. 1]. 14 Bilanz der Weltkrise, in: Finanz- und Handelsblatt des Vossischen Zeitung, 18.12.1931, Morgen-Ausgabe, [S. 1]. 15 Länderberichte. Deutschland, in: Wirtschaftsdienst 14 (1929), H. 50, 13.12.1929, S. 2179 f., hier S. 2179. 16 Länderberichte. Österreich, in: ebd., S. 2180–2182, hier S. 2181 f. 17 Egon Bandmann, Das Anwachsen der Arbeitslosigkeit, in: Wirtschaftsdienst 15 (1930), H. 34, 22.08.1930, S. 1441–1444, hier S. 1441. 18 Ebd., S. 1442. 19 Ebd., S. 1443. 20 Kurt Singer, Weltwirtschaftliche Rechenschaft, in: Wirtschaftsdienst 16 (1931), H. 2, 09.01.1931, S. 41 f. 21 Ernst F. Gaul, Goldagio und Weltdepression, in: Wirtschaftsdienst 17 (1932), H. 5, 05.02.1932, S. 143–145, hier S. 143.
Referenzen und Beurteilungskriterien
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Bei den Daten handelte es sich zumeist um relativ einfache, Summen-fixierte Rechnungen. Was sich vor allem nicht herausbildete, war eine statistische Leitgröße. Diese Rolle, die ab den 1940er Jahren in den USA und wenige Jahre später weltweit das Bruttosozial- / Bruttoinlandsprodukt übernahm und die Wachstum zur vorherrschenden Zielgröße der Wirtschaftspolitik werden ließ, war Anfang der 1930er Jahre noch unbesetzt.22 Gerade deutsche Nationalökonomen wehrten sich vehement dagegen, den Zustand des komplexen Interdependenzgeflechts ›Wirtschaft‹ auf eine Zahl zu verdichten.23 Womöglich deshalb war es schließlich kein komplexes Rechnungsprodukt, sondern eine relativ eingängige Zahl, der entscheidende Macht zukam – zusammen mit dem Problem, auf das sie verwies: Arbeitslosenzahl und Arbeitslosigkeit. Die Arbeitslosigkeit fungierte als Gradmesser zur Erfassung des Krisen ausmaßes und als argumentative Triebfeder für politische Forderungen und Zielhierarchisierungen. Während die Arbeitsmarktlage noch zwei Jahre zuvor in der Rangfolge politischer Probleme auf hinteren Plätzen rangiert hatte,24 entwickelte sich die Arbeitslosigkeit in der öffentlichen Diskussion im Verlauf des Jahres 1930 und erst recht ab 1931 zur vordringlich zu lösenden Herausforderung, auf Seiten der Regierung wie auf Seiten von Opposition und Presse. Bereits im Frühsommer 1930 hatte die Vossische Zeitung das zu langsame »Absinken der Arbeitslosigkeit« als »Kernproblem der gegenwärtigen Wirtschaftsund Finanzlage« bezeichnet.25 Kurz darauf stellte Finanzminister Dietrich die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in der Hierarchie politischer Ziele und abzuleitender Handlungsnotwendigkeiten an die Spitze und erklärte: »Wenn Sie den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit mit einiger Aussicht auf Erfolg führen wollen, dann ist die Ordnung der Finanzen auch deswegen die Voraussetzung dafür, weil die Wirtschaft ohne eine Ordnung der Finanzen nicht belebt werden kann.«26 Als drei Monate später auch die preußische Regierung dezidiert zusätzliche Maßnahmen zur Senkung der Arbeitslosigkeit erwog, darunter die Verlängerung der Schulpflicht, machte die B. Z. am Mittag aus ihrer Haltung 22 Vgl. Lepenies, Macht der einen Zahl, S. 132 f., 153–166. 23 Vgl. Speich Chassé, Erfindung des Bruttosozialprodukts, S. 70–72. Die Diskussionen, prominent 1926 im Verein für Socialpolitik geführt, kreisten zunächst um die Aussagekraft von Summenbildungen in der entstehenden Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, konkret die Brauchbarkeit der Größe ›Volkseinkommen‹ (in heutiger Nomenklatur: Nettonationaleinkommen). Zur grundsätzlichen Entwicklungsgeschichte der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung siehe Vanoli, History of National Accounting. (Zum beschleunigenden Einfluss, den die Weltwirtschaftskrise auf die Entwicklung der Gesamtrechnung in den USA und Deutschland ausübte, siehe ebd., S. 17–20). 24 Vgl. Kaiser, Gewerkschaften, S. 119. 25 Das Krisen-Programm der Regierung. Schwere Belastung der Beamten und Angestellten, in: Vossische Zeitung, Nr. 135, 07.06.1930, S. 11. 26 Dietrich, Reichstag, 4. WP, 204. Sitzung, 18.07.1930, S. 6515 C – 6515 D.
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keinen Hehl. Ausdrücklich begrüßte das Boulevardblatt, dass »die preußische Regierung nun auch endlich ihrerseits Maßnahmen in die Wege […] leite[ ], die geeignet sein können, ein weiteres Steigen der Arbeitslosigkeit in Zukunft zu verhindern und für die weitere Zukunft zu einer Senkung der Arbeitslosenziffern beizutragen.«27 Wenngleich die Arbeitslosigkeit bereits im Verlauf des Jahres 1930 zur Primärherausforderung avanciert war, änderte sich mit ihrem Ausmaß im weiteren Krisenverlauf die Art und Weise, mit dem ihre Bekämpfung als Ziel formuliert wurde: Äußerungen wurden verknappt und partiell pathetisch aufgeladen. Beides bewirkte, die Relevanz des Themas noch stärker zu akzentuieren; 1932 zeigte sich dies besonders augenfällig. Im Mai, in der Diskussion um Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und den freiwilligen Arbeitsdienst, erklärte Brüning, entscheidend sei, »daß alles geschieht, was möglich ist, zur Linderung der moralischen und psychologischen Folgen der Arbeitslosigkeit.«28 Sein Nachfolger, Franz von Papen, formulierte das Credo: »Alle Maßnahmen der Reichsregierung zur Wiederbelebung der Wirtschaft dienen […] nur dem einen großen Ziel: dem Sieg über die Arbeitslosigkeit!«29 Bei Kurt von Schleicher lautete die Losung schließlich: »Dieses [Regierungs-]Programm besteht aus einem einzigen Punkt: ›Arbeit schaffen!‹«30 Darüber hinaus bot das unaufhörliche Steigen der Arbeitslosigkeit Skandalisierungspotenzial und eignete sich als Angriffsfläche für Kritik. Seitens der KPD begründete Theodor Neubauer schon im Dezember 1929 seine These von »ungeheure[r] wirtschaftliche[r] Not« in Deutschland mit der Zahl von »2 ½ Millionen Arbeitslose[n]«.31 In dieser drastischen Art war die Formulierung 1929 noch ungewöhnlich, im Herbst 1931 hingegen üblich. Zu diesem Zeitpunkt sprach Rudolf Breitscheid von dem »unendliche[n] Wachsen der Not im deutschen Volk« und verwies zuvorderst auf die »ungeheure Erwerbslosigkeit«.32 Ernst Oberfohren bezeichnete es als »das schlimmste Fiasko, das je eine Regierung erleben konnte, […] daß sie selbst 7 Millionen Arbeitslose für diesen Winter ankündigen mußte«.33 War die Arbeitslosigkeit 1930 und 1931 als außerordentliche Herausforderung, dabei aber noch immer als Problem der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik erschienen, änderte sich diese Bewertung angesichts des Zerfallsprozesses der politischen Ordnung Weimars 1932. Jetzt konnte sie auch als Ursache für 27 28 29 30 31 32 33
Preußen gegen Arbeitslosigkeit, in: B. Z. am Mittag, Nr. 291, 24.10.1930, S. 1. Brüning, Reichstag, 5. WP, 63. Sitzung, 11.05.1932, S. 2601 C. Papen, Rundfunkrede des Reichskanzlers vom 12. September 1932, S. 553. Schleicher, Rundfunkrede des Reichskanzlers vom 15. Dezember 1932, S. 103. Neubauer, Reichstag, 4. WP, 115. Sitzung, 13.12.1929, S. 3547 B. Breitscheid, Reichstag, 5. WP, 54. Sitzung, 14.10.1931, S. 2081 B. Oberfohren, Reichstag, 5. WP, 54. Sitzung, 14.10.1931, S. 2102 B.
Abstraktes fassen
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den Prozess der politischen Radikalisierung angeführt werden. So erklärte der SPD -Abgeordnete Anton Reißner im Dezember: »Es dürfte eigentlich keine Meinungsverschiedenheit darüber geben, daß das brennendste Problem der Gegenwart die Arbeitslosigkeit ist […]. Die Arbeitslosigkeit und die Wirtschaftsnot sind aber nicht nur ein wirtschaftliches und soziales Problem, sondern auch ein eminent politisches Problem. Ohne die Wirtschaftsnot wären wahrscheinlich die beiden Flügelparteien auf der äußersten Rechten und der äußersten Linken im Reichstage nicht so stark vertreten, wie sie augenblicklich hier sitzen. […] Ohne die Arbeitslosigkeit und die Wirtschaftsnot hätten wir wahrscheinlich auch die Krisen des Parlaments und der Regierungsbildung nicht erlebt, die wir in den letzten Tagen, Wochen und Monaten sich haben abspielen sehen.«34
Gleichwohl wurde nicht nur die Ausnahmedimension der Krise am Ausmaß der Arbeitslosigkeit festgemacht, so wie es auch Keynes schon 1930 getan hatte, als er die »außerordentliche Heftigkeit des Absturzes« daran bemaß, dass in »den drei führenden Industriestaaten […] zehn Millionen Arbeiter ohne Beschäftigung« seien.35 Wie gezeigt,36 war die Arbeitslosenzahl vielmehr auch die Größe, die primär herangezogen wurde, um die These von einem Krisenwendepunkt im Herbst 1932 zu begründen. Abgesehen von der ebenfalls zum Argument gemachten Börsenentwicklung wurden andere zur Verfügung stehende Daten, die beispielsweise ein Wachstum der Industrieproduktion und rückläufige Konkurszahlen anzeigten,37 öffentlich kaum bemüht, um die These zu untermauern. Mithin zeugte auch dies von der Orientierungs- und diskursiven Leitfunktion, die von Arbeitslosenzahlen ausging.
2. Abstraktes fassen: ›Vertrauen‹ und ›Psychologie‹ Von – notwendigem, verlorenem, wiederherzustellendem – Vertrauen zu sprechen, ist heute in nahezu allen Gesellschaftsbereichen üblich und verbreitet.38 Wirtschaft und Politik bedeuten dabei keine Ausnahme. Die im engeren Sinne wissenschaftliche Beschäftigung mit Vertrauen hat primär dessen Funktion, Erwartungsunsicherheiten zu kompensieren und Komplexität handhabbar zu
34 Reißner, Reichstag, 7. WP, 3. Sitzung, 09.12.1932, S. 60 A. 35 Keynes, Die große Krise des Jahres 1930, in: Wirtschaftsdienst, 19.12.1930, S. 2165. Gemeint waren Großbritannien, Deutschland und die USA . 36 Siehe hierzu ausführlich Kap. III .3. 37 Vgl. Büttner, Die überforderte Republik, S. 478. 38 Siehe z. B. Frevert, Vertrauensfragen.
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machen, ins Zentrum gerückt.39 Ausgangspunkt waren interpersonale Beziehungen, daneben Haltungen von Personen gegenüber komplexen gesellschaftlichen Systemen, zum Beispiel dem Rechtssystem. Arbeiten, die sich mit Vertrauen in ökonomischen Kontexten beschäftigen, gingen ebenfalls von interpersonalen Beziehungen und Verhaltensweisen aus.40 Nicht nur in spieltheoretischen Simulationen, bei denen Vertrauen als verhaltensbeeinflussender Faktor unter »Mitspielern« operationalisiert wurde,41 untersuchten sie, angelehnt an Theorieannahmen der Institutionenökonomie, Vertrauen als »Organisationsprinzip zwischenmenschlicher Austauschbeziehungen« und fragten nach seiner Funktion in konkreten, gerade auch betriebswirtschaftlichen Kontexten.42 Eher freihändig verwendet, aber tendenziell ebenfalls funktional konnotiert erscheint der Begriff in wirtschaftshistorischen Studien. Oftmals zielt er auf das Vertrauen bestimmter Akteursgruppen beispielsweise in Anlagemöglichkeiten oder meint Vertrauen als Basis für Investitionsentscheidungen.43 All die genannten Aspekte konnten gemeint sein, wenn Politiker und Journalisten im Weimarer Wirtschaftskrisendiskurs den Vertrauensbegriff bemühten. Speziell im Zusammenhang mit dem Wertpapiermarkt dominierten diese wohlbekannten Gebrauchsweisen von ›Vertrauen‹. So hieß es beispielsweise im Herbst 1929, die »Börse« leide unter einer »Vertrauenskrise«,44 im August 1930, die »Weltwirtschaftskrise laste[ ] schwer auch auf der belgischen Börsenkonjunktur«, da das »Vertrauen […] geschwunden« sei,45 und im Spätsommer 1932, der neu entstandene Boom an der Wallstreet sei mit dem »zurückkehrende[n] Vertrauen in die kapitalistische Wirtschaftsstruktur und in den amerikanischen Dollar« zu erklären.46 Keynes forderte im Dezember 1930 die Zentralbanken zur »Wiederherstellung des Vertrauens auf dem internationalen Anleihe
39 Prominent: Luhmann, Vertrauen; Hartmann, Praxis des Vertrauens. 40 Siehe z. B.: Ripperger, Ökonomik des Vertrauens; Schramm, Wirtschaft und Wissenschaft. Ein solcher Bezug auf Interpersonalität durchzieht auch die zusammenfassenden Bemerkungen zur ökonomischen Relevanz von Vertrauen bei Pfleiderer / Seele / Matern, Kapitalismus – eine Religion in der Krise, S. 19 f. 41 Frevert, Vertrauensfragen, S. 138. 42 Ripperger, Ökonomik des Vertrauens, S. 8. 43 Siehe z. B. die Verwendung des Begriffs bei Hesse / Köster / Plumpe, Große Depression. Sie sprechen davon, dass das »Pfund Sterling […] Vertrauen [genoss]« (S. 33), zudem vom »Vertrauen in die Wertstabilität von Währungen« (S. 44), »Vertrauen der Anleger« (2x, S. 88, 89), »Vertrauen internationaler Investoren« (S. 136) und »Vertrauen in die Wirtschaft« (S. 183). 44 Buschmann, Billigeres Geld für die Wirtschaft, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Nr. 263, 03.11.1929, [S. 1]. 45 Börsensorgen überall, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 21.08.1930, [S. 1]. 46 Die Hintergründe der Amerika-Hausse. Wirtschaftsplan oder Wahlmanöver, in: B. Z. am Mittag, Nr. 215, 08.09.1932, S. 1 f., hier S. 1.
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markt« auf, damit »die Unternehmungslust« neu entfacht werde,47 und nach den Bankenturbulenzen des Jahres 1931 war die Rede davon, das »deutsche[ ] Bankgewerbe« müsse »sein lebenswichtiges Fundament, das Vertrauen«, zurückerlangen.48 Eine im weiteren Sinne auf Interpersonalität oder Systemvertrauen zielende Begriffsverwendung zeigte sich in Formulierungen wie »Vertrauen der Wirtschaft zum Staat und in die Finanzen«,49 »Vertrauen der Inlandsunternehmer in die Stabilität [der] Verhältnisse«,50 »gegenseitige[m] Vertrauen« als »Grundlage jeder halbwegs gesunden Weltwirtschaft«51 oder »Vertrauen, das dem derzeitigen Reichsfinanzminister aus allen Kreisen […] entgegen gebracht wird«.52 Ähnlich einzuordnen war Brünings Forderung an den Reichstag, »Vertrauen zur deutschen Wirtschaft und zur Regierung zu haben« (und deshalb den Haushalt für 1931 parlamentarisch zu verabschieden, was Bedingung für den dringend benötigten Lee-Higginson-Kredit war).53 Darüber hinaus gebrauchten Politiker und Journalisten den Begriff aber auch deutlich bedeutungsoffener. Letztlich konnte stets dann von ›Vertrauen‹ – oder ähnlich, aber seltener verwendet: ›Psychologie‹ / ›psychologisch‹54 – die Rede sein, wenn es um abstrakte, nicht explizit fass- oder benennbare Faktoren ging, die Einfluss auf ökonomisches Verhalten oder die gesamtwirtschaftliche Entwicklung ausübten. ›Vertrauen‹ und ›Psychologie‹ erlaubten, schwer zu verbalisierende Stimmungen und Unkalkulierbares bewusst auf einen Begriff zu bringen. (Dass daneben oftmals Aussagen getroffen wurden, bei denen die Akteure nicht ahnten, über Unkalkulierbares zu sprechen, versteht sich von selbst.) Entsprechende Formulierungen begannen bei Warnungen vor einem nicht begründeten »Vertrauen auf eine bessere Zukunft«55 und reichten über das Einordnen von »gegenstandlose[n] Massenpsychose[n]« als »Vertrauenskrise[n]«56 bis zu Papens Parole: »Vertrauen schafft Arbeit und Brot«.57 Ähnlich deutlich trat 47 Keynes, Die große Krise des Jahres 1930, in: Wirtschaftsdienst, 19.12.1930, S. 2168. 48 Paul Elsberg, Repariertes Vertrauen, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 90, 23.02.1932, Morgen-Ausgabe, [S. 1]. 49 Hermann Robert Dietrich, Reichstag, 4. WP, 204. Sitzung, 18.07.1930, S. 6515 D. 50 Ders., Reichstag, 5. WP, 7. Sitzung, 03.12.1930, S. 230 A. 51 Hermann Pünder, Deutsche Weihnachten 1931, in: Vossische Zeitung, Nr. 607, 25.12.1931, S. 1 f., hier S. 1. 52 Schleicher, Rundfunkrede des Reichskanzlers vom 15. Dezember 1932, S. 104. 53 Heinrich Brüning, Reichstag, 5. WP, 3. Sitzung, 16.10.1930, S. 18 B. 54 Im hier untersuchten Korpus betrug das Verwendungsverhältnis von ›Vertrauen‹ zu ›psychologisch‹ / ›Psychologie‹ 3,6:1. 55 Elsberg, Repariertes Vertrauen, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 23.02.1932, Morgen-Ausgabe, [S. 1]. 56 Bilanz der Weltkrise, in: Finanz- und Handelsblatt des Vossischen Zeitung, 18.12.1931, Morgen-Ausgabe, [S. 1]. 57 Zit. nach: »Vertrauen schafft Arbeit und Brot«. Des Kanzlers Staatsbesuch in München, in: B. Z. am Mittag, Nr. 243, 11.10.1932, S. 1 f., hier S. 1.
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die unspezifisch-unpräzise semantische Aufladung beim Gebrauch von ›Psychologie‹-Vokabular hervor. Es war von der amerikanischen Strategie zu lesen, »die psychologischen Auswirkungen der Krise durch einen frisch-fröhlichen Optimismus zu bekämpfen«.58 Keynes sprach von »psychologischen und hochpolitischen Gründe[n]«, die den »Druck auf das deutsche Wirtschaftsleben beding[t]en«.59 Der Hoover-Appell wurde auch wegen seiner »starke[n] psychologische[n] Wirkung« begrüßt60 und eine »psychologische Belastung des Papen-Programms« ausgemacht, weil aufgrund des Verkündungszeitpunkts im Sommer »selbst im günstigsten Fall die kommenden Erfolge zunächst nur ausreich[t]en, um die saisonübliche Verschlechterung des Arbeitsmarktes zu mildern.«61 In der parlamentarischen Auseinandersetzung erklärte Hermann Müller, er habe »aus psychologischen Gründen nicht begriffen«, weshalb die Reichsregierung in ihrem Ende September 1930 veröffentlichten Finanzprogramm einseitig die Lohn- und Gehaltskürzungen ins Zentrum gerückt hat, schließlich führe der Wahlausgang vom 14. September die Gefahr vor Augen, dass von Kürzungen betroffene Bevölkerungsgruppen der Wirtschaftsordnung mit immer größerer Skepsis gegenüberstünden.62 Und der CSVD -Abgeordnete Otto Rippel monierte fehlende »psychologische Voraussetzung[en] der Preissenkungsaktion«, solange Staats- und Reichsbeamte bei Gehaltskürzungen anders behandelt würden als Beamte in Betrieben der kommunalen Daseinsvorsoge.63 Abseits von Wendungen, die auf ›psychologische‹ oder ›Vertrauens‹-Faktoren rekurrierten, wurde die Existenz nicht exakt antizipierbarer, aber ökonomisch relevanter Einflüsse menschlichen Verhaltens selten thematisiert. Ein Beispiel für eine Ausnahme lieferte Wilhelm Düsterwald in der Vossischen Zeitung, als er an Neujahr 1933 »seelische und stimmungsmäßige Einflüsse [auf] das wirtschaftliche Geschehen« respektive die »Stimmung des Publikums« zum Argument machte.64 Den sich abzeichnenden »Umschwung« im Krisenverlauf erklärte er mit der verbesserten »seelische[n] Verfassung der Weltwirtschaft«, die sich ergebe, wenn die »wirtschaftenden Menschen auf die Erschütterungen der Krise, des Absturzes, ›richtig‹ reagier[t]en«.65 58 Lewinshon, Prosperity for ever!, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 20.04.1930, 3. Beilage, [S. 1]. 59 Keynes, Die wirtschaftlichen Aussichten für 1932, in: Wirtschaftsdienst, 15.01.1932, S. 40. 60 Buschmann, Unter neuer Führung, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 28.06.1931, [S. 1]. 61 Düsterwald, Gradmesser für die Konjunktur, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 23.10.1932, Morgen-Ausgabe, [S. 1]. 62 Müller, Reichstag, 5. WP, 4. Sitzung, 17.10.1930, S. 52 B – 52 C, Zitat S. 52 B. 63 Rippel, Reichstag, 5. WP, 9. Sitzung, 05.12.1930, S. 293 A. 64 Düsterwald, Der große Umschwung, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 01.01.1933, Morgen-Ausgabe, [S. 1]. 65 Ebd.
Leid und Abwehr – prävalente Semantiken
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3. Leid und Abwehr – prävalente Semantiken Gegenwartsbeschreibungen beruhten auch auf wiederholt verwendeten und somit musterhaft wiederkehrenden Einzelbegriffen. Autoren und Sprecher gebrauchten sie zu unterschiedlichen Zwecken: als Gegenwartsanalyse, Vorwurf oder handlungsbegründendes Argument. Sie repräsentierten keine begriffliche Matrix bestimmter politischer Zielvorstellungen oder Weltanschauungen und unterschieden sich insofern von ähnlichen Dominanzen einzelner Begriffe, die sich in den Krisen der Nachkriegszeit herausbildeten.66 Vielmehr handelte es sich um Begriffe, die das soziale Ausmaß der Krisenfolgen intuitiv verständlich verdeutlichten. Zu unterscheiden waren zwei Gruppen von Begriffen: zum einen Termini, die den massenhaften Wohlstandsverlust und das daraus entstehende gesellschaftliche Leid als Summe individueller Verarmung in den Diskurs einschrieben (IV.3.1); zum anderen – metaphorisch wesentlich stärker aufgeladene – Begriffe, die die politische und ökonomische Situation zu einer kampfähnlichen Herausforderung stilisierten (IV.3.2).
3.1. ›Not‹, ›Elend‹ und ›Opfer‹ Individuelle und kollektive Wohlstandseinbußen bis hin zu grassierenden Existenzängsten – diese Phänomene verdichteten sich im Krisendiskurs in drei Einzelbegriffen: ›Not‹, ›Elend‹ und ›Opfer‹. Alle drei offerierten breite Bedeutungsspektren und eigneten sich als Oberbegriffe, mit denen verbreitete Krisenerfahrungen zusammengefasst werden konnten. Wer von ›Not‹ und ›Elend‹ sprach, schloss an kollektiv vorhandenes Wissen aus Alltagserkenntnissen an, ohne ausschweifend präzisieren zu müssen. ›Not‹, auch als Teil von Komposita verkommend, war der quantitativ mit großem Abstand vorherrschende Begriff. Verwendung fand er in sämtlichen Krisenabschnitten sowohl in der medialen Berichterstattung als auch bei politischen Akteuren, unabhängig von ihrer Funktion und Parteizugehörigkeit. Aufgrund seiner relativen Unbestimmtheit, die speziell das Ausmaß der Not offen ließ, war er ubiquitär einsetzbar. Es konnte gleichermaßen eine (begrenzte) wirtschaftliche Not als auch eine unbegrenzte, existenzielle Not gemeint sein. Tendenziell überwog das Reden von einer spezifischen (›wirtschaftlichen‹ / ›sozialen‹) ›Not‹. Ab der zweiten Jahreshälfte 1930 trat ›Not‹ indes öfter auch als alleinstehendes, nicht näher bestimmtes Substantiv auf und fungierte als Kollektivsingular, der eine Reihe von Missständen zusammenfasste. 66 Besonders waren solche netzartig aufeinander referierenden Begriffe in der Krise 1966/67 zu beobachten, siehe (u. a.) Kap. X.3.1.
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Beispielhaft für den ›Not‹-Sprachgebrauch am Jahresende 1929 stand die Reichstagsdebatte von Mitte Dezember. Reichskanzler Müller führte die »notleidende[ ] deutsche[ ] Wirtschaft«67 und die »soziale[ ] Not der Arbeitslosen«68 an, um für seine Pläne einer Steuersenkung und einer Erhöhung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung anstelle von Leistungskürzungen zu werben. Der KPD -Abgeordnete Theodor Neubauer sprach von der »Not der deutschen Wirtschaft«,69 Heinrich Brüning von »soziale[r] Not«;70 beide begründeten ihre Thesen mit der gestiegenen Arbeitslosigkeit. In den drei Folgejahren avancierten ›Not‹-Diagnosen zu den am weitesten verbreiteten semantischen Versatzstücken des Krisendiskurses. Zu lesen und zu hören war unter anderem von »sozialen und wirtschaftlichen Notstände[n]«71, »Notmaßnahmen« für die Landwirtschaft72, einer flexiblen Zinspolitik als Hilfe »in der Not«73, einem »finanzielle[n] Notstand« bei Reich, Ländern und Gemeinden74 oder »Notzölle[n]«75; ab Herbst 1930 immer öfter schlicht von allgemeiner, umfassender ›Not‹. Hierfür standen Formulierungen wie »Zeichen größter Not«76, »schwere[ ] Jahre[ ] ständig wachsender Not«77, »Krisennot«78 oder »furchtbare Not unserer Zeit«79. Bei ›Elend‹ handelte es sich gleichfalls um einen weit gefassten Beschreibungsbegriff. Anders als ›Not‹ implizierte er jedoch eine bestimmte, horrende Dimension an gesellschaftlicher Verarmung und Bedürftigkeit. Selten wurde er in den ersten beiden Krisenphasen, oft hingegen in der dritten Krisenphase ab Spätsommer 1931 genutzt. Ein sprachpragmatischer Vorteil von ›Elend‹ lag in dem gegenüber ›Not‹ höheren Alarmierungs- und Skandalisierungspotenzial. Mutmaßlich deshalb fand sich ›Elend‹ überwiegend in Politikerreden. Dort war der Terminus in zwei argumentativen Verwendungsweisen nutzbar: erstens als Begründung für die Notwendigkeit bestimmter Maßnahmen, also in der Weise Müller, Reichstag, 4. WP, 114. Sitzung, 12.12.1929, S. 3539 A. Ebd., S. 3540 A. Neubauer, Reichstag, 4. WP, 115. Sitzung, 13.12.1929, S. 3547 B. Brüning, Reichstag, 4. WP, 115. Sitzung, 13.12.1929, S. 3351 D. Brüning, Reichstag, 4. WP, 152. Sitzung, 01.04.1930, S. 4728 D. Die Industrie warnt, in: Vossische Zeitung, Nr. 80, 03.04.1930, S. 1. Keynes, Die industrielle Krise, in: Wirtschaftsdienst, 16.05.1930, S. 834. Wirth, Reichstag, 4. WP, 204. Sitzung, 18.07.1930, S. 6506 C. Wirtschaft braucht Freiheit. Forderungen der Industrie, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 136, 19.03.1932, Morgen-Ausgabe, [S. 1]. 76 Brüning, Reichstag, 5. WP, 3. Sitzung, 16.10.1930, S. 17 A. 77 Buschmann, Unter neuer Führung, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 28.06.1931, [S. 1]. 78 Richard Winners, Wohin geht die Wirtschaft?, in: Vossische Zeitung, Nr. 311, 30.06.1932, Morgen-Ausgabe, [S. 1]. 79 Papen, Rede des Reichskanzlers vor Vertretern der westdeutschen Wirtschaft in der Paderborner Schützenhalle am 16. Oktober 1932, S. 787. 67 68 69 70 71 72 73 74 75
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›angesichts des Elends muss…‹; zweitens als angeführter Indikator für politisches Versagen, mithin als Element in Verantwortungszuschreibungen der Form: ›Das heute existierende Elend ist das Ergebnis von …‹. Erstgenannte Verwendungsweise zeigte sich, als Heinrich Brüning zu Beginn seiner Kanzlerschaft neue Hilfsmaßnahmen für die Landwirtschaft ankündigte und damit begründete, dass diese »unverschuldet ins Elend […] geraten« sei.80 Genauso zu finden war sie 1931 bei Außenminister Curtius, der die »Verelendung [des] Volkes« als Faktor anführte, der die endgültige Klärung der Reparationsfrage auf die außenpolitische Agenda hebe,81 oder 1932 beim Reichskommissar für Arbeitsbeschaffung, Günther Gereke, der das Beschäftigungsprogramm der Regierung Schleicher mit dem »Elend der Erwerbslosen wie [der] Notlage der privaten Wirtschaft« plausibilisierte.82 Beispiele für die zweite Gebrauchsvariante lieferten der DNVP-Fraktionsvorsitzende Ernst Oberfohren, der Regierungsversagen als eine Ursache des »ganze[n] Elend[s], in das [Deutschland] geraten« sei,83 anprangerte, oder der SPD - Abgeordnete August Karsten, der 1932 klagte, die »Notverordnungen h[ätten] das Elend bis ins Ungemessene gesteigert«.84 Die KPD kritisierte Brünings Entscheidung, in sein zweites Kabinett verstärkt Wirtschaftsvertreter einzubinden; schließlich sei durch deren bisheriges Agieren für »das ganze deutsche Volk [offenkundig], daß es aus dem Elend keinen Ausweg geben« werde, solange sie an entscheidender Stelle Verantwortung trügen.85 Der dritte tragende Einzelbegriff, ›Opfer‹, unterschied sich von ›Not‹ und ›Elend‹ durch eine präzisere und kontextspezifischere Gebrauchsweise. Fast ausnahmslos trat er in der redewendungsgleichen Form der ›zu erbringenden‹ oder ›gebrachten Opfer‹ zutage. ›Opfer‹ meinte mithin nur selten die Opfer einer Entscheidung oder einer Entwicklung, also benennbare Personen, Unternehmen oder soziale Gruppen. Vielmehr bezeichnete er in der Regel das Opfer: Einbußen, Verluste und Verzicht. Aufgrund des religiösen Restbestandes in seiner Semantik konnten ›Opfer‹-Formulierungen genutzt werden, um die Legitimität einer Aussage zu steigern, schwang bei ihnen doch unausgesprochen ein ›höherer Zweck‹ mit. Kurz: Wer ›Opfer brachte‹, half die Krise zu ›überwinden‹. Auf letztgenannte Bedeutungskomponente referierten nicht nur,86 aber vornehmlich Regierungspolitiker. Im Regierungs-Sprachgebrauch schwang bei 80 Brüning, Reichstag, 4. WP, 152. Sitzung, 01.04.1930, S. 4729 D. 81 Curtius, Reichstag, 5. WP, 22. Sitzung, 10.02.1931, S. 883 C. 82 Gereke, Rundfunkrede des Reichskommissars für Arbeitsbeschaffung. 23. Dezember 1932, S. 156 f. 83 Oberfohren, Reichstag, 5. WP, 54. Sitzung, 14.10.1931, S. 2097 C. 84 August Karsten, Reichstag, 7. WP, 2. Sitzung, 07.12.1932, S. 33 B. 85 Remmele, Reichstag, 5. WP, 54. Sitzung, 14.10.1931, S. 2090 D. 86 Gelegentlich fanden sich entsprechende Formulierungen auch in der Presse, gerade im Zusammenhang mit der Entwicklung von Börsenkursen. So schrieb etwa die Vossische
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Missstände bezeichnen, Herausforderungen benennen
›Opfer‹-Formulierungen der Appell für Verständnis in deren Notwendigkeit mit. Der Zentrums-Politiker Ernst Föhr erklärte im Zusammenhang mit den Deckungsvorlagen vom Juli 1930, die »Zustimmung zu diesem Programm« bedeute »Opfer vom deutschen Volke [zu] verlangen« – und seine Fraktion könne nur »appellieren[,] […] in dieser Zeit der Not« für die Maßnahmen »Verständnis« aufzubringen.87 Brüning sprach von »unbequeme[n] Opfer[n]«, die »alle Schichten des deutschen Volkes […] tragen« müssten,88 und der Unvermeidbarkeit, »daß auch die Beamtenschaft materielle Opfer« bring[e].«89 In ihrem (Reparations-)Revisionsaufruf warnte die Reichsregierung vor »dem Aberglauben, man könnte ohne Opfer zu einem gedeihlichen Erfolge gelangen«,90 und Franz von Papen begründete »Opfer«, die »in Durchführung [seines Wirtschafts-] Programms vom Lande [zu] fordern« seien, mit dem nur so erreichbaren »wirtschaftliche[n] Wiederaufbau«.91 In der untersuchten Presse tauchten ›Opfer‹-Formulierungen sowohl in appellativer als auch beschreibender Weise auf. Wenn Hans Buschmann in der Vossischen Zeitung Unternehmen und Banken zu größerer Bilanzehrlichkeit aufforderte und genauso klarmachte: »Wo es keine Rettungsmöglichkeit gibt, dort muß das Opfer gebracht werden, das die Krise unerbitterlich doch einmal fordert und das durch keine manipulierte Verzögerung verhindert werden kann«, war der ›Opfer‹-Begriff Element eines schonungslosen Appells.92 Ein Artikel, der die Leser informierte, dass als Folge der nach 1931 unvermeidbaren Abschreibungen in den Bankbilanzen »von den Aktionären aller Filialbanken das stärkste Opfer verlangt« worden sei, pflegte den ›Opfer‹-Sprachgebrauch hingegen in beschreibender Absicht.93 Oppositionspolitiker griffen in anklagender Manier auf ›Opfer‹-Semantik zurück. Hermann Göring beklagte die Nutzlosigkeit der »Maßnahmen [der Regierung Brüning, K. K.], die […] der Wirtschaft und dem Volke immer größere
Zeitung im Herbst 1929, die Börsen-Entwicklung sei »bedauerlich […] für die unschuldigen Opfer«, prinzipiell aber zu begrüßen, »denn sie schaff[e] Humusboden für alle Wirtschaften« (Buschmann, Reinigungs-Krise, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 27.10.1929, [S. 1]). 87 Föhr, Reichstag, 4. WP, 200. Sitzung, 15.07.1930, S. 6382 B – 6382 C. 88 Brüning, Reichstag, 5. WP, 3. Sitzung, 16.10.1930, S. 18 C. 89 Ebd., S. 18 D. 90 Reichsregierung fordert Revision, in: Vossische Zeitung, 07.06.1931, 6. Beilage, [S. 1]. 91 Papen, Rede des Reichskanzlers vor Vertretern der westdeutschen Wirtschaft in der Paderborner Schützenhalle am 16. Oktober 1932, S. 787. 92 Hans Buschmann, Wiederaufbau durch Selbsthilfe, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 203, 26.08.1931, [S. 1 f., hier S. 1]. 93 Elsberg, Repariertes Vertrauen, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 23.02.1932, Morgen-Ausgabe, [S. 1].
Leid und Abwehr – prävalente Semantiken
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Opfer auferleg[t]en«.94 Der SPD -Abgeordnete Graßmann beschrieb den Alltag aufs Betteln angewiesener Menschen, »denen es ein furchtbares Opfer bedeute[ ], daß sie in dieser entsetzlichen Not die Mithilfe ihrer Mitbürger in Anspruch nehmen« müssten.95 Und während der KPD -Parlamentarier Wilhelm Koenen bereits 1930 moniert hatte, dass die »Führung des Zentrums und seiner Jesuiten« stets verkünde, »daß in der Not der einzelne für die Allgemeinheit Opfer bringen müsse«, aber »die oberen Zehntausend nicht im Traume daran [dächten], auch nur das geringste Opfer zu bringen«, sah Rudolf Schwarzer, Abgeordneter der Bayerischen Volkspartei, eine solche Kritik erst zwei Jahre später gerechtfertigt.96 Schwarzer kritisierte die rigiden Kürzungen der Regierungen Papen und Schleicher in der Sozialpolitik. Während bei Brüning allen Bevölkerungsschichten gleichmäßig »Opfer auferlegt worden« seien, verfolgten die Nachfolgeregierungen einen sozial höchst unausgeglichenen Kurs.97
3.2. Anleihen an ›Kampf‹ und ›Krieg‹ Die Weltwirtschaftskrise war keine militärische Auseinandersetzung. Der Krisendiskurs aber wies militärische Anleihen auf. Begriffe aus dem Feld um ›Krieg‹, ›Kampf‹ und ›Militär‹ wurden in Beschreibungen der wirtschaftlichen Lage übertragen. Diese spezifische metaphorische Aufladung von Aussagen war kein Massen-, aber ein wiederkehrendes Phänomen. Der pragmatische Wert eines solchen Sprachgebrauchs lag in seinem Dramatisierungspotenzial. Bei Politikern fand er sich vor allem in den Reden von Kommunisten, Nationalsozialisten und Regierungsvertretern. Termini aus dem kriegerisch-militärischen Begriffsfeld zu verwenden, implizierte indirekt einen Vergleich – nicht im Sinne eng ausgelegter Gemeinsamkeiten, jedoch hinsichtlich des unterstellten Ausmaßes und der Dimension der Herausforderung durch die Wirtschaftskrise. Beim expliziten Gebrauch des Substantivs ›Kampf‹ kam hinzu, dass es Kommunisten und Nationalsozialisten dazu diente, parolenhaft ihre systemüberwindende politische Zielrichtung zu bündeln.98 Eine lediglich mittelbare, aber verbreitete Analogie zeigte sich im Begriff des ›Arbeitslosenheeres‹, der die horrende Zahl an Arbeitslosen prägnant vor Augen führte. Keineswegs immer, aber gelegentlich wurde diese als augenfälliges Indiz für ein Systemversagen herangezogen. Aus nationalsozialistischer Warte warf Gregor Straßer den links oder liberal eingestellten Parteien 1930 94 Göring, Reichstag, 5. WP, 62. Sitzung, 10.05.1932, S. 2543 B. 95 Graßmann, Reichstag, 5. WP, 62. Sitzung, 10.05.1932, S. 2529 B. 96 Wilhelm Koenen, Reichstag, 4. WP, 204. Sitzung, 18.07.1930, S. 6510 B. 97 Rudolf Schwarzer, Reichstag, 7. WP, 2. Sitzung, 07.12.1932, S. 50 A. 98 Siehe dazu ausführlich Kap. V.1.
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den »Verzweiflungskampf der millionenköpfigen Arbeitslosenheere« vor, der die »soziale Bilanz« der »Revolution« seit 1918 darstelle und eine Gefahr werde, sobald sie dem »Bolschewismus« anheimfielen und begännen, »die Grundlage jeder menschlichen Ordnung zu zerstören«.99 Ideologisch weit weniger radikal interpretierte der SPD -Politiker Anton Reißner 1932, die Tatsache, »daß es heute in der ganzen Welt große Wirtschaftsnot, großes soziales Elend und große Arbeitslosenheere gibt« als Beleg für eine »Krise des kapitalistischen Wirtschaftssystems«.100 Kaum überraschend verfocht die KPD eine fundamentalere Sicht und erkannte nicht bloß eine ›Krise‹ des Kapitalismus. Wilhelm Kasper, Abgeordneter im preußischen Landtag, monierte im Herbst 1931, das »Heer der Erwerbslosen [sei] in einem gewaltigen Tempo im Zunehmen begriffen«, was untrüglich beweise, »daß es der herrschenden kapitalistischen Klasse unmöglich [sei], das sogenannte Schreckgespenst des kapitalistischen Niedergangs irgendwie auch nur im geringsten zu bannen«.101 Nicht alle Verwendungen des Begriffs kennzeichnete eine ideologische Konnotation. Genauso möglich war ein (im unmittelbaren Kontext) ideologiefreier Gebrauch, wenn etwa der CSVD -Abgeordnete Otto Rippel warnte, im Fall der Einführung einer Tabaksteuer werde »das Heer der Arbeitslosen infolge dieser Steuer […] vermehrt« werden,102 die B. Z. am Mittag nach der Veröffentlichung des Papen-Programms mahnte, es sei »Eile geboten, damit […] das Heer der Arbeitslosen möglichst schnell in den Produktionsprozeß eingeschaltet werden« könne103 oder Adolf Hitler als neuer Reichskanzler fast wortgleich erklärte, »die endgültige Behebung der Not« in der Wirtschaft sei abhängig »von der Eingliederung der Arbeitslosenarmee in den Produktionsprozeß«.104 Neben dem ›Arbeitslosenheer‹ zeugten weitere Begriffe und Einzelformulierungen von Übertragungen aus dem semantischen ›Kriegs-‹ und ›Kampf‹-Feld. Bereits im Herbst 1929 sprach die Vossische Zeitung im Kontext des New Yorker Börsencrashs von »Einschläge[n] in Wallstreet«105 und beschrieb im Frühjahr 1930 »Amerikas gigantische[n] Abwehrkampf gegen die sinkende Konjunktur«.106 Die B. Z. am Mittag stellte im März 1931 Regierungsüberlegungen
99 Gregor Straßer, Reichstag, 5. WP, 4. Sitzung, 17.10.1930, S. 56 D. 100 Reißner, Reichstag, 7. WP, 3. Sitzung, 09.12.1932, S. 59 D. 101 Wilhelm Kasper, Preußischer Landtag, 3. WP, 249. Sitzung, 13.10.1931, Sp. 22001. 102 Rippel, Reichstag, 5. WP, 9. Sitzung, 05.12.1930, S. 291 C. 103 Ueberraschungen im Wirtschafts-Programm, in: B. Z. am Mittag, 27.08.1932, S. 1. 104 Adolf Hitler, Reichstag, 8. WP, 2. Sitzung, 23.03.1933, S. 29 B. 105 Geldflucht aus New York, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 26.10.1929, [S. 1]. 106 Friedrich Zimmermann, [Das neue Wirtschaftswunder. Amerikas gigantischer Abwehrkampf gegen die sinkende Konjunktur] Krise – aber nicht darüber reden, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 3. Beilage zu Nr. 95, 20.04.1930, [S. 1].
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für ein »Frühjahrsprogramm« unter das Motto »Jetzt Generalangriff gegen die Arbeitslosigkeit«.107 Im Februar 1932 konstatierte Brüning, »in wirtschaftlicher Beziehung [sei] ein Krieg auf der ganzen Welt entbrannt«;108 ganz ähnlich war in der Vossischen Zeitung von einem »heftig entbrannten Krieg[ ] um die internationalen Absatzmärkte« zu lesen.109 Und Franz von Papen beschwor im Herbst 1932 den »Geist unbedingten Zusammenstehens und heroischer Opferwilligkeit, den wir im Kriege bewährt haben«, als Bedingung für den wirtschaftlichen Wiederaufstieg.110
4. Elementare Metaphern: Bilder von ›Reinigung‹, ›Krankheit‹, ›Körper‹ und ›Mechanik‹ Auch wenn diese bei Sprachgeschichten meist im Zentrum stehen, lässt sich Semantik nicht allein auf Begriffe und Sprachmuster reduzieren. Stattdessen spricht viel dafür, Begriffe und Metaphern als zwei elementare, sich ergänzende Säulen sprach(-bild-)licher Bedeutungsproduktion zu verstehen.111 Mithin machen Metaphern neben phasenspezifischen Redemustern und Einzelbegriffen die dritte Kategorie semantischer Versatzstücke aus, die einen Krisendiskurs konstituieren und tragen. Für die Weltwirtschaftskrise erwiesen sich Metaphoriken der Reinigung und des Körperlichen, oft in Form von Krankheitsbildern, als vorherrschend.112 Mit zunehmender Krisendauer trat mit mechanistisch-maschinistischen Metaphern eine Gruppe bildhafter Ausdrücke hinzu, deren quantitative Verwendung zwar nicht das Niveau organischer Metaphorik erreichte, die aber als zweite, konträre Einheit tragender Metaphern in allen drei untersuchten Wirtschaftskrisendiskursen auszumachen war113 – und in den Krisen der Nachkriegszeit an Verwendungsintensität gewinnen sollte.114
107 Generalangriff gegen die Arbeitslosigkeit, in: B. Z. am Mittag, 27.03.1931, S. 1. 108 Brüning, Reichstag, 5. WP, 59. Sitzung, 25.02.1932, S. 2323 D. 109 Welthandel tut not, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 01.04.1932, Abend-Ausgabe, [S. 1]. 110 Papen, Rede des Reichskanzlers vor Vertretern der westdeutschen Wirtschaft in der Paderborner Schützenhalle am 16. Oktober 1932, S. 786. 111 Vgl. auch das entsprechende Plädoyer von Lassen, »Metaphorically Speaking«, S. 61 f., 70. 112 Zur Verweisstruktur zwischen Krankheits- und »Körperlichkeits-Metaphorik« vgl. auch Musolff, Brisante Metaphern, Zitat u. a. S. 310. 113 In anderen Verwendungskontexten müssen maschinistische und Körper-Metaphern freilich nicht prinzipiell Gegensätze bedeuten; als besonders augenfälliges Beispiel siehe Rabinbach, Motor Mensch. 114 Siehe Kap. IX .2 und XIV.2.
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Vorbemerkung: Metaphorizität der Ökonomik und Metaphern in ökonomischen Krisendiskursen Geläufigste Merkmale der Metapher sind die verbildlichende Darstellung und der Übertragungsprozess aus einem Verwendungskontext in einen anderen, mit dem Analogien oder Analogieschlüsse nahegelegt werden, ohne in einem eng verstandenen Sinne unmittelbare Ähnlichkeiten zu unterstellen. Sprachwissenschaftlich betrachtet handelt es sich um ein Phänomen an der Sprachoberfläche, ein Stilmittel. Die Bedeutung von Metaphern erschöpft sich aber gerade nicht in ihrer stilistischen, textästhetischen Wirkung, die genauso Merkmal anderer Tropen ist.115 Vielmehr attestieren Metapherntheorien verschiedener Provenienz der Metapher eine deutlich weitergehende, kognitive Wirkmächtigkeit. Aus dieser ergibt sich ihre Relevanz für Arbeiten, die ein Erkenntnisinteresse wie die vorliegende Studie verfolgen. Metaphern eröffnen den Blick auf tieferliegende Semantiken, stabilere Sprach- und Denkfiguren.116 Philosophische Ansätze von und im Anschluss an Hans Blumenberg erkennen in Metaphernanalysen das Potenzial, Rückschlüsse auf die vorbegrifflichen »Substrukturen des Denkens« zu ziehen.117 Zwar bezog Blumenberg diese These nicht auf sämtliche beobachtbare Metaphern, sondern beschränkte sie auf – nach seiner Diktion – »absolute Metaphern«. Darunter verstand er solche Metaphoriken, die »nicht in Begrifflichkeit aufgelöst werden können«.118 Vor allem Metaphern wie ›Maschine‹, also ein Sprachbild, das im Krisendiskurs eine wichtige Rolle spielte, zählte er indes dazu, klassifizierte es bezogen auf die Neuzeit gar als ein »prägnante[s] Programmwort der Weltdeutung«.119 Zugleich, das gilt es klarzustellen, erfasst die im Text auftretende Ausprägung einer Metapher nie die Metapher insgesamt, sondern ihre »Übersetzung in ›eigentliche Rede‹ bedeutet immer eine Reduktion ihrer interpretatorischen Möglichkeiten, die ihnen die am Diskurs beteiligten Sprecher und Hörer zumessen.«120 Diese kontext- und interpretationsabhängige Bedeutungsaufladung ändert jedoch nichts an der Kernthese, dass Sprachbilder,
115 Vgl. zum Folgenden auch die entsprechende Argumentation bei Klammer, Körper und Krankheit, bes. S. 401–406. 116 Vgl. auch Stollberg-Rilinger, Staat als Maschine, S. 14, die unter anderem von »Denkmuster[n]« und »Grundvorstellungen« spricht, die sie mit der Analyse einer bestimmten politischen Metapher – jener vom »Staat als Maschine« – aufdecken könne. 117 Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, hier S. 11. 118 Ebd. 119 Ebd., S. 71. Ähnlich zur kognitiven Wirkmächtigkeit von Metaphern: Schäfer, Historiciz ing Strong Metaphors, prägnant S. 30. 120 Bödeker, Ausprägungen der historischen Semantik, S. 24.
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weil und indem sie eine tragende »Funktion […] in der Entfaltung des Denkens und des Wissens« übernehmen,121 Formen des Wissens produzieren und repräsentieren – im entsprechenden Kontext beispielsweise über eine Krise. Obwohl anderen disziplinären Ursprungs, schreibt auch die wohl bekannteste linguistische Metapherntheorie, die Theorie von Lakoff und Johnson, Metaphern eine solche wahrnehmungsleitende, denkstrukturierende, orientierungsgebende und wissensproduzierende Funktion zu.122 Für unsere Analyse ist vor allem relevant, was Lakoff und Johnson unter konzeptuellen und ontologischen Metaphern fassen. Konzeptuelle Metaphorik meint das Subsumieren verschiedener sprachlich-bildlicher Ausdrücke unter einer Meta- oder Grundkategorie wie (hier) ›Krankheit‹ oder ›Maschine‹.123 Ontologische Metaphorik zielt auf die Komplexitätsreduktion, die der Metapherngebrauch gestattet; so übertragen Metaphern abstrakte und schwierig fassbare Phänomene in eine bekannte Vorstellungswelt, zum Beispiel das Körperliche.124 Auf diese Weise ermöglichen Metaphern unter anderem, materiell schwer fassbare Entwicklungen mit »Begriffen des Physischen [zu] konzeptualisieren«.125 Welche Funktionen erfüllen Metaphern nun in Ökonomik und ökonomischen Krisen-Diskursen? In ihren bahnbrechenden Studien hat die US -amerikanische Ökonomin Deirdre McCloskey schon vor drei Jahrzehnten gezeigt, dass die Sprache der Wirtschaftswissenschaften essentiell auf rhetorischen Mustern beruht.126 Denk- und Argumentationsweisen der Ökonomen bauen auf Metonymien und insbesondere Metaphern auf. Besonders eindrücklich führte McCloskey den zentralen Stellenwert von Metaphern etwa anhand der ›Markt‹- Metapher und ihrer wirtschaftstheoretisch verschiedenen Konzeptualisierungen vor.127 In der Konsequenz sind nicht nur die Redeweisen, sondern auch die so erzeugten Konzeptualisierungen des Ökonomischen ganz und gar metaphorisch durchzogen. Ferner resultiert aus den verbreiteten Abbildungsweisen statistischer Daten, neben konkreten Bildern wie Wirtschaftskurven,128 eine spezifische Sprachbildlichkeit. Wie tief sich entsprechende Abbildungsweisen statistischen Wissens in die Vorstellung von der Wirtschaft und ihrer Entwicklung eingeschrieben haben, zeigt die Sprache, mit der die Wirtschaftsentwicklung zumeist beschrieben wird: Die Rede ist von ›steigenden‹ oder ›fallenden‹ Kurven
121 Konersmann, Vorwort, S. 7. 122 Lakoff / Johnson, Leben in Metaphern. 123 Vgl. ebd., S. 11–14. 124 Vgl. ebd., S. 35–38. 125 Ebd., S. 73. 126 McCloskey, The Rhetoric of Economics. 127 Vgl. McCloskey, Metaphors Economists Live by, bes. S. 215, 225–227. 128 Hierzu eingehend: Tanner, Wirtschaftskurven.
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und dem obsessiv an einer Zahl gemessenen ›Wachstum‹.129 Letztlich lässt sich argumentieren, dass nahezu das gesamte Wissen, das die Ökonomik zum Verständnis der als Gesamtentität abstrakten Sphäre der ›Ökonomie‹ bereitstellt, mittelbar oder unmittelbar metaphorisch strukturiert ist. Es scheint ratsam, diese als Metaphorizität der Ökonomik zu bezeichnen, die den Alltagssprachgebrauch tiefgehend prägt, und sie zugleich abzugrenzen von Metaphern als Element von Krisendiskursen. Denn bei diesen handelt es sich zwar ebenso um sich wiederholende, stabile metaphorische Konzepte. Sie wurden (und werden) aber nicht permanent zur Beschreibung und Konzeptualisierung der Wirtschaft abgerufen, sondern in der spezifischen Situation einer als ›Krise‹ interpretierten Lage. Überdies blieben sie als Metapher erkennbar und sind keine zur Selbstverständlichkeit gewordenen Begriffe der ökonomischen Beschreibungssprache, deren metaphorischer Ursprung und Gehalt nur noch professionellen Sprachanalysten auffällt. Kurzum: Metaphern, um die es nachfolgend geht,130 waren neben Topoi und Einzelbegriffen einer der semantischen Faktoren, mit dem eine wirtschaftliche Problemlage insgesamt oder ein einzelnes ökonomisches Problem benannt und so als Aussage im politischen Kommunikationsraum platziert wurde. Um bei den beiden angesprochenen Großgruppen von Metaphern zu bleiben: Wenn von einer ›Krankheit‹, einem ›Defekt‹ oder der Notwendigkeit einer ›Ankurbelung‹ die Rede war, transportierte dies zunächst die Feststellung einer ökonomischen Schwierigkeit. Damit verknüpft konnten Akteure die Metaphern – zweitens – pragmatisch einsetzen: Ohne Details benennen oder sich auf Details festlegen lassen zu müssen, ließen sich eingängige, komplexitätsreduzierte Vorstellungen ökonomischer Herausforderungen und – etwa im Falle medizinischer Metaphern wie dem ›einzusetzenden Heilmittel‹ – intuitiv verständliche Handlungsanleitungen benennen. Drittens schufen und veranschaulichten sie grundlegendere Vorstellungen von der Art der jeweiligen Schwierigkeit und mittelbar vom Ökonomischen als Entität. Konkret und zurückverweisend auf die konzeptuelle Dimension von Metaphorik: Wer ›Krankheitssymptome‹ benannte oder einen ›bockenden Konjunkturmotor‹ ausmachte, konzeptualisierte indirekt das Ökonomische insgesamt; im ersten Fall als Körper oder Organismus, im zweiten Fall als Maschine. Mit solchen Grundvorstellungen gingen einander entgegenstehende Implikationen von den Eigenschaften des Ökonomischen und den Möglichkeiten seiner Beeinflussung einher. Während Körperbilder, genau wie Naturvorstellungen, den Eindruck lebendiger Prozesshaftigkeit und begrenzter
129 Vgl. Tooze, Statistics and the German State, S. 1. 130 Die Bemerkung gilt genauso für die Beobachtungen zu Metaphern in den beiden anderen Fallstudien (Kap. IX .2 und XIV.2).
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Eingriffsmöglichkeiten hervorriefen, verwiesen Mechanik- und Maschinenbilder auf Steuer- und Machbarkeit.131 Insofern ergänzten, implizierten und transportierten unterschiedliche Metaphern auch verschiedene wirtschaftspolitische Maximen: Wenig überraschend konvergierten Mechanik- und Maschinenbilder tendenziell mit Ansätzen einer aktiv-steuernden, oft keynesianisch orientierten Wirtschaftspolitik. Organisch konnotierte Sprachbilder gingen hingegen eher mit liberalen und (neo-)klassischen Annahmen und Ansätzen einher, denen zufolge sich das ökonomische System weitgehend selbst reguliert, weshalb politische Eingriffe als überflüssig, wenig zielführend oder gar schädlich erscheinen.132 Gleichwohl ist vor zu einfachen und eindeutigen Schlüssen zu warnen: Die metaphorische Basis der entsprechenden Wirtschaftstheorien ist komplexer und uneindeutiger. So speisen sich etwa wichtige Elemente der Neoklassik sowohl aus biologistischen als auch aus physikalisch-mechanistischen Vorstellungen; dabei entstammt ausgerechnet die für die Neoklassik zentrale Annahme sich selbst einstellender Gleichgewichte mechanistisch-konnotierten Grundgedanken.133 Vorsicht vor zu eindimensionalen Annahmen ist zudem noch in einer anderen Hinsicht geboten: Weil metaphorischer Sprachgebrauch ein nicht bewusst gewählter, sondern oft intuitiver Sprachgebrauch ist, konnten auch einander widersprechende metaphorische Wendungen innerhalb eines Arguments gebraucht werden. So sprach beispielsweise der Zentrums-Abgeordnete Ernst Föhr im Juli 1930 in ein und demselben Satz vom »[A]nkurbeln« der Wirtschaft« und der dafür notwendigen »Gesundung der öffentlichen Finanzen«.134 Derartige sprachliche Überlappungen, nach denen die schematische Differenzierung absurd erschiene, blieben im Krisendiskurs indes selten. Spannend ist nach diesen Vorüberlegungen nun die Frage, welche Faktoren beeinflussten, wie sich der Metaphernhaushalt in den Krisendiskursen konkret zusammensetzte. Die Antwort sei an dieser Stelle bewusst vorweggenommen und dem Leser zur besseren Orientierung bei der Lektüre der Metaphern-Kapitel dieser Studie an die Hand gegeben: Die Gesamtschau der in dieser Arbeit behandelten Krisen wird letztlich drei Faktoren als entscheidend erscheinen lassen, wenngleich der Bedeutungsgrad des einzelnen Faktors jeweils variierte: 131 Beide Varianten der metaphorischen Konzeptualisierung des Ökonomischen sind im deutschen Sprachraum freilich auch jenseits von Krisendiskursen zu beobachten. Vgl. mit Blick auf maschinistische Konzeptualisierungen etwa Jäkel, Metaphern in abstrakten Diskurs-Domänen, S. 216 f. 132 Vgl. hierzu auch Klammer, Körper und Krankheit, S. 415–421. 133 Vgl. Wellhöner, Ökonomik – Physik – Mathematik, S. 28–31 (höchst instruktiv zum prinzipielleren Konnex von Metaphorik und Wirtschaftstheorie auch die gesamten Ausführungen ebd., S. 28–39). 134 Föhr, Reichstag, 4. WP, 200. Sitzung, 15.07.1930, S. 6383 D.
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a) das Ausmaß der dem Staat entgegengebrachten Erwartung oder zugeschriebenen Verantwortung, aktiv konjunkturpolitisch zu handeln, b) das diskursive Umfeld, an das der Wirtschaftskrisendiskurs angrenzte oder anknüpfte, c) die grundlegende politische Problemkonstellation (ein Faktor, der sich vor allem in den 1970er Jahren auswirkte).
4.1. Geduld ausreichend? Sprachbilder organischer Wirtschafts-Konzeptualisierung Dieses und das unmittelbar folgende Unterkapitel führen insbesondere die Bedeutung des erstgenannten Faktors – der unterschiedlichen Erwartungen an staatliches Handeln im Wirtschaftsprozess – plastisch vor Augen. Wie bereits gesehen, begnügte sich der Staat in den beiden Anfangsabschnitten der Weltwirtschaftskrise, der Zeit zwischen 1929 und 1931, mit einer Rolle im Hintergrund. Der Grundgedanke der Deflationspolitik lag in der Überzeugung, durch umfassende Kostensenkungen sowohl die öffentlichen Finanzen zu sanieren als auch die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu verbessern. Mithin überwog die Überzeugung, es handele sich um eine Kombination aus Konjunkturschwankung und Kostenkrise. Im Einklang mit der liberalen Wirtschaftstheorie entwickelte sich die Frage eines aktiven Eingreifens des Staates, insbesondere zur Abfederung des Nachfragerückgangs, nicht zu einer verbreitet diskutierten Option. Bis 1931 erschien sie nicht als unumgängliche Bedingung für eine Krisenüberwindung. Die Metaphorik produzierte diese Sichtweise und spiegelte sie zugleich wider. Erstens kamen – im hier untersuchten Korpus vor allem in der Presse – Sprachbilder auf, die eine notwendige ›Reinigung‹ implizierten. Dies betraf insbesondere den Aktienmarkt und Bilanzen, war darum schon im Herbst 1929 eine verbreitete Metaphorik und hielt sich über die Zuspitzung des Sommers 1931 hinaus. Die international beobachtbaren Kursverluste im Vorfeld des New Yorker Crashs erhielten das Attribut einer »Reinigung der Börse«.135 Kurz darauf folgten Überlegungen, »inwieweit der Kurszusammenbruch an der New Yorker Börse reinigend gewirkt« habe136 und die These, dass »dadurch, daß sich auch Amerika der Krisenbewegung hinzugesellt« habe, »ein Reinemachen in der ganzen Welt einsetz[e]«.137 Hans Buschmann forderte in der Vossischen Zeitung 135 Reinigung der Börse, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 24.10.1929, S. 1. 136 Geldflucht aus New York, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 26.10.1929, [S. 1]. 137 Buschmann, Reinigungs-Krise, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 27.10.1929, S. 1.
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vehement, gerade in Deutschland »diese Reinigungskrise« zu bejahen, denn »restlose Geschäftssicherheit und eine in jeder Beziehung hieb und stichfeste finanzielle Grundlage könn[t]en nur wiederkehren, wenn durchweg Sauberkeit herrsch[e], wenn mit allen Fehlspekulationen und sonstigen finanziellen Auswüchsen aufgeräumt« sei.138 Letztlich schaffe die »Krise« den notwendigen »Humusboden für alle Wirtschaften.«139 Im Sommer 1931 stand die »deutsche Wirtschaft […] im Zeichen einer Generalreinigung«.140 Zeitungsleser erfuhren von der »reinigende[n] Wirkung der tausend monatlichen Insolvenzen«141 und, bezogen auf die Geldhäuser, wenige Monate später von »gereinigten Bank- Bilanzen«.142 In der Ende 1931 scharf geführten Diskussion über die überfälligen Preissenkungen als Pendant zu den Lohnkürzungen, die unter der Losung der zu schaffenden ›freien Preise‹ firmierte, war die Rede von einem so zu erzielenden »Bereinigungsprozeß«.143 Kurzum: Die ›Reinigungs‹-Metapher forderte unabdingbare Wertberichtigungen ein als Basis für eine sich sodann automatisch wieder einstellende Erholung – des Aktienmarkts, bestimmter Branchen oder einzelner Unternehmen. Bezog sich die Idee der ›Reinigung‹ auf die Gesamtwirtschaft, transportierte sie die Vorstellung, nach einem Ausscheiden nicht-wettbewerbsfähiger Unternehmen folge unweigerlich der konjunkturelle Aufschwung. Inhaltlich entsprach sie weitgehend der von Schumpeter populär gemachten und noch heute verbreiteten Vorstellung, nach der Krisen ein normales Element der Wirtschaftsentwicklung sind, das notwendigen Strukturwandel einfordert und ermöglicht.144 In der Konsequenz konzeptualisierte die ›Reinigungs‹-Idee die Wirtschaft als selbstregulativen Gesellschaftsbereich und reichte damit an Vorstellungen des Ökonomischen als organisches System heran. Sehr viel klarer offenbarte sich dies bei der zweiten dominierenden Metapherngruppe: direkten und indirekten ›Krankheits-‹Bildern sowie Sprachbildern des explizit Organisch-Körperlichen. In ihnen zeigte sich signifikanter der Einfluss, den angrenzende Diskurse auf den Wirtschaftskrisendiskurs ausübten. Denn fraglos waren die »Übernahme biologischer Erklärungen für soziale 138 Ebd. 139 Ebd. 140 General-Reinigung, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 130, 02.06.1931, S. 1. 141 Edmund Delmonte, Bessere Auslese, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 205, 28.08.1931, [S. 1]. 142 [Die gereinigten Bank-Bilanzen. Schwere Opfer aller Aktionäre – Reich und Reichsbank als Helfer], in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 23.02.1932, Morgen- Ausgabe, [S. 1]. 143 Schafft freie Preise! Das Gebot der Stunde, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 532, 11.11.1931, Morgen-Ausgabe, [S. 1]. 144 Vgl. Plumpe, Wirtschaftskrisen, S. 118.
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Gegebenheiten« respektive die biologistische Konzeptualisierung zahlreicher Gesellschaftsbereiche, zu einem beträchtlichen Maße fußend auf dem Einfluss darwinistischer oder sozialdarwinistischer Vorstellungen, ein hervorstechendes Merkmal politischer und wissenschaftlicher Debatten seit Ende des 19. Jahrhunderts.145 Nicht nur Einheiten und Begriffe wie ›Volk‹ und ›Nation‹, das Soziale insgesamt erfuhr eine biopolitische Aufladung.146 Die Wirtschaft bedeutete dabei keine Ausnahme. Dennoch ist Vorsicht vor zu drastischen Interpretationen geboten, denn Krankheitsmetaphorik verbreitete sich nicht erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Beschreibungssprache für ökonomische Problemlagen. Vielmehr rekurrierte sie auch auf Vorstellungswelten, die bereits vor Aufkommen des Begriffs der ›Wirtschaftskrise‹ Mitte des 19. Jahrhunderts üblich waren, um wirtschaftliche Miseren terminologisch zu fassen; verbreitet waren seinerzeit unter anderem Begriffe wie ›Kalamität‹, ›Rückfall‹ oder ›Konvulsion‹.147 Der Explizitheitsgrad, mit dem im Krisendiskurs körperlich-biologistische Vorstellungen auf die Wirtschaft übertragen wurden, markierte freilich eine neue Qualität. Zugleich variierte sein Ausmaß je nach Sprechergruppe. Am augenfälligsten zeigte er sich, wenig überraschend, bei den Nationalsozialisten. Sie monierten einen »Verblutungsprozeß der deutschen Wirtschaft«,148 erklärten explizit, »die Wirtschaft im Staate mit dem Blutkreislauf im menschlichen Körper« zu vergleichen, und warnten davor, »weiter Blut aus diesem Körper abzuzapfen und somit den Körper langsam aber sicher zum Erliegen zu bringen.«149 Die konzeptuell verwandte Sprachfigur des ›Wirtschaftskörpers‹, die sie ebenfalls nutzten,150 trat hingegen auch jenseits des nationalsozialistischen Sprachgebrauchs zutage.151 Hinzu kam – bei unterschiedlichen Sprechern und Autoren – eine Reihe von Sprachbildern, die mittelbar auf körperlich-organische Anschauungen verwie145 Die Entwicklung der Biologie zu einer wissenschaftlichen Leitdisziplin, deren Einfluss zunehmend über das eigene Fach und den Raum der Wissenschaft hinausreichte, begann freilich früher und durchzog die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, vgl.: Adams, Psychopathologie, S. 51 f., Zitat S. 52; Bublitz, Konstitution von ›Kultur‹, S. 81; Merlio, Kulturkritik, S. 32; Weingart, Biologie als Gesellschaftstheorie, S. 146–155. 146 Vgl. Weidner, Die unpolitische Profession, S. 309–314. Die Geschichte der Anwendung von Körpermetaphorik auf soziale, vor allem politische Entitäten weist freilich mindestens bis ins Mittelalter, mitunter bis in die Antike zurück; weil sie Umsemantisierungen unterlag, verbietet sich gleichwohl das Zeichnen allzu simpler Kontinuitätslinien – vgl. Musolff, Metaphor, Nation and the Holocaust, S. 121–136. 147 Vgl. Koselleck, Art. Krise, S. 641. 148 Straßer, Reichstag, 5. WP, 4. Sitzung, 17.10.1930, S. 56 D. 149 Göring, Reichstag, 5. WP, 62. Sitzung, 10.05.1932, S. 2543 C. 150 Z. B. Hermann Schneider, Reichstag, 5. WP, 10. Sitzung, 06.12.1930, S. 391 B. 151 Z. B.: Zimmermann, Krise – aber nicht darüber reden, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 20.04.1930, [S. 1]; Kurt Singer, Weltwirtschafts-Krisis?, in: Wirtschaftsdienst 15 (1930), H. 33, 15.08.1930, S. 1401–1403, hier S. 1403.
Elementare Metaphern
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sen. Sie reichten von Diagnosen eines »stock[enden] […] Wirtschaftsleben[s]«152 über Kritik an Kartellen und Syndikaten, weil diese dazu beitrügen, »die unvermeidliche Bereinigung […] der Wirtschaft zu verzögern« und »Lebensunfähiges auf Kosten der Verbraucher durchzuschleppen«,153 bis zur Apostrophierung der »Wirtschaft [als] Nährmutter der Menschen«.154 Genauso konnten Teilbereiche der Wirtschaft organisch konnotiert werden, wenn etwa vor einer Zerstörung des »Börsen-Organismus« gewarnt und die »Börse [als] lebenswichtiges Instrument [der] Gesamtwirtschaft« gepriesen wurde.155 Die mit Abstand verbreitetste Variante, körperlich-organische Vorstellungen zu transportieren, war der Gebrauch von ›Krankheits‹-Bildern. Dies geschah selten direkt, beispielsweise in Form der These, dass »Krisen [….] eine ansteckende Krankheit« seien und sich »wie eine unaufhaltsame Seuche von Land zu Land fortgepflanzt« hätten.156 Weit öfter kamen indirekte ›Krankheits‹-Bilder auf, mitunter durch Überlegungen zu möglichen »Heilmittel[n]«,157 insbesondere aber durch das Behaupten einer notwendigen oder ausstehenden ›(Wieder-) Belebung‹. Dabei war das Sprachbild in ganz unterschiedlichen Kontexten einsetzbar: Die Rede konnte optimistisch von einer bevorstehenden »Belebung der Wirtschaft« sein;158 von Instrumenten, Zielen und Problemen bei der »Wiederbelebung«;159 genauso von der Gefahr einer »Belebung der Wirtschaft«, die »im Keime [zu] ersticken« drohe.160 Es kam zu Reflexionen darüber, ob »die gegenwärtige Belebung […] als Symptom einer nachhaltigen Besserung gewertet werden« könne,161 genauso zu Mahnungen, nicht zu ungeduldig die »reifen
152 Brüning, Reichstag, 5. WP, 3. Sitzung, 16.10.1930, S. 17 A. 153 Wilhelm Düsterwald, Der Weg zum Vertrauen, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 141, 14.06.1931, [S. 1]. 154 Die Wirtschaft braucht Ruhe, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 13.10.1932, Morgen-Ausgabe, [S. 1]. 155 Elsberg, Falsche Börsenpolitik, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 04.09.1931, [S. 1]. 156 Lewinshon, Prosperity for ever!, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 20.04.1930, [S. 1]. 157 Z. B. Wir notieren:, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 30.05.1931, [S. 1]; Keynes, Die wirtschaftlichen Aussichten für 1932, in: Wirtschaftsdienst, 15.01.1932, S. 39–42; Luthers Appell an die Wirtschaft, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 21.02.1932, Morgen-Ausgabe, [S. 3]. 158 Dietrich, Reichstag, 4. WP, 204. Sitzung, 18.07.1930, S. 6515 D. 159 Z. B.: Elsas, Konjunktur-Hoffnungen, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 28.03.1930, [S. 1]; Brüning, Reichstag, 4. WP, 152. Sitzung, 01.04.1930, S. 4729 D; Papen, Rundfunkrede des Reichskanzlers vom 12. September 1932, S. 553. 160 Reinhold, Lage der Reichsfinanzen, in: Vossische Zeitung, 26.04.1931, S. 1. 161 Carl Schulvater, Bilanz-Deflation, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 101, 10.05.1931, S. 1 f., hier S. 1.
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Früchte der Konjunktur zu erwarten, nachdem kaum die ersten Keime zu einer allgemeinen Belebung sichtbar geworden« seien.162
4.2. Eingriff erforderlich: das Aufkommen mechanistischmaschinistischer Metaphern Nicht nur die wirtschaftspolitischen Vorschläge, die in wissenschaftlichen Beratungszirkeln kursierten, oder die öffentlich formulierten wirtschaftspolitischen Ziele und Handlungsanleitungen zeugten von einem Shift, der sich ab der zweiten Jahreshälfte 1931 ereignete. Zur These eines solchen Wandels führt auch eine Metaphernanalyse. Zwar verschwanden körperlich-organische Sprachbilder keineswegs aus dem Krisendiskurs, sondern blieben weiterhin die verbreitetste Metapherngruppe. Doch trat mit mechanistisch-maschinistischen Sprachbildern ein zweites großes Metaphernfeld hinzu. Es erzeugte und transportierte die Aussage, dass die Wirtschaft eines aktiven staatlichen Eingriffs zur Krisenüberwindung bedurfte. Mechanistisch-maschinistische Metaphern tauchten im Sprachgebrauch unterschiedlicher Akteure auf; auffällig aber war ihr Gebrauch in Texten von John Maynard Keynes. Dass seine später formulierte General Theory darauf zielte, mittels staatlicher Nachfragesteuerung Ungleichgewichten entgegenzuwirken, da der Marktmechanismus speziell auf dem Arbeitsmarkt nicht automatisch zu ihrer Überwindung führe, ergänzt das Bild passgenau. Denn wer Metaphern aus dem Bereich ›Mechanik‹ und ›Maschine‹ nutzte, plädierte oftmals für entsprechende staatliche Impulse. Besonders deutlich verwies darauf die eingängige und oft verwendete Metapher der ›Ankurbelung‹, die vom Sommer 1931 an den politischen Sprachgebrauch sukzessive prägte.163 Zwar waren ›Ankurbelungs‹-Formulierungen auch zuvor vereinzelt vorgekommen, paradoxerweise sogar bei Brüning.164 Dass eine »Ankurbelung der Wirtschaft«165 (welcher Art und welchen Ausmaßes auch immer) notwendig anzugehen sei, entwickelte sich indes erst ab 1931 deutlich zum Konsens. Das im Folgejahr aufgestellte Papen-Programm firmierte sodann ver162 Düsterwald, Gradmesser für die Konjunktur, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 23.10.1932, Morgen-Ausgabe, [S. 1]. 163 Siehe Kap. III .3. 164 Brüning, Reichstag, 4. WP, 200. Sitzung, 15.07.1930, S. 6373 C (»Wiederankurbelung unserer gesamten Wirtschaft«); siehe auch Kap. III .3. 165 Z. B.: Krämer, Not-Subventionen, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 09.06.1931, [S. 1]; Buschmann, Unter neuer Führung, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 28.06.1931, [S. 1]; Oberfohren, Reichstag, 5. WP, 54. Sitzung, 14.10.1931, S. 2106 C; Ueberraschungen im Wirtschafts-Programm, in: B. Z. am Mittag, 27.08.1932, S. 1; Schleicher, Rundfunkrede des Reichskanzlers vom 15. Dezember 1932, S. 109.
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breitet unter Labeln wie »Ankurbelungsbemühung[ ]«166 oder »Ankurbelungsprogramm«167. Zugleich kamen unterschiedliche explizite ›Maschinen‹-Formulierungen auf. Im Zusammenhang mit Arbeitsbeschaffungen wurde im Sommer 1931 kritisch angemerkt, dass sich die »ungeheure Maschinerie durch ein Beschaffungsprogramm von 140 Millionen« nicht »›ankurbeln‹« lasse,168 in anderem Kontext war die Rede davon, dass »während einer Geld- und Kreditkrise die großen Pumpstationen des Kapitals fast bis zum Heißlaufen arbeiten«.169 Wie angedeutet, fanden sich die eindrücklichsten Mechanik- und Maschinenbilder bei Keynes. Als er im Dezember 1930 auslotete, wie »die Räder des Welthandels« wieder in Gang gesetzt werden könnten,170 ging er von der These aus, es liege ein »Maschinendefekt« vor und es sei zu überlegen, wie diese »wieder in Gang« komme.171 Seine Ausgangsüberlegung formulierte er noch klarer: »[Heute] haben wir uns in einen kolossalen Wirrwarr hineinmanövriert, denn wir haben uns bei der Handhabung einer empfindlichen Maschine, deren Gesetz wir nicht verstehen, gröblich versehen. Das Ergebnis ist, daß diese Maschine, die uns neuen Wohlstand verschaffen könnte, für einige Zeit […] leerlaufen dürfte.«172
Überdeutlich verwiesen diese Formulierungen auf eine grundlegende Ordnungs struktur in Keynes’ programmatischen Überlegungen. Die im englischen Original gewählte Formulierung – »(We have) magneto trouble«173 – hält sich bis heute als prominentes und eingängiges metaphorisches Kondensat der Keynes’schen Gedankenwelt.
5. Von steter Konjunktur? ›Krisen‹-Komposita Sie drohten, ob der ständigen ›Krisen‹-Ausrufe abzustumpfen – die Zeitgenossen der Weimarer Republik genauso wie die Herausgeber des Bandes zu deren ›Krise‹.174 ›Krise‹ beherrschte die Weimarer Republik als zeitgenössisches wie als historiografisches Interpretament. Dass Berliner Stadtführer zu Beginn der 166 Ueberraschungen im Wirtschafts-Programm, in: B. Z. am Mittag, Nr. 205, 27.08.1932, [S. 1]. 167 Die Wirtschaft braucht Ruhe, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 13.10.1932, Morgen-Ausgabe, [S. 1]. 168 Krämer, Not-Subventionen, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 09.06.1931, [S. 1]. 169 Elsberg, Die Stimme der Banken, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 21.06.1931, [S. 1]. 170 Keynes, Die große Krise des Jahres 1930, in: Wirtschaftsdienst, 19.12.1930, S. 2168. 171 Ebd., S. 2166. 172 Ebd., S. 2165. 173 Zit. nach: Clarke, The Keynesian Revolution, S. 313. 174 Vgl.: Föllmer / Graf, Vorwort, und – im gleichen Band – dies. / Leo, Einleitung, S. 9–11.
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1930er Jahre ihre Touren unter dem Motto »Weltstadt in der Krise« anpriesen und eigens Schauspieler engagierten, die in die Rolle frustrierter Arbeitsloser schlüpften, um die Erwartungshaltungen der Besucher zu bedienen, kann – mit Rüdiger Graf, Moritz Föllmer und Per Leo – als Reflexion der ubiquitären ›Krisen‹-Diagnosen gewertet werden.175 Demnach durchschauten die Stadtführer die Erwartungen, die sich aus der jahrelangen, mannigfachen Verbreitung von Krisendeutungen speisten und wussten sie geschickt für ihre Zwecke zu nutzen.176 ›Krise‹ konnte als Beschreibungs- und Diagnosebegriff für Missstände in sämtlichen Gesellschaftsbereichen der Weimarer Republik Verwendung finden.177 Als der Wirtschaftskrisendiskurs aufkam, etablierte er den Krisenbegriff weder neu noch exklusiv im öffentlich-politischen Sprachgebrauch, sondern lediglich in thematisch-spezifischer Weise. Nicht allein die wirtschaftliche Problemlage, auch die Routine der Zeitgenossen in der Verwendung der Krisen- Semantik bewirkte, dass ›Krise‹ ein in allen Krisenabschnitten in markantem Maße auszumachender Begriff war. Dennoch offenbarten die Krisenphasen Unterschiede: sowohl hinsichtlich des Objektbereichs von ›Krisen‹-Aussagen (kurz: Auf was bezog sich ›Krise‹?) als auch der ›Krisen‹-Komposita und ihrer Verwendungsfrequenz. Was heute rückblickend als ›Wirtschaftskrise‹ oder ›Weltwirtschaftskrise‹ bezeichnet und erinnert wird, schlug sich im zeitgenössischen Sprachgebrauch in verschiedenen Ausprägungen von ›Krise‹ nieder. Die höchste Verwendungsrate erreichte in sämtlichen Krisenabschnitten das singulär verwendete Substantiv ›Krise‹. Allerdings verschob sich sein Objektbereich. In der Phase latenter Krisendeutungen mit einzelnen Verdichtungen, der Zeit zwischen Herbst 1929 und Sommer 1930, trat ›Krise‹ überwiegend als Bezeichnung für eine sektoral begrenzte Problemlage auf, wenngleich dieser Sektor ausgesprochen weit gefasst sein konnte. Entsprechend zog ›Krise‹ oft genauere Bestimmungen nach sich oder wurde adjektivisch näher beschrieben. Davon zeugten Formulierungen wie »Krise [ist] über die Börse hereingebrochen«,178 der »Schwerpunkt der Krise liegt […] auf«,179 »Krise des Kapitalismus«180 oder »wirtschaftliche und soziale Krise«,181 daneben Komposita, die präzisierten, auf was sich ›Krise‹ bezog. ›Krise‹ erschien dabei als zweites Element des Kom175 Föllmer / Graf / Leo, Einleitung, S. 10. 176 Vgl. ebd. 177 Vgl. Graf, Die »Krise« im intellektuellen Zukunftsdiskurs, S. 77. 178 Reinigung der Börse, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 24.10.1929, [S. 1]. 179 Buschmann, Reinigungs-Krise, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 27.10.1929, [S. 1]. 180 Neubauer, Reichstag, 4. WP, 115. Sitzung, 13.12.1929, S. 3548 A. 181 Brüning, Reichstag, 4. WP, 115. Sitzung, 13.12.1929, S. 3551 D.
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positums; die Rede war etwa von »Ultimokrise«,182 »Weihnachtskrise«183 oder »Regierungskrise«.184 Ab Sommer 1930 fungierte ›Krise‹ hingegen überwiegend als Kollektivsingular, als Oberbegriff für eine prinzipielle und multifaktorielle Problemlage.185 Zudem kam zu diesem Zeitpunkt schlagartig der Begriff ›Weltwirtschaftskrise‹ auf, der sowohl die räumliche Dimension als auch die Komplexität der Krise ausdrückte.186 Unter den Komposita dominierte ›Krisenzeit‹;187 hierin zeigte sich die Aufwertung von ›Krise‹ zu einem übergreifenden Zeit- respektive Gegenwartsinterpretament. Zwar konnte ›Krise‹ überdies als Bestandteil zahlreicher anderer Komposita Verwendung finden; unter diesen bildeten sich aber, abgesehen von ›Wirtschaftskrise‹,188 keine vermehrt wiederkehrenden Kompositumformen heraus. Gleiches galt für adjektivische oder adverbiale Gebrauchsweisen, wie ›krisenhaft‹.189 Was sich ebenso wenig herausbildete, waren ausdrückliche Gegenbegriffe zu ›Krise‹. Dagegen liefert die Frage nach tendenziell synonym verwendeten Begriffen interessante Befunde. Abermals bis zum Sommer 1930 – und fast aus182 183 184 185
186
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Neubauer, Reichstag, 4. WP, 115. Sitzung, 13.12.1929, S. 3547 A. Schuf Schacht die Weihnachts-Krise?, in: B. Z. am Mittag, 07.12.1929, S. 1. Krisen-Gefahr noch nicht beseitigt, in: B. Z. am Mittag, 11.12.1929, S. 1. Z. B.: Brüning, Reichstag, 5. WP, 3. Sitzung, 16.10.1930, S. 22 B (»schwere Krise, die Deutschland jetzt zu überwinden hat«); Bayer, Zum Problem der Weltwirtschaftskrise, in: Wirtschaftsdienst, 05.12.1930, S. 2077 (»soll allmählich wieder entsprechender Absatz geschaffen und die allgemeine Krise behoben werden«); Wir notieren: [sic!], in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Nr. 101, 28.04.1931, S. 1 (»hat die Krise einen Strich durch die Rechnung gemacht«); Der verzauberte Erdball, in: Finanzund Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 24.05.1931, S. 1 (»Kampf mit der Welt gegen die Krise«); Delmonte, Bessere Auslese, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 28.08.1931, [S. 1] (»Wenn die Krise einen tieferen Sinn haben soll«); Winners, Wohin geht die Wirtschaft?, in: Vossische Zeitung, 30.06.1932, Morgen-Ausgabe, [S. 1] (»ungeheure[ ] Krise der Gegenwart« / »Ansturm der Krise«). Z. B.: Oberfohren, Reichstag, 4. WP, 204. Sitzung, 18.07.1930, S. 6508 D; Berkenkopf, Goldmangel und Weltkrise, in: Wirtschaftsdienst, 25.07.1930, S. 1276; Börsensorgen überall, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 21.08.1930, [S. 1]; General- Reinigung, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 02.06.1931, S. 1; Wilhelm Kasper, Preußischer Landtag, 3. WP, 242. Sitzung, 11.06.1931, Sp. 21199; Göring, Reichstag, 5. WP, 62. Sitzung, 10.05.1932, S. 2537 C. Z. B.: Dietrich, Reichstag, 5. WP, 7. Sitzung, 03.12.1930, S. 226 A; Elsberg, Die Stimme der Banken, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 21.06.1931, [S. 1]; Schleicher, Rundfunkrede des Reichskanzlers vom 15. Dezember 1932, S. 109. Z. B.: Drewitz, Reichstag, 5. WP, 9. Sitzung, 05.12.1930, S. 299 B; Große Kanzlerrede vor den Wirtschaftsführern, in: B. Z. am Mittag, 25.03.1931, S. 1; Paul Szillat, Preußischer Landtag, 3. WP, 282. Sitzung, 16.03.1932, Sp. 24591. Z. B. Anton Reithinger, Weltwirtschaftliche Strukturumbildungen als Krisenursache und Voraussetzung der Krisenüberwindung, in: Wirtschaftsdienst 17 (1932), H. 52, 30.12.1932, S. 1739–1744, hier S. 1744.
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Missstände bezeichnen, Herausforderungen benennen
schließlich in der Wirtschaftspresse zu finden – war mehrfach von ›Stockung‹ die Rede.190 Implizit ordnete der Begriff die Wirtschaftslage in ein zyklisch gedachtes Modell wirtschaftlicher Entwicklung ein und machte für die Gegenwart eine Stagnation oder Abschwungphase aus. Infolge dieser Einordnung strahlte ›Stockung‹ ein Verstehen der momentanen Wirtschaftslage aus. Ab der zweiten Jahreshälfte 1930 verschwand der Terminus aus dem öffentlichen Sprachgebrauch. Zielten Sprecher und Autoren jetzt auf eine Einordnung der aktuellen ökonomischen Situation in unterstellte wirtschaftliche Verlaufsmuster, war von ›Depression‹ die Rede,191 vereinzelt sogar in Abgrenzung zu ›Krise‹, was – noch ungewöhnlicher – aufmerksam wahrgenommen und thematisiert wurde.192 Ein seltenes, aber prägnantes Beispiel für das Nebeneinander von Begriffen in der Übergangszeit des Sommers 1930 vermittelte eine definitorische Einordnung, die Kurt Singer im Wirtschaftsdienst versuchte. Dort erklärte Singer, »wenn von einer ›Krisis der Weltwirtschaft‹ geredet« werde, sei »[h]iermit […] zunächst nichts anderes gemeint als das Vorhandensein schwerer sich verstärkender Stockungen und das Vorwalten [sic!] des Depressionscharakters in allen Wechsellagen.«193 Sich derart mit Begriffen und ihrem Bedeutungsgehalt zu beschäftigen, stellte eine Ausnahme dar. Beispiele für Sprachreflexionen waren rar. Das eindrücklichste unter den wenigen lieferte Friedrich Zimmermann, ein Sonderberichterstatter der Vossischen Zeitung. Im Frühjahr 1930 verglich er den Sprachgebrauch von Deutschen bzw. Europäern und US -Amerikanern und konstatierte:
190 Z. B.: Krämer, Die deutsche Wirtschaft im Jahre 1929, in: Wirtschaftsdienst, 03.01.1930, S. 5; Singer, Zur Diagnosis der Weltwirtschaftsstockung, in: Wirtschaftsdienst, 14.03.1930, S. 441 f.; Keynes, Die industrielle Krise, in: Wirtschaftsdienst, 16.05.1930, S. 833. 191 Z. B.: Heß, Kehrseite des Reichtums, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 17.05.1930, [S. 1]; Berkenkopf, Goldmangel und Weltkrise, in: Wirtschaftsdienst, 25.07.1930, S. 1273; Straßer, Reichstag, 5. WP, 4. Sitzung, 17.10.1930, S. 62 D; Wir notieren:, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 30.05.1931, [S. 1]; Aufsichtsrat der I. G. Farben, zit. nach: Die Weltkrise im Farbenspiegel. Farben, Pharmazeutika, Chemikalien stabil – Stickstoff in Not [–] Benzin und Kunstseide unrentabel – Verminderte Erträgnisse, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 551, 22.11.1931, Morgen-Ausgabe, [S. 1]; Optimismus an der Ruhr. Handelskammer-Berichte für das III . Quartal, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 15.10.1932, Morgen-Ausgabe, [S. 3]. 192 So sprach die Vossische Zeitung im Mai 1930 selbst von einer »Krise, die auf der Weltwirtschaft, besonders schwer auf Deutschland lastet«, zitierte sodann aus dem aktuellen Monatsbericht des Instituts für Konjunkturforschung, in dem von »Depression« die Rede war, und stellte schließlich fest, dass der Bericht »peinlichst […] die Bezeichnung ›Krise‹ vermieden« habe. – Am Tiefpunkt der Depression, in: Vossische Zeitung, Nr. 126, 28.05.1930, o. S. 193 Singer, Weltwirtschafts-Krisis?, in: Wirtschaftsdienst, 15.08.1930, S. 1402.
Von steter Konjunktur? ›Krisen‹-Komposita
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»Krise – davon spricht man nicht gern in Amerika, es ist ein häßliches Wort. Man hat hier ein eigenes Vokabularium, in dem man nur ›Angleichung‹ oder höchstens ›Depression‹ findet. Das klingt zwar eleganter, smarter; aber der traditionsbeschwerte Europäer, der auf die Begriffe sieht, findet darin nur ein neues Wort für einen altbekannten Begriff.«194
Interessanterweise war der schrittweise Erosionsprozess des Systems der Weimarer Demokratie an den ›Krisen‹-Formen nicht abzulesen. (Zu einem gewissen Grad resultiert dies gewiss aus den Kriterien zur Auswahl relevanter Äußerungen und damit dem Belegstellenkorpus.195) ›Staatskrise‹, der in der Historiografie gängige Begriff für diesen Verfallsprozess, war im gesamten Untersuchungszeitraum in unregelmäßigen Abstanden immer wieder zu finden; Verdichtungen zu bestimmten Zeitpunkten oder eine kontinuierliche Verwendungszunahme des Begriffs waren nicht zu erkennen.196 Ebenso kamen, zum Beispiel schon während des Notverordnungsstreits vom Juli 1930, Warnungen vor einer Ausweitung der »Krise des Parlamentarismus« zu einer »Krise des Systems der Demokratie« auf.197 Aus solchen Mahnungen entwickelten sich innerhalb des Wirtschaftskrisendiskurses aber keine sich verdichtenden Redeweisen einer ›politischen / Demokratie-Krise‹. Anhand der expliziten Krisensemantik war der Steigerungsprozess des Republikzerfalls somit nicht treffsicher nachzuverfolgen.
194 Zimmermann, Krise – aber nicht darüber reden, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 20.04.1930, [S. 1 f., hier S. 2]. 195 Zu diesen Kriterien siehe Kap. I. 2. 196 Z. B.: Krisen-Gefahr noch nicht beseitigt, in: B. Z. am Mittag, 11.12.1929, S. 1 (»ernste Gefahr einer Staatskrise«); Brüning, Reichstag, 4. WP, 152. Sitzung, 01.04.1930, S. 4729 D (»Agrarkrise hat […] Charakter einer allgemeinen Volks- und Staatskrise«); Werner Steinhoff, Preußischer Landtag, 3. WP, 249. Sitzung, 13.10.1931, Sp. 22000 (»schwere[ ] Staatskrise«). 197 Wirth, Reichstag, 4. WP, 204. Sitzung, 18.07.1930, S. 6507 C.
V. Einzelbetrachtungen: Akteure und spezifische Sprachgebrauchsmodi
Die Analyse eines Krisendiskurses führt nicht nur zu Einblicken in die semantischen Träger, die ihn hervorbrachten und veränderten. Sie erlaubt auch, Spezifika im Sprachgebrauch einzelner Akteursgruppen zu erkennen. Besonders augenfällig offenbarten sich diese in den Aussagen von Kommunisten und Nationalsozialisten. Aber auch andere Akteursgruppen ließen entsprechende Beobachtungen zu, speziell hinsichtlich einzelner thematischer Positionierungen, etwa zur ›System‹-Frage, oder der Anwendung einzelner semantischer Versatzstücke, beispielsweise des Gebrauchs von ›Welt‹-Semantiken zur Raumkonstruktion.
1. Begrenzte Diskussionsbereitschaft: Scheidelinien zwischen ›politischer Mitte‹ und Extremen Bislang sind die Äußerungen vom linken und rechten Rand des politischen Spektrums vielfach ausdrücklich außen vor gelassen worden. Dies kam einem Kunstgriff gleich, allerdings einem gut begründbaren. Denn zwischen den Äußerungen von Kommunisten und Nationalsozialisten einerseits und den Vertretern sämtlicher übriger politischer Positionen andererseits tat sich ein entscheidender Unterschied auf, der sich aus der Haltung zum Diskussionsgegenstand ergab. Das einigende Band einer (artifiziellen) ›politischen Mitte‹ – grob vereinfacht: von der SPD bis zur DVP oder vom ADGB bis zum RDI – zeigte sich nicht in einer großflächigen Kongruenz politischer Positionen in Einzelfragen. Auch der bis 1931 tendenziell auszumachende Konsens der Deflationspolitik entstand, speziell was SPD und Gewerkschaften betraf, nicht durch ein überzeugtes Werben für diese Politik, sondern durch deren verhaltene Hinnahme, wenigstens in der öffentlichen Debatte.1 Was die Parteien einte, war das Ziel, eine Überwin-
1 Vgl. auch die prinzipiell ähnliche Beobachtung von James, Deutschland in der Weltwirtschaftskrise, S. 239 f.
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dung der Wirtschaftskrise zu erreichen – innerhalb der bestehenden politischen und Wirtschafts-Ordnung. Genau hier ergab sich die Scheidelinie zu den politischen Extremen; die ›politische Mitte‹ formierte sich mithin ex negativo. Denn Beiträge des linken und rechten politischen Randes zielten nicht auf konstruktive Vorschläge zur Lösung der wirtschaftlichen Probleme. Politiker der Extreme verstanden die Krise nicht als zu lösende Herausforderung, sondern als Ausdruck von Verfall und Scheitern eines politischen und ökonomischen Systems. Dementsprechend selten beinhalteten ihre Äußerungen handlungsanleitende Topoi. Vielmehr strotzten ihre Äußerungen vor sich beständig wiederholenden Kampfbegriffen sowie Erklärungsund Diagnosetopoi, die allesamt bezweckten, die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung rundweg zu diskreditieren. Mit der Ideologiedefinition Michael Freedens, der Ideologien als wiederkehrende Konstellationen aufeinander verweisender politischer Begriffe versteht, kann man den Sprachgebrauch von Kommunisten und Nationalsozialisten als m ustergültiges Beispiel für ideologische Grundnarrative interpretieren.2 Im Umkehrschluss produzierten diese Radikalpositionen die Wahrnehmung als Alternative. Die in den 1930er Jahren verbreitete und folgenschwer wirkmächtige Annahme einer faschistischen und einer kommunistischen Alternative zur liberal-demokratischen und privatwirtschaftlichen Ordnung rührte auch aus dieser Verweigerungshaltung zur Sachauseinandersetzung.3 Dass sie Fundamentalhaltungen einnahmen, offenbarten Kommunisten und Nationalsozialisten ferner durch die Beständigkeit ihrer Aussagen. Die Entwicklung des Wirtschaftskrisendiskurses ließ sich an ihren Beiträgen kaum erkennen; ihre Aussagen unterlagen zwischen Ende 1929 und Anfang 1933 nur marginalen Veränderungen. In diesem Punkt unterschieden sich im Übrigen nationalsozialistische und deutschnationale Äußerungen. Zwar radikalisierte sich die DNVP in der Schlussphase der Weimarer Republik unverkennbar und rückte unter dem Einfluss Hugenbergs an die NSDAP heran.4 Doch gerade weil sie einem Veränderungsprozess unterlag, verfocht sie eben nicht über den gesamten Krisenzeitraum hinweg die gleiche Position. Auch verweigerte sie sich bis ins Jahr 1931 hinein nicht gänzlich der Sachauseinandersetzung. Anschließend jedoch positionierte sie sich wie in den Anfangsjahren der Weimarer Republik klar republikfeindlich und bekannte, auch sie führe nun einen »Kampf gegen das System«.5
2 Vgl. Freeden, Ideology, S. 51–55. 3 Vgl. (mit Blick auf die Nationalsozialisten) auch Schivelbusch, Entfernte Verwandtschaft, S. 42 f. 4 Ausführlich hierzu: Mergel, Scheitern des deutschen Tory-Konservatismus, bes. S. 337–368. 5 Oberfohren, Reichstag, 5. WP, 54. Sitzung, 14.10.1931, S. 2097 C.
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Einzelbetrachtungen
KPD-Positionierungen Aussagen von KPD -Politikern kennzeichneten die grundlegenden Erklärungstopoi eines endgültigen ›Scheiterns des kapitalistischen Wirtschaftssystems‹ und einer damit einhergehenden ›verschärften Klassenkonfrontation‹, eines Kampfes zwischen ›Bourgeoisie‹ bzw. ›Trustkapital‹ und ›Arbeiterklasse‹ bzw. ›Werktätigen‹. Die konfrontativ gebrauchten, nicht näher definierten Begriffe und die beiden Topoi trugen entscheidend dazu bei, das Bild eines unweigerlich bevorstehenden Systemzusammenbruchs zu produzieren. Sie passten sich in das Grundmotiv eines »revolutionären Endkampf[s]« ein.6 Es war Kernelement der vom sechsten Weltkongress der Komintern, deren strategische Vorgaben für die KPD bindend waren, 1928 ausgerufenen »Dritten Periode«; in der praktischen Politik führte sie zur »›ultralinken Wende‹« auch der KPD.7 Diagnosen steigender Verarmung weiter Kreise der ›werktätigen‹ Bevölkerung als Folge der unwirksamen Deflationspolitik fungierten als Bestätigung der grundlegenden Erklärungsmuster. Eine Chance, innerhalb der bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung die Krise zu lösen, wurde verneint; die Regierungen erschienen innerhalb des kapitalistischen Systems lediglich als abhängige Größen und ausführende Organe des Finanzkapitals respektive der ›Trustbourgeoisie‹.8 Für diese Sprachmuster lieferten kommunistische Politiker über den gesamten Krisendiskurs hinweg mannigfache Beispiele. Theodor Neubauer diagnostizierte im Dezember 1929, die »Krise« bestehe »darin, daß im internationalen Maßstab die kapitalistischen Mächtegruppen einen wahnwitzigen Kampf gegeneinander führen«, »das Trustkapital eines jeden Landes einen unerhörten Krieg gegen alle anderen Schichten der Bevölkerung führt«.9 Neubauer fuhr fort: »Sie besteht darin, daß die besitzende Klasse eines jeden Landes einen unerbittlichen
6 Wirsching, »Hauptfeind Sozialdemokratie« oder »Antifaschistische Aktion«, S. 107. 7 Ebd. Vgl. ferner: Weber, Hauptfeind Sozialdemokratie, S. 15–17, sowie – stärker mit Blick auf Mobilisierungsstrategien der KPD in und v. a. anfangs der ›Dritten Periode‹ – Rosenhaft, KPD der Weimarer Republik, S. 395–402. 8 Als explizites und ausführliches Beispiel siehe Neubauer, Reichstag, 4. WP, 115. Sitzung, 13.12.1929, S. 3545 C (»Das Finanzprogramm, das die Reichsregierung gestern im Auftrag der Finanzmagnaten vorgelegt hat, ist durch eine umfangreiche Kampagne der Trustpresse vorbereitet worden. Tausende von Artikeln sind geschrieben worden, und all die großen Koryphäen der Trustbourgeoisie […] traten in die Arena, alle Handelskammern wurden mobil gemacht, der Industriellenverband berief seine Tagung ein, der Zentralverband des Bankiergewerbes und alle ähnlichen Instanzen traten auf den Plan, um vor den Massen die Notwendigkeit der verstärkten Kapitalakkumulation darzulegen.«). 9 Neubauer, Reichstag, 4. WP, 115. Sitzung, 13.12.1929, S. 3547 D – 3548 A.
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Klassenkrieg gegen die werktätigen Klassen führt. Das ist die wirkliche Krise der deutschen Bourgeoisie, das ist die wirkliche Krise des Kapitalismus.«10 Im Notverordnungsstreit vom Juli 1930 kritisierte Wilhelm Koenen die »vorliegenden Verordnungen, die der werktätigen Bevölkerung auf Grund des Diktaturartikels einen übelduftenden Strauß von Steuern präsentieren, [als] Beweis für die gewaltigen Erschütterungen der kapitalistischen Wirtschaft, für die inneren Widersprüche und die Verfallserscheinungen [der] Wirtschaft, für das Umschlagen der heftigen Wirtschaftskrise in die offene politische Krise.«11 Im Herbst 1930 kommentierte Wilhelm Pieck die Regierungserklärung Heinrich Brünings als »Sauce zu dem Braten, den die Regierung der Bourgeoisie serviert.«12 Er warf der Regierung einen »Anschlag […] auf die Lebenshaltung des […] Volkes, der Arbeiter, Angestellten und Beamten, der Kleingewerbetreibenden und der kleinbäuerlichen Bevölkerung« vor; nicht die Lösung ihrer Probleme sei das Ziel, vielmehr gehe es »in Wirklichkeit [um] eine ungeheure Ausplünderung und Aushungerung aller Werktätigen […], um dadurch den Großkapitalisten und Großagrariern unerhörte Vorteile zu verschaffen und sie von den Lasten des kapitalistischen Staates zu befreien.«13 Im Sommer 1931 monierte im Preußischen Landtag KPD -Fraktionsgeschäftsführer Kasper, die »Aushungerungs- und existenzvernichtende Politik des herrschenden kapitalistischen Systems gegenüber den werktätigen Massen […] finde[ ] ihre Fortsetzung in der von der Reichsregierung Brüning erlassenen neuen sogenannten Notverordnung«; sie führe abermals zu einer »ungeheure[n] Verschärfung der Lebensbedingungen aller werktätigen Menschen in Preußen-Deutschland« und sei »Ausdruck« und »Ausfluß« »kapitalistische[r] Ausbeuterpolitik«.14 Im Herbst desselben Jahres sah er sich bestätigt, denn die »Wirtschaftskrise verschärf[e] sich zusehends trotz aller Rettungsversuche«.15 Immer deutlicher schwinde die »Zahl der Anhänger der kapitalistischen Wirtschaftsweise selbst in Kreisen des Bürgertums«.16 »Millionen Menschen […] in allen kapitalistischen Ländern der Welt« verstünden, »daß das kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem abgelöst« und durch »eine höhere Form der Wirtschaft und Gesellschaft« ersetzt werden müsse.17 Einen Tag später drückte sich Hermann Remmele noch direkter aus. Ziel der KPD sei, »die Einheitsfront zu schmieden des gesamten Proletariats
10 Ebd., S. 3548 A. 11 Koenen, Reichstag, 4. WP, 204. Sitzung, 18.07.1930, S. 6509 C. 12 Pieck, Reichstag, 5. WP, 4. Sitzung, 17.10.1930, S. 65 B. 13 Ebd., S. 65 A – 65 B. 14 Kasper, Preußischer Landtag, 3. WP, 242. Sitzung, 11.06.1931, Sp. 21198. 15 Kasper, Preußischer Landtag, 3. WP, 249. Sitzung, 13.10.1931, Sp. 22001. 16 Ebd., Sp. 22003. 17 Ebd.
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in Deutschland, um die kapitalistische Herrschaft niederzuwerfen und aufzurichten ein Sowjetdeutschland.«18 Am Ende des Folgejahres, im Dezember 1932, rechnete Wilhelm Pieck mit Papens Ansätzen einer aktiven Wirtschaftspolitik ab. Sie seien unwirksam geblieben; »mit der kapitalistischen Wirtschaft und vor allen Dingen mit der Lebenshaltung und der Existenz der breiten werktätigen Massen [sei es weiter] rasend bergab« gegangen.19 Das Fazit seiner Rede entsprach fast wortgleich der Parole Remmeles. Auch Pieck forderte, »die ganze kapitalistische Wirtschaft und Herrschaft zu zerschlagen […] und an ihre Stelle zu setzen die einzige Kraft, die fähig ist, die Wirtschaft wieder aufzubauen: die Sowjet-Macht in Deutschland!«20 Die KPD verschrieb sich ganz der Rolle der Fundamentalopposition. Konstruktive Handlungsvorschläge, die sich in wiederkehrenden handlungsanleitenden Topoi niedergeschlagen hätten, suchte man weitgehend vergebens. Lediglich wiederholte Forderungen nach einer Arbeitszeitverkürzung zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und das Einfordern einer Winterhilfe für Bedürftige in der kalten Jahreszeit markierten positiv formulierte Impulse. Ansonsten zeigte sich die Systemablehnung folgerichtig in der Ablehnung aller potenziell systemstabilisierender Entscheidungen; von der Ablehnung des Finanzprogramms Hilferdings über die Ablehnung des Young-Plans bis zur Ablehnung sämtlicher Notverordnungen und somit der Deflationspolitik.
Positionierungen der NSDAP Auch die NSDAP verkörperte eine radikal systemablehnende Haltung, wenngleich aus anderer Motivation. Strukturell verfochten Links- und Rechtsaußen die gleiche grundlegende Argumentationsweise: Die Systemablehnung wurde auf stets wiederholte Kerntopoi und Begriffe gestützt, und die einzelnen Problemdiagnosen, von der permanenten Finanznot von Reich, Ländern und Gemeinden bis zur Not arbeitsloser und verarmter Bevölkerungsgruppen, wurden als Beleg für die Richtigkeit dieser Erklärungstopoi angeführt. Auf den Topoi eines ›seit 1918 anhaltenden Verfalls infolge feindlicher Fremdbestimmung‹, einer ›Bedrohung durch Marxismus und Bolschewismus‹ sowie der ›Auslieferung Deutschlands an das jüdisch beherrschte internationale Finanzkapital‹ fußte das Kernnarrativ. Hinzu traten als Kernbegriffe ›Tributpolitik‹, ›Bankrott‹ und unterschiedliche ›Kapital‹-Komposita.
18 Remmele, Reichstag, 5. WP, 54. Sitzung, 14.10.1931, S. 2096 C. 19 Pieck, Reichstag, 7. WP, 2. Sitzung, 07.12.1932, S. 40 D. 20 Ebd., S. 45 D.
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Besonders vehement und zugespitzt vertrat dieses Kernnarrativ erwartungsgemäß Adolf Hitler. Anfang 1932 beklagte er den Verfall, den die »Novemberverräter vom Jahre 1918« ausgelöst hätten und der »jetzt seine traurigen Früchte« trage.21 Seit Gründung der Republik hätten »die am deutschen Unglück gemeinsam schuldigen marxistischen Landesverräter und bürgerlichen Schwächlinge vom ›Aufbau der Wirtschaft‹ geredet, von der ›Rettung Deutschlands durch die Wirtschaft‹ gesprochen, in Wahrheit aber [das] Volk in immer größere Not und Verelendung hineingeführt.«22 Weiter hieß es: »13 Jahre lang sollten bald der Marxismus, bald wieder die internationale Hochfinanz Deutschland helfen. Aber gerade diese beiden, die 13 Jahre lang miteinander verbunden Arm in Arm gingen, haben gemeinsam Deutschland zerstört, unsere Wirtschaft vernichtet und unser Volk verelendet[…].«23
Was Hitler im dritten Jahr der Wirtschaftskrise formulierte, hatte Gregor S traßer schon Ende 1929 ähnlich geäußert. Angesichts der Finanzlage werde, so Straßer im Reichstag, überdeutlich: »Diese Republik ist pleite, vollkommen pleite, nicht nur moralisch, sondern auch wirtschaftlich.«24 Begonnen habe dieser »Bankrott […] am 9. November 1918«, denn seither hätten »Politikaster und sonstige Leute [geglaubt], einen Sieg des Volkes zu konstruieren, indem sie das Reich stürzten und an seine Stelle ein System setzten, das seit elf Jahren keinen größeren Ehrgeiz gehabt ha[be], als den Ertrag deutscher Arbeit in die Säckel internationaler Finanzjuden abzuliefern.«25 Während er der Großen Koalition vorwarf, sie »verramsche Staatsmonopole an internationale Kapitalisten um kleine Trinkgelder und Beträge, die [s]ie in das ewige unausschöpfliche Loch [i]hres Bankrotts werfe[ ]«,26 urteilte er im Herbst 1930 noch umfassender: »Das heutige System des entarteten kapitalistischen Zeitalters und der ebenso naturwidrige, weil auf der gleichen weltanschaulichen Basis entstandene Marxismus haben das deutsche Volk vor ein furchtbares Problem gestellt, ohne Möglichkeit ausreichender Selbsterhaltung durch Arbeit auf dem Boden einer unterwühlten Währung imaginäre Milliardensummen zu erschuften und zu verzinsen.«27
Mit der Regierung und allen republikstützenden politischen Kräften rechnete er rigoros ab: 21 Hitler, »Adolf Hitlers Neujahrsbotschaft«, S. 301. 22 Ebd. 23 Ebd. 24 Straßer, Reichstag, 4. WP, 115. Sitzung, 13.12.1929, S. 3549 B. 25 Ebd., S. 3549 C – 3549 D. 26 Ebd., S. 3550 C. 27 Straßer, Reichstag, 5. WP, 4. Sitzung, 17.10.1930, S. 59 D.
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Einzelbetrachtungen
»Die Bilanz Ihres Systems ist: eine niedergebrochene, in die internationale Trustwirtschaft hineingepeitschte Industrie, ein von seiner eigentlichen ökonomischen Bestimmung abgetrennter Handel und, nach der größten je erlebten staatlichen Falschmünzerei der Inflation, eine Geldwirtschaft, die mit ihrer verlogenen Trugwährung das gesamte Volk unter die Herrschaft des in wenigen Ländern erstarrten Weltgoldhaufens geführt hat.«28
Das Problem der Kapitalflucht führte er auf einen Vertrauensverlust zurück, der maßgeblich verursacht worden sei »durch die tendenziösen Alarmartikel der jüdischen und marxistischen Presse nach den Wahlen«.29 Er forderte, das Problem zu lösen, indem man Kapitalflucht bestrafe »wie Landesverrat«.30 Einen Mangel an nationaler Gesinnung als Grundproblem der Krise machte auch der NSDAP-Fraktionsvorsitzende Wilhelm Frick aus. 1931 erklärte er, »der vom Marxismus betriebene Wehr- und Landesverrat ha[be] zwangsläufig zur Tributpolitik, zur Zerstörung der deutschen Wirtschaft und des deutschen Arbeitsplatzes und damit zur gefährlichsten Erschütterung der Lebensgrundlagen [des] Arbeitertums […] geführt.«31 Aus dieser These folgerte er, die »Nutzbarmachung aller bewußt nationalen und völkischen Kräfte allein« sei »die Voraussetzung für den Betrieb einer Wirtschaft, die allen ihren Angehörigen ein ausreichendes Existenzminimum zu verbürgen« vermöge.32 Frick und stärker noch Hermann Göring ordneten die gegenwärtige Wirtschaftslage in ein Gesamtnarrativ der Schwäche und Fremdbestimmung auf allen Politikfeldern ein und interpretierten die Wirtschaftskrise als deren Folge. Der Fraktionschef rechtfertigte den »Kampf« seiner Partei »gegen die Versklavung [des] deutschen Volkes und seiner Wirtschaft durch die in einer grauenhaften Katastrophe untergegangene Tribut- und Erfüllungspolitik« mit der Gesamtheit »der Ereignisse auf innen- und außenpolitischem, auf finanz-, steuer- und wirtschaftspolitischem Gebiet«, die »die Vertreter des durch Dr. Brüning repräsentierten Systems restlos ins Unrecht gesetzt« hätten.33 Göring bemühte als Referenz Bismarck. Dieser habe zunächst sichergestellt, über »Instrument[e]« für eine »kraftvolle Außenpolitik« zu verfügen und »den Staat und die Wirtschaft dann erst zu jener großen Blüte gebracht«.34 Heute sei das »Gegenteil« zu beobachten; es sei erkennbar, wie »von jener schwachen Innenpolitik die Außenpolitik in ihrer Ohnmacht diktiert« werde und »von diesen beiden Faktoren dann
28 29 30 31 32 33 34
Ebd., S. 56 C. Ebd., S. 60 D. Ebd., S. 63 A. Frick, Reichstag, 5. WP, 54. Sitzung, 14.10.1931, S. 2088 A. Ebd., S. 2088 A – 2088 B. Ebd., S. 2088 B. Göring, Reichstag, 5. WP, 62. Sitzung, 10.05.1932, S. 2537 C.
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diese entsetzliche wirtschaftliche Lage geschaffen wurde, die nicht lediglich auf Wirtschaftskrisen zurückzuführen« sei.35 Während der Großteil der NSDAP-Aussagen destruktiv-fundamentalopposi tioneller Art war, stach genauso wie bei der KPD ein Feld hervor, auf dem die Partei aktiv Vorschläge einbrachte. Was bei den Kommunisten Arbeitszeitverkürzungs- und Nothilfeforderungen waren, war für die NSDAP – genauso wie für die DNVP 36 – das Ziel, Hilfen für die Landwirtschaft zu erreichen. Freilich handelte es sich nicht um isolierte Einzelvorschläge, sondern sie passten sich in das politische Gesamtmotiv ein, über Hilfen für ›die deutschen Bauern‹ (vornehmlich) ›im Osten‹ nicht nur zu wirtschaftlicher Erholung zu gelangen, sondern den nationalen Wiederaufstieg zu erreichen. In der Debatte um den Reichshaushalt 1931 warf der NSDAP-Abgeordnete Hermann Schneider nahezu dem gesamten Parlament vor, die Belange der Landwirtschaft zu vernachlässigen – und verband diesen Vorwurf mit grundlegender Kritik an der Prioritätensetzung in der Wirtschaftspolitik. Den Grund, »warum die deutsche Landwirtschaft versagen« müsse, lokalisierte Schneider bei der politischen Führungsriege in Deutschland.37 Diese habe »die Belange der Landwirtschaft nicht erfaßt«; führende Politiker »glaubten, durch großangelegte Vorträge über Weltwirtschaft und internationale Weltpolitik die Interessen der deutschen Bauern zu fördern und erreich[t]en das Gegenteil.«38 Er fuhr fort: »Die Führer unserer berufsständischen Organisationen predigten die Förderung des Kreditwesens, Konjunkturforschung, Rationalisierung, überschwemmten das platte Land mit einer Unzahl wissenschaftlich ausgebildeter Facharbeiter, trieben Klassenpolitik und vernichteten durch diese Überorganisation das gesamte deutsche Wirtschaftsleben.«39
Die Verantwortung sah Schneider indes nicht nur bei einer falschen Prioritätensetzung, sondern genauso »in der Preisbestimmung an der Produktenbörse«.40 An dieser »herrsch[e] der Jude«, der »die Preise für alle landwirtschaftlichen Produkte [diktiere], nicht zum Wohl und Wehe der deutschen Volkswirtschaft, sondern im Sinne des talmudistischen Grundsatzes: ›Vermögensberaubung der Nichtjuden.‹«41
35 Ebd. 36 Siehe z. B. Hugenberg, Reichstag, 4. WP, 154. Sitzung, 03.04.1930, S. 4771 B – 4771 D. 37 Schneider, Reichstag, 5. WP, 10. Sitzung, 06.12.1930, S. 390 C. 38 Ebd., S. 390 C – 390 D. 39 Ebd., S. 390 D. 40 Ebd., S. 391 D. 41 Ebd.
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Einzelbetrachtungen
2. Krisendiskurs und Systemfrage Im Wirtschaftskrisendiskurs spielten Bezüge auf das ›System‹ vornehmlich in den gerade beschriebenen Grundnarrativen eine Rolle. Kommunisten zielten darauf, das ›kapitalistische System‹ und die es tragenden ›Faschisten‹ zu überwinden und einen sowjetisch geführten Kommunismus auch in Deutschland zu erreichen. Nationalsozialisten bekämpften das liberal-demokratische System der Weimarer Republik, weil sie es als Verrat an den nationalen Interessen Deutschlands betrachteten, und sie verfochten das Feindbild des ›Kapitalismus‹ – nicht infolge einer Ablehnung der Privatwirtschaft, sondern weil sie ihn in der Form des ›Finanzkapitalismus‹ für ›jüdisch geprägt‹ hielten. Beide systemablehnenden Positionierungen entsprangen programmatischen Überzeugungen und Leitlinien, die vor der Weltwirtschaftskrise entstanden waren. Nicht als Folge der Krisenerfahrungen schrieben Links- und Rechtsextreme ihre Aussagen immer wieder in den Diskurs ein, sondern weil dieser ihnen scheinbar eine Bestätigung ihrer Kernerzählungen bot. Die Systemkritik war folglich kein Produkt des Diskurses. Abseits dieser Radikalpositionen verzeichnete der Krisendiskurs im Zeitverlauf einen einschneidenden Wandel. Während Äußerungen, die ›System‹-Fragen aufwarfen, bis 1931 rar blieben,42 nahmen sie nach den Unternehmenszusammenbrüchen, Banken- und Währungsturbulenzen des Sommers 1931 deutlich zu. Genauer: Insbesondere Sozialdemokraten prangerten krasse Fehler der Unternehmensführer als Grund für die Eskalation an. Ihre zuvor bereits gelegentlich geäußerte Kritik43 und ihr Zweifel an der Überlegenheit der privatwirtschaftlichen Wirtschaftsorganisation nahmen jetzt merklich zu. Mithin handelte sich um eine auf Resignation gründende Kapitalismuskritik. Man kann diese als Teil der größeren Debatte lesen, die um die Frage kreiste, ob die Krise Ergebnis von Politik- oder von Wirtschaftsversagen sei. Dieser nicht zuletzt maßgeblich von Unternehmern und Ökonomen befeuerte Disput reichte über tagespolitische Äußerungen hinaus und hatte schon zu Beginn der Wirtschaftskrise begonnen.44 42 Ein solches Beispiel, das weniger eine eigene Position, sondern eine Interpretation beschrieb, lieferte der ehemalige Reichskanzler Hermann Müller, der die Ergebnisse der Septemberwahl 1930 als Beleg dafür wertete, dass »weite Kreise des deutschen Volkes, die entweder vom Abbau betroffen waren oder sich vom Abbau bedroht glaubten, eben den Glauben an die Güte der bürgerlichen Wirtschaftsordnung verloren« hätten. – Reichstag, 5. WP, 4. Sitzung, 17.10.1930, S. 52 B. 43 So hatte beispielsweise der SPD -Abgeordnete Wilhelm Keil, Reichstag, 4. WP, 200. Sitzung, 15.07.1930, S. 6377 C, Arbeitslose und Verarmte als »Opfer[ ] der planlosen kapitalistischen Wirtschaft« bezeichnet. 44 Vgl. Scholl, Begrenzte Abhängigkeit, S. 165–171.
Krisendiskurs und Systemfrage
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Eine Debatte ergab sich aber auch in der tagespolitisch-medialen Auseinandersetzung. Denn die zunehmende Systemkritik provozierte Gegenstimmen. Sie reichten unter anderem vom Reichskanzler über den Reichsbankpräsidenten Luther bis zum RDI, verteidigten die privatwirtschaftliche und warnten vor einer planwirtschaftlichen Ordnung. Das Aufkommen dieser Diskussionen untermauert die These von der größeren Spreizung des Aussagespektrums in der Krisenphase ab Herbst 1931. SPD -Fraktionschef Rudolf Breitscheid resümierte die Geschehnisse des Sommers 1931 auf unmissverständliche Weise. Die »Monate[ ] der gewaltigen und das Land erschütternden Zusammenbr[üche] von Banken und großen Konzernen« hätten den Blick auf das »Versagen der Wirtschaftsführer« gelenkt.45 Doch nicht allein das Scheitern einzelner Personen sei erkennbar geworden, vielmehr sei »das, was sich in den letzten Monaten ergeben hat, ein Beweis für das Versagen des privatkapitalistischen Systems.«46 Breitscheid wies die zuvor von Brüning vertretene Sicht zurück, der lediglich gefordert hatte, »gesunde Prinzipien in der Privatwirtschaft« wiederherzustellen, nachdem »Erscheinungen wie Favag und Nordwolle« dazu geführt hätten, »den Kredit des ehrlichen deutschen Kaufmanns in der ganzen Welt zu erschüttern«.47 Es handele sich, so Breitscheid, eben nicht nur um »Schönheitsfehler an der kapitalistischen Wirtschaft«.48 Infolgedessen sei es nicht geboten »alles zu tun, um den wankenden Privatkapitalismus zu erhalten, sondern man [müsse] das Ziel haben, diesen Privatkapitalismus mehr und mehr unter öffentliche Kontrolle zu stellen und damit die Voraussetzung für die Überleitung in ein anderes Wirtschaftssystem zu schaffen.«49 In gleicher Weise argumentierten in den Folgemonaten zahlreiche Parteifreunde Breitscheids. Paul Szillat quittierte es als mutig, »heute wieder das bekannte Lied von der viel sorgsameren Privatwirtschaft und der angeblich nachlässigen Staatswirtschaft« anzustimmen.50 Schließlich sei eine »Zeit, in der das Reich die Banken in ihrer Gesamtheit stützen muss, um überhaupt die deutsche Wirtschaft aufrechtzuerhalten, […] wenig geeignet, Loblieder auf die Vorzüge der kapitalistischen Wirtschaftsform zu singen«.51 August Karsten vertrat die These, der »sozialen Gesetzgebung« sei »am besten gedient, wenn sich draußen im Volke immer mehr der Wille durchsetz[e], diese falsche, elende, kapitalisti-
45 Breitscheid, Reichstag, 5. WP, 54. Sitzung, 14.10.1931, S. 2081 A – 2081 B. 46 Ebd., S. 2081 B. 47 Brüning, Reichstag, 5. WP, 53. Sitzung, 13.10.1931, S. 2076 A – 2076 B. 48 Breitscheid, Reichstag, 5. WP, 54. Sitzung, 14.10.1931, S. 2086 D. 49 Ebd., S. 2086 D – 2087 A. 50 Szillat, Preußischer Landtag, 3. WP, 282. Sitzung, 16.03.1932, Sp. 24591. 51 Ebd.
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Einzelbetrachtungen
sche Wirtschaftsführung endlich zu beseitigen und an Stelle der kapitalistischen Unordnung wieder sozialistische Aufbauarbeit treten zu lassen«.52 Auf der entgegengesetzten Seite wirtschaftspolitischer Überzeugungen platziert war beispielsweise Hans Luthers Warnung »vor der Ausführung großer planwirtschaftlicher Programme in Deutschland«.53 Der Reichsbankpräsident begründete seinen Standpunkt damit, dass ein »Verplanwirtschaften« des Wirtschaftslebens in Deutschland zu einer dauerhaften Desintegration aus der – dringend wiederherzustellenden – Weltwirtschaft führe.54 Im Sommer 1932 fasste die Vossische Zeitung die gegensätzlichen Überzeugungen prägnant zusammen: Der Vorwärts erkläre, dass es beim »politische[n] Kampf der Gegenwart […] um den Umbau der Wirtschaft vom verkrachenden Kapitalismus zum aufbauenden Sozialismus« gehe, und die Gewerkschaften forderten, dass »›mit dem Kampf um die Überwindung dieser Krisennot planvolle Maßnahmen gegen die Wiederkehr gleichartiger Katastrophen‹« eingeleitet werden müssten, die »nur in einem Umbau der ›jetzigen planlosen Wirtschaft‹ in eine ›planvolle Gemeinwirtschaft‹ bestehen« könnten.55 Dagegen vertrete der RDI die völlig konträre These: »Der Staat muß sich von Eingriffen in das Wirtschaftsleben freihalten und der freien Initiative von Unternehmer und Arbeiter weitgehenden Spielraum lassen«.56 Mit dieser Gegenüberstellung spiegelte die Zeitung bündig die Zersplitterung der wirtschaftstheoretischen Überzeugungen auf dem Höhepunkt der empirisch beobachtbaren Konsequenzen des ökonomischen Zusammenbruchs. Infolge der Summe seiner Infragestellungen aus unterschiedlichen politischen Richtungen war das ökonomische und politische ›System‹ in Deutschland zu keinem anderen Zeitpunkt der Wirtschaftskrise umstrittener als 1932.
3. Raum-Bezüge: Deutschland als wesentliche Referenz, Interdependenz-Narrative und ›Welt‹-Krise Die Krise, die Deutschland Anfang der 1930er Jahre durchlebte, spielte sich auf verschiedenen räumlichen Ebenen ab. Aussagen, die das Deutungsmuster ›Krise‹ verbreiteten und verstetigten, konnten genauso auf die Haushaltsnot-
52 Karsten, Reichstag, 7. WP, 2. Sitzung, 07.12.1932, S. 35 C. 53 Luthers Appell an die Wirtschaft, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 21.02.1932, Morgen-Ausgabe, [S. 3]. 54 Zit. nach: ebd. 55 Winners, Wohin geht die Wirtschaft?, in: Vossische Zeitung, 30.06.1932, Morgen-Ausgabe, S. 1. 56 Zit. nach: ebd.
Raum-Bezüge
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lage deutscher Gemeinden abheben wie auf Reparationskonferenzen oder die in einen Abwärtsstrudel geratene Weltwirtschaft. Vorherrschender Bezugspunkt für politische Handlungsvorschläge war indes Deutschland. Der endgültige Durchbruch des Wirtschaftskrisendiskurses im Sommer 1930 und die Ausrufe eines Wendepunktes im Krisenverlauf ab Herbst 1932 gründeten auf Ereignissen und Entwicklungen in Deutschland. Politische Debatten kreisten mehrheitlich um die Verschärfung der Problemlage im eigenen Land, bemessen an und begründet mit den Reichs-, Länder- und Gemeindefinanzen, Schwierigkeiten und Zusammenbrüchen deutscher Unternehmen und Banken und – allen voran – der Entwicklung der Arbeitslosigkeit. Politiker und Presse blieben nicht ausschließlich, aber tendenziell einer methodologisch national-orientierten Perspektive verhaftet. Gerade angesichts der Tatsache, dass das eigene Land die räumliche Referenz der meisten Aussagen war, stellt sich die Frage, wie der transnationale Charakter der Krise semantisch dargestellt wurde. Die Lösung führt zu zwei Kern- mit insgesamt vier Teilantworten. Denn das staats- und volkswirtschaftsübergreifende Krisenausmaß wurde sprachlich sowohl direkt als auch indirekt repräsentiert.
Direkte Repräsentationen von Transnationalität Direkt sprachlich repräsentiert wurde Transnationalität, indem Sprecher und Autoren die Parallelität und Verschränkung einer deutschen und einer Welt›Krise‹ betonten oder sich ausdrücklich mit dem transnationalen Interdependenzgeflecht beschäftigten, in das die deutsche Wirtschaft integriert war. Speziell zwischen 1929 und 1931 explizierten Sprecher wiederholt das Nebeneinander und gleichzeitige Überlappen einer ›deutschen‹ und einer ›Weltkrise‹. Aus der ex post-Sicht handelte es sich um die analytisch schärfsten Beobachtungen. Sie verwiesen sowohl auf die spezifisch deutsche Problem- und Ursachenlage als auch die Eingebundenheit der deutschen Volkswirtschaft in einen nationsübergreifenden Krisenzusammenhang. Wie schon an anderer Stelle erwähnt,57 konnte es entsprechend heißen, dass das Börsengeschehen (unter anderem) von der »deutsche[n] Finanzkrise« und der »große[n] Krise der Weltwirtschaft« belastet werde,58 »Deutschland […] eine Sonderkrise ha[be], die vielleicht schon ein Jahr früher als die Welt-Depression« ausgebrochen sei,59 oder »eine völlige 57 Siehe Kap. III .2. 58 Paul Elsberg, Sorgentage der Börse, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 3. Beilage zu Nr. 226, 21.09.1930, [S. 1]. 59 Der verzauberte Erdball, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 24.05.1931, S. 1.
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Einzelbetrachtungen
Verlagerung in der Weltwirtschaft stattgefunden« habe, die zu »ganz neuen Aufgaben zur Überwindung dieser Krise wie der deutschen Krise« führe.60 Externe Einflusseffekte und ihre Wirkung auf die deutsche Wirtschaft konnten auch noch direkter benannt werden, zumeist als Element von Erklärungen. Durch derartige Konkretisierungen wurde unmittelbarer als bei allen anderen Varianten sprachlicher Raumkonstruktion erkennbar, wie von außen kommende Faktoren sich innerhalb Deutschlands auswirkten. Insbesondere Zeitungsartikel zu Zinssatzbewegungen und Entwicklungen an Börsenplätzen führten solche Interdependenzen an, um beobachtbare Veränderungen verständlich zu machen.61
Indirekte Repräsentationen von Transnationalität Die Vorstellung abstrakterer, dafür räumlich sehr viel weiter wirkender Interdependenzgeflechte ließ sich sprachlich ebenso indirekt hervorrufen: durch die Verwendung von ›Welt-‹Semantiken und – naturgemäß nur in der Presse zu finden – scheinbare Partikularberichterstattung respektive indirekte Vergleichs kommunikation. Vordergründig (daher: scheinbar) befasste sie sich mit den wirtschaftlichen Schwierigkeiten und Krisenbewältigungsansätzen in einzelnen Ländern. Entsprechend thematisierten die Artikel beispielsweise die Wirt-
60 Curtius, Reichstag, 5. WP, 22. Sitzung, 10.02.1931, S. 883 B – 883 C. Als weiteres Beispiel siehe: Große Kanzlerrede vor den Wirtschaftsführern, in: B. Z. am Mittag, 25.03.1931, S. 1 (»In seiner Ansprache bezeichnete Franz von Mendelssohn die deutsche Krise in weiterem Sinne des Wortes als das politische Nachkriegsschicksal des deutschen Volkes. Darüber hinaus habe allerdings die Weltwirtschaftskrise alle Völker ergriffen […].«) 61 Z. B.: Buschmann, Billigeres Geld für die Wirtschaft, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 03.11.1929, [S. 1] (»England ermäßigte überraschend seinen Diskont um ein Prozent, weil man wußte, daß New York in wenigen Stunden mit einer gleichen Maßnahme folgen würde. Da diese beiden vorausgegangen waren, lag für die Reichsbank keine Veranlassung mehr vor, noch länger Vorsicht zu üben.«); Die Börse beruhigt sich. Gestriger Kurseinbruch ohne Folgen – Bessere internationale Stimmung. Abbau des Engagements um 40 pCt., in: B. Z. am Mittag, Nr. 120, 27.05.1931, S. 2 (»Nach den schweren Kursverlusten des gestrigen Tages ist heute in Bank- und Börsenkreisen eine gewisse Beruhigung eingetreten. Diese stützt sich in erster Reihe auf die bessere Stimmung an den Weltbörsen, besonders Amerikas.«); Wirtschaftsbelebung regt an, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 15.10.1932, Abend-Ausgabe, [S. 3] (»Die kräftige Erholung in Wallstreet und der dabei hervorgetretene Wirtschaftsoptimismus kamen an der Berliner Börse in erster Reihe dem Aktienmarkt zugute. Unter Hinweis auf die starken Steigerungen der Dawes- und Young-Anleihe schritt die heimische Effektenkundschaft zu Käufen auf den verschiedensten Marktgebieten. Infolgedessen gestaltete sich die Tendenz von Beginn an freundlich, die Spitzenwerte erzielten zunächst durchschnittliche Gewinne von 1 bis 2 pCt.«).
Raum-Bezüge
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schaftslage in den USA, Venezuela oder England.62 Obgleich explizites Vergleichen ausblieb, implizierte der Kontext der Berichte, dass die einzelnen Wirtschaftskrisen trotz ihrer nationalen Besonderheiten als partes pro toto für eine transnationale Gesamtkrise standen. Seltene, aber besonders eindrückliche Beispiele für eine solche Berichterstattung lieferte die Vossische Zeitung. Im Sommer 1930 erläuterte sie »Die Weltsorge der Arbeitslosigkeit« exemplarisch in einem ausführlichen Bericht über »Englands Kampf«;63 im Herbst 1932 druckte sie eine Artikelserie des renommierten amerikanischen Journalisten und Publizisten Hubert Renfro Knickerbocker. Unter der Frage »Kommt Europa wieder hoch?« bereiste er Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich und die Tschechoslowakei und schilderte seine Beobachtungen und Einschätzungen aus dem krisengeschüttelten Europa jeweils in Einzelartikeln.64 ›Welt‹-Semantiken – Substantive, denen das Präfix ›Welt‹ vorangestellt wurde – waren die augenfälligsten sprachlichen Merkmale, die einen transnationalen Raum konstruierten. Ihre Verwendungsfrequenz stieg ab Mitte 1930 signifikant an. Verbreitetste Begriffe waren ›Weltwirtschaft‹65 und ›Weltwirtschaftskrise‹66 und – verstärkt ab 1931 vorkommend – ›Welt-Krise‹67, was anzeigte, dass die Krise auch in globaler Sicht nicht länger als ein auf das rein Ökonomische 62 Siehe z. B.: Lewinshon, Prosperity for ever!, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 20.04.1930, [S. 1]; Karl A. Bock, Venezuela spürt die Krise. Weltmarktwerbung auf lange Sicht, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 577, 08.12.1931, Morgen-Ausgabe, [S. 1]; Der Herd der englischen Krise, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 469, 30.09.1932, Morgen-Ausgabe, [S. 1]. 63 Die Weltsorge der Arbeitslosigkeit. Englands Kampf, in: Vossische Zeitung, Nr. 204, 27.08.1930, S. 12. 64 H. R. Knickerbocker, Kommt Europa wieder hoch? Bericht über eine Reise durch die Wirtschaftskrise, insgesamt 20 »Fortsetzungen«, in: Vossische Zeitung, September / Oktober 1932; zusammenfassende Schlussbetrachtung in: Vossische Zeitung, Nr. 487, 11.10.1932, Morgen-Ausgabe, S. 4. 65 Z. B.: Singer, Weltwirtschafts-Krisis?, in: Wirtschaftsdienst, 15.08.1930, S. 1402; Wirtschaftskrise als Kriegsfolge, in: Vossische Zeitung, 05.05,1931, S. 2; Länderberichte. Deutschland, in: Wirtschaftsdienst 16 (1931), H. 20, 15.05.1931, S. 857–859, hier S. 857; Brüning, Reichstag, 5. WP, 59. Sitzung, 25.02.1932, S. 2327 D. 66 Z. B.: Börsensorgen überall, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 21.08.1930, [S. 1]; Bayer, Zum Problem der Weltwirtschaftskrise, in: Wirtschaftsdienst, 05.12.1930, S. 2075; General-Reinigung, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 02.06.1931, S. 1; Reichsregierung, Reichsregierung fordert Revision, in: Vossische Zeitung, 07.06.1931, 6. Beilage, [S. 1]; Der erste Börsentag. Von Staatssekretär a. D. Oscar Meyer, Erster Syndikus der Berliner Börse, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, Beilage zu Nr. 209, 02.09.1931, [S. 1]; Göring, Reichstag, 5. WP, 62. Sitzung, 10.05.1932, S. 2537 C. 67 Z. B.: Wirtschaftskrise als Kriegsfolge, in: Vossische Zeitung, Nr. 106, 05.05.1931, S. 2; Düsterwald, Sammlung der Kräfte, in: Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung, 07.06.1931, [S. 1]; Kasper, Preußischer Landtag, 3. WP, 242. Sitzung, 11.06.1931, Sp. 21198; Brüning, Reichstag, 5. WP, 63. Sitzung, 11.05.1932, S. 2595 A.
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Einzelbetrachtungen
begrenztes Problem und Phänomen betrachtet wurde. Daneben kamen immer wieder einzelne ›Welt‹-Wendungen auf, beispielsweise »Weltmarkt«,68 »Welt mittel«69 oder »Welthandelsbeziehungen«.70 Wen und was ›Welt‹ genau bezeichnen sollte, thematisierten Sprecher und Autoren nicht. Sucht man nach einer zeitgenössischen Bestimmung des prominentesten Begriffs – ›Weltwirtschaft‹71 – lohnt ein Blick in die 1931 von Ernst Wagemann, dem Begründer des Instituts für Konjunkturforschung, publizierte Studie »Struktur und Rhythmus der Weltwirtschaft«. Darin definierte Wagemann die Weltwirtschaft als »die aus der internationalen Arbeitsteilung sich ergebende Produktions- und Verbrauchsverbundenheit der Völker« beziehungsweise »die Gesamtheit der verkehrsverbundenen Volkswirtschaften«.72 Auch wenn im alltäglichen, intuitiveren politischen Sprachgebrauch ein solches Begriffsverständnis nicht expliziert wurde, lieferte dieser Sprachgebrauch ebenso wenig Hinweise auf ein anderes, abweichendes Begriffsverständnis. Die Motive für den Gebrauch von ›Welt‹-Semantiken konnten deutlich differieren. Wenn Regierungs- oder regierungsnahe Politiker auf sie zurückgriffen, versuchten sie nicht selten, diese als Mittel zur Rechtfertigung und Verantwortungsdelegation zu verwenden. Vor allem in den Reden Heinrich Brünings, aber auch beim SPD -Fraktionsvorsitzenden Rudolf Breitscheid war dies gut zu erkennen. Unter anderem zeigte es sich, wenn Brüning »den ungeheuren Druck, den die Weltkrise auf alle einzelnen Bedingungen des Wirtschafts- und Soziallebens und des politischen Lebens ausübt«,73 beklagte oder erklärte, die Krise sei nicht einzeln-nationalstaatlich zu überwinden, sondern nur von einer internationalen »Interessengemeinschaft«, die zusammen »das gemeinsame Weltproblem« angehe.74 Ähnlich offenkundig wurde es, wenn Breitscheid den »Beweis erbracht« sah, »daß die Krisis […] eine Weltkrisis ist und […] sie nicht zuletzt mit Weltmitteln gelöst werden« müsse.75 Die extremste Verwendungsweise von ›Welt‹-Semantiken, deren spezifische Ursprünge ins späte 19. Jahrhundert zurückreichten,76 zeigte sich im Sprach68 Dietrich, Reichstag, 5. WP, 7. Sitzung, 03.12.1930, S. 230 A. 69 Breitscheid, Reichstag, 5. WP, 54. Sitzung, 14.10.1931, S. 2080 C. 70 Bilanz der Weltkrise, in: Finanz- und Handelsblatt des Vossischen Zeitung, 18.12.1931, Morgen-Ausgabe, [S. 1]. 71 Zur generellen Komplexität sowie steten Zeit- und Perspektivgebundenheit einer scharfen Definition von ›Weltwirtschaft‹ siehe konzise Walter, Geschichte der Weltwirtschaft, S. 1–7. 72 Wagemann, Struktur und Rhythmus der Weltwirtschaft, S. 5. 73 Brüning, Reichstag, 5. WP, 53. Sitzung, 13.10.1931, S. 2074 A. 74 Zit. nach: Brünings Weihnachtsbotschaft, in: Vossische Zeitung, 25.12.1931, Morgen- Ausgabe, S. 1. 75 Breitscheid, Reichstag, 5. WP, 54. Sitzung, 14.10.1931, S. 2080 B – 2080 C. 76 Vgl. Art. Weltjudentum, in: Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, S. 690.
Raum-Bezüge
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gebrauch der Nationalsozialisten. Hier fungierten ›Welt‹-Formulierungen als antisemitisch aufgeladene Kampfbegriffe. Das zeigte sich nicht nur im Krisendiskurs, als beispielsweise Gregor Straßer 1930 eine Abkehr vom Goldstandard forderte und damit begründete, dass »die Grundlage der Währung […] nicht spekulatives Manöver der Weltfinanz« sein dürfe.77 Sondern weit drastischer erkennbar wurde der via ›Welt‹-Semantik transportierte Antisemitismus in Begriffen wie ›Weltjudentum‹, ›Weltfinanzjudentum‹ oder auch ›Weltfreimaurerei‹.78 Sie konstruierten das Feindbild einer »jüdische[n] Internationale« im Sinne eines weltweiten Macht- und Interessenkartells.79 Nationalsozialistische Schriften und Reden rekurrierten auf diese Vorstellung einer ›jüdischen Weltverschwörung‹ als Hetzobjekt zur Rekrutierung und Mobilisierung von Anhängern.80
77 Straßer, Reichstag, 5. WP, 4. Sitzung, 17.10.1930, S. 60 C. 78 Vgl. Art. Weltjudentum, in: Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, S. 690–693. 79 Ebd., S. 689. 80 Vgl. auch Uptrup, Propaganda und Antisemitismus, S. 102–120.
VI. Zwischenfazit
Unscharfe Zäsuren kennzeichneten den öffentlich-politischen Sprachgebrauch im Weimarer Wirtschaftskrisendiskurs. Nicht einzelne Ereignisse zu exakt benennbaren Zeitpunkten markierten folgenreiche diskursive Verschiebungen, sondern diese vollzogen sich in jeweils längeren Transitionsphasen. Den Zeitraum zwischen Herbst 1929 und Sommer 1930 prägten latent vorhandene Krisendeutungen, die nur in einzelnen Situationen abgerufen wurden und so zu ›Krisen‹-Peaks führten. Anlässe für solche Peaks konnten die Verwerfungen an internationalen Börsenplätzen genauso sein wie die drohende Zahlungsunfähigkeit des Reichs, die Lage der deutschen Landwirtschaft, der konjunkturelle Abschwung in Deutschland oder die sich abzeichnende Weltdepression. ›Krisen‹-Interpretationen bezogen sich sowohl auf Problemkomplexe, die aus seit Jahren bestehenden strukturellen Vorbelastungen der Weimarer Wirtschaft resultierten, als auch auf akut eingetretene weltwirtschaftliche Verwerfungen. Für den endgültigen Durchbruch des Wirtschaftskrisendiskurses sorgte mit dem Notverordnungsstreit vom Sommer 1930 ein politischer Konflikt. Das über einen Zeitraum von ungefähr einem Monat auf diesen Konflikt gerichtete mediale Interesse und die in der Debatte gerade von Regierungspolitikern zum Argument gemachte (Welt-)Wirtschaftskrise lenkten die Aufmerksamkeit auf die fundamentalen finanzpolitischen und ökonomischen Schwierigkeiten Deutschlands, die sich mit weltwirtschaftlichen Grundtendenzen überlappten. Von diesem Zeitpunkt an – und bis Anfang 1933 – beherrschte die ›Weltwirtschaftskrise‹ als permanent abgerufenes Interpretament die Weimarer Republik. Mithin etablierte sich das Deutungsmuster nach Beginn des Konjunkturrückgangs, aber deutlich vor dem konjunkturanalytischen Höhepunkt der Wirtschaftsmisere. Der im Hochsommer 1930 einsetzende Krisenabschnitt endete im Herbst 1931. Die Verwerfungen im Bankensektor, die Erosion des Goldstandards und der Weltwirtschaft, die offenkundig gewordene Fehleinschätzung, die Krise sei in absehbarer Zeit überstanden, und die zunehmend als disproportional und problemverschärfend betrachtete Deflationspolitik Brünings bewirkten eine merkliche Spreizung des Aussagespektrums. Sie fiel zusammen mit dem sich beschleunigenden politischen Auflösungsprozess der Weimarer Republik. Der Krisendiskurs, bis dato primär auf den Zeitebenen der Gegenwart und Zukunft angesiedelt, griff im Zuge umfassenderer und aggressiverer Ursachen-
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diskussionen verstärkt auf die Ebene der Vergangenheit über. Während ›Krise‹ zuvor als ereignis-konnotierter Begriff erschienen war, bezeichnete er spätestens ab 1931 eine längerfristig bestehende Situation respektive eine strukturelle Problemlage. Auf tragende Einzelbegriffe des Krisendiskurses, mit denen die sozialen Auswirkungen der wirtschaftlichen Lage beschrieben, angeprangert und zum Argument gemacht wurden, unter anderem ›Not‹ und ›Elend‹ sowie Anleihen aus dem Begriffsfeld um ›Kampf‹ und ›Krieg‹, übten diese Verschiebungen freilich keinen gravierenden Einfluss aus. Hatte der Deflationskurs bis ins Frühjahr 1931 in der öffentlichen politischen Diskussion zumindest wenig Widerspruch in Form ausbuchstabierter Alternativen erfahren, kamen jetzt zunehmend Vorschläge auf, die drastischer eine aktive Konjunkturpolitik forderten, vor allem, um die Arbeitslosigkeit effektiv einzudämmen. Nachdem sich die Arbeitslosigkeit bereits zuvor zum Gradmesser für das Krisenausmaß und ihre Bekämpfung zum wichtigen politischen Ziel entwickelt hatte, besetzte sie fortan die Spitzenposition anzugehender politisch-ökonomischer Herausforderungen. Letztlich kann man diesen Befund auch als Indikator für einen Prozess politischer Einsicht und politischen Lernens interpretieren. In dieser Sicht wird deutlich, dass ein Sozialstaat ab einem bestimmten Ausmaß unmittelbar erfahrener ökonomischer Beeinträchtigung auf eine aktivere Wirtschaftspolitik umschwenken muss, wenn er wenigstens versuchen will, die Erosion der gesamten Legitimität seines politischen Systems zu verhindern. Zentrale Begriffe, die prägnant diese Rejustierung der politischen Zielhierarchie widerspiegelten, waren ›Ankurbelung‹ und ›Arbeitsbeschaffung‹. Zugleich ereigneten sich Verschiebungen im abgerufenen Metaphernhaushalt. Hatten bislang allein Metaphern der ›Reinigung‹, der ›Krankheit‹ und des ›Körpers‹ – allesamt Bilder, die ein biologistisch-organisches Wirtschaftsverständnis implizierten – dominiert, traten nun mechanistisch-maschinistische Sprachbilder hinzu. Dies kann gleichermaßen als Faktor wie Indikator der Abkehr von der einseitigen Konzentration auf den deflationistischen Ansatz und sein wirtschaftstheoretisches Fundament, den Liberalismus, betrachtet werden. Zugleich kam ab Herbst 1931 – und damit im Zeitraum, der aus konjunkturanalytischer Sicht als Krisenhöhepunkt auszumachen ist – auch jenseits ideologisch apodiktischer nationalsozialistischer und kommunistischer Standpunkte verstärkt Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem auf. Insbesondere sozialdemokratische Stimmen schrieben den Unternehmenslenkern eine maßgebliche Verantwortung für die Krisenverschärfung zu und stellten die Überlegenheit des privatwirtschaftlichen Wirtschaftssystems infrage. Diese Infragestellungen wiederum provozierten seitens der Industrie, aber etwa auch des Reichsbankpräsidenten Luther entschiedene Entgegnungen und Warnungen vor planwirtschaftlichen Ideen.
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Löst man sich von der rein historisch-semantischen Perspektive und nimmt mit Heinrich Brüning einen zentralen politischen Akteur der Jahre 1930–32 genauer in den Blick, gelangt man einmal mehr zu einem zwiespältigen Urteil. Beinahe unabhängig von der Frage, wie man die Motive für seine rigide Sparpolitik und die späte und zögerliche, aber schließlich erkennbare Abkehr vom strikten Deflationskurs wirtschaftspolitisch bewertet, wirft nämlich sein politisch-kommunikatives Vorgehen die Frage auf, ob nicht auch in diesem Feld Fehler lagen, die sich krisenverschärfend auswirkten. Zumindest zeugten seine hier analysierten Redeweisen kaum von einem offensiv-erklärenden, geschweige denn positiv-werbenden Argumentationsstil. Dafür sind verschiedene Gründe denkbar; sie mögen in der Person Brünings gelegen, genauso aber mit der Kommunikationssituation einer Parlamentsrede zusammengehangen haben. Auffällig ist zudem, dass Brüning und seine Kabinettsmitglieder offenbar eine Kommunikationsform kaum nutzten, die in den Krisen der 1960er und 1970er Jahre wiederholt eine Rolle spielte und heute aus der Politiker-Kommunikation nicht mehr wegzudenken ist: das Interview. Es ist nicht unplausibel, zu vermuten, dass ihnen dieses dialogische Kommunikationsformat Möglichkeiten eröffnet hätte, ihre Politik aktiver zu erklären und Einwände, Zweifel und Ängste, die ihnen in Frageform begegnet wären, offensiv aufzugreifen. Inwiefern insbesondere Brüning damit den Wirtschafts- und mittelbar den Weimarer Staatskrisendiskurs hätte beeinflussen können, lässt sich fraglos nicht seriös abschätzen. Genauso ist kaum sicher zu sagen, ob ihm die Option von Interviews in der heute geläufigen Form überhaupt gegeben war. Eine politische Kultur geschichte des Interviews steht bislang aus. Ohnehin ist der Forschungsstand zur Geschichte des Interviews als Textgattung – abgesehen von einer medienwissenschaftlichen Studie, die sich auf das »Celebrity«-Interview konzentriert1 – ausgesprochen übersichtlich.2 Ziemlich sicher ist, dass sich das journalistische Interview ausgehend von den USA zunächst im englischsprachigen Raum und verstärkt im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ausbreitete.3 Wann genau und wie das Interview in der deutschen Presse als gängiges Kommunikationsformat für Politiker Verbreitung fand – kurz: wann Politiker begannen, regelmäßig Interviews zu geben, und welche Form diese Interviews aufwiesen – ist hingegen eine spannende, einstweilen aber nicht klar zu beantwortende Frage.4 Medienkontakte, die unter dem Label Interview firmierten, pflegten Weimarer Politiker 1 Ruchatz, Individualität der Celebrity. 2 Vgl. die entsprechende Einschätzung und die notgedrungen knappen Ausführungen zum Forschungsstand ebd., S. 12 f., 22–26. 3 Vgl.: Ebd., S. 16, 40–55, sowie die knappen Bemerkungen bei Bösch, Mediengeschichte, S. 114 f., und Geppert, Pressekriege, S. 30, 257. 4 Interessanter- und bedauerlicherweise finden sich hierzu auch keine Ausführungen bei Ross, Media and the Making of Modern Germany.
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durchaus, allerdings offenbar selten. Dies lässt sich für Brüning genauso wie für einzelne Reichsminister zeigen.5 Zu prüfen wäre, inwieweit es sich bei diesen Pressekontakten tatsächlich um Interviews der heute üblichen Art oder eher um Unterredungen handelte, die heutzutage als Hintergrundgespräche bezeichnet werden.6 Zudem scheinen sie sich weniger nach innen, an deutschsprachige Adressaten, speziell potenzielle Wähler, gerichtet zu haben. Vielmehr lässt die Tatsache, dass es sich bei den ausgemachten Beispielen für solche Interviews oft um Gespräche mit ausländischen Presseorganen handelte, die Hypothese zu, dass die Interviews primär als eine Form medial basierter Außenpolitik dienten. Sie wären so als ein Spiel über die mediale Bande zum Zweck des Kommunizierens außenpolitischer Positionen zu verstehen, wie es bereits am Ende des Kaiserreichs zu beobachten war7 und wie es beispielsweise auch Konrad Adenauer in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren intensiv betrieb.8 Ein gravierender Unterschied zwischen der Krise der frühen 1930er Jahre und den im Anschluss zu behandelnden Krisen der Nachkriegszeit lag schließlich im Umfang der Presse-Berichterstattung. Die untersuchte Qualitäts- und 5 Aus (den Anmerkungen in) der Edition der Akten der Reichskanzlei lassen sich entsprechende, insgesamt jedoch wenige Anhaltspunkte für Interviews entnehmen. Hinweise finden sich beispielsweise für ein im Dezember 1928 geplantes Interview von Außenminister Stresemann mit der US -amerikanischen Zeitung Baltimore Sun mit dem Ziel, die deutsche Position in der Frage der Rheinlandräumung zu erläutern (vgl. [o. N.], Ministerbesprechung vom 21. Dezember 1928, 18 Uhr, S. 329), für ein Interview Reichskanzler Brünings mit einer »amerik[anischen] Nachrichtenagentur« im September 1930 ([o. N.], Kabinettssitzung vom 23. September 1930, 16 Uhr, S. 434, Anm. 1) und mit dem Chefredakteur des WTB im Januar 1932 (Vgl. [Pünder], Vermerk des Staatssekretärs Pünder, S. 2170, Anm. 1), sowie für ein Interview des Reichswehrministers Groener mit der italienischen Zeitung Popolo d’Italia im Januar 1932 (Vgl. [o. N.], Ministerbesprechung vom 15. Januar 1932, 16 Uhr, S. 2175, Anm. 11). 6 Diese Vermutung erhärtet sich, wenn man das WTB -Interview Brünings vom Januar 1932 genauer betrachtet: [o. N.], Presseäußerung des Reichskanzlers Brüning zur Reparationsfrage. Im Original ist das Dokument betitelt als »›Entwurf eines Interviews des Herrn Reichskanzlers mit dem Chefredakteur des WTB‹« (ebd., S. 1203); das Gespräch wird nicht im Frage-Antwort-Schema und mittels wörtlicher Zitate widergegeben, sondern die Äußerungen Brünings und der Gesprächsverlauf werden paraphrasiert. Der Text erweckt den Eindruck, Brüning habe dem Chefredakteur im persönlichen Gespräch Positionen der Reichsregierung ausführlich erläutert. Die Vermutung wird hingegen partiell konterkariert, wenn man Interviews heranzieht, die Adolf Hitler (vor 1933) gegeben hat. Diese konnten sowohl die Form eines Berichts über den Gesprächsverlauf, in den zahlreiche wörtliche Zitate eingeflochten waren (z. B.: [o. N.], 11. April 1932, Interview mit der Times, S. 52 f.), als auch die heute bekannte Gestalt direkt wiedergegebener Fragen und Antworten aufweisen (z. B.: [o. N.], 16. August 1932, Interview mit der Rheinisch-Westfälischen Zeitung). Zu eruieren wäre unter anderem, inwieweit diese Beobachtung auf prinzipielle Unterschiede in der Bereitschaft von Regierungs- und Oppositionspolitikern verweist, sich auf verschiedene Interviewvarianten einzulassen. 7 Vgl. (die sehr anschaulichen Schilderungen bei) Geppert, Pressekriege, S. 256–268. 8 Vgl. Münkel, Medienpolitik von Konrad Adenauer, S. 300 f.
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vor allem die Boulevardpresse räumte der wirtschaftlichen Entwicklung nicht den Stellenwert ein, der für Wirtschaftsmeldungen in den 1960er und 1970er Jahren zu beobachten war. Wenn Wirtschaftsberichte in die B. Z. am Mittag oder auf die ersten Seiten der Vossischen Zeitung gelangten, zeugte dies oftmals von Zuspitzungen im Krisendiskurs. Für gewöhnlich fand sich Wirtschaftsberichterstattung in der Vossischen Zeitung hingegen auf hinteren Seiten, in der Beilage »Finanz- und Handelsblatt der Vossischen Zeitung«. Anders als in der Bundesrepublik war die Wirtschaft in den hier betrachteten Printmedien auch kein Thema, das in Karikaturen behandelt wurde. Prinzipiell ist es denkbar und möglich, dass diese Beobachtungen lediglich auf ein Spezifikum der analysierten Zeitungen oder – weiter gefasst – der Ullstein-Presse verweisen und sich bei der Analyse von Zeitungen anderer Verlagshäuser ein abweichender Befund ergäbe. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass der Grund an anderer Stelle zu suchen ist. Denn seit sich eine wirtschaftsbezogene Berichterstattung ab Mitte des 19. Jahrhunderts zum Gegenstand der deutschen Tagespresse entwickelte, lag der Schwerpunkt zunächst auf dem Börsenwesen.9 Gerade in der überregionalen Qualitätspresse der Bundesrepublik, also genau den für die folgenden Fallstudien herangezogenen Presseorganen, wurden Wirtschaftsthemen in einem weiter gefassten Verständnis dagegen neben der Politik zum dominierenden Zeitungsinhalt.10 Dies kann den in dieser Arbeit ausgemachten Kontrast zum einen erklären, zum anderen noch verstärken. Zentrales Thema war die ökonomische Entwicklung nur in der dezidierten Wirtschaftspresse. Diese Interessenzumessung und der Fakt, dass mediale Beschleuniger wie Radio und Fernsehen in den Kinderschuhen steckten beziehungsweise noch nicht existierten, liefern Hypothesen für die geringe Trennschärfe bei der Abgrenzung der Krisenphasen. Deutungsdynamiken – sich in sehr kurzer Zeit vollziehende Veränderungen oder Erweiterungen von Deutungen in einem Presseorgan oder in den Redeweisen von Politikern durch Aufgreifen gerade aufgekommener Deutungen anderer (Medien oder Politiker) – waren kaum zu beobachten. Dagegen sollten derartige Dynamiken die Krisendiskurse in den 1960er und 1970er Jahren maßgeblich kennzeichnen und prägen. Sie erzeugten oder verstetigten politischen Handlungsdruck und beeinflussten mit, angesichts welcher Problemdeutungen Politiker handelten, indem sie sich Interpretationen aneigneten oder sie zusätzlich befeuerten und als Argumente für oder gegen politische Entscheidungen einsetzten.
9 Vgl. Wilke, Inhalt und Form, S. 361–364. 10 Vgl. ebd., S. 365 f.
Teil 2 1966/67 – Die reduzierte Krise
VII. Forschungsperspektiven und Narrative: drei Geschichten und eine Leerstelle
Der historiografische Niederschlag, den die Krise 1966/67 hinterlassen hat, ist von eigenartiger Gestalt. Eigenartig, weil die Krise für drei Narrativ-Stränge von großer Relevanz ist, sie aber als eigenständiger Ereigniskomplex dennoch nicht untersucht wurde. Eine Studie, die sich der Krise als Ganzes widmet, existiert schlicht nicht.1 Vielmehr erscheint die Krise zumeist als ›black box‹ – als ein weniger in seiner Ereignisdynamik, sondern primär in seinen Effekten behandeltes Phänomen. Mit Blick auf ebendiese Effekte wird ihr in drei Forschungs zusammenhängen Wirkmächtigkeit attestiert: Erstens hat die Krise einen kurzen Auftritt in längerfristig angelegten Darstellungen zur Konjunkturentwicklung. Hierin erscheint sie als eine Nebendarstellerin, der nur kurzzeitig Bedeutung zukam. Sie unterbrach die von Anfang der 1950er Jahre bis 1973/74 andauernde Sonderkonjunkturphase des ›großen Booms‹, den sie indes grundsätzlich nicht beeinträchtigte. Dennoch barg sie Irritationspotenzial, indem sie – so die verbreitete Annahme – die Zeitgenossen verunsicherte und ihnen vor Augen führte, wie schnell die Wohlstand generierende Wachstumsentwicklung der jüngsten Vergangenheit ein Ende finden könnte. Die ›Wachstumsdelle‹ hatte mithin vor allem psychologische Wirkungen. Zweitens findet sich die Krise in ›klassisch‹ politikgeschichtlichen Perspektivierungen der bundesrepublikanischen Geschichte. Darin markiert sie das Scheitern der Kanzlerschaft Ludwig Erhards und den Ausgangspunkt der Bildung der Großen Koalition unter Kurt Georg Kiesinger. Drittens wird der Krise hinsichtlich der Dominanz spezifischer wirtschaftstheoretischer Semantiken und Konzepte in der Wirtschaftspolitik Bedeutung zuge1 Der Aufsatz von Plumpe, Die Wirtschaftskrise von 1966/67, macht die Krise 1966/67 zwar zum zentralen Gegenstand, bleibt aufgrund seines geringen Umfangs von zehn Seiten aber notgedrungen überblicksartig.
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Forschungsperspektiven und Narrative
schrieben. Konkret: Die Kurzzeit-Rezession erscheint als take-off-Phase der politisch-praktischen Umsetzung einer keynesianisch-basierten Globalsteuerung. Nachfolgend (VII.1–VII.3) werden die drei unterschiedlichen Krisengeschichten skizziert, um so die Ergebnisse der Forschungsstränge zusammenzufassen und -zuführen. Auf diese Weise wird deutlich, in welchen Kontexten die Krisen semantiken zum Durchbruch kamen.
1. Die fast vergessene ›Wachstumsdelle‹ Wer nach der kompaktesten Abhandlung der Krise von 1966/67 sucht, wird in langfristig angelegten Darstellungen zur Wirtschafts-, insbesondere Konjunkturentwicklung fündig. Wissend, wie marginal die konjunkturelle Eintrübung und die Folgen, speziell für den bundesdeutschen Arbeitsmarkt, in zeitlich übergreifender Perspektive waren, widmen sie der Krise kaum Aufmerksamkeit. Mitunter schafft diese es nicht einmal, zumindest kurz abgehandelt zu werden, sondern findet lediglich Erwähnung.2 Verglichen mit der Weltwirtschaftskrise ab 1929 und der Krise der 1970er Jahre, handelte es sich in der Tat um nicht mehr als eine minimale Unterbrechung der nach oben gerichteten Wachstumsund Wohlstandsentwicklung. Dies lag auch daran, dass die Krise hausgemacht und klar auf die Bundesrepublik begrenzt war. Im Unterschied zu den beiden anderen Krisen vollzog sie sich in einem »funktionierenden europäischen und weltwirtschaftlichen Umfeld«.3 Eine Ausnahme beim Bemessen des Stellenwerts der Krise bilden einzig Periodisierungsvorschläge, die Werner Abelshauser und Knut Borchardt vorgebracht haben. Sie weisen darauf hin, dass mit der Krise 1966/67 erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik die Industrieproduktion in einer Abschwungphase zurückging – ein Phänomen, das in den 17 Jahren zuvor nicht auftrat, seither jedoch mehrfach vorgekommen ist.4 Abelshauser sah darin das Ende der »Rekonstruktionsperiode«, der »besonderen Wachstumsbedingungen der westdeutschen Nachkriegszeit«, das unter anderem aus 2 So z. B. bei Metz, Expansion und Kontraktion, S. 70–89. Metz erläutert, dass zwischen 1950 und 2000 »die Pro-Kopf-Produktion lediglich 1967, 1975, 1982 und 1993« rückläufig gewesen sei (S. 73) und klassifiziert die ökonomische Entwicklung 1966/67 knapp als eine »erste[ ] Wachstumskrise« (S. 75). Andere Bezugnahmen auf diese Krise finden sich nicht. Ganz ähnlich verhält es sich bei Feldenkirchen, Die deutsche Wirtschaft im 20. Jahrhundert, S. 30, der in einem Überblick über die Konjunkturentwicklung nur am Rande die negative Wachstumsrate des Sozialprodukts als Folge der »ersten größeren Nachkriegsrezession 1967/68 (sic!)« erwähnt. 3 Plumpe, Wirtschaftskrisen, S. 95. 4 Vgl. Borchardt, Zäsuren in der wirtschaftlichen Entwicklung, S. 22 f. Borchardt unterstützt ausdrücklich die Periodisierung, die Abelshauser, Fünfziger Jahre, vorgeschlagen hat.
Die fast vergessene ›Wachstumsdelle‹
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abnehmender Kapitalproduktivität und einer nun langsameren Umsetzung technischer Fortschritte resultierte.5 Seit der zweiten Jahreshälfte 1965 zeichnete sich ein Konjunkturrückgang ab.6 Ein Wandel hin zu einer aktiv (entgegen-)steuernden Wirtschafts- und Finanzpolitik blieb aber aus. Bundeskanzler Ludwig Erhard versteifte sich darauf, an einer auf Geldwertstabilität ausgerichteten Wirtschaftspolitik festzuhalten. Zu verstehen ist dieses Verhalten allenfalls vor dem Hintergrund der Inflationsentwicklung in den vorangegangenen Jahren: Nach weitgehend vollzogenem Wiederaufbau normalisierte sich langsam die Konjunkturentwicklung. Ein Vergleich der drei Konjunkturzyklen zwischen Mitte der 1950er und Mitte der 1960er Jahre veranschaulicht dies: So lag das Wirtschaftswachstum im Boomjahr 1964 nur mehr bei 6,8 %, verglichen mit 9,0 % bzw. 12,1 % in den Boomjahren 1960 und 1955.7 Bedingt durch ein fortbestehendes Unterangebot an Arbeitskräften kam es zugleich zu deutlichen Lohnzuwächsen, die letztlich geldentwertend wirkten und zu einer Inflationsrate von circa 3 % führten.8 Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung forderte daher schon in seinem zweiten Jahresgutachten 1965/66 ein koordiniertes Vorgehen zur Senkung der Inflation. Empfohlen wurden eine Begrenzung der öffentlichen Ausgaben, eine Neujustierung des Kreditvolumenrahmes der Bundesbank und eine deutlichere Orientierung an der Produktivitätsentwicklung bei Abschlüssen der Tarifparteien.9 Mittelfristig sollte so die Inflation auf 1 % abgesenkt werden, ohne durch einseitiges und unkoordiniertes Sparen im Zuge der zurückgehenden Konjunktur eine Stagnation heraufzubeschwören.10 Bundeswirtschaftsminister Kurt Schmücker (CDU) zeigte sich gegenüber diesen Vorschlägen offen und holte im Rahmen eines sogenannten »Sozialen Dialog[s]« Arbeitgeber, Bundesbank und Gewerkschaften an einen Tisch – allerdings nur ein Mal, am 21. Januar 1966.11 Anschließend unterband Erhard diesen Dialog und geißelte das Vorgehen, weil er darin eine »unzulässige, institutionalisierte Einflussnahme von Interessengruppen auf die Regierungspolitik erblickte.«12 Tim Schanetzky schlussfolgert, angesichts des sturen Beharrens Erhards sei der Bundesbank keine andere Wahl geblieben, als der Inflation mit dem herkömmlichsten aller Instrumente entgegenzuwirken: einer signifikanten Erhö5 Abelshauser, Fünfziger Jahre, S. 71 f. 6 Vgl. Hardach, Krise und Reform, S. 212. 7 Vgl. Nützenadel, Stunde der Ökonomen, S. 295. 8 Vgl. Schanetzky, Sachverständiger Rat, S. 315. 9 Vgl. ebd. 10 Vgl. ebd. 11 Vgl. ebd., S. 315–317. 12 Ebd., S. 317.
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hung der Leitzinsen.13 Nachdem der Zentralbankrat den Diskontsatz im August 1965 bereits auf 4 % erhöht hatte, entschloss er sich am 27. Mai 1966 zu einer weiteren Erhöhung auf 5 %.14 Das so erzwungen hohe Zinsniveau verstärkte im Laufe des Jahres 1966 die rezessiven Tendenzen in der Konjunkturentwicklung. Die im Jahresmittel noch erreichte Steigerung des Bruttosozialprodukts um 2,8 % basierte allein auf einem Wirtschaftswachstum in der ersten Jahreshälfte.15 Im Jahr 1967 wies das Bruttosozialprodukt sogar eine negative Wachstumsrate auf, sank also, wenngleich nur leicht um 0,2 %.16 Zugleich stieg die Zahl der Arbeitslosen von 112.000 im Januar 1966 auf einen im Februar 1967 erreichten Höchststand von 673.600, was eine Zunahme der Arbeitslosenquote von 0,8 % auf 2,5 % bedeutete.17 Werner Plumpe urteilt, der Verzicht auf ein aktives Steuern in der Konjunkturpolitik und Erhards gleichzeitiges Appellieren, zu sparen und ›maßzuhalten‹, hätten die Krise maßgeblich verursacht.18 Hinzu kam, dass sich nicht nur konjunkturell bedingt die Haushaltslage verschlechterte, sondern der Bundeshaushalt auch durch ›Wahlgeschenke‹ aus dem Wahlkampf 1965 belastet wurde. So waren beispielsweise Pensionen und Renten genauso wie das Kindergeld und andere Sozialleistungen signifikant gestiegen; die Ausgaben für diese Leistungen nahmen zwischen 1964 und 1965 um 12 % zu, wohingegen sich das Bruttosozialprodukt lediglich um 9,4 % erhöhte.19 In der Summe ergab sich somit einerseits eine Rezession, andererseits ein sich verstärkt auftuendes, am Ende 7 Mrd. D-Mark großes Haushaltsloch. Von Dauer waren diese Probleme allerdings nicht. Die (am Ende dieses Teilkapitels erläuterten) Maßnahmen der im Dezember 1966 gebildeten Großen Koalition griffen scheinbar schnell. Im Verlauf des Jahres 1967 zog die Konjunktur wieder an. Bis 1973 ergaben sich erneut überwiegend kräftige Wachstumsraten, im Jahr 1969 gar eine Rate von 8,2 %.20 Die Arbeitslosenquote, die 1967 im Jah-
13 Vgl. ebd. 14 Vgl. Holtfrerich, Geldpolitik, S. 416 f. 15 Vgl. Nützenadel, Stunde der Ökonomen, S. 296. Weil die Literatur zu dieser Krise mit Angaben zum Bruttosozialprodukt arbeitet, werden hier diese und nicht (wie in der vorangegangenen und der folgenden Fallstudie) Angaben zum Bruttoinlandsprodukt referiert. Die Unterschiede sind aber nicht gravierend: Während das Bruttoinlandsprodukt den Wert der Waren und Dienstleistungen repräsentiert, die in den Grenzen einer Volkswirtschaft innerhalb eines Jahres produziert bzw. erbracht wurden, erfasst das Bruttosozialprodukt (heute oft: Bruttonationaleinkommen) die Gesamtsumme der Waren und Dienstleistungen, die von Inländern innerhalb eines Jahres produziert bzw. erbracht wurden. Anschaulich dazu: Lepenies, Macht der einen Zahl, S. 15–18. 16 Vgl. Walter, Merkantilismus, S. 240. 17 Vgl. Schmoeckel / Kaiser, Die vergessene Regierung, S. 292. 18 Vgl. Plumpe, Wirtschaftskrisen, S. 94. 19 Vgl. Schmoeckel / Kaiser, Die vergessene Regierung, S. 293. 20 Vgl. Walter, Merkantilismus, S. 241.
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resdurchschnitt auf 2,1 % gestiegen war, sank 1968 auf 1,5 % und ging bis 1970 auf 0,7 % zurück.21 Im Gesamturteil kommen die Darstellungen zu dem Schluss, dass die Krise gemessen an den in ökonomischen Indikatoren ablesbaren Symptomen nicht mehr als die vielzitierte ›Wachstumsdelle‹ – oder präziser: einen »vergleichsweise leichten Rückschlag im Wachstum der westdeutschen Wirtschaft«22 – darstellte. Psychologisch sei sie hingegen von einschneidender Wirkung gewesen. Denn sie habe vor Augen geführt, auf welch tönernen Füßen die »Selbstgewissheit des Glaubens an das ›Wirtschaftswunder‹« aufbaute.23 Der »psychologische Schock der Rezession« habe sich mithin als wesentlich »tiefer [erwiesen,] als es die reale konjunkturelle Situation rechtfertigte.«24 Mit Blick auf die Folgen der Krise betonen die Arbeiten zwei Effekte: die psychologischen und diejenigen, die nach Bildung der Großen Koalition zu einem Umschwung in den wirtschaftspolitischen Semantiken und Entscheidungen führten.25 So sehr diese Erklärungen und Gewichtungen der Wirtschaftshistoriker generell einleuchten, vermögen sie in einem Punkt doch zu überraschen. Denn für ein Fach, in dem üblicherweise strukturellen Gegebenheiten Dominanz zugesprochen wird, schreiben sie bei der Ursachenanalyse mit Ludwig Erhard einer einzelnen Person eine erstaunlich große Verantwortung zu. Damit kommen sie den verbreiteten politikgeschichtlichen Erzählungen überaus nahe.
2. Der glücklose Kanzler und die große Rochade in Bonn Heute finden ›klassisch‹ politikgeschichtliche Narrative ihren Platz vornehmlich in klassisch angelegten Werken: großen Erzählungen, Synthesen, Überblicksdarstellungen. Zieht man einschlägige Publikationen dieses Typs aus jüngerer Zeit heran – die prominentesten Werke stammen von Edgar Wolfrum26, Eckart Conze27 und Manfred Görtemaker28 –, ergibt sich bei aller Verschiedenheit in Details ein recht einhelliges Szenario. Alle drei entwerfen das Bild einer seit Mitte der 1960er Jahre politisch verunsicherten Gesellschaft in der Bundesrepublik. Und auch der Kanzler erschien zunehmend ratlos. Noch bei der Bundestagswahl im September 1965 hatte Ludwig Erhard CDU und CSU zu einem fulminanten 21 22 23 24 25 26 27 28
Zahlen entnommen aus Holtfrerich, Geldpolitik, S. 350, Tabelle I. Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 204. Bellers / Porsche-Ludwig, Außenwirtschaftspolitik der Bundesrepublik Deutschland, S. 437. Schanetzky, Sachverständiger Rat, S. 317. Siehe dazu kompakt Plumpe, Die Wirtschaftskrise von 1966/67, S. 25–28. Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Conze, Suche nach Sicherheit. Görtemaker, Gründung bis zur Gegenwart.
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Sieg geführt, bei dem die Schwesterparteien 47,6 % der Zweitstimmen errangen. Doch schon kurz darauf sah seine Koalition aus Union und FDP gegenüber einer Reihe von Herausforderungen glücklos und uneinig aus. Wollte man es auf einen kurzen Nenner bringen, läge es auf der Hand – wie der SPIEGEL Ende Oktober 1966 – von »Kanzlerdämmerung« zu sprechen.29 Sie sollte 14 Monate dauern und sich insbesondere auf finanz- und wirtschaftspolitischem Terrain abspielen. Obschon sie nicht die Ursache für die konjunkturelle Abkühlung waren,30 entwickelten sich die Strukturprobleme in der Montanindustrie des Ruhrgebiets – die sterbenden Zechen an Rhein und Ruhr – als ein Indikator für das Abebben des ›Wirtschaftswunders‹ zu einem vielschichtigen Problem. Dies galt für die ihrer beruflichen Perspektiven unsicherer werdenden Kumpel genauso wie für Erhard, dem wenig mehr einfiel, als seine bekannten Maßhalte-Appelle in immer kürzeren Abständen zu wiederholen. Ausgerechnet in seiner profiliertesten Domäne, der Wirtschaftspolitik, schien der Kanzler um Antworten verlegen.31 Für Erhard, für den zuvor »die wirtschaftliche Entwicklung die wesentliche Ursache […] seines Ansehens als Politiker« gewesen war, wurden die »wirtschaftliche[n] Probleme schließlich zum politischen Verhängnis«.32 Denn neben die ökonomischen Schwierigkeiten trat die Angst vor einer sich daraus ergebenden »politische[n] Radikalisierung« mit »Gefahren für die innere Stabilität der gesamten Bundesrepublik«.33 Oder, wie Wolfrum zuspitzt: »Schwarze Fahnen demonstrierender Bergbauarbeiter wurden zum Menetekel für den ›Vater des Wirtschaftswunders‹«.34 Im Juli 1966 erlitt die CDU bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen herbe Verluste, während die SPD mit 49,5 % der Stimmen die absolute Mehrheit nur äußerst knapp verfehlte. Zugleich mehrten sich im Sommer Anzeichen abnehmenden wirtschaftlichen Wachstums. Dennoch lehnte Erhard einen Kurswechsel hin zu einer aktiven Steuerung in der Wirtschafts- und Finanzpolitik ab und gab weiterhin dem Ziel der Geldwertstabilität den Vorrang.35 Zudem sah er sich mit einer Reihe weiterer Probleme konfrontiert – teils selbst verursachter, teils solcher, für die er nicht unmittelbar verantwortlich zeichnete. Unangenehm zu Buche schlugen nun Steuer-Wahlgeschenke aus dem Wahlkampf 1965, die zusätzlich negativ auf die sich ohnehin verschlechternde Haushaltslage wirkten. Hinzu kamen Belastungen durch das Offset-Abkommen, d. h. die Forderung 29 [Koalitions-Zerfall] Ende einer Dienstfahrt, in: DER SPIEGEL , Nr. 45, 31.10.1966, S. 29–39, hier S. 31. 30 Vgl. Nützenadel, Stunde der Ökonomen, S. 297 f. 31 Vgl. Wolfrum, Die geglückte Demokratie, S. 225 f. 32 Hentschel, Ein Politikerleben, S. 614. 33 Wolfrum, Die geglückte Demokratie, S. 225. 34 Ebd., S. 226. 35 Vgl. ebd.
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der US -amerikanischen Regierung, die Bundesrepublik möge höhere bzw. vorzuziehende Devisenausgleichszahlungen leisten. Mit diesen wollte Präsident Johnson Ausgaben für die Truppenstationierung in der Bundesrepublik sowie den Vietnamkrieg finanzieren. Des Weiteren waren es Einzelprobleme, die in der Summe den Eindruck eines überforderten Regierungschefs hervorriefen: beispielsweise die Absturzserie des Kampfflugzeugs Starfighter oder die Posse um den Posten des Kanzleramtschefs, für den sich kein Kandidat fand, weshalb der eigentlich zurückgetretene, bisherige Leiter Ludger Westrick im Amt bleiben musste.36 Kurzum, die Regierung und im Speziellen der Kanzler schienen aus dem Tritt geraten. »All dies«, resümiert Manfred Görtemaker, »verdichtete sich im Sommer und Herbst 1966 zum Bewußtsein einer ›Krise‹«.37 Das zurückgehende Wirtschaftswachstum ließ zugleich die Deckungslücke im Bundeshaushalt für das Jahr 1967 schärfer zutage treten. Im September 1966 wurde diese im Haushaltsentwurf zunächst mit vier Milliarden D-Mark taxiert.38 Die Frage, wie die Lücke zu stopfen sei, entwickelte sich zum Scheidungsgrund für die regierende Koalition. In langwierigen Verhandlungen konnten sich Union und FDP nicht auf eine gemeinsame Strategie verständigen. Letztlich verweigerten sich die Liberalen geplanter Steuererhöhungen, die helfen sollten, das Haushaltsloch zu verringern. Am 28. Oktober 1966 verließen die FDP-Minister das Kabinett, die Koalition war zerbrochen.39 Nicht in genau der gleichen, prinzipiell aber in ähnlich geraffter Form wie hier handeln die angeführten Darstellungen den Zeitraum bis Oktober 1966 ab. Auf welche Weise, ab wann und von wem die mögliche Rezession und das Haushaltsloch – womöglich eine drohende Krise – öffentlich diskutiert oder als politisches Argument instrumentalisiert wurden, bleibt weitgehend offen. Die »Krisenstimmung«40 fungiert als diffuse Folie dessen, was anschließend in größerer Breite erörtert wird: das zähe Ringen um eine neue Mehrheit, schließlich die Bildung der Großen Koalition. Teils geradezu minutiös zeichnen sie den Prozess der Koalitionsfindung und Regierungsbildung nach. Wie die Union Erhard schließlich zum Rücktritt, der am 30. November 1966 erfolgte, überredete, wird ebenso erörtert wie das Duell zwischen den drei – anfangs vier41 – konkurrierenden Unionspolitikern Kurt Georg Kiesinger, Gerhard Schröder und Rainer Barzel um den Status des Kanzlerkandidaten. Als der baden-württembergische Ministerpräsident Kiesinger aus diesem schließlich als Sieger hervorging, konnte 36 Vgl. hierzu insgesamt: Ebd.; Görtemaker, Gründung bis zur Gegenwart, S. 427–431. 37 Görtemaker, Gründung bis zur Gegenwart, S. 431. 38 Vgl. Morsey, Bundesrepublik, S. 96. 39 Vgl. Wolfrum, Die geglückte Demokratie, S. 226. 40 Z. B. Görtemaker, Gründung bis zur Gegenwart, S. 431. 41 Eugen Gerstenmaier verzichtete im Laufe des Prozesses der Kandidatenfindung zugunsten Kiesingers.
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er sich der Kanzlerschaft noch nicht sicher sein.42 Zwar erschien die Bildung einer Großen Koalition von vornherein als mögliche Option, gerade auch, weil sich auf Seiten der SPD besonders Herbert Wehner und Helmut Schmidt dafür erwärmten. Doch standen ebenso ein sozialliberales Bündnis, eine Neuauflage der christlich-liberalen Koalition und eine Allparteienregierung zur Debatte.43 Die Einzelheiten der Regierungsbildung interessieren an dieser Stelle nicht;44 inwieweit ›Krise‹ als Deutung in der medialen Kommentierung dieses Prozesses und in den Argumentationen der Politiker eine Rolle spielte, werden wir später sehen. Wie eingangs des Kapitels betont, steht in den Arbeiten kaum die Krise selbst, sondern der von ihr ausgehende Effekt im Fokus: Koalitionsbruch, Kanzlersturz, Kiesingers Regierung. Nichtsdestotrotz legen sie sich auf zwei Thesen fest. Zum einen: Ökonomisch betrachtet, bedeutete die Krise keine allzu große Herausforderung. Zum anderen: Dennoch gerieten die Zeitgenossen in tiefe Sorge, mitunter eine prä-panische Stimmung, die sich am drastischsten in Analogieschlüssen zur Schlussphase der Weimarer Republik spiegelte. Diese politische Verunsicherung resultierte nicht zuletzt aus Wahlerfolgen der NPD, der im November 1966 bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern der Sprung in die Parlamente gelungen war. Die unheilvolle Kombination aus Rezession und Rechtsradikalismus führte demnach zu einem Erwachen von »Erinnerungen an Weimar«.45 Insgesamt, so urteilt etwa Eckart Conze, habe es zwar gleichermaßen eine »politische Krise« wie eine »Wirtschaftskrise« gegeben, mithin dürfe die »Krisenwahrnehmung nicht heruntergespielt« werden.46 »Eine Notsituation freilich, welche die Bildung einer Großen Koalition oder gar einer Allparteienregierung erforderlich gemacht hätte«, habe zu keinem Zeitpunkt bestanden.47 Ganz ähnlich kommt Edgar Wolfrum zu dem Schluss, das Land sei »von einem wirklichen Notstand […] weit entfernt« gewesen.48 Doch obgleich sich die »Rezession […] im nachhinein nur als Wachstumsdelle entpuppte«, sei sie zeitgenössisch als sehr viel dramatischer wahrgenommen worden – inklusive des Ziehens von »Parallelen zur ersten Weltwirtschaftskrise 1929/30«.49 Zusammen mit der Befürchtung, 42 Vgl. Morsey, Bundesrepublik, S. 96 f. 43 Vgl.: Wolfrum, Die geglückte Demokratie, S. 227–229; Görtemaker, Gründung bis zur Gegenwart, S. 437–440. 44 Zum Prozess der Regierungsbildung detailliert: Gassert, Kanzler zwischen den Zeiten, S. 498–527; Schönhoven, Wendejahre, S. 51–78; Schmoeckel / Kaiser, Die vergessene Regierung, S. 41–59. 45 Conze, Suche nach Sicherheit, S. 363. 46 Ebd., S. 362. 47 Ebd. 48 Wolfrum, Die geglückte Demokratie, S. 228. 49 Ebd., S. 226.
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angesichts der NPD -Erfolge könnte erneut der »Neonazismus sein Haupt« erheben, sei die ökonomische Problemlage – neben parteitaktischen Überlegungen – entscheidend für die Bildung der Großen Koalition gewesen.50 Erneut tritt hier deutlich die Perspektivierung auf die Effekte der Krise zutage. Gleichwohl bleibt die Frage, wie sie als breitenwirksame Deutung genau zustande kam und mittels welcher Semantiken sie hervorgerufen und transportiert wurde, weitgehend unbeantwortet. Da Überblickswerke solchen Fragen selten nachgehen können, erstaunt dies kaum. Eine positive Überraschung ist daher, wie lohnenswert der Blick in eine nicht mehr ganz taufrische Darstellung sein kann. In »Von Erhard zur Großen Koalition«, einem Werk aus der Feder Klaus Hildebrands, das in seinen politischen Wertungen durchaus Fragen aufwirft, verfährt der Bonner Historiker zwar keineswegs explizit begriffsgeschichtlich.51 Genauer, als es die anderen Darstellungen vermögen, zeichnet er aber nach, woraus sich die »Krisenstimmung«52 ergab, die sich etablierte, obgleich die wirtschaftliche Situation tatsächlich ein »alles in allem nicht beunruhigendes Bild« abgab.53 Verantwortlich macht Hildebrand dafür nicht nur die von den Zeitgenossen angeführten Vergleichsreferenzen, die er für schief hält, weil ihnen die Erfahrung der unmittelbaren Vergangenheit des ›Wirtschaftswunders‹ als Maßstab zugrunde lag. Sondern er attestiert ebenso dem »laut durch das Land tönenden Krisengerede« eine performative Wirkmächtigkeit.54 Dieses habe sich unter anderem aus der medialen Kommentierung gespeist, deren »›tägliche[ ] Wirtschaftsmeldungen [sich lasen] wie die letzten Wehrmachtsberichte‹«.55 Sie habe dazu beigetragen, dass zwischen Ende 1965 und Ende 1966 ein Begriffsquintett aus ›wirtschaftlicher Rezession‹, ›Wirtschaftskrise‹, ›Parteikrise‹, Regierungskrise‹ bis hin zur ›Staatskrise‹ politische Äußerungen zunehmend prägte und das »Gefühl einer allgemeinen ›Krise‹« auslöste.56 Was sich in allen Darstellungen anschließt, ist eine Erläuterung der Maßnahmen der Großen Koalition, speziell auf wirtschaftspolitischem Gebiet. Hier treffen sich die politikgeschichtlichen Narrative sowohl mit den skizzierten wirtschaftsgeschichtlichen als auch mit jenen, die Verwissenschaftlichung, politische Planungskonzeptionen und das konkrete wirtschafts- und finanzpolitische Handeln der Regierung aus Union und SPD in den Mittelpunkt stellen.
50 Ebd., S. 228. Vgl. zudem Morsey, Bundesrepublik, S. 96. 51 Hildebrand, Von Erhard zur Großen Koalition. 52 Ebd., S. 207. 53 Ebd., S. 204. 54 Ebd., S. 207. 55 Ebd. 56 Ebd., S. 203 f.
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3. Die (nicht ganz so) rasante Wende Studien, die Wirtschaftspolitik besonders unter dem Blickwinkel der ihr zugrundeliegenden Konzepte betrachten, sehen es als Effekt der Krise an, der entscheidende Ausgangspunkt für eine radikale wirtschaftspolitische Neuorientierung gewesen zu sein.57 Dabei lässt sich das Reformpaket, das die Regierung Kiesinger direkt nach Amtsantritt im Dezember 1966 anging, in wirtschaftspolitischer Hinsicht auf eine überschaubare Zahl tragender Nenner bringen. Gleichwohl markierten die politischen Entscheidungen, mit denen kein Name enger verbunden ist als der von Karl Schiller, ein weitreichendes Umsteuern. Auf der politisch-praktischen Ebene vollzog sich – mit beinahe zwanzig Jahren Verspätung gegenüber Staaten wie den USA58 – nun in kürzester Zeit die Wende zu einer bewusst keynesianisch ausgerichteten Politik. In ihrem Ausmaß und der Konsequenz, mit der sie verfolgt wurde, galt sie bereits in der zeitgenössischen Kommentierung und im europäischen Vergleich als beispiellos.59 Die wirtschaftspolitischen Impulse, die ihr zugrunde lagen, und erst recht die wirtschafstheoretische Keynesianismus-Rezeption in der Bundesrepublik reichten freilich mindestens bis in die 1950er Jahre zurück.60 Die meisten Arbeiten, die ihre politisch-praktische Umsetzung behandeln, kreisen um die zeitgenössisch geprägten begrifflichen Fixpunkte: ›Globalsteuerung‹, ›volkswirtschaftliche Gesamtrechnung‹, ›mittelfristige Finanzplanung‹, ›Konzertierte Aktion‹ sowie ›kontrollierte Expansion‹.61 Die Problemlage, die es zu bewältigen galt, stellte grundsätzlich ein Dilemma dar: Zum einen musste die rezessive Konjunkturentwicklung bekämpft, zum anderen das Haushaltloch gestopft und gleichzeitig ein Aufleben inflatorischer Tendenzen verhindert werden. Anders formuliert: Die Notwendigkeit, für konjunkturstabilisierende Investitionen mehr Geld in den Wirtschaftskreislauf fließen zu lassen, stand den Notwendigkeiten gegenüber, staatlicherseits weniger Geld auszugeben und das Zinsniveau nicht so stark abzusenken, dass die Inflation angeheizt würde. Auf den ersten Blick handelte es sich um Ziele, die kaum gleichzeitig zu erreichen waren. Dennoch richtete die Regierung ihr Vorgehen genau auf ein solches paralleles Erreichen der Ziele aus. 57 Vgl. exemplarisch: Metzler, Konzeptionen, S. 315 f. 58 Vgl. Hagemann, Der amerikanische Einfluß, S. 561 f. 59 Vgl. Nützenadel, Stunde der Ökonomen, S. 310. 60 Zur frühen, wenngleich teils »eigentümliche[n]« Rezeption des Keynesianismus in der bundesdeutschen Volkswirtschaftslehre siehe Hesse, Wirtschaft als Wissenschaft, S. 288– 303, Zitat S. 289. 61 Vgl. exemplarisch: Lütjen, »Superminister«, S. 225; Schanetzky, Sachverständiger Rat, S. 310.
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Hierzu nahm sie im allgemeinen Bundeshaushalt für das Jahr 1967 Kürzungen vor. Zugleich aber verabschiedete sie zwei sogenannte Eventualhaushalte, von denen sie sich nachfragestimulierende Wirkungen versprach. Der erste, im Februar 1967 auf den Weg gebrachte Eventualhaushalt ermöglichte ein Konjunkturprogramm in Höhe von 2,5 Milliarden D-Mark, aus dem Investitionen in den Bereichen Bahn und Straßenbau sowie bei der Bundespost finanziert werden sollten.62 Flankiert und unterstützt wurden diese Ausgaben durch ein auf vier Jahre angelegtes Straßenbau-Programm in Höhe von 18 Milliarden D-Mark sowie durch eine steuerliche Maßnahme: das Einführen von Sonderabschreibungs möglichkeiten für alle bis Oktober 1967 vorgenommenen Investitionen.63 Im August 1967 billigte das Kabinett einen zweiten Eventualhaushalt, diesmal in Höhe von 2,8 Milliarden D-Mark und zum Zweck, unter anderem Ausgaben für Wissenschaft, Wohnungsbau und Landesverteidigung zu finanzieren.64 Begünstigt durch einen kräftigen Anstieg der Auslandsnachfrage gelang es mit den beiden Konjunkturprogrammen, die Rezession schnell zu überwinden und in den Folgejahren zu hohen Wachstumsraten zurückzukehren.65 Die Herausforderung, auch ohne ein dauerhaft hohes Zinsniveau die Preissteigerungsrate zu senken, bedurfte eines anderes Lösungsweges. Am 14. Februar 1967 tagte erstmals die ›Konzertierte Aktion‹, jenes Gremium, in dem sich Arbeitgeber und Gewerkschaften unter Berücksichtigung sogenannter Orientierungsdaten, die das Bundeswirtschaftsministerium und der 1963 gegründete Sachverständigenrat einbrachten, annähern und auf eine gemeinsame Linie verständigen sollten. Grundsätzlich ging die Idee zu einer ›Konzertierten Aktion‹ auf einen Vorschlag des Sachverständigenrates zurück,66 letztlich griff sie »korporatistische Traditionen« auf, deren Wurzeln »bis in die Weimarer Republik reichten.«67 Das konkrete Ziel im Winter 1967 bestand darin, die Produktivitätsentwicklung bei Tarifabschlüssen stärker zu berücksichtigen respektive – grundsätzlicher formuliert – die »Einkommensentwicklung an die wachstums- und konjunkturpolitischen Ziele anzupassen«.68 De facto ging es um eine merkliche Zurückhaltung bei Lohnsteigerungen, die auch erreicht 62 Vgl. Lütjen, »Superminister«, S. 233 f. 63 Vgl. ebd., S. 234. 64 Vgl. ebd., S. 235. 65 Lütjen weist (ebd.) darauf hin, dass die Frage, welcher Anteil beim Überwinden der konjunkturellen Eintrübung den Konjunkturprogrammen in Relation zu den außenwirtschaftlichen Impulsen zukam, schwer zu bemessen und in der Forschung kaum diskutiert worden ist. Ullmann, Staat und Schulden, S. 151, urteilt hingegen, die Konjunkturprogramme hätten »ökonomisch wenig [bewirkt]«. Damit trifft er sich in der Beurteilung mit Nützenadel, Stunde der Ökonomen, S. 327. 66 Zu dessen Gründungsgeschichte siehe Nützenadel, Wissenschaftliche Politikberatung. 67 Schanetzky, Ernüchterung, S. 91. 68 Nützenadel, Wachstum und kein Ende, S. 134.
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wurde.69 Aus konzeptioneller Sicht betrachtet, reüssierte die Konzertierte Aktion mithin zunächst als »Instrument zur einkommenspolitischen Absicherung der Expansionsstrategie«.70 Vor diesem Hintergrund erklärte sich die Bundesbank bereit, den Diskontsatz abzusenken – vor Beginn der Aktion, am 5. Januar 1967, von 5 auf 4,5 %, bis Mai 1967 schließlich auf 3 %.71 Einfach war die Durchsetzung dieser Schritte nur bedingt, erschien es doch intuitiv wenig schlüssig, vor dem Hintergrund leerer Staatskassen massiv kreditfinanzierte Ausgaben zu tätigen und dies – im Falle des zweiten Eventualhaushaltes – sogar, ohne sofort spürbar positive Effekte vorweisen zu können.72 Genauso musste Wirtschaftsminister Schiller bei der Bundesbank und ihrem Präsidenten Karl-Heinz Blessing Überzeugungsarbeit leisten, da die Bank, sich zuvorderst dem Ziel der Geldwertstabilität verpflichtet fühlend, angesichts der geldmarktfinanzierten Eventualhaushalte ›naturgemäß‹ skeptisch sein musste.73 Psychologisch schwierig zu vermitteln waren die Maßnahmen überdies deshalb, weil sie unter den mittleren und älteren Bevölkerungsgruppen Ängste schüren konnten – Ängste in Form von Erinnerungen an die Folgen der Inflation in den 1920er Jahren.74 So war allein die Durchsetzung der genannten Vorhaben bereits ein politischer Erfolg. Als größte Erfolge der Regierung erscheinen in der Literatur oftmals jedoch zwei andere Maßnahmen: die grundsätzliche Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern sowie – insbesondere – die im Mai 1967 erreichte Verabschiedung des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes. Kein Gesetz symbolisierte deutlicher die Abkehr von ordoliberalen und die Hinwendung zu keynesianischen Konzepten als diese gesetzliche Selbstverpflichtung des Staates, für ein gleichzeitiges Erreichen der vier ›magischen‹, weil nur bedingt miteinander vereinbaren Ziele einzutreten: Geldwertstabilität, stetiges Wachstum, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und Vollbeschäftigung.75 Erstmals legte es Bund und Länder mit der Vorgabe der »Bewahrung des ›gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtes‹« auf ein festes, gemeinsames wirtschaftspolitisches Ziel fest.76 Es schrieb dem Bund gleichermaßen wie Ländern und Gemeinden eine antizyklisch ausgerichtete Politik vor, gab ihnen dafür fiskalpolitische Instrumente und der Bundesbank erweiterte geldpolitische Wirkungsmöglichkeiten an die Hand. Die Maßnahmen zielten, ganz und gar keynesianisch, auf eine effektive 69 Vgl. Schanetzky, Sachverständiger Rat, S. 319–321. 70 Ebd., S. 319. 71 Vgl.: Lütjen, »Superminister«, S. 228, 233; Schanetzky, Sachverständiger Rat, S. 319. 72 Vgl. Lütjen, »Superminister«, 225, 234. 73 Vgl. ebd., S. 225. 74 Vgl. ebd. 75 Vgl. Schanetzky, Sachverständiger Rat, S. 318. 76 Nützenadel, Stunde der Ökonomen, S. 311.
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Steuerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage.77 Damit ging eine auf längerfristige Planung fußende Ausrichtung politischer Entscheidungen einher, die sich besonders augenfällig anhand der jeweils fünf Jahre umfassenden ›Mittelfristigen Finanzplanung‹ zeigte.78 Der neu eingeschlagene Weg sollte zu weit mehr dienen als lediglich zur Überwindung der aktuellen Krise. Vielmehr zielte das antizyklische Agieren in der Wirtschaftspolitik darauf, die Wirtschaft zu einer politisch steuerbaren Größe zu machen und die Gefahr künftiger Krisen von vornherein zu bändigen.79 Die Neukonzeptualisierung des wirtschaftspolitischen Handelns schrieb sich ein in die weiter gefassten und vielschichtigen Diskurse über politische Planung und Steuerung, in jene Diskursstränge also, die Wissen und Wissenschaft als »Ressource für Politik« sowie »›Rationalität‹« und »›Sachlichkeit‹« als politische Leitvokabeln hervorbrachten,80 letztlich »Planung [zum] Kernelement modernen Politikmanagements« erhoben.81 Sowohl die Studien, die sich konkret diesen Planungs- und Verwissenschaftlichungsprozessen widmen, als auch jene, die eher anhand der Person Schillers und seines »Ziel[s] einer entideologisierten, wissenschaftlich angeleiteten Wirtschaftspolitik« argumentieren,82 betonen die schon in den Jahren zuvor vorgenommenen, die Wende vorbereitenden Schritte.83 Ein bedeutendes Hemmnis auf dem Weg zu einer umfassend gesteuerten, wissenschaftlich und perspektivisch betriebenen Finanz- und Wirtschaftspolitik stellte die nach wie vor gültige Reichshaushaltsordnung (RHO) dar, die aus den Jahren 1922 und 1930 stammte.84 Sie schrieb einjährige Haushaltspläne vor und enthielt die Pflicht, stets ein ausgeglichenes Budget anzustreben. So evozierte sie nahezu zwangsläufig ein prozyklisches finanzpolitisches Handeln.85 Seit Anfang der 1960er Jahre geriet das Problem mehr und mehr ins Bewusstsein; Überlegungen, es zu überwinden, und daraus resultierende Publikationen erlangten eine neue und zunehmende Dynamik. Insbesondere der Frankfurter Finanzwissenschaftler Fritz Neumark erarbeitete weitreichende Vorschläge.86 Er orientierte sich an den Zielen des ›magischen Vierecks‹, die bereits 1955 erstmals vom Wissenschaftlichen Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium formuliert 77 Vgl. ebd., S. 310. 78 Vgl. ebd., S. 312. 79 Vgl. Metzler, Konzeptionen, S. 324. 80 Ebd., S. 151. 81 Nützenadel, Stunde der Ökonomen, S. 302. 82 Lütjen, »Superminister«, S. 231. 83 Zur Verwissenschaftlichung in weiter gefasster Perspektive grundlegend: Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen. 84 Vgl. Metzler, Konzeptionen, S. 317. 85 Vgl. ebd. 86 Vgl. ebd., S. 318 f.
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worden waren. Indes ergänzte Neumark sie um die Vorgabe, eine staatliche Umverteilungspolitik zum Nutzen ökonomisch schwächer gestellter Bevölkerungsgruppen vorzunehmen. Und er stellte heraus, dass ein solch komplexes System an Zielkoordinaten nur dann erfolgreich zu steuern sei, wenn treffsichere Prognosen zum Konjunkturverlauf vorlägen.87 Zugleich erschien es notwendig, mehrjährige Finanzplanungen vorzunehmen; eine Überlegung und Forderung, die weithin geteilt wurde. Eine Expertenkommission unter dem Vorsitz des Bundesbankvizepräsidenten Heinrich Troeger diskutierte entsprechende Pläne zu einer umfassenden Finanzplanungsreform zwischen 1964 und 1966 intensiv. Sie plädierte nicht nur für mittelfristige, mehrere Jahre umfassende Haushaltsperioden, sondern ebenso für eine grundsätzliche Neuregelung der Finanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden.88 In der Summe führten die Empfehlungen zur Forderung nach einem finanz- und wirtschaftspolitischen Gesamtplan, der über eine entsprechende, mittelfristig angelegte Haushaltsführung erreicht werden sollte. Damit schrieben sie sich nicht nur ein in das veränderte Verständnis von Zukunft, die in den 1960er Jahren als eine längerfristig überschau- und planbare Größe konzeptualisiert wurde.89 Zugleich erscheinen die Vorschläge als eindrückliches Indiz für den Mitte der 1960er Jahre unverkrampft gewordenen Umgang mit dem Begriff und Konzept von ›Planung‹. Im Unterschied etwa zu Frankreich, wo der semantisch ähnliche, aber nicht gänzlich deckungsgleiche Begriff der ›planification‹ seit den 1940er Jahren die politische Sprache prägte, war er in der Bundesrepublik tabuisiert gewesen, speziell bei Vertretern der ›Sozialen Marktwirtschaft‹ und aus Gründen der Abgrenzung zur Planungspolitik im Nationalsozialismus sowie gegenüber der DDR respektive der »ökonomischen Universalplanung sowjetischer Provenienz«.90 Bevor 1967 die Verabschiedung des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes Realität wurde, waren zwei vorangegangene Ansätze gescheitert. Ein erster Entwurf hatte es 1964 bis zum Status einer Kabinettsvorlage gebracht. Basiert hatte der Entwurf maßgeblich auf der Arbeit mehrerer vom Bundesfinanz- und Bundeswirtschaftsministerium eingesetzter Arbeitsgruppen, die ab 1961 getagt und Vorschläge für einen konjunkturpolitischen ›Werkzeugkasten‹ erarbeitet hatten. Diese betrafen unter anderem das Einrichten auf mehrere Jahre angelegter Investitionshaushalte, Sonderabschreibungsmöglichkeiten als Anreize für private Investitionen sowie die Vorgabe, in Boomphasen Rücklagen zu bilden und dafür bei sich abzeichnender konjunktureller Abkühlung das Instrument des deficit 87 Vgl. ebd., S. 319. 88 Vgl. ebd., S. 321 f. 89 Vgl. Seefried, Prognostik zwischen Boom und Krise, S. 76 f. 90 Vgl.: Altmann, Planung in der Marktwirtschaft?, bes. S. 31–35, Zitat S. 32; Raithel, Der Glaube an die Planbarkeit, S. 142–144.
Die (nicht ganz so) rasante Wende
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spending zu gebrauchen.91 Das Gesetz fiel dem Widerstand des FDP-geführten Bundesfinanzministeriums zum Opfer, das befürchtete, das Bundeswirtschaftsministerium könne aus der ihm zu übertragenden Koordinationsfunktion heraus versuchen, die gesamte Haushalts- und Steuerpolitik zu lenken.92 Zwei Jahre später, im Sommer 1966, legte die Regierung Erhard einen weiteren Entwurf für ein Stabilitätsgesetz vor. Dieses war primär auf das Ziel der Geldwertstabilität ausgerichtet, eine weitreichende, über den Haushalt vorzunehmende Steuerung der Konjunktur hingegen nicht vorgesehen. Es ignorierte einen Großteil der skizzierten Forderungen und Expertenvorschläge. Da die vorgesehenen Neuregelungen auch die Finanzen der Länder und Gemeinden betrafen, denen gemäß Artikel 109 des Grundgesetzes Autonomie zukam, bedurfte es zur Verabschiedung verfassungsändernder Mehrheiten. Ohne Zustimmung der SPD konnte es nicht umgesetzt werden.93 Die Sozialdemokraten lehnten das Gesetz jedoch ab, insbesondere wegen des Mangels an Instrumenten zur Steuerung der Einkommens- und Außenwirtschaftspolitik und weil aus ihrer Sicht das Stabilitätsziel dem Ziel einer verstetigten Wachstumsentwicklung eklatant übergeordnet war.94 Hinzu kam Kritik an der ihnen nicht hinreichend erscheinenden »Einbeziehung wissenschaftlicher Prognosemethoden« sowie des Sachverständigenrates.95 Gleichwohl betrieben die Sozialdemokraten keine Fundamentalopposition, sondern zeigten sich für den Fall eines Aufgreifens ihrer Kernkritikpunkte zu einer Grundgesetzänderung bereit. Zwar konnte dieses Entgegenkommen das Scheitern des Gesetzgebungsprozesses im September 1966 nicht verhindern. Aber es schuf eine belastbare Grundlage für die bald darauf begonnenen Koalitionsverhandlungen mit den Unionsparteien und das Regierungsprogramm der Großen Koalition.96 In der Summe zeigen und akzentuieren die Studien deutlich, dass der auf den ersten Blick rasant erscheinenden wirtschaftspolitischen Wende vom Winter 1966/67 langwierige Prozesse der konzeptionellen Erneuerung vorangegangen waren.97 So rasant war die Wende damit keineswegs. Dass sie sich – anders als bei den mühseligen Versuchen in den Jahren zuvor – mit Amtsantritt der Regierung Kiesinger und des Wirtschaftsministers Schiller plötzlich sehr schnell vollzog, wird vornehmlich dem »Krisensyndrom« des Jahres 1966 zugeschrieben.98 91 Vgl. Nützenadel, Stunde der Ökonomen, S. 288 f. 92 Vgl.: Ebd., S. 289; Schanetzky, Ernüchterung, S. 82 f. 93 Vgl. Nützenadel, Stunde der Ökonomen, S. 293. 94 Vgl.: Ebd., S. 294 f.; Metzler, Konzeptionen, S. 323. 95 Nützenadel, Stunde der Ökonomen, S. 294. 96 Vgl. Schanetzky, Ernüchterung, S. 85 f. 97 Explizit: Nützenadel, Stunde der Ökonomen, S. 306; Altmann, Planung in der Marktwirtschaft?, S. 35–41; Ullmann, Im »Strudel der Maßlosigkeit«?, S. 255 f. 98 Metzler, Konzeptionen, S. 315.
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Wie dieses ›Syndrom‹ zustande kam, auf welchen begrifflichen Verschiebungen in den politischen Debatten es fußte und wie sprachliches Handeln die Krise konstituierte, bleibt auch in diesem dritten Narrativ eine Leerstelle. Sie zu schließen und gleichsam eine vierte Geschichte der Krise zu erzählen, ist das Ziel der folgenden Ausführungen.
SPRACHE DER KRISE
VIII. Ein kurzer Krisenwinter mit langem Vor- und Nachlauf
Die 13 Monate zwischen der Bundestagswahl vom September 1965 und dem Auseinanderbrechen der christlich-liberalen Regierungskoalition Ende Oktober 1966 ermöglichen aufschlussreiche Studien: über das sukzessive Auseinander driften der Koalitionsparteien, das unglückliche Agieren eines einsamen Mannes im Kanzleramt, dem unaufhörlich neue Probleme vor die Füße fielen, oder den dynamischen Wandel des politischen Meinungsklimas. Nur bedingt aber über eine erste Phase der ›Krise‹. Zwar lassen sie sich durchaus als »Weg in die ›Krise‹« lesen,1 indes weniger als erster Abschnitt der Krise selbst – zumindest dann nicht, wenn man einen engen und eindeutigen Konnex zwischen Krisen begriff und Diagnosen zur wirtschaftlichen Lage voraussetzt. Gleichwohl ist die Schlussphase dieses Zeitraums, die drei Monate – von Juli bis Oktober 1966 – andauerte, nicht außer Acht zu lassen. Denn nur vor dem Hintergrund der in diesem Zeitraum ausgetragenen parteipolitischen Konflikte ist nachzuvollziehen, auf welches zuvor angelegte semantische Feld die Krisendiagnosen gründeten, die ab dem Koalitionsbruch Ende Oktober verstärkt aufkamen. Aus diesem Grund setzt die semantische Analyse bei der politischen Auseinandersetzung ab dem Hochsommer 1966 ein. Ausgehend von dieser Vor-Krisenphase und abermals die jeweils symptomatischen, tragenden Topoi zum Kriterium machend, lassen sich sodann vier Phasen des Krisendiskurses unterscheiden. Sie sind Gegenstand der nachfolgenden Abschnitte dieses Kapitels (VIII.1–VIII.4) und werden in Relation gesetzt zu den mit ihnen verknüpften Kompositum-Formen des Krisenbegriffs. Aufgezeigt wird zudem ihr sprachpragmatischer Einsatz, die Verwendung der Redeweisen in konkreten Situationen des Sprachgebrauchs. Neben diese phasenspezifischen Muster traten phasenübergreifend wiederkehrende Topoi. Sie bezogen sich zuvorderst auf die Ziele wirtschaftspolitischen Handelns – am prägnantesten: (Währungs-)Stabilität und ökonomisches Wachs1 Görtemaker, Gründung bis zur Gegenwart, S. 431.
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tum – und bildeten eine für Sprecher und Schreiber gleichermaßen abrufbare wie vorgegebene Aussagebasis, einen Grundkonsens, auf den alle Handlungs vorschläge auszurichten waren. Zudem konnten diese Zielreferenzen mit Diagnosen verknüpft werden, indem die Diskrepanz zwischen den Zielgrößen und der aktuellen Lage ausgelotet wurde. Diese Sprachmuster werden in Kapitel IX aufgezeigt. Das Kapitel analysiert ferner verbreitete Metaphern und rückt damit erneut tiefer liegende Semantiken ins Blickfeld, die sowohl Vorstellungen von der Wirtschaft als auch der Art der wirtschaftlichen Probleme transportierten. Abschließend behandelt Kapitel X übergreifende Merkmale und konstellative Faktoren der Krisenkommunikation.
1. Vorspiel zur ›Krise‹: ›führungsschwacher Kanzler‹, ›zerstrittene Union‹, ›uneinige Koalition‹ Den Anfang seines Endes erlebte der Kanzler Erhard an Rhein und Ruhr. Üblich ist es nicht, Befunde historisch-semantischer Studien derart eng an eine Person und ein Ereignis zu binden. Auch hier soll das politische Ereignis des deutlichen Stimmenrückgangs der CDU bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen – sie verschlechterte sich von 46,4 % auf 42,4 % – nicht überbewertet werden. Gleichwohl war es von nicht geringer Bedeutung. Denn nach diesem Ereignis nahm die öffentlich geäußerte Kritik an Erhard und seiner zunehmend uneinig erscheinenden Regierung insgesamt zu. Was war Gegenstand dieser Kritik? Und wer äußerte sie? In erster Linie bezog sich die Kritik auf die Erhard unterstellte Führungsschwäche, wobei das Redemuster vom ›führungsschwachen Kanzler‹ verbunden war mit jenem der ›zerstrittenen Union‹ sowie mittelbar verknüpft mit dem der ›uneinigen Koalition‹. Dabei umfasste der Topos vom ›führungsschwachen Kanzler‹ jene Äußerungen, in denen eine direkte oder indirekte Kritik an Erhards Art der Regierungsleitung (›unzeitgemäßer Führungsstil‹, ›verbesserungswürdige Organisation der Regierungsgeschäfte‹ usf.) vorgebracht oder zitiert wurde. Er speiste sich gleichermaßen aus Aussagen von Politikern als auch aus journalistischen Berichten und Kommentaren. Dagegen handelte es sich bei den Sprachmustern von der ›zerstrittenen Union‹ und der ›uneinigen Koalition‹ stärker um interpretativ geprägte Darstellungsweisen. Diese Topoi ergaben sich aus der Berichterstattung über die unterschiedlichen Positionen und konfliktreichen Beziehungen innerhalb der Union respektive miteinander unvereinbare Standpunkte der drei Koalitionsparteien. Ein Aufkommen solcher Kritik in der Presse und in Angriffen der Opposition vermag nicht zu überraschen. Sie ist geradezu ein ›natürliches‹, in iterativen Mustern beobachtbares Element politischer Kommunikation in demokratischen
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Staaten. Das Besondere an der Kanzler- und Regierungskritik des Sommers 1966 lag darin, dass die schärfsten Kritiker Erhards, die sich öffentlich zu Wort meldeten, aus den eigenen Reihen stammten. Führende Köpfe von CDU und CSU untergruben auf diese Weise die Autorität des Parteivorsitzenden und Bundeskanzlers. Presse-Kommentatoren und die oppositionellen Sozialdemokraten brauchten die Äußerungen der Parteigänger Erhards nur aufzugreifen; Äußerungen, die in ihrer Schärfe bisweilen ungewöhnlich zugespitzt waren. So ließ sich, um nur ein Beispiel zu nennen, der Vorsitzende der Unions-Bundestagsfraktion, Rainer Barzel, Mitte September mit den Worten zitieren, die eigene Regierung sein ein »leckes Boot«, das eine Besatzung benötige, die »ruder[t] und Wasser schöpf[t]« und von einem »energischen Kapitän« geführt werde.2 Dass die Konfliktlinien nicht dem konventionellen Muster der Konfrontation zwischen Regierung und journalistischen Beobachtern oder Regierung und Opposition entsprachen, sondern innerhalb der Kanzlerpartei verliefen, führte zum Sprachmuster der ›zerstrittenen CDU‹. Für die Plausibilisierung dieses Topos spielten verschiedene Themenbereiche eine Rolle, insbesondere die Schwierigkeiten beim Aufstellen des Bundeshaushalts, die gescheiterten Bemühungen, das Stabilitätsgesetz zu verabschieden, sowie Streitigkeiten um eine mögliche Kabinettsumbildung und die Frage, was zeitgemäßes Regieren sei. Mithin gab es nicht den neuralgischen Kristallisationspunkt eines Problems oder Konflikts. Ebenso wenig war eine Zuspitzung auf einen bestimmten Zeitpunkt – ein prägnantes Ereignis – zu beobachten. Vielmehr variierte die Intensität des Äußerns der Kritik, wellenförmig zu- und abnehmend. Besonders kondensiert traten die genannten Topoi im Zuge jener Diskussionen und Debatten auf, die im Folgenden genauer unter die Lupe genommen werden. Bezogen auf die Orte im Quellenkorpus, an denen die Aussagen aufkamen, sind zwei Bemerkungen notwendig: Zum einen muss sich die Analyse an dieser Stelle weitgehend auf die Presseberichterstattung beschränken, weil der Bundestag zu dieser Zeit in der parlamentarischen Sommerpause weilte. Zum anderen fällt auf, dass sich die Diskussionen in der BILD -Zeitung nur an wenigen Stellen niederschlugen. Die untersuchte Qualitätspresse widmete sich ihnen hingegen ausführlich.
2 Martin Klaus Keune, Barzel: In Bonn muß energischer regiert werden, in: BILD, Nr. 218, 19.09.1966, S. 1.
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Die »Wahlschlappe« an Rhein und Ruhr – Anfang einer »Anti-Erhard-Psychose«? Wenige Tage nach dem Urnengang in Nordrhein-Westfalen begann die CDU mit der Aufarbeitung ihrer Niederlage. Zwei Fragen trieben sie um: einerseits jene nach ihrem Verbleib in der Landesregierung, andererseits die nach den Gründen für das enttäuschende Wahlergebnis. Erstgenannte Frage ist schnell zu beantworten. Der bisherigen christlich-liberalen Koalition unter CDU-Ministerpräsident Franz Meyers gelang es zunächst, abermals zusammenzufinden und sich auf eine Neuauflage des Bündnisses zu einigen – trotz der denkbar knappen Mehrheit von 101 Stimmen der Regierungsfraktionen gegenüber 99 Mandaten der oppositionellen SPD. Als stabil erwies sich das Bündnis nicht. Im Spätherbst wechselte die FDP das Koalitionslager und ermöglichte die Wahl des SPD Spitzenkandidaten Heinz Kühn zum Ministerpräsidenten. Spannender erscheint es, die Ursachendiskussionen zu betrachten, denn als ein Faktor für den Stimmenrückgang rückte die Person Erhards rasch in den Fokus. Genauso kamen Spekulationen über seine Zukunft auf. Der SPIEGEL fragte am 18. Juli, acht Tage nach der Wahl, gar auf dem Titel, ob die NRW-Wahl »Erhards Ende« eingeläutet habe. Ein in der Titelmitte abgebildeter Würfel verstärkte die Botschaft, dass im politischen Bonn womöglich ›neu gewürfelt‹ werde und die plakativ auf der oberen Würfelseite vermerkte SPD obenauf schwimme (vgl. die Abb. auf der folgenden Seite). Konkreter prophezeite der SPIEGEL , der »politische Erdrutsch, der die Sozialdemokraten zur stärksten politischen Kraft im volkreichsten Bundesland machte, signalisier[e] den Anfang vom politischen Ende des Kanzlers Erhard«, auch wenn dieses konkret »noch eine Weile auf sich warten lassen« werde.3 Dennoch sei »unverkennbar […], daß die Kräfteverschiebung an Rhein und Ruhr« Auswirkungen auf die Bundespolitik zeitigen werde und nicht zuletzt die »Zweifel an der Führungskraft des Kanzlers in der CDU / C SU wachsen« würden.4 In ihrem Bericht über die Präsidiumssitzung der Bundes-CDU vom 14. Juli 1966 beschrieb die SZ eine grundsätzliche »Stimmung gegen Erhard« in der CDU, speziell unter jenen, die sich seine Ablösung schon früher gewünscht hätten, etwa nach der Bundestagswahl 1965.5 Zwar sei offen vorgetragene Kritik an Erhard ausgeblieben; doch hätten einige Präsidiumsmitglieder argumentiert, »es sei falsch gewesen, daß [Erhard] sich im Wahlkampf so engagiert habe, […] daß 3 [NRW-Wahlen] Lack ab, in: DER SPIEGEL , Nr. 30, 18.07.1966, S. 15–25, hier S. 15. 4 Ebd. 5 Wahlschlappe beschäftigt das CDU-Präsidium. Mit Hilfe einer Wahlanalyse versucht die Parteiführung, ihren Vorsitzenden Erhard gegen Schuldvorwürfe abzuschirmen / Bildung einer Großen Koalition in Düsseldorf findet bei der Bonner CDU keine Befürworter, in: SZ , Nr. 168, 15.07.1966, S. 1.
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Abb. 1: DER SPIEGEL, Nr. 30, 18.07.1966, Titelbild. (© DER SPIEGEL, 30/1966.)
die Wahl wie ein Plebiszit« erschienen sei.6 Worin der Makel bestand, der Erhard angelastet wurde, blieb zunächst unexpliziert. Allenfalls schimmerte durch, dass die Partei eine zunehmende Kluft zwischen sich und ihrem Vorsitzenden bemerke und bemängele. Begriffliche Zuspitzung erfuhr diese Klage in einer von führenden CDU-Politikern befürchteten »Anti-Erhard-Psychose«, die nur verhindert werden könne, wenn die Partei »ihren Vorsitzenden […] enger an sich binden und einen gewissen Druck auf ihn ausüben« werde.7 Kritik dieser Art – inhaltlich darauf bezogen, dass Erhard dem Willen und Einfluss der CDU entrückt und seine Art des Führens und Regierens nicht mehr 6 Ebd. 7 Ebd.
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zeitgemäß sei, strukturell zu wesentlichen Anteilen aus der Union selbst kommend – prägte die verbleibenden Monate bis zum Koalitionsbruch. Als Erhard Anfang August im Pressedienst der CDU / C SU sowie im parteinahen Deutschen Monatsblatt einen Artikel veröffentlichte, in dem er seine finanz- und wirtschaftspolitischen Reformvorhaben umriss, erregte dies nicht aus inhaltlichen Gründen Aufmerksamkeit.8 Erhards Pläne, darunter die Verabschiedung des Stabilitätsgesetzes, die Finanzreform und ein mittelfristiger Finanzplan, enthielten kaum Überraschendes. Vielmehr wurden sie interpretiert als versuchter Befreiungsschlag gegenüber parteiinterner Kritik, die pointiert von Rainer Barzel und Franz Josef Strauß vorgetragen worden war. Es hieß, Barzel habe den Kanzler mehrfach aufgefordert, »gerade der Wirtschafts- und Finanzpolitik neue, positive Ziele zu geben, die sich nicht allein in der Ankündigung von Sparmaßnahmen und Streichungen erschöpfen dürften.«9 Strauß’ brieflich vorgetragener Unmut habe sich darauf gerichtet, »daß die Kreditpolitik zweifellos wirksamer gewesen wäre und längst wieder hätte gelockert werden können, wenn sie von vornherein durch eine zurückhaltende Ausgabenund Verschuldungspolitik der Öffentlichen Hand unterstützt worden wäre.«10 Nach Aufgreifen dieser Kritik, so schlussfolgerte die SZ , dürfte Erhard nun »die Möglichkeit erhalten, zu zeigen, ob er bereit [sei], aus dem Debakel der nordrhein-westfälischen Landtagswahlen Konsequenzen zu ziehen, oder ob er immer noch glaub[e], durch ausweichendes Taktieren seine Popularität wieder festigen zu können.«11 Wenige Tage später trug die Zeitung selbst dazu bei, diese Hoffnung zu widerlegen. In einem Kommentar verortete sie Erhard in der »Rolle eines Sündenbocks«, »einsam[ ] und verlassen[ ]«.12 Deutlicher als zuvor trat der Topos der ›zerstrittenen CDU‹ zutage. Seit dem 10. Juli gäben sich Unions-Politiker »ihrer Profilsucht, dem Interviewkrieg und den Kabalen« hin, was die »Unfähigkeit« der Partei offenbare, »ihre führenden Politiker gerade in der Stunde der Krise mit Autorität auszustatten«.13 Die ZEIT urteilte, mit »beispielloser Offenheit zerzaus[t]en führende Unionspolitiker ihren Regierungschef«.14 Erhards Versuche, seine Position zu stärken und innerparteiliche Geschlossenheit herzustellen, 8 Erhard, Heute an die Zukunft denken. 9 Erhard kündigt Wirtschaftsreformen an. Mit einer Aufzählung seiner finanzpolitischen Pläne versucht der Bundeskanzler, der parteiinternen Kritik an seiner Amtsführung entgegenzutreten / Einwände von Strauß jetzt veröffentlicht, in: SZ , Nr. 185, 04.08.1966, S. 1 f., hier S. 1. 10 Ebd. 11 Ebd., S. 1 f. 12 Ulrich Blank, Sündenbock der Nation, in: SZ , Nr. 192, 12.08.1966, S. 4. 13 Ebd. 14 Kurt Becker, Erhard – glücklos und verlassen. Nächste Woche kommt des Kanzlers letzte Chance, in: DIE ZEIT, Nr. 34, 19.08.1966, S. 1.
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Abb. 2: abgedruckt in SZ, Nr. 200, 22.08.1966, S. 4. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2017.)
verpufften wirkungslos. Zwar empfing der Kanzler führende Unionspolitiker zu Gesprächen in seinem Urlaubsort am Tegernsee, befrieden konnte er die Parteien und die öffentliche Debatte über die »Kanzlerkrise« damit nicht.15 Die SZ beschrieb vielmehr einen »raschen Wechsel von sich lichtenden und schließenden Reihen der Unionsgefolgschaft«.16 Erhard befand sich in einer Art Dauerbeschuss aus verschiedenen Richtungen, den die SZ auch karikaturistisch darstellte. Mit einem Tischtennisspieler verglichen, der sich, auf seiner Seite alleine stehend, offenkundig einer wachsenden Zahl von Gegnern auf der anderen Seite gegenübersah, wirkte Erhard zunehmend hilflos. Den ›Bällen‹ in Form von Vorwürfen und Vorschlägen hatte der grimmig dreinblickende Kanzler wenig entgegenzusetzen. Mithin entsprach auch seine Körperhaltung nicht der eines zur dynamischen Abwehr bereiten Spielers, vielmehr stellte der Zeichner ihn in beinahe prä-kapitulierendem Gestus mit gleich zwei erhobenen Schlägern dar. Im Text diagnostizierte die Münchner Zeitung weiter, das »Bild der CDU als eines 15 Claus Heinrich Meyer, Aus Erhards Trotz kommt kein Impuls, in: SZ , Nr. 200, 22.08.1966, S. 4. 16 Ebd.
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Zerfallsproduktes und das häufig beschworene[,] schlecht bestimmbare Unbehagen« lasse sich zum Teil mit dem »Vorwurf mangelnder Führungsqualitäten des Bundeskanzlers erklären«.17 Darüber hinaus rufe seine Aversion gegenüber Prognosen und Planungen in nahezu sämtlichen Politikfeldern einen Mangel an »Impulsen« jenseits von Einzelfallentscheidungen mit rein »tagespolitische[m] Wert« hervor.18 An dieser Stelle wurde offensichtlich, dass und wie sich die Kritik verstetigt und verselbständigt hatte. Sie war nicht länger primär auf die Folgen der NRW-Wahl bezogen, sondern zu einem grundsätzlichen Bild vom Zustand des Kanzlers und seiner Partei geworden. Dieses Grundmuster, mit dem Erhard, die Union und die Koalition gedeutet wurden, durchzog auch die Berichterstattung über die anderen virulenten Sachthemen.
Die ›zerstrittene Union‹ und die Frage der Kabinettsumbildung Mit dem unionsinternen Streit verknüpft und an der Schnittstelle von Sachproblem und Personenkritik angesiedelt, war die Frage einer etwaigen Umbildung des Bundeskabinetts. Sie kam ebenfalls im Sommer auf und verblieb als ungelöstes Problem bis zum Koalitionsbruch Ende Oktober. Keine andere Auseinandersetzung erlaubte bessere Einsichten in das Zusammenspiel der Topoi vom ›führungsschwachen Kanzler‹ und der ›zerstrittenen Union‹. Im Kern ging es nicht zuvorderst um die Neubesetzung von Kabinettsposten, sondern um den Vorwurf, Erhard führe nicht zeitgemäß, da er es versäumt habe, sich die »Führungsmethoden des modernen Managements« anzueignen.19 Diese Vorhaltungen gegenüber Erhard traten just zu dem Zeitpunkt verstärkt zutage, als die Diskussionen abebbten, die sich unmittelbar auf das NRW-Ergebnis bezogen hatten. Mithin können sie als erweiterte (Anschluss-)Debatte betrachtet werden. Sie speisten sich sowohl aus den Kommentaren politischer Beobachter als auch – einmal mehr – aus Vorwürfen der Parteifreunde des Kanzlers. Deutlicher als zuvor, wenngleich nicht dauerhaft, sondern nur situativ bemüht, kam nun der Krisenbegriff auf. In seinem »Krise, die keine sein darf« betitelten Kommentar diagnostizierte der Publizist und leitende SZ-Politikredakteur Wilhelm Emanuel Süskind eine den »Symptomen nach« grassierende »Koalitions-, wenn nicht gar […] Regierungskrise«.20 Sie sei eng verbunden mit dem gegen den Kanzler er-
17 Ebd. 18 Ebd. 19 Wilhelm Emanuel Süskind, Krise, die keine sein darf, in: SZ , Nr. 195, 16.08.1966, S. 4. 20 Ebd.
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hobenen Vorwurf, »die Dinge treiben zu lassen« – so ungerechtfertigt dieser sei angesichts der großen Bemühungen Erhards, eine Verabschiedung des Stabilitätsgesetzes zu ermöglichen.21 Vor allem aber werde die Kritik immer wieder im eigenen Lager entfacht, etwa durch den Vorsitzenden der CSU. Franz Josef Strauß hatte moniert, dass »Zusammensetzung, Organisation und Methodik der Bonner Regierungsapparatur verbesserungswürdig« seien.22 Wenig überraschend zeitigten derartige Äußerungen einen für die Regierung destabilisierenden Effekt, indem sie den Handlungsdruck auf Erhard verstärkten. Seinerseits versuchte Erhard, den Vorhaltungen zu begegnen, ohne zuzugestehen, dass sie zuträfen. Nach einem Gespräch mit Strauß ließ er verlauten, Änderungen in der Kabinettszusammensetzung seien in absehbarer Zeit möglich. Seine Begründung zielte darauf ab, dass auf diese Weise »das Stabilisierungsgesetz ›personell effektiert‹« umgesetzt werden könne.23 Der Versuch, die Ankündigung als Element einer Strategie zur effektiveren Umsetzung des Gesetzes darzustellen, erwies sich nur bedingt als erfolgreich. Es überwog die Deutung, der Kanzler begegne der schwelenden Kritik und versuche nun, die »Kabinettsarbeit«, wie zuvor gefordert, zu »straffen«.24 Die angestoßene Kritik und Erhards Reaktion hatten unmittelbar drei Entwicklungen zur Folge. Zunächst den für Erhard erfreulichen Effekt, dass sich die Debatte kurzfristig beruhigte und aus der Berichterstattung weitgehend verschwand. Inhaltlich waren die Konsequenzen für den Kanzler unliebsamer. Denn eine Kabinettsumbildung wurde nun nicht länger unter dem Vorzeichen des ›ob‹, sondern des ›wann‹ diskutiert. Und, entscheidender noch, die Option eines Kanzlerrücktritts trat in den Raum des Möglichen. Dazu trug ausgerechnet Erhard selbst bei, indem er mehrfach von sich aus erklärte, er »›gebe nicht auf‹« und lehne einen freiwilligen Rückzug ab.25 Mit dem Ende der parlamentarischen Sommerpause ging die kurze Phase relativer Ruhe für Erhard zu Ende. Der unionsinterne Streit wurde nun gar in einer drastischeren Tonlage ausgetragen. Nachdem die Unionsfraktion am 12. September zu ihrer ersten Sitzung nach Ferienende zusammengekommen war, prog-
21 Ebd. 22 Zit. nach: ebd. 23 Erhard will die Regierungsarbeit straffen. Über die Ausführung des Stabilisierungsgesetzes ist sich der Bundeskanzler klar, nicht aber über die dazu nötigen Änderungen im Kabinett / Mit Strauß wurden keine Personalfragen erörtert, wie es heißt, in: SZ , Nr. 199, 20./21.08.1966, S. 1 f., hier S. 1. 24 Ebd. 25 Erhard gewinnt an Boden. Stimmungsumschwung in den Unionsparteien zugunsten des Bundeskanzlers / Nach Strauß kommt nun auch Außenminister Schröder an den Tegernsee / Ich gebe nicht auf, sagt Erhard in einem Interview, in: SZ , Nr. 200, 22.08.1966, S. 1 f., hier S. 1.
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nostizierte die SZ in einer Schlagzeile: eine »Kabinettsumbildung rückt näher«.26 Sie zitierte Fraktionschef Rainer Barzel mit den Worten, zwar seien Sachfragen von größerer Dringlichkeit, aber die »›personellen Dinge nicht zu übersehen‹«.27 Zudem zitierte das Blatt erneut – und wiederum auf eine Äußerung von Strauß zurückgehend – dessen Forderung, »eine sachgerechte Politik müsse auch mit modernen Methoden gemacht und der Öffentlichkeit vermittelt werden.«28 In der Woche zuvor hatte die Zeitung bereits berichtet, dass Barzel und Strauß den Kanzler im Unions-Fraktionsvorstand aufgefordert hätten, »›durch sachliche Entscheidungen wieder Klarheit in der Regierungspolitik‹« zu schaffen.29 Die Zitate verdeutlichen, dass Barzel und Strauß, weil sie aufgrund ihrer Ämter im Fokus der Presse standen und ihre Äußerungen nahezu permanent aufgegriffen wurden, eine meinungsprägende Position innehatten. Dieses Zusammenspiel von Politikeräußerungen und ihrem medialen Transport verstetigte das Bild eines in seinen Führungsmethoden gestrigen Regierungschefs. Die so vermittelte Dissonanz innerhalb der Union evozierte allerdings ebenso eine permanente Re-Aktualisierung des Topos von der ›zerstrittenen Union‹. Gleicht man stichprobenartig die medial verbreiteten Äußerungen und Eindrücke mit dem Verlauf der Fraktionssitzung ab, wird deutlich, wie weitgehend die Deutungen in der Presse mit den Einschätzungen der Abgeordneten übereinstimmten. So monierte unmittelbar nach Erhards Ausführungen der Münchner Abgeordnete Konstantin Prinz von Bayern (CSU), es sei »zu Recht oder zu Unrecht« der »Eindruck« entstanden, »daß die Richtlinienkompetenz des Kanzlers […] ungenügend ausgeübt werde.«30 Sein CDU-Kollege Johann Peter Josten beklagte, die CDU habe »an Ansehen verloren«, was »an der Führung [liege]«.31 Zeigte sich hier das auch interne Beklagen von Führungsschwäche, spiegelte die Replik von Franz Josef Strauß auf das Eingangsstatement Erhards zusätzlich Divergenzen in der Diagnose der wirtschaftlichen Situation wider. Während der CSU-Chef dem Kanzler beipflichtete, dass Krisendiskussionen »in einer öffentlich erkennbaren Weise mit dem Ergebnis der Landtagswahl von Nordrhein-Westfalen« aufgekommen seien,32 widersprach er dem Kanzler 26 Kabinettsumbildung rückt näher. CDU / C SU-Fraktion gibt Erhard freie Hand / Barzel: Sachfragen haben Vorrang, in: SZ , Nr. 219, 13.09.1966, S. 1 f., hier S. 1. 27 Ebd. 28 Ebd., S. 2. 29 Kritik an Erhard im Fraktionsvorstand. Barzel und Strauß dringen darauf, »durch sachliche Entscheidungen wieder Klarheit in die Regierungspolitik« zu bringen / Der CSU-Vorsitzende ist gegen die Unterzeichnung eines Atomwaffen-Sperrvertrags, in: SZ , Nr. 216, 09.09.1966, S. 1. 30 Zit. nach: [o. N.], Protokoll der 349. Sitzung der CDU / C SU-Bundestagsfraktion vom 12.09.1966, S. 1917. 31 Zit. nach: ebd., S. 1919. 32 Zit. nach: ebd., S. 1921.
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in dessen Einschätzung, wirtschaftliche Krisengefahren zu beschwören sei unangebracht und – mit Blick auf die Lage der Kohle- und Stahlindustrie – allenfalls regional gerechfertigt. Während Erhard die volkswirtschaftlichen Strukturveränderungen als Ursache für Verunsicherung ausmachte, zugleich darauf insistierte, solche Veränderungen seien normal, gegenwärtig auch in anderen Staaten beobachtbar und bei mehr als 600.000 offenen Stellen kein Grund, »von einer Krise zu sprechen«,33 betonte Strauß, es gebe »ohne Zweifel […] potentielle Krisenherde in unserer Wirtschaft«, angefangen bei der Stahlindustrie.34 Bei der Bevölkerung riefen sie »Ungewissheit, Unsicherheit, Unbehagen, Unruhe und potentielle[ ] Unzufriedenheit« hervor, was Stimmung und Wahlverhalten erkläre.35 Wie untergraben Erhards Autorität war, ließ sich Mitte September auch an einem weiteren Beispiel beobachten. Einen Tag bevor der Bundestag das Stabilisierungsgesetz beriet, forderte eine Gruppe junger Abgeordneter von CDU und CSU, Franz Josef Strauß solle ein in inhaltlicher wie personeller Art alternatives Programm zur aktuellen Regierung ausarbeiten.36 Erhard reagierte darauf, indem er seine zur Standardantwort gewordene Aussage bekräftigte, dass »er an einen Rücktritt nicht denk[e]«.37 In der medialen Beobachtung verfestigte und konkretisierte sich in den Folgetagen das Bild von Erhard als eines Getriebenen – eines Kanzlers, der nicht mehr wählen könne, sondern erkennen müsse, dass eine »Kabinettsumbildung […] unausbleiblich geworden [sei], schon aus optischen Gründen«.38 Ihm bleibe nur noch die Option, durch eine kluge Neubesetzung des Kabinetts eine »Fortsetzung der Diadochenkämpfe« in Partei und Fraktion zu verhindern.39 Zwei Wochen später, nach seiner misslungenen USA-Reise, wurde Erhards Situation als noch misslicher interpretiert, denn ausgerechnet die »CDU, die Erhard zum Kanzler gekürt« habe, lasse »keine Gelegenheit aus, um ihren Parteivorsitzenden zum Prügelknaben für ihre eigene Unzulänglichkeit zu machen.«40 Die Bürger, so ein SZ-Kommentar, würden »Zeuge[n]« eines wenig würdigen Abgangs: »auf dem Scheiterhaufen ein Mann namens Ludwig Erhard«.41 Den dazu notwendigen Brennstoff hätten seine Par33 Vgl. ebd., S. 1907 f., Zitat S. 1908. 34 Zit. nach: ebd., S. 1922. 35 Zit. nach: ebd. 36 Vgl. Junge CDU / C SU-Abgeordnete gegen Erhard. In der Fraktion stellt eine Gruppe den Antrag, Strauß solle eine Alternative zum gegenwärtigen Regierungskurs ausarbeiten / Der CSU-Vorsitzende distanziert sich von den Plänen, in: SZ , Nr. 220, 14.09.1966, S. 1 f. 37 Ebd., S. 2. 38 Hans Reiser, Erhards harte Wochen, in: SZ , Nr. 223, 17./18.09.1966, S. 4. 39 Ebd. 40 Hans Schuster, Erhard im Strudel der Anforderungen, in: SZ , Nr. 234, 30.09.1966, S. 4. 41 Claus Heinrich Meyer, Loyal bis zur Erschöpfung, in: SZ , Nr. 237, 04.10.1966, S. 4.
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teifreunde »in mühsamer Arbeit aus den Hinterwäldern«, teils aber auch er selbst herbeigeschafft; und schließlich stelle sich tatsächlich die Frage, ob nicht auch sein »Naturell« das vermissen lasse, was »man sich mit dem Wort Führungsqualitäten zu umschreiben angewöhnt« habe.42
Der ›angeschlagene Kanzler‹ in der Auseinandersetzung um das Stabilitätsgesetz Mehrfach angeklungen ist ein inhaltlicher Bezugspunkt der Debatten: das Ringen um eine Verabschiedung des Stabilitätsgesetzes. Nachdem das Gesetz im Sommer 1966 bereits eine mehrjährige Entstehungsgeschichte aufwies, strebte die Bundesregierung jetzt an, ihren Entwurf zügig parlamentarisch verabschieden zu lassen. Mitte Juli hatte sie Grund zu Optimismus. Zu diesem Zeitpunkt schien eine Mehrheit im Bundesrat wahrscheinlich. Klärungsbedarf meldeten die Länder nur noch in zwei Detailfragen an; zum einen ging es um die Bildung einer obligatorischen Konjunkturausgleichsrücklage, zum anderen um das Instrument variierender Einkommens- und Körperschaftssteuersätze zur Konjunktursteuerung.43 Eine Zuspitzung erfuhr die Situation Anfang August. Am 5. August beriet der Bundesrat, in dessen Sitzung Erhard selbst das Wort ergriff, über den Gesetzentwurf. Dass der Sitzung große Bedeutung beigemessen wurde, zeigte sich daran, dass jetzt auch – und: wie – BILD darüber berichtete. Am Morgen des Sitzungstags rief das Boulevardblatt auf der Titelseite Erhards Kampf »um die Mark und seinen Stuhl« aus.44 Dem Kanzler müsse es gelingen, die (Währungs-)Stabilität zu sichern und Erfolg mit seinen Vorschlägen für Kürzungen im Bundeshaushalt zu haben. Andernfalls seien »seine Tage als Bundeskanzler gezählt«.45 Am Tag nach der Sitzung stilisierte BILD sie zur »Schlacht […] um das Stabilisierungsgesetz«.46 Lesern von FAZ und SZ ergab sich hingegen vor und nach der Sitzung der Eindruck weitgehender Übereinstimmung; umstritten geblieben waren demnach nur die erwähnte Frage kurzfristig (d. h. per Rechtsverordnung) zu verändernder Ertragssteuer-Tarife sowie – ebenso zur Konjunktursteuerung 42 Ebd. 43 Vgl. Verschärfung des Stabilisierungsgesetzes in Aussicht. Bayerischer Vorschlag von anderen Bundesländern aufgegriffen / Jetzt verhandeln die Ministerpräsidenten, in: SZ , Nr. 167, 14.07.1966, S. 15. 44 Diethelm Schröder, Erhard kämpft um die Mark und seinen Stuhl, in: BILD, Nr. 180, 05.08.1966, S. 1. 45 Ebd. 46 Martin Klaus Keune, Erhard übt Selbstkritik. »Schwerwiegender Fehler«, Blockiert die SPD seine Gesetze?, in: BILD, Nr. 181, 06.08.1966, S. 1, 6, hier S. 1.
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gedachter – variierender Abschreibungssätze.47 Hinzu kam die SPD -Forderung, die allseits befürwortete mittelfristige Finanzplanung möge Bestandteil einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung werden.48 Aber nicht diese sachorientierte, sondern die zuspitzende Perspektivierung erwies sich als folgenreich. Denn im Nachklang der Sitzung stimmten auch SPD und FDP in den Chor der harschen Erhard-Kritiker ein und eigneten sich den Topos des ›führungsschwachen Kanzlers‹ an. Im parteioffiziellen SPD -Pressedienst hieß es, »der Schlendrian an der Spitze der Bundesregierung [könne] nicht so weitergehen«.49 Mehr noch: Der Kanzler müsse zurücktreten, bevor die SPD dem Stabilisierungsgesetz zustimmen werde. Zwar gab es auch gegenläufige Stimmen, die eine rein sachliche Auseinandersetzung mit der Regierung forderten.50 Doch diese Pressemitteilung veranlasste BILD zu der Frage: »Bringt die SPD Erhard zu Fall?«51 Genährt wurden derartige Gedankenspiele zugleich durch Äußerungen aus der FDP, die Partei könne sich auch ein Bündnis mit der SPD vorstellen. Der Parteichef der Liberalen, Erich Mende, bekräftigte zwar die Koalitionstreue der FDP, forderte aber zugleich, der Kanzler müsse »straffer führen«.52 Die Kritik, die speziell Schatzmeister Rubin formuliert hatte, habe darauf abgezielt, der »CDU / C SU nahe[zu]legen«, die »Kanzlerfrage so zu lösen, daß eine gedeihliche Zusammenarbeit und ein erfolgreiches Wirken der bisherigen Koalition auch in Zukunft möglich« sei.53 An dieser Stelle schimmerte der Topos der ›uneinigen Koalition‹ durch; jene Sicht- und Sprachweise, die für die Darstellung des Streits um den Bundeshaushalt bestimmend sein sollte. Vorsichtige Versuche aus medial-konservativer Perspektive, die Kritik primär als Strategie 47 Vgl.: Erhard lehnt Lockerung der Kreditbremsen ab. Der Kanzler begründet die Stabilisierungsgesetze / Auftreten im Bundesrat / Noch mancherlei Hindernisse / Vor Blessing und gegen seine Kritiker gestellt, in: FAZ , Nr. 180, 06.08.1966, S. 1, 4; Bundesrats-Fragen zum Stabilisierungsgesetz, in: SZ , Nr. 187, 06./07.08.1966, S. 21. 48 Ministerpräsidenten der Länder bei Erhard. In persönlicher Fühlungsnahme bemüht sich der Bundeskanzler um eine Annäherung der Standpunkte in der Stabilisierungspolitik und bei der Steuerneuverteilung zwischen Bund und Ländern, in: SZ , Nr. 186, 05.08.1966, S. 1. 49 Zit. nach: Bringt die SPD Erhard zu Fall? – SPD: Verfassungsänderung? – Ohne uns!, – SPD: Schickt den Kanzler nach Hause!, in: BILD ; Nr. 183, 09.08.1966, S. 1. 50 Vgl. Die SPD geht auf härteren Oppositionskurs. Der parteioffizielle Pressedienst fordert den Rücktritt Bundeskanzler Erhards / Erst danach könne mit der sozialdemokratischen Zustimmung zum verfassungsändernden Stabilisierungsgesetz gerechnet werden, in: SZ , Nr. 189, 09.08.1966, S. 1. 51 Bringt die SPD Erhard zu Fall?, in: BILD; Nr. 183, 09.08.1966, S. 1. 52 Zit. nach: Diethelm Schröder, FDP lenkt ein – aber: »Erhard muß straffer führen«, in: BILD, Nr. 188, 15.08.1966, S. 1. 53 Die Bonner Kanzlerkrise schwelt weiter. Vorsichtige Vertrauensbekundungen aus der CDU / C SU für Erhard / Freie Demokraten aus Süddeutschland warnen Mende vor neuen Angriffen auf den Regierungschef / Meinungsverschiedenheiten innerhalb der SPD, in: SZ , Nr. 195, 16.08.1966, S. 1.
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der Opposition zu interpretieren, setzten sich nicht durch. Zwar titelte die FAZ , die »SPD setz[e] die Kampagne gegen Erhard fort«, erklärte aber im zugehörigen Artikel sogleich, dass es die Missklänge aus Union und FDP gewesen seien, die einen SPD -Sprecher zu der »rhetorische[n] Frage« veranlasst hätten, »wer denn eigentlich noch hinter Erhard stehe«.54 Auf bemerkenswerte Weise griff der SPIEGEL die Auseinandersetzung um das Stabilitätsgesetz auf. In der Geschichte zum Titel »Wirtschaftskrise in Deutschland?« suchte er die aktuelle Diskussion zeitlich und inhaltlich umfassend einzuordnen und ging mit Ludwig Erhard hart ins Gericht. Der parlamentarische Entscheidungsprozess in Bundestag und Bundesrat stand indes nicht im Mittelpunkt des Artikels.55 Genau so wenig ging es allein um die Schwierigkeiten, denen sich einige Unternehmen angesichts der Hochzinspolitik der Bundesbank gegenwärtig ausgesetzt sahen – und die einzelne Unternehmer, so der reißerische Aufmacher, in derartige Kapitalnöte trieb, dass sie sich an die 1930er Jahre erinnert fühlten und verzweifelt den Freitod wählten.56 Im Artikel wurde denn auch keine aktuell eingetretene umfassende ›Wirtschaftskrise‹ ausgemacht. Vielmehr war die Rede etwa von einer »wirtschaftliche[n] Situation«, die »[n]iemals seit der Korea-Krise […] differenzierter als heute« gewesen sei,57 oder einer »ruhigere[n] Gangart der Konjunktur«.58 Allerdings wurde eine ›Wirtschafts krise‹ – das ist der entscheidende Punkt – nicht mehr als allein theoretische Gefahr bezeichnet, sondern in den Raum zeitnah möglicher Entwicklungen gerückt. Als Ursache führte der Artikel zahlreiche finanz- und wirtschaftspolitische Versäumnisse an, von denen viele eng mit der Person Erhards verknüpft wurden. Kritisiert wurde insbesondere Erhards seit Jahren währende Aversion, sich auf den aktuellen Stand der keynesianischen Wirtschaftstheorie einzulassen und wirtschafts- und finanzpolitische Instrumentarien zu entwickeln, die Möglichkeiten einer effizienten Inflationsregulierung sowie Mechanismen zur Nachfragesteuerung im Falle eines konjunkturellen Abschwungs boten.59 Daneben monierte der Artikel die seit Jahren undisziplinierte, da die Einnahmeentwicklung krass übersteigende Ausgabenpolitik der öffentlichen Haushalte.60 Sie habe die aktuellen Inflationstendenzen ausgelöst, gegen die aufgrund der nicht vorhandenen Stabilisierungsinstrumentarien nur die Bundesbank mit 54 Die SPD setzt die Kampagne gegen Erhard fort. Regierungssprecher: Barzels Brief nichts Neues / Junge Union kritisiert die Wahlkampfführung des Bundeskanzlers, in: FAZ , Nr. 190, 18.08.1966, S. 3. 55 [Konjunktur] Tag X, in: DER SPIEGEL , Nr. 35, 22.08.1966, S. 18–29. 56 Vgl. ebd., S. 18. 57 Ebd., S. 18. 58 Ebd., S. 28. 59 Vgl. ebd., S. 23–25, 27 f. 60 Vgl. ebd., S. 19, 25.
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Abb. 3: DER SPIEGEL, Nr. 35, 22.08.1966, Titelbild (© DER SPIEGEL, 35/1966.)
ihrer Zinspolitik habe reagieren können.61 Aufgrund dieser drohe nun allerdings nicht wenigen Unternehmen ein Liquiditätsengpass.62 Thesen und Warnungen mündeten in eine unmissverständlich formulierte Prognose: »In den nächsten Monaten entscheidet sich, ob aus der Krise der Wirtschaftspolitik eine allgemeine Wirtschaftskrise wird. Bekommen Regierung und Parlament das Stabilisierungsgesetz nicht zustande und wird von den Möglichkeiten der Konjunkturpolitik wiederum nur deklamatorisch Gebrauch gemacht, dann ist auch die Bundesbank mit ihrer Kunst am Ende.«63 61 Vgl. ebd., S. 25, 27. 62 Vgl. ebd., S. 19 f. 63 Ebd., S. 29.
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Trotz solch eindeutiger Kritik verlor die Diskussion um das Stabilitätsgesetz genau wie die Frage der Kabinettsumbildung zunächst wieder an Fahrt – auch im SPIEGEL selbst.64 Erst als der Bundestag das Thema Mitte September debattierte, nahm sie erneut einen prominenten Platz in den analysierten Printmedien ein. Politische Kommentatoren griffen sie gleichwohl immer wieder auf. So dia gnostizierte der Leiter des SZ-Wirtschaftsressorts, Walter Slotosch, »emsige[ ] Versuche[ ] ehrgeiziger Politiker, dort Boden zu gewinnen, wo der Bundeskanzler ihn zu verlieren droht«.65 Deshalb versuchten sie sich »mit weitgreifenden Wirtschaftsprogrammen zu übertrumpfen« und wandten sich mit »›streng vertraulichen‹ Briefen an den Bundeskanzler, die dann bald in allen Zeitungen zu lesen« seien. Inhaltlich seien die Vorschläge wenig innovativ. Beispielsweise sei es hinlänglich Konsens, dass die »›Stabilisierungsgesetze‹ kein Ersatz für eine wache und bewegliche Wirtschaftspolitik« seien – einer brieflichen Intervention Barzels an Erhard, in der dieser seinen Parteichef aufgefordert hatte, »Perspektiven [zu] setzen« und ein »Gesamtprogramm zur Stärkung der Wirtschaftskraft« vorzulegen, habe es zu dieser Erkenntnis nicht bedurft.66 Die FAZ berichtete, Barzel mache den Kanzler für eine »pessimistische[ ] Grundstimmung« in der Gesellschaft verantwortlich und habe gewarnt, es könne »möglicherweise sogar ›eine Krise daraus folgen‹«.67 Ein vorläufiges Ende fand die Debatte nach dem 14. und 15. September. An diesen Tagen beriet der Bundestag in erster Lesung den Gesetzentwurf. Die SPD positionierte sich zwar kompromissbereit, machte ihr Votum jedoch von fünf Punkten abhängig, insbesondere der Präzisierung des ›gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts‹ und einer »außenwirtschaftliche[n] Ergänzung«.68 Nach diesen Sitzungstagen kehrte das Thema bis zum Rücktritt Erhards weder in die parlamentarische noch in die Diskussion der hier betrachteten Presse zurück.
64 Siehe hierzu die entsprechenden SPIEGEl-Ausgaben Nr. 36, 37 u. 38 vom 29.08.1966, 05.09.1966 u. 12.09.1966, die das Thema nicht weiter behandelten. 65 Walter Slotosch, Morgen, morgen, nur nicht heute, in: SZ , Nr. 197, 18.08.1966, S. 4. 66 Zit. nach: ebd. 67 Barzel treibt: Erhard soll Perspektiven zeigen. Nicht nur Stabilisierungsgesetze / »Pessimis tische Stimmung in der Bevölkerung« / Der Brief an den Bundeskanzler, in: FAZ , Nr. 188, 16.08.1966, S. 1, 4, hier S. 1. 68 Vgl. speziell die Rede Karl Schillers, Deutscher Bundestag [nachfolgend nur: Bundestag], 5. WP, 55. Sitzung, 14.09.1966, bes. S. 2672 C – 2674 A, Zitat S. 2673 D.
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Der folgenschwere Etatstreit War die Auseinandersetzung um das Stabilitätsgesetz am Ende eine Konfrontation zwischen Regierung und SPD -Opposition, stellte sich die Konstellation in der Etatfrage gänzlich anders dar. Hier lag der Kern des Streits mitten im Regierungsbündnis, immer wieder neu entfacht von kritischen Presse-Kommentatoren, die der Koalition mangelnden Sparwillen, wenigstens mangelnde Sparfähigkeit attestierten. Auf der Agenda erschien das Thema Mitte Juli, als Eckpunkte des Haushaltsentwurfs bekannt wurden; zunehmende Beachtung erlangte es ab Ende August, als FDP-Finanzminister Dahlgrün seine Pläne konkretisierte. Die Etatforderungen der einzelnen Ressorts, die mit circa 83 Milliarden D-Mark beziffert wurden, sollten so reduziert werden, dass sie dem angenommenen Steueraufkommen in Höhe von 74 Milliarden D-Mark entsprächen.69 Sofort – und ab Ende August verstärkt – setzte die Kritik ein, die sich bis in die Schlusstage des Kabinetts Erhard halten sollte. Der zunächst in der medialen Kommentierung zu beobachtende Vorwurf zielte darauf, dass die Pläne der Bundesregierung potenziell inflationstreibend seien. Das anvisierte Haushaltsvolumen von 74 Milliarden D-Mark liege mit einer Zuwachsrate von 7,2 % deutlich über der Zuwachsrate des Bruttosozialprodukts.70 Das von der Regierung in Anschlag gebracht Argument, der die Inlandsnachfrage tangierende – preisrelevante – Ausgabenzuwachs liege nur bei 4 % und damit im Bereich des erwarteten Wirtschaftswachstums, überzeugte nicht spezifizierte »Bonner Beobachter« kaum. Sie urteilten, der Haushaltsentwurf sei »alles andere als ein Beitrag zur Stabilisierung«.71 Ferner wurde eingewendet, der Etatplan stehe auf äußerst tönernen Füßen. Denn weder die Neuregelung der Einkommensteuerverteilung zwischen Bund und Ländern, die sich zu Nachteilen des Bundes auswirken werde, noch eine möglicherweise ablehnende Position der Bundesbank zur Finanzierung von Devisenhilfen an die USA seien einkalkuliert.72 Die Kritik beinhaltete mithin nicht nur Warnungen vor der Inflationsgefahr; indirekt rührte sie ebenso an die Schwierigkeit, die sich in den folgenden Wochen als zentral herauskristallisieren sollte: das Problem anhaltender Unwägbarkeiten im Etatentwurf und anhal69 Vgl.: Der Etatausgleich für 1967 zeichnet sich ab. Streichquintett will es ohne Steuererhöhung schaffen / K indergeld künftig aus Nürnberg?, in: SZ , Nr. 173, 21.07.1966, S. 7; Nächster Bundesetat: 74 Milliarden. Kabinett setzt den Haushaltsrahmen für 1967 fest, in: SZ , Nr. 177, 26.07.1966, S. 1 f. 70 Vgl. Franz Thoma, Etatkünstler am Werk, in: SZ , Nr. 178, 27.07.1966, S. 4. 71 Bonn vor schwierigen Haushaltsproblemen. Die Bundesregierung hat den Etat 1967 auf 74 Milliarden Mark begrenzt, die Anforderungen der Ressorts belaufen sich gegenwärtig jedoch auf über 80 Milliarden / Inflationistische Wirkungen befürchtet, in: SZ , Nr. 180, 29.07.1966, S. 1. 72 Vgl. Walter Slotosch, Beinahe hätte Bonn gespart…, in: SZ , Nr. 206, 29.08.1966, S. 4.
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tender Uneinigkeit darüber, wie das notwendige Sparen konkret bewerkstelligt werden könne.73 Ebendiese Disharmonie bestimmte fortan immer stärker die Debatte und aktualisierte permanent den Topos von der ›uneinigen Koalition‹. Erneut einen Monat später, Ende September, präsentierte der Finanzminister Einzelheiten der Sparpläne; unter anderem sollte die Kilometerpauschale für Pendler um 80 % gekürzt werden. Einmal mehr betonte Dahlgrün, Steuererhöhungen werde es nicht geben, wohl aber sollten die Einkommensteuerfreibeträge für Landwirte und freie Berufe wegfallen.74 Obgleich die Pläne verbindlich klangen, konnten sie es nicht sein. Durch das Haushaltsrecht des Bundestags kamen nun endgültig die Fraktionen ins Spiel. Deren Eingreifen in die Etatplanung las sich nachfolgend wie ein permanenter Schlagabtausch zwischen Union und Liberalen. So schrieb die SZ in einem Bericht über eine CSU-Landesversammlung, an der Fraktionschef Barzel teilgenommen hatte: »Zu den akuten Diskussionen um Sparmaßnahmen im Haushalt und die entsprechenden Einsparungsbeschlüsse der Bundesregierung sagte Barzel, die Fraktion sei in ihren Entscheidungen frei.«75 Einen Tag später berichtete das gleiche Blatt: »Die Schwierigkeiten mit dem Ausgleich des Bundeshaushalts 1967 überschatten immer mehr alle Besprechungen und Entscheidungen der Bonner Koalitionsregierung […]«.76 Weiter hieß es, »Spitzenpolitiker der FDP forderten […] drastische Kürzungen im Wehretat. Der Fraktionsvorstand der CDU / C SU widersetzte sich […] sofort dieser Forderung. Auch in einem […] zweiten Koalitionsgespräch konnte keine Einigung erzielt werden.«77 Am 25. Oktober, zwei Tage vor dem Bruch des christlich-liberalen Bündnisses, erklärte die Münchner Zeitung schließlich: »Das Problem einer Steuererhöhung zur Deckung der Ausgaben im Bundeshaushalt 1967 bildete […] den Kernpunkt der haushaltspolitischen Erörterungen zwischen den Koalitionspartnern […]. Schon vor dem Koalitionsgespräch […] ließen FDP-Politiker keinen Zweifel daran, daß sie allen Steuererhöhungen 73 Siehe exemplarisch auch: [Haushalt] Unerhörte Leistung, in: DER SPIEGEL , Nr. 37, 05.09.1966, S. 36. 74 Vgl. Kabinett streicht Steuervergünstigungen. Die Kilometerpauschale für Autofahrten zum Arbeitsplatz von 50 auf 10 Pfennig gekürzt [/] Freibeträge für freie Berufe und Landwirte fallen fort / Das Parlament muß noch zustimmen, in: SZ , Nr. 235, 01./02.10.1966, S. 1 f., hier S. 1. 75 Martin Rehm, Strauß kritisiert Bonner Außenpolitik. Es wurden keine klaren Prioritäten gesetzt, bemängelt der CSU-Vorsitzende vor der Landesversammlung in München / Wirtschaftspolitisches Programm / Es muß klar werden, wohin wir wollen, sagt auch Erhard, in: SZ , Nr. 242, 10.10.1966, S. 1 f., hier S. 1. 76 FDP fordert Kürzungen im Wehretat. Bei einem Koalitionsgespräch lehnen die Freien Demokraten sowohl eine Einschränkung der Sparförderung als auch Steuererhöhungen aufs neue ab / Anregungen zum Haushaltsausgleich, in: SZ , Nr. 243, 11.10.1966, S. 1. 77 Ebd.
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widersprechen würden, die lediglich der ›Flickarbeit‹ am Bundeshaushalt 1967 dienen sollten und mit den Zielen einer mittelfristig angelegten Finanzplanung nicht übereinstimmten.«78 Verstärkt wurde die Betonung der Uneinigkeit durch eine kleine Meldung – unscheinbar in der Randspalte der Titelseite platziert –, der zufolge die FDP nach den Worten ihres Parteivorsitzenden Erich Mende »grundsätzlich bereit [sei], auch mit den Sozialdemokraten eine Koalitionsregierung einzugehen«.79 SZ-Wirtschaftsredakteur Walter Slotosch urteilte, nun habe »die Krise der Staatsfinanzen ein Ausmaß erreicht, das uns an den Rand einer Regierungskrise bringt«.80 Wie treffend seine Einschätzung war, zeigte der Leitartikel tags darauf. Er handelte von der »Koalitionskrise«, die zur »Kanzlerkrise« werden könne.81 Demnach erwecke ein überraschender Vorschlag Erhards, eine sechsprozentige Zusatzabgabe auf Einkommen-, Körperschaft- und Lohnsteuer einzuführen, »den Eindruck, daß man auf einen Bruch« der Koalition zusteuere.82 Genauso erklärte jetzt BILD : »Die Krise hatte begonnen, als im ersten Koalitionsgespräch in der Nacht das Wort ›Steuererhöhungen‹ fiel.«83 Gemeinhin wurden die Positionen der Koalitionäre als »unvereinbar« und der Etat 1967 als »Schicksal der Koalition« interpretiert; denn »[w]ährend die CDU / C SU eine Kombination von Ausgabenverminderungen und Einnahmenverbesserungen (sprich Steuererhöhungen) für unvermeidlich [halte], plädier[e] die FDP allein für Ausgabeneinschränkungen«.84 Und in der Tat: Einen Tag später traten die FDP-Minister zurück. Zwar hatten sie kurzzeitig doch noch Steuererhöhungen als Teil eines Kompromisses akzeptieren wollen, falls Ausgabenreduzierungen und Subventionsabbau nicht ausreichten, waren mit diesem Plan aber vor der Fraktion gescheitert. In einem »Von Krise zu Krise« betitelten Artikel urteilte das Handelsblatt tags darauf differenziert: Für die nun eingetretene »Krisensituation« sei Erhards »Autoritätsverlust« genauso ursächlich wie die öffentlich ausgetragenen Meinungsverschiedenheiten von Regierungspolitikern.85 Die so entstandene »Desintegration in der Union wie in der Koalition« habe bewirkt, dass am Ende eine einzelne Sachauseinandersetzung wie 78 Neue Etatberatungen der Koalition. FDP: Steuererhöhungen nur zusammen mit einem mehrjährigen Finanzplan, in: SZ , Nr. 255, 25.10.1966, S. 1 f., hier S. 1. 79 Mende: Auch zur Koalition mit der SPD bereit, in: SZ , Nr. 255, 25.10.1966, S. 1. 80 Walter Slotosch, Die Finanzkrise schwelt weiter, in: SZ , Nr. 255, 25.10.1966, S. 4. 81 CDU und FDP finden kein Haushaltskonzept. Koalitionskrise kann zur Kanzlerkrise werden. Einigen sich die Regierungsparteien erst nach einer Ablösung Erhards?, in: SZ , Nr. 256, 26.10.1966, S. 1 f. 82 Ebd., S. 1. 83 Erhard, was nun? FDP und Bayern machen nicht mehr mit: Keine neuen Steuern! in: BILD, Nr. 250, 26.10.1966, S. 1 f., hier S. 2 [bei der Fortsetzung auf Seite 2 als »Die Bonner Koalitions-Krise« betitelt]. 84 Hans Schuster, Die Koalition vor dem Zahltag, in: SZ , Nr. 256, 26.10.1966, S. 4. 85 Sigmar Heilmann, Von Krise zu Krise, in: Handelsblatt, Nr. 207, 27.10.1966, S. 1.
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die Haushaltsfrage »den Krisenfunken zünden und den Bestand der Regierung selbst in Frage stellen konnte«.86
2. Eine ›Krise‹ politischer Steuerung? Herbst 1966 Mit dem Scheitern des konservativ-liberalen Regierungsbündnisses prägten schlagartig neue Deutungs- und Redeweisen, Argumente und Forderungen den politischen Kommunikationsraum. Charakteristisch für diese erste explizit und verbreitet als ›Krise‹ interpretierte Phase war der Topos der ›großen Dringlichkeit‹. Er war strukturiert nach der Form ›Die Bildung einer neuen, handlungsfähigen (und sodann zügig handelnden) Regierung ist unaufschiebbar notwendig, weil…‹ Die Aussagen, die zur Begründung angeführt wurden, wiederum lassen sich kategorial den Topoi des ›möglichen wirtschaftlichen Einbruchs‹, der ›umfassenden Destabilisierung‹ und der ›geschichtlichen Erfahrung‹ zuordnen. Die Sprachmuster von der potenziellen ökonomischen Problemlage und der weitreichenden Destabilisierung basierten dabei auf – mit Bedingungen versehenen – Warnungs- respektive Hoffnungsprognosen. Sie entsprachen der Form ›Wenn (nicht) zügig gegengesteuert wird, droht (k)eine Wirtschaftskrise‹ beziehungsweise ›Falls (nicht) schnell eine neue Regierungsmehrheit gebildet wird, droht aus der Regierungs- (k)eine Staatskrise zu werden‹. Speziell letzterer Topos knüpfte dabei an jene Zielvorstellung an, deren Erreichen in der Redeweise vom ›führungsschwachen Kanzler‹ indirekt als dringend erforderlich formuliert worden war: eine stabile, gut organisierte und geleitete Regierung, die klare Ziele verfolgt. Aus der Historiografie zur Krise 1966/67 wohl vertraut ist der Topos der ›geschichtlichen Erfahrung‹. Erklärungen der Form ›Aus der Geschichte Weimars wissen wir, dass eine krisenhafte wirtschaftliche Lage gravierende politische Verwerfungen nach sich ziehen kann, deshalb tut entschiedenes politisches Handeln, vor allem eine rasche Regierungsbildung, nun Not‹ kamen mehrfach vor. Allerdings – und an dieser Stelle erscheint das in der Geschichtsschreibung dominierende Bild zugleich verzerrt und verzerrend – traten diese Argumente im hier untersuchten Korpus nur vereinzelt und in einem sehr überschaubaren Zeitraum auf, insbesondere im Vor- und Umfeld der Wahlen in Bayern und Hessen. Dass die politischen Akteure in der Bundesrepublik von einer grassierenden Furcht vor einer Wiederholung Weimarer Verhältnisse erfasst worden wären, kann kaum behauptet werden. Aufschlussreich ist ein Blick darauf, wer sich der genannten Aussageweisen primär bediente und die Debatten besonders bestimmte. In den auf diese Weise eingenommenen Rollen zeigen sich deutliche Unterschiede im Vergleich zum 86 Ebd.
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Vor-›Krisen‹-Sommer. Dass nun deutlicher als zuvor SPD -Politiker in Erscheinung traten, erstaunt kaum. Erklärbar ist dies sowohl durch die antagonistische Positionierung von Opposition und (bisheriger) Regierung als auch angesichts ihres unmittelbaren eigenen politischen Ziels der Regierungsbeteiligung. Hingegen überrascht durchaus, wie offensiv und appellativ die BILD -Zeitung agierte, die sich nicht scheute, ihre Überschriften und Thesen als Forderungen zu formulieren, während Qualitätszeitungen wie SZ und FAZ sowohl zurückhaltender als auch ausführlicher berichteten. Wie, in welchen Situationen und von wem die Topoi aufeinander bezogen und als Argumente eingesetzt wurden, zeigen nachfolgende Beispiele.
Krise durch Stillstand? Das Dilemma der politischen Stagnation Der November 1966 zeichnete sich in doppelter Hinsicht als Monat des Übergangs aus. Zum einen insoweit, als dass an seinem Ende die Suche nach einem neuen Regierungsbündnis beendet, Ludwig Erhard zurückgetreten und der Bildung der Großen Koalition unter Kurt Georg Kiesinger der Weg geebnet war. Zum anderen, weil sich im Monatsverlauf die Anzeichen verdichteten, dass ein spürbarer konjunktureller Rückgang bevorstehen könnte. Der Sachverständigenrat warnte in seinem am Monatsende veröffentlichten Jahresgutachten vor der »Gefahr einer Rezession« für den Fall, dass sich der Trend eines Nachfragerückgangs fortsetze;87 in seiner Monatsübersicht zur Konjunkturentwicklung machte das Handelsblatt für die Bundesrepublik eine »fortschreitende Abkühlung des Konjunkturklimas« aus.88 Anders als angesichts der gängigen Etikettierung als ›Wirtschaftskrise 1966/67‹ zu vermuten, waren es jedoch zunächst nicht die ökonomischen Warnsignale, die die Angst vor einer anhaltenden ›Krise‹ schürten. Vielmehr speisten sich entsprechende Zeitdiagnosen und, stärker noch, Warnungsprognosen aus der Furcht vor einer fortgesetzten politischen Destabilisierung durch eine langwierige und schwierige Regierungsneubildung. Die Meldungen über mögliche ökonomische Probleme, zumindest bislang ungewohnte volkswirtschaftliche Rahmenbedingungen, waren für diese Ängste nicht ausschlaggebend, sondern wirkten eher katalysatorisch. Dies unterstrichen auch die aufkommenden Kompositumformen des Krisenbegriffs. Für (partei-)politische Argumentationen genutzt wurde der Topos der ›großen Dringlichkeit‹, der, speziell von den Sozialdemokraten, begründet wurde mit 87 Sachverständigenrat, Expansion und Stabilität, S. 1. 88 Die Konjunktur in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Monatliche Analyse der in der »Top-Five«-Gruppe zusammengeschlossenen Zeitungen, in: Handelsblatt, Nr. 221, 18./19.11.1966, S. 16.
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dem Topos der ›umfassenden Destabilisierung‹. Sie warnten, es drohe eine sich aus der ›Koalitionskrise‹ ergebende ›Staats-‹ oder ›Dauerkrise‹, sofern nicht entweder zügig Neuwahlen angesetzt oder eine neue Regierung unter Beteiligung der SPD gebildet werde. Besonders gut zu beobachten war diese Argumentation in der Bundestagsdebatte vom 8. November 1966, als die Sozialdemokraten beantragten, der Bundestag möge den amtierenden Bundeskanzler ersuchen, die Vertrauensfrage nach Artikel 68 des Grundgesetzes zu stellen. Obgleich eine sozialliberale Mehrheit der Abgeordneten dem Antrag zur Annahme verhalf, weigerte sich Erhard, die Vertrauensfrage tatsächlich zu stellen.89 Von besonders großem exemplarischem Wert war die Begründung, die der SPD -Abgeordnete Karl Mommer anführte. Denn sie wies gleichzeitig die Topoi der ›großen Dringlichkeit‹, des ›möglichen wirtschaftlichen Einbruchs‹ sowie der ›geschichtlichen Erfahrung‹ auf. Mommer argumentierte, die Parlamentarier müssten nun aktiv werden, da »die Krise [im] Lande so schwer [sei] – eine Finanzkrise, Krisenerscheinungen in der Wirtschaft – und begünstigt durch die fortschreitende Abnahme der Autorität der Regierung in Bonn, der Neonazismus sein Haupt erheb[e].«90 Sein Fraktionskollege Herbert Wehner ergänzte die Argumentation und schrieb der CDU / C SU die Verantwortung für die gegenwärtige Lage zu. Deren Vertreter forderte er auf, Stellung zu nehmen »angesichts der Koalitionskrise, angesichts der politischen Krise in der CDU / C SU und angesichts der Tatsache, daß diese Krise von der jetzt mit der Minderheitsregierung regierenden CDU / C SU auf unseren Staat übertragen wird.«91 Er leitete die Forderung nach Neuwahlen ab; sie seien die »anständigste und […] sauberste Art der Überwindung dieser Krise«.92 Der Vorschlag zeigte, dass die ›Krise‹ – trotz der angeführten Finanz- und Wirtschaftsprobleme – zu diesem Zeitpunkt zuvorderst als Problem der fehlenden Regierungstätigkeit, als Mangel an politischer Ordnung und Steuerung, begriffen wurde. Auch die ökonomischen Schwierigkeiten, so Wehner weiter, seien dem zaudernd-zurückhaltenden Verhalten 89 Mit seiner Weigerung, dem Ersuchen nachzukommen, befand sich Erhard rechtlich in einer neuartigen Situation – da Artikel 68 des GG bis dato nicht angewendet worden war –, aber aus heutiger Sicht auf sicherem Terrain. Grundgesetz-Kommentare beurteilen die Frage, ob ein solches Ersuchen seitens des Bundestags möglich ist, unterschiedlich, sind sich aber einig, dass es in jedem Fall rechtlich nicht bindend ist. Siehe statt anderer: Oldiges, Artikel 68, Rdn. 27, der einen solchen Antrag nicht nur als »rechtlich unverbindlich, sondern wegen des von [ihm] ausgehenden politischen Drucks« auch als »verfassungsrechtlich unzulässig« betrachtet, sowie Jarras und Pieroth, Kommentar, die unter Art. 68, Rdn. 1 vertreten, dass der Bundeskanzler an ein »Vertrauensfrageersuchen des Bundestags« schlicht »nicht gebunden« sei. Den Antrag selbst halten sie indes für »nicht unzulässig« (ebd., Art. 67 [sic!], Rdn. 3). 90 Karl Mommer, Bundestag, 5. WP, 70. Sitzung, 08.11.1966, S. 3280 C. 91 Herbert Wehner, Bundestag, 5. WP, 70. Sitzung, 08.11.1966, S. 3296 D. 92 Ebd., S. 3297 B.
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der Regierung anzulasten, denn die »Wirtschaft« sei »durch die politischen Versäumnisse der bisherigen Regierung in die Gefahr der Stagnation und des Rückschlags geraten«.93 »Durch sofort einzuleitende Maßnahmen [müsse] der deutschen Wirtschaft die Möglichkeit geschaffen werden, in einen neuen Aufschwung einzutreten, damit in Zukunft Stabilität und Wachstum gleichermaßen gesichert« seien.94 FDP-Fraktionschef Knut von Kühlmann-Stumm teilte die Diagnose einer »gegenwärtige[n] Krise«, und auch er nutzte diese Feststellung als Argument, um die Forderung abzuleiten, das »Land brauch[e] so schnell als möglich eine handlungsfähige Regierung«.95 Unionspolitiker formulierten hingegen zurückhaltender und bestritten die Krisendiagnosen teils ausdrücklich. Rainer Barzel wies Herbert Wehners Vorwürfe dezidiert zurück. Er erklärte, Wehner selbst habe gesagt, nun werde »es ernst, bisher [sei] es nur feierlich [gewesen]. Wenn dies [seine] Meinung [sei], dann sollte man nicht zugleich von Staatskrise sprechen.«96 Bundeswirtschaftsund Finanzminister Kurt Schmücker (CDU) gestand mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung zwar »gegenwärtige[ ] Schwierigkeiten« ein, vermied aber die Klassifizierung als ›Krise‹.97 Vielmehr erlebe die Bundesrepublik eine »Normalisierung der Wachstumsbedingungen« sowie einen »ausgeprägten Anpassungs- und Konsolidierungsprozeß«.98 Mit dieser Sichtweise standen die Vertreter der Union indes am Rande. Denn die mediale Darstellung der gegenwärtigen Lage entsprach in weiten Teilen ähnlichen Einschätzungen, wie sie innerhalb des Parlaments SPD und FDP vertraten. Vor allem BILD agierte ungewöhnlich offensiv. Bereits unmittelbar nach dem Koalitionsbruch forderte das Boulevardblatt den Rücktritt des Minderheitskabinetts und die zügige Bildung einer neuen Bundesregierung. Der Topos der ›großen Dringlichkeit‹ zeigte sich in den folgenden vier Wochen wiederholt. Ende Oktober hieß es: »Deutschland braucht eine starke Regierung«, doch »[a]us dieser sehr schwierigen, wenn auch nicht hoffnungslosen Situation führt uns keine Regierung mit verbrauchten Leuten heraus«.99 Nach zehn weiteren Tagen der Ungewissheit forderte das Blatt: »Macht Schluß mit den politischen Querelen in Bonn!«, denn »[n]ur eine starke Regierung kann unsere Wirtschaft wieder ankurbeln und unser Staatsschiff wieder flott machen.«100 Zwei Wochen später, im Anschluss an die Landtagswahl in Bayern, appellierte die Zeitung 93 Ebd., S. 3299 A. 94 Ebd. 95 Knut von Kühlmann-Stumm, Bundestag, 5. WP, 70. Sitzung, 08.11.1966, S. 3302 A. 96 Rainer Barzel, Bundestag, 5. WP, 70. Sitzung, 08.11.1966, S. 3300 A. 97 Kurt Schmücker, Bundestag, 5. WP, 70. Sitzung, 08.11.1966, S. 3305 D. 98 Ebd., S. 3305 C – 3305 D. 99 Werft das Handtuch!, in: BILD, Nr. 253, 29.10.1966, S. 1. 100 Immer wenn es kriselt, in: BILD, Nr. 261, 08.11.1966, S. 1.
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sogar direkt an die Politiker: »Deutschland braucht jetzt schnell eine neue, starke Regierung. […] BILD bittet alle verantwortlichen Politiker: Krempelt die Ärmel hoch! Packt die Krise in den Schrank!«101 Der eindringliche Appell war verbunden mit einer kombinierten Warnungs- und Hoffnungsprognose. Warnung vor einer Krise, Hoffnung darauf, dass diese Krise zu vermeiden sei, sofern zeitnah zügig und entschlossen gehandelt werde: »Wenn Bonn jetzt handelt, wird es weder eine Wirtschaftskrise noch eine Staatskrise geben! Und mit der Finanzkrise können wir fertig werden, wenn alle zusammenarbeiten und jeder etwas zurücksteckt!«102 Mit dieser Form der Prognose, deren zeitliche Tiefe unbestimmt, aber offenkundig gering war, und die gleichermaßen vor einer Gefahr warnte und eine Problemlösung vorschlug, bediente sich BILD eines für die konstituierenden Phasen von Krisendiskursen typischen Sprachmusters. Es ermöglichte, eine Forderung (›zügige Bildung einer neuen Regierung‹) mit einem klar benannten, als erreichbar bezeichneten und prinzipiell für jedermann erstrebenswert erscheinenden Ziel (›Krise vermeiden‹) zu verbinden. Dies verlieh der Forderung zugleich Plausibilität und Relevanz. BILD konkretisierte die Forderung sogar und sprach sich explizit für eine Große Koalition aus, denn »CDU / C SU und SPD [wüssten] genau, was zur Überwindung der Finanzkrise und zur Vermeidung der Wirtschaftskrise not tut: 1. Unsere Finanzen müssen in Ordnung gebracht werden. Wir brauchen dazu ein Stabilitätsgesetz, klare Vereinbarungen zwischen Bund und Ländern, einen langfristigen Finanzplan. Das ist wahrscheinlich ohne Verfassungsänderung nicht möglich. Dafür brauchen wir CDU / C SU und SPD.«103
Noch deutlicher zu erkennen war dieser Argumentationsmodus in den Kommentaren zu den Wahlergebnissen bei den hessischen und den bayerischen Landtagswahlen.
Hessen und Bayern: (k)ein neues Weimar? Wie angedeutet, fußten die Begründungen, weshalb es eile, eine neue Koalition zu bilden, auch auf dem Topos der ›geschichtlichen Erfahrung‹. Im Zusammenhang mit den NPD -Wahlerfolgen in Hessen und Bayern wurden wiederholt Warnungsprognosen geäußert, die mahnten, die Lehren aus der Weimarer Entwicklung nicht außer Acht zu lassen. Das Argument lief darauf hinaus, aus der 101 [Nach der Wahl in Bayern: Auf geht’s in Bonn!] Packt die Krise in den Schrank! 1. Deutschland braucht schnell eine starke Regierung. 2. Finanzen ordnen!, Industrie ankurbeln!, Staat modernisieren!, in: BILD, Nr. 272, 22.11.1966, S. 1, 6, hier S. 1. 102 Ebd. 103 Ebd., S. 6. Hervorhebung im Original.
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Abb. 4: BILD, 08.11.1966, S. 1 (© Axel Springer Syndication GmbH.)
historischen Erfahrung einen nahezu unvermeidlichen Konnex zwischen einer sich verschärfenden wirtschaftlichen Lage, Wahlerfolgen einer rechtsradikalen Partei und politischer Destabilisierung abzuleiten. So mahnte BILD nach der Wahl in Hessen: »Die deutsche Geschichte lehrt immer wieder: Wenn die Wirtschaft kriselt, wenn Arbeitsplätze wackelig werden, dann gibt der Wähler gerne Radikalen seine Stimme. Noch sind es nur acht Prozent. Noch sind sie keine Gefahr für unseren demokratischen Staat, sondern nur ein Alarmsignal.«104 Die Plausibilisierung der Gefahr erfolgte über die Warnung vor einem möglichen künftigen Szenario, für das die aktuelle Lage zunächst lediglich einen Frühindikator darstellte. Eindringlich veranschaulichte das Boulevardblatt seinen Mahnruf durch eine Grafik, die dem Artikel vorangestellt war. Sie suggerierte die Gefahr unheilvoller Kontinuitätslinien, ohne diese ausdrücklich zu prognostizieren. Der leere Kreis auf der rechten Seite zeigte an, dass die Zukunft offen, 104 Immer wenn es kriselt, in: BILD, 08.11.1966, S. 1.
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die Gefährdung durch den Rechtsradikalismus vorhanden, aber kein unabwendbares Schicksal sei. Wenngleich im Versuch, die NPD -Erfolge zu erklären und einzuordnen, sehr viel ausführlicher, sollte knapp drei Wochen später auch der SPIEGEL im Tenor seiner Titelgeschichte vergleichbar argumentieren.105 Für die aktuellen NPD -Erfolge machte er indes stärker die politische Situation, unter anderem die »politisch-parlamentarische[ ] Handlungsunfähigkeit in Bonn«106, das »Finanzdesaster[ ]«107 und einen »Autoritätsverfall[ ]«108 sowie die »plötzliche Politisierung offenbar mit sich und dem Bonner Staat unzufriedener Bürger«109 verantwortlich. Daneben kritisierte er die Ratlosigkeit der politischen Klasse, wie der NPD angesichts von einem offenkundig weiterhin vorhandenen rechtsradikalen Wählerpotenzial von bis zu 15 Prozent entgegenzuwirken sei.110 Im Bundestag warnte Knut von Kühlmann-Stumm Anfang November für die Liberalen vor »jene[n] politischen Kräfte[n] außerhalb des Bundestages […], die in Obstruktion und destruktiver Kritik die gegenwärtige Krise für ihre parteipolitischen Ziele ausnutzen wollen.«111 Um dies zu verhindern, sei »so schnell als möglich eine handlungsfähige Regierung« notwendig, ihre »Bildung [dürfe] nicht länger hinausgezögert werden.«112 Mithin verband Kühlmann-Stumm die Warnung vor zunehmender Stärke rechtsradikaler Kräfte mit dem Topos der ›großen Dringlichkeit‹, um sein Ansinnen einer zügigen Koalitionsfindung zu untermauern. Wie die Zitate zeigen, traten Argumente, die über das Muster der ›geschichtlichen Erfahrung‹ begründet wurden, somit zwar zutage, doch eben nicht in dem Ausmaß, das die Historiografie oftmals unterstellt. Von einer verbreiteten Angst vor einer Wiederholung Weimarer Verhältnisse konnte keinesfalls die Rede sein. Weder in großer Anzahl noch über einen längeren Zeitraum hinweg kamen die Weimar-Vergleiche auf. Stattdessen handelte es sich um einen Deutungs-, präziser noch: Warnungsmodus, der lediglich in einer kurzeitig gegebenen, spezifischen Konstellation begründet erschien: in einem Moment, in dem die Bundesrepublik von einer Regierung ohne parlamentarische Mehrheit regiert wurde, Rechtsradikale in zwei Landtage einzogen und eine baldige konjunkturelle Abkühlung für denkbar gehalten wurde.
105 Wer Adolf will, in: DER SPIEGEL , Nr. 49, 28.11.1966, S. 33–41. 106 Ebd., S. 33 f. 107 Ebd., S. 34. 108 Ebd. 109 Ebd., S. 38. 110 Vgl. ebd., S. 33 f., 40. 111 Kühlmann-Stumm, Bundestag, 5. WP, 70. Sitzung, 08.11.1966, S. 3302 A. 112 Ebd.
Der Krise zentraler Akt? die ›Wirtschaftskrise‹ des Winters 1966/67
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Und selbst in dieser Situation mussten die Warnungen nicht zwingend einen ausdrücklichen Weimar-Bezug aufweisen. Beispielsweise verzichtete die SZ am Tag nach der hessischen Landtagswahl darauf, rückte stattdessen das auf 51 % verbesserte SPD -Ergebnis in den Mittelpunkt und berichtete, im Ton sehr zurückhaltend, dass die NPD ein weitaus besseres Ergebnis als erwartet erzielt habe und »damit zum erstenmal in ein deutsches Landesparlament einziehe[ ]«.113 Einen Krisenbezug stellte der Artikel über die angefügten Stellungnahmen der Politiker her; Herbert Wehner etwa deutete das NPD -Ergebnis als »Folge einer Verwechselung einzelner Parteien in Bonn mit dem Staat« und der »zunehmenden Krisenerscheinungen in der Bundesrepublik«.114
3. Der Krise zentraler Akt? die ›Wirtschaftskrise‹ des Winters 1966/67 Ende November schien fast allen Topoi, die bislang als konstitutiv für den Krisendiskurs angeführt wurden, der Boden entzogen. Mit der Einigung von Union und SPD auf Bildung der Koalition unter Kanzler Kiesinger existierte nicht länger ein Regierungs- und Führungsvakuum. Und in der Tat: Unmittelbar nachdem die SPD -Bundestagsfraktion zugestimmt hatte, die Koalition einzugehen, titelte BILD : »Das Land atmet auf: Die Krise in Bonn ist tot. Jetzt geht’s wieder Aufwärts [sic!]! Aber nur durch Opfer und Arbeit«.115 Die gleiche Deutung vornehmend, erklärte der neue Regierungschef am 13. Dezember 1966 in seiner ersten Regierungserklärung, der Regierungsbildung sei »eine lange, schwelende Krise vorausgegangen«, die zur Großen Koalition geführt habe und ergo nun vorbei sei.116 Ursache und Gegenstand der Krise seien »innenpolitische Schwierigkeiten, innerparteiliche Auseinandersetzungen und außenpolitische Sorgen« gewesen, »bis schließlich die Uneinigkeit über den Ausgleich des Bundeshaushalts 1967 und über die auf lange Sicht notwendigen finanzpolitischen Maßnahmen« das Ende der Koalition ausgelöst hätten.117 Beide Zitate veranschaulichen einmal mehr die (bis) zu diesem Zeitpunkt verbreitete Auffassung darüber, worin das ›Krisenhafte‹ bestanden habe. Überdies zeigen sie, dass auch zentrale 113 Die SPD hält ihre starke Position in Hessen. Die Ergebnisse der Landtagswahl: Zunahme der Sozialdemokraten / Verluste von CDU, FDP und BHE [/] NPD überwindet Fünf-Pro zent-K lausel und kommt zum erstenmal in einen Landtag, in: SZ , Nr. 266, 07.11.1966, S. 1. 114 Zit. nach: ebd. 115 Friedrich Ludwig Müller / Diethelm Schröder, [Nach hartem Kampf: SPD -Fraktion für große Koalition. Das Land atmet auf: Die Krise in Bonn ist tot] Jetzt geht’s wieder Aufwärts! Aber nur durch Opfer und Arbeit, in: BILD, Nr. 277, 28.11.1966, S. 1, 3. 116 Kurt Georg Kiesinger, Bundestag, 5. WP, 80. Sitzung, 13.12.1966, S. 3656 C. 117 Ebd.
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Akteure die Krise als überwunden und beendet betrachteten, in ihrer Deutung eine ›Krise‹ mithin nicht länger bestand. Bekanntlich setzte sich diese Sichtweise nicht durch. Vielmehr etablierte sich jetzt – mit Blick auf das gängige Narrativ der Krise 1966/67 sollte es heißen: erst jetzt – die Interpretation als Wirtschaftskrise. Anders gewendet: Die in den Wochen zuvor angelegte ›Krisen‹-Deutung erwies sich als stabil, lediglich der Objektbereich der Krisenaussagen änderte sich. Fortan bezogen sich Krisendiagnosen nicht mehr auf Union, Koalition oder den Staat, sondern auf die wirtschaftliche und – hier ergab sich Kontinuität – finanzpolitische Lage. Entscheidend für diesen folgenschweren Shift im Krisendiskurs, der sich in einem vordergründig unspektakulären Moment vollzog, erscheinen zwei Aspekte: Zum einen hätte ein anhaltendes Vorbringen der bisherigen Krisenaussagen nicht überzeugt, schließlich waren die als Krisenursachen gedeuteten Schwierigkeiten gelöst. Zum anderen kamen, wie wir sehen werden, binnen kürzester Zeit immer neue Meldungen über den sich beschleunigenden Konjunkturrückgang und das sich vergrößernde Haushaltloch auf. Performative Konsequenz des Bekanntwerdens dieser Nachrichten war die verbreitete Auffassung, sich nun in einer Wirtschaftskrise zu befinden. Betrachtet man den Sprachwandel auf einer abstrakteren Ebene, kann man ihn auf zwei Ursachen zurückführen: einen Plausibilitätsverlust bisheriger Redeweisen einerseits, die Perzeption exogener Ereignisse andererseits.118 Tragend für diese zweite Krisenphase, die bis Ende Januar 1967 anhalten sollte, waren fünf Topoi. Das erste Sprachmuster, veranschaulicht schon durch das eingangs angeführte BILD -Zitat, war jenes der ›notwendigen Opfer‹. Charakteristisch für dieses Sprachmuster waren Äußerungen der Form: ›Angesichts der ökonomischen und haushaltspolitischen Lage, muss jede(r) Opfer bringen‹. Im Zuge der Konkretisierung finanzpolitischer Maßnahmen entwickelte es sich zum Topos des ›erforderlichen Einsparens‹. Daneben trat das Sprachmuster der ›neuartigen Situation‹, das sich sowohl auf die konkreten, ›neuartigen‹ Schwierigkeiten als auch – umfassender und abstrakter – auf den Beginn einer ›neuen Zeit‹ beziehen konnte. In letztgenanntem Sinne verwendet, beschrieb es, dass den gegenwärtig diagnostizierten Schwierigkeiten mit bekanntem (wirtschaftspolitischem) Erfahrungswissen aus der bisherigen, noch jungen Geschichte der Bundesrepublik nicht adäquat zu begegnen sei. Wer diesen Topos nutzte, konnte auf sehr verschiedenen Reflexionsebenen agieren. Im Verlauf dieser Krisenphase, an deren Ende weitreichende Beschlüsse von Regierung und Parlament standen, kam verstärkt die Aussageform des ›notwendigen (Wachstums-)Impulses‹ hinzu. Relevanz erlangte sie speziell, um das Konzept des Eventualhaus118 Zu entsprechenden Erklärungsmodellen für semantischen Wandel vgl. Steinmetz, Vierzig Jahre Begriffsgeschichte, S. 187–192.
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haltes zu begründen und zu erklären, weshalb eine Leitzinssenkung seitens der Bundesbank erstrebenswert sei. Diesen Sprachmustern entgegengesetzt war ein fünftes: das der ›sich normalisierenden Wirtschafts- und Arbeitsmarktentwicklung‹. Diejenigen, deren Äußerungen dieser Grundform entsprachen, wandten sich explizit dagegen, die Situation als ›Krise‹ zu deuten. Stattdessen plädierten sie für eine Sichtweise, die in den Konsequenzen des Konjunkturrückgangs, speziell auf dem Arbeitsmarkt, eine Normalisierung der Verhältnisse erblickte, etwa eine Abkehr von dem unerwünschten Phänomen der Überbeschäftigung. Ihre Argumentation, sich gegen das Reden von einer ›Krise‹ auszusprechen, zeitigte indes einen paradoxen Effekt. Denn den Krisenbegriff explizit zurückzuweisen, ließ den Begriff dennoch zirkulieren. Damit stand er als ein vom jeweiligen Sprecher zwar abgelehntes, offenkundig aber denkbares Deutungsmuster im Raum. Im Übrigen erlaubt der Krisenbegriff in dieser Phase eine überraschende Beobachtung: Zwar spielte er durchaus eine tragende Rolle, nun zuvorderst in den Kompositumformen ›Wirtschafts-‹ und ›Finanzkrise‹ vorkommend. Verglichen mit der ersten Krisenphase ging seine Verwendungsrate jedoch zurück. Orientierte man sich bei der Interpretation der Jahre 1966 und 1967 eng und ausschließlich am Krisenbegriff, ließe sich folgern, für die Zeitgenossen sei der im Spätsommer und vor allem Herbst 1966 diskutierte Ausfall an politischer Steuerung in viel stärkerem Maße als ›Krise‹ begriffen worden als die wirtschaftlichen Verwerfungen des Winters 1966/67. So betrachtet erschiene die gängige Etikettierung der Krise als ›Wirtschaftskrise 1966/67‹ als verzerrende Darstellung. Sie verkürzt die Krise auf jene Probleme und Deutungen, die vornehmlich zwischen Mitte Dezember und Ende Januar die politischen Debatten und Zeitinterpretationen prägten.
›Krise‹ oder ›Normalisierung‹? Anfang Dezember 1966 schlug sich der Konjunkturrückgang in quantifizierenden Indikatoren nieder. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik ging die Wirtschaftsleistung insgesamt zurück. Wie dies zu deuten sei, war umstritten. Hatte die ZEIT in der zweiten Novemberhälfte von einer erkennbaren »Konjunkturabschwächung« geschrieben,119 klassifizierte das Handelsblatt die Lage nun als »leichte Rezession«.120 119 Kurt Simon, [Bei der Regierungsbildung ist höchste Eile geboten. Finanz- und Wirtschaftspolitik vertragen keine Pause.] Unter dem Zwang zum Handeln, in: DIE ZEIT, Nr. 47, 18.11.1966, S. 34. 120 Die Konjunktur in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Monatliche Analyse der in der »Top Five«-Gruppe zusammengeschlossenen Zeitungen, in: Handelsblatt, Nr. 238, 13.12.1966, S. 6.
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Der SPIEGEL schrieb in der ersten Dezemberwoche von »Konjunktur-Kälte«121 und zitierte aus einer Allensbach-Umfrage, der zufolge »mehr als 60 Prozent der Bundesbürger eine schwere Wirtschaftskrise« erwarteten.122 Zu lesen war von einer seit Monaten wachsenden Konsumzurückhaltung – einer »Krise, die von Nord bis Süd ins Portemonnaie« gewandert sei123 und viele Branchen treffe,124 darunter inzwischen auch die wichtige Automobilindustrie.125 Ferner sei die Industrieproduktion im Oktober im Vorjahresvergleich insgesamt gesunken und die Arbeitslosenzahl mit 150.000 zwar noch immer niedrig, aber um 50 Prozent gegenüber Ende 1965 gestiegen, während die Zahl offener Stellen merklich zurückgehe.126 Letzteres bedeute freilich zunächst nicht mehr als »Entspannung« am Arbeitsmarkt.127 Dennoch sei eine wichtige Akzentverschiebung zu beobachten, sowohl bei den Wirtschaftsforschungsinstituten als auch den Bonner Politikern.128 Die Bundesregierung mache jetzt die drohende »Schrumpfkrise«, auch Folge der gemessen an der zurückgehenden Inflation erfolgreichen Restriktionspolitik der Bundesbank, als »Hauptgefahr« aus, nicht länger die Geldentwertung; daher versuche sie, Bundesbankpräsident Blessing zu einer Diskontsatzsenkung zu bewegen.129 Im »Konjunkturbericht der Süddeutschen Zeitung« fasste Walter Slotosch zusammen: »Die Skala der Lagebeurteilung reicht von ›Normalisierung‹ bis ›Krise‹.«130 Er warnte, es sei gegenwärtig noch nicht abzuschätzen, »[w]ie tief und wie lang diese ›Rezession‹ sein« werde, man müsse jedoch »[m]indestens bis zum nächsten Frühjahr […] mit einer Fortsetzung der konjunkturellen Abschwächungstendenzen […] rechnen«.131 Das Zitat ist von großem exemplarischem Wert. Denn es veranschaulicht nicht nur die zu diesem Zeitpunkt vorherrschende Uneindeutigkeit einer möglichen Krisendiagnose. Es ist ferner ein Beispiel dafür, wie sich der (Wirtschafts-)Krisendiskurs maßgeblich konstituierte: nicht primär, und erst recht nicht allein, über das Thematisieren aktueller, bereits eingetretener Schwierigkeiten, sondern über Prognosen, Zukunfts erwartungen. Die zeitliche Tiefe dieser Erwartungen war ausgesprochen gering, speziell in Relation zu den in den 1960er Jahren grassierenden, inhaltlich und 121 [Krise] Angst steckt an, in: DER SPIEGEL , Nr. 50, 05.12.1966, S. 50–59, hier S. 52. 122 Ebd., S. 51. 123 Ebd., S. 50. 124 Vgl. ebd., S. 50–56. 125 Vgl. ebd., S. 56. 126 Vgl. ebd., S. 56 f. 127 Ebd., S. 57. 128 Vgl. ebd., S. 58 f. 129 Ebd., S. 59. 130 Walter Slotosch, [Konjunkturbericht der Süddeutschen Zeitung] Die Bremsen sind los, in: SZ , Nr. 295, 10./11.12.1966, S. 21. 131 Ebd.
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zeitlich weitreichenden Zukunftsplanungen.132 Anders formuliert: Die ökonomischen und wirtschaftspolitischen Erwartungshorizonte schrumpften schlagartig zusammen. Slotosch selbst machte sich den Krisenbegriff nicht zu eigen. Er sprach schlicht von »Schwierigkeiten […], die in letzter Zeit in unserer Wirtschaft sichtbar geworden« seien, und konzentrierte sich auf mögliche Konsequenzen. So könne der Einbruch noch stärker als erwartet ausfallen, falls 1967 die Nachfrage auf dem Weltmarkt nachlasse, was die exportorientierte Wirtschaft der Bundesrepublik signifikant spüren würde. Im Inland bereits unmittelbar zu merken sei ein Richtungswechsel auf dem Kapitalmarkt, was zeige, dass die »Politik des knappen Geldes, die Restriktion, […] praktisch zu Ende« sei.133 Ähnlich wie in der Vorwoche der SPIEGEL interpretierte Slotosch die Lage am Arbeitsmarkt. Auch dieser sei von einer Tendenzwende betroffen, die »konjunkturelle Entspannung« zeichne sich deutlich ab.134 71.000 Entlassungen im November 1966 bedeuteten eine Steigerung um den Faktor drei gegenüber November 1965, parallel dazu habe sich die Anzahl an Kurzarbeitern ebenso verdreifacht. Gleichwohl könne nicht »von einem ernsthaften Einbruch der Beschäftigung [die] Rede sein«; vielmehr handele es sich um einen Abbau der Überbeschäftigung, von dem insbesondere ältere Arbeitnehmer und »Hausfrauen« betroffen seien.135 Gerade an der Frage, wie der Arbeitsmarkt zu beurteilen sei, entzündete sich in den folgenden Tagen immer wieder die Diskussion über ›Krise‹ oder ›Normalisierung‹. Der Präsident der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, Anton Sabel, nutzte in einem SZ-Gespräch gleich beide Topoi; jenen der ›neuartigen Situation‹ sowie den der sich ›normalisierenden Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt‹. Die SZ konstatierte, die »Lage auf dem westdeutschen Arbeitsmarkt« habe sich »grundlegend gewandelt«.136 Daher rechne Sabel »mit einer weiteren Verschärfung der Situation«, einer Entwicklung, die »kritischer werden [könne], als wir vor kurzem noch geglaubt haben«.137 Dennoch sei der bundesdeutsche Arbeitsmarkt »›von einer Krise noch weit entfernt‹«.138 In den Tagen des Jahreswechsels 1966/67 spitzte sich die Situation zu. Die Nürnberger Bundesanstalt prognostizierte nun 500.000 Arbeitslose bis Ende Januar. Doch selbst angesichts dieser verschärften Situation beharrte Sabel dar132 Dazu umfassend: Metzler, Konzeptionen. 133 Slotosch, Die Bremsen sind los, in: SZ , 10./11.12.1966, S. 21. 134 Ebd. 135 Ebd. 136 [SZ -Gespräch mit Präsident Sabel] Die Zahl der Arbeitslosen wird weiter steigen. Aber noch immer gibt es mehr offene Stellen / »Von einer Krise noch weit entfernt«, in: SZ , Nr. 296, 12.12.1966, S. 6. 137 Zit. nach: ebd. 138 Zit. nach: ebd.
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auf, dass »von einer Krise nicht die Rede sein« könne.139 Vielmehr entwickle sich der Arbeitsmarkt in den unterschiedlichen Wirtschaftszweigen sehr different; in den meisten Branchen herrsche aber weiterhin Vollbeschäftigung.140 Doch nicht nur Sabel wies den Krisenbegriff zurück. Mitte Januar schrieb Hans Roeper, leitender FAZ-Wirtschaftsredakteur, energisch gegen Krisen behauptungen an. Zwar sei die »Zahl der Arbeitslosen […] etwa doppelt so groß wie im Vorjahr«, die »Investitionstätigkeit […] schwächer geworden« und die Bundesrepublik in einer »Periode allgemeiner Konjunkturabkühlung«, was ihn durchaus von einem »Desaster« sprechen ließ.141 Aber angesichts eines starken Exports, stabiler Banken und eines für die meisten Bürger fortgesetzt guten Einkommens könne »[v]on einer Krise […] jedenfalls keine Rede sein« – insbesondere dann nicht, wenn damit Analogien zu den 1930er Jahren ausgemacht werden sollten.142 Hier nutzte Roeper beinahe exakt das gleiche Vokabular wie Sabel, indes nicht nur bezogen auf den Arbeitsmarkt, sondern die gesamtwirtschaftliche Situation. Überdies zeigte das Beispiel Roepers, wie eng der Begriff ›Wirtschaftskrise‹ für einige Akteure mit den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise verknüpft sein konnte. Wenige Tage zuvor hatte in der gleichen Zeitung auch Ernst Günter Vetter in seiner Analyse der ökonomischen Situation den Krisenbegriff vollständig vermieden. Vetter sprach stattdessen von einer »augenblicklich[ ] schwierige[n] Lage« und einer »restriktiven Phase der Wirtschaft«.143 In ähnlicher Weise hatten sich Karl Schiller und Franz Josef Strauß am Ende der ersten Januarwoche mit den Worten zitieren lassen, die »deutsche Wirtschaft [sei] nicht in der Krise«, sondern die Bundesrepublik leide »lediglich [unter] ein[em] Wirtschaftstief, das überwunden werden« müsse.144 Es liegt nahe, anzunehmen, dass die Minister mit dieser spitzfindig anmutenden Bemerkung zuvorderst einer weiteren Verunsicherung und negativen wirtschaftspsychologischen Effekten entgegenwirken wollten. Allerdings kann man die Formulierung auch vor dem Hintergrund der Semantik von ›Krise‹ interpretieren, die sich in den Vorwochen etabliert hatte. Unter diesem Blickwinkel handelte es sich in der Tat nicht um eine Krise; schließlich war das Führungsvakuum behoben, und
139 Zit. nach: Noch immer überwiegt die Vollbeschäftigung. Höhere Produktivität bei verringerter Belegschaft / Präsident Sabel: Keine Krise, in: SZ , Nr. 1, 02.01.1967, S. 7. 140 Vgl. ebd. 141 Hans Roeper, Die abgekühlte Konjunktur, in: FAZ , Nr. 13, 16.01.1967, S. 1. 142 Ebd. 143 Ernst Günter Vetter, Konzertierte Vernunft, in: FAZ , Nr. 10, 12.01.1967, S. 1. 144 Zit. nach: [Strauß und Schiller sollen den Karren aus dem Dreck ziehen. BILD fragte beide Minister: Wie?] Der kleine Mann bleibt ungeschoren. – Unser Wirtschaftsmotor läuft – Die Arbeitslosen hauen uns nicht um – Verbraucher sollen sich normal verhalten – Auch zu viel Sparsamkeit ist nicht immer gut – Manche Unternehmer könnten Preise senken – Einkommen- und Lohnsteuer werden nicht erhöht, in: BILD, Nr. 6, 07.01.1967, S. 1.
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die neue Regierung sah sich – speziell in der Selbstwahrnehmung der beiden Ressortchefs – den haushaltspolitischen und konjunkturellen Schwierigkeiten nicht handlungsunfähig gegenüber.
Deckungslücke reloaded: Die Etatproblematik als Argument für ›notwendige Opfer‹ Vom Amtsantritt an kommunizierte die neue Bundesregierung sehr offensiv die Schwierigkeit der weiterhin prekären Haushaltslage. Dabei nutzte sie die Beschreibung der Etatsituation, um zu begründen, dass Ausgabenkürzungen unumgänglich und Steuererhöhungen wahrscheinlich seien. Das Argument fand seine Zuspitzung im Topos der ›notwendigen Opfer‹. In der hier betrachteten Presse wurde es rasch rezipiert und kaum infrage gestellt, sodass es sich schnell verbreitete. In seiner Regierungserklärung bezeichnete Kiesinger es als »nächstliegende Sorge […], den Haushalt 1967 auszugleichen«.145 Es müsse »gelingen, den verlorengegangenen finanziellen Spielraum für [die eigenen] politischen Entscheidungen wiederzugewinnen«, weil andernfalls »die Haushalte der kommenden Jahre nur noch die Zwangsvollstreckung früherer Regierungsvorlagen und Parlamentsbeschlüsse« wären.146 Der Kanzler verknüpfte das aktuelle Problem mit der Sorge um künftige Handlungsspielräume. Es handelte sich um eine kombinierte Warnungs- und Hoffnungsprognose: Warnung vor einer dauerhaften Beschneidung politischer Entscheidungsspielräume, falls jetzt nicht gehandelt werde, Hoffnung und Zuversicht darauf, diese Spielräume zu erhalten oder wiederzuerlangen seien, falls jetzt gehandelt werde. Auf eine ganz ähnliche Quintessenz kam BILD im Bericht über das Regierungsprogramm. Das Blatt forderte auf zu der »Einsicht, daß wir alle Opfer bringen müssen«, und machte zugleich Mut, indem es prognostizierte, »[j]e eher das alle begr[if]fen – Regierung, Parlament und Bevölkerung – desto schneller könn[t]en [sie] die Krise in den Schrank packen«.147 Genauso argumentierte Kiesinger in seiner Weihnachtsansprache, die Haushaltspolitik müsse – gerade mit Blick auf künftige Haushaltsjahre – »in Ordnung« gebracht werden, um innen- und außenpolitische Handlungsspielräume zu bewahren.148 Bundespräsident Heinrich Lübke appellierte eine Woche später in seiner Neujahrsansprache, in einer »solchen Notzeit« nicht länger »Einzel- und Grup145 146 147 148
Kiesinger, Bundestag, 5. WP, 80. Sitzung, 13.12.1966, S. 3657 A – 3657 B. Ebd., S. 3660 A. Guter Start, in: BILD, Nr. 291, 14.12.1966, S. 1. Kiesinger, Wille zum Frieden und zur Verständigung, S. 1313.
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peninteressen« zu verfolgen, sondern eigene Einschränkungen zugunsten des »Gemeinwohl[s]« zu akzeptieren.149 Hier zeigte sich die mit dem Sprachmuster einhergehende Betonung des Sozialen – die implizite Aussage, dass jeder, der eigene Ansprüche reduziere, einen Beitrag für das Wohl aller leiste. Es war diese moralische Konnotation, die der Forderung Legitimität verschaffen sollte. Öfter jedoch und noch augenfälliger wurde die Notwendigkeit, zu persönlichen Beschränkungen bereit zu sein, mit dem greifbaren Ertrag in der Zukunft plausibilisiert. Glaubt man einer BILD -Meldung über repräsentative Umfragen vom Jahresbeginn 1967, zeitigte dies schnell messbare Erfolge. Als Ergebnis unter anderem einer Allensbach-Erhebung, in der 52 % der Befragten angaben, optimistische Erwartungen für das Jahr 1967 zu hegen, fasste die Zeitung zusammen: »Wenn alle zusammenstehen, übertriebene Forderungen zurückgestellt werden und die Wirtschaft wieder in Schwung kommt, sind wir bald wieder über die augenblicklichen Schwierigkeiten hinweg!«150 Die zur selben Zeit bekannt werdenden Prognosen zum erwarteten Haushaltsloch schienen diesen Tenor freilich zu konterkarieren. Ende Dezember teilte das Bundesfinanzministerium mit, von einer Deckungslücke im Haushalt in Höhe von 3,6 Milliarden D-Mark auszugehen.151 Mitte Januar erhöhte sich die Prognose auf 4,5 Milliarden D-Mark.152 Zumindest indirekt stützten diese Nachrichten die These, ein jeder müsse zu finanziellen Einbußen bereit sein. So hielten sich die Semantiken der erforderlichen ›Opferbereitschaft‹ längerfristig, wenngleich die Verwendungshäufigkeit zurückging. Als der Bundestag am 1. Februar 1967 den Ergänzungshaushalt für 1967 beriet, sprach etwa der CSU-Abgeordnete Walter Althammer über das »Opfer[ ], das von allen Bevölkerungsschichten zu [er]bringen« sei, damit der Bundeshaushalt konsolidiert werden könne.153 In der konkreten Debattensituation nutzte er diese zum Konsens gewordene Annahme, um zu begründen, weshalb bei den Mitteln für die Landwirtschaft ebenfalls Kürzungen diskutiert würden.154 Und im Sommer 1967, als das Kabinett Sparbeschlüsse für den Zeitraum bis 1971 fasste, zitierte 149 Lübke, Vertrauen für die neue Bundesregierung, S. 1. 150 Bangemachen gilt nicht. Jeder 2. Deutsche: 1967 wird ein gutes Jahr, in: BILD, Nr. 304, 30.12.1966, S. 1, 8, hier S. 1. 151 Weitere Steuererhöhungen im neuen Jahr. Im Bundesfinanzministerium werden Vorschläge zur Deckung des Haushaltsdefizits von 3,6 Milliarden Mark ausgearbeitet / Konzept von Strauß umfaßt neue Ausgabenkürzungen und höhere Verbrauchssteuern, in: SZ , Nr. 313, Silvester 1966 / Neujahr 1967, S. 1. 152 Deckungslücke im Etat beträgt 4,5 Milliarden. Der starke Rückgang beim Steueraufkommen führt zu einer dramatischen Zuspitzung der Finanzlage des Bundes / Strauß um die Zustimmung zu weiteren Ausgabekürzungen bei anderen Ministern bemüht, in: SZ , Nr. 15, 18.01.1967, S. 1. 153 Walter Althammer, Bundestag, 5. WP, 90. Sitzung, 01.02.1967, S. 4194 B. 154 Vgl. ebd.
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BILD Finanzminister Strauß mit den Worten, dass »[j]etzt […] alle Schichten
der Bevölkerung Opfer bringen« müssten,155 und den Steuerzahlerbund mit der Aussage, die »Staatsbürger [seien] zu Opfern bereit«.156
Die einigende Kraft der Krise: Einsparungen und Wachstumsimpulse als Grundkonsens Die Nachricht von der erwarteten Deckungslücke in Höhe von 4,5 Milliarden D-Mark fiel zeitlich zusammen mit einer anderen Hiobsbotschaft. Denn kurz zuvor hatte die Nürnberger Bundesanstalt bekanntgegeben, dass die für Ende Januar erwartete Arbeitslosenzahl von 500.000 mit 578.408 Arbeitslosen, was einer Quote von 2 % entsprach, schon zur Monatsmitte übertroffen worden sei.157 So wurden binnen weniger Tage in zwei zentralen Problemfeldern Entwicklungen bekannt, die in diesem Ausmaß zuvor nicht erwartet worden waren. Dies verschärfte den ohnehin gewaltigen finanz- und haushaltspolitischen Handlungsdruck abermals. Unter diesem Eindruck konkretisierte die Bundesregierung ihre haushaltsund wirtschaftspolitischen Vorstellungen und fasste erste Beschlüsse. Kiesinger präsentierte sie am 20. Januar vor dem Bundestag; das Parlament debattierte sie in der Folgewoche. Der Grundtenor, einerseits Ausgaben zu kürzen, andererseits – über das Konzept des Eventualhaushalts – Investitionen vorzunehmen und Nachfrageimpulse zu setzen, sowie drittens die Bundesbank zu einer Leitzinssenkung zu drängen, war in Kiesingers erster Regierungserklärung Mitte Dezember bereits enthalten gewesen. Um diese grundsätzliche Stoßrichtung seiner Regierung zu begründen, versuchte Kiesinger, die Deutung, es handele sich um eine grundsätzlich ›neuartige respektive neuartig verschärfte Situation‹ zur nicht-hinterfragten Ausgangsbeschreibung zu machen. Dieses sprachliche Grundmuster, das im Januar durch die erwähnten Indikatoren zusätzliche Plausibilität erlangte, fungierte als Basis sämtlicher Äußerungen seiner Regierung zu den beabsichtigten Einzelmaßnahmen. Im Sinne – oder präziser: in der Funktion – einer grundlegenden Begründung der Programmatik kamen ferner die Redemuster vom ›notwendigen (wirtschaftspolitischen) Impuls‹ sowie ›erforderlichen Einsparen‹ auf, wobei letzteres weitgehend dem Topos des ›notwendigen Opfers‹ entsprach. Die unter diesem Muster subsumierten Äußerungen waren lediglich weniger pathetisch. 155 Zit. nach: Diethelm Schröder, »Die Woche der Wahrheit«. Kabinett entscheidet endgültig über das Sparprogramm, in: BILD, Nr. 151, 03.07.1967, S. 1. 156 Zit. nach: Martin Klaus Keune, Unsere Minister werden eingeschlossen…bis sie sich über das Sparprogramm geeinigt haben, in: BILD, Nr. 152, 04.07.1967, S. 1. 157 Karl Heinz Schmidt, Über eine halbe Million Arbeitslose, in: SZ , Nr. 14, 17.01.1967, S. 1.
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Auffälliges Merkmal der wirtschaftspolitischen Debatte war ihr weitgehendes Ausbleiben. Eine Debatte im Sinne einer kontroversen programmatischen Auseinandersetzung, eines Für und Wider, fand kaum statt. Weder die oppositionellen Liberalen, die sich schon allein aus strategischen Absichten anders hätten positionieren können, noch die hier betrachtete Presse kritisierten die neue Grundausrichtung der Wirtschaftspolitik. Für beide Aspekte lieferte die FAZ in der zweiten Januarhälfte eindrückliche, partiell gar die Situation reflektierende Exempel: Nicht nur äußerte sie anerkennend, sofern Strauß und Schiller die Etat-Einsparungen, deren Notwendigkeit die FAZ nachdrücklich betont hatte,158 gelängen, »verdien[t]en sie uneingeschränktes Lob«.159 Auch berichtete sie ausführlich über die prinzipielle wirtschaftspolitische Übereinstimmung zwischen der deutschen Industrie – in Form des BDI – und Wirtschaftsminister Schiller.160 Vor allem aber registrierte sie diese allgemeine Einmütigkeit aufmerksam und thematisierte sie explizit: »Ganz Ungewohntes ist in diesen Tagen geschehen: Die etatpolitischen Entscheidun gen einer deutschen Bundesregierung werden fast überall mit Lob und Anerkennung bedacht. Seit Jahren hat es das nicht mehr gegeben. Selbst die parlamentarische Opposition weiß außer Formalien bisher nicht viel an den Haushaltsbeschlüssen zu rügen. Die Prinzipien des Regierungsvorschlags entsprechen vielen alten Forderungen der FDP. Nur der Bauernverband ist empört, und ein paar andere Interessenten tun es ihm nach. Doch sonst ist ringsum Erleichterung und Aufatmen zu verspüren; weil Steuererhöhungen ausbleiben, weil rigoros gestrichen wurde, weil die konjunkturpolitischen Erfordernisse dieses Jahresanfangs bedacht sind.«161
Analytisch betrachtet hatte sich die Breite potenzieller Perspektiven auf die Problematik verengt, die Menge möglicher Aussagen deutlich eingeschränkt. Dies betraf Diagnosetopoi (›neuartige Situation, die ein klares, kohärentes Konzept
158 Siehe z. B. Roeper, Die abgekühlte Konjunktur, in: FAZ , 16.01.1967, S. 1, explizit als von der FAZ besonders betonter Aspekt auch hervorgehoben in: Der Spar-Etat, in: FAZ , Nr. 18, 21.01.1967, S. 1 (»Wenn nun – wie in dieser Zeitung immer wieder gefordert – gespart und auf Steuererhöhungen verzichtet wird, so war die konjunkturelle Entwicklung gewiß für die einschneidenden Entschlüsse ein wichtiger Geburtshelfer.«) 159 Die große Operation, in: FAZ , Nr. 17, 20.01.1967, S. 1. 160 Vgl. »Etatkürzungen wichtiger als Krediterleichterungen«. Die Industrie unterstützt die Wirtschaftspolitik Schillers / Für Sonderabschreibungen, in: FAZ , Nr. 12, 14.01.1967, S. 7. Siehe – als zusätzlichen Beleg abseits des hier systematisch untersuchten Korpus – z. B. genauso: [Der Bundeshaushalt ist ausgeglichen] Kiesinger: Jetzt Mut und Vertrauen zeigen. Wirtschaft und Gewerkschaften reagieren positiv, in: Die Welt, Nr. 18, 21.01.1967, S. 1, sowie – ebd. – auch den prinzipiell zustimmenden Kommentar von: Georg Schröder, Aufwärts. 161 Dieter Vogel, Aufschwung in der Etatpolitik, in: FAZ , Nr. 19, 23.01.1967, S. 1.
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verlangt‹) genauso wie Handlungstopoi (›Einsparungen einerseits, Wachstumsimpulse andererseits‹). Einige Beispiele: Bereits seit dem Jahreswechsel warben die federführend agierenden Minister Schiller und Strauß öffentlich für ihren Kurs. Ihre Äußerungen kamen einem Vorgriff im Sinne einer kontinuierlichen Vorbereitung der Öffentlichkeit auf die zu treffenden Entscheidungen gleich. In einem Gastbeitrag für die Weihnachtsausgabe des Handelsblatts hatte der neue Wirtschaftsminister für sein Konzept eines »Aufschwung[s] nach Maß« geworben.162 Angesichts der »konjunkturellen Abkühlung«, insbesondere in der Baubranche, und der auf 330.000 gestiegenen Arbeitslosenzahl sei auf absehbare Zeit das Ziel, Wachstum und Beschäftigung zu sichern, von höchster Priorität.163 Notwendig sei eine »bewußte[ ] Unterstützung durch die Wirtschaftspolitik«.164 Um Wachstum und Stabilität zu erreichen respektive abermalige »Überhitzungserscheinungen« zu verhindern, seien ferner eine »konzertierte[ ] Aktion« der Tarifvertragsparteien zur »Rücksichtnahme auf die ökonomischen Gegebenheiten« und eine angepasste Finanzpolitik des Bundes erforderlich.165 Finanzminister Strauß erklärte im bereits zitierten Doppel-Interview mit beiden Ministern, das BILD am 7. Januar veröffentlichte, beim Etatausgleich mindestens »eine Milliarde […] bei Leistungen des Bundes durch Ausgabenkürzungen, eine gute weitere Milliarde durch Beseitigung von Steuervorteilen« erreichen zu wollen.166 Überdies seien mittelfristig, der angesprochene Zeithorizont reichte bis 1971, »tiefgreifende Eingriffe in die bisherige Struktur der Bundesausgaben« notwendig.167 Schiller äußerte sich zur angekündigten Diskontsatzsenkung seitens der Bundesbank, die er begrüßte, da der »Beschluß der Bundesbank, die Kredite zu verbilligen, […] wieder Vertrauen wecken« werde.168 In einem am gleichen Tag in der SZ erschienenen Artikel hieß es zudem, nachdem Schillers Hoffnung auf eine Lockerung der Kreditrestriktionen in Erfüllung gegangen sei, erwarte er nun, »Vertreter der Arbeitgeber- und Unternehmerverbände sowie der Gewerkschaften für eine ›konzertierte Aktion‹ auf dem Gebiet der Lohn- und Preispolitik […] gewinnen und damit ein ›Wirtschaftswachstum nach Maß‹ […] fördern« zu können.169 162 »Wir wollen einen »Aufschwung nach Maß«. Bundeswirtschaftsminister Prof. Dr. Karl Schiller zur Wirtschaftspolitik 1967, in: Handelsblatt, Nr. 246, 23./24.12.1966 (Weihnachtsausgabe), S. 1, 4. 163 Ebd., S. 1. 164 Ebd., S. 4. 165 Ebd. 166 Zit. nach: BILD -Interview mit den Ministern Schiller und Strauß. Bald kann die Mark wieder rollen, in: BILD, Nr. 6, 07.01.1967, S. 2. 167 Zit. nach: ebd. 168 Zit. nach: ebd. 169 Schiller begrüßt Diskontsenkung. Ein Schritt in vernünftiger Richtung, sagt der Bundeswirtschaftsminister, in: SZ , Nr. 6, 07./08.01.1967, S. 1.
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Unübersehbar rückten Kernanliegen seiner Wirtschaftspolitik auch begrifflich in den Mittelpunkt der Berichterstattung. Schiller selbst avancierte zur Leitfigur, sein Vokabular einer steuernden Wirtschaftspolitik mit dem Anspruch wissenschaftlicher Fundierung zum vielbeachteten semantischen Signum des neuen wirtschaftspolitischen Kurses. Prägnant unterstrich dies der SPIEGELTitel vom 9. Januar 1967 (vgl. die Abb. auf der folgenden Seite). Die aus Schillers üblichen Formulierungen eines ›Aufschwungs‹ oder ›Wachstums nach Maß‹ abgewandelte Frage »Inflation nach Maß?« bedeutete allerdings nicht bloß eine ironisierende Sprachspielerei. Sie zeugte genauso von einer zumindest möglichen Skepsis, ob nicht Schillers Konzepte auch ein Spiel mit dem Stabilitätsziel, letztlich also der Inflationsgefahr und -angst, darstellten. Schiller selbst verneinte dies entschieden. Im Gegenteil: Er argumentierte, nur sein Konzept des »Wachstum[s] nach Maß« werde einen Konjunkturaufschwung samt sich einstellender Preisstabilität erzeugen.170 Wer weiterhin »Restriktionspolitik betreib[e]«, riskiere, dass in der Industrie ein zusätzlicher Produktionsrückgang bei zugleich kaum senkbaren, da fixen Produktionskosten zu Preissteigerungen führe und fortgesetzt inflationsfördernd wirke.171 Im schlimmsten Fall entstünde »Stagnation mit Preisdruck«.172 (So umschrieb Schiller einen Zustand, der in den 1970er Jahren verbreitet auf den Begriff der ›Stagflation‹ gebracht werden sollte.) Gelänge es hingegen, die Nachfrage, unter anderem mit Investitionen aus dem geplanten Eventualhaushalt, anzuregen und gleichzeitig »lohnpolitisch« Zurückhaltung zu üben, erreiche man den angestrebten »Aufschwung nach Maß«.173 Den Vorschlag, erst abzuwarten, ob nicht allein durch Zinssenkungen bereits Investitionen ausgelöst würden, wies Schiller mit drei Begründungen zurück. Obgleich er das »Wort Wirtschaftskrise« gegenwärtig nach wie vor für unangemessen hielt, warnte er vor einem drohenden, »sich selbst nährenden Schrumpfungsprozess« im Frühjahr, sofern »nicht vorher die Weichen gestellt« würden.174 Dass dies allein zinspolitisch gelinge, hielt er für keineswegs sicher. Zudem verwies er darauf, dass »angesehene Institute für Februar / März mit rund 700.000 Erwerbslosen« kalkulierten, was er auch aus »psychologischen« Gründen für dann »nicht mehr ganz unkritisch« halte.175 Hier machte Schiller also vorhandene und drohende Arbeitslosigkeit zum Beweggrund für zügig gebotenes politisches Handeln. Drittens versuchte er, seinen
170 »Wir sind zum Erfolg verurteilt«. SPIEGEL -Gespräch mit Bundeswirtschaftsminister Professor Karl Schiller, in: DER SPIEGEL , Nr. 3, 09.01.1967, S. 29–32, hier S. 30. 171 Ebd. 172 Ebd. 173 Ebd., S. 30 f. 174 Ebd., S. 29. 175 Ebd.
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Abb. 5: DER SPIEGEL, Nr. 3, 09.01.1967, Titelbild. (© DER SPIEGEL, 03/1967.)
Ansatz wirtschaftstheoretisch zu fundieren. Explizit rekurrierte er auf John Maynard Keynes und William Beveridge und führte das berühmteste ›keynesianische Bild‹ ins Feld: »Die Pferde sind ins Wasser geführt, aber sie saufen nicht.«176 So unterstrich er, dass es eine ökonomische Lage gebe, in der das Vertrauen auf zinspolitische Effekte nicht ausreiche, sondern eine aktive Nachfragestützung durch öffentliche Investitionen geboten sei.177 Wie mit diesem Interview wurde die Öffentlichkeit auch in den Folgetagen weiterhin sukzessive auf das Investitionsprogramm durch den Eventualhaushalt vorbereitet. Zum Beispiel berichtete die SZ am 18. Januar, zwei Tage vor Kiesin 176 Ebd. 177 Vgl. ebd.
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gers Regierungserklärung, über die Koalitionspläne, »durch genau gezielte Investitionsausgaben des Bundes die allgemeine Wirtschaftstätigkeit« anzuregen und Schillers damit verbundene Forderung, »die Mittel des sogenannten ›Eventual-Haushalts‹ im Ausmaß von rund 2,5 Milliarden DM möglichst bald verfügbar zu machen«.178 In Kiesingers Erklärung hieß es dann, die Regierung habe »die Vorlage eines Eventualhaushalts beschlossen, der sofortige erhebliche Investitionen […] vorsieht.«179 Genau wie die anderen Elemente des Konjunkturprogramms, insbesondere die auf neun Monate befristete Einführung von Sonderabschreibungen, begründete er die Beschlüsse mit der gegenwärtig »ernste[n] Situation«, die aus der »wirtschaftliche[n] Abschwächung« resultiere und mit fast 600.000 Arbeitslosen eine Situation auf dem Arbeitsmarkt hervorgerufen habe, die von den gewohnten Konstellationen der Vorjahre erheblich abweiche.180 In dieser Argumentation spielte der Topos der ›neuartigen Situation‹ erkennbar erneut eine zentrale Rolle. Die Plenardebatte in der Folgewoche zeugte von der großen Übereinstimmung, die in diesem Punkt vorherrschte. Vergleicht man exemplarisch die Äußerungen der Hauptredner der Fraktionen, sticht dies unmittelbar ins Auge. Für die FDP erklärte Hans Georg Emde, die Wirtschaft benötige »als belebendes Element ein[en] Auftragsstoß« und »dazu biete[ ] der Eventualhaushalt die gegebenen Möglichkeiten«.181 Deshalb »bejah[e]« die FDP »verstärkte Investitionen in der von der Regierung vorgesehenen Weise«.182 Der CDU-Abgeordnete Albert Leicht signalisierte, die »Durchführung des Sofortprogramms […] find[e] [die] Billigung« der Unionsfraktion,183 und SPD -Finanzexperte Alex Möller erläuterte, die Sozialdemokraten unterstützten die »sofortige Vorlage eines Eventualhaushalts mit erheblichen Investitionen und […] die Förderung der notwendigerweise wieder herbeizuführenden Investitionsbereitschaft der Unternehmen durch Sonderabschreibungen für die Dauer von neun Monaten«.184 Wie bereits gezeigt, registrierte auch die Presseberichterstattung die weitreichende Kontroversenlosigkeit zwischen den Fraktionen.185 Selbst Bundesbankpräsident Blessing signalisierte öffentlich Zustimmung zum Eventualhaushalt. Er insistierte
178 Bonn will die Investitionstätigkeit anregen. Eventual-Haushalt für zweieinhalb Milliarden Mark zusätzliche Ausgaben in Vorbereitung, in: SZ , Nr. 15, 18.01.1967, S. 23. 179 Kurt Georg Kiesinger, Bundestag, 5. WP, 86. Sitzung, 20.01.1967, S. 3996 B. 180 Ebd., S. 3996 A. 181 Hans Georg Emde, Bundestag, 5. WP, 88. Sitzung, 26.01.1967, S. 4097 C. 182 Ebd. 183 Albert Leicht, Bundestag, 5. WP, 88. Sitzung, 26.01.1967, S. 4104 A – 4104 B. 184 Alex Möller, Bundestag, 5. WP, 88. Sitzung, 26.01.1967, S. 4105 B. 185 Siehe als zusätzliches Beispiel etwa: Bundestag dringt auf rasche Maßnahmen zur Belebung der Wirtschaft. Alle Parteien unterstützen Etatpläne der Regierung / FDP und SPD für Einsparungen beim Wehretat, in: SZ , Nr. 23, 27.01.1967, S. 1 f.
Früher Optimismus und langes Warten – Nachspiel zur ›Krise‹
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allerdings gleichfalls darauf, dass Grundvoraussetzung für ein Gelingen des Dreiklangs aus Investitionen und Investitionsanreizen, Haushaltskürzungen und Zinssenkung eine dauerhafte Einschränkung der konsumtiven Ausgaben im Haushalt und ein zurückhaltendes Verhalten der Sozialpartner in den Tarifverhandlungen sei.186 Prägnantere und kompaktere Beispiele für den Topos des ›notwendigen Einsparens‹ sind kaum denkbar. Anders als beim Eventualhaushalt galt die Feststellung einer weitreichenden Einigkeit hinsichtlich der Methoden der allgemeinen Etatpolitik nur mit kleinen Einschränkungen. Zwar stellten weder Parlamentarier noch hier analysierte Pressestimmen das Konzept des Finanzministers infrage, das Ausgabenkürzungen in einer Reihe von Einzelposten sowie die Streichung von Steuervergünstigungen, letztlich aber doch keine Steuererhöhungen vorsah. BILD bejubelte es gar bemerkenswert ostentativ; das Boulevardblatt unterstützte wie am Jahresende 1966 eindeutig die Große Koalition.187 Bisweilen skeptisch beurteilt wurde indes, inwieweit damit auch mittelfristig neue Deckungslücken zu vermeiden seien. So warnte Hans Georg Emde vor den Belastungen künftiger Bundeshaushalte, die sich aus der Kreditfinanzierung des Eventualhaushalts ergäben.188 Nicht zuletzt befürchtete er, positive Erfahrungen mit dem jetzt beschrittenen Weg in der Konjunkturpolitik könnten das deficit spending zu einem dauerhaft genutzten Instrument der Wirtschaftspolitik machen – mit negativen Folgen für die Währungsstabilität, was die gesamten Anstrengungen der Restriktionspolitik in der jüngsten Vergangenheit konterkarieren könnte.189
4. Früher Optimismus und langes Warten – Nachspiel zur ›Krise‹ Eine prinzipiell skeptische Haltung wäre ex post ebenso als Kennzeichnen der abschließenden Krisenphase verständlich. Hatte sich der erste signifikante Umschwung im Krisendiskurs im Zuge der Regierungsbildung ergeben, vollzog sich der zweite Shift, nachdem die Regierung ihre Pläne zur Haushaltskonsolidierung 186 Vgl. Blessing sagt Mithilfe zu. Voraussetzung ist jedoch eine Beschränkung der Ansprüche, in: SZ , Nr. 24, 28./29.01.1967, S. 23. 187 Vgl. Uff! Unsere Kasse stimmt wieder. -Milliardenloch gestopft, -Den kleinen Mann geschont, -Keine neuen Steuererhöhungen, -Milliarden-Spritze für die Wirtschaft, in: BILD, Nr. 18, 21.01.1967, S. 1, 6. Vgl. auch den kommentarähnlichen Beitrag: Schon nach 38 Tagen!, in: ebd., S. 1, der die Bundestagsabgeordneten aufforderte, das Regierungskonzept konsequent umzusetzen und sich nicht von einzelnen Interessenvertretern beirren zu lassen, und mit dem ungewöhnlichen Statement schloss: »Diese gute Regierung braucht ein gutes Parlament.« 188 Vgl. Emde, Bundestag, 88. Sitzung, 26.01.1967, S. 4098 B – 4098 C. 189 Vgl. ebd., S. 4098 D.
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Ein kurzer Krisenwinter mit langem Vor- und Nachlauf
und Konjunkturbelebung bekanntgegeben hatte. Jetzt, Ende Januar 1967, änderten sich die vorherrschenden Sprachmuster erneut. Tragend für den letzten, bis zum sichtbaren Anziehen der Konjunktur im Spätsommer 1967 dauernden Krisenabschnitt wurden die Topoi der ›noch anhaltenden Schwierigkeiten‹, der ›richtig getroffenen Entscheidungen‹ sowie der sich ›bald bessernden Lage‹. Vor allem letzteres Muster dominierte; es basierte auf Äußerungen wie ›Im / ab…ist mit einem neuen Aufschwung zu rechnen‹ oder ›Der Höhepunkt des Problems (z. B. der Arbeitslosigkeit) ist überschritten‹. Überdies bewirkte es, dass einmal mehr nicht primär die Thematisierung der gegenwärtigen Situation, sondern in beträchtlichem Maße Erwartungshaltungen die Debatte bestimmten. Überraschen könnte diese vor allem deshalb, weil sich der Wachstumseinbruch im ersten Halbjahr 1967 fortsetzte, gar verschärfte, und die Arbeitslosigkeit erst im Februar ihren Höchststand erreichte. Orientierte man sich im Wesentlichen an diesen Indikatoren, erschiene die Phase weit weniger als Ausklang, sondern als Höhepunkt der Krise. Mithin ist eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen realer wirtschaftlicher Entwicklung und zeitgenössischen Deutungen auszumachen. Was vor diesem Hintergrund nicht weniger überrascht, ist der abnehmende Stellenwert, der in der öffentlich-medialen Berichterstattung der Wirtschaftslage zugemessen wurde. Während die ökonomische Situation im Februar und März weiterhin zentrales Thema der politischen Debatten blieb – auch deshalb, weil weitere Elemente des Maßnahmenkatalogs, etwa das Kreditfinanzierungsgesetz, die parlamentarischen Hürden nahmen – ging die Thematisierungsfrequenz anschließend drastisch zurück. Das mediale Interesse, speziell in der Boulevardpresse, ebbte nahezu vollständig ab; aus der Qualitätspresse verschwand die Thematik weniger deutlich, doch auch hier rückte sie merklich in den Hintergrund. Sie war nicht mehr täglich Gegenstand der Berichterstattung und nur mehr selten auf den Titelseiten vertreten. Dies änderte sich nur im Sommer 1967 nochmals kurzzeitig, als die Bundesregierung abermals über Einsparungen im Haushalt beriet und den zweiten Eventualhaushalt auf den Weg brachte. Als sich ab September 1967 abzeichnete, dass das Wachstum wieder anzog, büßte die Krise gänzlich an entgegengebrachter Aufmerksamkeit ein. Sowohl aus einer konjunkturanalytischen als auch einer historisch-semantischen Perspektive hatte sie somit ein Ende gefunden. Der Krisenbegriff verlor in diesem Krisenstadium weiter an Relevanz. In den selten gewordenen Situationen der Begriffsverwendung bezog er sich nun allerdings ausschließlich auf den Zustand der Volkswirtschaft – überwiegend jedoch nicht, um diesen als ›krisenhaft‹ einzustufen, sondern um zu warnen, falls die erwartete Besserung ausbleibe, könne es tatsächlich zu einer ›Krise‹ kommen. So argumentierte etwa Kiesinger Anfang März, als er bei einem Besuch der Münchner Handwerksmesse appellierte, es Unternehmern und Verbrauchern zu erleichtern, neues »Vertrauen in die Wirt-
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schaft« zu gewinnen.190 Daher sei »zu verhindern, daß eine Krisenstimmung entsteh[e]«; denn obgleich es »keine Krise [gebe], [könne] aus einer Krisenstimmung […] sehr leicht eine wirkliche Krise werden.«191 Das Zitat unterstreicht – wenngleich nur in der Negation – den jetzt klaren Bezug des Krisenbegriffs auf die wirtschaftliche Entwicklung. Ferner ist es Indikator für das Gespür wenigstens mancher Redner für die performative Wirkmächtigkeit von Krisendiskussionen. Dies zeugt von einem gesteigerten Grad an Sprachreflexion; einzelne Sprecher bewiesen einen beachtlichen Instinkt für die Bedeutung und (in diesem Fall: ökonomische) Tragweite einzelner Termini für die politische Kommunikation.192
Einigkeit über den ›richtigen Weg‹ Es liegt nahe, die in der Grundtendenz eindeutig optimistischen Sichtweisen in der letzten Krisenphase auf den Mitte Januar herausgebildeten Konsens zurückzuführen. Die Überzeugung, die richtigen Entscheidungen getroffen zu haben und bald Erfolge zu verzeichnen, war und blieb weit verbreitet – eine Überzeugung, die die Wirtschaftsentwicklung des ersten Halbjahres 1967 zwar gelegentlich zu irritieren, nicht aber zu erschüttern vermochte. Die Hoffnungsprognosen, deren zeitliche Tiefe gering war und sich auf die kommenden Wochen und Monate beschränkte, sind insofern nicht allein mit strategischen Absichten der Redner und Schreiber zu erklären. Dieser Faktor spielte zweifellos eine Rolle, denn vor allem Regierungsvertreter versuchten auf diese Weise, Vertrauen wiederherzustellen und angenommene – mitunter ausdrücklich unterstellte – psychologische Hemmungen, zu investieren oder zu konsumieren, zu entkräften. Daneben aber können die Äußerungen als Ausdruck dafür interpretiert werden, dass sich das zuvor diskursiv hergestellte Wissen über den erfolgversprechenden Ausweg aus der Krise als stabil und überzeugend erwies, zumindest insoweit, als dass es nicht grundsätzlich infrage gestellt wurde. Diese mehrheitlich geteilte Auffassung konnte pragmatisch bemüht werden, um wirtschafts- und finanzpolitische Entscheidungen zu begründen. Als der Bundestag am 1. Februar 1967 über den Ergänzungshaushalt 1967 sowie steuerliche Maßnahmen zur Konjunkturbelebung beriet, dozierte Finanzminister Strauß, die »gegenwärtige[ ] konjunkturelle[ ] Situation« erfordere eine »Ver190 Zit. nach: Martin Rehm, Kiesinger eröffnet Münchner Handwerksmesse. Appell an Unternehmer und Verbraucher. »Wieder Vertrauen in die Wirtschaft gewinnen« / Der Wille zur Entspannung bekräftigt, in: SZ , Nr. 59, 10.03.1967, S. 1 f., hier S. 1. 191 Zit. nach: ebd. 192 Für weitere Beispiele siehe Kap. X.3.
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stärkung der öffentlichen Nachfrage«.193 Weil die Lage »positive Ansätze« verlange, habe die Regierung »Maßnahmen zur Wiederbelebung der Wirtschaftstätigkeit, zur Wiederherstellung des Vertrauens beim Verbraucher einerseits und bei demjenigen, der über Investitionen zu disponieren hat, andererseits« beschlossen.194 Auch Strauß benannte, ähnlich wie (das angeführte Zitat Kiesingers gezeigt hat) kurz darauf der Kanzler, als übergeordnetes ›psychologisches‹ Ziel die Vertrauenssicherung, die mit den Regierungsbeschlüssen beabsichtigt sei. Als Kern der Beschlüsse, für die er im Parlament um Zustimmung warb, führte er den »Eventualhaushalt mit einem Volumen bis zu 2,5 Milliarden DM« und die »Sonderabschreibungen auf Investitionen – 10 v. H. für bewegliche und 5 v. H. für unbewegliche Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens« – an, die »eine anregende Wirkung« entfalten sollten.195 Die Haushaltskürzungen begründete er gleichfalls mit den gewünschten Investitionsimpulsen; sie seien »unumgänglich notwendig [gewesen], weil sonst die Zusagen der Bundesbank, die weiteren wirtschaftsbelebenden Maßnahmen der Bundesregierung – siehe Eventualhaushalt – zu unterstützen, nicht oder nicht in dem für notwendig erachteten Umfang gegeben worden wären«.196 Mit seiner Position und Argumentation befand sich Strauß sowohl mit den Regierungsfraktionen als auch der liberalen Opposition in Einklang. So argumentierte auch der FDP-Abgeordnete und promovierte Wirtschaftswissenschaftler Hans-Jürgen Staratzke, die Sonderabschreibungen seien »die notwendige Ergänzung des Eventualhaushalts […]. Während der Eventualhaushalt von der Nachfrageseite her die Investitionsbedingungen verbessern soll[e], führ[t]en die Abschreibungserleichterungen von der Liquiditätsseite her dazu, daß das verbesserte Investitionsklima fruchtbar werden« könne.197 Als der Bundestag zweieinhalb Wochen später das Kreditfinanzierungsgesetz debattierte, trat die Einigkeit erneut zutage. Zumindest verzeichnete das Bundestagsprotokoll keinen Widerspruch, als Wirtschaftsminister Schiller konstatierte, im Bundestag »besteh[e] vollständige Einigkeit darüber, daß mit dem jetzt beratenen Kreditfinanzierungsgesetz zusammen mit den vorige Woche vom Bundesrat beschlossenen Sonderabschreibungen entscheidende Daten für einen ›Aufschwung nach Maß‹« gegeben seien.198 Auch bei Schillers Begründung der Maßnahmen spielten die beabsichtigten psychologischen Konsequenzen eine Rolle. Er argumentierte, die Beschlüsse sollten »die Gefahr eines sich selbst nährenden Schrumpfungsprozesses bannen« und, da »Konjunktur zu 50 % auch 193 Franz Josef Strauß, Bundestag, 5. WP, 90. Sitzung, 01.02.1967, S. 4185 D. 194 Ebd., S. 4188 B. 195 Ebd., S. 4188 C. 196 Ebd., S. 4188 B. 197 Hans-Jürgen Staratzke, Bundestag, 5. WP, 90. Sitzung, 01.02.1967, S. 4191 D. 198 Karl Schiller, Bundestag, 5. WP, 95. Sitzung, 17.02.1967, S. 4328 B.
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Psychologie« sei, »zusammen mit der gesamten Defizitbereinigung auch der Wiederherstellung des Vertrauens, des Vertrauens der Unternehmer bei ihren Dispositionen, aber auch und gerade des Vertrauens der Arbeitnehmer in die Sicherheit ihrer Arbeitsplätze« dienen.199
Die Herausforderung, optimistisch zu bleiben Politiker und journalistische Beobachter eigneten sich diese Grundüberzeugung zügig und dauerhaft an. Diesen Eindruck vermitteln ihre öffentlichen Äußerungen der kommenden Wochen und Monate. Selbst von patentiert sachkundiger und für gewöhnlich kritischer Seite erfuhren die von der Regierung gewählten Instrumente weniger Widerspruch als vielmehr deutlichen Zuspruch. Wenige Tage nach den Regierungsentscheidungen vom 19. Januar bescheinigte Handelsblatt-Chefredakteur Karl Heinrich Herchenröder der Regierung in einem Kommentar, sie habe die richtigen Impulse zur »Verbindung von Wachstum und Stabilität« gesetzt und könne »[z]um großen Teil gewiß« »[s]tolz« auf ihre Leistung sein.200 Am gleichen Tag prognostizierte Karl Schiller bereits einen neuen Aufschwung für den Sommer, da er annahm, dass die Wirtschaft unmittelbar auf die verminderten Kreditrestriktionen und die Investitionsimpulse durch den Eventualhaushalt und die möglichen Sonderabschreibungen reagiere.201 Gleiches galt für Bundesbankpräsident Blessing. Ende Februar äußerte auch er, dass es »jetzt darauf an[komme], die Investitionen wieder anzuregen«; und er zeigte sich zuversichtlich, dass der Maßnahmenkatalog fruchten und »die augenblickliche Abschwungphase zum Sommer und Herbst hin umschlagen« werde.202 Rhetorisch herausfordernd war es, mit dem Ausbleiben einer kurzfristigen respektive kurzfristig bereits erkennbaren Verbesserung der Lage umzugehen. In dieser Konstellation, in der über die wirtschaftspolitischen Instrumente entschieden, ihre Wirkung aber noch nicht ersichtlich war, kamen die Sprachmuster der ›richtig getroffenen Entscheidungen‹, ›noch anhaltenden Schwierigkeiten‹ und sich ›bald bessernden Lage‹ oft in eng aufeinander bezogener Weise vor. Meldungen über geringfügige Verbesserungen, zum Beispiel Stimmungsaufhellungen 199 Ebd., S. 4329 C. 200 Karl Heinrich Herchenröder, Wechsel auf die Zukunft, in: Handelsblatt, Nr. 22, 23.01.1967, S. 1. 201 Vgl. Schiller erwartet Wirtschaftsaufschwung vom Sommer an. Hoffnung auf Etatwirkungen, Kreditlockerungen und Sonderabschreibungen / A ntwort an den Sachverständigenrat, in: FAZ , Nr. 20, 24.01.1967, S. 3. 202 Zit. nach: [SZ -Interview mit dem Notenbankpräsidenten] Blessing: Neuer Aufschwung im Sommer. Dann auch wieder Vollbeschäftigung / Die Preise werden in den nächsten Monaten relativ stabil bleiben. Auch die Gemeinden sind auf den Kapitalmarkt angewiesen, in: SZ , Nr. 44, 21.02.1967, S. 1.
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bei Unternehmern und leicht sinkende Arbeitslosenzahlen, wurden als kleine Bausteine eingepasst in das zu vermittelnde Bild einer Wirtschaftslage, die sich spätestens im Herbst signifikant verbessern werde. Sie wurden also als Beleg dafür interpretiert, dass die vermittelten Erwartungshaltungen fundiert seien. Zugleich konnten die Meldungen pragmatisch genutzt werden, um die ›offenkundig‹ anhaltende Notwendigkeit eines entschiedenen wirtschaftspolitischen Vorgehens zu unterstreichen und auf eine zügige Umsetzung der Beschlüsse zu drängen. So bezeichnete Schiller es als »leichten, leichten Silberstreif«, als der Konjunkturtestbericht des ifo-Instituts Ende Februar zwar keine Hoffnung auf einen in Kürze erwartbaren deutlichen Produktionsanstieg, immerhin aber einen Rückgang des Pessimismus bei den Unternehmern auswies.203 Angesichts dessen, so hieß es im SZ-Artikel, erachte der Minister es als »unverändert notwendig, die aus dem Investitionssonderhaushalt des Bundes zu finanzierenden Programme ›schnell, zügig und dennoch sorgfältig zu verwirklichen‹«.204 Wenige Tage später eröffnete Schiller die Frankfurter Frühjahrsmesse. Dort versuchte er ebenfalls, Optimismus zu verbreiten und zu Investitionen anzuregen. Die SZ schrieb, der Minister habe die »Hoffnung aus[gedrückt], daß die Frankfurter Messe als ›Konjunkturmeier‹ viele neue Energien für eine ›gezähmte Kettenreaktion‹, für einen ›Aufschwung nach Maß‹ und eine kontrollierte Expansion freisetzen werde.«205 Ein ganz ähnlicher Tenor prägte die Berichterstattung über die Münchner Handwerksmesse Anfang März. So habe der Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, Joseph Wild, die Regierungspläne für eine »stabilitätsorientierte Wachstumspolitik« begrüßt und sich überzeugt gezeigt, dass »die deutsche Wirtschaft ›im Kern gesund‹« sei und es »genügend Ansatzpunkte für eine relativ rasche Wiederbelebung« gebe.206 Als die Nürnberger Bundesanstalt Mitte März neue Arbeitslosenzahlen bekannt gab, ordneten sie die hier betrachteten Pressestimmen zügig in die generell hoffnungsvollen Erwartungshaltungen ein. BILD jubelte, es »geh[e] wieder aufwärts mit der deutschen Wirtschaft«.207 Allein in den vergangenen 14 Tagen hätten 50.000 Arbeitslose eine neue Beschäftigung gefunden, was einen Rückgang der Arbeitslosenquote auf 2,9 % bedeute. Die SZ befand, die »Arbeitslosigkeit in 203 Zit. nach: [Ein Schritt zur aktiven Konjunkturpolitik] Bundestag billigt Investitionsprogramm. Zur Belebung der Wirtschaft stellt der Bund 2,5 Milliarden Mark zur Verfügung / Mittel für Bahn, Post, Landwirtschaft, Straßen- und Wohnungsbau / Schiller: Jetzt ist auch die Privatinitiative aufgerufen, in: SZ , Nr. 47, 24.02.1967, S. 1. 204 Ebd. 205 Schiller ermuntert die Wirtschaft. Es lohnt sich wieder zu investieren und zu produzieren, sagt der Bundesminister bei der Eröffnung der Frankfurter Messe / Die Verbraucher sollen geplante Anschaffungen nicht länger zurückstellen, in: SZ , Nr. 49, 27.02.1967, S. 1. 206 Rehm, Kiesinger eröffnet Münchner Handwerksmesse, in: SZ , 10.03.1967, S. 2. 207 Jetzt geht es aufwärts. 50000 Arbeitslose weniger, in: BILD, Nr. 46 [?], 16.03.1967, S. 1.
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der Bundesrepublik [habe] ihren Höhepunkt überschritten«.208 Beide Artikel konnten Mut machen, verwiesen aber auch darauf, dass die leichte Entspannung auf dem Arbeitsmarkt Folge der Frühjahrsbelebung in der Bauwirtschaft sei. Im Umkehrschluss bedeutete dies, dass es sich noch nicht um eine grundlegende konjunkturelle Wende handelte. Vielmehr urteilte der Sachverständigenrat in seinem Sondergutachten vom März 1967 die »Wirtschaftslage […] stell[e] sich […] erheblich ungünstiger dar, als […] im Herbst vorigen Jahres vorausgeschätzt«.209 Und Hermann Schreiber sprach zur gleichen Zeit – eher en passant in einem SPIEGEL-Artikel, der die Arbeitsweise des Kabinetts Kiesinger behandelte – weiterhin von »Schockwellen der Krise«.210 Vor diesem Hintergrund merkte Franz Thoma wenige Tage später in einem SZ-Kommentar an, der angekündigte Aufschwung lasse noch immer auf sich warten, der »Konjunkturmotor bock[e]«.211 Thoma zweifelte dennoch nicht an der Eignung des von Regierung, Bundesbank und Tarifparteien eingeschlagenen Weges. Er begrüßte ausdrücklich die Stärkung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage durch das Investitionsprogramm, Sonderabschreibungen und eine Abkehr von der restriktiven Geldpolitik. Dass eine sofort spürbare Wirkung bislang nicht erkennbar sei, führte er auf die kurze Zeit seit Verabschiedung der Beschlüsse zurück und darauf, dass sich die Erwartungshaltung der wirtschaftlichen Akteure – das »menschliche Verhalten« – nicht verordnen ließe, sondern langsam verändere.212 Die von ihm geforderte Geduld brachte die Bundesregierung nicht auf. Schon Mitte März kursierten Berichte über Planungen für ein zweites Investitionsprogramm. Demnach sei die Bundesregierung prinzipiell überzeugt, die bisherigen Entscheidungen würden »die gewünschte konjunkturbelebende Wirkung herbeiführen«, aber enttäuscht über die noch immer zurückhaltende »Investitionsneigung der Unternehmer«.213 Als die Bundesregierung im Juli 1967 weitere Entscheidungen zur Haushaltskonsolidierung einerseits, Investitionsanregung andererseits traf, beschloss sie bekanntermaßen tatsächlich einen zweiten Eventualhaushalt. Die verzögerte Wirkung des ersten Konjunkturprogramms begründete Wirtschaftsminister Schiller unter anderem 208 Zahl der Arbeitslosen sinkt wieder. Belebung in der Bauwirtschaft bringt im März eine leichte Besserung, in: SZ , Nr. 64, 16.03.1967, S. 1. 209 Sachverständigenrat, Zur Konjunkturlage im Frühjahr 1967, S. 260. 210 »Ich muss zeigen, wie ich das mache.« SPIEGEL-Reporter Hermann Schreiber über Kanzler Kiesinger und sein Kabinett, in: DER SPIEGEL , Nr. 13, 20.03.1967, S. 34–39, hier S. 34. 211 Franz Thoma, Der Konjunktur-Motor bockt, in: SZ , Nr. 70/71, 23./24.03.1967, S. 4. 212 Ebd. Hervorhebung im Original. 213 Bonn erwägt weitere Hilfe für die Wirtschaft. Bundeskanzler Kiesinger gilt als stärkster Befürworter eines zweiten Sonderhaushalts zur Ankurbelung der Konjunktur / Bundesrat stimmt dem Kreditfinanzierungsgesetz zu / Reichen 2,5 Milliarden zur Belebung?, in: SZ , Nr. 66, 18./19.03.1967, S. 1 f., hier S. 1.
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damit, dass die Mittel nicht zügig genug abgerufen werden konnten.214 An der Grundaussage, dass das antizyklische Agieren im Sinne der staatlich angeregten Nachfrageimpulse richtig sei, ließ er keinen Zweifel aufkommen. Hatte das Thema in der Berichterstattung schon im Verlauf des Frühjahrs an Relevanz und Prominenz eingebüßt, verlor es diese ab dem Spätsommer vollständig. Allerdings nicht, ohne dass einige ›Erfolgsmeldungen‹ vor Augen führten, dass die zuvor verbreiteten Topoi der lediglich ›noch anhaltenden Schwierigkeiten‹ und der sich ›bald bessernden Lage‹ berechtigt gewesen waren. Mit einer Kombination aus Erleichterung und Enthusiasmus titelte BILD Anfang August »Wir kriegen die Kurve«. Das Blatt sprach von einem »Bündel guter Nachrichten […] aus der deutschen Wirtschaft« und verwies auf die Deutsche Bank, der zufolge die »›Abschwungtendenzen […] zum Stillstand gekommen‹« seien.215 Ursache seien die Konjunkturprogramme und die starke Auslandsnachfrage. Einen Monat später bekräftigte die Zeitung, die Wirtschaft habe »ermutigt durch das zielstrebige Vorgehen der Großen Koalition wieder Tritt und Vertrauen gefaßt.«216 Wer sich an den Meldungen orientierte, die in den anderen analysierten Printmedien zu lesen waren, erhielt ein im Grundtenor ähnliches, aber differenziertes Bild. Auch hier hatte die Finanz- und Konjunkturlage längst merklich an Stellenwert verloren, obgleich nicht so drastisch wie in dem Boulevardblatt. Der inhaltliche Unterschied lag darin, dass die Qualitätszeitungen zwar genau wie BILD vermeldeten, dass das Wirtschaftswachstum offenbar wieder anziehe, zugleich aber den nur langsamen Rückgang der Arbeitslosigkeit und Zweifel an der Nachhaltigkeit dieser Entwicklung akzentuierten.217 Zum Eindruck einer tendenziell positiven Tendenz trugen sie indes dadurch bei, dass ihre Wirtschaftsberichterstattung vermehrt Meldungen über die erfreuliche Lage einzelner Unternehmen enthielt.218 Gleichwohl konnten umgekehrt Artikel, die einen längerfristigen Blick auf die Wirtschaftsentwicklung entfalteten, wie eine 214 Vgl. Bonn: Alles wird halb so schlimm – Der kleine Mann kommt noch mal davon – Neue Milliardenspritze für die Wirtschaft, in: BILD, Nr. 155, 07.07.1967, S. 1, 6, hier S. 6. 215 Wirtschaft atmet auf. Wir kriegen die Kurve, in: BILD, Nr. 183 [?], 09.08.1967, S. 1, 6, hier S. 1. 216 Letzter Appell an 38 Frauen und 480 Männer in Bonn. Haltet unser Geld zusammen!, in: BILD, Nr. 207, 06.09.1967, S. 1, 6, hier S. 6. 217 Siehe etwa: Arbeitslosenzahl sinkt nur langsam. Im Juli Abnahme um 23.500 / Jetzt sind 377.200 Stellungslose registriert, in: SZ , Nr. 186, 05./06.08.1967, S. 1; Bundesbank: Der Konjunkturrückgang ist gestoppt. Tendenz zu höherer Lagerhaltung und größere Nachfrage nach Krediten sind erste Anzeichen einer neuen Belebung, in: SZ , Nr. 189, 09.08.1967, S. 7; Konjunktur widersprüchlich beurteilt. Im Gegensatz zur Industrie sieht das Bundeswirtschaftsministerium keine Wende, in: SZ , Nr. 190, 10.08.1967, S. 1. 218 Exemplarisch: Daimler-Benz unverändert optimistisch. Der Absatz wird weiter steigen / A n den Investitionsplänen wird nichts geändert, in: SZ , Nr. 189, 09.08.1967, S. 8.
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SPIEGEL-Titelgeschichte über die gestiegene Zahl an Unternehmensinsolvenzen
zwischen 1966 und dem Sommer 1967, nach wie vor auch den Eindruck einer angespannten Wirtschaftslage vermitteln.219 Erst als sich die günstigen Tendenzen verfestigten und mit dem beschlossenen zweiten Konjunkturprogramm, dem die Meldungen über ausbleibende Erfolge Legitimation verschafft hatten, eine zusätzliche Verstetigung dieses Trends erwartbar war, dominierte der Chor optimistischer Stimmen. Dieser Chor wurde angeführt von (Regierungs-)Politikern, deren Deutungen die betrachteten Zeitungen kaum hinterfragten – oder denen sie, wie die ZEIT, ausdrücklich ein gutes Zeugnis ausstellten.220 Die Orientierung an den Interpretationen der Politiker bezog sich sowohl auf inhaltliche Aussagen als auch verwendete Sprachbilder, was Bergmetaphoriken bei Bewertungen zur Konjunkturlage kurzzeitig eine prominente Rolle eintrug. So transportierten SZ und FAZ entsprechende Einschätzungen, etwa Kiesingers und Schillers, von ›beendeten Talfahrten‹ oder ›durchschrittenen Talsohlen‹.221 Fundiert und unterstützt wurde diese Beurteilung durch die Einschätzungen der Bundesbank, die in ihrem Monatsbericht Mitte September einen positiven Konjunkturverlauf in Aussicht stellte und erklärte, die Industrieproduktion habe im Juli 1967 erstmals seit einem Jahr wieder konjunkturell zugenommen.222 Als der Sachverständigenrat im Dezember sein Jahresgutachten präsen tierte,223 resümierte der SPIEGEL , der »Stern der Konjunktur« sei offenkundig 219 [Konkurse] Friedhof der Schwachen, in: DER SPIEGEL , Nr. 36, 28.08.1967, S. 32–46. 220 Diether Stolze, Das kommandierte Wirtschaftswunder. Wo in Bonn die Zukunft begann, in: DIE ZEIT, Nr. 36, 08.09.1967, S. 1 (»In dieser Situation hatten Schiller und Strauß gar keine andere Wahl: Sie mußten alle Anstrengungen darauf konzentrieren, die Wirtschaft wieder auf Touren zu bringen. Und das ist ihnen gelungen. […] Die wirtschaftlichen Aussichten sind gegenwärtig so günstig wie nie in den letzten Jahren. Bereits heute zeigen sich die Konsumenten wieder bereit, mehr zu kaufen, und die Unternehmen zeigen sich bereit, mehr zu investieren. Das Exportgeschäft läuft seit Monaten auf vollen Touren, die ›Inflationsrate‹ ist niedriger als je in den sechziger Jahren, und man darf hoffen, daß die Arbeitslosigkeit im nächsten Winter erheblich geringer sein wird als 1966/67. […] Wenn Schiller seine Politik des ›Aufschwungs nach Maß‹ konsequent fortsetzt, dann können wir 1968 eine neue Hochkonjunktur mit Vollbeschäftigung, steigendem Einkommen und vor allem (das wird für die weitere Entwicklung entscheidend sein) wesentlich höheren Gewinnen der Unternehmen erleben.«). 221 Kiesinger: Talfahrt der Wirtschaft beendet. »Ich habe die berechtigte Hoffnung, daß es aufwärts geht« / Engere Konsultationen mit Washington im persönlichen und schriftlichen Kontakt / K ritik an Erhards Amtsführung, in: SZ , Nr. 200, 22.08.1967, S. 1 f.; Schiller verspricht: Keine weiteren Steuererhöhungen. Tiefpunkt der Konjunktur überwunden / Absage an die Planifikation / Liberalisierung des Außenhandels bleibt / Frankfurter Automobil-Ausstellung eröffnet, in: FAZ , Nr. 221, 15.09.1967, S. 1 (»nunmehr überwundenen konjunkturellen Talsohle«). 222 Vgl. Zweites Konjunkturprogramm »vertretbar«. Bundesbank erwartet Nachfragebelebung – Erweiterte Offenmarktpolitik, in: Handelsblatt, Nr. 177, 13.09.1967, S. 1. 223 Sachverständigenrat, Stabilität im Wachstum.
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wieder aufgegangen.224 In der Weihnachtsansprache Kiesingers nahm die ökonomische Situation nur mehr einen untergeordneten Stellenwert ein. Sie hatte so sehr an Brisanz eingebüßt, dass der Kanzler lediglich einen Satz auf sie verwendete. In diesem historisierte er die Krise und stellte sie endgültig als überwunden dar, indem er konstatierte, die Große Koalition habe »nun das Gröbste geschafft, das, was unverzüglich getan werde mußte, vor allem die Verhinderung eines wirtschaftlichen Abstiegs und die Ordnung der öffentlichen Finanzen. Sie [werde] sich nun neuen Aufgaben zuwenden […].«225 Augenscheinlicher hätte die Deutung eines Schlusspunktes kaum ausfallen könne – das gilt auch dann, wenn man einkalkuliert, dass Kiesinger pragmatisch die Absicht verfolgte, seiner Regierung ein gutes Zeugnis auszustellen.
224 [Konjunktur] Licht im Advent, in: DER SPIEGEL , Nr. 51, 11.12.1967, S. 29–33, hier S. 29. 225 Kiesinger, Politik der Verantwortung für den Frieden, S. 1289.
IX. Zwischen Steuerungsphantasien und Krankheitsfurcht: konzeptuelle Konfigurationen
Der Krisendiskurs basierte nicht nur auf den sprachlichen Grundmustern der Deutung und Argumentation, die im Verlauf der Jahre 1966 und 1967 offensichtlichen Veränderungen unterlagen. Hinzu kamen weitere sprachliche Elemente der Krisenkonstruktion: einerseits auf wenige Begriffe konzentrierte Benennungen der Ziele, denen die politischen Entscheidungen dienen sollten; andererseits Sprachbilder, die elementare Vorstellungen von den finanzpolitischen und ökonomischen Schwierigkeiten ausdrückten. Dieses Kapitel behandelt nacheinander beide Aspekte (IX .1 u. IX .2), bevor es abschließend nochmals genauer die Verwendungen des Krisenbegriffs beleuchtet (IX .3).
1. Kontinuität der Ziele: Stabilität, Wachstum, Vertrauen Der Durchgang durch die drei (respektive vier) Krisenphasen ließ bei Gegenwartsbeurteilungen, Erwartungen und politischen Handlungsvorschlägen klar eine Entwicklung erkennen. Die Diagnose- und Handlungstopoi veränderten sich merklich. Dagegen unterlagen die Aussagen, die Ziele wirtschafts- und finanzpolitischen Handelns benannten, einem wesentlich geringeren Wandel. Diese Ebene der Zieltopoi zeigt an, auf welche Kernbegriffe politische Vorsätze gebracht, mit welchen Kriterien sie beschrieben und wie ökonomische Erfolge bemessen wurden. Aus einer heutigen Perspektive wirken diese Kriterien vertraut. Es handelte sich um Maßstäbe, die bis in die Gegenwart nur allzu bekannt sind. Stabilität (›zu sichern‹) und Wachstum (›zu erhalten / zu entfachen‹) werden bis heute verbreitet als Ziele wirtschaftspolitischen Handelns betrachtet, obwohl sich eine unreflektierte Wachstumsfixierung seit den 1970er Jahren situativ zunehmender Kritik ausgesetzt sieht.1 Das Reden von (wieder-)herzustellen1 Vgl. Stötzel / Wengeler, Kontroverse Begriffe, S. 78–81. Zu den Diskussionen um Infragestellungen der Wachstumsorientierung und ihren langfristig dennoch geringen Auswirkungen auf wirtschaftspolitische Zielformulierungen siehe ausführlich Kap. XV.5.
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dem ›Vertrauen‹ prägte den ökonomischen Diskurs, wie gesehen, schon in der Weimarer Republik und hat ebenfalls bis heute nicht an Aktualität eingebüßt.2 Diese drei Absichten bildeten die über den gesamten Krisenverlauf artikulierte Ziel-Trias, wenngleich mit je unterschiedlicher Gewichtung in den verschiedenen Krisenphasen. Auffällig ist, welche Sprechergruppe es vornehmlich war, die Ziele explizit formulierte: Fanden sich die Diagnose- und Handlungs topoi grundsätzlich bei Vertretern beider im Korpus vertretenen Akteurs gruppen, waren Zielformulierungen weitaus häufiger bei Politikern zu finden als in journalistischen Texten. Ob der Politiker zur Regierung oder zur Opposition gehörte, spielte dagegen keine entscheidende Rolle. Angesichts der skizzierten Genese des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes, das zunächst bezeichnenderweise allein unter ›Stabilisierungsgesetz‹ firmierte, ist verständlich, dass Stabilität im Sommer 1966 und bis in den Herbst hinein stärker betont wurde als in den anschließenden Phasen. Das Problem hoher Inflationsraten, das der Bundesbank erst Anlass zu ihrer restriktiven Geldpolitik gegeben hatte, lässt dies plausibel erscheinen. Genauso ist nachvollziehbar, dass das Stabilitätsziel an öffentlicher Betonung einbüßte, als Erfolge der Restriktions politik erkennbar wurden und zugleich ein anderes Problem – die zurückhaltende Investitionsbereitschaft der Unternehmen – in den Fokus rückte. So kam der Sachverständigenrat in seinem Sondergutachten vom Frühjahr 1967 zu dem Schluss, dass die »Gefahren für die Stabilität des Preisniveaus einstweilen nicht mehr so groß« seien, während Wachstum und Beschäftigungsstand Sorge bereiteten.3 Letzteres sei unter anderem Folge einer »besonders große[n] Labilität im Verhalten nicht nur der Investoren, sondern auch der Konsumenten«.4 Dass vor diesem Hintergrund das Reden über die Wiederherstellung von Vertrauen zu- und die Akzentuierung des Stabilitätsziels abnahm, überrascht nicht. Gleichwohl waren beide Ziele in sämtlichen Krisenphasen präsent. Als drittes hinzu kam jenes der Wachstumssicherung und Wachstumswiedergewinnung – und dies sogar in nahezu konstanter Intensität. Beinahe willkürlich – ohne Ansehen der Krisenphase oder Person – könnte man Äußerungen zu den grundsätzlichen Zielen der Wirtschafts- und Finanzpolitik herausgreifen: die Wahrscheinlichkeit, dass ›Stabilität‹ und ›Wachstum‹ genannt werden, ginge gegen Eins.5 Verfeinert man den Blick, lassen sich ge2 3 4 5
Siehe Kap. IV.2. Sachverständigenrat, Zur Konjunkturlage im Frühjahr 1967, S. 260. Ebd., S. 262. Diese Beobachtung ist nicht auf den hier betrachteten Krisenkontext zu beschränken. Vielmehr hat Nützenadel, Konjunktur und Krise, S. 130, betont, dass sich ›Wachstum‹ und ›Stabilität‹ in den ersten 25 Jahren der bundesrepublikanischen Geschichte vor dem Hintergrund der erfolgreichen ökonomischen Entwicklung zu weithin verbreiteten politischen »Leitbegriffen« entwickelten.
Kontinuität der Ziele
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legentlich sprecherspezifische, teils gar konzeptionell verschiedene Akzentu ierungen feststellen. Ein Blick in die Haushaltsdebatte vom 10. November 1966 kann dies veranschaulichen: Für die FDP konstatierte Hans Friderichs, dabei die Kontinuität der Ziele herausstellend: »Das Ziel der Politik – hier könnte ich die ganze Regierungserklärung vom Herbst 1965 zitieren – ist: Stabilität und Wachstum.«6 Ganz ähnlich klang der CDU-Abgeordnete Albert Leicht, der forderte, die »finanzielle Ordnung gesund zu erhalten und damit die Voraussetzungen für ein weiteres Wachstum«.7 Pragmatisch nutzte er diese Zielformulierung, um Kürzungen im Haushalt zu begründen. Auch Kanzler Kiesinger benannte einen Monat später als eines der Hauptziele der Großen Koalition die »Sorge für das Wachstum unserer Wirtschaft und die Stabilität der Währung«.8 Bei Karl Schiller klang die Formulierung hingegen bereits im November wie ein Element seines keynesianischen Baukastens; er forderte einen »Aufschwung in Stabilität«, dessen Voraussetzung eine »konzertierte[ ] Aktion für Stabilität und Aufschwung« sei.9 Um diesen zu erreichen, warb er für einen »Kurswechsel […] im Sinne eines systematischen, planvollen Weges nach oben, einer Politik der Förderung von Stabilität und Wachstum zugleich.«10 Seine Wortwahl bedeutete nicht nur einen Vorgriff auf die Begrifflichkeiten und konzeptionellen Elemente, um die sich wenige Wochen später seine Politik als Wirtschaftsminister gruppierte. In ihr zeigte sich deutlicher als in den anderen Zitaten die Überzeugung, durch das richtige finanz- und wirtschaftspolitische Agieren seien die gegenwärtigen Schwierigkeiten gezielt überwindbar. Ohne expliziert zu werden, schimmerte die Grundüberzeugung der Globalsteuerung durch, die Wirtschaft sei eine weithin steuer- und beherrschbare Größe. Ganz ähnlich formulierte SPD -Finanzexperte Alex Möller zweieinhalb Monate später, als er die Entscheidung für den Eventualhaushalt begründete. Befriedigt stellte er fest, es sei endlich Konsens, dass in der gegenwärtigen Lage ein stures Beharren auf einem fiskalisch gleichgewichtigen Etat als »wirksames Mittel zur Herbeiführung eines gesunden Wachstums der Wirtschaft und zur Sicherung der Stabilität« nicht ausreiche.11 Mit dieser Überzeugung ging nicht nur eine Veränderung in der konkreten Wirtschaftspolitik hin zur aktiven Konjunktursteuerung einher. Vielmehr beschrieb sie einen institutionellen Wandel, schließlich hatte sich 6 Hans Friderichs, Bundestag, 5. WP, 71. Sitzung, 10.11.1966, S. 3376 A – 3376 B. 7 Albert Leicht, Bundestag, 5. WP, 71. Sitzung, 10.11.1966, S. 3338 D. 8 Kiesinger, Bundestag, 5. WP, 80. Sitzung, 13.12.1966, S. 3656 D. Folgt man dem Titel des Handelsblatts vom folgenden Tag, beschrieb diese Zielformulierung gar die Essenz der gesamten Erklärung: Kiesingers Ziele: Wachstum und Stabilität. Neues Wahlrecht im Regierungsprogramm offiziell angekündigt, in: Handelsblatt, Nr. 239, 14.12.1966, S. 1. 9 Karl Schiller, Bundestag, 5. WP, 71. Sitzung, 10.11.1966, S. 3367 A. 10 Ebd., S. 3365 B – 3366 B. 11 Möller, Bundestag, 5. WP, 88. Sitzung, 26.01.1967, S. 4109 A – 4109 B.
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breitenwirksam ein elementares Denk- und Handlungsmuster verändert. Entsprechend freute sich Möller, dass man diese Tatsache »Gott sei Dank heute in diesem Hohen Hause erwähnen [dürfe], nachdem antizyklisches Denken nicht mehr zu [den] geistigen Sperrzonen gehör[e].«12 Und er fügte zuversichtlich hinzu, die Maßnahmen der aktiven Konjunkturpolitik würden ein anderes Ziel rasch erreichbar machen, nämlich »dem deutschen Volke das Vertrauen in eine stetige gesunde Wirtschaftsentwicklung wiederzugeben«.13 Stabilität und Wachstum auf der einen Seite, Vertrauen auf der anderen Seite repräsentierten freilich kategorial differente Zielarten. Stabilität, primär verstanden als Sicherung des Geldwertes, stellte nicht nur eine Reaktion auf sichtbare Inflationsanzeichen dar, es war (und ist) auch ein Ziel, das in Deutschland seit den Erfahrungen der 1920er Jahre prinzipiell und permanent mit großer Sensibilität betrachtet wird. Deshalb bedurfte es kaum einer Begründung. Historische und aktuelle Erfahrungen plausibilisierten es eo ipso. Ferner fügte es sich konzeptionell in die wirtschaftspolitische Programmatik am Ende der Kanzlerschaft Erhards, der es als wichtigstes Ziel des Stabilitätsgesetzes deklarierte und zum Mittelpunkt seines ›Maßhalte‹-Mantras machte, genauso ein wie nachfolgend in das Konzept der Globalsteuerung. Wachstum hingegen avancierte nicht nur – und nicht erst – in Anbetracht einer aktuell rezessiven Konjunkturentwicklung zur wichtigen Leitkoordinate. Vielmehr gehörte eine weitgehend unhinterfragte Wachstumsorientierung nach 1945 zum parteiübergreifenden wirtschaftspolitischen Konsens. Sie stellte unter anderem die Grundbedingung für die fortgesetzte Ausbreitung der Konsumgesellschaft dar – und damit nicht zuletzt der politischen Legitimation der Gesellschaftsordnung.14 Stabilität und Wachstum waren mithin bereits vor der Krise als Ziele etabliert, und sie blieben es darüber hinaus. Um dies an zwei kleinen, aber eindrücklichen Beispielen zu veranschaulichen: Der Sachverständigenrat hatte schon sein Jahresgutachten 1964/65 unter den Titel »Stabiles Geld – Stetiges Wachstum« gestellt,15 und Bundeskanzler Willy Brandt betonte in seiner ersten Regierungs erklärung vom Oktober 1969 finanz- und wirtschaftspolitisches Ziel der sozialliberalen Koalition sei eine »Stabilisierung ohne Stagnation«, also bei spürbar bleibendem Wirtschaftswachstum.16 Im Zuge der unmittelbaren Vorkrisen- und Krisenentwicklung erfuhren die beiden Ziele lediglich eine erhöhte Aufmerksamkeit. Interessanterweise erlangten die übrigen Fixpunkte des ›magischen 12 Ebd., S. 4109 B. 13 Ebd., S. 4111 D. 14 Vgl.: Torp, Wachstum, Sicherheit, Moral, S. 92–99; Stötzel / Wengeler, Kontroverse Begriffe, S. 78. 15 Sachverständigenrat, Stabiles Geld – Stetiges Wachstum. 16 Willy Brandt, Bundestag, 6. WP, 5. Sitzung, 28.10.1969, S. 22 B.
Kontinuität der Ziele
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Vierecks‹ – Vollbeschäftigung und Außenhandelsgleichgewicht – keine vergleichbare Prominenz. Letzteres mag damit zu erklären sein, dass eine ausgeglichene Außenhandelsbilanz ein abstrakteres Ziel beschreibt. Anders ausgedrückt: Die Folgen von Inflation, Wachstumseinbruch oder Arbeitslosigkeit sind unmittelbar – negativ – spürbar, jene einer unausgeglichenen Handelsbilanz dagegen nicht. Mehr noch: Bedingt durch die überdurchschnittliche Exportorientierung der bundesdeutschen Wirtschaft stellte sie eine realiter nicht zu erreichende Absicht dar. Erklärungsbedürftiger erscheint, weshalb Vollbeschäftigung selten explizit als Ziel formuliert wurde. Hier ist der sprachgeschichtliche Befund auf den ersten Blick paradox. Denn wie wir gesehen haben, war die Zunahme von Arbeits losigkeit und Zeitarbeit ein sensibel verfolgtes und diskutiertes Thema. Eindeutig wurde ihm eine entscheidende Indikatorfunktion für wirtschaftliche Probleme attestiert. Der erwartbare Effekt, dass deshalb automatisch Forderungen der Form ›Vollbeschäftigung wiederherstellen‹ explizit formuliert worden wären und als Zieltopos die politische Kommunikation geprägt hätten, trat indes nicht ein. Ein Grund dafür könnten die aufgezeigten Kontroversen um die Frage ›Krise oder Normalisierung?‹ sein. Der Beschäftigungseinbruch war dabei interpretierbar als Abbau der Überbeschäftigung und Übergang zu einem ›normalen‹ Beschäftigungsstand. Insoweit wurde weniger der Beschäftigungsgrad selbst, sondern die Tendenz der Beschäftigungsentwicklung als besorgniserregend gedeutet. Einziges Ziel krisenspezifischer Art war dagegen die geforderte Sicherung und Re-Generierung von Vertrauen. Auch dieser Zieltopos war bereits in der Vorkrisenphase beobachtbar. Gesteigerte Bedeutung im Sinne verstärkter öffentlicher Artikulation kam der Vertrauenssicherung jedoch erst im Zuge der Verabschiedung des wirtschaftspolitischen Maßnahmenkatalogs der Großen Koalition zu. Wer sich dieser Redeweise bediente, unterstellte, dass ein Teil der Probleme – konkret: der verzögerte Aufschwung – aus einem Mangel an Vertrauen resultiere: einem Vertrauensdefizit potenzieller Investoren in eine positive wirtschaftliche Zukunft einerseits, einem Vertrauensdefizit der Arbeitnehmer in zukünftig sichere Arbeitsplätze, was private Konsumentscheidungen hemmen könne, andererseits. Die ›Vertrauens‹-Rede bezog sich mithin zuvorderst auf jene Bereiche, für die auch Wirtschaftshistoriker die Kategorie ›Vertrauen‹ zum Argument machen.17 Verglichen mit dem Weimarer Krisendiskurs war der Sprachgebrauch nicht grundverschieden, aber zielgerichteter und somit weniger ubiquitär. Das Vertrauens-Ziel bezog sich überwiegend auf das Herbeiführen einer optimistischen Erwartungshaltung. So war die Rede von der Notwendigkeit, das 17 Vgl. oben Kap. IV.2.
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»Vertrauen in eine stetige Wirtschaftsentwicklung«18 neu zu verankern bzw. »das Vertrauen in die Konjunktur wieder [zu ] festigen«;19 oder es ging um die Absicht, »Vertrauen des Konsumenten in die künftige Entwicklung und in die Erhaltung seines Arbeitsplatzes, […] Vertrauen des Investors in die Rentabilität seiner Investitionen« zu ermöglichen.20 ›Vertrauen‹ bezog sich darauf, Zutrauen in die Entwicklung einer relativ abstrakten, eher institutionellen Größe zu ermöglichen: den Markt beziehungsweise die Konjunktur. Da der für die Kategorie ›Vertrauen‹ in theoretischer Sicht zumeist unterstellte, direkte personale Bezug fehlte, handelte es sich (wie im Weimarer Diskurs) um alltagssprachlich verbreitete, aber unpräzise Formulierungen. Folgt man den Definitionsvorschlägen Ute Freverts, die sich an Differenzierungen Niklas Luhmanns anlehnen, beschrieb das Ziel ›Vertrauen‹ mithin weniger, ›Vertrauen‹ zu schaffen, sondern »Zuversicht« auszulösen.21 Von den Zielen Stabilität und Wachstum unterschied sich Vertrauen auch deshalb, weil es als einziges Ziel auch Signum von ökonomischer Reflexion einerseits, gesteigerter Sprachsensibilität andererseits sein konnte. In erstgenannter Perspektive fügte es sich in Reflexionen ein, die in der Redeweise vom ›psychologischen Anteil an der Wirtschafts- bzw. Konjunkturentwicklung‹ kulminierten. Sie meinten die insbesondere zeitlich nicht exakt planbaren und nicht quantitativ auszudrückenden Folgen wirtschaftspolitischer Entscheidungen. Speziell Regierungspolitiker erklärten die verzögert einsetzende Wirkung der Investitionen aus dem ersten Eventualhaushalt auf diese Weise; der ›psychologische Aspekt‹ fungierte gleichzeitig als Erklärung und argumentative Entlastung. Hierin unterschied sich der Krisendiskurs 1966/67 freilich nicht fundamental von den frühen 1930er Jahren. Ein zweiter Blickwinkel zeugt hingegen vom Bewusstsein für die performativen Folgen, die sich aus der Deutung einer Wirtschaftslage und der Artikulation ökonomischer Erwartungen ergeben konnten. Die Hoffnungsprognosen, die beispielsweise Kiesinger und Schiller bei den Messeeröffnungen anfangs der abschließenden Krisenphase vorbrachten, illustrieren diese beabsichtigten Effekte. Indem die Politiker – im Einklang mit anderen Instanzen wie dem Bundesbankpräsidenten – offensiv eine konjunkturelle Erholung prognostizierten, versuchten sie, Vertrauen in eine sicher(e) positive Wirtschaftsentwicklung herzustellen und so Investoren zu ermutigen. Ihr Verhalten zeugte von der Sensibilität dafür, dass die öffentlich vorgebrachte Interpretation einer (künftigen) Situation mittelbar realwirtschaftliche Folgen zeitigen konnte.
18 Bundestag dringt auf rasche Maßnahmen zur Belebung der Wirtschaft, in: SZ , 27.01.1967, S. 2. 19 Erhards Mahnung: Nicht zuviel planen, in: SZ , Nr. 51, 01.03.1967, S. 29. 20 Wolfgang Pohle, Bundestag, 5. WP, 95. Sitzung, 17.02.1967, S. 4320 A. 21 Frevert, Vertrauen – eine historische Spurensuche, bes. S. 8–9, 56, Zitat S. 8.
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2. Krankheits- und Maschinenbilder – tragende Metaphern Verglichen mit den beiden Weltwirtschaftskrisen brachte der Krisendiskurs 1966/67 nicht nur eine geringere Zahl an Sprachmustern und tragenden Einzelbegriffen hervor. Größere Übersichtlichkeit zeigte sich ebenso im Metaphernhaushalt. Wie im Krisendiskurs der frühen 1930er Jahre ließen sich kategorial zwei Metapherngruppen differenzieren: einerseits Metaphern, die das Ökonomische als körperlich-organisch konzipierten, andererseits Metaphern, die mechanistisch-maschinistische Vorstellungen transportierten. Auch wenn körperlich-organische Vorstellungen weiterhin überwogen, nahm der Verwendungsgrad mechanistisch-maschinistischer Sprachbilder in Relation zu: Hatte das Verhältnis im (hier zugrunde gelegten Korpus im) Weimarer Wirtschaftskrisendiskurs noch 3,8:1 betragen, belief es sich jetzt nur noch auf 2,6:1. Ursächlich für diese Veränderungen scheinen alle drei Faktoren, die bereits als bestimmend für den Abruf bestimmter Metaphernfelder ausgemacht wurden:22 Erstens war es hervorstechendes Merkmal des Krisendiskurses, dass die Vorstellung, der Staat könne und solle konjunkturpolitisch aktiv handeln, sich breitenwirksam etablierte. Das Maß der dem Staat zugeschriebenen Verantwortung für das Wirtschaftsgeschehen war vermutlich nie größer als zum Zeitpunkt der ›keynesianischen Wende‹ und der unmittelbar folgenden Jahre. Zweitens aktualisierten sich zwar die (mindestens) seit dem 19. Jahrhundert üblichen Deutungen einer wirtschaftlichen Störung als ›Krankheit‹. Nun waren sie aber die einzigen Versatzstücke organisch-körperlicher Metaphorik. Eine Beeinflussung des Krisendiskurses durch angrenzende Diskurse, die sich in den 1920er und 1930er Jahren gezeigt hatte, als die biologistische Konzeptualisierung nahezu aller Gesellschaftsbereiche auf die Wirtschaft übergriff, blieb diesmal aus. Drittens war die Problemlage überschaubar. Nachdem das politische Steuerungsvakuum gefüllt war, beruhte die ›Krise‹ ausschließlich auf einer binnenwirtschaftlichen Problemlage, zu deren Überwindung man die richtigen Mittel zu kennen glaubte. Dies schlug sich deutlich in der konkreten Gebrauchsweise der Metaphern nieder. ›Krankheits‹-Deutungen liefen nicht auf einen drohenden Verfall hinaus, sondern mit ihnen wurde sogleich impliziert, über die richtigen Mittel für die ›Therapie‹ zu verfügen. Sprachbilder, die das Ökonomische als mechanisch funktionierend oder maschinistisch angetrieben entwarfen, produzierten zugleich die Überzeugung, mit dem korrekten Bedienen der ›Maschine‹ sei die Wirtschaft eine präzise steuerbare Größe.
22 Siehe die Vorbemerkung in Kap. IV.4.
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2.1. Gesundung nötig und möglich: Krise als überwindbare Störung Die zuversichtlichen Sichtweisen, die in der zweiten und dritten Krisenphase verbreitet waren, unterstreichen, als was die Schwierigkeiten betrachtet wurden: als Störung, als wirtschafts- und finanzpolitische Herausforderung von, je nach Krisenphase, unterschiedlich großer Dringlichkeit. Obwohl sich in der zur Problemlösung verwendeten wirtschaftspolitischen Konzeption ein gravierender Kurswechsel vollzog, wurde die Problemlage selbst nicht als Ausdruck einer tiefgreifenden Zäsur interpretiert. Hervorgerufen und widergespiegelt durch die verwendeten Sprachbilder, erschienen die Schwierigkeiten als ›Krankheit‹, als ernste, aber mit der richtigen Rezeptur überwindbare Störung. Dies macht verständlich, wie sich die Gewissheit ergeben konnte, die Herausforderungen zügig und erfolgreich zu bestehen: Schließlich wähnte man sich seit dem Amtsantritt der Großen Koalition im Besitz der ›richtigen Medizin‹. Damit näherten sich selbst körperlich-organische Sprachbilder tendenziell den weitreichenden Steuerungsphantasien an, die Wissenschaft und Politik in den 1960er und frühen 1970er Jahren umtrieben. Betrachtet man die Sprachbilder im Detail, lassen sich erneut zwei Formen von Krankheitsmetaphern ausmachen: direkte und indirekte. Direkte Krankheitsmetaphern beschrieben ein Problem explizit als Krankheit oder benannten ein konkretes Symptom. Metaphern dieser Art wurden insbesondere zur Beschreibung der etatpolitischen Probleme verwendet. So setzte Kurt Georg Kiesinger die Auswüchse des Bundeshaushalts mit einem Krebsgeschwür gleich und warnte vor der Ausbildung »finanzielle[r] Metastasen«.23 Um deren Verbreitung, sprich eine weitere Vergrößerung des Haushaltsdefizits, zu verhindern, habe man sich für einen »scharfe[n], wohldurchdachte[n] chirurgische[n] Eingriff«, also Kürzungen, entschieden.24 Nahezu wortgleich hatte sein Parteifreund Albert Leicht im November 1966 bereits angemahnt, die »finanzielle Ordnung gesund zu erhalten«, und gewarnt, »[w]as heute an leichten chirurgischen Eingriffen versäumt« werde, könne »vielleicht schon in wenigen Monaten zu existenzgefährdenden Maßnahmen zwingen.«25 Indirekte Krankheitsmetaphern traten weitaus öfter auf. Sie riefen mittelbar das Bild von einer Krankheit hervor, indem sie die Notwendigkeit einer ›Wiederbelebung‹, einer ›Gesundung‹ oder des Erhalts einer ›gesunden Entwicklung‹ betonten oder auf Gefahren einer ›Ansteckung‹ hinwiesen. Hierbei wurde keine ›Erkrankung‹ benannt, aber implizit unterstellt, dass eine solche vorliegen müsse. Bedingt durch ihre geringere Präzisierung waren diese Sprachbilder deu23 Kiesinger, Bundestag, 5. WP, 86. Sitzung, 20.01.1967, S. 3995 D. 24 Ebd. 25 Leicht, Bundestag, 5. WP, 71. Sitzung, 10.11.1966, S. 3338 D.
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tungsoffener und freihändiger zu gebrauchen. BILD präsentierte ein »Konzept zur Gesundung unserer Wirtschaft«,26 Finanzminister Strauß »Maßnahmen zur Wiederbelebung der Wirtschaftstätigkeit«,27 der FDP-Parlamentarier Staratzke forderte »Konjunkturbelebungsmaßnahmen«,28 SZ-Redakteur Slotosch erkannte »erste[ ] Schritte zu einer Belebung der Konjunktur«.29 Und im Herbst 1967 zitierte BILD Rainer Barzels Diagnose einer »Wirtschaft, die gerade dabei [sei], sich zu erholen«.30 Wie die Beispiele zeigen, waren auch die indirekten Krankheitsmetaphern auf die wirtschafts-, in geringerem Maße die haushaltspolitischen Erschwernisse bezogen. Die Probleme mangelnder politischer Führung und Ordnung, deren Diskussion den Herbst 1966 geprägt und die Hochphase der Verwendung des Krisenbegriffs ausgemacht hatte, evozierten hingegen kaum Verwendungen von Krankheitsmetaphern. In diesem Kontext waren Formulierungen, mit denen einer Sachlage oder Situation pathologische Züge unterstellt wurden, eine Rarität. Sie beschrieben keine weithin geteilte Interpretation, sondern wurden bestenfalls gelegentlich als Mittel sprachlicher Zuspitzung von (Oppositions-)Rednern gebraucht. So wandte sich etwa Herbert Wehner am 8. November 1966 direkt an die Union und warf ihr vor, den »Staat mit [i]hrer Krise anzustecken und zu beladen, weil [s]ie selbst mit [i]hrem Problem Bundeskanzler Erhard in Fraktion und Partei nicht fertig« werde.31 Nicht nur wegen des ungewöhnlichen Kontextes bedeutete dieses Zitat eine Ausnahme. Sondern es war zudem deshalb unüblich, weil hier die »Krise« selbst und nicht eines der Probleme mit der Ansteckungsgefahr – also ›Krankheit‹ – gleichgesetzt wurde.
2.2. Was treibt die Wirtschaft an? Den Gegensatz zur impliziten Körperlichkeit, die der Wirtschaft durch Krankheitsdeutungen attestiert wurde, bildeten abermals Metaphern, die das Ökonomische als mechanisches System oder ›Maschine‹ konzeptualisierten. Sowohl Politiker als auch Journalisten gebrauchten dieses Sprachbild. Wer sich der Metaphern bediente, begriff und strukturierte die Wirtschaft mittels eines
26 Strauß und Schiller sollen den Karren aus dem Dreck ziehen. BILD fragte beide Minister: Wie?, in: BILD, 07.01.1967, S. 1. 27 Strauß, Bundestag, 5. WP, 90. Sitzung, 01.02.1967, S. 4188 B. 28 Staratzke, Bundestag, 5. WP, 90. Sitzung, 01.02.1967, S. 4190 B. 29 Walter Slotosch, Von Defizit zu Defizit, in: SZ , Nr. 46, 23.02.1967, S. 4. 30 Letzter Appell an 38 Frauen und 480 Männer in Bonn. Haltet unser Geld zusammen!, in: BILD, Nr. 207, 06.09.1967, S. 1, 6, hier S. 1. 31 Wehner, Bundestag, 5. WP, 70. Sitzung, 08.11.1966, S. 3298 A.
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Bildes, das zu den Grundmetaphoriken der Neuzeit zählt.32 Eine mechanistisch-maschinistische Vorstellung von der Ökonomie zu pflegen, bedeutete, Anschauungen von der »Machbarkeit der Welt« zu aktualisieren.33 Der Analogieschluss zur Technik fügte sich passgenau in die übergreifenden Planungs- und Steuerungsdiskurse der 1960er und 1970er Jahre ein, in denen der Rückgriff auf Maschinenbilder, zum Beispiel die ›Staatsmaschine‹, vielfach beobachtbar war.34 Konzeptuell vervollständigte das Bild die Lenkungsüberzeugungen, die der Globalsteuerung zugrunde lagen. Gleichzeitig transportierte es Ansichten darüber, wie die Wirtschaft funktioniere respektive was sie antreibe: die korrekte ›Bedienung‹ einerseits, der ›richtige Kraftstoff‹ andererseits. Was im Kontext der Krankheitsmetaphern der Glaube war, über die ›richtige Medizin‹ zu verfügen, spiegelte sich im Feld der Maschinenmetaphern in den Überzeugungen, mit dem Hantieren an ›Kurbeln‹ die konjunkturellen Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen. Reflektiert oder gar hinterfragt wurden diese Metaphern kaum. Kurt Schmü cker monierte zwar, »[d]as Trugbild, man könnte eine Wirtschaftsordnung wie eine Maschine bauen und brauchte sie dann nur noch laufen zu lassen, entstamm[e] einer Ideologie«.35 Seine Bedenken, geäußert in der Debatte über das Stabilisierungsgesetz im September 1966, mündeten indes nicht in eine tiefschürfende Metaphernreflexion. Denn seine Kritik an einer elementaren Denkf igur war schlicht argumentativer Baustein seiner Forderung, im Stabilitätsgesetz die permanente Dynamik und Veränderung marktwirtschaftlicher Ordnungen zu berücksichtigen und diese nicht als starres System zu begreifen.36 Mitunter konnten beide Metaphernfelder, also Krankheits- und Maschinenbilder, auch in ein- und derselben Äußerung abgerufen werden. In einem SZ-Artikel vom Februar 1967 resümierte Walter Slotosch, die neue Regierung habe bislang nur populäre Entscheidungen getroffen: den »Geldhahn wieder aufgedreht« und durch Investitionen die »ersten Schritte zu einer Belebung der Konjunktur unternommen.«37 Einen Monat zuvor hatte der FDP-Politiker Hans Georg Emde eine »gebremste Konjunktur« diagnostiziert und mit diesem Befund begründet, dass schnellstmöglich »als belebendes Element ein Auftragsstoß die Wirtschaft beschleunigen« müsse.38 Im Regelfall traten die Maschinenmetaphern indes allein auf, besonders oft, wenn es um Anreize ging, neues Wachstum auszulösen. So war es (spätestens) 32 Vgl. Remmele, Art. Maschine, S. 224. 33 Ebd., S. 225. 34 Vgl. Metzler, Am Ende aller Krisen?, S. 95. 35 Kurt Schmücker, Bundestag, 5. WP, 55. Sitzung, 14.09.1966, S. 2660 C. 36 Vgl. ebd. 37 Slotosch, Von Defizit zu Defizit, in: SZ , 23.02.1967, S. 4. 38 Emde, Bundestag, 5. WP, 88. Sitzung, 26.01.1967, S. 4097 C.
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zum Jahreswechsel Konsens, dass die »Konjunktur […] wieder angeheizt werden« und das Credo »[n]icht bremsen, sondern Gas geben« lauten müsse, damit die Bundesrepublik »nicht wirklich in eine Wirtschaftskrise schlitte[re]«.39 Die These, dass eine »Ankurbelung der Konjunktur« notwendig sei,40 passte zu der Diagnose, dass »[z]wei der bisher stärksten Antriebsmotoren der Konjunktur langsamer [liefen]: die Bautätigkeit und die Motorisierung«.41 Schon am Ende des vorangegangenen Krisenabschnitts, sich dabei gegen die Deutung einer Wirt schaftskrise indes noch wehrend, hatte der CDU-Politiker Albert Leicht festgestellt: »Die Konjunkturmotoren laufen […] langsamer.«42 Genauso hielt sich die Metaphorik in der kommenden Krisenphase. Als der SPIEGEL 100 Tage nach ihrem Amtsantritt den Start der Großen Koalition resümierte, benannte er als einen ihrer Anfangserfolge das Investitionsprogramm zur »Ankurbelung der stagnierenden Wirtschaft«.43 Im April sprach Karl Schiller davon, dass der »eigentliche[ ] Konjunkturmotor, die unternehmerische Investitionstätigkeit« weiter dringend anzuregen sei, und hoffte auf die »beschleunigte Zündungswirkung des ersten Eventualhaushalts«.44 Und auch im Sommer 1967, kurz vor Verabschiedung des zweiten Investitionsprogramms, lautete die Formulierung ganz ähnlich, als von Medien, Politikern und Wirtschaftsvertretern infrage gestellt wurde, ob die »Maßnahmen [aus dem ersten Eventualhaushalt] zur Ankurbelung der Wirtschaft ausreichen« werden.45 Schließlich zeigten sich bis zum Sommer noch keine deutlichen Anzeichen eines Aufschwungs. Dies hatte, wie bereits dargelegt, im März 1967 den führenden SZ-Wirtschaftsredakteur Franz Thoma zu dem Urteil veranlasst, der »Konjunktur-Motor bock[e]«.46 Im Tonfall leicht resigniert, zählte er die Entscheidungen von Bundesregierung und Bundesbank auf, denen er nicht widersprach, um sodann zu urteilen, die »Investition indes, dieser Motor der Wirtschaft, spring[e] nicht an«.47 Thoma erklärte dies – maschinistische Vorstellungen mit psychologischen Faktoren verbindend – mit 39 Diethelm Schröder / Friedrich Ludwig Müller, Laßt die Schornsteine wieder rauchen!, in: BILD, Nr. 302, 28.12.1966, S. 1. 40 Walter Slotosch, Ein verlorenes Jahr, in: SZ , Nr. 309, 28.12.1966, S. 4. 41 Konjunkturdämmerung, in: SZ , Nr. 12, 14./15.01.1967, S. 19. Des gleichen Sprachbildes hatte sich bereits zwei Monate zuvor die ZEIT bedient, als sie Konsequenzen der Sättigung auf dem Wohnungsbaumarkt diskutierte (»Der Baumarkt war bisher der stärkste Motor der Konjunktur.«) – Simon, Unter dem Zwang zum Handeln, in: DIE ZEIT, 18.11.1966, S. 34. 42 Leicht, Bundestag, 5. WP, 71. Sitzung, 10.11.1966, S. 3332 D. 43 [Bonn / Große Koalition] Tausend Tage, in: DER SPIEGEL , Nr. 13, 20.03.1967, S. 29–33, hier S. 30. 44 Karl Schiller, Bundestag, 5. WP, 106. Sitzung, 27.04.1967, S. 4981 B. 45 Kiesinger: Wir haben gehandelt – jetzt seid ihr dran!, in: BILD, Nr. 156, 08.07.1967, S. 1, 6, hier S. 6. 46 Thoma, Der Konjunktur-Motor bockt, in: SZ , 23./24.03.1967, S. 4. 47 Ebd.
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dem gegenwärtigen Mangel an »Optimismus«, der sich eben »nicht verordnen« lasse; »nur die Chance von morgen lock[e] ihn herbei«.48 Bewusst oder unbewusst zeigte Thoma mit dieser Diagnose die Grenzen der von ihm verwendeten Metapher, überhaupt einer technizistischen Sichtweise auf die Wirtschaft an. Er bestätigte indirekt all diejenigen (Politiker) in ihrem Handeln, die durch ihre Prognosen eines baldigen Aufschwungs unermüdlich versuchten, Optimismus zu erzeugen. Und so kann man seinen Artikel, dessen Titel überdeutlich eine maschinistische Perspektive suggerierte, auch als Plädoyer für die Bedeutung der Psychologie lesen.
3. Krise ohne ›Krise‹? Obgleich in der Analyse der Krisenphasen bereits behandelt, verdient der Krisenbegriff selbst nochmals eine Betrachtung. Wie in der Einleitung dieser Studie argumentiert wird, geht ein (Wirtschafts-)Krisendiskurs nie allein in der Verwendung des Begriffs ›Krise‹ auf; trotzdem überrascht dessen Verwendung in den Jahren 1966/67. Nicht etwa, weil der Begriff in den späten Krisenphasen an Relevanz und Verwendungsintensität einbüßte. Auch die Fallstudie zur Krise der 1970er Jahre wird eine solche Beobachtung ermöglichen. Vielmehr erstaunt die Diskrepanz zwischen dem ersten und den folgenden Krisenabschnitt(en): Am häufigsten kam der Krisenbegriff im Herbst 1966 vor, in einem Zeitraum also, in dem nicht ökonomische Schwierigkeiten, sondern Fragen der politischen Führung im Zentrum standen. Auch die Kompositumformen des Krisenbegriffs spiegeln dies; so war sehr viel öfter von ›Kanzler-‹, ›Koalitions-‹ oder ›Regierungskrise‹ die Rede als (später) von ›Wirtschafts-‹ oder ›Finanzkrise‹. Führt man sich vor Augen, um was es zwischen Oktober und Ende November 1966 ging, tritt ein klassischer Gebrauchskontext von ›Krise‹ zutage. Schließlich stand die Frage im Raum, welche Parteien mit welcher Person an der Spitze wie schnell eine neue handlungsfähige Regierung würden bilden können – und was drohte, wenn eine zügige Koalitionsfindung ausbliebe. Es handelte sich um eine traditionelle Krisenlage, eine zugespitzte Situation, in der eine Entscheidung für die künftige Entwicklung zu treffen, aber noch nicht getroffen ist.49 Die Beobachtung lässt vier Schlussfolgerungen zu. Erstens erscheint zeitgenössisch das explizit ›Krisenhafte‹ sehr viel stärker im politischen Führungsvakuum gesehen worden zu sein. Dies bedeutet im Umkehrschluss keineswegs, dass die haushaltspolitischen und konjunkturellen Schwierigkeiten nicht als 48 Ebd. 49 Zu diesem Merkmal von Krisen vgl. Koselleck, Kritik und Krise, S. 134.
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ernst betrachtet worden wären. Aber es zeugt von dem Vertrauen darauf, dass die politischen Entscheidungen zu einer Lösung der Probleme führen würden. Und es ermöglicht Rückschlüsse auf den Glauben an die prinzipielle Steuerungs fähigkeit volkswirtschaftlicher Prozesse und in die Vertreter der neuen Regierungsmannschaft. Zugleich, dies sei zunächst nur angedeutet, ist es das Ergebnis eines strukturellen Kommunikationsvorteils, der Regierungspolitikern im Augenblick dringend erforderlicher wirtschaftspolitischer Entscheidungen zuteilwurde.50 Zumindest hinsichtlich der Verwendungsfrequenz in den betrachteten Printmedien deutet der Befund – zweitens – auf bestimmte mediale Berichts- und Bezeichnungsweisen. Einzelne Personen und ihre politischen Gegenspieler, das Zerbrechen einer alten und das Zusammenfinden einer neuen Koalition weckten mutmaßlich größere Aufmerksamkeit als die strukturelle wirtschaftliche Problemlage, die das Jahr 1967 bis in den Spätsommer prägte. Das im engen Sinne politische Geschehen war personenfixierter und plastischer darzustellen und prägnant auf Konflikte und einzelne Ereignisse zuzuspitzen. Im Sinne der klassischen, eine Entscheidungssituation auf den Begriff bringenden Semantik lag das Reden von einer ›Krise‹ mithin sehr nah. Daneben kann man die Beobachtung, dass nicht nur, aber insbesondere die BILD -Zeitung die Wirtschaftslage im Verlauf des Frühsommers 1967 immer seltener thematisierte, auch als Ausdruck einer generellen Themenhierarchie verstehen. Demnach interessierte sich wenigstens die Boulevardpresse weitaus stärker für die sogenannte hohe Politik als für die Wirtschaft. Drittens erscheinen die verbreiteten Narrative zur bundesdeutschen Geschichte 1966/67 in einem anderen Licht. Wie zu Beginn dieser Fallstudie skizziert, blenden sie die vielfältigen Problemkomplexe, die ab dem Sommer 1966 die politische Lage in der Bundesrepublik prägten, keineswegs aus; die Wirtschaftslage erscheint in ihnen aber als Kernkomplex der Krise. Während dies für Arbeiten mit betont wirtschaftsgeschichtlichem Fokus einleuchtet, führt es grundsätzlich zu einem verzerrenden Umgang mit den zeitgenössischen Bedeutungszumessungen. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen seit den 1970er Jahren (und erst recht jenen seit 2007/08) mag es – viertens – verblüffen, dass ›Krise‹ als wichtiger Terminus tagespolitischer Kommunikation in den Mittelpunkt treten, anschließend jedoch wieder im Hintergrund, genauer: von der Textoberfläche, verschwinden konnte. Anders ausgedrückt: Der Begriff wurde nicht ubiquitär verwendet, obwohl schwerwiegende ökonomische Herausforderungen anzugehen waren, die sehr deutlich einen Unterschied zu den bekannten wirtschaftlichen Konstellationen der unmittelbar vorangegangenen Jahre bedeuteten. 50 Siehe hierzu Kap. X.1.
X. Einzelbetrachtungen: Akteure und Konstellationen
Den Krisendiskurs detailliert zu studieren, liefert nicht nur Kenntnisse seiner sprachlichen Träger, also historisch-semantische Ergebnisse im engeren Sinne. Darüber hinaus ermöglicht es Beobachtungen zu grundsätzlicheren Kennzeichen der Krisenkommunikation, von denen mehrere im Folgenden behandelt werden sollen: Wem kam eine besondere Deutungsmacht zu? Aus welchen konstellativen Faktoren, zum Beispiel einem zeitweilig privilegierten medialen Interesse, speiste sie sich? Waren Kontraktionen oder Erweiterungen des Spektrums prinzipiell äußerbarer Sichtweisen möglich? Welche Rolle spielten übergreifende Zeitdeutungen? Und: Unterlagen sie dauerhaften Umdeutungen?
1. Kontraktion der Sichtweisen – oder: vom dreifachen Glück, zu regieren Prägnanter als Franz Müntefering hat es niemand formuliert. Die Losung, die er auf dem Bochumer SPD -Parteitag vom März 2004 ausgab, um allzu kritische Delegierte zu disziplinieren, avancierte schnell zum geflügelten Wort: »Opposition ist Mist. Lasst das die anderen machen – wir wollen regieren«.1 Vollkommen unabhängig vom damaligen Kontext beschrieb Müntefering eine simple politische Wahrheit: Wer als Politiker gestalten möchte (was man nicht immer, aber meistens unterstellen darf), ist darauf angewiesen, zu regieren. Jede Regierungsverantwortung eröffnet eine Gestaltungschance. Diese Feststellung ist banal, aber geradezu allgemeingültig. Für Krisen gilt sie im Speziellen, weil diese oft zügig zu treffende Entscheidungen erfordern. Zumindest geben sie sel1 Zit. nach: [o. N.], Müntefering: Opposition ist Mist. Mit einer neuen Spitze will die SPD aus ihrer Krise finden. Müntefering wurde mit einem Traumergebnis zum neuen Parteichef gewählt. Benneter ist neuer SPD -Generalsekretär, online abrufbar unter: http://www. welt.de/politik/article301337/Muentefering-Opposition-ist-Mist.html (letzter Zugriff am 09.10.2018).
Kontraktion der Sichtweisen – oder: vom dreifachen Glück, zu regieren
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tener Raum für zeitlich ausgedehnte Prozesse der politischen Willensbildung, in die eine Vielzahl oppositioneller oder gar außerparlamentarischer Akteure eingebunden werden könnte. Doch profitierten CDU, CSU und SPD nicht nur vom Vorteil ihrer Gesetzgebungsmehrheit, um ihre Auffassungen durchzusetzen. Es wurde ihnen – erstens – deshalb erleichtert, ihre Positionen zu vertreten, Entscheidungen zu treffen und zu begründen, weil sie institutionell bedingt über eine Vielzahl von Kommunikationskanälen verfügten: das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, die Pressestellen der drei Regierungsparteien und die große Mehrheit der Redezeiten im Bundestag. (Den Redezeiten von Bundesregierung, Unions- und SPD -Fraktion stand allein die Redezeit der FDP-Fraktion gegenüber.) Diese Vorteile gelten freilich prinzipiell. Wie am Ende des vorangegangenen Kapitels angedeutet, soll hier argumentiert werden, dass Regierungspolitiker in der Zeit zugespitzter politischer Problematiken weitere Vorteile genossen, ihre Positionen zu kommunizieren. Denn ihre Initiativen waren – zweitens – primärer medialer Berichtsgegenstand und sie selbst gefragte Gesprächspartner. Ihnen und ihrem Agieren wurde eine weitaus größere Aufmerksamkeit zuteil als O ppositionspolitikern. Zwar wird über Regierungserklärungen, Gesetzesentwürfe und Äußerungen führender Regierungspolitiker stets berichtet, in Zeiten des Amtsantritts einer neuen Regierung und eines dringend erwarteten Maßnahmenkatalogs indes besonders oft und ausführlich. Hinzu kam, dass Journalisten Entscheidungsträger direkt befragten und mit Lagebeurteilungen konfrontierten und ihnen so – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – ein Podium boten.2 Auf diese Weise kamen überdurchschnittlich viele Interviews mit Regierungsvertretern zustande, und die Politiker gelangten auf die prominenten ersten Seiten der Zeitungen. Dort konnten sie ihre Deutungs- und Argumentationsweisen platzieren und zugleich, wie am Beispiel der Minister Strauß und Schiller gut zu erkennen, von den so geschaffenen Möglichkeiten zur Selbstinszenierung als politische Lenker profitieren. Vertretern der zahlenmäßig ohnehin unterlegenen FDP-Opposition wurde eine solche Aufmerksamkeit hingegen nicht zuteil. Dies mag damit zusammenhängen, dass sich die Liberalen nicht offensiv von den Positionen der neuen Bundesregierung abgrenzten. Stattdessen wurden in der Phase, in der über die wesentlichen Maßnahmen zur Bekämpfung von Haushaltsloch und Konjunktureinbruch debattiert und entschieden wurde, keine grundlegend divergierenden Vorschläge geäußert. Wie gezeigt, hatte sich – drittens – angesichts der akuten Problemlage das Spektrum möglicher Sicht2 Siehe z. B.: BILD -Interview mit den Ministern Schiller und Strauß, in: BILD, 07.01.1967, S. 2; »Wir sind zum Erfolg verurteilt«. SPIEGEL -Gespräch mit Bundeswirtschaftsminister Professor Karl Schiller, in: DER SPIEGEL , 09.01.1967, S. 29–32 (wie oben – Kap. VIII .3 – gezeigt, war Schiller zugleich auf dem Titelbild dieser SPIEGEL-Ausgabe zu sehen); SZ -Gespräch mit Bundesfinanzminister Franz Josef Strauß, in: SZ , Nr. 20, 24.01.1967, S. 6.
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Einzelbetrachtungen
weisen und politischer Impulse eingeengt. Wer zwischen Dezember 1966 und Februar 1967 Parlamentsdebatten verfolgte, Zeitung las oder die Vorschläge von Experten, etwa des Sachverständigenrates, studierte,3 konnte in den aktuellen Lagebeurteilungen und Handlungsvorschlägen zumeist nur graduelle Unterschiede erkennen. Obwohl der Begriff selbst im Unterschied zu heute nicht verwendet wurde, kann man von der impliziten Artikulation einer Alternativ losigkeit sprechen. Für die Regierung ergab sich der Vorteil, sich nicht mit dezidierten Gegenvorschlägen konfrontiert zu sehen. Der Begründungs- und Rechtfertigungsdruck für ihr politisches Handeln sank; er war geringer als in Zeiten regulärer politischer Entscheidungsfindungen. Ungeachtet der zunächst ausbleibenden Erfolge der beschlossenen Maßnahmen, änderte sich an diesem Grundkonsens in den Folgemonaten wenig. Dies zeigten beispielsweiseweise die mehrfach zitierten SZ-Wirtschaftskommentare, in denen nach Gründen für das ›Noch-Nicht-Wirken‹ der Beschlüsse gesucht, deren generelle Stoßrichtung aber nicht angezweifelt wurde. Dass die Kombination von Einsparungen, Investitionen – inklusive der Anregung von Folgeinvestitionen –, zurückhaltenden Tarifabschlüssen und Zinssenkungen der richtige Weg sei, blieb unbestritten. Auch die Opposition stellte dies nicht infrage. Wenn sie Kritik übte, bezog sich diese auf Einzelaspekte, zum Beispiel die Warnung vor der Belastung künftiger Bundeshaushalte als Folge der Finanzierung des Eventualhaushalts über den Geldmarkt.4 Oder sie prangerte an, dass nun durchgesetzte Entscheidungen auf altbekannte, auch von der FDP unterbreitete Vorschläge zurückgingen, das Innovative der Wirtschaftspolitik Schillers mithin weniger auf der inhaltlichen als auf der semantischen Ebene liege.5
2. Kontraktion der Zukunft? der geschrumpft-stabile Horizont Wer an politische Handlungsmodi in den 1960er und frühen 1970er Jahren denkt, gelangt zügig zur Leitvokabel der ›politischen Planung‹. Sie verband inhaltlich weitreichende Projekte, beispielsweise in der Energie- / Atom- oder Infrastrukturpolitik, mit der Nutzung neuartiger, wissenschaftlicher, scheinbar ausgefeilter Prognose- und Steuerungstechniken wie der Kybernetik.6 In einer
3 Sachverständigenrat, Expansion und Stabilität, S. 133–165; ders., Zur Konjunkturlage im Frühjahr 1967. Siehe ferner: Blessing: Neuer Aufschwung im Sommer, in: SZ , 21.02.1967, S. 1. 4 Vgl. z. B. Staratzke, Bundestag, 5. WP, 90. Sitzung, 01.02.1967, S. 4190 C. 5 Siehe Kap. X.3.1. 6 Vgl. Seefried, Experten für die Planung?, S. 109–115. Dazu ferner: Metzler, »Geborgenheit im gesicherten Fortschritt«.
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metahistorischen Perspektive stand sie für das beschleunigte Auseinandertreten von Erfahrung und Erwartung. Ein Phänomen, das Reinhart Koselleck als elementares Kennzeichen der Neuzeit herausstellte: die zurückgehende Ableitung von Erwartungen aus Erfahrungswissen, erlangte eine neue Qualität.7 Gleichzeitig unterlag der ›Erwartungshorizont‹, »jene Linie, hinter der sich künftig ein neuer Erfahrungsraum eröffnet«, strukturell beachtlichen Veränderungen.8 Nicht nur zeichnete sich an ihm eine größere Anzahl an Themen ab, auch der Weg zu ihm gewann an Länge. Anders ausgedrückt: Die zeitliche Tiefe der jeweiligen Zukunftsvorstellungen nahm rapide zu; es ging wenigstens um Jahre, bisweilen gar Jahrzehnte, nicht selten das schillernde ›Jahr 2000‹.9 Vor diesem Hintergrund liefern die artikulierten wirtschaftlichen Erwartungen einen überraschenden Befund. Weniger aus inhaltlichen Gründen, denn es irritiert kaum, dass angesichts von Etatlücke und Konjunktureinbruch Warnungs- oder kombinierte Warnungs- und Hoffnungsprognosen die Äußerungen zur Zukunft bestimmten. Eher überrascht, wie schnell und deutlich der Zeitraum, auf den sich Prognosen bezogen, zusammenschrumpfte – und wie gering der Effekt dieser zeitlichen Kontraktion auf die Formen, Zukunft zu konzipieren, dennoch insgesamt war. Je konkreter die Problemlage, desto geringer war die Zeitspanne, auf die sich Vorhersagen überhaupt noch erstreckten. Ging es um den Haushalt, so standen die Jahre 1967 und 1968 im Zentrum, Ausblicke reichten allenfalls bis 1971.10 Erwartungen zur wirtschaftlichen Entwicklung gingen nicht über das Jahr 1967 hinaus, teils bezogen sie sich nur auf die kommenden Monate.11 Besonders drastisch zeigte sich dies bei Prognosen zum Arbeitsmarkt. Hier war der Prognosezeitraum oft noch geringer. So erwähnte beispielsweise Karl Schiller im November 1966 warnend die Prognose des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, der zufolge »im kommenden Winter vorübergehend eine Zahl von 500 000 Arbeitslosen« möglich sei.12 Anton Sabel, der Leiter der Nürnberger Bundesanstalt, wurde Mitte Dezember 1966 mit der Befürchtung zitiert, es müsse »in den nächsten Wochen mit zunehmender Arbeitslosigkeit
7 Vgl. Koselleck, ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹, S. 359. 8 Ebd., S. 356. 9 Exemplarisch: Jungk (Hg.), Menschen im Jahr 2000. 10 Siehe z. B.: Friedrich Müller / Ludwig Keune, Kompromiß in allerletzter Minute. FDP fiel wieder um!, in: BILD, Nr. 251, 27.10.1966, S. 1 f., hier S. 2; Wehner, Bundestag, 5. WP, 70. Sitzung, 08.11.1966, S. 3299 A. 11 Siehe z. B. Bonn muß Dampf machen. Laßt die Schornsteine wieder rauchen!, in: BILD, Nr. 302, 28.12.1966, S. 1,6, hier S. 6 (»in den ersten Monaten des Jahres 1967« / »im kommenden Jahr«). 12 Schiller, Bundestag, 5. WP, 71. Sitzung, 10.11.1966, S. 3364 C. Eigene Hervorhebung.
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gerechnet werden«;13 im Februar 1967 erwartete er »[b]is zum Monatsende […] in der Bundesrepublik 700 000 Arbeitslose«.14 Weil eine Problemkonstellation heraufzog, für die kein handlungsanleitendes Wissen aus dem unmittelbaren Erfahrungsraum zur Verfügung stand, beschränkten sich Prognosen auf das, was einigermaßen sicher vorherzusehen war. Dabei konnte der Vorhersagezeitraum immens kurz sein, mitunter nur wenige Wochen umfassen. Und sogar in diesen Fällen mussten Prognosen nicht zutreffen. Dies führt das Beispiel der Arbeitslosenprognose vom Jahreswechsel 1966/67 vor Augen, als die von der Nürnberger Bundesanstalt für Ende Januar – der Prognosezeitraum betrug also nur vier Wochen – erwartete Arbeitslosenzahl von 500.000 schon zur Monatsmitte erreicht wurde.15 Auch der Sachverständigenrat bekannte in seinem Sondergutachten vom März 1967 sehr offensiv, ihm »erschein[e] […] eine einigermaßen verlässliche Projektion über ein halbes Jahr hinaus nicht möglich. Selbst für das erste Halbjahr 1967 [sei] der Unsicherheitsbereich noch sehr groß«, was insbesondere am schwer einschätzbaren Verhalten von Investoren und Konsumenten liege.16 Folgt man Lucian Hölscher darin, dass »Zukunftsvorstellungen politisch vor allem der aktuellen Orientierung von Gesellschaften dienen«, sind die verkürzten Prognosezeiträume zweifach interpretierbar: zum einen als Indikator für Verunsicherung, zum anderen als argumentativer Stützpfeiler für politische Entscheidungen.17 Weil eine Situation eingetreten war, deren Fortgang beson ders ungewiss erschien (und deshalb nicht prognostiziert wurde), ergab sich gegenwärtig ein besonderer politischer Handlungsdruck. So trugen die Progno sen zu dem Phänomen weitgehend geteilter Meinungen zu Problemanalysen und Handlungsoptionen bei, das im Winter 1966/67 beobachtbar war und der Regierung nützte. Während die unmittelbare Krisenerfahrung Zukunftserwartungen kurzfristig zeitlich und inhaltlich einschränkte, wies der langfristige Effekt der Krise in die genau gegenteilige Richtung. Die Ansicht, die Maßnahmen der Globalsteuerung – und nicht primär der Anstieg der Außenhandelsnachfrage – hätten den Aufschwung ab Sommer 1967 ausgelöst, bekräftigte die Überzeugung, sich am
13 Die Zahl der Arbeitslosen wird weiter steigen, in: SZ , Nr. 296, 12.12.1966, S. 6. Eigene Hervorhebung. 14 Sabel: Bis zum Monatsende 700000 Arbeitslose. SZ -Gespräch mit dem Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, in: SZ , Nr. 44, 21.02. 1967, S. 8. Eigene Hervorhebung. 15 Siehe: Noch immer überwiegt die Vollbeschäftigung, in: SZ , 02.01.1967, S. 7; Schmidt, Über eine halbe Million Arbeitslose, in: SZ , 17.01.1967, S. 1. 16 Sachverständigenrat, Zur Konjunkturlage im Frühjahr 1967, S. 262. 17 Hölscher, Historische Zukunftsforschung, S. 409.
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»Ende aller Krisen« zu befinden.18 Auf diese Weise schien die Krise den Glauben an Machbarkeit und Steuerbarkeit, die Basis zeitlich weitreichender Planung, zu validieren.19 Ohnehin hatte die zeitliche Kontraktion finanz- und wirtschaftspolitischer Zukunftserwartungen keine Folgewirkungen in anderen Gesellschaftsbereichen oder Politikfeldern hervorgerufen. Als zu Beginn des Jahres 1967 ein Planungsstab im Kanzleramt eingerichtet wurde, zeugte dies vielmehr von fortbestehendem Vertrauen darauf, künftige politische Probleme antizipieren, mit wissenschaftlich-›rational‹ fundierten Lösungskonzepten überwinden und Politik zu einem oftmals planbaren und plangeleiteten Prozess machen zu können.20 Wie erkennbar werden wird, zeigte sich hier ein gravierender Unterschied zur Krise der 1970er Jahre. Dies unterstreicht, dass die Problemkonstellation zeitgenössisch nicht als tiefe Zäsur mit Konsequenzen weit jenseits der Wirtschaft und der Haushaltspolitik interpretiert wurde. Ein prinzipieller Bruch im Zukunftsverständnis, wie er sich für verschiedene Themen- und Politikfelder ab den frühen 1970er Jahren abzeichnen sollte, ereignete sich Ende der 1960er Jahre nicht.21 Dazu passt, dass anders als in den 1970er Jahren mit den Prognosen keine Passivitätsmetaphern – Metaphern, die ausdrückten, man sei einer Entwicklung schutzlos ausgesetzt und könne nur abwarten – aufkamen.22 Sondern es verbreiteten sich die aufgezeigten Krankheits- bzw. Medizin- und Maschinenmetaphern. Akteure, die 1966/67 Vorhersagen machten, konstruierten die Zukunft als herausfordernde, aber beherrschbare, nicht als herrschende Größe.23 Das zeitweilige Schrumpfen des finanz- und wirtschaftspolitischen Erwartungshorizontes tangierte übrige politische Zukunftshorizonte nicht, erst recht nicht nachhaltig. Diese Tatsache führt ebenso vor Augen, dass es Zukunft als eine kohärente Entität kaum gab (und gibt).24 Nicht nur, dass Zukunftserwartungen prinzipiell höchst vielfältiger Art sind, differenzierbar etwa nach den Kategorien mystisch-religiös oder rational, individuell oder kollektiv, auf unterstellten Gesetzmäßigkeiten, utopiegesättigten Geschichtsbildern oder (wissenschaftlichen) Prognosen beruhend. Sondern sogar innerhalb einer Kategorie, derjenigen kollektiver, zur Legitimierung politischer Programme genutzter und 18 Metzler, Am Ende aller Krisen?, für Bezüge zu Wirtschaft und / oder Krise bes. S. 59, 71, 95 f. 19 Vgl. auch W. Süß, »Wer aber denkt für das Ganze?«, S. 349. 20 Siehe hierzu umfassend: Seefried, Zukünfte, bes. S. 411–435. 21 Zu Brüchen und Verschiebungen in Zukunftskonzeptualisierungen ab den frühen 1970er Jahren (gerade auch in der originären Zukunftsforschung) vgl. dies., Bruch im Fortschrittsverständnis?, prägnant S. 448. 22 Siehe hierzu Kap. XIV.2. 23 Zu dieser und weiteren Differenzierungskategorie(n) vgl. Hölscher, Historische Zukunftsforschung, S. 401 f. 24 Vgl. auch Koselleck, Die unbekannte Zukunft, S. 203.
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auf Prognosen gestützter Erwartungen, entwickelten sich sehr unterschiedliche Zukunftsbilder parallel. Fasst man all diese Bilder als politischer Zukunftsdiskurs zusammen, wirkt dieser vielschichtig beziehungsweise, um eine geeigneter erscheinende Metapher zu gebrauchen, mehrgleisig: Thematisch verschiedene Zukunftserwartungen – die jeweiligen Gleise – konnten sich in ihrer zeitlichen Tiefe – der Gleislänge – sehr voneinander unterscheiden. Zukunft war mithin auch in einem Zeitraum, der allgemein als zukunftseuphorisch bezeichnet wird, eine ausgesprochen disparate Größe, die in Abhängigkeit von einzelnen Ereignissen teils raschem Wandel unterworfen sein konnte. So verkürzten die konjunkturellen und finanzpolitischen Erfahrungen 1966/67 die zeitliche Reichweite wirtschaftlicher Erwartungshaltungen kurzfristig deutlich, während übrige Zukunftsbilder, beispielsweise in der Forschungspolitik,25 stabil blieben.
3. Reflexionsleistungen Abseits des verbreiteten Sprachgebrauchs, der Verwendung der beschriebenen Topoi und Begriffe oder der oft kurzfristig bemessenen Perspektiven, versuchten einige Akteure, die gegenwärtigen Zeitläufte in längerfristiger Sicht zu beurteilen oder vorherrschende Interpretationen zu hinterfragen. Derartige Überlegungen konnten von Politikern genauso wie von Journalisten vorgebracht werden. Einzig in der BILD -Zeitung fanden sie sich kaum. Unter Anlegen eines zeitlich weiter gefassten Blickwinkels wurde das aktuell erlebte Zeitgeschehen speziell mit zwei Kategorien zu interpretieren versucht: als Zäsur, sprich Einschnitt in einer zuvor existenten Kontinuitätslinie, oder als abgeschlossenes, bereits historisierbares Ereignis. Letztgenannte Interpretation war pragmatisch zu gebrauchen, um die Krise als überwunden darstellen zu können. Akteure konnten vom Mainstream der Aussagen auch dadurch abweichen und eigene Sichten präsentieren, dass sie die Angemessenheit einzelner Begriffe infrage stellten. Dies betraf einerseits die Eignung des Krisenbegriffs, genauer: die Frage, ob die Krise ›nur herbeigeredet‹ sei, andererseits den Innovationsgrad des finanz- und wirtschaftspolitischen Katalogs der neuen Bundesregierung. Hier lief die Kritik darauf hinaus, ob nicht bekannte Instrumente schlichtweg mit neuen Etiketten versehen worden seien. Unabhängig davon, wie man diese Aspekte inhaltlich beurteilt, zeugen die Äußerungen von einem bemerkenswerten Maß an sprachlichem Reflexionsbewusstsein – an Gespür für die mögliche politische Relevanz der Verwendung bestimmter Bezeichnungen. Das Phänomen einer zunehmenden Sprachreflexion, das Willibald Steinmetz als generelles Merkmal politischen Sprachgebrauchs im deutschen Sprachraum nach 1945 25 Vgl. Seefried, Zukünfte, S. 435 f.
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herausgestellt hat, lässt sich somit auch am Beispiel des Krisendiskurses 1966/67 beobachten.26
3.1. Ein Schleier der Semantik? Sprecher, die Beobachtungen und Bemerkungen zum Sprachgebrauch vorbrachten, bezogen sich gern auf den Krisenbegriff selbst. Mehrfach und in unterschiedlichen Zusammenhängen bezweifelten sie die Angemessenheit des Terminus’. Anders als in der oben geschilderten Diskussion ›Krise oder Normalisierung?‹27 war die Kritik nicht in einen kohärenten Sachzusammenhang eingebettet. Sie trat vor allem in der Vor-Krisenphase des Spätsommers 1966 auf und konnte sich auf unterschiedliche Gegenstandsbereiche beziehen. Weil die Kritik nicht an ein konkretes Thema oder eine Sprechergruppe gekoppelt war, liegt es nahe, sie nicht allein als Begriffsreflexion zu interpretieren. Vielmehr handelte es sich selbst um einen Topos. Wer behauptete, ›von einer Krise [könne] keine Rede sein‹ oder man solle eine ›Krise nicht herbeireden‹, konnte implizieren, dass ein solcher Sprachgebrauch theoretisch drastische performative Folgen haben und eine ›echte‹ Krise auslösen könne. Überwiegend verfolgten die Sprecher allerdings ein schlichteres Ziel. Sie beabsichtigten, eine Gegenwartsdiagnose zu vermitteln. In dieser Perspektive wollten sie betonen, dass die Lage besser sei als suggeriert, jedes ›Krisengerede‹ eine unangebrachte Übertreibung darstelle und die Semantik den Blick auf die Wirklichkeit verschleiere. Es überrascht kaum, dass das Redemuster in dieser Verwendungsweise insbesondere von Regierungspolitikern gebraucht wurde. So verwahrte sich Bundeswirtschaftsminister Schmücker Mitte September 1966 bei der Eröffnung der Deutschen Industrieausstellung Berlin 1966 gegen »alles Gerede über Krisen«.28 Vielmehr seien erste Erfolge der Stabilisierungspolitik zu erkennen, und die bundesdeutsche Wirtschaft sei anhaltend wettbewerbsfähig; einzig die Wachstumsdynamik habe nachgelassen.29 Wenige Tage zuvor hatte Kanzler Erhard in der Unions-Bundestagsfraktion ebenfalls auf eine verbesserte Preisniveaustabilität verwiesen und war mit den Worten, »[v]on einer Krise könne nicht die Rede sein«, zitiert worden.30 Sowohl Schmücker als auch Erhard beabsichtigten, eine bestimmte Gegenwartsdeutung zu forcieren. Performative Folgen eines etwaigen ›Krisengeredes‹ spielten in ihren 26 Vgl. Steinmetz, Some Thoughts, S. 99 f. 27 Siehe Kap. VIII .3. 28 Zit. nach: Schmücker weist Krisen-Gerede zurück. Appell an die Sozialpartner / Berg: Durststrecke für Privatwirtschaft zu lang / Die Industrieausstellung in Berlin, in: FAZ , Nr. 216, 17.09.1966, S. 1. 29 Vgl. ebd. 30 Kabinettsumbildung rückt näher, in: SZ , 13.09.1966, S. 2.
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Argumenten keine Rolle. Anders verhielt es sich bei der bereits zitierten For derung Kurt Georg Kiesingers vom März 1967, es sei »alles [zu] tun, um zu verhindern, daß eine Krisenstimmung entsteh[e]«, da, »[w]enn es auch keine Krise [gebe], aus einer Krisenstimmung […] sehr leicht eine wirkliche Krise werden« könne.31 In dieser Mahnung waren beide Elemente enthalten: die These, dass man es gegenwärtig nicht mit einer Krise zu tun habe, und die Warnung, eine solche Krise könne sich durch wiederholte Krisendeutungen sehr wohl ergeben. Letztlich war bei den verstreut auftretenden Infragestellungen des Krisen begriffs nicht immer eindeutig zu bemessen, inwieweit sie auf sprachpragma tische Absichten oder sprachreflexive Beobachtungen zurückgingen. Ganz anders verhielt es sich dagegen im Februar 1967, als Walter Scheel im Parlament eine explizite Sprachanalyse präsentierte. Alter Wein in neuen Schläuchen? Am 17. Februar 1967 beriet der Bundestag das Kreditfinanzierungsgesetz. Für die FDP befand Walter Scheel, die Lage, in der sich die Bundesrepublik befinde, sei keineswegs so außergewöhnlich, wie von der Regierung mitunter suggeriert. Mit dem Eventualhaushalt werde versucht, einem »Phänomen« zu begegnen, »das nicht neu [sei], das […] in regelmäßigen Abständen in diesem Parlament behandelt [worden sei], nämlich [dem] Versuch, Stabilität und Wachstum in einer Wirtschaft in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen«.32 Die Schwierigkeiten träten lediglich in verschärfter Form auf.33 Einen entscheidenden Unterschied machte Scheel indes doch aus: »Neu an dem Versuch der Lösung dieses Problems ist die Sprache, die die Bundesregierung eingeführt hat. Sie hat eine ungewöhnlich blumenreiche Sprache in die wirtschaftspolitische Diskussion eingeführt. Sie hat auch die Sprache der Soziologie eingeführt, die ja sehr differenziert ist. Ich weiß nicht genau, ob die breite Öffentlichkeit durch diese Sprache von dem Problem abgelenkt wird oder auf das Problem gestoßen wird. Auf jeden Fall verfolge ich die sprachschöpferische Begabung unseres verehrten Wirtschaftsministers mit außergewöhnlichem Interesse und großem Wohlwollen. […] Da gibt es Maximierung, Minimierung, Optimierung, Konzertierung, Gemeinsinn, Aktion, gezielt, geplant.«34
Sein Argument lief darauf hinaus, dass die Innovationskraft der Regierung, speziell Karl Schillers, auf der semantischen Ebene größer sei als inhalt31 32 33 34
Zit. nach: Rehm, Kiesinger eröffnet Münchner Handwerksmesse, in: SZ , 10.03.1967, S. 1. Scheel, Bundestag, 5. WP, 95. Sitzung, 17.02.1967, S. 4320 B. Vgl. ebd., S. 4320 C. Ebd., S. 4320 C – 4320 D.
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lich-konzeptionell. Nochmals betonte er, dass zentral die Frage sei, wie man neues Wachstum entfachen könne, ohne abermals inflationistische Wirkungen zu provozieren. Trotz der neuartigen Begriffe versuche es die Regierung mit altbekannten Impulsen. Kanzler Erhard habe » – damals nannte man das Seelenmassage, Maßhalteappell oder ähnlich – den Versuch unternommen, den Kern des Problems einzukreisen, nämlich die Autonomie der Sozialpartner und ihre Bereitschaft, die Verantwortung zu übernehmen, die sie nun einmal für die Wirtschaftsentwicklung« trügen.35 Die neue Regierung präge nun die »neue[ ] Formulierung ›konzertierte Aktion‹«, verfolge dabei aber ganz ähnliche Absichten.36 Nicht nur diese Herausforderung habe sich nicht verändert, ebenso bestehe ein anderes Problem weiterhin: das eines »aufgeblähten Haushalt[s]«.37 Während die vorige Bundesregierung wenigstens beabsichtigt habe, die Wachstumsraten von Haushalt und Sozialprodukt in Einklang zu bringen, habe die neue Bundesregierung dieses Ziel angesichts des Gesamtvolumens von regulärem und Eventualhaushalt offenbar ausgeblendet. Scheel kritisierte, zwar sei der »neue Titel darüber natürlich imponierend«, doch kaschiere die Benennung ›Eventualhaushalt‹ nur die Kontinuität der Etatfinanzierungsprobleme.38 Gleichwohl könne diese Benennungspraxis positive Wirkungen entfalten. Denn »ökonomische[ ] Daten [seien] allein natürlich nicht wirksam«, vielmehr komme »eben Psychologie« hinzu; dabei sei »das psychologische Verständnis der jetzigen Bundes regierung für diese Fragen […] in der Tat höher, als das der vorigen Bundesregierung«.39 Auch Scheel attestierte psychologischen Aspekten reale ökonomische Wirkmächtigkeit. Dieses Statement änderte seine Gesamtkritik freilich nicht, eine Gesamtkritik, die im Debattenverlauf weitgehend unbeantwortet blieb. Die weiteren Redner, der SPD -Abgeordnete Hans-Jürgen Junghans sowie die Minister Strauß und Schiller, setzten sich mit den semantischen Studien Scheels nur am Rande auseinander. Junghans ging immerhin kurz darauf ein und bestritt nicht, dass die »Sprache der Bundesregierung neu« sei.40 Polemisierend fügte er hinzu, genauso neu sei, dass in der Wirtschaftspolitik nicht nur geredet, sondern nun »entschlossen gehandelt« werde.41 Dies sei erforderlich, da – als dritte Neuartigkeit – »die Abschwächung der Konjunktur einen Punkt erreicht ha[be], der sehr
35 Ebd., S. 4321 C. 36 Ebd. 37 Ebd., S. 4322 A. 38 Ebd. 39 Ebd., S. 4322 B. 40 Hans-Jürgen Junghans, Bundestag, 5. WP, 95. Sitzung, 17.02.1967, S. 4324 D. 41 Ebd.
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viel tiefer lieg[e] als die Wendepunkte früherer Abschwungsphasen«.42 Indem er der Problem-Kontinuitätsthese Scheels widersprach, beabsichtigte er, dessen Kritik ein Stück weit den Boden zu entziehen. Schiller selbst versuchte die Kritik mit dem Hinweis zu entkräften, es gehe bei der ›konzertierten Aktion‹ »nicht um gegenseitiges Appellieren an Wohlverhalten, sondern […] um Auseinandersetzungen über bestimmte konkrete Zahlen.«43 Dieser Unterschied, fügte er hinzu, erscheine ihm »wesentlicher zu sein als ein möglicher Unterschied rein in der Sprache oder in der Philologie.«44 Inwieweit die Instrumente der Großen Koalition innovativ seien, blieb im Übrigen offen. ›Passenderweise‹ kreisten sowohl Schillers als auch Strauß’ Rede um die in Mode gekommenen Termini, darunter neben der ›konzertierten Aktion‹45, ›mittelfristige Finanzplanung‹46 und ›Eventualhaushalt‹47. Damit standen sie durchaus symptomatisch für die von Scheel geäußerte Beobachtung. Mit dem Amtsantritt der neuen Bundesregierung hatte sich das die Wirtschaftspolitik dominierende Vokabular merklich verändert, speziell in Äußerungen von Regierungsvertretern. Ihre Begriffsverwendungen wurden von anderen Sprechern und Schreibern, aus der Opposition wie aus der Presse, übernommen. So etablierte sich innerhalb weniger Wochen zu Beginn des Jahres 1967 ein stabiles Netz zentraler wirtschaftspolitischer Begriffe. Auf der Ebene der Begriffsprägung war die Politik der neuen Regierung unmittelbar erfolgreich. Unangebracht wäre indes der Schluss, die bestimmenden Begriffe seien als plötzliche semantische Innovationen erst mit dem Regierungswechsel aufgekommen. Neu waren die Kohärenz, Akzeptanz und Stabilität des Begriffsnetzes. Mit Michael Freedens Ideologiedefinition48 könnte man auf einer elementaren semantischen Ebene einen Umschwung zu einer neuen wirtschaftspolitischen Ideologie festmachen. Die einzelnen Termini selbst waren jedoch mitnichten neu. In gleicher oder sehr ähnlicher Weise waren sie schon in wirtschaftspolitischen Diskussionen des Jahres 1966 aufgetreten, teils, beispielsweise im Zuge der langjährigen Debatten um das Stabilitätsgesetz, sogar davor. Sie kamen in Äußerungen von Politikern genauso vor wie in der Wirtschaftsberichterstattung der Presse. Die Vorschläge und Forderungen der SPD, besonders Schillers, sowie des Sachverständigenrates aus der zweiten Jahreshälfte 1966 wiesen in ihrer Terminologie bereits große Ähnlichkeiten mit den Aussagen der späteren Regierung Kiesinger auf. 42 Ebd., S. 4325 A – 4325 B. 43 Schiller, Bundestag, 5. WP, 95. Sitzung, 17.02.1967, S. 4330 A. 44 Ebd. 45 Z. B. ebd., S. 4329 D. 46 Z. B. Franz Josef Strauß, Bundestag, 5. WP, 95. Sitzung, 17.02.1967, S. 4326 C. 47 Z. B. Schiller, Bundestag, 5. WP, 95. Sitzung, 17.02.1967, S. 4329 B. 48 Siehe Kap. V.1.
Reflexionsleistungen
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Ein Blick in die Bundestagsdebatte zum Stabilisierungsgesetz vom September 1966 verdeutlicht dies anschaulich. Schiller hatte dort hinsichtlich der Einkommenspolitik angemahnt, die Regierung solle »den autonomen Tarifparteien bei deren Entscheidungen Orientierungs- und Entscheidungshilfe […] geben«.49 Es fällt nicht schwer, hier einen Vorgriff auf die Konzertierte Aktion zu sehen, die mithilfe von ›Orientierungsdaten‹ Vereinbarungen traf. (Bei einer Debatte knapp zwei Monate später gebrauchte Schiller den Begriff dann explizit;50 ebenfalls im November fand sich das Konzept der »Konzertierte[n] Aktion« als eigenständiges Unterkapitel im Jahresgutachten des Sachverständigenrats.51 Dieser war ohnehin konzeptionell und terminologisch Urheber des Ansatzes und hatte schon in seinem Jahresgutachten 1965/66 von »konzertierte[r] Aktion«52 respektive mehrfach von einer »konzertierte[n] Stabilisierungsaktion«53 gesprochen.) Ebenso forderten sowohl der spätere SPD -Wirtschaftsminister als auch der noch amtierende CDU-Wirtschaftsminister Schmücker ausdrücklich deutliche Impulse zur »Globalsteuerung«,54 und selbst Schmücker sprach sich unmissverständlich für eine »antizyklische Haushaltspolitik« aus.55 (Inhaltlich ähnlich gelagert war schon seit längerem über die sogenannte Konjunkturausgleichsrücklage als Instrument des Stabilitätsgesetzes debattiert worden.) Mit ihrem sukzessiven Etablieren folgten die Begriffe zunehmend jenem der ›mittelfristigen Finanzplanung‹, der sich in den langjährigen Diskussionen um Finanzreform und Stabilitätsgesetz bereits durchgesetzt hatte und im Sommer und Herbst 1966 – nicht nur im Parlament, sondern auch in den Medien – sprichwörtlich in aller Munde war.56 Schiller, Bundestag, 5. WP, 55. Sitzung, 14.09.1966, S. 2673 A. Schiller, Bundestag, 5. WP, 71. Sitzung, 10.11.1966, S. 3367 A. Sachverständigenrat, Expansion und Stabilität, S. 139–141. Sachverständigenrat, Stabilisierung ohne Stagnation, S. VII . Ebd., vielfache Verwendungen auf den S. 113–123. Vgl. dazu inhaltlich Schanetzky, Sachverständiger Rat, S. 315–317. Zu den damaligen Vorschlägen des Sachverständigenrats siehe auch Kap. VII .1. 54 Exemplarisch: Schiller, Bundestag, 5. WP, 55 Sitzung, 14.09.1966, S. 2672 D; Schmücker, Bundestag, 5. WP, 55. Sitzung, 14.09.1966, S. 2660 C. 55 Schmücker, Bundestag, 5. WP, 55. Sitzung, 14.09.1966, S. 2661 D. 56 Der Begriff fand sich nicht nur in den zitierten Reden (bei Schiller u. a. auf S. 2669 D, bei Schmücker u. a. auf S. 2661 B), vielmehr wies die mediale Berichterstattung über das Stabilitätsgesetz bereits zuvor mehrfach Belege für die Verwendung des Begriffs auf. Exemplarisch: Ministerpräsidenten der Länder bei Erhard. In persönlicher Fühlungnahme bemüht sich der Bundeskanzler um eine Annäherung der Standpunkte in der Stabilisierungspolitik und bei der Steuerneuverteilung zwischen Bund und Ländern, in: SZ , Nr. 186, 05.08.1966, S. 1; Erhard lehnt Lockerung der Kreditbremsen ab, in: FAZ , Nr. 180, 06.08.1966, S. 4; Neue Etatberatungen der Koalition, in: SZ , 25.10.1966, S. 1. Im Jahresgutachten des Sachverständigenrates gab es sogar ein »Mittelfristige Finanz-
49 50 51 52 53
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Einzelbetrachtungen
Was die Aussprache vom Jahreswechsel 1966/67 und weiteren Verlauf der Legislaturperiode unterschied, war die Frequenz, mit der diese Begriffe auftraten: Sie dominierten noch nicht, kamen nicht in jeder Rede vor und waren für den Sprachgebrauch derjenigen Redner, die sie verwendeten, nicht das termino logisch einprägsamste Kennzeichen.
3.2. Über den Tag hinaus? – Zäsurdeutungen Im Gegensatz zur Krise ab 1973, bei der die Zeitgenossen spürten und früh arti kulierten, dass sich ein gravierender, womöglich epochaler Einschnitt vollzog, waren derartige Zeitdiagnosen 1966/67 nicht verbreitet. Nichtsdestotrotz kamen gelegentlich – disparate und verstreute – Äußerungen auf, die eine fundamental neue Situation behaupteten. Der Reflexionsgrad, der den Bemerkungen zugrunde lag, variierte. Es konnte sich genauso um (Über-)Interpretationen des Tages geschehens handeln wie um Versuche, durch langfristige Vergleiche die Entwicklung der Jahre 1966/67 zu verstehen und einzuordnen. Da solche Zäsurdeutungen nur sporadisch zu beobachten waren und sich nicht zu wiederholten und somit weithin geteilten Aussagen entwickelten, war ihre Wirkmächtigkeit begrenzt. Sie waren für den Krisendiskurs nicht tragend. Gleichwohl gestatten sie Einblicke in zeitgenössisch – zu verschiedenen Stadien des Krisenverlaufs – mögliche Eindrücke und Erwartungen. Daher lohnt es, einige Beispiele genauer zu betrachten. Interessant ist etwa ein Blick in die Haushaltsdebatte des Bundestags vom November 1966. Dort erklärte Kurt Schmücker, die bundesdeutsche Wachstumsentwicklung sei strukturell an einer Wendemarke angelangt, die »jüngste wirtschaftliche Entwicklung ha[be] in drastischer Weise klargemacht, daß die Nachkriegszeit mit den überaus hohen Wachstumsraten vorbei« sei.57 Von Konjunkturzyklus zu Konjunkturzyklus seien die Wachstumsraten gesunken und nun auf einem neuen, prinzipiell niedrigeren Niveau angelangt.58 Pragmatisch war diese Behauptung für ihn in zweierlei Hinsicht nutzbar: Indem er den konjunkturellen Rückgang auf einen langfristig – von Konjunkturzyklus zu Konjunkturzyklus – beobachtbaren, strukturellen Prozess zurückführte, konnte er zum einen der Behauptung entgegentreten, es handele sich um eine akute Krise. Zum anderen war es ihm möglich, eine unmittelbare Verantwortung der Regierung für die eingetretene Situation von sich zu weisen und zugleich Erwarplanung« genanntes Unterkapitel, siehe: Sachverständigenrat, Expansion und Stabilität, S. 84–86. 57 Schmücker, Bundestag, 5. WP, 70. Sitzung, 08.11.1966, S. 3305 C. 58 Vgl. ebd., S. 3305 C – 3305 D.
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tungshaltungen für die Zukunft zu dämpfen. Genau das tat er, als er warnte, die Wachstumsraten würden sich »aller Voraussicht nach bis 1970« auch bei einem neuen Aufschwung maximal »im Rahmen von etwa 3,5 bis 4 % bewegen«.59 Zeitlich noch weiter ausholend, aber in die gleiche Stoßrichtung weisend argumentierte zwei Monate später die SZ . Mithilfe einer Grafik behauptete sie für den bisherigen Verlauf des 20. Jahrhunderts drei größere wirtschaftliche Wachstumsperioden (vgl. die Abb. auf der folgenden Seite). Die dritte sei 1966 zu Ende gegangen. Damit stützte sie die These einer grundlegenden Zäsur in der Wachstumsentwicklung, eine These, die in dieser Schärfe alsbald von der Wachstumsentwicklung der Jahre 1968 bis 1972 konterkariert wurde. Gleichwohl fand sie sich auch in dem bereits mehrfach erwähnten SZ-Kommentar zum ›bockenden Konjunkturmotor‹, in dem es hieß, von den »großen wirtschaftlichen Zuwachsraten von gestern« sei »ohnedies Abschied [zu] nehmen«.60 Anders als die Konjunkturbeobachtung war die Haushaltspolitik Objekt von Zäsurdeutungen und Zäsurforderungen. So errechnete Alex Möller für die SPD, dass durch die Verabschiedung von Finanzplanungsgesetz und Steueränderungsgesetz 1966 sowie Kürzungen im regulären Bundeshaushalt der Etat insgesamt um 8,4 Milliarden D-Mark entlastet worden sei (4,7 Mrd. DM durch die Gesetzesänderungen, 3,7 Mrd. DM durch Einsparungen).61 Dies bedeute eine wichtige Trendwende, nachdem zuvor »jahrelang Ausgabenbeschlüsse gefaßt worden [seien], die […] in diese die Dämme brechende Milliardenflut hineingeführt« hätten.62 Derartige Haushaltsbeschlüsse hatte Walter Slotosch in der Vorwoche in der SZ angemahnt. Er appellierte an die Bonner Politiker, sich nicht von etwaigem Protest gegen Sparbeschlüsse beeindrucken zu lassen. Sofern es »anders werden soll[e] als bisher«, was dringend geboten sei, wenn »die ›finanziellen Metastasen‹, von denen Bundeskanzler Kiesinger sprach, nicht zu einem üblen Ende führen sollen«, sei ein Umsteuern in der Haushaltsgestaltung unabdingbar notwendig.63 Deutungen eines Einschnitts waren nicht nur mit Blick auf die ökonomische Entwicklung möglich. Genauso konnte ein klassisch politisches Ereignis eine Zäsurdeutung provozieren. Die Bildung der Großen Koalition veranlasste BILD zu einer solchen Interpretation. Sie stützte sich auf Aussagen Kurt Georg Kiesingers und Herbert Wehners, wonach »[b]eide Politiker […] entschlossen [seien], einen Schlußstrich unter die Vergangenheit zu ziehen«, und glaubten, dass »eine neue Epoche deutscher Politik beginn[e], die gemeinsam bewältigt werden« 59 Ebd., S. 3305 C. 60 Thoma, Der Konjunktur-Motor bockt, in: SZ , 23./24.03.1967, S. 4. 61 Vgl. Möller, Bundestag, 5. WP, 88. Sitzung, 26.01.1967, S. 4105 D – 4106 A. 62 Ebd., S. 4106 A. 63 Walter Slotosch, Das Signal zum Aufschwung, in: SZ , Nr. 18, 21./22.01.1967, S. 4.
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Einzelbetrachtungen
Abb. 6: Drei deutsche Wachstumsperioden, in: SZ, Nr. 12, 14./15.01.1967, S. 19. (© Süddeutsche Zeitung, 1967.)
müsse.64 Ähnliches hatte BILD bereits einige Tage zuvor behauptet, dabei allerdings weniger interpretiert als appelliert: »Die FDP hat sich – obwohl oft guten Willens – übernommen. Eine kleine Partei darf und kann in einem hochentwickelten Industriestaat nicht das Zünglein an der Waage sein. Ob das ein rotes oder schwarz-weiß-rotes Zünglein ist, ist dabei ganz egal. Zu unserer modernen Demokratie gehört wohl auch ein Wahlsystem, das Splittergruppen und Außenseitern endgültig den Weg nach Bonn sperrt.«65
Damit machte das Blatt einen eigentümlich anmutenden Konnex zwischen ökonomischer Verfasstheit und Wahlrecht fest, indem es konstatierte, die Bundesrepublik habe einen wirtschaftlichen Entwicklungsgrad erreicht, der ein neues Wahlsystem erfordere. Es unterstützte so die von CDU, CSU und Teilen der SPD forcierten Überlegungen, das Verhältniswahlrecht zugunsten eines Mehrheitswahlrechts aufzugeben. Dass diese Überlegungen in der dreijährigen Regierungszeit der Großen Koalition schließlich nicht umgesetzt wurden, lag vor 64 Müller / Schröder, Jetzt geht’s wieder Aufwärts!, in: BILD, 28.11.1966, S. 1. Hervorhebungen im Original. 65 Packt die Krise in den Schrank!, in: BILD, 22.11.1966, S. 6.
Reflexionsleistungen
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allem an der SPD, die sich nicht vorschnell einer sozialliberalen Machtoption berauben wollte.66
3.3. »Wir haben der Krise ins Antlitz gesehen …« – Historisierungen Eine andere Form besonderer Reflexion bestand darin, die miterlebten und vollzogenen ökonomischen und politischen Prozesse als abgeschlossen zu bezeichnen. Aufgrund der geringen zeitlichen Nähe zum Geschehen waren Aussagen dieser Art rar. Unter strategischen Gesichtspunkten handelte es sich um Interpretationsversuche, die speziell für Regierungsvertreter attraktiv waren. Auf diese Weise konnten sie sich sowohl selbst ein gutes Zeugnis ausstellen (›Krise erfolgreich überwunden‹) als auch versuchen, durch eine Gesamtbetrachtung von Problemlage und politischer Reaktion ihr Agieren in einen geschlossenen und durchdacht wirkenden Rahmen einzuordnen. Wie zwei besonders eindrückliche Beispiele vor Augen führen, wartete speziell Wirtschaftsminister Karl Schiller mit solchen Interpretationsvorstößen auf. Einen ersten energischen Schritt in dieser Richtung unternahm er, als der Bundestag Ende April 1967 zwei Gutachten des Sachverständigenrates debattierte: das Jahresgutachten 1966/67 sowie das Sondergutachten zur wirtschaftlichen Lage im Frühjahr 1967. Schiller konstatierte, seit der Veröffentlichung des Jahresgutachtens am 18. November 1966 habe »sich in der deutschen Politik und in der deutschen Wirtschaft […] einiges geändert«.67 Es folgte eine Rückschau, in der der Minister die seither eingetretene wirtschaftliche Entwicklung sowie die wirtschafts- und finanzpolitischen Entscheidungen resümierte und das Regierungshandeln als angemessen und kohärent pries. Den Beginn einer aktiv neu gestalteten Wirtschaftspolitik machte er an der ersten Regierungserklärung vom 13. Dezember 1966 fest. Das neue Regierungsbündnis habe, orientiert an einer Projektion aus dem Jahresgutachten, sogleich Entscheidungen für einen »Aufschwung nach Maß«,68 eine »expansive und stabilitätsorientierte Politik«,69 vorbereitet und diese mit den Beschlüssen vom 19. Januar 1967 begonnen umzusetzen. Die erste Diskontsatzsenkung seitens der Bundesbank vom 5. Januar 1967 habe sich zielgenau in die Konzeption der Regierung eingepasst. »Wie notwendig und wie richtig« der eingeschlagene Weg der »konjunkturpolitischen Gegensteuerung« gewesen sei, habe sich »in der Zwischenzeit wohl auch […] dem letzten Zweifler und Skeptiker deutlich gezeigt.«70 Weil der »Prozeß der 66 Vgl. Schönhoven, Wendejahre, S. 235–267. 67 Schiller, Bundestag, 5. WP, 106. Sitzung, 27.04.1967, S. 4976 C. 68 Ebd., S. 4977 A. 69 Ebd., S. 4977 B. 70 Ebd., S. 4977 B.
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konjunkturellen Abschwächung […] schon zu weit fortgeschritten« gewesen sei, hätten die Maßnahmen keine kurzfristigen Erfolge zeitigen können.71 Trotz der anhaltend »kritischen Phase der Wirtschaftsentwicklung« bestehe für ihn kein Zweifel an der prinzipiellen Eignung der gewählten Mittel.72 Daher plädiere die Bundesregierung zu diesem Zeitpunkt nicht für andere Maßnahmen, sondern dränge auf eine Beschleunigung von Entscheidungen, etwa durch kurzfristige Fristen bei den Vergabeterminen für Investitionsfinanzierungen aus dem Eventualhaushalt.73 Schiller prognostizierte, ganz im Einklang mit den für diese Krisenphase als kennzeichnend herausgearbeiteten Topoi, ein »baldiges Verlassen der Talsohle« respektive ein bevorstehendes Erreichen der »Phase der Expansion in Stabilität«.74 Nicht nur passte sich seine Redeweise so in die Ergebnisse unserer semantischen Analyse ein. Bemerkenswerterweise standen auch die von ihm gesetzten Zäsuren, 13. Dezember und 19. Januar, sowie seine These, dass die »Notwendigkeit einer expansiven Politik« ungefähr ab dem Jahreswechsel »von niemandem mehr bestritten wurde«, im Einklang mit der Differenzierung der Krisenabschnitte aus historisch-semantischem Blick.75 Einen noch deutlich größeren Bogen spannte Schiller acht Monate später bei einer Rede vor der Industrie- und Handelskammer im westfälischen Hagen. Am 13. Dezember, genau ein Jahr, nachdem mit der Regierungserklärung Kiesingers das wirtschaftspolitische Umsteuern begonnen habe, resümierte Schiller die vergangenen zwölf Monate unter dem Credo »Ein Jahr neue deutsche Wirtschaftspolitik«.76 Er konstatierte, nun könne man »auf den ganzen Weg durch die Flaute zurückblicke[n]« und erkennen, dass sich die vor einem Jahr getroffenen Einschätzungen zur Konjunkturentwicklung als richtig erwiesen hätten.77 Es sei »eine schwere Rezession […] zu bekämpfen« gewesen, was dank der richtigen politischen Reaktionen gelungen sei.78 Wichtige »Kapitel der Chronik« seien die beiden Konjunkturprogramme, die Sonderabschreibungen, das Etablieren der Konzertierten Aktion und die »Anpassung der Geldpolitik an die expansive Wirtschaftspolitik« gewesen.79 Seit dem Sommer habe sich auf dieser Basis der »neue wirtschaftliche Aufschwung«, zunächst langsam, seit Oktober beschleunigt, entfalten können.80 Bevor Schiller auf die wirtschaftspolitischen Perspektiven und Erfordernisse für 1968 zu sprechen kam, beschloss er seinen 71 Ebd., S. 4977 D. 72 Ebd., S. 4979 B. 73 Vgl. ebd., S. 4980 B. 74 Ebd., S. 4984 A. 75 Ebd., S. 4977 B. 76 Schiller, Ein Jahr neue deutsche Wirtschaftspolitik. 77 Ebd., S. 1245. 78 Ebd. 79 Ebd. 80 Ebd., S. 1246.
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Rückblick »in Anlehnung an ein sehr tapferes israelisches Wort aus der jüngsten Zeit« mit der Formel: »›Wir haben der Krise ins Antlitz gesehen, und die Krise senkte ihre Augen‹«.81 Die pathetische Wendung war nicht nur treffendes Kennzeichen S chiller’schen Selbstbewusstseins. Sie war auch eine der seltenen expliziten Artikulationen des Endes der Krise. So stellte sie einen Konterpunkt zu der Beobachtung dar, dass der Krisendiskurs abgeebbt war, indem wirtschaftspolitische Themen und erst recht der Krisenbegriff selbst aus der politischen Kommunikation verschwanden. Beurteilt man die Rede als Gesamtwerk, lädt sie zu verschiedenen Lesarten ein. Sie kann (speziell in ihren weiteren Passagen) genauso als Entfaltung eines kohärenten wirtschaftspolitischen Programms wie als selbstgefällige Beurteilung des eigenen Handelns interpretiert werden. Insbesondere aber stellt sie ein Beispiel für die zeitgenössischen Möglichkeiten der Reflexion und Einordnung der unmittelbar erlebten Vergangenheit dar – einer Vergangenheit, die durch solche Deutungen auch im Bewusstsein zur Vergangenheit wurde.
4. Erwartung statt Erfahrung: vorgelagerte Semantik und verschwiegene Vergangenheit Verortet man das Krisengeschehen 1966/67 im Spannungsverhältnis von Gegenwartsdiagnosen, Erwartungshaltungen und Rückblicken sticht die ungleichgewichtige Bedeutung der drei Zeitebenen ins Auge. Fokussiert man die Zeitebenen, um – in Anlehnung an Koselleck82 – die Krise als Moment der Re-Konstituierung historischer Zeit(-erfahrung) zu begreifen, fällt auf, dass der Vergangenheit für diesen Prozess nur eine untergeordnete Bedeutung zufiel. Der Krisendiskurs konstituierte sich über Deutungen des Gegenwartsgeschehens und Prognosen. Rückblicke, im Sinne von Verantwortungszuschreibungen oder Ursachendiskussionen durchaus erwartbar, spielten eine weitaus geringere Rolle. Das bedeutet nicht, dass sie überhaupt nicht vorkamen. Wie anhand der geschilderten Zäsurdeutungen ersichtlich, bezogen sie sich oft auf strukturelle Veränderungen (›von 1950 bis heute von Konjunkturzyklus zu Konjunkturzyklus abnehmende Wachstumsraten‹) oder eine perspektivisch unheilvolle politische Praxis (›dauerhaft überlasteter Bundeshaushalt‹).83 Ebenso konnten sie sich, eher versteckt, in Rechtfertigungsargumenten finden. So erklärte Bundesbankpräsident Blessing im Januar 1967 gegenüber der SZ , die »aktuellen Schwierigkeiten in 81 Ebd. 82 Gemeint ist Kosellecks These, dass sich aus der »Differenzbestimmung zwischen Vergangenheit und Zukunft […] so etwas wie ›geschichtliche Zeit‹ fassen« lasse – Koselleck, Vorwort, S. 12. 83 Siehe Kap. X.3.2.
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Einzelbetrachtungen
Wirtschaft und öffentlichen Finanzen [seien] die Folge der Sünden der Vergangenheit«, genauer der »maßlosen, an die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft gestellten Ansprüche auf dem konsumtiven Gebiet.«84 Durch die daher notwendige Restriktionspolitik der Bundesbank seien die Schwierigkeiten keineswegs verursacht, sondern vielmehr offenkundig geworden.85 Detaillierte Fehlerdiskussionen und direkte Benennungen von Schuldigen blieben aber die Ausnahme. Speziell in den Debatten Anfang des Jahres 1967 fanden sich eher schlichte Beschreibungen derjenigen Faktoren, die für die Problemlage unmittelbar ausschlaggebend gewesen waren. Kanzler Kiesinger beispielsweise führte als schwerwiegendste Ursache für die Problemkonstellation zu Jahresbeginn an, dass »sich die Konjunkturentwicklung in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres zunehmend verschlechtert« habe.86 Konsequenz dessen sei »eine empfindliche Verminderung der Steuereinnahmen [gewesen], die zusammen mit anderen Faktoren die Haushaltslücke um etwa 900 Millionen DM vergrößerte.«87 Ganz ähnlich argumentierte und resümierte kurz darauf der FDP-Parlamentarier Hans Georg Emde, die »zunehmende Wirkung der langfristigen Restriktionspolitik der Bundesbank, sinkende Investitionsausgaben der öffentlichen Hand infolge zunehmender Haushaltsenge, die im Winter jahresübliche Abschwächung der Produktion, kombiniert mit der Erkenntnis der Öffentlichkeit, daß der wirtschaftliche Aufstieg Deutschlands, das sogenannte Wirtschaftswunder, nicht eine Naturnotwendigkeit ist, sondern vom Einfluß vieler Faktoren abhängt, h[ä]tten zu einer deutlichen Verlangsamung der Wirtschaftsentwicklung geführt.«88
Eine Hypothese zur Erklärung des Ausbleibens größerer Ursachendiskussionen könnte in der Kontinuität der Regierungsbeteiligung der Unionsparteien liegen. Anders als bei der Weltwirtschaftskrise nach 1929 und der Krise der 1970er Jahre fehlte die Option, andere (Mit-)Schuldige zu benennen, beispielsweise Spekulanten oder Ölförderländer. Vielmehr lag es nahe, die Ursachen in zu späten politischen Reaktionen auf erkennbare Fehlentwicklungen zu suchen. Demnach hätte ein frühzeitigeres konjunkturelles Gegensteuern – etwa durch direkte staatliche Nachfragesteigerung oder das Setzen von Investitionsimpulsen wie Sonderabschreibungen – den Wachstumseinbruch partiell abfedern und jenen Teil des Haushaltsdefizits verhindern können, der durch unerwartete Mindereinnahmen bedingt war. Unionspolitiker konnten ihr eigenes Fehlverhalten schlecht anprangern, und mit Blick auf die Stabilität des Regierungsbündnisses 84 Blessing sagt Mithilfe zu, in: SZ , 28./29.01.1967, S. 23. 85 Vgl. ebd. 86 Kiesinger, Bundestag, 5. WP, 86. Sitzung, 20.01.1967, S. 3995 D. 87 Ebd. 88 Emde, Bundestag, 5. WP, 88. Sitzung, 26.01.1967, S. 4094 C.
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lagen derartige Diskussionen nur bedingt im Interesse der SPD. Auch blieben Anwürfe gegen die Liberalen selten. Abgesehen von deren Position im Steuerstreit am Ende der Regierung Erhard, wäre ihre Verantwortung schwerlich isoliert vom Handeln der Unionsparteien zu formulieren gewesen. Freilich ergeben sich weitere Erklärungsmöglichkeiten. In theoretischer Perspektive tangiert dies den Aspekt der Interpretation von ›Nicht-Gesagtem‹. So könnte der Verzicht darauf, tiefgehende Ursachendebatten zu führen, Ergebnis eines unmittelbaren, gegenwärtigen Handlungsdrucks sein. Angesichts aktueller Schwierigkeiten oder für die Zukunft erwarteter Probleme wäre es demnach wichtiger gewesen, über notwendige politische Gegenmaßnahmen zu beraten als sich in Auseinandersetzungen über die Vergangenheit zu ergehen. Eine alternative Erklärungshypothese wäre, dass es schlicht Konsens war, was die ökonomischen Probleme hervorgerufen hatte. Dann wäre das Ausbleiben der Debatte als Indikator für eine Selbstverständlichkeit zu verstehen. Genauso möglich erscheint, dass eine Kombination aus allen drei angeführten Hypothesen das Phänomen erklärt. In jedem Fall aber war die Vergangenheit verglichen mit Gegenwart und Zukunft eine Zeitebene, die im Diskurs eine untergeordnete Relevanz erfuhr. Das gilt auch, wenn man unterstellt, dass das zur Krisenbewältigung eingesetzte Konzept auf keynesianischen Ansätzen basierte, also auf einer Idee, die eine Reaktion auf ein vergangenes Ereignis, die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre, darstellte. Denn die wirtschaftspolitischen Entscheidungen wurden nicht mit den Erfahrungen der 1930er Jahre begründet, Bezüge zu dieser Krise so gut wie nie hergestellt. Politische Entscheidungsträger verwahrten sich gar explizit gegen derartige Vergleiche, so beispielsweise Franz Josef Strauß, der insistierte, ein »Vergleich mit der Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre [sei] absurd«.89 Selbst wenn auf die Erfahrungen nach 1929 Bezug genommen wurde, musste dies nicht zwangsläufig auf Analogieschlüsse hinauslaufen, wie nachfolgende Beispiele verdeutlichen. Nach dem Bruch der christlich-liberalen Koalition argumentierte Karl Schiller, anders als 1929 sei das Krisen-auslösende Moment nicht wie der Börsencrash 1929 von außen gekommen, sondern es handele sich um eine hausgemachte, politisch zu verantwortende Krise. Das Argument erschien zunächst mehr als politische Polemik denn als ökonomische Überlegung, bis Schiller präzisierte, der politische Fehler habe darin gelegen, dass sich die Regierung auf die Restriktionspolitik der Bundesbank verlassen und so auf das Ziel der Inflationsbekämpfung beschränkt, aber die Konjunkturentwicklung aus den Augen ge-
89 Strauß: Keine Wirtschaftskrise. Vergleich mit den dreißiger Jahren absurd, sagt der Finanzminister, in: SZ , Nr. 180, 29./30.07.1967, S. 1. Strauß äußerte diese Bemerkung freilich zu einem sehr späten Zeitpunkt im Krisenverlauf.
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Einzelbetrachtungen
lassen und konjunkturstützende Impulse vergessen habe.90 Hans Roeper schrieb in der FAZ energisch gegen jegliche Weimar-Vergleiche an. Wer das »Gespenst der großen Krise Anfang der dreißiger Jahre heraufbeschwören« wolle, beweise einen Mangel an Sachverstand, denn: »Fast alles ist heute anders als damals. Die Banken sind außerordentlich flüssig, der Export floriert, die Zahlungsbilanz hat sich verbessert, und die Masse der Bundesbürger verdient noch immer gut.«91 Deutlichere Parallelen machte dagegen SZ-Chefredakteur Hermann Proebst aus. In der Schlussphase der Regierung Erhard sei der Eindruck möglich gewesen, »als erhöbe sich hinter diesem glücklosen Regierungschef der Schatten eines anderen, gleichfalls gescheiterten, des Reichskanzlers Heinrich Brüning.«92 Beide seien in überzogen-einseitiger Weise auf Geldwertstabilität fixiert gewesen. Jetzt, warnte Proebst, erinnerten die Pläne der Regierung Kiesinger für kreditfinanzierte Konjunkturstützungen an die sogenannten Mefo-Wechsel, mit denen Reichsfinanzminister Schacht ab 1934 unter anderem die deutsche Aufrüstung finanziert hatte.93 Obgleich Proebst mit seiner Skepsis vor den Kreditplänen der Regierung – respektive der mittelbaren Finanzierung von Investitionen durch die Bundesbank – nicht gänzlich allein stand, und, wie gezeigt, auch die FDP zur Vorsicht mahnte, fanden seine Vergleiche keinen Widerhall. Tiefere Diskussionen um Weimar-Analogien kamen nicht auf. Setzt man Gegenwartsdeutungen und Prognosen ins Verhältnis zur ökonomischen Entwicklung, stößt man auf einen weiteren interessanten Befund: Die Redeweisen und Erwartungshaltungen waren der wirtschaftlichen Entwicklung zeitlich vorgelagert. Der Krisenbegriff, der sich zwar primär auf staatspolitische, aber eben auch auf ökonomische und haushaltspolitische Faktoren bezog, erfuhr seine höchste Gebrauchsfrequenz zwischen November 1966 und dem Jahreswechsel. In dieser Zeit, mit zunehmender Tendenz Richtung Jahresende, verzeichneten Warnungs- und Angstprognosen vor einem deutlichen Konjunktureinbruch, zügig steigenden Arbeitslosenzahlen und einem immer tiefer werdenden Haushaltsloch das größte Ausmaß ihrer Verwendung. Tatsächlich brach das Wachstum erst in der ersten Jahreshälfte 1967 drastisch ein, und der höchste Stand der Arbeitslosigkeit wurde im März 1967 erreicht. Der Krisendiskurs antizipierte mithin diese Entwicklung. In der Phase, in der die Krise – aus einem analytischen, an üblichen Indikatoren gemessenen Blickwinkel – ihren Höhepunkt erreichte, ging nicht nur die Verwendung des Krisenbegriffs rapide zurück. Sondern es etablierte sich auch eine zuversichtliche, auf Hoffnungsprognosen gestützte Grundhaltung. Nachdem die Regierung Mitte Januar erklärt 90 Vgl. Schiller, Bundestag, 5. WP, 71. Sitzung, 10.11.1966, S. 3364 C – 3364 D. 91 Hans Roeper, Die abgekühlte Konjunktur, in: FAZ , Nr. 13, 16.01.1967, S. 1. 92 Hermann Proebst, Ist die Wirtschaft unser Schicksal?, in: SZ , Nr. 24, 28./29.01.1967, S. 4. 93 Vgl. ebd.
Erwartung statt Erfahrung
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hatte, mit welchem Konzept sie die gerade erreichte Währungsstabilität sichern und neues Wirtschaftswachstum ermöglichen wolle, verbreitete sich rasch die Erwartung, spätestens im Sommer zu einem neuen Aufschwung zu gelangen. Einmal mehr ging der Diskurs der Wirtschaftsentwicklung zeitlich voraus. Dass die Hoffnungsprognosen von der sich zunächst verschlechternden Lage irritiert, sie aber nicht prinzipiell infrage gestellt wurden, könnte als Indikator für eine überzeugende Kommunikationsstrategie der Regierungsparteien gewertet werden. Noch plausibler erscheint es aber, dies als Effekt der Verengung des diskursiven Spektrums von Aussagen zur Problemlage und Problembehebung zu interpretieren. Aus dieser Sicht konnte kaum bezweifelt werden, dass die politischen Entscheidungen richtig waren, weil es keine nennenswerten Alternativvorschläge gegeben hatte und zugleich die grundsätzliche Überzeugung vorherrschte, dass es sich bei der Wirtschaft, die richtigen politischen Impulse vorausgesetzt, um eine steuerbare Größe handele.
XI. Zwischenfazit
Nicht ohne Bedacht ist diese Fallstudie als Analyse einer »reduzierten Krise« betitelt. Denn gleich in mehrfacher Hinsicht handelte es sich – im Vergleich zu den beiden anderen Krisen, die in dieser Studie untersucht werden – um eine Krise von geringerem Ausmaß. Und das unabhängig davon, unter welchen Aspekten man sie betrachtet. Vergleicht man anhand der Gesichtspunkte Raum und Zeit, ergibt sich das Spezifikum eines ausschließlich auf Westdeutschland begrenzten Ereignisses, das von kurzer Dauer war. Rechnet man die Vor-Krisenphase mit ein, die den semantischen Nährboden für die Krisendeutungen des Herbstes und Spätherbstes 1966 bereitete, und veranschlagt das Ende im Spätsommer 1967, als sich die Ansicht durchsetzte, ein neuer Aufschwung habe begonnen, kommt man auf einen Zeitraum von ziemlich genau einem Jahr. Unter einem Fokus, der primär die politische Kommunikation erfasst, ist selbst dies einzuschränken. Spätestens im Frühsommer 1967 hatten wirtschaftliche Themen im Raum öffentlich geführter Debatten signifikant an Stellenwert verloren. Erneute Aufmerksamkeit wurde ihnen erst ab Juli 1967 zuteil, als die Fragen weiterer Haushaltskürzungen und eines zweiten Eventualhaushaltes diskutiert wurden. Endgültig verschwunden waren sie, nachdem der neue Aufschwung eingetreten und erkannt wurde. Als diskursiver Prozess endete die Krise mithin durch ihr Verschwinden aus dem politischen Kommunikationsraum und nicht durch das Aufkommen eines expliziten Gegenbegriffs. Genauso wenig setzte sich nach der Krise die Meinung durch, es handele sich nun um eine neue Epoche. Im Unterschied zu den beiden anderen Krisen bewirkten die Jahre 1966/67 keine mentalitätsgeschichtliche Zäsur. Eher war ein gegenteiliger Effekt zu beobachten: Weil politische Entscheidungen auf Grundlage einer verwissenschaftlichten Perspektive auf die Wirtschaft scheinbar zur Überwindung der Krise geführt hatten, bestätigte die Krisenerfahrung das Vertrauen in politische Steuerung und Planung. Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz vom Frühjahr 1967, konzeptionell eng mit den Maßnahmen zur Krisenbekämpfung verknüpft, reihte sich passgenau in diesen übergeordneten Diskurs ein. Diesem Befund entsprechen sprachgeschichtliche Beobachtungen. Der Ausgangspunkt von Krisendeutungen lag im Sommer 1966, als nach der CDU-Wahl-
Zwischenfazit
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niederlage in Nordrhein-Westfalen zunächst Ludwig Erhard zum Objekt partei interner und in der untersuchten Presse sogleich aufgegriffener Kritik an seinen Führungsqualitäten wurde. An das mit dieser Kritik, die sich auf die Topoi der ›zerstrittenen Union‹ und die ›uneinigen Koalition‹ ausweitete, begründete semantische Feld schlossen sich im Herbst 1966 sukzessive einander teils ablösende, teils überlagernde Kriseninterpretationen an. Auf eine ›Koalitions‹und befürchtete ›Staats‹-Krise folgten die ›Finanz-‹ und ›Wirtschaftskrise‹. Der Höhepunkt der Verwendung expliziter Krisensemantiken lag bemerkenswerterweise im Zeitraum zwischen Ende Oktober und Anfang Dezember 1966, also in einem Zeitraum, den primär nicht ökonomische Schwierigkeiten, sondern ein politisches Führungsvakuum kennzeichnete(n). Als anschließend die Rezession und die sich weiter verschärfende Haushaltslage die politischen Debatten bestimmten, ging die Verwendung des Krisenbegriffs bereits zurück; nachdem die Regierung im Januar ihre Strategie zur Krisenbewältigung präsentiert hatte, ebbten die ›Krisen‹-Deutungen fast vollständig ab. Was ausdrücklich als ›Krise‹ interpretiert wurde, waren eher die vorangegangenen Defizite an politischer Steuerung, die unter anderem auf der Befürchtung beruhten, die wirtschaftlichen und finanzpolitischen Schwierigkeiten nicht angemessen bewältigen zu können. Die Schwierigkeiten selbst waren weitaus seltener Objekt von Krisendeutungen. Die Bildung der neuen Bundesregierung sowie deren zügig und einvernehmlich präsentiertes Konzept zur Krisenbewältigung schlossen das Leck an politischer Steuerung. Die sodann beginnende, letzte und mit einer Dauer von ungefähr einem halben Jahr längste Krisenphase war dominiert von der Erwartung, die wirtschaftliche Lage werde sich in absehbarer Zeit bessern, da die richtigen Entscheidungen getroffen worden seien. Die Überzeugung, mit politischer Steuerung die ökonomische Problemlage in den Griff bekommen zu können, stand nicht infrage. Fokussiert man die historisch-semantischen Beobachtungen zum Krisenverlauf aus einer abstrakteren Warte, ergibt sich ebenso das Bild einer überschaubaren Krise. Sprachlich konstruiert wurde sie insbesondere über Prognosen, teils über Gegenwartsdiagnosen, weit weniger über Aussagen zur Vergangenheit, etwa Ursachen. Sie bestand aus einer Vorkrisen- und drei Krisenphase(n), jede einzelne Phase wiederum beruhte auf einer übersichtlichen Anzahl tragender Topoi. Die Umschlagpunkte im Krisendiskurs machten politische Ereignisse und Entscheidungen aus. Mithin stellt sich die Frage, ob die heute dominierende Etikettierung der Krise 1966/67 als Wirtschaftskrise nicht eine verkürzte Darstellung beziehungsweise ein historiografisches ex post-Konstrukt darstellt. Neben die phasenspezifischen Sprachmuster trat eine gleichfalls kleine Zahl phasenübergreifender Topoi, die grundsätzliche, konstant bleibende Ziele wirtschaftspolitischen Handelns beschrieben, speziell Stabilität und Wachstum. Be-
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Zwischenfazit
griffliche Fixpunkte, die kennzeichnend für die Krisenbewältigung wurden, entstammten ferner dem Vokabular der ›keynesianischen Wende‹ respektive Globalsteuerung. Dieses war keine konzeptionelle und semantische Innovation des Krisendiskurses, entwickelte sich durch ihn jedoch zu einem weithin verbreiteten terminologischen Set.
Teil 3 Komplex und konturlos: die Krise 1973–1976
XII. Forschungsperspektiven – mit vagem Alpha und ohne Omega
Auf den ersten Blick könnte auf die Krise ab 1973 ein ähnliches Urteil zutreffen. In der zeitgenössischen Deutung wurde sie nur bedingt als zusammenhängend-geschlossenes, kohärentes Ereignis betrachtet. Wenn solche Interpretationen aufkamen, waren sie – wie wir sehen werden – oft Element umfangreicherer Sprachstrategien einzelner Akteursgruppen. Termini wie der hier verwendete der ›kleinen Weltwirtschaftskrise‹ oder Beschreibungen einer »globalen Wirtschaftskrise der 1970er Jahre«1 entstammen primär der heutigen Historiografie,2 obschon sie gelegentlich auch in ersten, zeitnahen Historisierungsversuchen gesellschaftskritischer Publizisten vorkamen.3 Doch selbst in der Geschichtswissenschaft ist der Begriff keineswegs derart fest verankert wie jener der ›Weltwirtschaftskrise‹ ab 1929.4 Ähnlich verhält es sich in der englischsprachigen Historiografie, die ›crisis‹ einerseits zumeist eng auf den Teilaspekt der sogenannten ›Öl(-preis-)krise‹ bezieht.5 Andererseits – indes ohne einen Analogiebegriff zur 1 Conze, Suche nach Sicherheit, S. 517. 2 Besondere Prominenz erlangte der Terminus in den Arbeiten Werner Abelshausers. Siehe exemplarisch: Abelshauser, Aus Wirtschaftskrisen lernen, S. 468, und vor allem das entsprechende Kapitel »Die Kleine Weltwirtschaftskrise«, in: ders., Deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 392–401. 3 Z. B. bei Esser / Fach / Väth, Krisenregulierung, S. 7 (»Verlauf der weltweiten Wirtschaftskrise seit 1974«). Selten, aber zugleich außergewöhnlich früh fand sich der Begriff ferner in wirtschaftswissenschaftlicher Handbuchliteratur. Als Beispiel siehe Maneval, Art. Arbeitslosigkeit, S. 267 (»Ereignisse der Jahre 1973–1975 – sozusagen die kleine Weltwirtschaftskrise«). 4 So spricht, um nur ein Beispiel zu nennen, Prollius, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 180 einerseits zeitlich weiter gefasst von einer »Krisen- und Umbruchdekade (1973–1983)«, gleichzeitig – und eher am Rande – auch von einer »Weltwirtschaftskrise«, die (Ausgangs-) Element des Krisenjahrzehnts gewesen sei. 5 Siehe hierzu Kap. XII .3. Dass ›crisis‹ nicht zum allein dominierenden Label wurde, ist mutmaßlich auch darauf zurückzuführen, dass zumindest die US -amerikanische Historiografie die 1970er Jahre überwiegend als Zeitraum mit ambivalenten Prägungen interpretiert und darstellt; die Narrative verknüpfen ökonomische und politische Krisen mit progressiven Tendenzen in Gesellschaft und Kultur – vgl. Bösch, Zweierlei Krisendeutungen, bes. S. 220–222.
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Forschungsperspektiven – mit vagem Alpha und ohne Omega
›Great Depression‹ zu entwickeln – prägte sie, am prägnantesten in den Thesen Eric Hobsbawms, die Deutung eines 1973 vollzogenen fundamentalen Einschnitts, auf den gleich zwei »Crisis Decades« folgten.6 In dieser Terminologie trifft Hobsbawm sich mit zeitgenössischen Wahrnehmungen eines in den 1970er Jahren aufgekommenen, vielschichtigen und diffusen, allgemeinen Krisengeschehens. Was dessen ökonomische Implikationen betrifft, ergab sich das Krisengefühl aus dem Kontrast zur vorangegangenen Dekade, die hohes Wachstum und Voll-, gar Überbeschäftigung gekennzeichnet hatten. Im direkten Vergleich mit den 1980er Jahren hingegen wiesen etwa die durchschnittlichen Wachstumsraten in den 1970er Jahren noch höhere Werte auf.7 Sie näherten sich lediglich dem langfristigen Trend volkswirtschaftlichen Wachstums wieder an.8 Das zeitgenössische Krisenempfinden, so argumentiert Niall Ferguson, resultierte letztlich aus vielfältigen Zukunftsängsten infolge einer plötzlichen Verunsicherung über den Fortgang der zur Gewohnheit gewordenen Wohlstandsentwicklung und die scheinbar sprunghaft zunehmende Globalisierungsdynamik.9 Eine sehr ähnliche Sicht vertrat unlängst ebenso Werner Plumpe. Teils im direkten Anschluss an Ferguson verweist auch er darauf, dass in den 1970er Jahren die durchschnittlichen Wachstumsraten in den USA und Westeuropa zwar ver glichen mit der Sonderkonjunktur der unmittelbaren Vorperiode zurückgingen, dabei im zeitlich übergreifenden Vergleich jedoch schlicht zu den »langfristigen Wachstumspfaden« zurückkehrten.10 Plumpe sieht es entsprechend als verfehlt an, in den 1970er Jahren zuvorderst »eine besondere Krisenphase« zu erblicken, zumal dann, wenn man sie aus einem räumlich globalen und zeitlich langfristigen Blickwinkel bewerte.11 Dennoch war das ›Ende des goldenen Zeitalters‹ auf der wirtschaftlichen Ebene durch eine Reihe symptomatischer Faktoren gekennzeichnet. Hobsbawm macht eine Kombination aus konjunkturellen und – insbesondere – strukturellen Problemlagen aus. Hätte die Wachstumsentwicklung 1973–75 zunächst schlichtweg als eine Rezession, als reguläre Phase eines Konjunkturzyklus erscheinen können, revidierten die folgenden Jahre eine solche Ansicht zügig. Zu gravierend änderten sich die ökonomischen Rahmenbedingungen, und zwar nahezu zeitgleich auf mehreren Feldern.12 Strukturell vollzog und beschleunigte sich der 6 Hobsbawm, Age of Extremes, S. 403. Als Beispiel für eine ähnliche Periodisierung siehe Marglin / Schor (Hg.), The Golden Age. 7 Vgl. Ferguson, Crisis, What Crisis?, S. 9, Tabelle I.4. Einzig für den ostasiatisch-pazifischen Raum ergab sich eine abweichende Entwicklung. Hier stiegen die durchschnittlichen Wachstumsraten pro Dekade von den 1960er bis 1980er Jahren kontinuierlich. 8 Vgl. Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 300. 9 Vgl. Ferguson, Crisis, What Crisis?, S. 9–19. 10 Plumpe, »Ölkrise«, S. 102. 11 Ebd., S. 103. 12 Vgl. (zu diesem und folgendem Absatz) insgesamt Hobsbawm, Age of Extremes, S. 404–416.
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Wandel von einer primär industriell geprägten zu einer kombinierten Industrieund Dienstleistungsgesellschaft. Der technologische Fortschritt und ein größeres Maß an ökonomischer Globalisierung, in deren Zuge Arbeitsplätze in Länder mit niedrigerem Lohnniveau verlagert wurden, führten in den westlichen Industriestaaten zu zunehmender Arbeitslosigkeit, speziell unter niedrig qualifizierten Arbeitssuchenden. Zwar gelangten einige Staaten in Ost- und Südostasien (so) zu neuer wirtschaftlicher Potenz, am fulminantesten China seit Deng Xiaopings Öffnungspolitik ab 1978/79.13 Global betrachtet aber nahmen die Wachstumsraten ab. Während in den westlichen Industriestaaten dennoch weiterhin Wachstum auszumachen war, wenngleich in geringerem Maße als in den ›trente glorieuses‹, stagnierten die Volkswirtschaften in den nicht-industrialisierten Staaten. Die Folge war eine drastische Zunahme von Armutsphänomenen, beginnend bei (Massen-)Arbeitslosigkeit bis hin zur Obdachlosigkeit. Ein nicht minder gravierender Einschnitt ereignete sich auf der Ebene der dominierenden ökonomischen Schulen. Innerhalb der Wissenschaft konnten sich monetaristisch argumentierende Theoretiker durchsetzen, was die Nobelpreis vergaben an Friedrich August Hayek (1974) und Milton Friedman (1976) unterstrichen. Der Einfluss dieser Wende auf die konkrete Wirtschaftspolitik vollzog sich langsamer und in je nach Land verschiedenem Ausmaß.14 Auch wenn die Entwicklungen in den USA der 1980er Jahre (›Reaganomics‹) und Großbritanniens unter der Regierung Margaret Thatchers Ausnahmen bedeuteten, stellte das Abwenden von explizit keynesianischen und die Hinwendung zu (auch) angebotsorientierten Ansätzen in der Wirtschaftspolitik ein weithin beobachtbares Phänomen dar. Die Abkehr von keynesianischen Instrumenten auf deren mangelnde Eignung für die akute Krisensituation der 1970er Jahre zurückzuführen, liegt nahe. Demnach war Rezession und steigender Arbeitslosigkeit aufgrund der zugleich anhaltenden Inflation mit fiskalpolitischen Impulsen zur Nachfragestimulierung kaum beizukommen. So sehr das Urteil für die wirtschaftspolitische Praxis vielfach zutrifft, ist zum Beispiel von Hansjörg Siegenthaler darauf hingewiesen worden, dass sich die Abwendung vom Keynesianismus auf der wirtschaftstheoretischen Diskussionsebene schon früher vollzog.15 Bereits ab Ende der 1960er Jahre schwand – zusätzlich zum Argwohn, inwieweit Politiker nicht eher tagespolitischen Motiven als Notwendigkeiten ›rationaler‹ Wirtschaftspolitik folgen – das Vertrauen in die Angemessenheit der entwickelten Modellierungen makroökonomischer Interdependenzen.16 Die Umorientierung zu anderen 13 Hierzu als bislang einzige größere historiografische Studie: Vogel, Transformation of China. 14 Vgl. auch Herbert, Geschichte Deutschlands, S. 893. 15 Vgl. Siegenthaler, Ende des Keynesianismus. 16 Vgl. ebd., S. 238–241.
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wirtschaftstheoretischen Konzeptualisierungen ökonomischer ›Realität‹ und entsprechend abzuleitenden Handlungsentwürfen kann folglich ebenso auf einer abstrakteren, politikferneren Ebene plausibilisiert werden.17 Mithin begannen die angerissenen Entwicklungen nicht erst 1973, obwohl die mit dem ›Ölpreisschock‹ vom Herbst 1973 einsetzende massive Verteuerung der Energiepreise ein zentrales Ereignis darstellte. Auch um die Ursprünge der skizzierten strukturellen Verschiebungen zu erfassen, griffe ein zeitlich so eng gefasster Rahmen zu kurz. Charles Maier argumentiert, um die ökonomischen Krisenphänomene der 1970er Jahre zu verstehen, sei der Fokus mindestens bis Mitte der 1960er Jahre zurückzurichten.18 Bereits zu dieser Zeit zeichnete sich ab, dass die ökonomische Rekonstruktionsperiode in Westeuropa, die unter anderem von unterbewerteten nationalen Währungen und niedrigen Energiepreisen getragen worden war, zu Ende ging. Zugleich erhöhten sich die gesellschaftlichen Anspruchshaltungen, hinsichtlich des gewünschten Lohn- und Lebensstandards genauso wie mit Blick auf Konsumgewohnheiten. Hinzu kam, als wichtigstes Element zur Erklärung der fundamentalen Währungs- und Inflationskrise, in die die westliche Welt Ende der 1960er Jahre geriet, der sukzessive Zusammenbruch des Systems fester Wechselkurse. Dieses System von Bretton Woods, dessen Konstruktion infolge der permanenten Zahlungsbilanzdefizite der USA mittelfristig ohnehin prekär gewesen wäre, geriet durch die hohe Inflation in den USA, die auf die Finanzierung des Vietnamkriegs zurückging, zusätzlich unter Druck, weshalb es zwischen 1971 (Smithsonian Agreement: Abwertung des US -Dollars, Ende der Dollar-Gold-Deckung) und 1973 aufgegeben wurde.19 Zu den angerissenen Faktoren trat eine Reihe weiterer Aspekte, die von der Mikrochip-Revolution bis zur Entwicklung eines neuen Wachstums- und Ökologiebewusstseins reichten. Sie alle bewirkten, dass sich in der Dekade zwischen 1965 und 1975 eine folgenschwere Re-Konstituierung der ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen politischen Handelns vollzog. Die seit 1973 aufkommenden ausdrücklichen Krisendeutungen trugen dazu bei, diesen Prozess zu erkennen und kommunikativ bewusst zu machen sowie wirtschaftspolitische Handlungsweisen und gesellschaftliche Erwartungen anzupassen. Bevor wir mit dem Krisendiskurs in der Bundesrepublik diesen Prozessen der Krisenkonstitution detailliert folgen, sollen einige der angesprochenen strukturellen Veränderungen genauer betrachtet werden. Hierzu werden in bekannter Manier gängige Forschungszugriffe skizziert (XII.1–XII.3): zunächst jene weitgefassten Ansätze, die Zeit bis circa 1970 als Boomperiode zu historisieren, indem 17 Vgl. ebd., S. 245. 18 Maier, Two Sorts of Crisis?, S. 51–56. (Zum gesamten Absatz vgl. ebd.) 19 Konzise hierzu: Karczewski, »Weltwirtschaft ist unser Schicksal«, S. 38–57.
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sie einen fundamentalen Einschnitt um 1970 aufzeigen, sodann – enger gefasst – wirtschaftsgeschichtliche Zugänge, schließlich die Erzählungen, die sich auf das diskursive Schlüsselereignis des Ölpreisschocks konzentrieren.
1. Geschichten ›nach dem Boom‹ Um die Zeit nach 1970 begrifflich prägnant zu fassen, hat sich in der deutschen Historiografie in den vergangenen Jahren die Bezeichnung der Jahre ›nach dem Boom‹ etabliert. Maßgeblich zurück ging sie auf gleichnamige Arbeiten der Historiker Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael.20 Diese verstehen indes weder das Jahr 1970 als (wie auch immer geartete) Zäsur, noch streben sie an, das Krisengeschehen der 1970er Jahre als Zeitpunkt oder gar Ursache des von ihnen diagnostizierten mehrdimensionalen »Strukturbruch[s], der sozialen Wandel von revolutionärer Qualität mit sich gebracht« habe, auszumachen.21 Die teils interdependenten Strukturveränderungen vollzogen sich nicht plötzlich, sondern sukzessive in einem Zeitraum von mehr als einem Jahrzehnt und betrafen gleichermaßen ökonomisch-technische, gesellschaftlich-kulturelle und politische Faktoren.22 Indem sie diese Wandlungsprozesse: genauer: »Bedeutungsrückg[änge] etablierter institutioneller Ordnungen oder tradierter Verhaltensweisen«, aufzeigen, beabsichtigen Doering-Manteuffel und Raphael weniger, ein kohärentes Interpretament für die Zeit seit 1970 zu entwickeln.23 Vielmehr plädieren sie dafür, durch die Untersuchung der Strukturbrüche ›um 1970‹ ein analytisches Fundament dafür zu legen, die Zeit des ›Booms‹ – der vorangegangenen zwei Jahrzehnte – als abgeschlossen betrachten zu können, mithin: den Boom zu historisieren.24 Mit dieser Absicht unterscheidet sich ihr Ansatz von jenen Versuchen, geschlossene Deutungen vorzunehmen oder Epochenbegriffe zu prägen, die seit Ende der 1970er Jahre von den Sozialwissenschaften bis zum Feuilleton vorgenommen wurden und von ›Postmoderne‹25 über ›reflexive
20 Doering-Manteuffel, Brüche und Kontinuitäten, bes. aber: ders. / Raphael, Perspektiven auf die Zeitgeschichte. 21 Dies., Perspektiven auf die Zeitgeschichte, S. 28. 22 Vgl.: Ebd., S. 29; Kaelble, What Turning Point? 23 Doering-Manteuffel / Raphael, Perspektiven auf die Zeitgeschichte, S. 29. 24 Vgl. Doering-Manteuffel, Brüche und Kontinuitäten, S. 561. Zugleich plädieren sie dafür, zu reflektieren, inwieweit Begriffe respektive analytische Kategorien und Theorien zur Historisierung herangezogen werden können, die selbst in der Boomphase geprägt wurden; letztlich seien sie als »Quelle und Darstellung zugleich« zu betrachten – vgl. Doering-Manteuffel / Raphael, Perspektiven auf die Zeitgeschichte, S. 75–78, Zitat S. 76. Siehe hierzu auch: Graf / Priemel, Welt der Sozialwissenschaften, bes. S. 481–488. 25 Begriffsprägend: Lyotard, La Condition postmoderne.
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Modernisierung‹26 bis ›Risikogesellschaft‹27 reichen.28 Graduell ändert sich dies mit einem zweiten, kürzlich erschienenen Band. Er versammelt zahlreiche empirische Einzelstudien, die den verschiedenen »Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom« nachspüren.29 Mit diesem Band, der explizit für eine Zeitgeschichte als »Problemgeschichte der Gegenwart« plädiert, verschieben sich einige Akzente in der Semantik des Etiketts ›nach dem Boom‹.30 Auch dieses entwickelt sich nun tendenziell zu einer – gleichwohl bewusst offen und undeterminiert gehaltenen – Epochenbezeichnung.31 Um ihren Standpunkt zu verdeutlichen, greifen Doering-Manteuffel und Raphael sowie Arbeiten, die im Anschluss an ihre These argumentieren, eine Reihe von Prozessen auf, die den Epochenwandel ab den 1970er Jahren zeigen. Unter den Faktoren, die aus einem wirtschaftsgeschichtlichen Blickwinkel interessieren, war dies vor allem die aufkommende Mikroelektronik, die Datenverarbeitungs- und industrielle Produktionsprozesse revolutionierte.32 Damit einher ging der Übergang von der Industriegesellschaft zu einer sich neu formierenden, kombinierten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft, keineswegs zu einer rein post-industriellen Gesellschaft,33 obwohl Dienstleistungen in der Bundesrepublik seit 1973/74 gemessen an der Zahl der Beschäftigten den größten Wirtschaftssektor bilden.34 Er brachte einen neuen Arbeitnehmertypus und neue Formen der Ausgestaltung von Arbeitsbeziehungen mit sich.35 Der ›klassische‹ Industriearbeiter wich technisch versierter ausgebildeten Arbeitnehmern.36 Von ihnen wurde nicht nur ein höherer Qualifikationsgrad, sondern auch eine größere zeitliche Flexibilität und räumliche Mobilität gefordert.37 Für kaum qualifizierte oder ungelernte Arbeitskräfte verschlechterten sich die Beschäfti26 Exemplarisch: Beck / Giddens / Lash, Reflexive Modernisierung. 27 Insbesondere: Beck, Risikogesellschaft; Ders., Weltrisikogesellschaft. 28 Zur Kritik respektive begrenzten Tragfähigkeit dieser Ansätze siehe Jarausch, Verkannter Strukturwandel, S. 15–18, 22. 29 Doering-Manteuffel / Raphael / Schlemmer (Hg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Schwerpunkte liegen in den Themenfeldern Arbeitswelt, Konsumgeschichte und Zeiterfahrung. 30 Vgl. Doering-Manteuffel / Raphael, Neue Einsichten, S. 9. 31 Im Zuge dessen treten neue Herausforderungen zutage: nicht nur stellt sich zwangsläufig die Frage, ob diese Epoche ebenfalls bereits beendet ist – und falls ja, wann sie endete – (vgl. ebd., S. 10–12), genauso zeigen sich für zahlreiche Themenfelder, beispielsweise die Konsumgeschichte, Einschnitte bereits deutlich vor der der Zeit ›um 1970/75‹ (vgl. ebd., S. 11). 32 Vgl. Doering-Manteuffel / Raphael, Perspektiven auf die Zeitgeschichte, S. 54. 33 Freilich zirkulierte die Deutung einer ›post-industriellen Gesellschaft‹ bereits in zeitgenössischen Debatten; maßgeblich geprägt und vertreten wurde sie von Touraine, La société post-industrielle [1969], und Bell, The Coming of Post-Industrial Society [1973]. 34 Vgl. Steiner, Kristallisationspunkt des wirtschaftlichen Strukturwandels, S. 33. 35 Vgl. Doering-Manteuffel, Brüche und Kontinuitäten, S. 563 f. 36 Vgl. Doering-Manteuffel / Raphael, Perspektiven auf die Zeitgeschichte, S. 49, 53. 37 Vgl.: Doering-Manteuffel, Brüche und Kontinuitäten, S. 573; W. Süß / D. Süß, Zeitgeschichte der Arbeit, S. 346–348.
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gungsaussichten drastisch; auf diese Weise entstand im Verlauf der 1970er Jahre das für die Bundesrepublik neuartige und bis heute anhaltende Phänomen der Sockelarbeitslosigkeit.38 Weithin deutlich, beispielsweise durch zunehmende Wettbewerbsunfähigkeit einzelner Industriezweige wie der Textil- und Werftenindustrie, überhaupt die zurückgehende Nachfrage nach Produkten aus Westeuropa auf dem Weltmarkt, wurde dieser Wandel im Zuge der Wirtschaftskrise ab 1973/74.39 Doering-Manteuffel und Raphael sehen in der Krise, genauer in ihrem diskursiven Ausgangspunkt, dem ›Ölpreisschock‹, einen aus wahrnehmungs- und menta litätsgeschichtlicher Warte »tiefen Einschnitt«.40 Genauso stellen sie aber heraus, dass das volks- und weltwirtschaftliche Umfeld sich bereits zuvor gravierend verändert hatte. Der Wertverlust des US -Dollars, der schrittweise Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems und die anhaltende Inflation machten die Kernpunkte aus.41 Und sie erklären überdies, warum die Ölexportländer – abgesehen von den politischen Zielen – weitere Motive hatten, die Preise für Rohöl, das in US -Dollar gehandelt wurde, drastisch anzuheben.42 Dieser veränderte ökonomische Rahmen zwang auf der industriellen und politischen Ebene zu neuen Handlungslogiken. In langer Frist ist eine deutliche Verschiebung zu erkennen: einerseits von einem fordistischen zu einem post-fordistischen Produktionsregime, andererseits von einer – wie gesehen in der Bundesrepublik verhältnismäßig spät etablierten – keynesianisch geprägten zu einer verstärkt angebotsorientierten Wirtschaftspolitik.43 Gerade letzterer Umbruch vollzog sich in der Bundesrepublik langsam.44 Die Abkehr von keynesianischen Überzeugen und Instrumenten, zum Beispiel der Globalsteuerung, erfolgte nicht plötzlich, sondern schrittweise. Ohnehin lässt sich eine »zeitverschobene Überlagerung« von weltwirtschaftlichen und industriellen Strukturveränderungen sowie – im Gegensatz dazu – politischen und gesellschaftlichen Handlungsmustern ausmachen.45 Die kostspieligen Reformvorhaben der Regierung Brandt zu Beginn der 1970er Jahre passten in dieser Sicht weit besser in das Zeitalter des Booms als in die Folgeperiode.46 Und obwohl dies spätestens 1974 offenkundig geworden war, setzte etwa in der Sozialpolitik eine Abkehr von der Tendenz zum Leistungsausbau nur langsam ein. Erste Schritte in dieser Richtung ließen sich 38 Vgl. Jarausch, Verkannter Strukturwandel, S. 19, 22. 39 Vgl.: Doering-Manteuffel / Raphael, Perspektiven auf die Zeitgeschichte, S. 53 f.; Doering- Manteuffel, Brüche und Kontinuitäten, S. 562 f. 40 Doering-Manteuffel / Raphael, Perspektiven auf die Zeitgeschichte, S. 49, 53, Zitat S. 49. 41 Vgl. ebd., S. 48 f. 42 Vgl. Doering-Manteuffel, Brüche und Kontinuitäten, S. 565. 43 Vgl. ebd., S. 572. 44 Vgl. dazu Kap. XII . 2. 45 Doering-Manteuffel, Brüche und Kontinuitäten, S. 563. 46 Vgl. Doering-Manteuffel / Raphael, Perspektiven auf die Zeitgeschichte, S. 47 f.
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ab 1975 erkennen, betrafen jedoch zunächst nur Teilbereiche des Sozialsystems wie die mit dem sogenannten Haushaltsstrukturgesetz vorgenommene Einschränkung der Ausbildungsförderung im Bundessozialhilfegesetz.47 Begren zungen des Ausgabenanstiegs bei der Renten- und Krankversicherung, den »bei tragsfinanzierten Kernbereiche[n] des deutschen Sozialstaats«, waren erst ab 1977 beziehungsweise 1980 zu erkennen.48 Die Ausgaben für beschäftigungspolitische Initiativen stiegen als Folge der neuartigen ökonomischen Situation bis Ende der 1980er Jahre sogar permanent.49 Ohnehin kam es in der Bundesrepublik, obwohl die Sozialleistungsquote ab 1982 sank,50 nicht zu einem prinzipiellen Umbau oder, wie etwa in Großbritannien, Rückbau des Sozialsystems.51 Der Zusammenhang zwischen zwei anderen Komplexen, die ebenso tragende Elemente der Geschichte(n) ›nach dem Boom‹ sind, und den skizzierten Veränderungsprozessen ist weniger eindeutig. Das gesteigerte Bewusstsein für die Ressourcenknappheit, prägnant im 1972 publizierten Bericht des Club of Rome52 zum Ausdruck gekommen, die »umfassende Neudefinierung der Mensch- Umwelt-Beziehungen«53 respektive die »ökologische Revolution«54 sowie der ambivalent zu beurteilende Wertewandel stellten fraglos ebenfalls wichtige Strukturbrüche dar. Während ein Konnex von Wachstumsgrenzen- und Wirtschaftskrisendiskurs – allerdings, wie wir sehen werden, in überraschend begrenztem Maße – auszumachen ist,55 sticht eine unmittelbare Verbindung von Wirtschafts- und Wertentwicklung nicht ins Auge, zumindest nicht auf einer makroökonomischen Ebene.56 Für die Mikroebene der Unternehmen können erste Arbeiten hingegen Anhaltspunkte liefern, auf welche Weise sich die Hinwendung zu neuen Führungswerten und individueller werdenden Konsumorientierungen in veränderten Unternehmenskulturen widerspiegelte.57 Ingo Köhler 47 Vgl. Trenk-Hinterberger, Sozialhilfe, S. 612 f. 48 W. Süß, Der keynesianische Traum, S. 125. 49 Vgl. W. Süß, Umbau am »Modell Deutschland«, S. 229. 50 Vgl. M. G. Schmidt, Zwischen Ausbaureformen und Sanierungsbedarf, S. 136 f. 51 Vgl. W. Süß, Umbau am »Modell Deutschland«, S. 229. 52 Meadows u. a., Grenzen des Wachstums. 53 Kupper, Die »1970er Diagnose«, S. 328. 54 Radkau, Ära der Ökologie, S. 124–164 (= Kap. III: »Die ›ökologische Revolution‹ um 1970«). 55 Siehe Kap. XV.5. 56 Zur zeitgenössischen Wertwandeltheorie, die speziell einen Konnex von steigendem Wohlstand und einer Hinwendung zu postmaterialistischen Werten behauptete, siehe Inglehart, The Silent Revolution. Zur aktuellen historischen Wertwandelforschung, vor allem mit Blick auf Deutschland, siehe: Rödder, Wertewandel und Postmoderne; ders. / Elz (Hg.), Alte Werte – neue Werte; (selbst-)kritisch bzw. methodisch deutlich reflektierter: Rödder, Wertewandel in historischer Perspektive. 57 Vgl. Köhler, Havarie der »Schönwetterkapitäne«?, S. 255 f. (Dort auch weiterführende Literatur.)
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weist auf den Einfluss der betriebswirtschaftlichen Debatte über veraltete Managementkonzepte in deutschen Unternehmen hin, die ab Ende der 1960er Jahre entstand. Demnach trugen diese öffentlich diskutierten Analysen dazu bei, Unternehmensführungen partizipativer zu strukturieren, was zusehends zu einem Abschied von einsam an der Spitze agierenden Unternehmenspatriarchen, letztlich also autoritär-paternalistischen Führungsweisen führte.58 Genauso war zu beobachten, dass Unternehmen, die ignorierten, dass sich Konsumentenwünsche immer deutlicher ausdifferenzierten, verstärkt mit Absatzproblemen konfrontiert wurden.59 Detailstudien zum Arbeitsethos in einzelnen Unternehmen – konkret dem Werk von Daimler-Benz in Untertürkheim60 – oder der seit den 1960er Jahren verstärkt entstandenen Gruppe der ›leitenden Angestellten‹61 stellen indes keine pauschale Hinwendung zu postmaterialistischen Werten fest.62 Gleichwohl kann Bernhard Dietz, durchaus im Einklang mit Köhlers Beobachtungen, für die ›leitenden Angestellten‹ eine Abwendung von »autoritären Orientierungen« respektive eine Tendenz zu »postautoritär[en]« Werten ausmachen.63 Insgesamt lesen sich die Studien als dringende Mahnung, zumindest bezogen auf Wirtschaft und Arbeitswelt der These von einem umgreifenden und schubartigen Wertewandel zwischen Mitte der 1960er und Mitte der 1970er Jahre keinesfalls per se zu folgen.64 Damit verweisen sie nicht nur auf offenkundig notwendige Differenzierungen, sondern unterstreichen zugleich, wie unumgänglich es ist, die zeitgenössische sozialwissenschaftliche Wertewandelsforschung der 1970er und 1980er Jahre zu historisieren.65 Unabhängig von diesen ersten interessanten Einzelergebnissen schiene es in prinzipieller Sicht nach wie vor lohnenswert zu fragen, ob – und gegebenenfalls: welche – weitere(n) Faktoren einen möglichen Wertewandel in der Wirtschaft bewirkten. Für eine Verbindung zur ökonomischen Makro-Perspektive könnte es spannend sein, testweise die übliche Fragerichtung umzukehren und zu prüfen, ob begrenztere materielle Spielräume Unternehmen dazu veranlassten, sowohl auf Arbeitnehmer als auch Kunden verstärkt mit immateriellen Angeboten zuzugehen. Wäre dies zu beobachten, ließe sich ein engerer (oder überhaupt ein) 58 59 60 61 62
Vgl. ebd., S. 253–255, 277–280. Vgl. ebd., S. 255 f., 269–274. Neuheiser, »Wertewandel« zwischen Diskurs und Praxis. Dietz, Wertewandel in der Wirtschaft. Vgl. z. B. prägnant: Neuheiser, »Wertewandel« zwischen Diskurs und Praxis, S. 166 f.; Dietz, Wertewandel in der Wirtschaft, S. 194. 63 Dietz, Wertewandel in der Wirtschaft, S. 195. 64 Vgl. (zu dieser Grundthese der sozialwissenschaftlichen Wertewandelsforschung) ebd., S. 170. 65 Vgl. auch: Neuheiser, »Wertewandel« zwischen Diskurs und Praxis, S. 142 f.; Dietz, Wertewandel in der Wirtschaft, S. 196.
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Konnex zwischen Krise und wirtschaftlichem Wertewandel ableiten. Paradoxer weise wäre in diesem Fall der Wertewandel – anders als die entgegengesetzt aufgebaute These Ronald Ingleharts besagt66 – nicht nur Folge eines gestiegenen, sondern auch eines gefährdeten Wohlstands.
2. Inflation und andere Übel: wirtschaftsgeschichtliche Zugänge Originär wirtschaftsgeschichtliche Perspektiven auf die Wirtschaftskrise der 1970er Jahre machen vier ›Grundübel‹ aus: Inflation, einschneidende Strukturveränderungen in mehreren Industriezweigen, der exogene Schock der stark gestiegenen Rohölpreise und ein konzeptionell teils widersprüchliches wirtschaftspolitisches Handeln. Die Inflation, unter der die Bundesrepublik mit Preissteigerungsraten von weniger als 10 % im Vergleich zu Ländern wie Großbritannien, das 1975 den Wert von 23,2 % erreichte,67 weniger, dennoch aber signifikant litt, speiste sich aus zwei Quellen. Zunächst war sie Folge der Zwänge des Bretton-Woods-System, das eine deutliche Unterbewertung der D-Mark gegenüber dem an Wert verlierenden US -Dollar provozierte. Die Erhöhung der Dollar-Menge, die unter anderem zur Finanzierung des Vietnamkriegs erfolgte, schwächte die US - Währung. Diese Schwäche provozierte einen Run auf die D-Mark. Allein in den 17 Monaten von Januar 1970 bis Mai 1971 beliefen sich die entsprechenden Kapitalzuflüsse auf 35,3 Milliarden Mark.68 Ebenso wenig wie die einmalige Aufwertung der D-Mark um 8,5 %, die im Oktober 1969 erfolgte, konnte die im Mai 1971 von der Bundesregierung getroffene Entscheidung, die D-Mark-Dollar-Parität aufzuheben und wie die Niederlande den Wechselkurs kurzzeitig freizugeben, das Problem dauerhaft lösen.69 Auch das Smithsonian Agreement vom Jahresende 1971, das eine Abwertung des Dollars um 7,89 % und ein mögliches Schwanken der Wechselkurse um + / – 5 % vorsah, sowie die Verabredung mehrerer europäischer Staaten, die Schwankungsbreite ihrer Währungen untereinander auf + / – 2,5 % zu begrenzen (›Währungsschlange‹), bedeuteten keine prinzipielle Problembehebung.70 Folge war eine abermalige Flucht in die D-Mark, die bei gleichzeitig expandierenden Staatsausgaben und anhaltender Hochkonjunktur die Inflation in der Bundesrepublik verschärfte.71 Endgültige 66 Vgl. Inglehart, Silent Revolution, prägnant S. 3, 5, 147. 67 Daten entnommen aus Geppert, Der Thatcher-Konsens, S. 179, Tabelle 1. 68 Vgl. James, International Monetary Cooperation, S. 215. 69 Vgl.: Herbert, Geschichte Deutschlands, S. 892; Karczewski, »Weltwirtschaft ist unser Schicksal«, S. 43, 47. 70 Vgl. Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 268. 71 Vgl. Prollius, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 193.
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Handlungsfreiheit erlangten die nationalen Zentralbanken – und damit auch die Bundesbank – erst, als das Bretton-Woods-System 1973 vollends zerbrach und der Übergang zu frei schwankenden Wechselkursen, dem sogenannten Floating, erfolgte.72 Die so bedingte weitere Aufwertung der D-Mark verschlechterte die Wettbewerbsposition der deutschen Exportindustrie allerdings massiv und deckte bis dato verschleiert gebliebene Strukturschwächen auf, unter anderem in der Stahlindustrie.73 Die zweite Inflationsursache war eine mittelbare Konsequenz aus der Inflationserfahrung: Gewöhnt an die spürbare Geldentwertung, kalkulierten gesellschaftliche Akteure die Inflation zunehmend ein. Dies führte zu veränderten Anspruchs- und Erwartungshaltungen und zeigte sich praktisch etwa bei den Lohnforderungen, mit denen die Gewerkschaften in Tarifverhandlungen gingen. So nährten sie eine Inflationsspirale. Der exogene Schock der zwischen Oktober und Dezember 1973 vervierfachten Rohölpreise74 bremste die gerade begonnenen geldpolitischen Maßnahmen zur Sicherung der Geldwertstabilität. Ursächlich für die Inflation war er nicht. Für die ökonomischen Problemlagen in den 1970er Jahren war der ›Ölschock‹ zusammen mit der Aufwertung der D-Mark dennoch von großer Bedeutung. Denn schlagartig verschärfte er die Probleme mangelnder Wettbewerbsfähigkeit, unter denen mehrere Industriezweige bereits zuvor latent litten. So wurden die Schwierigkeiten eines zuvor zu lange verzögerten regionalen und sektoralen Strukturwandels deutlich.75 Die Gründe für diese zeitweilige Behinderung des Strukturwandels sind in mehreren Faktoren zu suchen, angefangen von Überkapazitäten, die in der Konsumgüterindustrie aufgebaut worden waren und zu einer »Überproduktionskrise« führten, bis zu einer nachlassenden Bereitschaft der Arbeitnehmer, beruflich flexibel und mobil zu sein.76 Als diese »Erstarrung der Wirtschaftsstrukturen« den Zeitgenossen im Laufe der 1970er Jahre bewusst wurde, fand sie ihren begrifflichen Niederschlag im Reden von der »›Eurosclerosis‹«.77 Die Erstarrung reichte über die konkret fassbaren Strukturen hinaus. Sie erstreckte sich bis zum Mangel an Bewusstsein dafür, nicht länger in einem primär auf materieller Produktion basierenden Industriestaat zu leben. Auf der Ebene politischer Entscheidungen bewirkte dies, dass es nicht rechtzeitig »gelang, die Konzeption staatlicher Wirtschafts- und Forschungspolitik von ihrer industriellen Orientierung abzulösen und auf eine produktive Ordnungspolitik
72 Vgl. Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 269. 73 Vgl. ebd., S. 392. 74 Vgl. Hohensee, Ölpreisschock, S. 92. 75 Vgl. Ambrosius / Kaelble, Einleitung, S. 14. 76 Ebd. 77 Ebd.
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hin zu orientieren, die geeignet war, nachindustriellen Bedürfnissen nach sicheren institutionellen Handlungsgrundlagen gerecht zu werden.«78 Vor zu weitreichenden oder verallgemeinernden Schlüssen ist indes Vorsicht geboten. Richtet man den Blick nicht auf die Makro-, sondern auf die Meso- und Mikroebene – also bis hinunter zu einzelnen Unternehmen – erscheint 1973/74 oftmals nicht als entscheidende Zäsur. Für die Krisengeschichten einzelner Unternehmen, dies sei nur am Rande bemerkt, ergeben sich andere Periodisierungen, und oft lassen sich die Krisen mit endogenen Faktoren erklären.79 Ebenso treten Besonderheiten zutage, wenn man den Fokus beim Vergleich mehrerer Länder schärfer stellt. Zwar waren sie allesamt von Inflation, Konjunktureinbruch und grassierender Arbeitslosigkeit betroffen, allerdings in deutlich verschiedenem Ausmaß. Ferner zeigten sich teils gravierende Unterschiede in der (wirtschafts-)politischen Herangehensweise an die Krise und dem Erfolg ihrer Bekämpfung. Das wirtschaftspolitische Konzept der Bundesrepublik, das rasch unter dem Label ›Modell Deutschland‹ firmierte,80 hatte – um nur das drastischste Beispiel anzuführen – wenig gemein mit der radikalen Abkehr vom Keynesianismus und der marktradikalen Neuorientierung, die Margaret Thatcher in Großbritannien betrieb.81 Insofern ist die in dieser Arbeit untersuchte und erzählte Krisengeschichte (in) der Bundesrepublik einerseits Teil einer größeren Krisenerzählung, andererseits eine ›eigene‹ Krise. Wie wir am Beispiel der 1930er Jahre gesehen haben, ist dieses Merkmal jedoch auch für eine sogenannte ›Welt‹-Krise nicht ungewöhnlich. Spannend ist einmal mehr die Frage, auf welche Weise der transnationale, ja globale Charakter der Krise konstruiert wurde. Diese Frage nach Raumbezügen wird erneut Teil der Untersuchung sein.82 Das wirtschaftspolitische Agieren, mit dem die bundesdeutschen Politiker versuchten, der Krise Herr zu werden, ist von Tim Schanetzky detailliert aufgearbeitet worden. Er stellt den schrittweisen Übergang von einer eng an die keynesianische Konjunkturtheorie angelehnten Politik zu einer monetaristisch orientierten Geld- und verstärkt, aber keinesfalls ausschließlich angebotsorientierten Wirtschaftspolitik heraus.83 Im internationalen Vergleich war die Bundesrepublik mit diesem kombinierten Ansatz erfolgreich. Dennoch hatte auch 78 Abelshauser, Nach dem Wirtschaftswunder, S. 287. 79 Vgl. Reitmayer / Rosenberger, Die 1970er Jahre in unternehmens- und wirtschaftshistorischer Perspektive, S. 11–13, 18. Als konkretes Beispiel für die partielle zeitliche Überlappung endogener und exogener Faktoren bei einer Unternehmenskrise in den 1970er Jahren siehe Priemel, Krise des Flick-Konzerns. 80 Vgl. Rödder, Das ›Modell Deutschland‹, bes. S. 345–348. 81 Hierzu konzise: Geppert, Der Thatcher-Konsens, bes. S. 173–190. 82 Siehe Kap. XV.4. 83 Vgl. Schanetzky, Ernüchterung, S. 161–184.
Inflation und andere Übel
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sie im Jahr 1975, dem Höhepunkt der Wirtschaftkrise, einen Rückgang des Bruttosozialprodukts um 1,6 % und im Jahresdurchschnitt eine Arbeitslosenquote von 4,7 % zu verzeichnen,84 was einer Arbeitslosenzahl von mehr als einer Million entsprach.85 Zudem blieb die Inflation bei 6,2 %, was zum Phänomen der Stagflation führte.86 Wie Tim Schanetzky scharf akzentuiert, kennzeichnete die Politik der sozialliberalen Koalition trotz ihrer relativen Erfolge von Beginn an eine Unstimmigkeit. Statt in der Hochkonjunktur öffentliche Ausgaben konstant zu halten oder zurückzufahren, kam es zu einer konjunkturunabhängigen Ausdehnung der öffentlichen Haushalte. Von vornherein musste dies die potenzielle Wirksamkeit der fiskalpolitischen Optionen zur Beeinflussung des Konjunkturverlaufs im Falle einer Rezession mindern.87 Es erschwerte überdies den Kampf gegen die Inflation. Speziell die Bundesbank hatte sich diesem Kampf anzunehmen, und so war in ihrem Handeln früh eine Hinwendung zu monetaristischen Konzepten erkennbar. Den Abschluss dieses Prozesses markierte 1975 die erstmalige Formulierung eines konkreten Geldmengenziels.88 Der Sachverständigenrat hatte bereits 1972 dafür plädiert, die Geldwertstabilität stärker zu beachten und daher die »Frage, wie mehr Stabilität gewonnen werden kann« zum »rote[n] Faden« seines Jahresgutachtens gemacht.89 Unglücklicherweise rangen sich Bundes regierung und Bundesbank zu einem – ex post betrachtet – ungünstigen Zeitpunkt zu einem entschlossenen Vorgehen gegen die Inflation durch. Im Sommer 1973 hob die Bundesbank die Leitzinsen deutlich an (Diskontsatz auf 7 %, Lombardsatz auf 9 %). Dieses geldpolitische Vorgehen wurde fiskalpolitisch flankiert von zwei sogenannten »Stabilitätsprogrammen«.90 Der beabsichtigte Erfolg einer sinkenden Inflationsrate und einer Konjunkturbremsung trat ein, indes just zu dem Zeitpunkt, als mit der Ölpreiskrise auch ein Angebotsschock die Wirtschaft traf.91 Für die anschließende Situation war mit der Globalsteuerung keine befriedigende Antwort zu finden. Erforderlich waren gleichermaßen Expansion in der Konjunktur-, fortgesetzte Restriktion in der Geldpolitik. Ein solcher potenziell erfolgversprechender Kurs scheiterte allerdings an gesellschaftlichen Anspruchshaltungen, speziell den zunächst weiterhin hohen Tarifabschlüssen, die die Gewerkschaften durchsetzten.92 84 Daten entnommen aus Prollius, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 190, Tabelle 23. 85 Vgl. Plumpe, Wirtschaftskrisen, S. 97. 86 Daten entnommen aus Geppert, Der Thatcher-Konsens, S. 179, Tabelle 1. 87 Vgl. Schanetzky, Von Keynes zu Friedman?, S. 151. 88 Vgl. ebd., S. 159. 89 Sachverständigenrat, Gleicher Rang für den Geldwert, S. V. Vgl. auch Schanetzky, Von Keynes zu Friedman, S. 152. 90 Vgl. Schanetzky, Von Keynes zu Friedman, S. 155–157. 91 Vgl. ebd., S. 156 f. 92 Vgl. Schanetzky, Ernüchterung, S. 166 f.
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Die eigentliche Krisenbekämpfungspolitik kennzeichnete zweierlei Facetten: einerseits und primär das Ansinnen, durch Konjunkturprogramme Nachfrageausfälle auszugleichen, andererseits eine perspektivische Hinwendung zur Angebotspolitik. Etwa durch Steuersenkungen die Rahmenbedingungen für Unternehmen zu verbessern und so das nicht länger selbstverständliche Wachstum auszulösen, bedeutete die wirtschaftspolitische Neuorientierung, auf die besonders der Sachverständigenrat vehement insistierte.93 Das gleichzeitige Festhalten an Konjunkturprogrammen markierte Kontinuität. Zu letzterem wurde die Bundesregierung freilich auch von ihren europäischen und transatlantischen Partnern gedrängt, besonders hartnäckig 1978 beim Weltwirtschafts gipfel in Bonn, als US -Präsident Jimmy Carter gegenüber Bundeskanzler Helmut Schmidt darauf bestand, die Bundesregierung möge die Funktion einer ›Lokomotive‹ für die Weltwirtschaft übernehmen94 – eine Idee, die erstmals 1975 von der OECD ins Spiel gebracht und auch auf Japan bezogen worden war.95 Zusammen evozierten die unterschiedlichen Ansätze das Bild einer »[w]idersprüch liche[n] Praxis« in der Wirtschaftspolitik.96 So folgte auf die in der Bundesrepublik ohnehin kurze Ära einer ausdrücklichen Bezugnahme auf keynesianische Theorieannahmen und Instrumente eine konzeptionell uneindeutig konturierte Wirtschaftspolitik.97 Dass die Bundesrepublik direkt aufgefordert werden konnte, international eine Vorreiterrolle zu übernehmen, war Folge der zunehmenden internationalen (Wirtschafts-)Gipfel-Diplomatie. Speziell die seit 1975 bestehenden Weltwirtschaftsgipfel und die seit 1974 abgehaltenen Treffen des Europäischen Rats der Staats- und Regierungschefs der EWG werden als Konsequenz aus der Wirtschafts-, Währungs- und Europäischen Integrationskrise beschrieben.98 Man könnte freilich ebenso aus entgegengesetzter Blickrichtung fragen, inwieweit der vorangegangene Mangel an wirtschaftspolitischer Verständigung und Kooperation zwar nicht die Krisen auslöste, aber die Krisenausmaße mitverursachte. Das Signum einer uneindeutigen programmatischen Rahmung der Wirtschaftspolitik sollte sich in den Folgejahren fortsetzen, auch nach der politischen Wende von 1982. Eine kompromisslose Hinwendung zu ›neoliberalen‹ Kon93 Vgl. ebd., S. 178–184. 94 Vgl. Schröter, Von der Teilung zur Wiedervereinigung, S. 389. 95 Vgl. Schanetzky, Von Keynes zu Friedman, S. 165. 96 Vgl.: Ebd., S. 161–166, Zitat S. 161; Ullmann, Der deutsche Steuerstaat, S. 198 f. 97 Zur im internationalen Vergleich zögerlichen und kurzen Periode eines expliziten Keynesianismus in der bundesdeutschen Wirtschaftspolitik und ihren Ursachen siehe Allen, The Underdevelopment of Keynesianism. Vgl. zur These der wirtschaftspolitischen Uneindeutigkeit zudem die knappen Ausführungen bei Nützenadel, Stunde der Ökonomen, S. 348–352. 98 Siehe: James, Rambouillet, 15. November 1975; Karczewski, »Weltwirtschaft ist unser Schicksal«; Waechter, Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing.
Der Ölpreisschock als Schlüsselereignis
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zepten, beispielsweise einem konsequenten Rückzug des Staates aus dem Wirtschaftsprozess oder einer strikten Deregulierung des Arbeitsmarktes, ließ sich selbst in dieser Phase christlich-liberaler Wirtschaftspolitik nicht ausmachen.99
3. Der Ölpreisschock als Schlüsselereignis Angesichts der bisherigen Ausführungen, die den Zäsurcharakter vom Herbst 1973 wenigstens partiell konterkarieren, erscheint die Überschrift unverhältnismäßig. Für die Gegenwartsinterpretationen der Zeitgenossen, in denen sich Strukturverschiebungen nicht sogleich, sondern zeitverzögert niederschlugen, bedeutete der Ölpreisschock hingegen tatsächlich ein Schlüsselereignis. Wie an den eingangs der Fallstudie zitierten Arbeiten zu erkennen, schlägt sich dieses Erlebnis bis heute in Periodisierungsvorschlägen nieder. Hans-Ulrich Wehler, um ein weiteres Beispiel anzuführen, befand gar, der »Ölpreisschock […] markier[e] das Ende der Nachkriegszeit«.100 Fraglos ist und bleibt der erste Ölpreisschock ein wichtiger Faktor zum Verständnis der Krisendekade im weiten wie der ›kleinen Weltwirtschaftskrise‹ im engeren Sinne. Ihre Relevanz und ihre relative Kohärenz als Ereignis erklären, warum die ›Ölpreiskrise‹ – oder wie irreführender Weise oft formuliert: ›Ölkrise‹ – früh zum Gegenstand eigener geschichtswissenschaftlicher Studien avancierte.101 Die Krise ist dabei als Element sehr verschiedener Geschichten zu lesen: als Teil der Nahost(-kriegs-)geschichte, der arabisch-europäisch-amerikanischen Beziehungen und der Energiegeschichte oder als politisch-diplomatische Kommunikationsgeschichte.102 Sie ist Element der politischen wie der Wirtschafts-, der regionalen wie der transnationalen Geschichte. Da je nach Interessenfokus unterschiedliche Faktoren ins Zentrum rücken, kann es nicht darum gehen, die Ölpreiskrise detailliert nachzuzeichnen. Für den in dieser Arbeit verfolgten Untersuchungsgegenstand ist dies auch nicht notwendig. Vielmehr werden die wichtigsten Verlaufsstadien der Krise skizziert, um zu verstehen, vor welchem Ereigniszusammenhang Ende Oktober 1973 plötzlich Krisensemantiken zum Durchbruch gelangten. Am 6. Oktober 1973 begannen Ägypten und Syrien mit einem Angriff auf die Golanhöhen und den Sinai, jene Territorien, die Israel im Sechstagekrieg 99 Vgl.: Prasad, The Politics of Free Markets, S. 162–234, prägnant S. 163 f., 232–234; Werding, Gab es eine neoliberale Wende?, S. 311–318. 100 Wehler, Gesellschaftsgeschichte. Bd. 5, S. 60. 101 Hohensee, Ölpreisschock; Venn, Oil Crisis; Merrill, A Brief History. 102 Zu letztgenannter Perspektive siehe ausführlich Graf, Öl und Souveränität, S. 89–122, der entsprechende inter- und transnationale Kommunikationsprozesse von Anfang bis Mitte der 1970er Jahre rekonstruiert.
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Forschungsperspektiven – mit vagem Alpha und ohne Omega
1967 besetzt hatte.103 Der Angriff markierte den Ausbruch des Jom-KippurKriegs, der knapp drei Wochen andauern sollte. Aus energiepolitischer Warte erfuhr der Konflikt ab dem 16. Oktober besondere Dynamik. An diesem Tag gaben diejenigen Staaten innerhalb der OPEC , die am persisch-arabischen Golf lagen, sowie der Iran bekannt, den Rohölpreis um 70 % auf 5,12 US -Dollar pro Barrel zu erhöhen. Am Folgetag kündigte die Vereinigung der arabischen Staaten innerhalb der OPEC – die OAPEC – an, im Vergleich zur Ölfördermenge vom September eine Kürzung um 5 % vorzunehmen. Sie drohte mit weiteren Kürzungen um jeweils diesen Anteil in den Folgemonaten, sofern Israel nicht jene Gebiete räume, die es 1967 eingenommen hatte. Außerdem beschloss sie einen vollständigen Lieferboykott gegen die USA und die Niederlande, weil diese im Nahostkonflikt offensiv für Israel Partei eingenommen hatten. Angesichts des abrupt eingetretenen Lieferstopps entschloss sich die Niederlande Anfang November zu Schritten, die drei Wochen später auch in der Bundesrepublik zu beobachten waren: Am 4. November 1973 kam es erstmals zu einem autofreien Sonntag – einem Bild, das es ab dem 26. November auch in der Bundesrepublik viermal geben sollte. Fast zwei Monate lang war nicht abzusehen, inwieweit der Boykott, der sich ab November auch auf Südafrika erstreckte, ausgeweitet oder die Drosselungen verschärft würde(n). Gerade letzterer Aspekt erlangte zusätzliches Gewicht, als am 5. November nach einer Konferenz der OAPEC in Kuwait bekannt wurde, dass die Öllieferungen nun um 25 % gegenüber September 1973 zurückgefahren werden sollten. Dabei sollten befreundete Staaten reguläre Lieferungen, boykottierte Staaten überhaupt kein Öl und neutrale Staaten, zu denen die Bundesrepublik zählte, die übrige Menge an Rohöl erhalten. Die permanent drohende Verschärfung der Lieferreduzierung endete pünktlich zu Weihnachten. Auf der Teheraner Konferenz über Rohölpreise einigten sich am 23. Dezember die arabischen Erdölförderländer (gegen das Votum Saudi-Arabiens) darauf, den Rohölpreis abermals massiv anzuheben. Er betrug nun 11,65 US -Dollar pro Barrel. Damit hatte sich der Rohölpreis auf dem Weltmarkt gegenüber Anfang Oktober mehr als verdreifacht. Zugleich nahmen die Förderländer die Lieferreduktionen weitgehend zurück; sie betrugen ab Januar nur mehr 5 % gegenüber der Liefermenge von Anfang Oktober. In der Bundesrepublik wurde im Verlauf des Januars überdies deutlich, dass 1973 die gelieferte Menge an Rohöl nur in geringem Maße zurückgegangen war. Eine reale Knappheitssituation hatte nicht vorgelegen und war nun akut nicht mehr zu befürchten.104 103 Vgl. (zum gesamten Absatz): Venn, Oil Crisis, S. 7–21 (dort auch ausführliche Erläuterungen zum Hintergrund und Verlauf des militärischen Konflikts im Nahen Osten); Hohensee, Ölpreisschock, S. 255–257 (detaillierte Übersicht, die eine Reihe weiterer Einzelereignisse enthält). 104 Vgl. Hohensee, Ölpreisschock, S. 92.
Der Ölpreisschock als Schlüsselereignis
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Es wäre allerdings ein Trugschluss, angesichts dieser komprimierten Ereignisskizze die ›Ölpreiskrise‹ als einen isolierten Vorgang von kurzer Dauer zu betrachten. Zum einen änderten sich fortan fundamental die finanziellen Bedingungen, unter denen ölimportierende Staaten wirtschaften konnten (und umgekehrt). Die Zeit günstigen Rohöls war vorüber. Zum anderen verlief die Entwicklung im Herbst 1973 zwar rasant und war mit dem – zeitgenössisch wie in der heutigen Literatur so bezeichneten – Einsatz des Öl(-preise-)s als ›Ölwaffe‹ tagespolitisch aufgeladen. Weitet man den Blick, kann man indes zwei sehr viel längerfristige Trends erkennen. Erstens ist der Prozess einer sukzessiven Emanzipierung der Ölförderländer von den global agierenden Ölkonzernen beobachtbar. Im Jahr 1928 waren die Ölförderländer im »As-is«-Abkommen, auf Schloss Achnacarry in den schottischen Highlands unter den sieben international größten und bestimmenden Erdölgesellschaften geschlossen, als den Ölkonzernen untergeordnete Akteure behandelt worden, die kaum Einfluss auf die Preispolitik nehmen konnten und einen unterproportional kleinen Anteil aus den Ölverkäufen erhielten.105 Dies änderte sich erstmals 1952. Jetzt galt das »50:50«-Abkommen, das vorsah, die Erlöse zu gleichen Teilen den Förderländern wie den Ölkonzernen zukommen zu lassen.106 Acht Jahre später folgte mit der Gründung der OPEC der bedeutendste Schritt zur Ausweitung der Autonomie der Ölförderländer.107 Mit den Abkommen von Tripolis und Teheran errangen die OPEC-Staaten 1971 vertragliche Macht, gegenüber den Fördergesellschaften Preiserhöhungen durchzusetzen.108 Im Sommer 1973 schließlich, wenige Wochen vor Ausbruch der Krise, berieten die Förderländer erstmals ohne die Ölkonzerne über Fördermengen und Preise.109 Dabei ergab sich für die Ölexportstaaten ein gesteigertes Interesse, die Preise zu erhöhen, aus der Tatsache, dass Öl auf dem Weltmarkt in US -Dollar gehandelt wurde. Bedingt durch den Wertverlust des Dollars verdienten die Förderländer real immer weniger an ihren Exporten.110 Eine zweite Perspektive fokussiert die Relevanz, die Diskussionen um die Öl-, weiter gefasst die Energieversorgung in Wissenschaft und Politik zukam. Hier ist ebenfalls eine längerfristige Tendenz auszumachen. So beschäftigten sich Sozial- und Wirtschaftswissenschaften vor den 1960er Jahren praktisch nicht und in den 1960er Jahren erst allmählich mit Energiefragen. Eine deutliche Zuwendung zur Thematik war in den 1970er und 1980er Jahren auszumachen.111 Dem 105 Vgl. ebd., S. 15–17. 106 Vgl. ebd., S. 17. 107 Vgl. ebd., S. 19 f. 108 Vgl. Garavini / Petrini, Oil Crisis Reconsidered, S. 213 f. 109 Vgl. Venn, Oil Crisis, S. 7 f. 110 Vgl. ebd., S. 8. 111 Vgl. Graf, Energieversessenheit, S. 75–79.
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›Ölpreisschock‹ kam eine Katalysatorfunktion zu, allein ausschlaggebend für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Energiefragen war er nicht. Ebenso galt für die Politik, dass Energiefragen stetig an Bedeutung zunahmen, dieser Prozess durch die Geschehnisse von Ende 1973 aber massiv beschleunigt wurde. Allerdings arbeitete die Bundesregierung vor Oktober 1973 bereits an einem Energieprogramm. Und der US -Regierung war schon 1970 die Problematik eines in den USA stark anwachsenden Ölbedarfs, der die eigenen Fördermengen deutlich übertraf und die Abhängigkeit von den arabischen Ölexportstaaten bedenklich erhöhte, bewusst geworden.112 Präsident Nixon ernannte im Frühjahr 1973 auf Druck der politischen Öffentlichkeit mit John A. Love eigens einen ›Energiebeauftragten‹.113 Ein Jahr später, nach Ende der unmittelbaren Ölkrise, begannen die Politiker in den USA intensiv über die Frage einer größeren Unabhängigkeit von den OPEC-Staaten zu debattieren. Die Vorschläge reichten von Maßnahmen zu größerer Energieeffizienz, die sich beispielsweise in Vorgaben zur Senkung des Benzin-Verbrauchs bei PKW niederschlugen, bis zu Plänen, die eigene Ölförderung, insbesondere in Alaska, auszubauen.114 Letztlich etablierten die Ölexport-Staaten mit ihrem – überspitzt formuliert – emanzipatorischen Handeln und neuen Selbstbewusstsein, das sich auch in der zweiten Ölpreiskrise 1979 zeigte, ein neues Kräftegefüge in der internationalen Wirtschafts-, insbesondere Rohstoffordnung.115 Nach 1979, darauf verweisen neueste Forschungen, die gar hier erst die Zäsur verorten, erlangte die Entwicklung nochmals eine neue Qualität.116 Als infolge der iranischen Revolution die zweite Ölpreiskrise ausbrach, erneut eine weltweite Rezession folgte, nach dem Reaktorunfall im Kernkraftwerk Three Misle Island nahe Harrisburg (USA) auch die Atomkraft als Substitutionsquelle zur Disposition stand und die erste Weltklimakonferenz in Genf erstmals das Problem der Erderwärmung auf die politische Agenda hob, ergab sich endgültig ein nachhaltiger »Bewusstseinswandel«.117 Der Glaube an die Möglichkeit kalkulierbarer Ölmärkte ließ vollends nach, und die nun abermals gesteigerte Sensibilität für die Inflation ebnete neokonservativen Regierungen, allen voran in Großbritannien, den Weg.118 Dieser knappe Aufriss unterstreicht – wenngleich in anderer Weise als die beiden vorangegangenen Kapitel –, dass die ›Öl(-preis-)krise‹ zwar ein schockartig wirkendes Ereignis und in diesem Sinne eine Zäsur bedeutete, sie sich gleichwohl in eine Entwicklung längerfristiger struktureller Verschiebungen einpasste. 112 Vgl. Merrill, A Brief History, S. 18 f. 113 Vgl. Graf, Energieversessenheit, S. 84 f. 114 Vgl. Merrill, A Brief History, S. 22–24. 115 Vgl. Venn, Oil Crisis, S. 1. 116 Vgl. das engagierte Plädoyer von Bösch, Umbrüche in die Gegenwart, S. 14 f. 117 Ebd., S. 15. 118 Vgl. ebd., S. 16 f.
SPRACHE DER KRISE
XIII. Abrupter Beginn und schrittweises Ende: Vom ›Ölschock‹ zum Aufschwung
Trotz aller bisherigen Relativierungen: Der ›Ölpreisschock‹ stellte den entscheidenden Ausgangspunkt für das sprachliche Konstituieren einer ›Krisen‹-Situa tion dar. Interessanterweise kamen Krisensemantiken in der Bundesrepublik aber nicht Mitte Oktober 1973 auf, sondern ziemlich genau zum Monatswechsel Anfang November, als die Situation in den boykottierten Niederlanden deutlich wurde. In kürzester Zeit und getragen von medialen Dynamiken etablierte sich in der Bundesrepublik die Deutung, auch selbst in eine akute ›Krise‹ geraten zu sein. Mit teils beeindruckender Fantasie wurde durchgespielt, was in der Bundesrepublik passieren könnte, falls das Land einer ähnlichen Lage wie der nordwestliche Nachbarstaat ausgesetzt werde. Erst das Ende der Lieferreduktionen zum Jahreswechsel entzog diesen Gedankenspielen und Angstprognosen den Boden. Es folgten drei weitere Krisenphasen. In ihrer zeitlichen Erstreckung sind sie ungleich schwerer präzise zu beschreiben. Die Übergänge in der Betonung von Problemlagen verliefen schleichend. Der gleichwohl erkennbare Wandel der Sprachmuster lässt sich weniger deutlich an einzelnen Ereignissen festmachen; die im Titel der Fallstudie konstatierte Konturlosigkeit zeigte sich auch hier. Insgesamt kennzeichnete die Jahre zwischen Ende 1973 und dem kräftigen Aufschwung von 1976 eine verblüffend zügige Gewöhnung an die neuartige ökonomische Situation. Bereits im Zuge der ersten Krisenphase, besonders eindrücklich aber mit Beginn des zweiten Krisenabschnitts Anfang 1974, dominierte in öffentlichen Aussagen zur künftigen wirtschaftlichen Entwicklung ein warnender Ton. Als ab Sommer 1974 und erst recht in der Kernphase der Rezession 1975 das Wachstum einbrach und die Arbeitslosenzahl auf über eine Million stieg, war die Erfahrung neu, kam aber nicht grundsätzlich unerwartet. Das Ende der Fallstudie orientiert sich an verschiedenen Indikatoren: dem weitgehenden Abebben von explizit und primär auf die Wirtschaft bezogenen ›Krisen‹-Behauptungen oder krisenbezogenen Argumentationen, das sich in der ersten Jahreshälfte 1976 einstellte,1 vereinzelten, vorsichtig formulierten Rück1 Siehe hierzu Kap. XIII .4.
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Abrupter Beginn und schrittweises Ende
blicken auf die Weltwirtschaftskrise, die prominente Politiker wie Schmidt2 und Strauß3 Ende 1976 unter dem Eindruck des konjunkturellen Aufschwungs bisweilen äußerten, und der erwähnten zeitnahen wissenschaftlichen These von einer ›kleinen Weltwirtschaftskrise 1973–75‹.4 Dennoch wird nicht nur deutlich werden, dass mit diesen Äußerungen keineswegs eine Rückkehr zu den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen vor 1973 gemeint war oder das prinzipielle Reden von ›Krise(n)‹ vollständig aufhörte. Vielmehr wird das Fazit dieser Arbeit die Frage aufgreifen, inwiefern sich seit 1973 möglicherweise eine Form der ökonomischen ›Dauerkrise‹ etabliert hat und worauf diese speziell auch aus einer semantisch orientierten Perspektive zurückzuführen sein könnte.5 Im Folgenden werden die einzelnen Krisenphasen anhand der sie prägenden Topoi nachgezeichnet (XIII.1–XIII.4). Dabei gilt das Interesse erneut dem Zusammenhang zwischen diesen grundlegenden Sprachmustern und den Verwendungsweisen des Krisenbegriffs sowie der Frage, wie die Topoi sprachpragmatisch einsetzbar waren. In den nachfolgenden Kapiteln (XIV.1 und XV.1) werden diese Erkenntnisse in Beobachtungen zu grundsätzlichen Deutungs- und Sprachstrategien von Presse, Regierung und Opposition eingeordnet. Kapitel XV.3 unternimmt einen kleinen Exkurs, richtet den Fokus auf das erste Krisenhalbjahr und beleuchtet die Zuschreibungen, die der als Kanzler angeschlagene Willy Brandt und sein Nachfolger Helmut Schmidt zwischen Herbst 1973 und Frühjahr 1974 erfuhren. Im Übrigen behandeln die Kapitel XIV und XV phasenübergreifende Merkmale der semantischen Konstruktion der Krise, übergeordnete zeitgenössische Kriseninterpretationen sowie Aspekte der sprachlichen Raumkonstruktion.
2 Helmut Schmidt, Bundestag, 8. WP, 5. Sitzung, 16.12.1976, S. 33 B (»Der notwendige neue Wachstumsprozeß ist in Gang gekommen; er wird sich aber nur dann stetig fortsetzen, wenn die Grundlagen unserer Wirtschafts- und Sozialordnung erhalten bleiben und weiter ausgebaut werden. […] In diesem Zusammenhang gilt ein besonderer Dank den Gewerkschaften, die realitätsbewußt einen nicht wegzudenkenden Beitrag dazu geleistet haben, daß die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf die Arbeitnehmer in der Bundesrepublik in Grenzen gehalten werden konnten.«) und zugleich warnend, ebd., S. 34 A (»Wenn auch für 1977 weltweit für Wirtschaft und Handel ein weiterer Aufschwung erwartet wird, so ist doch die Lage der Weltwirtschaft […] auch immer noch durch Unsicherheit gekennzeichnet.«). 3 Franz Josef Strauß, Bundestag, 8. WP, 6. Sitzung, 17.12.1976, S. 92 A (»Aber der Rückgang in der Beschäftigung ist durch die Binnenkrise und nicht durch die Weltwirtschaftskrise eingetreten. Die Weltwirtschaftskrise hat die Sache dann für uns nicht leichter gemacht. […] Woher kommt denn – wenn ich mir erlauben darf, das zu fragen –, die Krise in Europa? Sie ist nicht – so gescheit, wie ich bin, sind Millionen andere auch – eine ökonomische Krise.«) 4 Vgl. Maneval, Art. Arbeitslosigkeit, S. 267. 5 Siehe Kap. XVII.
Herrschende Zukunft von kurzer Dauer
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1. Herrschende Zukunft von kurzer Dauer: Spätherbst 1973 Im Oktober 1973 befand sich die Bundesrepublik nicht in einer energiepolitischen oder wirtschaftlichen ›Krise‹. Krisensemantiken schlichen sich kaum in Presseberichte, die seit Beginn des Nahost-Konflikts auch die Öl-Frage streiften, noch in Äußerungen von Politikern ein. Ein prägnantes Beispiel hierfür stellen die Bundestagsdebatten vom 23., 25. und 26. Oktober dar, in denen die Abgeordneten den Bundeshaushalt für das Jahr 1974 und den Finanzplan des Bundes bis 1977 berieten. In den Reden der Vertreter von Regierungsparteien und Opposition spielte die Lage im Nahen Osten nur selten eine Rolle, als Gefahr für die Ölversorgung der Bundesrepublik wurde sie nicht diskutiert. Willy Brandt sprach von der »außerordentliche[n] Sorge« angesichts des »Ausbruch[s] von Feindseligkeiten« im Nahen Osten.6 Besorgt war er vor allem deshalb, weil »die strategische Bedeutung dieses Gebiets, zu der noch die […] Erdölversorgung von dort kommt, und nicht zuletzt das starke Engagement der beiden Weltmächte in jenem Raum sehr schnell zu gefährlichen Auswirkungen für den Weltfrieden führen« könnten.7 Ohnehin war es, sofern überhaupt thematisiert, der Aspekt der Friedensgefährdung, der die Politiker umtrieb. Herbert Wehner stellte einen Zusammenhang zwischen der Entspannungspolitik der sozialliberalen Regierung und den Geschehnissen in Nahost her und interpretierte es als Erfolg ebendieser Politik, dass sich aus der dortigen konfrontativen Situation nicht mittelbar auch eine »Berlin-Krise« ergebe.8 Bundesfinanzminister Helmut Schmidt konzentrierte sich in seiner Einbringungsrede auf die Politik zur Inflationseindämmung und konjunkturellen Bremsung und erklärte, er »lasse« bewusst »einmal die Einflüsse unberücksichtigt, die sich möglicherweise aus den Vorgängen im Nahen Osten ergeben und sich auf die Rohstoff- und die Ölmärkte auswirken können.«9 Einzig mit Bezug auf das seit längerem geplante Energieprogramm der Bundesregierung, dessen Notwendigkeit durch den aktuellen Konflikt besonders ersichtlich werde, stellte er einen Konnex zum arabisch-israelischen Krieg her.10 Franz Josef Strauß, wortgewaltigster Oppositionsredner, ging in seiner Generalabrechnung mit der Finanz- und Wirtschaftspolitik der Regierung auf etwaige energiepolitische Problemlagen nicht ein.11 In den betrachteten Printmedien spielten der Nahost-Konflikt und die sich aus ihm ergebenden Energiefragen hingegen seit Kriegsausbruch eine Rolle. 6 Willy Brandt, Bundestag, 7. WP, 62. Sitzung, 26.10.1973, S. 3630 C. 7 Ebd. 8 Herbert Wehner, Bundestag, 7. WP, 62. Sitzung, 26.10.1973, S. 3650 A. 9 Helmut Schmidt, Bundestag, 7. WP, 59. Sitzung, 23.10.1973, S. 3429 D. 10 Vgl. ebd., S. 3432 A – 3432 C. 11 Vgl. Franz Josef Strauß, Bundestag, 7. WP, 61. Sitzung, 25.10.1973, S. 3487 D – 3499 A.
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Abrupter Beginn und schrittweises Ende
Allerdings, und hier liegen die maßgeblichen Unterschiede zur Zeit ab Anfang November, handelte es sich um nebenbei aufgegriffene Fragen. Sie wurden nicht täglich und nicht auf den ersten Seiten der Zeitungen behandelt, und es wurden keine konkreten Bedrohungsszenarien für die Bundesrepublik durchgespielt. Die SZ berichtete bereits zwei Tage nach Beginn der Kämpfe vom Entschluss Saudi-Arabiens, »den USA nur dann die benötigten und angeforderten erhöhten Mengen Erdöl zu liefern, wenn Washington Israel zum Rückzug aus den 1967 eroberten arabischen Gebieten« dränge,12 beruhigte aber mit Blick auf die deutsche Versorgungslage, die erst auf der fünften Seite der Zeitung angesprochen wurde. Diese sei dem Krisenstab im Auswärtigen Amt zufolge »vorerst nicht gefährdet«.13 Zwar könne sich dies bei einem Lieferboykott, der länger als zwei Monate dauere, ändern, von einem solchen gehe die Bundesregierung aber nicht aus, da sie »nicht mit einer einheitlichen Handlungsweise der arabischen Welt« rechne.14 Eine solche Sichtweise transportierte Mitte Oktober auch ein kurzes SPIEGEL-Interview mit Bundeswirtschaftsminister Friderichs. Darin erklärte der FDP-Politiker, die Versorgung der Bundesrepublik mit Erdöl sei völlig ungefährdet, »wenn es sich nur um eine kurzfristige Unterbrechung handel[e] – und nicht einmal dafür [gebe] es bisher konkrete Anzeichen«.15 Er fügte hinzu, die »Vorräte [hielten mindestens] für 75 Tage«, und da »sich auf keinen Fall alle Lieferländer an einem Boykott beteiligen würden«, reichten sie gar »noch länger«.16 Bemerkenswerterweise machten auch Artikel zur Konjunkturentwicklung in der Bundesrepublik die Situation im Nahen Osten nicht zu einer relevanten Variable. So berichtete die FAZ noch am 31. Oktober über erste positive Wirkungen des Stabilitätsprogramms der Bundesregierung. So hieß es, »[a]n der Konjunkturentwicklung der Bundesrepublik zeig[e] sich deutlich, daß die konsequente Stabilisierungspolitik zu wirken beginn[e]«.17 Über potenziell konjunkturbeeinflussende exogene Faktoren, wie drohende Veränderungen am Energiemarkt, verlor der Artikel kein Wort. Informationen über einen »Preisauftrieb« bei Heizöl fanden sich lediglich in einem weiteren Bericht, der die allgemeine Inflationsentwicklung im Oktober behandelte, und auf diesen Aspekt nur zwei Sätze (im dritten von drei Absätzen) verwandte.18 Als negative Konsequenz der 12 Der Irak verstaatlicht amerikanische Ölgesellschaften, in: SZ , Nr. 232, 08.10.1973, S. 1. 13 In Bonn ein Krisenstab gebildet. Deutsche von den Kämpfen nicht betroffen / Ölversorgung vorerst nicht gefährdet, in: SZ , Nr. 232, 08.10.1973, S. 5. 14 Ebd. 15 Notfalls Krisenmanagement. SPIEGEL -Interview mit Wirtschaftsminister Friderichs, in: DER SPIEGEL , Nr. 42, 15.10.1973, S. 26. 16 Ebd. 17 Bonn: Erste Bremsspuren. Aber noch kein Umschwung / Stabilitätspolitik wird fortgesetzt, in: FAZ , Nr. 254, 31.10.1973, S. 17. 18 Vgl. Die Preise steigen wieder stärker. Die saisonale Verbilligung klingt ab / Teuerungsrate bei 6,5 Prozent?, in: FAZ , Nr. 254, 31.10.1973, S. 17.
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Stabilisierungspolitik thematisierte ein dritter FAZ-Artikel zwar verminderte Ertragslagen im Einzelhandel.19 Gleichzeitig wies er aber darauf hin, dass selbst die Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels dennoch »[f]ür eine Beibehaltung der gegenwärtigen Stabilitätspolitik« plädiere, weil nur sie ermögliche, den stetigen Steigerungen der Kosten entgegenzuwirken.20 Zwei Tage zuvor setzte sich der SPIEGEL mit der Konjunkturlage auseinander.21 Auf Basis der gleichen Daten fiel der Tenor weit weniger optimistisch aus als in der FAZ . Der Artikel warnte vor den möglichen Folgen eines unvermindert fortgesetzten Stabilisierungskurses, etwa deutlich steigender Arbeitslosigkeit im Winter.22 Auch war von einer »Krisenfurcht« vor allem mit Blick auf die Bau-, Bekleidungsund Textilindustrie die Rede.23 Gleichzeitig galt aber auch für diesen SPIEGEL- Bericht, dass er ebenfalls keine exogenen Gefahren für die Konjunktur in der Bundesrepublik benannte. Der Energiemarkt oder sich an ihm vollziehende Veränderungen blieben unerwähnt.
Der Schock leerer Autobahnen – in den Niederlanden Vor allem in Überblicksdarstellungen ist es eine beliebte Praxis, die Geschichte der Ölpreiskrise mit dem Bild leerer Autobahnen zu illustrieren.24 Die vier autofreien Sonntage zwischen dem 25. November und 16. Dezember 1973 schrieben sich tief in die Erinnerung an die Auswirkungen der Energiekrise in der Bundesrepublik ein. Die zumindest implizit suggerierte Botschaft, die fahrzeugfreien Fernverkehrsstraßen hätten eine schockartige und mentalitätsprägende Wirkung entfaltet, ist hingegen mit einem Fragezeichen zu versehen. Denn das erste Krisenstadium, das auf den Topoi der ›womöglich gefährdeten Versorgungslage‹ respektive ›drohenden energiepolitischen Gefahr‹ basierte und vorwiegend über Angst- und Warnungsprognosen im Rahmen fantasievoll entwickelter Schreckensszenarien vermittelt wurde, war Ende November längst ausgelöst. Ebenso stand die Möglichkeit von Fahrverboten als konkrete Option im Raum, seit der Bundestag am 9. November das sogenannte Energiesicherungsgesetz beschlossen hatte. Gleichwohl kam leeren Autobahnen für den Krisendiskurs eine Schlüsselfunktion zu. Allerdings lagen diese nicht in der Bundesrepublik, sondern dem 19 Einzelhandel: Stabilitätskurs beibehalten. Noch kein Umschwung in der Preisentwicklung / Die Ertragslage verschlechtert sich, in: FAZ , Nr. 254, 31.10.1973, S. 17. 20 Ebd. 21 [Konjunktur] Hellwach sein, in: DER SPIEGEL , Nr. 44, 29.10.1973, S. 26–28. 22 Vgl. ebd., S. 27. 23 Ebd., S. 26 f., Zitat S. 26. 24 Siehe z. B. Görtemaker, Kleine Geschichte, S. 262.
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Nachbarland der Niederlande. Weil die Niederlande wie die USA, aber anders als die Bundesrepublik, zu den Ländern gehörten, gegen die seitens der OAPEC ein vollständiger Lieferboykott verhängt worden war, hatten sie frühzeitig drastisch erscheinende Maßnahmen zur Energieeinsparung beschlossen. Die bundesrepublikanischen Medien griffen die Situation im Nachbarland schnell auf. (Dass es in Österreich bereits Mitte Oktober einen Engpass in der Benzinversorgung gegeben hatte, war in der SZ dagegen nur eine Randmeldung geblieben, wenngleich eine Randmeldung auf der ersten Seite.25) Innerhalb weniger Tage um den Monatswechsel Oktober / November 1973 änderte sich die Perspektive auf die potenzielle Ölproblematik fundamental und nachhaltig.26 Die konkrete Problemlage in den Niederlanden stand dabei weit weniger im Mittelpunkt als die Frage, ob, in welcher Weise und ab wann der Bundesrepublik ähnliche Einschränkungen drohten. Dass gegen Deutschland kein vollständiger Boykott verhängt war, spielte kaum eine Rolle. Zu Beginn der Berichterstattung wurde ein möglicher Konnex zwischen den beiden Nachbarländern damit begründet, dass die Bundesrepublik neben Belgien das Land sei, in das die Niederlande die größten Mengen an Rohöl und Mineralölprodukten weiter exportierten.27 Hieraus ergab sich eine mittelbare Gefahr. Als sich die Presse – BILD genauso wie Qualitätsblätter – in den folgenden Tagen darin erging, immer neue Szenarien möglicher Einschränkungen in der Bundesrepublik durchzuspielen, blieb eine ausdrückliche Bezugnahme auf diesen Sachhintergrund zumeist aus. Stattdessen entwickelten die Zeitungen ihre Gedankenspiele auf der Grundlage von Analogieschluss argumenten der Form ›Welche Konsequenzen sind möglich, falls auch wir beträchtlichen Lieferrestriktionen ausgesetzt sind?‹ Zeitgleich zu diesen Gedankenspielen kamen die synonym verwendeten Termini der ›Öl-‹ respektive ›Energiekrise‹ auf. Binnen kürzester Zeit verbreitete sich so die Deutung, auch die Bundesrepublik laufe akut Gefahr, gravierende Versorgungsengpässe kompensieren zu müssen. Die diskutierten Szenarien ergaben sich aus regelrechten Deutungsdynamiken, das heißt von einem Medium aufgeworfene Überlegungen wurden von einem anderen aufgegriffen und nicht selten in der Dramatik übertroffen. Einige Beispiele veranschaulichen dies: Am 1. November berichtete die FAZ über Einschätzungen der Mineralölindustrie, denen zufolge sich das »Ölembargo, das die arabischen Förderländer gegenüber den Niederlanden ausgesprochen haben,
25 Benzin in Österreich knapp, in: SZ , Nr. 238, 15.10.1973, S. 1. 26 Vgl. auch bereits Kepplinger / Roth, Kommunikation in der Ölkrise, S. 344. 27 Vgl. z. B.: Sonntagsfahrverbot in den Niederlanden. Folge des Ölboykotts durch neun arabische Staaten / Bonn noch zuversichtlich, in: SZ , Nr. 252, 31.10./01.11.1973, S. 1; Horst Uhlmann, Ein Zehntel der Welt-Ölproduktion fällt aus. Die Blockade der Niederlande wirkt vor allem auf die Nachbarländer, in: SZ , Nr. 252, 31.10./01.11.1973, S. 31.
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[…] auch auf die Versorgungslage der Bundesrepublik auswirken« werde.28 Akut gefährdet sei diese allerdings nicht. Eine »Reglementierung ähnlicher Art wie in den Niederlanden, wo ein Fahrverbot für die Wochenenden angeordnet ist«, sei daher »nach Angaben aus Bonn in absehbarer Zeit in der Bundesrepublik nicht« geplant.29 Trotzdem werde »weder in Regierungskreisen noch bei der Mineralölindustrie ein ›gewisser Spareffekt für den Verbraucher‹ […] ausgeschlossen«, ohne dass es dazu bereits einen »konkreten Plan« gebe.30 Die SZ warnte am 3. November, »auch die Bundesrepublik [müsse] über kurz oder lang mit einem arabischen Ölboykott rechnen«, obgleich die Bundesregierung Gerüchte über ein entsprechend drohendes Ultimatum Libyens dementiert und Bundeswirtschaftsminister Hans Friderichs (FDP) vor einer »›Versorgungshysterie‹ auf dem Ölmarkt« und »Panikkäufen« gewarnt habe.31 Zwei Tage danach, am 5. November, hieß es in der gleichen Zeitung, Friderichs habe angekündigt, er werde »bei Anhalten der Versorgungsstörungen […] nicht zögern, drastische Schritte zur Einschränkung des Verbrauches vorzuschlagen«; der »Boykott [gegen die Niederlande, K. K.] könnte bei längerem Anhalten der Krise auch Auswirkungen auf die Versorgung der Bundesrepublik mit Öl für die Industrie, Heizöl für die Haushalte und Benzin für die Autofahrer haben.«32 In ähnlicher Weise argumentierte am selben Tag auch der SPIEGEL , der eindrücklich titelte (vgl. die Abb. auf der folgenden Seite). Er warnte, der »wegen ihrer angeblich zu Israel-freundlichen Haltung über die Holländer verhängte Ölboykott der Araber, der Europas größten Ölhafen Rotterdam trockenlegen soll, verkürz[e] die in der Bundesrepublik benötigte Heizöl- und Benzinmenge um mindestens 20 Prozent.«33 Sodann skizzierte er die Gefahr noch weitergehender Konsequenzen. Falls sich die Bundesrepublik zusammen mit anderen europäischen Staaten zu einer Solidaritätsaktion mit den Niederlanden bereit erkläre und eine »Ölhilfe« leiste, »w[ü]rden die Araber […] die Westdeutschen mit totalem Ölentzug bestrafen«.34 Angesichts derartiger Szenarien »rüste[te]n sich in Europas Hauptstädten die Krisenstäbe für den äußersten Notfall – wenn Tankstellen und Kraftwerken Benzin und Öl ausgehen, wenn Fernheizwerke 28 Das Öl-Embargo trifft auch die Bundesrepublik. Der Verbraucher wird mehr zahlen müssen / Einschränkungen nicht in Sicht, in: FAZ , Nr. 255, 01.11.1973, S. 15. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Der Bundesrepublik droht ein Ölboykott. Die ultimativen Forderungen des libyschen Botschafters konnten bisher von Bonn nicht »befriedigend« beantwortet werden / Deutschamerikanische Verstimmung wird von Nixon als beseitigt angesehen, in: SZ , Nr. 254, 03./04.11.1973, S. 1 f. 32 Energie-Krisenplan in der Schublade. Das Bundeskabinett befaßt sich in Kürze mit Entwürfen des Wirtschaftsministers, in: SZ , Nr. 255, 05.11.1973, S. 1. 33 Ölkrise: Kein Verlaß auf Großmütter, in: DER SPIEGEL , Nr. 45, 05.11.1973, S. 23–27, hier S. 23. 34 Ebd.
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Abb. 7: DER SPIEGEL, Nr. 45, 05.11.1973, Titelbild. (© DER SPIEGEL, 45/1973.)
den Betrieb einstellen müssen und der petrochemischen Industrie der Nachschub fehlt.«35 BILD malte ebenfalls am 5. November mögliche Einschränkungen noch anschaulicher aus und sah im Land unter anderem – im wörtlichen Sinne – die Lichter ausgehen: Gegebenenfalls müsse auf beleuchtete Reklame, Flutlicht und Straßenbeleuchtung sowie das Beheizen von Schwimmbädern verzichtet werden; im Extremfall drohten vorübergehende Stromsperren.36 Die Boulevardzeitung machte 35 Ebd., S. 23 f. 36 Vgl. Oel [sic!]: Das ist Bonns Geheimplan. -Tempo 100 und Sonntagsfahrverbot, -Stromsperren und weniger Leuchtreklame, -Für jeden nur noch 40 Liter Benzin im Monat?, in: BILD, Nr. 259, 05.11.1973, S. 1 f., hier S. 1.
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ihrem Genre alle Ehre, als sie am Folgetag ihre Hypothesen über potenzielle (!) Konsequenzen einer etwaigen (!) Ölknappheit weiterspann. Wenn der Strom knapp werde, würden »Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten […] vorrangig mit Strom beliefert«, ebenso »Bäckereien, Schlachthäuser und Molkereien«.37 Ferner warnte BILD vor Konsequenzen, die jeden Privathaushalt betreffen könnten: »Zu bestimmten Zeiten – also zum Beispiel abends zwischen 19 und 21 Uhr – wird es in Millionen Häusern dunkel: Kein Fernsehen, kein Radio, kein Kühlschrank, keine Gefriertruhe läuft in dieser Zeit. Verdirbt dann Tiefkühlware?«38 Ein wenig mehr an Klarheit ergab sich, als die SZ am 7. November konkretisierte, der Bundestag werde noch in der gleichen Woche als »Instrument zur Bekämpfung einer Ölversorgungskrise« ein Energiesicherungsgesetz beschließen, das »die Regierung ermächtigen [solle], im Fall einer krisenhaften Zuspitzung der Ölversorgungslage schnell und gezielt mit Notmaßnahmen zu reagieren«.39 Das Gesetz sehe als Instrumentarien unter anderem eine Rationierung von Mineralölprodukten oder die Verhängung von Fahrverboten für private Kraftfahrzeuge vor.40 Der Wirtschaftsminister warnte vor möglichen Bevorratungen im großen Stil; zu einem solchen Verhalten bestehe kein Anlass.41 Vielmehr – hier schimmerte die übergeordnete, internationale Konfliktlage durch – gelte es, »auch nach außen ein gewisses Maß an Gelassenheit zur Schau [zu] stellen«.42 Gleichwohl platzierte oder aktualisierte Friedrichs mit einer solchen Aussage das Thema möglicher Bevorratung in der politischen Diskussion, entdramatisierend und tatsächlich beruhigend konnte er auf diese Weise kaum wirken. Die mittelbar kriegerisch-konfrontative Situation unterstrichen die verwendeten metaphorischen Umschreibungen für das Verhalten der arabischen Staaten wie für das deutsche Gesetz. Der bekannten Bezeichnung vom ›Öl‹, das als ›Waffe‹ eingesetzt werde,43 wurde das Gesetz als
37 Was uns bevorsteht, falls es zu Stromsperren kommt. Weniger Licht, weniger Fernsehen – und ziemlich kalte Füße, in: BILD, Nr. 260, 06.11.1973, S. 2. 38 Ebd. 39 Bonner Energiekrisen-Gesetz innerhalb von 48 Stunden. Der Entwurf soll heute im Bundestag eingebracht und morgen verabschiedet werden / Brandt unterrichtet Carstens und Stücklen, in: SZ , Nr. 257, 07.11.1973, S. 1. 40 Vgl. ebd. 41 Vgl. Friderichs warnt vor Vorratskäufen. Das neue Gesetz als »Notwaffe« bei Ölknappheit. Rechtsverordnungen im Einvernehmen mit den Fraktionen / Versorgung bis Dezember sichergestellt, in: FAZ , Nr. 261, 08.11.1973, S. 1, 4, hier S. 1. 42 Zit. nach: ebd. 43 Als Beispiele siehe: Araber-Staaten drosseln Ölförderung. Jeden Monat Verringerung um fünf Prozent, bis Israel die besetzten Gebiete räumt, in: SZ , Nr. 242, 19.10.1973, S. 2 (»Ölländer habe ihre Drohung, das Erdöl selektiv als ›Waffe‹ im Nahostkrieg einzusetzen, wahrgemacht«); Horst Uhlmann, [Mit dem Energiemangel leben.] Wie wir uns der Ölkrise erwehren können. Energie wird knapp bleiben, doch vorerst sind keine akuten
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»Notwaffe« zur Abwehr allzu drastischer und unkoordinierter Problemlagen entgegengestellt.44 Die Bundestagsdebatte vom 9. November zeigte, dass die Politiker sehr zügig die Interpretation einer zugespitzten und potenziell prekären Ölversorgungslage übernahmen. Die grundsätzliche Deutung der aktuellen Situation und möglicher weiterer Entwicklungen deckte sich mit den Pressestimmen. Zwar scheuten Politiker davor zurück, selbst allzu dramatische Szenerien zu skizzieren. Auf die medial entworfenen Hypothesen über mögliche Einschränkungen rekurrierten gleichwohl mehrere Redner indirekt. Dies geschah, indem sie beispielsweise betonten, die Gefahr erstrecke sich nicht bloß auf »Kühltruhen und Wohnzimmerwärme«, sondern auf die »wirtschaftliche Infrastruktur und damit […] die Arbeitsplätze«45 – oder wenn sie, wie Wirtschaftsminister Friderichs, erklärten, es gehe nicht nur um »warmes Wasser, Fernsehen oder Autofahren«, vielmehr beeinflusse die Energieversorgung auch die »Versorgung von Kranken und […] Operationen«.46 Mit Blick auf das Zustandekommen des Gesetzes betonten Vertreter aller Fraktionen den kurzfristig aufgetretenen Handlungsdruck. Der CDU-Abgeordnete Hermann Josef Russe sprach von einem »Gesetz, das einer besonderen Notlage begegnen soll«,47 Wirtschaftsminister Friderichs von einem »ungewöhnliche[n] Gesetz in einer außergewöhnlichen Situation«.48 Der SPD -Parlamentarier Karl Ahrens erklärte, die Bundesrepublik »befind[e] sich« zwar »gegenwärtig nicht in einer Versorgungskrise«, könne aber in deren Nähe geraten:49 Sofern die Lieferreduktionen im angedrohten Umfang erfolgten, stünde der Bundesrepublik zum Monatsende 15 % weniger Rohöl als gewöhnlich zur Verfügung, was »zu nicht unerheblichen Einschränkungen führen« werde, wenngleich nicht zu einem Zusammenbruch der Volkswirtschaft.50 Bemerkenswert erscheint die Debatte vom 9. November insbesondere unter drei Aspekten: Zum einen war abermals – wie um den Jahreswechsel 1966/67 – zu beobachten,51 dass sich angesichts einer zugespitzten Situation, die einer zügigen politischen Reaktion (und Parlamentsentscheidung) bedurfte, das Spektrum möglicher Aussagen zur Situation und zur unmittelbaren politischen EntStörungen zu befürchten, in: SZ , Nr. 260, 10./11.11.1973, S. 23 (»Ölländer haben die politische Waffe des Öl-Embargos eingesetzt«). 44 Friderichs warnt vor Vorratskäufen, in: FAZ , 08.11.1973, S. 1. 45 Lambsdorff, Bundestag, 7. WP, 65. Sitzung, 09.11.1973, S. 3847 A. 46 Hans Friderichs, Bundestag, 7. WP, 65. Sitzung, 09.11.1973, S. 3838 C. 47 Hermann Josef Russe, Bundestag, 7. WP, 65. Sitzung, 09.11.1973, S. 3833 C. 48 Friderichs, Bundestag, 7. WP, 65. Sitzung, 09.11.1973, S. 3837 D. 49 Karl Ahrens, Bundestag, 7. WP, 65. Sitzung, 09.11.1973, S. 3840 B. 50 Ebd., S. 3840 C. 51 Siehe Kap. VIII .3.
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scheidung schlagartig verengte. Kurzum: Die drei Bundestagsfraktionen waren sich weitgehend einig. Zwar merkten Unionsredner wie Hermann Josef Russe und Rainer Barzel an, dass das Gesetz ordnungspolitisch bedenklich sei52 – eine Sicht, die auch die FDP teilte53 – und die Dringlichkeit der Situation nicht im selben Maße gegeben wäre, wenn die vorhergehenden Bundesregierungen seit Mitte der 1960er Jahre kursierende Gesetzesvorschläge früher aufgegriffen hätten.54 Zum anderen, mit dem letztgenannten Aspekt vergleichbar, akzentuierten fast alle Redner die Notwendigkeit eines Energiesicherungsgesetzes, das nicht nur der aktuellen Gefährdungslage begegne, sondern langfristig angelegt sei. Ergo betrachteten sie die Lage trotz der Kurzfristigkeit der Beschlusssituation in einer mittel- bis längerfristigen Perspektive. Zu einer solchen Sichtweise zu gelangen war freilich nicht schwierig; die Bundesregierung hatte, wie Friderichs ausdrücklich hervorhob, einen entsprechenden Gesetzentwurf bereits im September vorgelegt.55 Ferner betonte er die Bedeutung verstärkter Anstrengungen sowohl in der Erforschung neuer Energien als auch im Bemühen um gesteigerte Energieeffizienz.56 Eine über den Tag hinaus gerichtete Perspektive war in dieser kurzfristig zustande gekommenen Debatte und Entscheidungssituation somit durchaus erkennbar. Drittens zeigten mehrere Redner – wenigstens implizit und ansatzweise – Sensibilität für potenzielle Folgen eines unbedachten öffentlichen Sprachgebrauchs. Zwar wäre es übertrieben, darin eine ausgeprägte Sprachreflexion zu erkennen, auf Bedachtheit bei der Wortwahl verwies es gleichwohl. Entsprechende Äußerungen betrafen einerseits den Krisenbegriff, andererseits die Veröffentlichung von Informationen und Plänen seitens der Bundesregierung. So erklärte der CDU-Abgeordnete Russe, Wirtschaftsminister Friderichs habe »bis in die letzten Tage die Notwendigkeit eines solchen ›Notstandgesetzes‹, wie wir es heute verabschieden sollen, nicht anerkannt«; dennoch habe der Wirtschaftsausschuss dies bewusst nicht angeprangert, sondern »Verständnis für dieses Vermeiden von zu frühen Signalwirkungen« gezeigt.57 Ähnlich – und in doppelter Hinsicht – verständnisvoll gestand sein Fraktionschef Rainer Barzel zu, dass »die Bundesregierung nicht jeden Tag alles, was sie tut, an die Große Glocke hängen […], daß sie nicht immer alles vollständig und öffentlich, […] erklären [könne], daß sie viel Rücksicht üben« müsse.58 Und trotz der medial verbreiteten und in die
52 Vgl. Russe, Bundestag, 7. WP, 65. Sitzung, 09.11.1973, S. 3834 B. 53 Vgl. Lambsdorff, Bundestag, 7. WP, 65. Sitzung, 09.11.1973, S. 3846 D – 3847 A. 54 Vgl. Rainer Barzel, Bundestag, 7. WP, 65. Sitzung, 09.11.1973, S. 3842 A – 3842 B. 55 Vgl. Friderichs, Bundestag, 7. WP, 65. Sitzung, 09.11.1973, S. 3837 D – 3838 A. 56 Vgl. ebd., S. 3840 A. 57 Russe, Bundestag, 7. WP, 65. Sitzung, 09.11.1973, S. 3833 D. 58 Barzel, Bundestag, 7. WP, 65. Sitzung, 09.11.1973, S. 3842 C.
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Debatte hineinragenden Krisensemantiken insistierte Otto Graf Lambsdorff darauf, das Land befinde sich gegenwärtig zwar in einer »akuten, auf eine Krise zulaufenden Lage«, er wolle dies aber »nicht schon als eine Krise bezeichnen«.59 Allerdings ließen auch derartige Äußerungen den Krisenbegriff zirkulieren, zumal aus Lambsdorffs Formulierung durchaus die Erwartung einer Krise herauszuhören war. Unabhängig von seinen möglichen Absichten konnte Lambsdorffs Wortwahl eine wirklich und nachhaltig beruhigende Wirkung kaum haben. Vielmehr war sie geeignet, Unklarheit und Unsicherheit über die aktuelle Lage zu verstärken. Genauso konnten Äußerungen wie jene von Russe zur verspäteten Vorlage des ›Notstandsgesetzes‹ alarmierend wirken, signalisierten sie doch, dass die Gefahr einer realen und akuten ›Notlage‹ bereits seit längerem bestand – und die Gesetzesvorlage nur deshalb nicht früher nachdrücklich eingefordert worden sei, um nicht zusätzlich Ängste zu schüren.
Von der ›Energie-‹ zur ›Wirtschaftskrise‹ Mit der Bundestagsentscheidung vom 9. November war der Bundesregierung ein Instrument an die Hand gegeben worden, mit dem sie auf eine sich verschärfende Versorgungslage zügig, nämlich auf dem Verordnungswege, reagieren konnte.60 Bekanntlich machte sie Ende des Monats von dieser Möglichkeit Gebrauch, sodass es am 25. November zum ersten von vier autofreien Sonntagen kam. Für das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Studie ist für den Zeitraum zwischen Mitte November und Ende Dezember 1973 jedoch weniger dieses Agieren zur Drosselung des Energieverbrauchs von Interesse, sondern ein anderer Aspekt: der Übergang von der Interpretation als ›Öl-‹ bzw. ›Energiekrise‹ zu der einer drohenden ›Wirtschaftskrise‹. Dieser begann zur Monatsmitte, als die Frage nach den volkswirtschaftlichen Konsequenzen aus den stark gestiegenen Rohölpreisen in den Mittelpunkt rückte. Rasch geriet die Möglichkeit eines wirtschaftlichen Einbruchs, gar einer mittel- bis längerfristigen ökonomischen Misere in den Raum für denkbar gehaltener Entwicklungen. Vor dem Hintergrund der bis dato gegebenen Konjunkturlage, angesichts derer es das wirtschaftspolitische Ziel gewesen war, die Hochkonjunktur sacht einzudämmen – eine ›Überhitzung‹ zu verhindern –, wozu die erwähnten Stabilitätsprogramme dienen sollten, überrascht dies durchaus. Für diese Erweiterung des Spektrums an Warnungsprognosen zeichneten gleichermaßen Medien wie Politiker verantwortlich. Bereits 59 Lambsdorff, Bundestag, 7. WP, 65. Sitzung, 09.11.1973, S. 3846 C – 3846 D. 60 Vgl. [o. N.], § 2 des Gesetzes zur Sicherung der Energieversorgung bei Störung oder Gefährdung der Einfuhren von Mineralöl oder Erdgas (Energiesicherungsgesetz) v. 09.11.1973, S. 1585 f.
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vor Mitte November kursierten Meldungen über »Energie-Pessimismus« und Rezessionsangst in den USA, die, wie es in der FAZ am 12. November explizit hieß, durch einen Leitartikel des Wallstreet Journal verursacht worden seien und zum »größten Kurssturz seit elf Jahren« an der Wallstreet geführt hätten.61 Am 15. November warnte die SZ mit Blick auf die Bundesrepublik, »pessimistische Berichte aus den USA verstärkten die Befürchtungen, daß die Energiekrise im kommenden Jahr zu einer Rezession führen könnte«; infolgedessen seien die Kurse von Unternehmen der Automobil- und Chemieindustrie unter Druck geraten.62 Im Tenor gleich, in der Formulierung drastischer und innerhalb des Blattes prominenter platziert, fragte am gleichen Tag BILD : »Rollt auf uns die große Wirtschaftskrise zu?«63 Flankiert wurden die Erwartungen in den kommenden Tagen von Warnungen seitens führender Regierungspolitiker, es könne zu nicht genau übersehbaren wirtschaftlichen Problemen und einem Beschäftigungseinbruch kommen. Helmut Schmidt prognostizierte, die Bundesrepublik stehe vor »›erhebliche[n], bisher nicht vorhergesehene[n]« volkswirtschaftlichen Konsequenzen der prekären Energielage,64 Willy Brandt warnte unverhohlen vor Arbeitslosigkeit als Folge der »Ölkrise«.65 Der Sachverständigenrat, dessen just zu diesem Zeitpunkt vorgelegtes Jahresgutachten die Energiekrise für 1974 nicht einbezog und daher zügig überholt war,66 schloss sich mit einer Warnung vor Inflation und Rezession, bereits »Stagflation« genannt, an.67 Nur wenige Tage später warnte auch der Präsident des Bundesverbandes des Deutschen Groß- und Außenhandels, Fritz Dietz, ausdrücklich vor der Gefahr einer Stagflation.68 In Anbetracht dieser Sachlage stoppte die Bundesregierung am 23. November die Anwerbung von Gastarbeitern.69 Ferner erließ sie für den letzten No61 Wallstreet erlebt größten Kurssturz seit elf Jahren. In Amerika macht sich Energie-Pessimismus breit / Rezession befürchtet / Benzinsteuer?, in: FAZ , Nr. 264, 12.11.1973, S. 13. 62 Energiekrise ängstigt die Börse. Auto- und Farbenaktien schwach / Schluß zu niedrigsten Tageskursen, in: SZ , Nr. 264, 15.11.1973, S. 25. 63 Rollt auf uns die große Wirtschaftskrise zu?, in: BILD, 13.11.1973, S. 2. 64 Zit. nach: [Folgen der Energieknappheit] Schmidt rechnet mit Gefahr für Arbeitsplätze und nachlassendem Wirtschaftswachstum. Der Finanzminister erwartet »erhebliche, bisher nicht vorhergesehene Auswirkungen« der Krise, SPD -Präsidium fordert von der Bundesregierung vollständige Unterrichtung der Öffentlichkeit, in: SZ , Nr. 269, 21.11.1973, S. 1 f., hier S. 1. 65 Z. B. Brandt in Sorge um die Arbeitsplätze. Jetzt auch Kurzarbeit in allen Opel-Werken. Wird die Öl-Krise zur Wirtschaftskrise?, in: BILD, Nr. 275, 24.11.1973, S. 1. 66 Sachverständigenrat, Mut zur Stabilisierung. 67 Ölkrise drückt Kurse auf Jahrestief. Schluß zu niedrigsten Tagesnotierungen / Renten eher leichter, in: SZ , Nr. 271, 23.11.1973, S. 35. 68 Vgl. Dietz: Unternehmer müssen Ölkrise meistern, in: SZ , Nr. 278, 01./02.12.1973, S. 30. 69 Hierzu ausführlich: Knortz, Diplomatische Tauschgeschäfte, S. 174–182, die betont, dass eine Begrenzung des Zuzugs weiterer ausländischer Arbeitnehmer nicht nur unter akuten wirtschafts-, sondern – speziell seit Sommer 1973 – in der Bundesregierung auch unter grundsätzlichen arbeitsmarkt- und integrationspolitischen Aspekten diskutiert wurde.
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vembersonntag das erste Fahrverbot sowie Geschwindigkeitsbegrenzungen von 100 km / h auf Autobahnen und 80 km / h auf Landstraßen. Diese Entscheidungen machten die unsicher gewordenen energie- und wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen weithin erkennbar. Die Abkehr von gängigen institutionalisierten Handlungsmustern – die Eingliederung von ausländischen Arbeitskräften in den Arbeitsmarkt und die permanent wachsende individuelle Mobilität – musste der Bevölkerung die drastisch veränderten ökonomischen Grundbedingungen verdeutlichen. (In einem Interview behauptete Helmut Schmidt 34 Jahre später gar, dass zumindest die Fahrverbote vorwiegend auf dieses psychologische Ziel, weniger auf die tatsächliche Einsparung von Energie ausgerichtet gewesen seien.70) Mit den Warnungen vor einer Wirtschaftskrise vollzog sich eine Akzenterweiterung, keine einseitige Akzentverschiebung. Denn parallel zu der thematischen Ausweitung der diskutierten Szenarien blieb die konkrete Energieversorgungslage das beherrschende Thema. Betrachtet man die Berichte und Erwartungen im Einzelnen, fällt es allerdings schwer, einen Grundtenor zu ermitteln. Meldungen mit regionalem Fokus berichteten über eingetretene Versorgungsengpässe, beispielsweise eine akute Diesel-Knappheit der Stadt Landshut, und die Angst mehrerer, vor allem mittelgroßer Städte, die kommunale Grundversorgung nicht aufrecht erhalten zu können.71 Experten der Öl-Industrie äußerten sich dagegen – auch angesichts der Ankündigung seitens der OAPEC , die Lieferreduzierungen um 5 % pro Monat würden im Dezember zunächst ausgesetzt72 – optimistisch, dass im Verlauf des Winters keine gravierenden Einschränkungen zu befürchten seien.73 Daneben traten Berichte, die – ex post betrachtet: richtigerweise – konstatierten, dass es keine echte Versorgungsproblematik, wohl aber das Problem drastischer Preiserhöhungen gebe.74
70 Vgl. Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt, in: ZEIT-Magazin vom 18.10.2007, S. 62, hier nach: Schanetzky, Ölpreisschock 1973, S. 67. 71 Vgl. Die Städte haben Ölsorgen. Energiekrise bedroht Grundversorgung / Resolution des Städteverbands, in: SZ , Nr. 267, 19.11.1973, S. 21. 72 Arabische Länder lockern Öl-Embargo. Nahost-Erklärung der EG honoriert / Liefersperre für Holland bleibt, in: SZ , Nr. 267, 19.11.1973, S. 1 f. 73 Vgl. z. B. [thema des tages – Ölkrise – Gefahr für Arbeitsplätze] Müssen wir jetzt frieren? – Nur bei sibirischer Kälte! Dr. Uwe Jönck, Sprecher der Esso AG , beantwortete gestern am Telefon Fragen von BILD -Lesern, in: BILD, Nr. 276, 26.11.1973, S. 2. 74 Vgl. Öl, Benzin und Diesel. Jetzt spielen die Preise echt verrückt! Heizöl vor der Rationierung, in: BILD, Nr. 274, 23.11.1973, S. 1.
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›Notwendige Opfer‹, relativer politischer Konsens und die Grenzen der Marktwirtschaft Wer die Appelle studiert, die sich im November und Dezember 1973 direkt an die Bevölkerung richteten, fühlt sich sogleich an den Sommer 1930 und das Jahresende 1966 erinnert.75 In sehr ähnlicher Weise kam auch jetzt der Topos der ›notwendigen Opfer‹ auf.76 Die ›Krisen‹-Deutungen setzten insbesondere Regierungspolitiker pragmatisch ein, um Erwartungshaltungen zu dämpfen. Dies betraf sowohl zukünftig notwendig erscheinende Beschränkungen beim individuellen Energieverbrauch als auch bei der Lohnentwicklung. Was ausblieb, hier zeichnete sich ein Unterschied zum Spätherbst 1966 ab, war das Versprechen, dass mit dem ›jetzt angemessenen Verhalten‹ (individuellen Entbehrungen) eine ›Krise‹ folgenschweren Ausmaßes zu vermeiden sei. Stattdessen wurden die (Auf-)Forderungen als Folge der bereits eingetretenen Lage beschrieben und auf diese Weise als Sachzwang konstruiert. Es ging nur mehr darum, die aus der gegenwärtigen Situation sich unvermeidlich ergebenden Konsequenzen so weit wie möglich zu kompensieren. Ein besonders eindrückliches Beispiel hierfür stellte die Fernsehansprache Willy Brandts dar, mit der sich der Bundeskanzler am Vorabend des ersten autofreien Sonntags an die Bevölkerung wandte. Brandt erklärte, die »Energiekrise« treffe die Bundesrepublik wie »alle Industrieländer der westlichen Welt«; unmittelbar notwendig sei es, dass »der Einzelne sich in seiner privaten Bequemlichkeit etwas einschränk[e]«.77 Dies ermögliche, dass »das Ganze nicht leid[e]«, womit er die Wirtschaft meinte, die »60 Prozent der Energie« benötige.78 Die Bevorzugung der Wirtschaft begründete Brandt offensiv: »Dort wird entschieden, daß wir gut über den Winter kommen. Dort geht es um Arbeitsplätze. Sie müssen gesichert werden.«79 Brandt pries die geforderten Einschränkungen nicht nur mit dem Argument der volkswirtschaftlichen Notwendigkeit. Er warb zugleich dafür, die Krisenerfahrung als Chance für ein neu verstandenes Miteinander zu nutzen: Die Gegenwart lehre, dass »Egoismus nicht einmal den Egoisten hilft, daß wir vielmehr auf gegenseitige Hilfe angewiesen sind. Wenn wir diese Erfahrung nutzen«, so schloss der Kanzler seinen Appell, »hat jeder von uns Grund, dem Winter mit Zuversicht zu begegnen.«80 Derart positive Wendungen fanden sich in der Presse kaum. Sie fokussierte sich stärker auf den Aspekt der Beschränkung und zitierte etwa den an Chur75 Siehe Kap. VIII .3. 76 Zum weiter gespannten Feld von ›Opfer‹- und ›Vernunft‹-Semantiken in der ›kleinen Weltwirtschaftskrise‹ siehe ausführlicher Kap. XIV.3. 77 Brandt, Erklärung des Bundeskanzlers zur Energiekrise, S. 151. 78 Ebd. 79 Ebd. 80 Ebd., S. 152.
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chills berühmte Formel angelehnten Appell Helmut Schmidts, nun käme es auf eine »große, gemeinsame Kraftanstrengung mit Schweiß, Sparsamkeit und Solidarität« an.81 Die Forderungen der Regierungspolitiker kamen freilich eher selten in pathetisch aufgeladenen Floskeln daher. Weitaus öfter wurden ihre Mahnungen aufgegriffen, bei den anstehenden Tarifverhandlungen – aus ihrer Perspektive: speziell im öffentlichen Dienst – Zurückhaltung zu üben.82 (Dass die ÖTV im Februar 1974 dennoch eine Erhöhung von Löhnen und Gehältern um elf Prozent durchsetzen konnte, verweist auf den zunächst begrenzten Erfolg dieser Mahnungen.) Noch zwei weitere Gemeinsamkeiten zwischen dem Spätherbst 1966 und dem Spätherbst 1973 waren beobachtbar: zum einen der strukturelle Aspekt, dass Regierungspolitiker mehr Möglichkeiten besaßen, ihre Sichtweisen zu kommunizieren. Wie in der Situation um den Jahreswechsel 1966/67 war es auch diesmal so, dass sie, verglichen mit Oppositionspolitikern, zu gefragteren medialen Interviewpartnern avancierten.83 Die hier untersuchten Zeitungen berichteten weit überwiegend über Einschätzungen und Pläne der Regierung und befragten Regierungsvertreter. BILD gelang es gar, Bundesfinanzminister Schmidt als Telefonexperten zu gewinnen, der – die damit verbundene Chance zur eigenen Inszenierung und Profilierung als Krisenlotse mutmaßlich vor Augen84 – die Fragen besorgter AnruferInnen beantwortete.85 Bundeskanzler Brandt sprach die Bevölkerung in der erwähnten Fernsehansprache direkt an. All diese Möglichkeiten ergänzten die üblichen Kommunikationswege im Parlament, über das Presseamt der Bundesregierung und die Pressestellen der Parteien. Zum anderen ließ sich abermals die schon in der Debatte um das Energie sicherungsgesetz zu erkennende Einengung des Spektrums möglicher Einschätzungen zur Situation und den unmittelbar notwendigen politischen Reaktionen beobachten. Medial war dies an den Statements vermeintlicher Experten, 81 Zit. nach: Hans-Ulrich Spree, Schweiß, Sparsamkeit und Solidarität…Die Bonner Politik wird an neuen Erfordernissen orientiert, in: SZ , Nr. 273, 26.11.1973, S. 16. 82 Z. B.: Brandt: Verbraucher sollen nicht »verrückt spielen«, in: BILD, Nr. 283, 04.12.1973, S. 1; [Bonn will Folgen der Energiekrise abwenden] Die Sicherung des Arbeitsplatzes hat für die Regierung Vorrang. Bundefinanzminister Schmidt kündigt Investitionen der Öffentlichen Hand an, falls es in der Industrie zu Entlassungen kommt / Keine Angstsituation erzeugen, mahnt Friderichs, in: SZ , Nr. 285, 10.12.1973, S. 1 f. 83 Siehe z. B.: Ölkrise! Bezugsscheine sinnlos. BILD -Exklusiv-Interview mit dem FDP-Wirtschaftsexperten Otto Graf Lambsdorff, in: BILD, Nr. 282, 03.12.1974, S. 1 f.; [Wie geht es weiter? SZ-Interview mit Hans Friderichs] Schwaches Wachstum – harte Verteilung. Der Bundeswirtschaftsminister plädiert für Realismus und gegen Schwarzmalerei. »Wir könnten der Energiekrise auch eine positive Seite abgewinnen«, in: SZ , Nr. 282, 06.12.1973, S. 19. 84 Siehe hierzu Kap. XV.3. 85 Arbeitsplätze, Inflation, Ölkrise: Minister Schmidt sagt, wohin die Reise geht. Eine Stunde lang beantwortete der Finanzminister gestern mittag am BILD -Telefon die Fragen der BILD -Leser, in: BILD, Nr. 288, 10.[?]12.1973, S. 3.
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unter anderem der Bundesbank, zu erkennen. Wie die Regierung warnten auch sie vor der Gefahr stark steigender Arbeitslosigkeit und eines möglichen konjunkturellen Abschwungs. Unter Rekurrieren auf diese Warnungsprognosen bedienten sie sich ebenfalls des Topos der ›notwendigen Opfer‹ und forderten tarifpolitische Zurückhaltung.86 Allerdings – das gilt es zu unterstreichen – waren es Warnungs-, keine Angstprognosen: Sie prognostizierten einen Rückgang des Beschäftigungsstandes und signifikant niedrigere Wachstumsraten, keinen volkswirtschaftlichen Absturz im Sinne einer scharfen Rezession. Die Einschätzungen des Präsidenten der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit, Fritz Stingl, standen hierfür exemplarisch. Er erklärte, die »Gefahren für die Erhaltung eines hohen Beschäftigungsstandes [seien] zweifellos größer geworden«.87 Zugleich aber beschwichtigte Stingl: Er rechne nicht damit, dass es zu »einem Sturzflug der Konjunktur in den nächsten Wochen und damit zu einem Beschäftigungseinbruch auf breiter Front komm[e]«.88 Inwiefern eine solche Aussage, die offenkundig beruhigen sollte, tatsächlich entsprechend beruhigen konnte, ist freilich eine offene Frage. Allein die Tatsache, dass der Präsident der Bundesanstalt es überhaupt für nötig hielt, sich zur Frage eines etwaigen konjunkturellen »Sturzflugs« (!) – mit dieser Wort- bzw. Metaphernwahl – zu äußern, konnte alarmierend wirken. Insgesamt jedoch ließ sich für die Energiesituation genau wie für die wirtschaftliche Entwicklung als Grundkennzeichen eine merkliche Unsicherheit, keine völlige Resignation konstatieren. Nicht nur die Regierung und Expertengruppen trafen sich in dieser Sichtweise; auch die Opposition im Bundestag teilte diese Annahmen prinzipiell. Wenn mithin von einem relativen politischen Konsens die Rede ist, bedeutet dies gleichwohl nicht, dass sich der Bundestag zu einem Hort allumfassender Harmonie entwickelte. Nach wie vor kennzeichnete das Verhältnis von Regierungs- und Oppositionsparteien rhetorisch eine merkliche Spannung. Auf den ersten Blick mangelte es nicht an Vorwürfen der CDU / C SU an die Adresse der Regierung: Diese habe zu spät über die Krisengefahren informiert und beim Ausmaß möglicher Beeinträchtigungen zu lange beschwichtigt.89 Ferner sei nun erkennbar, dass die Koalition früher und energischer an einem Energieprogramm hätte arbeiten müssen.90 Auch dürften bevorstehende wirtschaftliche Probleme nicht a llein auf die Energiekrise zurückgeführt werden, sondern die Bundesregierung 86 Siehe exemplarisch: Bundesbank appelliert an die Sozialpartner. Hohe Tarifabschlüsse gefährden Arbeitsplätze / Das Geld muß knapp bleiben, in: SZ , Nr. 292, 18.12.1973, S. 10. 87 Zit. nach: Präsident Stingl erwartet keinen »Sturzflug der Konjunktur«, in: SZ , Nr. 274, 27.11.1973, S. 1. 88 Ebd. 89 Vgl.: Franz Josef Strauß, Bundestag, 7. WP, 67. Sitzung, 29.11.1973, S. 3915 B – 3915 D; Ernst Müller-Hermann, Bundestag, 7. WP, 67. Sitzung, 29.11.1973, S. 3940 D – 3941 A. 90 Vgl. Strauß, Bundestag, 7. WP, 67. Sitzung, 29.11.1973, S. 3919 A – 3919 C.
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trage eine Mitverantwortung, insbesondere für die Inflation, gegen die sie zu spät vorgegangen sei.91 Entscheidend für die These vom relativen politischen Konsens aber war ein anderer Aspekt: Wenn es darum ging, die aktuelle Situation in ihrer Konstellation und hinsichtlich unmittelbar notwendiger Entscheidungen zu beurteilen, traten keine widersprüchlichen Positionen hervor. Weder machte die Union die Regierung für die gegenwärtige Problemlage verantwortlich, noch regte sich Widerstand gegen die angeordneten Fahrverbote, geschweige denn gegen den am 23. November erlassenen Anwerbestopp für Gastarbeiter. Die Union verzichtete nun sogar auf ihre noch im Oktober vorgebrachte Forderung nach steuerlichen Erleichterungen als Inflationsausgleich,92 jetzt forderte sie lediglich, die Mehreinnahmen aus der Mehrwertsteuer einzusetzen, um soziale Härten infolge der Energieverteuerung abzufedern.93 Und bezogen auf eine konkrete Entscheidung der Bundesregierung erklärte Franz Josef Strauß ausdrücklich, die »Opposition begrüß[e] den Beschluß des Bundeskabinetts […], die 10 %ige Investitionssteuer für Bereiche der Energiewirtschaft und Energie investitionen aufzuheben«, obwohl sie sich zusätzlich Maßnahmen zur forcierten Umstellung auf Kohle als tragende Energiequelle wünsche.94 Vor dem Hintergrund der starken parteipolitischen Polarisierung in der Bundesrepublik der 1970er Jahre, die sich, wie wir sehen werden, sonst in Sprachstrategien dichotomischer Gegensätzlichkeit niederschlug, erlauben diese Gemeinsamkeiten durchaus die Bewertung als Konsens, indes mit einer Einschränkung. Denn an einem Punkt entzündeten sich ab Ende November Kontroversen: an der Frage, inwiefern staatlicherseits Eingriffe in den Energiemarkt vorzunehmen seien, um einen weiteren Preisauftrieb zu unterbinden. Die Konfliktlinie verlief dabei jedoch nicht zwischen Regierung und Opposition, sondern zwischen CDU / C SU, FDP und rechtem SPD -Flügel einerseits, übrigen SPD -Politikern andererseits. Zwar äußerten Vertreter sämtlicher Parteien ihre Skepsis, ob die gegenwärtige Lage auf dem Energiemarkt allein den Marktkräften überlassen werden könne. Dirigistische Eingriffe des Staates in den Markt – Rationierungen respektive die Ausgabe von Bezugsscheinen – lehnte die Mehrheit der Politiker ab. Gleiches galt für Expertengremien wie den Wissenschaftlichen Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium.95 Trotz des fraglos zugestandenen Problemdrucks etablierte sich der Topos, alle Maßnahmen müssten im ›Einklang mit der sozialen Marktwirtschaft‹ stehen, als unhintergehbare diskursive Grenze – unhintergehbar, wenn die unterbreiteten Vorschläge eine realistische Chance behalten 91 Vgl. Müller-Hermann, Bundestag, 7. WP, 67. Sitzung, 29.11.1973, S. 3945 A. 92 Vgl. Franz Josef Strauß, Bundestag, 7. WP, 54. Sitzung, 04.10.1973, S. 3030 B – 3030 C. 93 Vgl. Strauß, Bundestag, 7. WP, 67. Sitzung, 29.11.1973, S. 3917 C – 3917 D. 94 Strauß, Bundestag, 7. WP, 67. Sitzung, 29.11.1973, S. 3921 B – 3921 C. 95 Vgl. Höchstpreise für Erdöl bringen nicht viel. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium tritt Illusionen entgegen, in: SZ , Nr. 270, 22.11.1973, S. 21.
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sollten, politisch umgesetzt zu werden. Exemplarisch dafür stand die Position des CDU-Politikers Ernst Müller-Hermann. Dieser prangerte einerseits an, dass einzelne »die Ölkrise in unverantwortlicher Weise und rücksichtslos für eigene Interessen mißbrauch[t]en«, wogegen konsequent vorzugehen sei, andererseits, ohne dies im Detail zu erläutern, betonte er, es gebe genügend marktwirtschaft liche Instrumente, Versorgungsengpässen durch Kooperation zwischen Mineralölwirtschaft und öffentlichen Stellen zu begegnen, weshalb er staatlich festgelegte Zuteilungen an Mineralölprodukten klar ablehnte.96 Öffentlich ausgetragen wurde der Konflikt weniger im Parlament als vielmehr medial. So berichtete beispielsweise die SZ über Vorschläge beider Seiten, unter anderem über die Forderung nach »Überführung der Mineralölkonzerne in gesellschaftlich kontrolliertes Gemeineigentum«, wie sie der Juso-Vorsitzende Wolfgang Roth vorgebracht hatte.97 In gleicher Weise transportierte sie die Vielzahl ablehnender Haltungen zu derartigen Planspielen. Die von (Regierungs-) Sozialdemokraten, Liberalen und Konservativen getragenen, ablehnenden Positionen fanden höchst prominente Verfechter. Um bei dem Beispiel zu bleiben: Nicht nur Regierungssprecher Grünewald wies Roths Vorschlag unmissverständlich zurück;98 auch die FDP-Bundestagsfraktion distanzierte sich scharf: Roths »Verstaatlichungshammer«, so Otto Graf Lambsdorff, bringe nicht »einen Liter Öl oder Benzin mehr für den Verbraucher«.99 Gleichwohl zeigte sich in diesen Tagen eine argumentative Paradoxie. Denn obwohl sie alle konkreten staatlichen Eingriffe ablehnten, hieß es selbst über klar marktwirtschaftlich orientierte Politiker wie Helmut Schmidt (SPD) und Kurt Biedenkopf (CDU), sie seien der Meinung, dass »die Folgen der Energiekrise […] allein mit marktwirtschaftlichen Mitteln nicht bewältigt« beziehungsweise »staatliche Eingriffe mehr als bisher nötig werden könnten«.100 Wie sehr die Grenzen rein marktwirtschaftlicher Ordnung erkennbar wurden, unterstrichen Berichte über interne Äußerungen im Bundeswirtschaftsministerium. Darin hieß es: »Selbst die Gralshüter der Marktwirtschaft in Friderichs’ Amtsstuben demonstrie ren in diesen Tagen Galgenhumor. Wenn die Araber den Ölhahn nicht bald wieder 96 Bonn bildet Krisenstab. Brandt will am Donnerstag im Bundestag eine Erklärung zur Ölkrise abgeben, in: SZ , Nr. 272, 24./25.11.1973, S. 1 f., hier S. 1. Ähnlich argumentierte er in der Folgewoche vor dem Bundestag, vgl. Müller-Hermann, Bundestag, 7. WP, 67. Sitzung, 29.11.1973, S. 3941 C. 97 Roth erläutert Forderung nach Verstaatlichung der Ölkonzerne, in: SZ , Nr. 274, 27.11.1973, S. 2. 98 Vgl. Bonn bildet Krisenstab, in: SZ , 24./25.11.1973, S. 2. 99 Zit. nach: ebd., S. 2. 100 Brandt: Arbeitsplätze müssen gesichert werden. Fernsehansprache zur Energiekrise / In Solidarität die Probleme meistern, mahnt Schmidt, in: SZ , Nr. 273, 26.11.1973, S. 1 f., hier S. 2.
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voll aufdrehten, würden sie noch unbeabsichtigt die Theorie vom ›staatsmonopolistischen Kapitalismus‹ beweisen, die den Staat als Erfüllungsgehilfe[n] des internationalen Großkapitalismus beschreibe, lautet ein jetzt oft gehörter Scherz mit tieferer Bedeutung.«101
Tatsächliche staatliche Eingriffe in die Energiewirtschaft blieben aus. In den Folgetagen, Anfang Dezember, kamen zwar Debatten über die Ausgabe von Bezugsscheinen auf, sogar von Bundeskanzler Brandt angedeutet und vom SPD Bundestagsabgeordneten und Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Klaus Dieter Arndt, offensiv ins Spiel gebracht.102 Die Anregungen blieben jedoch folgenlos und wurden, beispielsweise von Altbundeskanzler Erhard, erneut barsch zurückgewiesen. Erhard erklärte, ähnlich wie kurz zuvor bereits Lambsdorff, Rationierungen provozierten lediglich einen augenblicklich aufblühenden Schwarzmarkt.103 Dass es nicht zu regulierenden Eingriffen des Staates in das Marktgeschehen kam, mag damit zusammenhängen, dass sich die Versorgungslage im Verlauf des Dezembers entspannte. Ein akuter Mangel mit weitreichenden Auswirkungen trat nicht ein. Am 23. Dezember begann die erwähnte Teheraner Konferenz über Rohölpreise, deren Konsequenz eine abermalige Preiserhöhung auf nun 11,65 US -Dollar pro Barrel war, die zugleich aber ein weitgehendes Ende der Lieferreduktionen beschloss und damit Planungs- und Versorgungssicherheit wiederherstellte.104 Insofern nahm der unmittelbare politische Handlungsdruck ab. Die Grenzen marktwirtschaftlicher Steuerung waren erkennbar, sie zu überschreiten, war nicht notwendig geworden.
Wie ›tief‹ ist die Zukunft, und wer beherrscht sie? Dass trotz dieser Meinungsverschiedenheit in einer grundsätzlichen Frage ein relativ weitgehender politischer Konsens erhalten geblieben war, kann mit weiteren Faktoren erklärt werden. Wie nicht zuletzt die Diskussion um staatliche 101 In der Krise wird der Kanzler energischer. Angesichts des Öl-Embargos und der Abhängigkeit von den Mineralölkonzernen will der Regierungschef die Zügel fester in die Hand nehmen, in: SZ , Nr. 273, 26.11.1973, S. 3. 102 Vgl. Ölkrieg in der Bonner Koalition, in: SZ , Nr. 275, 28.11.1973, S. 4. 103 Vgl.: [»Krise – Öl, Arbeitsplätze, Preise – thema des tages«] »Rationierung? Dann wandere ich aus…« Was Bild-Leser zum Bonner Notplan sagen, in: BILD, Nr. 279, 29.11.1973, S. 2; [»Krise – Öl, Arbeitsplätze, Preise – thema des tages«] Ludwig Erhard: Rationierung, die führt doch nur zum Schwarzen Markt. BILD -Exklusiv-Interview mit dem Alt-Bundeskanzler, der nach dem Krieg die Wirtschaftskrise meisterte, in: BILD, Nr. 281, 01.12.1973, S. 2. 104 Vgl. Kap. XII .3.
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Eingriffe auf dem Energiemarkt zeigte, hatte sich seit Anfang November eine politische Entscheidungssituation ergeben, die nur mehr einen reagierenden politischen Handlungsmodus zuließ. Die Politiker in Regierung und Parlament sahen sich mit einer Entwicklung konfrontiert, deren Verlauf sie selbst kaum gestalten konnten. Auf diese Weise war die Zukunft, die seit den 1960er Jahren überwiegend als politisch gestalt- und planbarer Raum konzipiert worden war, binnen weniger Wochen zu einer herrschenden Instanz geworden. Und sie hatte – in der Terminologie der historischen Zukunftsforschung formuliert – massiv an Tiefe eingebüßt. Wer Aussagen zu möglichen oder erwarteten Szenarien oder Problemlagen wagte, sprach nicht mehr über Jahre, bisweilen gar Jahrzehnte, sondern über Wochen, allenfalls Monate. In der so konstruierten Zukunft lag deren konkrete Verfasstheit nicht in der Hand deutscher Politiker, sondern war abhängig von anderen Akteuren, insbesondere den arabischen Ölexport-Staaten. Sowohl in Politiker-Äußerungen als auch in der betrachteten Presse erschienen sie als maßgeblich für die Krisenlage verantwortlich. Überdeutlich titelte der SPIEGEL am 12. November (vgl. die Abb. auf der folgenden Seite). Die arabischen Staaten gerieten zum Objekt von Schuldzuschreibungen, die es ermöglichten, eingängige und simple Narrative über die Ursachen der gegenwärtigen Situation zu prägen. Gleichzeitig erlaubten diese Zuschreibungen, ein positiv konnotiertes Selbstbild – die Rolle des unverschuldet in Not geratenen Opfers – zu prägen, das durch die Abgrenzung von ›den anderen‹ – verantwortungslos und unberechenbar agierenden ›Öl-Erpressern‹ – entstand. Derartige Konstruktionen fanden sich im untersuchten Quellenkorpus in zugespitzter Weise vor allem in der Presse. Es liegt sehr nahe, in den Bezeichnungs-, Bewertungs- und Abgrenzungsmodi Anknüpfungen an lang bestehende Darstellungsweisen ›des Orients‹ und ›der Araber‹ zu erkennen. Sich selbst durch Abgrenzungen von ›Fremden / Anderen‹ zu definieren, war nicht neu, sondern, wie Edward Said in seiner vielrezipierten Studie besonders mit Blick auf das 19. Jahrhundert gezeigt hat, fundamental für Identitätskonstruktionen der Europäer in Abgrenzung zum ›Orient‹.105 Ein eindrückliches Beispiel hierfür lieferte auch der ARD -Jahresrückblick 1973. Um die Konfliktlage zu erklären, stellte er den »Industrienationen« die erklärungsbedürftige Fremdheit »Arabiens« gegenüber. In einer Sequenz folgten auf Schrägluftbilder von Ölfeldern und Ölförderanlagen zunächst Aufnahmen von einsatzbereit parkenden Kampfflugzeugen sowie dem – visuell somit zu einer zentralen Figur erhobenen – saudi-arabischen König Faisal bei verschiedenen Begegnungen. Dazu hieß es im Off-Kommentar unter anderem: 105 Said, Orientalism. Die Studie war nicht nur Ausgangspunkt der sich etablierenden ›postcolonial-studies‹, sondern ist bis heute Referenz für Postkolonialismustheorien und dabei keineswegs unumstritten. Zum gegenwärtigen Stand der Orientalismus-Forschung bzw. aktuellen Debatten siehe Schnepel / Brands / Schönig (Hg.), Orient.
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Abb. 8: DER SPIEGEL, Nr. 46, 12.11.1973, Titelbild. (© DER SPIEGEL, 46/1973.)
»Arabien – wegelose Wüste, verkarstete Gebirge, menschenleere Küsten, spärliche Oasen, für Jahrhunderte ein Armenhaus dieser Welt. In unserer Zeit Staaten, die auf Öl gebaut sind. Reichtum für wenige. Aber auch in diese Länder dringen Parolen, die eine andere Welt verkünden. Ölkonzern und Imperialismus werden zum Synonym. […] Machtbewusstsein gepaart mit leicht verletzbarem Stolz. So verwandeln die Araber, was sie besitzen, in eine Waffe. Die Waffe heißt Öl. […] Die Araber machen arabische Politik.«106
106 Beitrag aus dem ARD -Jahresrückblick 1973, online abrufbar unter: http://www.tages schau.de/multimedia/video/jahresrueckblick/1973/video798662.html (letzter Zugriff am 09.10.2018). Zitierter Ausschnitt zwischen MIN 0:14 und MIN 0:59.
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Die Sätze waren kurz und wurden sehr akzentuiert gesprochen. Mithin stützte nicht nur der Inhalt des Kommentars, sondern auch die Art und Weise des Formulierens die Botschaft, mit einer eindeutigen, wenig Interpretationsspielraum lassenden Situation konfrontiert zu sein. (Bemerkenswert an diesem Ausschnitt ist zudem die relative Diskrepanz zwischen Gezeigtem und Gesagtem. Die angesprochene topografische Struktur und Vergangenheit Arabiens fand keinen bildlichen Ausdruck, sondern ›das Öl‹(-feld) geriet unmittelbar zum visuellen Hauptmotiv. Noch beachtlicher aber erscheint, dass die Aussage ›Öl als Waffe‹ auf sprachlich und bildlich unterschiedliche, einander ergänzende Weise erzeugt wurde: Während das Öl im Kommentar die Zuschreibung »Waffe« erhielt, zeigten die Bilder zeitgleich – in Form der Kampfflugzeuge – reale Waffen. Die militärische Dimension des Konflikts, also die Lage im Nahen Osten, die mit den Bildern vermutlich ebenso ausgedrückt werden sollte, deutete der Sprecher hingegen erst im Anschluss an die hier zitierte Sequenz kurz an.) Bei BILD zeigte sich eine negative Stereotypisierung der arabischen Ölförderstaaten überaus deutlich; zuvorderst in deren direkter Bezeichnung. So war nicht nur pauschal vom »arabische[n] Ölboykott« die Rede,107 das Blatt erklärte auch in direkter Täterkonstruktion: »Öl-Erpresser fügen unserer Industrie schweren Schaden zu«.108 Solcherart drastische Formulierungen fanden sich zwar nicht tagtäglich. Dennoch spiegelten sie eine Sichtweise auf die Förderländer um den Persischen Golf wider, die – wie am Beispiel des SPIEGEL-Titels gesehen – keineswegs allein, aber eben auch und gerade für die Boulevardzeitung grundlegend war. Letzteres unterstreicht die Tatsache, dass das Blatt auch Ende 1974 und Anfang 1975 weiterhin despektierlich von den »Ölscheichs« sprach, als es um mögliche Beteiligungen arabischer Staaten an deutschen Industrieunternehmen und die Gefahr erneut stark steigender Ölpreise ging.109 Dass ihm auch in diesem Fall der SPIEGEL in der Wortwahl kaum nachstand,110 deutet freilich ebenso darauf hin, dass es sich um eine durchaus verbreitete Redeweise, mithin eine Variante des allgemeinen Sprachgebrauchs handelte, die in einzelnen Medien besonders prägnant Verwendung fand. Die SZ reduzierte ihre Sicht auf die arabischen Staaten nicht derart direkt auf schlagwortartig zuspitzende Begriffe. Sie fasste ihre Perspektive in ausführliche Argumentationen, die indes auf eine noch explizitere Dichotomie hinausliefen. Schon Anfang November interpretierte SZ-Autor Dieter Schröder die Situation
107 Oel: Das ist Bonns Geheimplan, in: BILD, 05.11.1973, S. 1. 108 Rollt auf uns die große Wirtschaftskrise zu?, in: BILD, 13.11.1973, S. 2. 109 Ist es gut, daß Ölscheichs unsere Fabriken kaufen?, in: BILD, Nr. 279, 30.11.1974, S. 2; Kissinger warnt die Araber. Notfalls Krieg gegen Öl-Scheichs, in: BILD, Nr. 3, 04.01.1975, S. 1. 110 Siehe z. B. Krieg gegen die Ölscheichs?, in: DER SPIEGEL , Nr. 3, 13.01.1975, S. 56–64.
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als »arabische Erpressung«, als »Kampf ums Öl« und »erste[n] Versuch der Roh- und Kraftstoffproduzenten, die reichen Nationen gefügig zu machen«.111 Wenige Tage später erklärte sein Kollege Gerhard Hennemann den Konflikt mit einer Kampfsemantik – und strich die gegenwärtige Handlungs-»Ohnmacht« der Bundesrepublik heraus: »Weder mit handelspolitischen noch mit entwicklungspolitischen Gegenmaßnahmen ist die Bundesregierung in der Lage, im nationalen Alleingang wirtschaftlichen Druck auf die arabischen Ölförderländer auszuüben. Im Gegenteil – derartige Nadelstiche wären eine Herausforderung der Araber, die sie höchstwahrscheinlich mit einem totalen Lieferboykott der Bundesrepublik beantworten würden. Eine solche absurde Strategie überhaupt nur zu erwägen, so wird in Bonner Regierungskreisen betont, sei […] geradezu ›selbstmörderisch‹. Die Ohnmacht der Bundesregierung gegenüber den Boykottmaßnahmen der arabischen Förderländer wird deutlich, wenn man die Größenordnung sowohl der deutschen Exporte als auch der deutschen Entwicklungshilfe betrachtet, die auf das Spannungsgebiet im Nahen Osten entfallen.«112
Die Selbstwahrnehmung als Opfer wurde durch den wiederholten Einsatz der ›Waffen‹-Einsatz-Semantik unterstrichen, beispielsweise wenn es hieß, die »arabischen Ölländer [hätten] die politische Waffe des Öl-Embargos eingesetzt«.113 Gelegentlich fanden sich in der SZ jedoch auch Erklärungen, in denen Verständnis für das Verhalten der Ölexportstaaten geäußert wurde; ein Verständnis allerdings, das sich auf das gemäß ihrer Interessenlage rationale Verhalten der arabischen Staaten bezog und so die Grundinterpretation als internationaler Konflikt mit zwei Parteien aktualisierte.114 Kampfsemantiken oder klar pejorativ konnotierte Begriffe zur Bezeichnung ›der Araber‹ kennzeichneten den Sprachgebrauch der Politiker nicht. Sie sprachen eher wertneutral von den »Ölförderländern«.115 Dennoch waren ihre Grundaussagen zur Konfliktlage und entstandenen Abhängigkeit mit denen in den betrachteten (Print-)Medien kongruent. Deutlich zutage trat die Redeweise von ›eingebüßten eigenen Handlungsspielräumen‹. Regierungspolitikern diente sie zugleich als argumentative Entlastung, da sie für die Situation offenkun111 Dieter Schröder, Die arabische Erpressung, in: SZ , Nr. 253, 02.11.1973, S. 4. 112 Gerhard Hennemann, Keine wirksame Waffe im Kampf um das Erdöl. Bundesrepublik verfügt weder über handels- noch entwicklungspolitische Faustpfänder, in: SZ , Nr. 257, 07.11.1973, S. 25. 113 Horst Uhlmann, Mit dem Energiemangel leben. Wie wir uns der Ölkrise erwehren können. Energie wird knapp bleiben, doch vorerst sind keine akuten Störungen zu befür chten, in: SZ , Nr. 260, 10./11.11.1973, S. 23. 114 Vgl. Josef Riedmiller, Die Ölkrise – Bumerang und Menetekel, in: SZ , Nr. 272, 24./25.11. 1973, S. 4. 115 Exemplarisch: Willy Brandt, Bundestag, 7. WP, 67. Sitzung, 29.11.1973, S. 3910 C.
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dig nicht selbst verantwortlich zeichneten. In extremer Weise formulierte dies Otto Graf Lambsdorff, als er zu den künftigen energiepolitischen Rahmenbedingungen erklärte: »Hier fehlen die notwendigen Kenntnisse; wir wissen über die Maßnahmen der Länder, die uns Öl liefern wollen, sollen oder sollten, nicht Bescheid, und wir können doch nicht von der Überlegung ausgehen, daß es eines Tages zu einem vollständigen Stopp in der Öllieferung kommen sollte, denn mit dem Weltuntergang – wenn ich das einmal so nennen darf –, jedenfalls mit dem wirtschaftlichen und politischen Weltuntergang kann man einfach nicht rechnen, und diesen kann man nicht in seine Argumentation einbeziehen. Aber daß dies das Ende dieser Wirtschaft und dieser Gesellschaftsordnung und des Gedeihens in dieser Bundesrepublik, von den Arbeitsplätzen ganz zu schweigen, wäre, läßt sich nicht bestreiten.«116
Die stark beschnittene eigene Handlungsautonomie und zurückgegangene zeitliche Tiefe von Aussagen zur Zukunft zeigte sich ebenso in einem BILD -Gespräch zwischen einer Leserin und Bundesfinanzminister Schmidt: »Carola Weber, München: Wie lange werden wir denn noch [das] Sonntagsfahrverbot haben? Bis zum Mai oder bis zu den Sommerferien? Schmidt: Das kann man noch nicht sagen […], weil wir noch gar nicht wissen, was die arabischen Länder noch beschließen werden. Weber: In jedem Fall noch in den Anfang des nächsten Jahres hinein? Schmidt: Ja, damit müssen Sie rechnen.«117
Wie ersichtlich, bezogen sich Fragen zur künftigen Entwicklung nur auf die Zeit bis in die erste Jahreshälfte 1974. Generell reichte der Zeitraum, über den Erwartungen kommuniziert wurden, oft nicht über den Winter hinaus. Anfang November, als die Unsicherheit über die zu erwartende Versorgungslage am größten war, schrumpfte er noch drastischer zusammen. Hans Friderichs sprach von Unwägbarkeiten in der Zukunft, »möglicherweise allerdings in einer sehr nahe vor uns liegenden Zukunft«, mit der er die Zeit »ab Monatsende« meinte.118 Karl Ahrens (SPD) konzentrierte sich in seiner Prognose auf »Mitte bis Ende November«.119 Die Frage, wie die Versorgungslage bis und im Dezember aussehen werde, trieb die Öffentlichkeit um.120 Als erkennbar wurde, dass nicht unmittelbar mit weitreichenden Einschränkungen der Alltagsgestaltung gerechnet 116 Otto Graf Lambsdorff, Bundestag, 7. WP, 67. Sitzung, 29.11.1973, S. 3927 C – 3927 D. 117 Arbeitsplätze, Inflation, Ölkrise: Minister Schmidt sagt, wohin die Reise geht, in: BILD, 10.[?]12.1973, S. 3. 118 Friderichs, Bundestag, 7. WP, 65. Sitzung, 09.11.1973, S. 3838 B. 119 Ahrens, Bundestag, 7. WP, 65. Sitzung, 09.11.1973, S. 3840 B. 120 Als weiteres Beispiel siehe: Was uns bevorsteht, falls es zu Stromsperren kommt, in: BILD, 06.11.1973, S. 2 (Einschränkungen »[f]rühestens Anfang Dezember«).
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werden musste, konnte sich die Redeweise durchsetzen, zumindest ›gut über den Winter‹ zu kommen, die eine kurzfristige Beruhigung versprach.121 Neben diese Angst- und Warnungsprognosen trat eine zweite Variante von Zukunftserwartungen. Ihre zeitliche Tiefe war sehr groß, aber weitgehend unbestimmt. Sie bezogen sich auf allgemeine Notwendigkeiten der Zukunft, besonders in der Energiepolitik, und akzentuierten Thesen eines Wandels von epochalem Ausmaß. Für tagespolitische Diskussionen waren sie nicht unmittelbar prägend, vielmehr ergänzten sie diese, zum Beispiel, wenn es um die nun noch dringlicher erscheinende Verabschiedung eines Energieprogramms ging. So mahnte der Leiter der SZ-Wirtschaftsredaktion, Walter Slotosch, man müsse »rasch begreifen, daß die Ölkrise keine vorübergehende Erscheinung und der Ausbau einer eigenen energiewirtschaftlichen Basis das Gebot der Stunde« sei, wobei »[d]ieser strukturelle Umbau […] Milliarden verschlingen« werde.122 In derartigen Warnungen spielte die grundsätzliche Erwartung, an die »Grenzen« des Zeitalters einer günstigen und stets sicheren Energieversorgung gestoßen zu sein, und daher die Suche nach Substitution für die Energiegewinnung aus importier-
Abb. 9: Wie lange reichen die Schätze der Erde? Voraussichtliche Erschöpfung der Rohstoffvorräte in Jahren, [entnommen] [a]us dem Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, in: SZ, Nr. 270, 22.11.1973, S. 21. (© Süddeutsche Zeitung, 1973.)
121 Exemplarisch: Öl-Krise. So ernst sieht Brandt die Lage. – Arbeitsplätze in Gefahr – Preise steigen weiter – 15 Prozent neuer Lohn unmöglich – Aber wir kommen gut über den Winter, in: BILD, Nr. 280, 30.11.1973, S. 1. Eigene Hervorhebung. 122 Walter Slotosch, Das Abgründige in der Ölkrise, in: SZ , Nr. 274, 27.11.1973, S. 4.
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tem Erdöl vorantreiben zu müssen, eine entscheidende Rolle. Vermittelt wurde diese Botschaft auch grafisch. Generell speisten diese Erwartungsformulierungen zuvorderst einen Meta- Diskurs.123 Und sie waren, trotz des in ihnen implizit enthaltenen großen Prognosezeitraums, nicht mit den weitreichenden Zukunftsplanungen der vorangegangenen Jahre vergleichbar. Denn sie konzeptualisierten die Zukunft nicht als konkret zu übersehenden und zu gestaltenden Raum, sondern als unübersichtliche, gefahrvolle Herausforderung, der es sich zu stellen galt.
2. Prognosen in neuer Tonlage: Revidierte Erwartungen im Frühjahr 1974 Mit der Entwicklung im Anschluss an die Teheraner Konferenz war die unmittelbare Sorge vor Versorgungsengpässen oder gar einem Lieferstopp gebändigt. Im Januar wurde deutlich, dass die Öleinfuhren in die Bundesrepublik 1973 nur minimal zurückgegangen waren.124 Die ›Öl-‹ / ›Energiekrise‹ erschien nun als ein stärker diskursiv verursachtes denn materiell begründetes Ereignis. Mit den erwähnten politischen Entscheidungen, aber auch veränderten Alltagspraktiken – nicht zuletzt Panikkäufen – hatte die Krise trotzdem materiell fassbare Folgen gezeitigt. Und die gegenüber Anfang Oktober inzwischen um den Faktor vier auf gut 12 US -Dollar pro Barrel gestiegenen Rohölpreise änderten die energiepolitischen Rahmenbedingungen fundamental. Betroffen waren Verbraucher, deren Benzin- und Heizkosten spürbar stiegen, genauso wie die Wirtschaft, vor allem energieintensive Branchen wie die Chemieindustrie. Die für den Zeitraum seit Ende Oktober charakteristische Unsicherheit hinsichtlich der Versorgungssituation, die den Nährboden für Warnungsprognosen und Schreckensszenarien bereitet hatte, aber fand nun ein Ende. Seit Anfang Januar überwogen beruhigende Nachrichten.125 Auch verzichtete die Bundesregierung auf die beiden autofreien Sonntage, die sie für Januar zunächst vorgesehen hatte. Die Termini ›Öl-‹ und ›Energiekrise‹ verschwanden zügig aus der
123 Dazu ausführlich Kap. XV.5. 124 Vgl. Hohensee, Ölpreisschock, S. 92. 125 Siehe z. B.: Belgien lockert das Fahrverbot. Von Februar an wird in Brüssel wieder mit normaler Ölbelieferung gerechnet, in: SZ , Nr. 4, 05./06.01.1974, S. 6; Verkürzung des Fahrverbots erwartet. Günstigere Zahlen über die Mineralölversorgung stimmen Experten in Bonn hoffnungsvoll / A m Mittwoch muß das Kabinett über die Verordnung entscheiden, ohne daß die Versorgungsdaten für Februar vorliegen, in: SZ , Nr. 6, 08.01.1974, S. 1; Keine Zuspitzung des Energiemangels. Das Kabinett setzt, wie erwartet, die Fahrverbots-Verordnung nicht in Kraft, in: SZ , Nr. 8, 10.01.1974, S. 1 f.
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Presse-Berichterstattung. Damit einhergehend verloren Meldungen über Energie- und Wirtschaftsfragen den herausragenden Stellenwert der vergangenen zwei Monate und traten wieder in den Hintergrund. Dies unterstreichen zwei Fernsehinterviews, die der Bundeskanzler am 11. Januar dem Bericht aus Bonn der ARD und am 20. Januar der ZDF-Sendung Bonner Perspektiven gab. Am 11. Januar waren Energie- und Wirtschaftsfragen kein Thema, es ging stattdessen um das Klima innerhalb der Koalition im Vorfeld der im Mai anstehenden Bundesversammlung.126 Neun Tage später spielten Wirtschaftsfragen nur am Rande eine Rolle, als Brandt über die geringfügige Aufwertung der D-Mark gegenüber dem französischen Franc sprach. Sie zeigten, so Brandt, wie sehr die französische Volkswirtschaft durch die Erhöhung der Energiepreise getroffen sei.127 Dominierendes oder gar alleiniges Thema waren Energie-, Wirtschaftsund Währungsfragen auch in diesem Gespräch nicht. Dennoch wäre es ein Fehlschluss, angesichts dieser Beobachtungen ein vollständiges Abebben des Krisendiskurses anzunehmen. Stattdessen vollzog sich im Verlauf des Januars der Übergang zur zweiten Krisenphase. Mehr noch: Im Zeitraum seit dem Jahreswechsel, so soll hier argumentiert werden, begann sich jenes grundlegende diskursive Setting zu etablieren, das sich als prägend für die kommenden beiden Jahre der ›kleinen Weltwirtschaftskrise‹ erweisen sollte. Wie funktionierte der Shift zum zweiten Abschnitt der Krise? Auf welche Weise löste die Deutung einer mittelfristigen ›Wirtschaftskrise‹ die einer ›Öl-‹ / ›Energiekrise‹ ab? Seit Mitte November waren Warnungen vor einem wirtschaftlichen Einbruch Element der für möglich, zunehmend für wahrscheinlich erachteten Szenarien geworden. Vor einem geringer ausfallenden Wachstum und der Gefahr steigender Arbeitslosigkeit hatten zum einen Politiker gewarnt. Bei ihnen, vor allem soweit sie der Regierungskoalition angehörten, spielte die Absicht eine Rolle, sich und die Bevölkerung auf wirtschaftliche Probleme vorzubereiten, Erwartungshaltungen zu beeinflussen und nicht zuletzt – gerade bei bevorstehenden Lohnabschlüssen – Verhaltensänderungen zu erwirken. Zum anderen beschäftigten sich Wirtschaftsjournalisten, derart direkter eigener Absichten unverdächtig, mit den möglichen volkswirtschaftlichen Konsequenzen. In seiner Komprimierung besonders drastisch, zugleich ein Gespür beweisend für die fast irrationale Rasanz, mit der die neuen Deutungen aufkamen, warnte Walter Slotosch in der SZ Ende November:
126 Vgl. [o. N.], Vorrang für die Verwirklichung des Regierungsprogramms, Interview des Bundeskanzlers. [11. Januar 1974], S. 45 f. 127 Vgl. [o. N.], Aktuelle Fragen der Außen- und Innenpolitik, Interview des Bundeskanzlers. [20. Januar 1974], S. 61.
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»Der Szenenwechsel auf der konjunkturpolitischen Drehbühne hat sich mit einer frappanten Geschwindigkeit vollzogen. Die im Ansatz bereits feststellbare Tendenzwende hat durch das Ölembargo einen mächtigen Stoß nach unten erhalten. Ein fast schon irrealer Fortschrittsglaube an Wohlstand ohne Grenzen ist über Nacht in einen bodenlosen Pessimismus versunken. Düstere Prognosen, Krisenangst, Hamsterwellen, hektische Käufe auf den internationalen Rohstoffmärkten, rapider Kursverfall auf den Aktienmärkten und das Stichwort von einer Weltwirtschaftskrise geistern durch die Lande. Schon wird das Menetekel einer MillionenArbeitslosigkeit an die Wand gemalt mit der Konsequenz radikaler gesellschaftspolitischer Veränderungen. […] Die jüngsten Äußerungen der zuständigen Minister aus Bonn machen indessen deutlich, daß man sich nicht mehr in der Lage sieht, unter den gegenwärtigen Verhältnissen Einbrüche in der Beschäftigung einiger Industrien auszuschließen. Das ist es, was die gegenwärtige Wirtschaftslage von anderen Phasen einer abflauenden Wirtschaftsaktivität unterscheidet: daß wir heute mit einer Rezession konfrontiert sind, die nicht durch eine Störung des konjunkturellen Gleichgewichts bedingt ist, sondern durch eine Versorgungslücke bei Energie und Rohstoffen.«128
Daneben traten die bereits angedeuteten (und später noch vertieft zu behandelnden129) Reflexionen über einen Epochenwandel, oft in räsonierenden Artikeln auf hinteren Zeitungseiten oder im Feuilleton angesiedelt. Während derartige Interpretationen, Warnungen und Überlegungen in der ersten Krisenphase noch in direktem Bezug zum Energiekonflikt standen, blieben sie nach dem Ende der akuten Zuspitzung bestehen. Was zunächst als argumentativ direkt miteinander verknüpfte Szenarien (›mögliche Energieknappheit‹ / ›unaufhörlich steigende Energiepreise‹ / ›Gefahren für Wachstum und Beschäftigung‹) präsentiert worden war, konnte fortan unabhängig voneinander formuliert werden. Nun kamen Aussagen über eine grundlegende Verschiebung der (welt-)wirtschaftlichen Koordinaten auf, die für die Bundesrepublik zwangsläufig problematische Folgen zeitigen würde. Die Tatsache der perspektivisch fortgesetzt hohen, aber wieder besser zu kalkulierenden Energiepreise spielte dabei eine Rolle, war aber nicht das alleinige Argument. Hinzu traten Warnungen vor einer gravierenden Verschiebung in den finanziellen Strömen zwischen Industrie- und Ölförderländern, da letztere nun über weitaus größere Mengen an US -Dollar verfügten und unklar blieb, wie sie mit dieser gewonnenen Macht umgehen würden. Letztlich ging es um die Machtbalance zwischen Industrie- und Ölexportstaaten.130 Doch vor allem – und das ist der entscheidende Punkt – wurden Erwartungen artikuliert, dass nach vielen Jahren ökonomischer Prosperität nun mittelfristig
128 Slotosch, Das Abgründige in der Ölkrise, in: SZ , 27.11.1973, S. 4. 129 Siehe Kap. XV.5. 130 Vgl. z. B. Martin Bangemann, Bundestag, 7. WP, 76. Sitzung, 24.01.1974, S. 4793 C – 4793 D.
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mit deutlich veränderten ökonomischen Wachstumsbedingungen zu rechnen sei. Schon in ihren Ansprachen zu Weihnachten und zum Jahreswechsel hatten Bundespräsident Heinemann und Bundeskanzler Brandt entsprechend gewarnt. Heinemann machte sich die Worte des früheren Präsidenten der EG -Kommission, Sicco Mansholt, zu eigen, denen zufolge die Energieknappheit zu »eine[r] tiefgreifende[n] Änderung unserer Lebensweise wie auch der Weltwirtschaft und Politik« führen solle und werde.131 Der Bundespräsident rief zur Reflexion über alltägliche, in seiner Sicht verschwenderische Alltagspraktiken auf und mahnte, die »Bewußtseinshaltung in allen Schichten unseres Volkes [stehe] heute zur Überprüfung«.132 Damit schrieb er sich in den Wachstumsgrenzen-Diskurs ein. Jeder einzelne müsse lernen zurückzustecken, in seinen allgemeinen Anspruchshaltungen wie in praktischen Fragen des täglichen Lebens, beispielsweise beim eigenen Energieverbrauch.133 Willy Brandt konzentrierte sich konkreter auf volkswirtschaftliche Erwartungen, konstatierte, der Ölpreisschock habe statt zu einer planvollen Eindämmung der Konjunktur zu einer »Wachstumskrise« geführt, und warnte, das »ökonomische Wachstum in allen Industrienationen [trete] in eine Krise, die fortdauern« werde.134 Als politisch notwendiges Handeln leitete Brandt ab, was er bereits in seiner Fernsehansprache vom November gesagt hatte: Die Regierung wolle, so Brandt kryptisch, »im Zusammenwirken mit den freien Kräften Arbeitslosigkeit vermeiden und, wo sie doch auftritt, rasch überwinden […] helfen«.135 In den ersten Wochen und Monaten des Jahres 1974 etablierte sich ein Ensemble von Warnungs-Topoi, das im Vergleich zu den vorangegangenen Jahren fundamental revidierte Erwartungshaltungen hervorrief. Das Redemuster von den ›neuen ökonomischen Grundbedingungen‹ speiste sich aus mehreren einzelnen Topoi. Zu ihnen zählten vor allem jene der ›fortgesetzt gefährdeten Preisstabilität‹ und der vorerst gesicherten, aber ›perspektivisch unsicheren Energieversorgung‹.136 Hinzu trat der Topos ›des weiterhin ungeklärten internationalen Währungsgefüges‹. Speziell die Gefahren einer weltweiten Abwertungsspirale und plötzlicher Zuströme auf die Kapitalmärkte standen im Raum.137 Zusammen mündeten die Topoi in die Warnung vor den ›Gefahren für Wirtschafts131 Heinemann, Weihnachtsansprache 1973 des Bundespräsidenten, S. 2. 132 Ebd. 133 Vgl. ebd. 134 Brandt, Ansprache des Bundeskanzlers zum Jahreswechsel 1973/74, S. 5. 135 Ebd., S. 6. 136 Vgl. z. B. Walter Slotosch, Unter dem Diktat der Ölpreise, in: SZ , Nr. 16, 19./20.01.1974, S. 33 (einerseits »hat sich der Schock des Ölembargos wieder gelegt«, andererseits »bleibt auch die Unsicherheit über die weitere Versorgungslage mit Erdöl«). 137 Vgl.: Otto Graf Lambsdorff, Bundestag, 7. WP, 93. Sitzung, 02.04.1974, S. 6238 C – 6238 D; Manfred Wolfram, Bundestag, 7. WP, 93. Sitzung, 02.04.1973, S. 6273 B – 6273 C.
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wachstum und Arbeitsmarkt‹. Bei den Folgen ihres pragmatischen Einsatzes ist zwischen einer kurz- und einer langfristigen Perspektive zu differenzieren. Kurzfristig wurde sie zur Abwiegelung der Gewerkschaftsforderung nach einem Lohn- und Gehaltszuwachs von 15 % im öffentlichen Dienst eingesetzt. Sehr viel wichtiger aber war ihre langfristige Wirkung: Wie spätestens Mitte Mai mit der ersten Regierungserklärung Helmut Schmidts als Bundeskanzler deutlich wurde, zielte sie auf eine Einschränkung der Anspruchshaltungen an staatliche Leistungen. Sie begründete damit eine Forderung, die in variierender Intensität bis heute Gegenstand politischer Diskussionen in der Bundesrepublik ist. Ein Artikel der ZEIT-Herausgeberin Marion Dönhoff fasste mehrere der kursierenden Ängste, Mahnungen und Warnungen zusammen. Unmittelbar setzte Dönhoff die formulierten Erwartungen ein, um gegen die ÖTV-Forderungen anzuschreiben. Ihre Äußerungen markierten jedoch weit mehr. Denn Dönhoff prognostizierte nicht nur konkret, die gegenwärtigen Beschäftigungsprobleme von 500.000 Arbeitslosen und 100.000 Kurzarbeitern würden »in den nächsten Monaten noch wesentlich« zunehmen.138 Vielmehr mahnte sie, zu begreifen, dass das Land »am Beginn einer wirtschaftlichen Talfahrt steh[e], die durch den bevorstehenden Inflationsschub dieses Jahres – zwei Prozent allein durch Ölverteuerung und ein bis zwei Prozent durch Lohnerhöhungen – beschleunigt« werde. »[V]erstiegene Erwartungen, zunehmende Geldentwertung, abnehmendes Wirtschaftswachstum, dies alles [könne] rasch zum wirtschaftlichen Verhängnis« werden.139 Die »fetten Jahre [seien] vorüber«, »in absehbarer Zeit« würde es dem Land nie wieder »so gut gehen wie während der letzten Jahre«.140 Zwei Monate später, nach Veröffentlichung des Frühjahrsgutachtens der Konjunkturforschungsinstitute, konstatierte das Handelsblatt »[n]ur noch Defätismus«.141 Es begründete seine Einschätzung mit der Erwartung von 450.000 Arbeitslosen im Jahresdurchschnitt, Preissteigerungsraten von mehr als 10 % und einem »reale[n] Wachstum«, das »mit höchstens 2,5 % ungenügend« bleibe.142 Angesichts der seit Jahresbeginn wieder scharfen parteipolitischen Konfrontation könnte es überraschen, dass die Sichtweisen auf die künftigen Gefahren bei Regierung, Opposition und Presse weitgehend kongruent waren. Wie wir sehen werden, entzündete sich der politische Streit nicht an den Erwartungen, sondern in den Ursachendiskussionen.143 Die Gleichförmigkeit der Prognosen zeigte sich auch in Bundestagsdebatten von Ende Januar und Anfang 138 Marion Dönhoff, Mit 15 Prozent ins Verhängnis? Die fetten Jahre sind nun vorüber, in: DIE ZEIT, Nr. 6, 01.02.1974, S. 1. 139 Ebd. 140 Ebd. 141 Hans Mundorf, Nur noch Defätismus, in: Handelsblatt, Nr. 72, 11.04.1974, S. 3. 142 Ebd. 143 Siehe Kap. XV.1.
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März. In seiner Regierungserklärung zur Lage der Nation warnte Bundeskanzler Brandt abermals, es sei mit einem »deutlich niedrigeren Wachstum [zu] rechnen.«144 Ferner werde die »Stabilitätspolitik […] durch die massiven Erhöhungen der Rohölpreise wesentlich erschwert«; um die Inflation zu bremsen, könne daher »1974 […] kein Jahr wesentlicher realer Einkommensverbesserungen sein«.145 Die »Welt [stehe insgesamt] am Beginn eines Abschnitts, der durch explosiv zu nennende Preissteigerungen für Energie und Rohstoffe gekennzeichnet« sei, deren Folgen »weltweit, europäisch und innenpolitisch noch nicht zu übersehen« seien.146 Für die Union skizzierte Karl Carstens seine pessimistischen Erwartungen knapp: »[D]er inflationäre Preisauftrieb verstärkt sich, die Zahl der Arbeitslosen und Kurzarbeiter wächst, das Bruttosozialprodukt wird 1974 nicht oder kaum wachsen. Diese Tatsache bringt viele Unsicherheiten und Ungewißheiten in unsere gesamte Politik hinein.«147 Vergleichbar formulierte Franz Josef Strauß zwei Monate später, »[w]eder ein angemessenes Wirtschaftswachstum noch Preisstabilität [stünden] in Aussicht, der hohe Beschäftigungsstand [sei] gefährdet«.148
Die Zäsur des Regierungswechsels – eine Mär? Der Topos der ›neuen ökonomischen Grundbedingungen‹ sowie das verstärkt verwendete Redemuster der ›notwendigen Einschränkungen‹ stabilisierten sich sukzessive in den ersten Monaten des Jahres 1974. Die in der Historiografie gern gesetzte Zäsur des Regierungswechsels vom Kabinett Brandt zum Kabinett Schmidt, interpretiert als drastischer Bruch zwischen einer Regierung weitreichender und teurer Reformanstrengungen und einer Regierung der Fokussierung auf ›das Machbare‹, ist vor diesem Hintergrund nicht zu verwerfen, aber zu relativieren.149 Das bedeutet nicht, dass Helmut Schmidts Regierungserklärung vom 17. Mai in der politischen Rhetorik keinen Einschnitt markierte. Seine Rede, die um die sehr gezielt gewählten150, knappen und infolge ihrer 144 Willy Brandt, Bundestag, 7. WP, 76. Sitzung, 24.01.1974, S. 4777 A. 145 Ebd., S. 4777 A – 4777 B. 146 Ebd., S. 4769 D – 4770 A. 147 Karl Carstens, Bundestag, 7. WP, 76. Sitzung, 24.01.1974, S. 4777 D. 148 Franz Josef Strauß, Bundestag, 7. WP, 92. Sitzung, 29.03.1974, S. 6184 B. 149 Für eine solche Zäsursetzung siehe z. B. Conze, Suche nach Sicherheit, S. 463–466. 150 Vier Tage nach der Regierungserklärung betonte Schmidt in einem Brief an Brandt – Helmut Schmidt an Willy Brandt, Vorsitzender der SPD, o. O., 21.5.1974, S. 596 –, das »Stichwort der Kontinuität [sei] Deinetwegen, der Partei wegen und auch meiner selbst wegen notwendig« gewesen, während das »Stichwort der Konzentration […] die Chance eröffnen [solle], den Ausgang der Wahlen in Niedersachsen erträglich zu machen.« (Die niedersächsische Landtagswahl fand am 9. Juni 1974 statt und bescherte der SPD
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alliterativen Prägnanz auch medial eingängigen Leitvokabeln »Kontinuität und Konzentration« kreiste und die – vom SPIEGEL als »Kern«151 interpretierte – Ankündigung enthielt, die neue Regierung wolle sich in »einer Zeit weltweit wachsender Probleme […] in Realismus und Nüchternheit auf das Wesentliche [konzentrieren]« und »anderes beiseite« lassen, wäre in dieser Weise aus dem Munde Willy Brandts schwer vorstellbar gewesen.152 Gleiches galt für Schmidts Mahnung, es müsse nun »Abschied vom Wunderglauben« genommen werden, die etwa die SZ sogleich aufgriff.153 Schmidts Rede aber war nicht der Ausgangspunkt revidierter Erwartungshaltungen und Rahmenbedingungen politischen Handelns. Vielmehr ist sie als augenfälliger Indikator für die zuvor vollzogenen diskursiven Verschiebungen zu interpretieren. Dass sie dennoch oft als Einschnitt hervorgehoben wird, mag gleichermaßen mit der noch immer verbreiteten Fixierung politikgeschichtlicher Studien auf Regierungswechsel zusammenhängen. Genauso kann man sie als Erfolg Schmidts eigener nachträglicher Konstruktionsleistungen als auch solcher ihm nahestehender Historiker werten.154 Nicht zuletzt hängt sie fraglos mit der sich deutlich voneinander unterscheidenden, gar abgrenzenden öffentlichen Selbstdarstellung der beiden Kanzler zusammen, genauer: mit Schmidts stetem Bemühen, als ein nüchternzielorientiert handelnder Politiker zu erscheinen – oder, wie er selbst sein Amtsverständnis Ende der 1970er Jahre beschrieb, als »leitender Angestellter der Bundesrepublik«.155 Freilich ist genauso zu konstatieren, dass sich durch und nach Schmidts Rede tatsächlich ein Redemuster, das im Krisenverlauf an grundlegender politischer Bedeutung noch zunehmen sollte, veränderte: Der Topos der ›notwendieinen Verlust von 3,2 Prozentpunkten, immerhin aber noch ein Ergebnis von 43,1 % der Stimmen – vgl. Ritter / Niehuss, Wahlen in Deutschland, S. 162.) Unabhängig von der Frage, ob man Schmidts Begründung glaubt und folgt, zeugen die Aussagen von der reflektierten Auswahl der Begrifflichkeit und davon, dass Schmidt beabsichtigte, auch die terminologische Rezeption seiner Regierungserklärung über die beiden zugespitzten »Stichwort[e]« zu beeinflussen. 151 Regierung Schmidt: Schonfrist gibt es nicht, in: DER SPIEGEL , Nr. 21, 20.05.1974, S. 19–28, hier S. 21. 152 Helmut Schmidt, Bundestag, 7. WP, 100. Sitzung, 17.05.1974, S. 6593 C – 6593 D. 153 [Schmidt mit 267 von 492 Stimmen gewählt] Der neue Bundeskanzler kündigt »eisernes Sparen« an. Es muß jetzt Abschied vom Wunderglauben genommen werden, sagt der Nachfolger Brandts / Heute Regierungserklärung, in: SZ , Nr. 14, 17.05.1974, S. 1 f. 154 So etwa bei Soell, Zwischen reaktivem und konzeptionellem Handeln. Soell, langjähriger Ordinarius für Neuere Geschichte an der Universität Heidelberg, war nicht nur ab 1980 für vier Legislaturperioden SPD -Bundestagsabgeordneter, sondern in den 1960er Jahren, unter anderem zur Zeit des Fraktionsvorsitzenden Schmidt, bereits Mitarbeiter der SPD -Bundestagsfraktion. 155 Zit. nach: Gunter Hofmann, Die zwei Seiten des Helmut Schmidt. Gemessen an seinen jüngsten Reden: der handlungsfähige und der nachdenkliche Kanzler, in: DIE ZEIT, Nr. 48, 23.11.1979, S. 2.
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gen Einschränkungen‹ erfuhr eine merkliche Präzisierung. Hatte er bislang auf persönlichen Verzicht, besonders einen maßvollen Umgang mit Energie und die Beschränkung individueller Mobilität, abgezielt sowie Zurückhaltung bei Lohnverhandlungen bezeichnet, verlagerte sich sein Objektbereich nun explizit auf die öffentlichen Haushalte. In der dritten Krisenphase schließlich sollte er sich zum Topos der ›strukturell überlasteten öffentlichen Finanzen‹ entwickeln. Diese Erweiterung und Konkretisierung des Sprachmusters vollzog sich im Umfeld des Amtsantritts der neuen Regierung. Erkennbar wurde es nicht zuletzt in den Presseberichten und -kommentaren.156 Zustimmend bemerkte SZ-Chefredakteur Hans Schuster, Schmidt werfe mit seiner neu ausgerichteten Steuerund Haushaltspolitik »den Ballast des nicht Machbaren und nicht Möglichen« ab und erleichtere so die Zusammenarbeit mit der Opposition.157 Setzt man die Beobachtungen ins Verhältnis zur ökonomischen Entwicklung, kehrt ein Ergebnis wieder, das schon für die erste Krisenphase ab Herbst 1973 als auch für die Krise 1966/67 festzustellen war: das Phänomen der vorgelagerten Semantik. Wiederum beziehungsweise weiterhin erwiesen sich Erwartungshaltungen als bestimmend für den Diskurs, nur bedingt bereits eingetretene Probleme. Zwar bestand das Problem hoher Inflationsraten fort, obgleich diese im Jahresdurchschnitt 1974 mit 6,9 % immerhin 0,2 Prozentpunkte niedriger lag als 1973.158 Auch eine Erhöhung der Arbeitslosenzahlen war bereits festzumachen. Die Quote stieg im Jahresdurchschnitt 1974 auf 2,6 % gegenüber 1,2 % im Jahr 1973, war aber noch weit entfernt von jenem Wert von 4,7 %, den sie 1975 erreichen sollte und der das Maximum innerhalb der 1970er Jahre markierte.159 Ein plötzlicher Wachstumseinbruch, der im Einklang mit der Inflation das für die Krise ex post symptomatische Phänomen der Stagflation verursachte, war noch nicht eingetreten. Jeweils in Relation zum Vorjahr respektive Vorjahresquartal wuchs das Bruttoinlandsprodukt im vierten Quartal 1973 und ersten Quartal 1974 noch um 2,6 % bzw. 1,8 %.160 Dies bedeutete zwar einen deutli156 Vgl. etwa die vom Handelsblatt sogleich aufgegriffene Meinung Graf Lambsdorffs zum Tenor der Regierungserklärung; »Für Lambsdorff liegt das wichtigste Politikum der Regierungserklärung in dem angesagten Wachstumsstop für alle öffentlichen Haushalte.« (Eine FDP-Interpretation der Regierungserklärung. »Auch Kluncker müßte Schmidt verstanden haben«, in: Handelsblatt, Nr. 96, 20.05.1974, S. 1.) 157 Hans Schuster, Abschied vom Wunderglauben, in: SZ , Nr. 115, 18./19.05.1974, S. 4. 158 https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Preise/Verbraucherpreise/Verbr aucherpreisindexLangeReihenPDF_5611103.pdf;jsessionid=EF74F32973D20783202C94 EA1B717B5A.InternetLive2?__blob=publicationFile (S. 4; letzter Zugriff am 10.10.2018). 159 https://www.destatis.de/DE /ZahlenFakten/Indikatoren/LangeReihen/Arbeitsmarkt/lra rb003.html (letzter Zugriff am 10.10.2018). 160 https://www.destatis.de/DE /Publikationen/Thematisch/VolkswirtschaftlicheGesamt rechnungen/Inlandsprodukt/InlandsproduktsberechnungRevidiertVj2189027919004. pdf?__blob=publicationFile ([S. 4], jeweils preisbereinigte Ursprungswerte; letzter Zugriff am 10.10.2018).
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chen – bekanntlich in Maßen ursprünglich auch beabsichtigten – Wachstumsrückgang, war das BIP beispielsweise im dritten Quartal 1973 noch um 3,8 % gewachsen, aber noch keine Rezession. Im zweiten und dritten Quartal 1974 nahm das BIP immerhin noch um 0,9 % bzw. 1,3 % zu. Die heute übliche Formaldefinition für eine Rezession – ein im Vergleich zum unmittelbaren Vorquartal in zwei aufeinander folgenden Quartalen stagnierendes oder zurückgehendes Inlandsprodukt – war erst mit dem ersten Quartal 1975 erfüllt.161 Die Wirtschaft schrumpfte zwischen dem vierten Quartal 1974 und dem dritten Quartal 1975. Das BIP ging im Vergleich zum Vorjahr um 0,4 %, 2,7 %, 1,5 % und abermals 1,5 % zurück, bevor im vierten Quartal 1975 wieder ein Wachstum um 2,3 % zu verzeichnen war. In dieser zweiten Phase der Krise, dem Übergangsabschnitt zwischen der primären Konzentration auf die Folgen der neuartigen Energiesituation und den deutlich sichtbaren Kennzeichen wirtschaftlicher Probleme, erwies sich der Krisendiskurs als breitenwirksame Debatte über antizipierte Problemlagen. Diese revidierten Erwartungshaltungen sollten sich in den beiden folgenden Krisenabschnitten in ihren Grundzügen bestätigen. Sie rekonstituierten dauerhaft den Raum, in dem sich Aussagen zur Wirtschafts-, Finanz- und Energiepolitik bewegen mussten, um zu politischen Handlungsvorschlägen und letztlich politischen Entscheidungen werden zu können. Was das Frühjahr 1974 sowohl vom ersten als auch dritten Krisenabschnitt unterschied, war das Ausmaß der öffentlichen Thematisierung der wirtschaftlichen Lage. Wie zu Beginn des Teilkapitels angeklungen, erwiesen sich die neuartigen Erwartungen als beständig, ohne permanent thematisiert zu werden. Vor allem der journalistische Boulevard verlor schnell das Interesse; BILD fand viele Themen aufmerksamkeitsfördernder und ertragsversprechender als mögliche wirtschaftliche Probleme und überlastete öffentliche Finanzen. Gesteigerte Aufmerksamkeit brachte die Zeitung anfangs noch für die Autofahrer und ihre Belange auf, beklagte zunächst weiter steigende Kraftstoffpreise,162 begrüßte es, als diese zurückgingen,163 erhob sodann die Forderung an Bundesverkehrsminister Lauritzen, die Geschwindigkeitsbegrenzungen aufzuheben164 und äußerte 161 Vgl. (auch für die nachfolgend genannten Konjunkturdaten) ebd. Zur Rezessions-Definition vgl. z. B. Premer, Grundzüge, S. 143 (dort auch eine knappe Diskussion über Vor- und Nachteile eines derart formalistischen Rezessionsverständnisses aus volkswirtschaftlicher Sicht). 162 Benzin 10, Diesel 9, Heizöl 8 Pfennig teurer. Die größte Preislawine!, in: BILD, Nr. 19, 23.01.1974, S. 1. 163 Benzinpreise fallen. Freie Tankstellen sind der Schrittmacher, Wann folgen die Großen?, in: BILD, Nr. 29, 04.02.1974, S. 1. 164 Peter J. Glodschey, Benzin gibt’s genug – also weg mit Tempo 100, in: BILD, Nr. 29, 04.02.1974, S. 2; [BILD -Kommentar] Schluß mit Tempo 100!, in: BILD, Nr. 34, 09.02.1974, S. 2.
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offen Missfallen, als der Minister auf eine befristete Einführung eines 130 km / hTempolimits auf Autobahnen drängte.165 In der Qualitäts- und erst recht der Wirtschaftspresse vollzog sich diese Entwicklung in solch drastischer Form erwartungsgemäß nicht. Doch auch in der SZ waren energie-, wirtschafts- und finanzpolitische Themen nicht länger prädestiniert für eine Thematisierung auf der Titelseite. Ebenso ging die Verwendungsrate des Krisenbegriffs stark zurück. Wie die erwähnten Interviews zeigen, fächerten sich nun die Themen, zu denen Politiker befragt wurden und sich äußern wollten, wieder auf. Eine thematische Engführung, wie es sie im November und Dezember 1973 gegeben hatte, war nicht länger zu beobachten.
3. Spürbarer Steuerungsverlust: Problemdeutungen im ›Krisenjahr‹ 1974/75 Wer heute mit undatierten und unvollständigen Quellenauszügen aus der dritten Krisenphase konfrontiert würde, hätte einige Mühe, sie richtig zu kontextualisieren. Anders als in den ersten beiden Abschnitten der Krise – und den beiden bereits analysierten Krisen – bestimmten seit Sommer 1974 Sprachmuster die politischen Diskussionen, die in verwandter Weise auch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten zu beobachten waren. Auf der Ebene politischer Redeweisen kann man hier den Ursprung heute nur allzu bekannter Topoi finden. Schwierig gestaltet sich die Suche nach dem genauen Beginn dieses dritten Krisenabschnitts. Der Übergang von der zweiten zur dritten Phase war nicht an ein konkretes Ereignis gekoppelt, sondern vollzog sich schleichend im Verlauf des Sommers 1974. Spätestens im September war er abgeschlossen, was gleicher maßen in der Presse wie bei den Beratungen des Bundestages über das Haushaltsgesetz für 1975 erkennbar wurde. Die Überschrift verweist auf die grundlegenden Merkmale der wirtschaftspolitischen Kommunikation zwischen Spätsommer 1974 und Herbst 1975: Zum einen kamen wieder verstärkt explizite Krisensemantiken auf, ohne dass der Krisenbegriff eine mit der ersten Krisenphase vergleichbar hohe Gebrauchs intensität erfahren hätte. Er konnte je nach Themenbereich und Sprechergruppe unterschiedliche Kompositumformen annehmen, darunter ›Strukturkrise‹, ›Finanzkrise‹, ›Wirtschaftskrise‹ und ›Weltwirtschaftskrise‹. Letztere Begriffs verwendung fand sich insbesondere bei Politikern der Regierungsparteien, ge165 Peter J. Glodschey, Offener Brief an Lauritz Lauritzen. Haben Sie keine besseren Argumente[,] Herr Minister?, in: BILD, Nr. 45, 22.02.1974, S. 2; Minister Lau-Lau hat gesiegt. Tempo 130 ist da! »Großversuch« bis September 1977. Bundesländer leisten Widerstand, in: BILD, Nr. 50, 28.02.1974, S. 1 f.
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legentlich in der Presse, fast nie bei Oppositionspolitikern. Die Besetzung oder Vermeidung dieses Kompositums war mithin Element komplexerer Sprachstrategien (die später gesondert behandelt werden166). Daneben und einhergehend mit der realwirtschaftlichen Entwicklung etablierten sich drei Diskussionsfelder, auf denen sich ein signifikanter politischer Steuerungsverlust manifestierte. Steuerungsverlust meint, dass trotz der seit Jahresbeginn antizipierten Schwierigkeiten eine Entwicklung eintrat, die die meisten Prognosen im negativen Sinne übertraf und auf die nicht zügig eine problembehebende Antwort gefunden wurde. Anders formuliert: Obwohl zuvor ein Bewusstsein für erwartete ökonomische Probleme entwickelt und im Topos der ›neuen ökonomischen Grundbedingungen‹ zum Ausdruck gekommen war, misslang eine unmittelbar erfolgreiche politische Reaktion. Der partielle politische Kontrollverlust zeigte sich in Fehlprognosen zum erwarteten Aufschwung, der semantischen Vorbereitung einer angebotsorientierten Ausrichtung der Wirtschaftspolitik bei gleichzeitig überwiegend keynesianisch-orientiertem Agieren sowie Äußerungen zu den Ursachen für den Wachstumseinbruch einerseits, die sich rasant vergrößernde Deckungslücke im Bundeshaushalt andererseits. Insbesondere durch diese drei Themenfelder stabilisierte sich der Krisendiskurs an der Sprachoberfläche, in Politikerreden wie Pressetexten. Das bedeutet nicht, dass ausschließlich diese Thematiken über das gesamte Jahr 1974/75 bestimmend für die politischen Diskussionen gewesen wären. Es war gerade Signum der Gewöhnung an die Krise, dass diese Themen, überhaupt Fragen der Wirtschafts-, Haushalts- und Energiepolitik, nicht Gegenstand jeder Debatte und nicht permanent zentrales Thema in den Zeitungen waren. Vielmehr ergaben sich Konjunkturen der öffentlichen Thematisierung. Überwiegend waren sie abhängig von den (parlamentarischen) Beratungen über politische Initiativen, zum Beispiel den Bundeshaushalt, das Energiegesetz oder konjunkturpolitische Maßnahmen, der Veröffentlichung von Wirtschaftsdaten oder Prognosen respektive Experteneinschätzungen wie dem Jahres- und einem Sondergutachten des Sachverständigenrates. Speziell die Berichterstattung der BILD -Zeitung war auf einzelne Meldungen solcher Art fixiert, beispielsweise stark gestiegene Arbeitslosenzahlen.167
166 Siehe Kap. XV.1. 167 Als Beispiele: Die höchste Zahl seit 15 Jahren. Jetzt 800 000 Arbeitslose – Einer erhängte sich, in: BILD, Nr. 285, 07.12.1974, S. 1, 6; 1,15 Millionen Arbeitslose – und jetzt noch Streik?, in: BILD, Nr. 26, 31.01.1975, S. 1, 8.
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Der ›nahende Aufschwung‹ – frühe, enttäuschte und hinterfragte Hoffnungen Die Ankündigung einer sich schon bald bessernden Wirtschaftslage ist uns bei den Verläufen der beiden zuvor betrachteten Krisen recht früh begegnet. Die ›kleine Weltwirtschaftskrise‹ macht hier keine Ausnahme. In dieser Hinsicht der Krise 1966/67 besonders ähnlich, etablierte sich auch diesmal früh das Redemuster eines ›nahenden Aufschwungs‹ – einmal mehr bereits bevor die Wirtschaftsleistung deutlich zurückging. Die Widersprüchlichkeit von Prognosen ging so weit, dass Unternehmen mitunter mittelfristig überhaupt keine größeren Schwierigkeiten erwarteten.168 Im Allgemeinen aber bezogen sich die Voraussagen auf das Ende der Phase zurückgehender Wachstumsraten beziehungsweise das Wiederansteigen der Wachstumsraten, also die Frage, wann der konjunkturelle Tiefpunkt überwunden sei. Regierungspolitiker äußerten sich bereits im Herbst optimistisch, dass der Aufschwung im Frühjahr beginnen werde. Helmut Schmidt hatte in der Haushaltsdebatte vom September sogar für möglich, gleichwohl unwahrscheinlich gehalten, dass die Talsohle der weltwirtschaftlichen Entwicklung bereits erreicht sei.169 Regierungssprecher Grünewald äußerte im November, er sei zuversichtlich, dass sich »im Frühjahr 1975 unsere Konjunktur […] belebt und die Arbeitslosigkeit dauerhaft zurückgeht.«170 Als der Bundestag im Dezember zwei Maßnahmen zur Konjunkturstützung beriet, neben öffentlichen Investitionen eine Zulage zur Anregung privater und unternehmerischer Investitionen, erklärte der SPD -Parlamentarier Herbert Ehrenberg, dass sich auf dieser Basis »die Konjunktur im zweiten Halbjahr 1975 selber« tragen werde.171 Zum Jahreswechsel schaltete die Regierung Anzeigen unter der Überschrift »Der Aufschwung kommt. Im Frühsommer werden wir über den Berg sein«.172 Der Bundeskanzler 168 Vgl. Industrie gar nicht so pessimistisch. Ifo-Institut: Von Konjunktureinbruch keine Rede / Höhere Investitionen, in: SZ , Nr. 205, 06.09.1974, S. 25 (»Die großen deutschen Industriefirmen rechnen für 1975 nicht mit einem Konjunktureinbruch. Im Gegenteil, sie sind in ihren Erwartungen auf etwas weitere Sicht nicht so pessimistisch wie für die nächsten Monate. […] Das Münchner Ifo-Institut rechnet auf Grund seiner Umfrage ›Prognose 100‹, an der sich rund 270 Unternehmen beteiligt haben, deshalb damit, daß 1975 die Industrie-Investitionen erstmals seit vier Jahren wieder real wachsen. Von den Preisen für industrielle Erzeugnisse erwartet man, daß sie langsamer steigen.«). 169 Vgl. Helmut Schmidt, Bundestag, 7. WP, 117. Sitzung, 20.09.1974, S. 7842 D (»Solange diese Krise der Weltwirtschaft andauert – und ich bin noch nicht ganz sicher, daß sie ihren tiefsten Punkt schon erreicht hat […]«). 170 Zit. nach: Arbeitslosigkeit: Bundesregierung macht neue Milliarden locker, in: BILD, Nr. 262, 09.11.1974, S. 1. 171 Herbert Ehrenberg, Bundestag, 7. WP, 137. Sitzung, 13.12.1974, S. 9450 D. 172 [Die Bundesregierung informiert] Der Aufschwung kommt. Im Frühsommer werden wir über den Berg sein, Zeitungsanzeige, in: BILD, Nr. 303, 31.12.1974, unpag. [S. 5].
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versprach in seiner Fernsehansprache zum Jahreswechsel, »in 12 Monaten [werde] es anders und besser aussehen«.173 Die kommenden Monate würden zunächst indes noch schwierig, auch sei saisonal bedingt eine weitere Steigerung der Arbeitslosenzahlen zu erwarten.174 Seine Prognose klang somit bereits vorsichtiger. Im Tenor ähnlich warnte Wirtschaftsminister Friderichs zwei Monate später, der »erwartete[ ] Wendepunkt in der Wirtschaftsentwicklung« stehe noch aus,175 dennoch bleibe die Bundesregierung bei einem prognostizierten Wirtschaftswachstum von 2 % im Gesamtjahr 1975, weil sie davon ausgehe, dass der »Produktionsrückgang schon bald gestoppt« und danach »ein sich beschleunigendes Wirtschaftswachstum« einsetzen werde.176 Medial wurden die Prognosen aufgegriffen und verbreitet. Auf diese Weise ergab sich zunächst eine relative Deckungsgleichheit in den Vorhersagen der Koalitionspolitiker und der veröffentlichten Meinung.177 In der ersten Hälfte des Jahres 1975 erwiesen sich die frühen Hoffnungsprognosen erkennbar als zu optimistisch. Nun trat, für den diagnostizierten Steuerungsverlust entscheidend, ein doppelter Effekt ein. Hatte die Regierung die Zukunftserwartungen bislang als Legitimationsressource für die scheinbare Angemessenheit ihrer Politik nutzen können, büßte sie nun deutlich an dieser Fähigkeit ein. Denn ihre Vorhersagen hatten sich nicht nur nicht bestätigt. Zusätzlich kamen Verdächtigungen auf, an den Prognosen sei mit Blick auf die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, die am 4. Mai 1975 stattfand und der sozialliberalen Koalition in Düsseldorf einen Sieg einbrachte, wider besseren Wissens zulange festgehalten worden.178 Zudem, so monierte etwa die Welt, habe die »Bundesregierung vor den Landtagswahlen« offenkundig auch versucht, die negative Entwicklung am Arbeitsmarkt »zu kaschieren«; jedenfalls zeugten die nach den Wahlen bekanntgewordenen Zahlen davon, dass »noch in keinem anderen Monat der derzeitigen Konjunkturflaute […] die saisonbereinigte
173 Schmidt, Ansprache des Bundeskanzlers zum Jahreswechsel 1974/75, S. 5. 174 Vgl. ebd. 175 Hans Friderichs, Bundestag, 7. WP, 149. Sitzung, 20.02.1975, S. 10278 A. 176 Ebd., S. 10280 C. 177 [Die Bonner Orientierungsdaten für 1975] Preissteigerung 6, Lohnzuwachs 9,5 Prozent[,] Gewinne sollen um 9 Prozent steigen, in: SZ , Nr. 221, 25.09.1974, S. 1 f. (»betont die Bundesregierung, daß bei ausreichender Belebung der Investitionstätigkeit 1975 ein reales Wirtschaftswachstum von 3 bis 3,5 Prozent erreicht werden kann«, ebd., S. 1); 1975 geht’s bergauf, in: BILD, Nr. 296, 20.12.1974, S. 1; [Fünf Wirtschaftsinstitute stimmen überein] Aufschwung in Sicht. Aber hohe Arbeitslosenzahl. Mit vorhergesagter Wachstumsrate von höchstens einem Prozent ist die Prognose der Gutachter ungünstiger als die der Bundesregierung, in: SZ , Nr. 98, 29.04.1975, S. 1 f. 178 Vgl. Franz Thoma, Die Fata Morgana des Aufschwungs, in: SZ , Nr. 117, 24./25.05.1975, S. 4.
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Erwerbslosenzahl so angeschwollen [sei] wie im letzten Monat«.179 Derartige Mutmaßungen oder Unterstellungen fanden sich – wenngleich sie sich in Ausmaß und Schärfe der Kritik an der Regierung erkennbar unterschieden – sowohl in tendenziell sozialliberal orientierten Organen wie der Süddeutschen Zeitungen und dem SPIEGEL180 als auch den dezidiert konservativ-regierungskritischen Zeitungen. (Dass sie in letztgenannten Medien generell früher auftraten, ist denkbar, gar wahrscheinlich, ließ sich bei der hier vorgenommenen Sichtung aber nicht eindeutig feststellen.) Darüber hinaus bezog sich die nun medial verbreitete Skepsis nicht nur auf Prognosen der Regierung, sondern genereller auf den Aussagewert von Prognosen überhaupt. Das gesteigerte Misstrauen wurde offenbar, als der Sachverständigenrat in einem Sondergutachten181 vom August 1975 bis zu 6 % Wachstum für 1976 unterstellte.182 Es zeigte sich ferner, als die Bundesbank und die Nürnberger Bundesanstalt im September hoffnungsvolle Einschätzungen veröffentlichten.183 Diesen im Nachhinein betrachtet zutreffenden Erwartungen schlug in der Presse Argwohn entgegen. Der SPIEGEL präsentierte im November eigens eine Übersicht, in der er die überwiegend zu optimistisch formulierten Prognosen von Politikern und Experten zur Konjunkturentwicklung aus den vergangenen 12 Monaten auflistete.184 Eine solcherart skeptische Grundhaltung sollte auch für den Beginn des letzten Krisenabschnitts ab Ende 1975 kennzeichnend werden.185 179 Claus Dertinger, [Nach den Landtagswahlen wird jetzt die wahre Lage am Arbeitsmarkt offenbar] Die Zahl der Arbeitslosen ist weiter von vier auf fast fünf Prozent gestiegen, in: Die Welt, Nr. 113, 17.05.1975, S. 9 (zudem hieß es, inhaltlich ähnlich wie in der Süddeutschen Zeitung: »Auch sonst zeigen sich nach den letzten verfügbaren statistischen Daten noch keinerlei Anzeichen für eine konjunkturelle Erholung.«) 180 Konjunktur: Es wird wohl noch etwas dauern, in: DER SPIEGEL , Nr. 21, 19.05.1975, S. 21 f (»Erst sollte er im Frühjahr kommen, dann im Frühsommer, inzwischen wäre schon der Herbst genehm: Bonns Regierende halten Ausschau nach dem Aufschwung – vergebens bis jetzt. […] Längst schon sind die Experten von ihrer am Jahresanfang aufgestellten Prognose abgerückt, die bundesdeutsche Wirtschaft werde es 1975 auf ein Wachstum von zwei Prozent bringen. […] Den Sozialliberalen in Bonn, die vorerst keine entscheidenden Landtagswahlen mehr zu bestehen haben, kommt dieser Konjunkturverlauf – Stagnation im gesamten Jahr 1975, Aufschwung 1976 – nicht ungelegen.«). 181 Sachverständigenrat, Zur konjunkturpolitischen Lage im August 1975, S. 193. 182 [Echo auf das Konjunkturgutachten] Die »Fünf Weisen« stoßen überwiegend auf Skepsis. Opposition und Wirtschaftsverbände halten die Zielprojektion für zu optimistisch / Bundesregierung sieht ihr Konjunkturprogramm bestätigt, in: SZ , Nr. 189, 20.08.1975, S. 1 f. 183 Hierzu Kap. XIII .4. 184 »Kein erfreuliches Bild«. Konjunkturprognosen von Experten und Politikern, in: DER SPIEGEL , Nr. 48, 24.11.1975, S. 46. 185 Auch wenn man die parteipolitisch geprägte Sicht – und entsprechende pragmatische Absichten – einbezieht, stehen Äußerungen des CDU-Bundestagsabgeordneten Ernst Müller-Hermann vom März 1976 durchaus symptomatisch für die aufgekommene Skepsis gegenüber Vorhersagen im Allgemeinen und jenen der Regierung im Besonderen.
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Scheinbar auf der richtigen Seite des Erwartungsspektrums hatten CDU und CSU gestanden. Wiederholt hatten sie gewarnt, die notwendigen Früh- Anzeichen für einen Aufschwung seien nicht erkennbar und die Konjunktur impulse der Bundesregierung könnten nicht so kurzfristig wie behauptet wirken.186 In direktem Widerspruch zum Bundeswirtschaftsminister geißelte Franz Josef Strauß im Februar 1975 die von Friderichs veranschlagte »Steigerung des realen Wachstums um 2 % [als] eine politische Wunschvorstellung, aber keine begründbare Einschätzung der wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten«, um sodann und – ex post betrachtet: höchst präzise – zu warnen, die »Talfahrt komm[e] […] nicht vor Mitte des Jahres […] zum Stillstand.«187 Genau wie SPD und FDP darf man der Union pragmatische Motive für ihre Warnungsprognosen unterstellen. Mit ihren Vorhersagen eines anhaltenden wirtschaftlichen Niedergangs versuchten auch sie, die Zukunft als Ressource zur Legitimation ihrer Kritik einzusetzen. Als nachteilig für sie erwies sich die bereits deutlich gewordene, die Regierung begünstigende Verteilung der Deutungsmacht. Bis in die ersten Monate des Jahres 1975 hatte die Presse – trotz der Meldungen über zum Beispiel stark gestiegene Arbeitslosenzahlen – die Hoffnungsprognosen übernommen, die von der Opposition geäußerten Erwartungen hingegen nicht in gleichem Maße aufgegriffen. Und just als es seit Sommer 1975 zu einem verstärkten Hinterfragen positiver Wachstumsprognosen kam, verstetigte sich der Nachrichtenfluss über eine sich tatsächlich verbessernde konjunkturelle Lage. Beide Faktoren, sowohl die mediale Benachteiligung als auch die reale wirtschaftliche Entwicklung, bewirkten, dass CDU und CSU keine bestimmende Interpretationsmacht über die Zukunft erlangen konnten. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass sie im Herbst 1975 und in den ersten Monaten des Jahres 1976 positive Konjunkturnachrichten und hoffnungsvoll stimmende Vorhersagen über eine nun wieder deutlich wachsende Wirtschaft und immerhin leicht zurückgehende Arbeitslosenzahlen geradezu reflexhaft infrage stellten.
Müller-Hermann kritisierte: »Das Jahr 1975 war ein Jahr der Fehlprognosen. Ich stimme Minister Friderichs darin zu, daß sich im Jahre 1975 auch die begrenzten Möglichkeiten der wissenschaftlichen Prognosetätigkeit gezeigt haben. Das Jahr 1975 war aber auch ein Jahr der bewußten Falschmeldungen. Die Bundesregierung hat das Prophezeien als Instrument ihrer Wahlstrategie aufs äußerste strapaziert.« – Bundestag, 7. WP, 227. Sitzung, 11.03.1976, S. 15763 D. 186 Vgl. exemplarisch: Franz Josef Strauß, Bundestag, 7. WP, 116. Sitzung, 19.09.1974, S. 7736 A – 7736 B; Hermann Höcherl, Bundestag, 7. WP, 116. Sitzung, 19.09.1974, S. 7802 D. 187 Franz Josef Strauß, Bundestag, 7. WP, 149. Sitzung, 20.02.1975, S. 10289 D.
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Keynes auf lange Sicht tot? Politischer Steuerungsverlust kam nicht nur infolge der offenkundigen Unan gemessenheit eines Prognosetopos zum Ausdruck. Er zeigte sich auch in divergenten Aussagen zu notwendigen wirtschaftspolitischen Reaktionen. Diese verwiesen, wenigstens indirekt, zudem auf die für krisenursächlich gehaltenen Probleme. Obwohl 1974 und 1975 mit insgesamt drei Konjunkturprogrammen und einer für die erste Jahreshälfte 1975 gewährten Investitionszulage von 7,5 % versucht wurde, dem zurückgehenden Wachstum zu begegnen,188 also eine ›klassisch‹ keynesianische, antizyklische Konjunkturpolitik betrieben wurde, zeigten sich schon früh Topoi, die in Richtung Angebotspolitik wiesen. Ohne dass zu diesem Zeitpunkt bereits in bestimmendem Maße eine angebotsorientierte Re-Justierung der Wirtschaftspolitik auszumachen war, soll hier argumentiert werden, dass die politischen Redemuster dieser schon ab der dritten Krisenphase im Zuge argumentativer Verschiebungen allmählich den Weg ebneten. Die von der Literatur behauptete These der partiellen Widersprüchlichkeit der sozialliberalen Wirtschaftspolitik wird durch eine Untersuchung des öffent lichen Sprachgebrauchs gestützt. Der Topos der ›notwendig zu verbessernden Ertragschancen der Unternehmen‹ wurde dabei sehr früh offensiv angeführt, während die fiskalpolitischen Impulse zur Nachfragebelebung kaum begründungsbedürftig daherkamen. Helmut Schmidt erklärte noch im Dezember 1974 wie selbstverständlich: »Die zusätzlichen öffentlichen Investitionen in Höhe von 1,13 Milliarden DM werden den Aufschwung unterstützen. Zusammen mit den Programmen vom Februar und vom September […] mobilisieren wir damit insgesamt rund 3 Milliarden DM allein vom Bund her. Dabei gehen Konjunktureffekte und Verbesserungen der Infrastruktur, die allen Bürgern dient, Hand in Hand.«189
Dass die Lage der Unternehmen verbessert werden müsse, wenn nicht sofort, so doch in jedem Fall perspektivisch, avancierte vor allem ab 1975 zu einer oft wiederholten Forderung. Sie konnte aus dem Lager der Regierung, hier erwartungsgemäß bei der FDP stärker akzentuiert als bei der SPD, wie der Opposition stammen. Und sie entwickelte sich zum fast einhelligen Tenor in den Kommentaren der Wirtschaftsberichterstattung. In der SZ konnte man lesen, die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft sei nur zu steigern, wenn sich die »Erlössituation bessert, die Gewerkschaften nach ihren bösen Fehlern der Vorjahre einsichtsvoll 188 Vgl. Sachverständigenrat, Vor dem Aufschwung, S. 95 f., Tab. 23. Gewährt wurde die Investitionszulage für »Ausrüstungsgüter« und Gebäude, die zwischen dem 01.12.1974 und dem 30.6.1975 bestellt bzw. genehmigt wurden. Weitere Bedingung war eine Auslieferung bis zum 01.07.1976 bzw. ein Bauabschluss bis zum 01.07.1977. 189 Helmut Schmidt, Bundestag, 7. WP, 137. Sitzung, 13.12.1974, S. 9426 B.
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bleiben – und wenn vor allem der Staat darauf verzichtet, den Betrieben mit neuen Steuern das Lebenslicht auszublasen.«190 Walter Slotosch resümierte im Sommer 1975, »die konjunkturpolitische Diskussion […] in den letzten Monaten habe sich insoweit abgeklärt […], [als] daß eine Verbesserung der Erträge und der Investitionskraft der Unternehmungen von allen wirtschaftspolitisch relevanten Instanzen als ein elementarer Bestandteil jeder langfristigen Gesundung der Wirtschaftslage anerkannt worden« sei.191 Zu welcher argumentativen Vehemenz die Pressestimmen fähig waren, zeigte sich im Herbst 1975, als der linke SPD -Flügel vor dem Mannheimer Bundesparteitag mit dem Konzept einer stärkeren staatlichen Investitionslenkung liebäugelte. Dabei handelte es sich um eine Idee, die nicht nur Teil einer tagespolitischen, sondern auch einer wissenschaftlichen Diskussion war.192 Unterstellt wurde, dass es nicht nur um das Setzen und Koordinieren staatlicher Investitionsanreize, wie zum Beispiel durch Subventionen völlig üblich, sondern eine grundlegende Veränderung der Wirtschaftsordnung gehe. SZ-Chefredakteur Hans Schuster warnte vor dem »etatistische[n] Aberglaube[n] an die Machbarkeit wirtschaftlicher Entwicklungen durch bürokratische Planungen« und erklärte, in der gegenwärtigen Situation, in der er es nicht darum gehe, »Investitionen zu lenken, sondern sie hervorzubringen«, sei die »Investitionslenkung […] nach allen Erfahrungen das ungeeignetste Mittel, um die Krisensituation zu bewältigen«.193 Auch karikaturistisch wurden die Anregungen als für die Geschlossenheit der SPD ungebetene und generell nicht zielführende Missklänge dargestellt. Die FAZ verhehlte ihren politischen Standpunkt noch weniger. Ähnlich wie im Fall der Welt, die sowohl die wirtschaftspolitische Zerstrittenheit der SPD194 und mittelbar der Koalition195 hervorhob als auch offensiv die aus dem rechten
190 Thoma, Die Fata Morgana des Aufschwungs, in: SZ , 24./25.05.1975, S. 4. 191 Walter Slotosch, Die frohe Botschaft der Weisen, in: SZ , Nr. 189, 20.08.1975, S. 4. 192 Für einen Überblick siehe: Fleischle / Krüper (Hg.), Investitionslenkung; Henschel / Besters, Investitionslenkung in der Marktwirtschaft?. Früh resümierend: Sarrazin (Hg.), »Spielwiese«. Als denkbare Formen von Investitionskontrollen nannte Karl-Georg Zinn, Investitionskontrollen und -planung, S. 16, die »Verstaatlichung oder imperative Kontrolle des gesamten Kreditapparates«, »Verstaatlichung von strukturbestimmenden (Groß)-Unternehmen« oder die Beeinflussung von Investitionen durch »direkte Einwirkung über ein Genehmigungsverfahren«. In der Presseberichterstattung waren Erklärungen, was unter Investitionskontrollen oder Investitionsplanung konkret zu verstehen sei, hingegen selten zu finden. 193 Hans Schuster, Sprengstoff Investitionslenkung, in: SZ , Nr. 218, 23.09.1975, S. 4. 194 Siehe z. B. [Forderung nach Investitionslenkung teilt die Partei in zwei Lager] Schwere Differenzen in der SPD über Eingriffe in die Wirtschaft, in: Die Welt, Nr. 220, 22.09.1975, S. 1. 195 Lambsdorff: Investitionslenkung Sargnagel für die Koalition, in: Die Welt, Nr. 221, 23.09.1975, S. 3.
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Abb. 10: SZ, Nr. 218, 23.09.1975, S. 4. (© Gabor Benedek, Süddeutsche Zeitung, 1975.)
SPD -Flügel stammende Formulierung vom »Spuk von Investitionskontrollen«196 aufgriff und die entsprechenden Ideen »linke[r] Systemveränderer«197 somit semantisch als ›ungeheuerlich‹ etikettierte, lassen sich auch Darstellung und Kritik der FAZ in mehrfacher Weise interpretieren. Zum einen waren sie zunächst als schlichte Wertung prinzipiell regierungs- und speziell SPD -kritisch eingestellter konservativer Presseorgane zu verstehen. Die besondere Schärfe der Kritik verwies zum anderen aber darauf, dass ein grundlegender ideologischer Reizpunkt getroffen war. Aus wirtschaftsliberaler Sicht schien der linke SPD -Flügel aktiv den marktwirtschaftlichen Konsens untergraben zu wollen. Diese Grundangst vor sozialistisch anmutenden Ideen, deren Erregungs- und Mobilisierungspotenzial nicht zuletzt im folgenden Wahljahr 1976 die CDU / C SU-Kampagne ›Freiheit statt / oder Sozialismus‹ beweisen sollte, erklärt die Feindseligkeit der Re aktion.198 Unverhohlen aggressiv schrieb FAZ-Mitherausgeber Jürgen Eick gegen 196 [Der Vogel-Kreis will dem »Spuk von Investitionskontrollen den Garaus machen«] Die SPD -Rechte formiert sich, in: Die Welt, Nr. 221, 23.09.1975, S. 3. Inhaltlich ähnlich und noch alarmiert-warnender: Peter Gillies, Wenn Branchen-Räte in der Wirtschaft be stimmen, in: Die Welt, Nr. 221, 23.09.1975, S. 3. 197 Die SPD -Rechte formiert sich, in: Die Welt, 23.09.1975, S. 3. 198 Zu den strategischen Hintergründen bei der Auswahl dieser Slogans im »hochideologisierten Wahlkampf von 1976« und den semantischen Traditionslinien, an die sie anknüpften, siehe Mergel, Propaganda nach Hitler, S. 263–270, hier bes. S. 267–270, Zitat S. 270.
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»ideologiegeschwängerte Forderungen« an, die den Entscheidungsträgern in Wirtschaftspolitik und Unternehmen »allmählich die Galle hochkommen« lassen müssten. Sich an einzelnen Positionen abarbeitend, ächzte er, eigentlich habe »in diesem Land […] jedermann begriffen, daß das arbeitsplatzsichernde Wachstum ebenso wie die konjunkturelle Belebung von den Investitionen abhängen. Die Antwort jener linken sozialdemokratischen Systemveränderer: Wir fordern staatliche Investitionslenkung. […] Sie tun wirklich alles, um die Bundesrepublik an der […] konjunkturellen Erholung zu hindern.«199 Grundsätzlich wurden zwei Argumentationsmuster herangezogen, um den Topos der ›notwendig zu verbessernden Ertragschancen der Unternehmen‹ zu begründen: Seltener das abstrakte Muster, dass die Investitionstätigkeiten der Unternehmen in den vergangenen Jahren stark zurückgegangen und daher dringend die Investitionsbedingungen zu verbessern seien. So erklärte Hans Friderichs, für Wachstum und Arbeitslosigkeitsabbau sei »erforderlich, daß sich nach der sehr schwachen Investitionstätigkeit in den letzten Jahren das Investitionsklima spürbar verbessert und die Investitionen vor allem der gewerblichen Wirtschaft deutlich überproportional ansteigen.«200 Verbreiteter war ein Muster, dem zufolge die Gewinne der Unternehmen ›von heute‹ Investitionen ermöglichen und die Arbeitsplätze ›von morgen‹ schaffen und sichern würden. Es beschrieb konkretere, einfacher vorstellbare und unmittelbar einleuchtende Konsequenzen einer unternehmensfreundlichen Politik und war so sprachpragmatisch von höherem Wert. Helmut Schmidt bediente sich Silvester 1974 dieser eingängigen Formel, als er vor hohen Tarifabschlüssen warnte: »Jedermann muß wissen, die Erträge von heute sind die Investitionen von morgen. Und die Investitionen von morgen sind die Arbeitsplätze und die Masseneinkommen von übermorgen.«201 (Diese Losung, die ihre empirische Stichhaltigkeit in dieser Eindeutigkeit bis heute schuldig geblieben ist, stellt für die deutsche Debatte zwar ein prägnantes Beispiel für das Aufkommen angebotsorientierter Argumentationsweisen dar, wird heute aber nicht mehr unmittelbar – und erst recht nicht allein – mit dem Namen Helmut Schmidts verbunden. In Frankreich hingegen ist dieser
199 Jürgen Eick, Wem nützt die Investitionslenkung?, in: FAZ , Nr. 222, 25.09.1975, S. 1. 200 Friderichs, Bundestag, 7. WP, 149. Sitzung, 20.02.1975, S. 10278 A. 201 Schmidt, Ansprache des Bundeskanzlers zum Jahreswechsel 1974/75, S. 6. Ähnlich: Schmidt und Friderichs betonen erneut Notwendigkeit privater Investitionen. Bundeskanzler optimistisch über Wirtschaftsentwicklung / Ü berproportionale Lohnsteigerungen nicht mehr möglich, sagt der Wirtschaftsminister / Sperner entschieden gegen Investitionskontrolle, in: SZ , Nr. 230, 07.10.1975, S. 1 f., hier S. 1 (»Helmut Schmidt und […] Hans Friderichs haben […] die Notwendigkeit privater Investitionen für die Sicherung der Arbeitsplätze hervorgehoben. Die Erträge […] von heute seien für die Investitionen von morgen notwendig; nur diese Investitionen könnten die Arbeitsplätze von übermorgen sichern, erklärte Schmidt.«).
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Satz bemerkenswerterweise bis in die Gegenwart ausdrücklich als »théorème de Schmidt« bekannt.202) Die behaupteten semantischen Akzente, die eine Abkehr von der Globalsteuerung nahe legten, zeigten sich indes keineswegs nur auf direkte Weise. Indirekt waren sie auch in einer Redeweise enthalten, die auf die Hintergründe der Misere verwies: dem Topos der ›strukturellen Ursachen‹. Das Sprachmuster hatte gleich in zweifacher Hinsicht einen beträchtlichen Gebrauchswert. Einerseits beschrieb es einen Umstand, für den niemand unmittelbar verantwortlich zeichnete, obwohl CDU und CSU der Regierung durchaus Versäumnisse in der Strukturpolitik vorwarfen.203 Im Vergleich zu ihren übrigen Vorwürfen wie jenem, die Regierung sei zu spät gegen die Inflation vorgegangen, oder dem Regierungsargument, die Verteuerung der Rohölpreise durch die Ölexportstaaten habe die Inflation abermals befeuert und einen globalen Konjunktureinbruch ausgelöst, enthielt das Strukturargument in geringerem Maße eine direkte Verantwortungszuschreibung. Gerade für regierungsnahe Positionen war es daher attraktiv. Andererseits legte es – ohne dies zu explizieren – eine Abkehr von der Globalsteuerung nahe. Zwar schlossen sich ein keynesianisch-globalsteuernder Ansatz und Strukturpolitik – eine Kombination, die Wirtschaftsminister Friderichs schon 1974 anregte204 und die nach 1976 der neue Bundesfinanzminister Matthöfer anstrebte205 – nicht prinzipiell aus. Generell aber war die Globalsteuerung mit ihrer relativ pauschal auf die Steuerung der Nachfrage ausgerichteten Stoßrichtung nicht das intuitiv einleuchtende Instrumentarium, um ›strukturelle‹ Problemlagen in einzelnen Wirtschaftszweigen, etwa der Bauoder Textilindustrie, zu lösen. Hatte die Regierung in der zweiten Krisenphase noch von einer »Doppelstrategie« gesprochen, die vorsah, die Restriktionspolitik 202 Vgl. auch die entsprechende, knappe Bemerkung bei Heise, Integrative Makropolitik, S. 67. Zum Nachweis siehe etwa Dagut, Modèles, S. 70 (»théorème de Schmidt« dort definiert als: »Les profits d’aujourd’hui sont les investissements de demain et les emplois d’après-demain.«); als ebenso frei herausgegriffene Beispiele für die Auseinandersetzung mit dem Schmidt-théorème vgl. ferner: Lordon, Les Quadratures, S. 40 f.; Guislain / Le Pautremat / Le Tallec, 500 citations, S. 110. 203 Vgl. z. B. Gerhard Zeitel, Bundestag, 7. WP, 117. Sitzung, 20.09.1974, S. 7829 D – 7830 A, der strukturpolitische Fehler der Regierung gerade mit Blick auf die entstandenen Überkapazitäten in der Bauwirtschaft anprangerte. 204 Vgl. Hans Friderichs, Bundestag, 7. WP, 116. Sitzung, 19.09.1974, S. 7765 A. Friderichs forderte eine »Strukturpolitik, die der Globalsteuerung an die Seite gestellt wird und die daher bewußt und gezielt neben ihr eingesetzt wird.« 205 Vgl. Abelshauser, Nach dem Wirtschaftswunder, S. 369–378. Matthöfer plädierte sogar als Forschungsminister bereits in dieser Weise. Im Februar 1975 forderte er: »Konjunkturpolitische Maßnahmen müssen […] auch die strukturelle Entwicklung einbeziehen, weil – übrigens in Zukunft noch viel stärker als bisher – nur über eine vorausschauende, die voraussichtliche Entwicklung einbeziehende Strukturpolitik die notwendige stabilisierende Wirkung erreicht werden kann.« – Hans Matthöfer, Bundestag, 7. WP, 149. Sitzung, 20.02.1975, S. 10348 C.
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generell fortzusetzen und lediglich besonders von Arbeitslosigkeit betroffenen Branchen gezielt zu helfen,206 vertrat sie in der dritten Krisenphase verstärkt die Sicht, alle konjunkturpolitischen Impulse dürften den Strukturwandel nicht behindern. Jetzt galt es, sich nicht dazu »verleiten [zu] lassen, Strukturen, die einer Wandlung im Sinne langfristigen Wachstums bedürfen, mit staatlichen Mitteln zu erhalten«207 respektive »einer Konjunkturpolitik eine klare Absage [zu erteilen], die Strukturmängel verfestigen würde«.208 Auch die Opposition forderte eine »Definition der Strukturpolitik als Begünstigung des Strukturwandels und nicht der Strukturerhaltung«.209 Begünstigt wurde die Verbreitung der Forderungen nach verbesserten unternehmerischen Ertragschancen und einer Unterstützung des Strukturwandels durch die enttäuschten Aufschwungserwartungen. Die aufgezeigten Topoi standen in einem direkten Bedingungsverhältnis. Permanent wuchs die Skepsis, ob das keynesianische Motto der ›Pferde, die zur Tränke geführt werden und dort alleine saufen müssen‹, noch zutreffe. Sie fand im Mai 1975 nicht zuletzt bildlichen Ausdruck.
Abb. 11: SZ, Nr. 117, 24./25.05.1975, S. 4. (© Luis Murschetz, Süddeutsche Zeitung, 1975.) 206 Hans Friderichs, Bundestag, 7. WP, 73. Sitzung, 17.01.1974, S. 4540 D; Herbert Ehrenberg, Bundestag, 7. WP, 92. Sitzung, 29.03.1974, S. 6200 A; Otto Graf Lambsdorff, Bundestag, 7. WP, 101. Sitzung, 20.05.1974, S. 6678 C. Zunächst äußerte auch die Opposition grundsätzlich Zustimmung zur »Doppelstrategie«, ersichtlich bei Ernst Müller-Hermann, Bundestag, 7. WP, 73. Sitzung, 17.01.1974, S. 4567 B. Wenig später kritisierte sie, Gerhard Zeitel, Bundestag, 7. WP, 93. Sitzung, 02.04.1974, S. 6277 B, diese hingegen als »Politik der Widersprüche zwischen Ordnungspolitik, Konjunkturpolitik und Strukturpolitik«. 207 Friderichs, Bundestag, 7. WP, 116. Sitzung, 20.09.1974, S. 7765 A. 208 Matthöfer, Bundestag, 7. WP, 149. Sitzung, 20.02.1975, S. 10348 D. 209 Volkmar Köhler, Bundestag, 7. WP, 149. Sitzung, 20.02.1975, S. 10352 C.
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Die ›strukturell überlasteten öffentlichen Finanzen‹ – Interpretationen der Finanzkrise Spätestens im Zuge der Haushaltsberatungen vom September 1974 und als die Bundesregierung im Sommer 1975 einen Nachtragshaushalt auf den Weg brachte, trat zu den Interpretationen, man habe es mit (den Folgen) einer ›Energie-‹, allgemeinen ›Wirtschafts-‹, ›Konjunktur‹- oder ›Strukturkrise‹ zu tun, die Deutung einer ›Finanzkrise‹.210 Begründet wurde sie mit Verweis auf die veranschlagte Neuverschuldung.211 Diese war die entscheidende (Wissens-)Kategorie, um die These einer krisenhaften Haushaltslage abzuleiten. Bei den Erklärungen für diese Entwicklung lassen sich drei Argumentationsmuster differenzieren; zwei, die in das gängige Schema dichotomischer Sichtweisen von Regierung und Opposition passen, sowie ein Muster, das explizit zum Topos des ›strukturell überlasteten Haushalts‹ führte. Obwohl Helmut Schmidt – wie gezeigt – bei seinem Amtsantritt bereits angekündigt hatte, die Regierung wolle ihre Programmatik am Rahmen des ›finanziell Möglichen‹ ausrichten, verzichteten Regierungspolitiker auf allzu genaue Definitionsversuche dieses Rahmens. Gleichwohl etablierte sich eine Sicht, der zufolge das politisch Machbare zunehmend durch die Finanzierungsmöglichkeiten bestimmt werde. Begrifflich besonders prägnant erschien sie in den Formulierungen einer »Diktatur der leeren Kassen«212 respektive eines »Diktat[s] der leeren Kassen«.213 Bundesfinanzminister Apel mahnte, eine »unbedingte Konzentration auf das politisch, d. h. auch auf das finanzpolitisch Notwendige [müsse] in der Finanzpolitik des Bundes oberste Priorität erhalten« und das »allgemeine Verlangen der Interessengruppen nach mehr Mitteln […] mit Mut und mit Standfestigkeit zurückgewiesen werden.«214 Koalitionspolitiker begründeten die stark steigende Kreditaufnahme des Bundes mit den ›wirtschaftlichen Notwendigkeiten‹. Der
210 Zu den Krisenbegriffen detaillierter Kap. XIV.1 und XV.1. Dort auch Nachweise für die einzelnen Komposita. 211 Die Nettokreditaufnahme des Bundes wurde im Haushaltsgesetz 1975 zunächst mit 22,76 Mrd. D-Mark veranschlagt und im Zuge des Nachtragshaushalts 1975 auf 37,91 Mrd. D-Mark erhöht. Vgl. [o. N.], Gesetz über die Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 1975 (Nachtragshaushaltsgesetz 1975) v. 22.10.1975, S. 2635. 212 Walter Slotosch, Die Diktatur der leeren Kassen, in: SZ , Nr. 217, 20.09.1974, S. 4. 213 Thoma, Die Fata Morgana des Aufschwungs, in: SZ , 24./25.05.1975, S. 4; Kabinett beschließt Konjunkturprogramm in Höhe von 5,75 Milliarden Mark. Bund, Länder und Gemeinden wollen die Beschäftigungsrisiken in der Bauwirtschaft verringern und die Produktion ankurbeln / Nachtragshaushalt 1975 im Umfang von 15,15 Milliarden Mark gebilligt, in: SZ , Nr. 196, 28.08.1975, S. 1 f., hier S. 2. 214 Hans Apel, Bundestag, 7. WP, 115. Sitzung, 18.09.1974, S. 7696 C.
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Haushalt versuche, so der FDP-Abgeordnete Hans-Günter Hoppe, »mit den Mitteln der Fiskalpolitik […] den anstehenden Problemen gerecht zu werden«; dies erkläre, warum in »einer für den Bund bisher unbekannten Höhe […] Mittel am Kapitalmarkt aufgenommen werden« müssten.215 Als tragend erwiesen sich zwei Erklärungen. Erstens jene der ›konjunkturellen Situation, die höhere staatliche Ausgaben erfordert‹; zweitens die eines vor allem infolge der schwachen Exportnachfrage ›ausgebliebenen Aufschwungs, der unerwartet niedrige Staatseinnahmen bewirkt und daher einen Nachtragshaushalt notwendig gemacht‹ habe.216 Dass die Politik des deficit spending aktuell angemessen sei, attestierte auch der Sachverständigenrat, der sonst nachdrücklich die Stabilisierungsnotwendigkeiten, sprich die Inflationsbekämpfung, betonte.217 Die Opposition widersprach dieser These ebenfalls nicht direkt. Sie führte die Haushaltslage aber auf eine seit Beginn der sozialliberalen Regierung 1969 verfehlte Finanzpolitik zurück. Durch ein zu zögerliches Vorgehen gegen die Geldentwertung und das Schüren zu großer Erwartungen an staatliche Leistungen sei es zu einer ›dauerhaft zu expansiven Finanzpolitik‹ gekommen.218 Bei beiden Argumentationsmustern liegt die pragmatische Nutzbarkeit der Redeweisen auf der Hand. Hatte schon die Fokussierung auf ›das Mögliche‹ in diese Richtung gewiesen, führte gerade die Argumentationsweise von CDU und CSU sehr nah zum Topos des ›strukturell überlasteten Haushalts‹. Formuliert wurde dieser insbesondere in den Wirtschaftskommentaren der Presseberichterstattung. Er unterschied sich von der Argumentationsweise der Opposition dadurch, dass er nicht einseitig auf den Zeitraum seit 1969 abzielte, sondern in längerer Perspektive überzogene Ansprüche an staatliche Leistungen ausmachte. Auch bei diesem Redemuster kann man eine sukzessive Hinwendung zur Angebotspolitik erkennen, etwa wenn in der SZ argumentiert wurde: »[…] [D]ie Finanzierung von Überflüssigem oder gar Sinnlosem können wir uns einfach nicht mehr leisten. Allein das Diktat der leeren Kassen kann, nach aller Erfahrung, die Öffentliche Hand zur Einsicht zwingen. Niemand […] gebe sich
215 Hans-Günter Hoppe, Bundestag, 7. WP, 117. Sitzung, 20.09.1974, S. 7834 B. 216 So auch die explizite Begründung im Entwurf des Nachtragshaushalts, vgl. Bundestag, 7. WP, Drucksache 7/4001, 29.08.1975, S. 4. 217 Vgl. Sachverständigenrat, Vor dem Aufschwung, S. 94, 97. 218 Vgl.: Zeitel, Bundestag, 7. WP, 93. Sitzung, 02.04.1974, S. 6274 C; Karl Carstens, Bundes tag, 7. WP, 93. Sitzung, 02.04.1974, S. 6243 B – 6244 A; Strauß, Bundestag, 7. WP, 149. Sitzung, 20.02.1975, S. 10295 A – 10295 B; Kabinett beschließt Konjunkturprogramm in Höhe von 5,75 Milliarden Mark, in: SZ , 28.08.1975, S. 2 (»Nach sechs Jahren Mißwirtschaft durch die SPD / FDP-Koalition [so der CDU-Vorsitzende Helmut Kohl, K. K.] sei der finanzielle Bankrott offensichtlich. Unter dem Diktat der leeren Kassen und einem Schuldenberg von 40 Milliarden Mark sei das Ausgabenprogramm der letzte Stein im Mosaik der verfehlten Wirtschafts- und Finanzpolitik der SPD und FDP.«)
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der Illusion hin, schlimmstenfalls ließen sich die Steuern doch erhöhen. So etwas könnte bei einer schrumpfenden Wirtschaft geradezu tödlich ausgehen«.219
Ohne dass im Betrachtungszeitraum solche Forderungen bereits bestimmend für den Diskurs gewesen wären, führten sie perspektivisch zur These eines ›unbezahlbaren (Sozial-)Staats‹. Expressis verbis äußerte sich so SZ-Chefredakteur Hans Schuster, der von »Folgen der Bewilligungsdemokratie« sprach, die nur nicht erkennbar zu Finanzierungsdefiziten geführt hätten, solange es hohe wirtschaftliche Wachstumsraten gegeben habe.220 In erster Linie kritisierte er eine »Aufblähung des öffentlichen Dienstes in den vergangenen Jahren« und spann den Bogen weiter zum Konnex von steigenden öffentlichen Ausgaben und zugleich sinkenden öffentlichen Investitionen. So bewirkten die »Folgekosten« des Personalausbaus eine permanente »Ausweitung der konsumtiven Ausgaben und eng[t]en schon von daher den möglichen Spielraum für zukünftige Investitionen ein«; kurzum gelte: »Je stärker der Staatsanteil am Bruttosozialprodukt wächst, desto mehr geht die Investitionsquote zurück. Der gewünschte Sozialstaat frißt sich selbst auf.«221 Derart drastisch pointierende Äußerungen waren im Herbst 1975 im hier primär untersuchten Quellenkorpus zwar noch Ausnahmen; gleichwohl repräsentierten sie Anzeichen von Aussagemustern, die in den Folgejahren prägend werden sollten.
4. Expansion, die (k)ein Ende bedeutet: Winter 1975/76 Die Frage nach dem Ende von Krisendeutungen berührt abermals die Frage nach Erwartungshaltungen. Dabei ergibt sich ein paradoxer Befund. Denn einerseits gingen – wie gesehen – das Vertrauen in die Zuverlässigkeit von Aufschwungsprognosen und die Erwartung, ein solcher setzte bald ein, im Sommer 1975 rapide zurück. Andererseits verstetigte sich ab dem Spätsommer 1975 der Fluss von Interpretationen einer baldigen Verbesserung der wirtschaftlichen Lage, insbesondere gemessen an einem Wiederansteigen der Wachstumsraten, seltener begründet mit geringerer Arbeitslosigkeit. Vor allem ab dem Frühjahr 1976 wurde die Kategorie des Wachstums eher herangezogen als die Lage auf dem Arbeitsmarkt, um das Einsetzen einer wirtschaftlichen Erholung zu konstatieren.
219 Thoma, Die Fata Morgana des Aufschwungs, in: SZ , 24./25.05.1975, S. 4. 220 Hans Schuster, Der unbezahlbare Sozialstaat, in: SZ , Nr. 233, 10.10.1975, S. 4. 221 Ebd.
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Bezweifelte und bestätigte Hoffnungen Zu Beginn der zweiten Augusthälfte, als der Sachverständigenrat sein Sondergutachten veröffentlichte, schlug dem Expertengremium unverhohlen Skepsis entgegen. In der SZ kritisierte Walter Slotosch, »[a]n der Fundierung der hoffnungsvollen Perspektiven fehle[ ]« es; weiter führte er aus, die formulierten Erwartungen für »rosa Zeiten« im Jahr 1976, unter anderem bis zu 6 % reales Wachstum und ein merkliches Zurückgehen der Arbeitslosigkeit, stünden vor allem hinsichtlich der Beschäftigungsaussichten »in mutige[m] Widerspruch zu ziemlich allen anderen Instanzen«.222 Einen Monat später vermeldete die Bundesbank, dass in Ländern, die für die bundesdeutsche Wirtschaft wichtige Exportmärkte darstellten, die Rezession zu Ende gehe und daher die Auslandsnachfrage angezogen habe. Zwar bleibe die Arbeitslosigkeit zunächst hoch, die Kurzarbeit sei allerdings schon spürbar zurückgegangen und die Nachfrage nach Arbeitskräften in einzelnen Branchen angestiegen.223 Für 1976 erwartete die Zentralbank einen Aufschwung, der in seinem Verlauf und seinem Ausmaß noch nicht genauer zu prognostizieren sei.224 Anfang Oktober erklärte der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Josef Stingl, es sehe »so aus, als hätten wir die konjunkturelle Talsohle auf dem Arbeitsmarkt erreicht«.225 Gleichwohl sei wegen saisonaler Effekte im Winter mit erneut steigenden Arbeitslosenzahlen zu rechnen und eine verlässliche Vorhersage darüber hinaus schwierig.226 Diese Einschränkungen hinderten SPD -Politiker, namentlich den Bundestagsabgeordneten Eugen Glombig, nicht daran, öffentlich anzunehmen, in den kommenden Monaten werde sich die wirtschaftliche Erholung verstärken.227 Auch der Bundeskanzler sprach erneut vom erwarteten Aufschwung, schränkte aber ein, er erwarte keinen »Superboom«.228 In der Summe stabilisierten die einzelnen Äußerungen die Erwartung eines nun endlich einsetzenden Aufschwungs. In der zweiten Oktoberhälfte titelte schließlich auch BILD : »Das ist die schönste 222 Slotosch, Die frohe Botschaft der Weisen, in: SZ , 20.08.1975, S. 4. 223 Vgl. Bundesbank: Konjunktur-Besserung bahnt sich an. Aber noch kein neuer Aufschwung / Haushalte müssen auch 1976 Rücksicht auf den Kapitalmarkt nehmen, in: SZ , Nr. 215, 19.09.1975, S. 23. 224 Vgl. ebd. 225 Zit. nach: Hubert Neumann, [Bericht der Nürnberger Bundesanstalt] Arbeitslosenzahl im September gesunken. Erholung in einzelnen Bereichen. Quote der Beschäftigungslosen von 4,5 auf 4,4 [%] verringert / Zahl der Kurzarbeiter jedoch wieder gestiegen, Präsident Stingl weist auf weiter unbefriedigende Arbeitsmarktlage hin, in: SZ , Nr. 228, 04./05.10.1975, S. 1 f., hier S. 1. 226 Vgl. ebd. 227 Vgl. ebd. 228 Zit. nach: Schmidt erwartet keinen Super-Boom. Investitionen wichtiger als mehr Freizeit, sagt der Bundeskanzler, in: SZ , Nr. 235, 13.10.1975, S. 2.
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Nachricht des Jahres: Der Aufschwung kommt doch!«229, nachdem das Blatt – hier zeigte sich die fortbestehende Unsicherheit – am Tag zuvor noch verkündet hatte, ein Aufschwung werde einstweilen ausbleiben.230 Jetzt bezog es sich auf die Einschätzung der fünf führenden Wirtschaftsforschungsinstitute und verkündete, dass die Wirtschaft in der Bundesrepublik 1976 real um 4 % wachsen und »der Wirtschaftsaufschwung« ab dem »Sommer vielen hunderttausend wieder Arbeit bescheren« werde.231 Wiederum einen Monat später bestätigte BILD die Einschätzung mit Verweis auf das neue Jahresgutachten des Sachverständigenrates und jubelte: »Ja, es stimmt! Wir sind bald wieder über den Berg!«232 Anfang Dezember konstatierte der SPIEGEL , »der lange Zeit unaufhaltsame Abstieg der westdeutschen Wirtschaft [scheine] endlich gestoppt zu sein«.233 In ihrem Monatsbericht vom Dezember diagnostizierte die Bundesbank eine Verfestigung der Aufschwungstendenzen. Im dritten Quartal 1975 habe sich erstmals wieder eine leicht positive Wachstumsrate ergeben, die Exportnachfrage stark zugenommen, und auch die leicht gestiegene Konsumnachfrage deute auf eine verbesserte konjunkturelle Lage, die bereits zu einem Wiederansteigen der öffentlichen Einnahmen geführt habe.234 Durch die in den letzten vier Monaten des Jahres stetig positiver, allerdings nicht uneingeschränkt optimistisch gewordenen Äußerungen zur wirtschaftlichen Situation erhielt der Topos des ›nahenden Aufschwungs‹ beziehungsweise der ›sich bald bessernden Wirtschaftslage‹ neue Plausibilität. Ab Januar, und mehr noch in den Folgemonaten, löste das Sprachmuster des ›(tatsächlich) begonnenen Aufschwungs‹ den Erwartungstopos ab; gleichwohl wurde es nicht einhellig übernommen, sondern konnte auch weiter hinterfragt werden, gerade in der konservativ-regierungskritischen Presse.235 229 Das ist die schönste Nachricht des Jahres: Der Aufschwung kommt doch!, in: BILD, Nr. 245, 21.10.1975, S. 1 f. 230 Vgl. Krise um den Kanzler. – Sein Leibarzt: nervöse Erschöpfung – Große Sorge um die Wirtschaft – Wenig Rückhalt in der eigenen Partei, in: BILD, Nr. 244, 20.10.1975, S. 1, 8. 231 Das ist die schönste Nachricht des Jahres: Der Aufschwung kommt doch!, in: BILD, 21.10.1975, S. 1. 232 Die 5 Weisen sagen: 1976 geht’s aufwärts, in: BILD, Nr. 274, 25.11.1975, S. 1 f., hier S. 1. 233 Konjunktur: Hoch kommt vor der Wahl, in: DER SPIEGEL , Nr. 49, 01.12.1975, S. 25–27, hier S. 25. 234 Bundesbank sieht Anzeichen für eine Belebung. Lohnrunden entscheiden / Investitionsneigung noch zu schwach / Sozialprodukt wächst wieder, in: SZ , Nr. 291, 18.12.1975, S. 19. 235 Siehe z. B. [Die Nachfrage nach deutschen Produkten hat sich etwas gebessert] Die Auftragsbücher der Industrie signalisieren keinen Aufschwung, in: Die Welt, Nr. 7, 09.01.1976, S. 9 (»Die Auftragsbücher bei der deutschen Industrie sind nach einer vorläufigen Erhebung des Bundeswirtschaftsministeriums im November um zwei Prozent gegenüber dem Vormonat dicker geworden. Die Nachfrage der Industrie hat sich offenbar geringfügig verbessert, ein Durchbruch in Richtung Konjunkturaufschwung ist jedoch nicht festzustellen. Auch die industrielle Produktion ist noch nicht ›angesprungen‹.«).
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Wie angedeutet, bezog sich dieses Sprachmuster zunehmend eng auf den Konjunkturverlauf. Mit Blick auf den Arbeitsmarkt kam hingegen der Topos der ›anhaltend hohen (Sockel-)Arbeitslosigkeit‹ hinzu. So verwies Helmut Schmidt in seiner Neujahrsansprache einerseits auf die genannten Einschätzungen von Bundesbank und Wirtschaftsforschern und erklärte, diese hätten nun »bestätigt, daß sich der Aufschwung seit dem Sommer angekündigt hat«.236 Andererseits sei trotz der hoffnungsvoll stimmenden Konjunkturentwicklung davon auszugehen, dass die »Arbeitslosigkeit […] im Laufe des Jahres [zwar] abnehmen […][,] Vollbeschäftigung allerdings […] noch nicht erreicht« werde.237 Der Nexus von Wirtschaftswachstum und hohem Beschäftigungsstand büßte seine Selbstverständlichkeit ein. Dies zeigte sich auch, als Ende Januar der Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung veröffentlicht wurde. Die darin vorgenommenen Einschätzungen zur wirtschaftlichen Entwicklung, so konstatierte die Presse, deckten sich weitgehend mit denen von Sachverständigenrat und Forschungsinstituten. Mithin ergab sich in ein einhelliges Bild. Während die Annahmen für 1976 hinsichtlich des Wirtschaftswachstums (4,5 %) und der Inflationsrate (bis zu 5 %) signifikante Verbesserungen versprachen, wurde die Arbeitslosenzahl mit circa einer Million im Jahresdurchschnitt weiterhin hoch taxiert.238 Als der Bundestag den Jahreswirtschaftsbericht im März zusammen mit dem Jahresgutachten 1975 des Sachverständigenrats debattierte, betonte Wirtschaftsminister Friderichs, dass zwar die konjunkturelle Entwicklung positiv stimme und das Wachstum den gegenwärtigen Tendenzen nach eher bei fünf als bei vier Prozent liegen, dennoch »das Beschäftigungsproblem auf absehbare Zeit bestehen« bleiben werde.239 Er begründete dies unter anderem damit, dass konjunkturelle Effekte erst mit Verzögerung auf den Arbeitsmarkt einwirkten und zunächst die Kurzarbeit reduziert würde.240 Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Interpretation, ein Aufschwung habe eingesetzt, deutlich stabilisiert. Im Februar hieß es im »Konjunkturbericht der Süddeutschen Zeitung«: »Nach den Fehlprognosen im Vorjahr erschien es nicht gerade ratsam, einzelne Besserungssymptome […] bereits als konjunkturelle Tendenzwende zu deuten. Inzwischen aber haben die Auftriebskräfte an Stärke und Breite gewonnen. Dieser Prozeß läßt sich bereits einige Monate verfolgen, so daß die Feststellung berechtigt 236 Schmidt, Ansprache des Bundeskanzlers zum Jahreswechsel 1975/76, S. 5. 237 Ebd. 238 Vgl. Mäßiges Wachstum – eine Million Arbeitslose. Jahreswirtschaftsbericht deckt sich weitgehend mit wissenschaftlichen Daten / Preisanstieg etwa 5 Prozent, in: SZ , Nr. 21, 27.01.1976, S. 7. 239 Vgl. Hans Friderichs, Bundestag, 7. WP, 227. Sitzung, 11.03.1976, S. 15755 D – 15756 C, Zitat S. 15756 C. 240 Vgl. ebd., S. 15756 C.
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erscheint: Die konjunkturelle Rezession ist nicht nur zum Stillstand gekommen, sondern die Tendenzwende zu einem neuen Aufschwung ist vollzogen. Die Auftriebskräfte zeigen deutlich Konturen und zwar sowohl beim Verbrauch wie bei der Lagerhaltung, im Außenhandel und […] sogar bei der Investitionstätigkeit.«241
Das Handelsblatt schrieb unter Berufung auf die Bundesbank, die »konjunkturelle Erholung habe an Intensität gewonnen.«242 Fast wortgleich diagnostizierte die ZEIT, die »Erholung der Wirtschaft«, die sich seit Sommer 1975 abzeichne, habe »inzwischen auf weitere Wirtschaftszweige übergegriffen und im ganzen an Intensität gewonnen«.243 Als Beleg führte sie an, dass vom dritten zum vierten Quartal 1975 das Wachstum deutlich auf eine reale Wachstumsrate von 3 % (im Quartalsvergleich) zugelegt habe und »bereits etwa die Hälfte des Produktionsrückgangs, der im Jahr 1974 angefangen und sich bis Mitte 1975 fortgesetzt hatte, aufgeholt worden« sei.244 Die Wirtschaftsdaten schrieben sich auf diese Weise als Interpretationsbasis in den Diskurs ein. Ursächlich für die Wirtschaftsentwicklung seien sowohl der gestiegene private Konsum als auch die deutlich stärkere Exportnachfrage.245 Die performative Wirkmächtigkeit des Bekanntwerdens solcher Wirtschaftsdaten für weithin geteilte Sichtweisen darf freilich nicht überschätzt werden. Die Zitate repräsentieren zwar eine gängige Deutung der wirtschaftlichen Lage zu Beginn des Jahres 1976, dennoch kamen konkurrierende Interpretationen auf. Zum Teil liegt es nahe, diese mit pragmatischen Absichten zu erklären, besonders wenn es um Politiker von CDU und CSU, aber auch Mahnungen konservativer Pressekommentatoren ging.246 Fraglos waren die Äußerungen auch Element der verschärften Polarisierung im Vorfeld des feindselig-aufgeheizten Wahlkampfs vor der Bundestagwahl vom Oktober 1976. In dieser parteipolitischen Auseinandersetzung bezweifelten die Unionsparteien zwar nicht die gegenwärtige wirtschaftliche Verbesserung. Ihre Sichtweise unterschied sich aber in drei Punkten 241 Walter Slotosch, [Konjunkturbericht der Süddeutschen Zeitung] Die Tendenzwende ist erkennbar, in: SZ , Nr. 37, 14./15.02.1976, S. 23. 242 Die Konjunktur nimmt Fahrt auf. Verbrauch und Export stützen den Aufschwung, in: Handelsblatt, Nr. 31, 13./14.02.1976, S. 1. 243 Und sie belebt sich doch…, in: DIE ZEIT, Nr. 9, 20.02.1976, S. 24. 244 Ebd. 245 Vgl. ebd. 246 Exemplarisch: Gedämpfte Töne, in: FAZ , Nr. 45, 23.02.1976, S. 1 (»Der Aufschwung aus einem tiefen Tal ist gewiß sichtbar; doch ist auch die Mahnung Friedrichs’ berechtigt, daß der Weg nach oben längst noch nicht als gesichert gelten kann. Hinter solchen Worten steckt ziemlich unverhohlen die Sorge, ob jenes schwierigste Stück der Wirtschaftspolitik, nämlich Stabilität zurückzugewinnen und zugleich die Wirtschaftsentwicklung nachhaltig anzuregen, gelingen kann. […] Wenn solche Unvernunft [gemeint: deutliche Lohnerhöhungen, K. K.] sich durchsetzte, bliebe von den Aufschwungshoffnungen wohl nicht viel übrig.«)
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von den bisher vorgestellten Deutungen: Erstens stellten sie die Dauerhaftigkeit des Aufschwungs infrage. Zweitens beklagten sie nachdrücklich das Problem der fortgesetzt hohen Arbeitslosigkeit. Drittens relativierten sie die Aufschwungsdeutungen – positiv stimmten diese nur im Vergleich zur unmittelbar vorangegangenen Zeit der Rezession, für die wiederum die Bundesregierung eine beträchtliche Mitverantwortung trage. Ernst Müller-Hermann, um ein Beispiel aus der Bundestagsdebatte vom März aufzugreifen, beklagte, ausschlaggebend seien »jetzt nicht drei oder vier oder fünf Prozent Wirtschaftswachstum im Jahr 1976; entscheidend [sei] die Dauerhaftigkeit der Entwicklung«, denn nur sie gebe »berechtigte Hoffnung auf eine Milderung der Arbeitslosigkeit«.247 Doch, so führte er weiter aus, die »Arbeitslosigkeit […] bleibt ein Dauerproblem. […] Selbst wenn das jährliche Wachstum nach den Hoffnungen der Regierung 5 % erreichte, würde sich dieser hohe Sockel an Arbeitslosigkeit nach den Vorstellungen der Regierung nur ganz langsam abbauen lassen.«248 Den Stellenwert des eingetretenen und weiter erhofften Wachstums relativierte er ebenfalls: »[S]elbst wenn sich die optimistischen Erwartungen der Regierung über ein reales Wirtschaftswachstum von vier Prozent bestätigen sollten, nehmen sich natürlich solche Zahlen nach der Tiefe der Rezession und der Tiefe des Abschwunges einigermaßen gut aus.«249 Müller-Hermann warnte, die Regierung dürfe nicht abermals den Fehler machen, in einer (beginnenden) Hochkonjunkturphase »neue, übertriebene Erwartungen in die Welt [zu] setzen«;250 schließlich habe »was die Bundesregierung seit 1970 als Reformpolitik verkauft […] in die tiefste Rezession der Nachkriegszeit hineingeführt«.251
Neue Zukunftsaneignungen Die Inhalte der Prognosen aus den Jahren 1974 bis 1976 ermöglichen Einblicke in den Zusammenhang unmittelbar erfahrener ökonomischer Probleme und sich verändernder Erwartungshaltungen. Sie waren eng bezogen auf die Kategorien Wachstum, Beschäftigungsstand und Geldwertstabilität respektive deren Veränderung. Besonders Äußerungen, die um das Problem der Arbeitslosigkeit kreisten, eröffneten indes nicht ausschließlich Einsichten in die zeitgenössisch unmittelbar erwarteten, erhofften oder befürchteten Entwicklungen. Sondern sie repräsentierten auch gewandelte Haltungen zur Zukunft und veränderte Formen ihrer Aneignung. Ein solcher Blick, der zum Beispiel die Annahme von 247 Ernst Müller-Hermann, Bundestag, 7. WP, 227. Sitzung, 11.03.1976, S. 15764 B. 248 Ebd., S. 15765 A. 249 Ebd., S. 15764 B. 250 Ebd., S. 15764 C. 251 Ebd.
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Brüchen oder Kontinuitäten fokussiert, lässt das Ausmaß des von den Akteuren selbst unterstellten Zäsurcharakters der Krise erkennen.252 Gerade für diese Fragerichtung sind Prognosen, die in der dritten und vierten Krisenphase vorgebracht wurden und sich auf die Zeit nach der Stabilisierung des erwarteten Aufschwungs bezogen, von hohem Wert. Denn einerseits wiesen sie noch einen klar erkennbaren Bezug zur konkreten Wirtschaftsentwicklung auf, ohne in der Zeitperspektive auf die kommenden Monate oder einzig das kommende Jahr beschränkt zu sein. Zumeist bezogen sie sich in mittelfristiger und nicht genau definierter Sicht auf ›die kommenden Jahre‹. Hinsichtlich der zeitlichen Tiefe von Prognosen kann man im Krisenverlauf also eine schrittweise Wieder-Ausdehnung erkennen: Ging es in der ersten Krisenphase um Wochen und Monate, in der zweiten und dritten Krisenphase meist um eine Spanne von mehreren Monaten, erweiterte sich der Zeitraum ab der dritten und speziell in der vierten Krisenphase abermals und konnte nun wieder Jahre umfassen. Zeitlich darüber hinaus gehende Äußerungen – planungseuphorisch und / oder utopiegesättigt – blieben fortan aus. Sucht man nach Dekaden-übergreifenden Erwartungen, fand man diese durchaus: Allerdings handelte es sich bei ihnen nicht um Aussagen zur konkreten wirtschaftlichen Entwicklung, sondern um teils kulturkritische Deutungen einer Epochen-Wende, die von volkswirtschaftlichen Einzelaspekten weitgehend absahen. (Sie werden daher nicht hier, sondern später gesondert behandelt.253) Zusammen jedoch, das sei vorweggenommen, konstituierten Deutungen eines Epochenwandels, die zu Beginn des Krisendiskurses aufkamen,254 und Prognosen – vor allem – zur Entwicklung der Arbeitslosigkeit die Interpretation einer Zäsur. Sie bewirkten, dass nach Ende der Rezession nicht in Kontinuitätslinien gedacht und gesprochen wurde, die ein Anknüpfen an die Zeit vor Herbst 1973 nahelegten. Die Krise vielfacher Art erschien nicht als Störfaktor in einer ansonsten linearen Entwicklung, sondern als Einschnitt, dessen Folgen längerfristig spürbar sein würden. Die Deutungen trugen zu dem Mentalitäts- und Bewusstseinswandel bei, der mit den 1970er Jahren assoziiert wird. Auf der Ebene von Epochendeutungen und – das zeigte schon der Blick auf die zweite Krisenphase – Prognosen vollzog er sich verblüffend schnell. Die Quellen, die dieser Studie zugrunde liegen, sind für weitreichende Thesen zum Tempo und Ausmaß mentalitätsgeschichtlichen Wandels allerdings von begrenztem Wert. Um zu ergründen, inwieweit sich dieser jenseits politischer Reden und Texte ebenso schnell ergab, wären andere Quellenarten wie Literatur, Musik, Satiren oder Ego-Dokumente zu befragen. 252 Prägnant zu einer solchen ›Befragung‹ von Zukunftserwartungen auch Graf, Zeit und Zeitkonzeptionen, S. 105. 253 Siehe hierzu Kap. XV.5. 254 Vgl. ebd.
Expansion, die (k)ein Ende bedeutet
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Wie bereits angeklungen ist, war es zuvorderst die Kategorie der Beschäftigungslage, anhand derer eine dauerhaft veränderte wirtschaftliche Lage konstatiert wurde. Entsprechende Warnungen der Form: ›Trotz des Endes der Rezession wird Vollbeschäftigung auf absehbare Zeit ausbleiben‹ kamen auf, bevor im Verlauf des Jahres 1976 erkennbar wurde, dass die Wirtschaft wieder wuchs, die Arbeitslosenquote aber sehr viel langsamer sank. Schon im Juli 1975 hatte der SPIEGEL eine Prognose des stellvertretenden Präsidenten der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit, Edmund Duda, aufgegriffen und gewarnt, »selbst wenn die Konjunktur bald wieder [anziehe, werde] die ›bis zum Ölschock völlig unbekannte‹ (Duda) Dauerarbeitslosigkeit bestehen bleiben.«255 Der Sachverständigenrat erklärte im November 1975, dass ungeachtet der konjunkturellen Erholung auf absehbare Zeit nicht mit einer deutlich sinkenden Arbeitslosigkeit zu rechnen sei, sie vielmehr 1976 mit einem Jahresdurchschnitt von einer Million lediglich leicht unterhalb des Niveaus von 1975 liegen werde. Bei den Unternehmen würde die steigende Produktion nicht unmittelbar zu Neueinstellungen führen, sondern zum Abbau von Kurzarbeit und zur Aktivierung ungenutzter Produktivitätskapazitäten.256 In seiner Weihnachtsansprache räumte Bundespräsident Walter Scheel ein, es sei damit zu rechnen, »noch über längere Zeit mehr Arbeitslose zu haben« als aus »früheren Jahren gewohnt«; »[a]uch ein konjunktureller Aufschwung [werde] die Zahl der Arbeitslosen nicht entscheidend vermindern«, stattdessen werde »diese strukturelle Arbeitslosigkeit […] noch eine Weile« anhalten.257 Anfang 1976 widmete die ZEIT dem Thema anhaltend hoher Arbeitslosigkeit ein ZEIT-Forum, das sie mit »Arbeitslosigkeit – Schicksal für lange Zeit?« überschrieb.258 Zentral war die Frage, ob angesichts der Tatsache, dass »der erwartete Aufschwung das Problem der Arbeitslosigkeit [zumindest 1976, K. K.] nicht lösen« werde, »wenigstens auf mittlere Sicht die Chance [bestehe], die Zahl der Arbeitslosen wieder deutlich unter die Grenze von einer Million zu drücken« und »mit der bedrückenden Jugendarbeitslosigkeit fertig [zu] werden«.259 Die Diskussionsbeiträge führten nicht zu einer eindeutigen Prognose, was auch darauf zurückzuführen war, dass die Beschäftigungsproblematik nicht 255 [Arbeitslose] 1000000 für immer?, in: DER SPIEGEL , Nr. 28, 07.07.1975, S. 20 f., hier S. 21. 256 Vgl. Sachverständigenrat, Vor dem Aufschwung, S. 119 f. 257 Scheel, Weihnachtsansprache 1975 des Bundespräsidenten, S. 2. 258 Arbeitslosigkeit – Schicksal für lange Zeit? Die Beschäftigungskrise in den Industrieländern – Ein ZEIT-Forum, in: DIE ZEIT, Nr. 9, 20.02.1976, S. 9–13. 259 Ebd., S. 9. Jugendarbeitslosigkeit wurde in der Bundesrepublik seit Mitte der 1970er Jahre zu einem aufmerksam registrierten und besorgt diskutierten Thema, »obwohl sie im Vergleich zu anderen westlichen Staaten einen relativ glimpflichen Verlauf nahm und obwohl sie die allgemeine bundesdeutsche Arbeitslosenquote nur phasenweise und mit relativ geringer Abweichung übertraf« – ausführlich zur Thematik: Raithel, Jugendarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik (Zitat S. 1).
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Abrupter Beginn und schrittweises Ende
auf ein Problem, sondern drei verschränkte Ursachen zurückgeführt wurde: die Folgen der Stabilisierungspolitik zur Inflationsbekämpfung, die Auswirkungen der Ölpreisverteuerung und der Aufwertung der D-Mark, die nachteilig auf die Konkurrenzfähigkeit deutscher Unternehmen im Exportgeschäft gewirkt und so notwendigen Strukturwandel offengelegt hätten, und – drittens – die demografische Entwicklung, die dazu führen werde, dass bis Mitte der 1980er Jahre die Gesamtbevölkerung ab-, die Anzahl potenzieller Arbeitskräfte hingegen zunehmen werde, sodass mehr Arbeitskräfte einer geringeren Zahl von Verbrauchern gegenüberstünden.260 Die Debatte bezeugte in eindrücklicher Weise die Abkehr von einem Denken, dem zufolge Wachstum – spätestens mittelfristig – per se einen hohen Beschäftigungsstand generiere. Diese Neuartigkeit der Situation unterstrich ebenso eine Bundestagsdebatte vom Juni 1976, in der das Parlament die Ergebnisse des Weltwirtschaftsgipfels von Puerto Rico diskutierte. Zum einen kam sie einer Historisierung der Krise gleich. Denn Widerspruch rief die These, dass die Rezession vorüber sei, nicht hervor. So sprach Helmut Schmidt von der »jetzt hinter uns liegenden Rezessionsphase«261 respektive davon, »daß die Bundesrepublik die tiefste Rezession der Nachkriegszeit überwunden« habe,262 und für die Unionsfraktion erklärte Franz Josef Strauß, diese »freue[ ]« sich über die »Aufschwungtendenzen«.263 Trotzdem unterstellten weder Redner der Regierung noch der Opposition, dass der Aufschwung automatisch die Rückkehr zur Vollbeschäftigung bedeute. Vielmehr diskutierten sie über die weiter notwendigen Schritte, um das Beschäftigungsniveau zu heben. Der Bundeskanzler betonte, »die Wiederherstellung und die Sicherung der Vollbeschäftigung [blieben] nach wie vor das oberste Ziel.«264 Um dieses zu erreichen, sei es notwendig, den gegenwärtigen Aufschwung in einen »stetigen Aufschwung[ ]« zu überführen und zugleich ein Wiederansteigen der Inflation zu verhindern.265 Daher sei es zielführend, dass die Bundesbank ein Geldmengenziel formuliert habe, das als Richtwert in den Tarifverhandlungen berücksichtigt worden sei. Es stelle sicher, dass »in dieser Aufschwungphase von den Löhnen […] kein Kostendruck und kein Preisdruck ausgehe[ ].«266 Konnte man bei Schmidt die positive Bezugnahme zu einer monetaristischen Geldpolitik erkennen, zeigte sich bei Franz Josef Strauß einmal mehr die Hinwendung zur Angebotspolitik. Der CSU-Vorsitzende erklärte, er stimme mit der Regierung ausdrücklich überein, dass für den »Kampf gegen 260 Vgl. Arbeitslosigkeit – Schicksal für lange Zeit?, in: DIE ZEIT, 20.02.1976, S. 9. 261 Helmut Schmidt, Bundestag, 7. WP, 255. Sitzung, 30.06.1976, S. 18187 D. 262 Ebd., S. 18188 D. 263 Franz Josef Strauß, Bundestag, 7. WP, 255. Sitzung, 30.06.1976, S. 18200 C. 264 Schmidt, Bundestag, 7. WP, 255. Sitzung, 30.06.1976, S. 18190 A. 265 Ebd. 266 Ebd.
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die Arbeitslosigkeit« entscheidend die »Belebung der Investitionen« sei und »[h]öhere Erträge […] die Voraussetzung für Investitionen« seien.267 Das Pro blem machte Strauß nicht in gegensätzlichen Positionen zu dieser angebotsorientierten Grundthese aus, sondern (lediglich) in der konkreten Wirtschaftspolitik der Bundesregierung, die unter anderem den Mittelstand mit so hohen Steuern und Abgaben belaste, dass Investitionsspielraum kaum vorhanden sei.268
267 Strauß, Bundestag, 7. WP, 255. Sitzung, 30.06.1976, S. 18199 C – 18199 D. 268 Vgl. ebd., S. 18199 D.
XIV. Dominante Semantiken und fluide Übergänge – zwischen ›Krise‹ und neuer Normalität
Auf der begrifflichen Ebene der Gegenwartsdeutungen und Problembeschreibungen lassen sich zwischen Ende Oktober 1973 und Sommer 1976, zwischen Ölpreisschock und Aufschwung, mehrere grundlegende Beobachtung machen. Sie erlauben, in der Semantik nachzuvollziehen, wie die neuartige wirtschaftliche Situation sprachlich erfasst wurde – und wie sich die Gewöhnung an eine Form ›neuer Normalität‹ ergab. Die Beobachtungen betreffen drei Arten sprachlicher Versatzstücke: Verwendungen des Krisenbegriffs, Metaphern sowie das Aufkommen spezifischer ›Vernunft-‹ und ›Opfer‹-Semantiken. Die nachfolgenden Unterkapitel (XIV.1–XIV.3) behandeln die aufgeführten Merkmale in genau dieser Reihenfolge.
1. Zuspitzung und Gewöhnung: der Krisenbegriff in der Presse Wiederholt ist angeklungen, dass der Gebrauch (und die Vermeidung) des Krisenbegriffs in den Äußerungen von Regierung und Opposition nicht isoliert, sondern als Baustein umfassenderer Sprach- und Deutungsstrategien zu verstehen ist.1 Daher konzentriert sich dieses Kapitel ausschließlich auf die Verwendung des Krisenbegriffs in den untersuchten Printmedien. Auch eine so eingegrenzte Perspektive kann zeigen, wie im zeitgenössischen Sprachgebrauch auf zwei klassische Bedeutungsbestandteile des Krisenbegriffs referiert wurde: einerseits die Bezeichnung einer zugespitzten Situation, andererseits die einer fortbestehenden Problemlage. Präziser ausgedrückt: Bezog sich ›Krise‹ in der ersten Phase auf die (möglichen) unmittelbaren Folgen eines Ereignisses, verschob sich der Objektbereich in den drei folgenden Krisenabschnitten auf eine mittelfristig-anhaltende Problemkonstellation. Mit dieser Verschiebung vom Ereignis- zum Struktur- beziehungsweise Konstellationsbezug von ›Krise‹ ging einher, dass der explizite Begriffsgebrauch – die Verwendungsintensität des Krisenbegriffs – deutlich nachließ. 1 Dazu Kap. XV.1.
Zuspitzung und Gewöhnung
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Diese Veränderung schlug sich ebenfalls in den konkret vorkommenden Kompositumformen von ›Krise‹ nieder. Wie die Analyse der ersten Krisenphase deutlich zeigte, war der Krisenbegriff zwischen Anfang November und Ende Dezember 1973 in der Berichterstattung allgegenwärtig. Er bezog sich auf die Folgen (einer potenziellen Ausweitung) des Ölembargos sowie stark steigender Rohölpreise. Letztlich kreiste er um die Frage, ob – und, falls ja, mit welchen Folgen – die Lieferreduktionen verschärft oder sich die Versorgungslagen wieder entspannen würden. Entsprechend waren in dieser Phase eindeutig dominierende Formen des Krisenbegriffs auszumachen, allen voran ›Energiekrise‹, kurz darauf – und synonym verwendet – auch ›Ölkrise‹.2 Hinzu kamen Komposita, die noch expliziter auf den Problemkomplex der Versorgungslage verwiesen, wie »Energieversorgungskrise«3 oder schlicht »Versorgungskrise«4, genauso Formulierungen wie »krisengeschädigte deutsche Öl- und Benzinverbraucher«5. ›Krisen‹-Termini, die über diesen Gegenstandsbereich hinaus wiesen, beispielsweise die vereinzelt bereits auftretende ›Wirtschaftskrise‹6, dominierten nicht. Dennoch deuteten erste Äußerungen auf eine Akzentverlagerung, zum Beispiel, als es Anfang Dezember 1973 in der SZ hieß: »Die [Europäische, K. K.] Kommission ist zu der Ansicht gekommen, daß die Gemeinschaft sich auf eine lange Krise einstellen muß, die Arbeitslosenquoten von zwei bis vier Prozent sowie eine Schrumpfung der wirtschaftlichen Aktivität um bis zu zwei Prozent mit sich bringen kann.«7 Hier zeigte sich nicht nur eine Verschiebung beim unterstellten Zeithorizont, sondern auch eine thematische Ausweitung. ›Krise‹ bezeichnete nicht mehr die gegenwärtig potenziell prekäre Versorgungslage, sondern mittelfristige Probleme auf dem Arbeitsmarkt und beim Wirtschaftswachstum, bezog sich weniger auf ›Unsicherheit‹ als auf eine ›Misere‹. Solche Bezüge blieben im ersten Abschnitt der Krise allerdings noch die Ausnahme. Die entscheidende Veränderung ereignete sich mit dem Übergang zur zweiten Krisenphase Anfang 1974. Mit der nun wieder besser zu kalkulierenden 2 Diverse Nachweise in Kap. XIII .1. 3 Z. B. Ölkrieg in der Bonner Koalition, in: SZ , 28.11.1973, S. 4. 4 Z. B. Sonntagsfahrverbot erstmals für den 25. November zu erwarten. In Bonn wird damit gerechnet, daß eine Verordnung, die auch eine allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung enthält, in diesen Tagen erlassen wird / Erneuter Sparappell an die Verbraucher, in: SZ , Nr. 265, 16.11.1973, S. 1 f. 5 Die Sorgenfalten werden tiefer. Bonn will sich in der Ölkrise beschleunigt die Legitimation für Beschränkungsmaßnahmen verschaffen, in: SZ , Nr. 256, 06.11.1973, S. 3. 6 Besonders eindrücklich: Rollt auf uns die große Wirtschaftskrise zu? in: BILD, 13.11.1973, S. 2. 7 Hans-Josef Strick, Die Europäische Gemeinschaft hat noch kein gemeinsames EnergieKonzept. Ein Dringlichkeitsprogramm der EG -Kommission findet auf der Brüsseler Konferenz bei den Wirtschafts- und Finanzministern keinen Widerhall / Die Niederlande drohen einen Alleingang an, in: SZ , Nr. 281, 05.12.1973, S. 1.
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Dominante Semantiken und fluide Übergänge
Versorgungslage nahm die Verwendungshäufigkeit des Krisenbegriffs schnell spürbar ab. In den folgenden drei Krisenphasen sollte er das Verwendungsniveau der ersten Krisenphase nie wieder erreichen. Diese drei Phasen bilden in mehrfacher Hinsicht eine Einheit: Sie zeigen, wie ein Prozess der Gewöhnung an die Krise erfolgte, ohne dass ›Krise‹ als Begriff permanent herangezogen wurde. Vielmehr wurde der – nur mehr gelegentlich explizit als ›Krise‹ bezeichnete – Problemzusammenhang implizit unterstellt. Die Themen, die mit dem Label ›Krise‹ belegt waren und wurden, blieben Element der politischen Kommunikation: Weiterhin waren die Energieversorgungslage, Inflation, Fragen von Zahlungsbilanzen und (Welt-)Währungsgefügen, die Arbeitsmarktlage und insbesondere die konjunkturelle Situation viel diskutierte und als problembelastet betrachtete Fragen. Aber sie wurden nicht mehr zwangsläufig mit dem Krisenbegriff verbunden, nicht mehr tagtäglich und nicht immer auf den ersten Zeitungsseiten behandelt und rückten in Interviews und Reden mit und von Politikern neben andere Themen. Gleichzeitig verschwanden der Krisenbegriff und seine Kompositumformen jedoch nicht. Stattdessen fächerten sich seine Erscheinungsformen auf. Nun war die Rede von der ›Wirtschaftskrise‹8, sehr viel seltener einer ›Weltwirtschaftskrise‹9, einer ›Finanzkrise‹10 oder »krisenhafte[n] Haushaltssituation«11, mitunter weiterhin von den Folgen der ›Energiekrise‹, manchmal schlicht von einer nicht weiter spezifizierten ›Krise‹, die als Sammelbegriff für die unterschiedlichen Problemkomplexe fungierte. Auf diese Weise vollzog sich der Prozess einer Gewöhnung an Krise als länger anhaltenden, wenn nicht als Normalzustand. Wie selbstverständlich, geradezu verinnerlicht es werden konnte, sich in einer fortdauernd ›krisenhaften‹ Situation zu wähnen, illustrieren drei gänzlich verschiedene, durchaus amüsante Beispiele: Zum einen unterstrich dies eine Meldung über den nach wie vor florierenden Markt für echten Lachs, der im Jahr 1975 keinerlei Einbrüche zu verzeichnen hatte und dies – hier kam die Gewöhnung an die ökonomische Situation als dauerhaft präsente Folie zum Vorschein – »[t]rotz Krise« beziehungsweise »ungeachtet der Wirtschaftsflaute«.12 Zum anderen verbreitete ein BILD -Interview mit der Allensbach-Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann einen ähnlichen Eindruck. Ein Jahr vor dem Urnen8 Z. B.: Hans Heigert, Mit Boom is nix…?, in: SZ , Nr. 216, 20./21.09.1975, S. 4; Lebten die Deutschen über ihre Verhältnisse? Bundeswirtschaftsminister Hans Friderichs über die Konjunktur und Bedingungen eines neuen Aufschwungs, in: DER SPIEGEL , Nr. 33, 11.08. 1975, S. 19–21, hier S. 19, 21 (Begriffsverwendung hier jew. in den Fragen der Redakteure). 9 Z. B. Die dreigeteilte Koalition. Ist die sozial-liberale Gemeinsamkeit erschöpft?, in: DIE ZEIT, Nr. 41, 03.10.1975, S. 1. 10 Z. B. Michael Jungblut, Finanzkrisen und kein Ende?, in: DIE ZEIT, Nr. 38, 12.09.1975, S. 17. 11 CSU: Strauß hat Entwicklung prophezeit, in: SZ , Nr. 193, 25.08.1975, S. 2. 12 Trotz Krise: Mehr echter Lachs verkauft. Mittelgroße Seiten kaum teurer als 1970 / Der Aalabsatz stagniert, in: FAZ , Nr. 54, 04.03.1976, S. 12.
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gang gefragt, wer bei der Bundestagswahl 1976 die besseren Chancen auf den Wahlsieg besitze, erklärte die Meinungsforscherin ihr Erstaunen darüber, dass »die wirtschaftliche Krise kaum Einfluß auf die Wählergunst« habe.13 In dem Interview erschien die ›Krise‹ wie selbstverständlich als längerfristig anhaltende Konstellation. Noelle-Neumann vermutete, infolge des umfangreichen sozialen Sicherungssystems spürten die Wähler die wirtschaftliche Misere nicht unmittelbar.14 Ergo vollzog sich auch so ein Arrangieren mit der Situation. Ein drittes Beispiel zeugt von dem bereits zeitgenössisch vorhandenen, reflektiert-kritischen Hinterfragen fortdauernder, vielfältiger Krisenbehauptungen. Der später als Gastrokritiker berühmte, damals als Satiriker bekannte Journalist Wolfram Siebeck stellte eine Glosse in der SZ unter den Titel »Ohne Krise geht nichts mehr«.15 Gleichermaßen salopp und sarkastisch wie reflektiert konstatierte er, anders als früher seien »Krisen« inzwischen zu alltäglichen Phänomenen geworden – vorkommend nicht nur in der »verbreitetste[n] Krisenart«, der »Ehekrise«, sondern tagtäglich beobachtbar »in den verschiedensten Ausführungen«, zum Beispiel der »Energiekrise«, die »bei jeder Tankfüllung daran [erinnert], daß Erdöl knapp« sei oder der »Dollarkrise«, die existiere »weil der Dollar nicht knapp« sei. Lakonisch resümierte er, das »Schöne an den Krisen« sei: »Ob zuwenig oder zuviel, für eine Krise langt’s immer.«16 Mit spielerischer Leichtigkeit kritisierte Siebeck den Mangel an Aussagekraft und zugleich die Absurdität eines zum Alltagsphänomen gewordenen Krisengeredes, ohne sich hierfür in theoretisierenden Argumentationen zu verstricken. ›Krise‹ war ein anhaltend abrufbarer, nicht permanent abgerufener Terminus zur Gegenwartsinterpretation und Erklärung (nicht nur) diagnostizierter Wirtschafts- und Finanzprobleme. Dass er, obgleich in der dritten Krisenphase öfter gebraucht als in der zweiten und vierten Phase, nicht abermals zu einem unentwegt verwendeten Begriff avancierte, ist aber nicht nur auf die Gewöhnung an die veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zurückzuführen. Vielmehr ließ sich gleichfalls beobachten, dass einzelne Aspekte der sonst als ›Krise‹ bezeichneten Problemlage konkreter benannt wurden. Dies galt neben dem ausdrücklichen Thematisieren der Arbeitslosigkeit speziell für die konjunkturelle Entwicklung. So war ›Rezession‹ 1975 ein weit verbreiteter Begriff. Und, besonders bemerkenswert: Als in der vierten Krisenphase das Ende der Krise ausgemacht wurde, war damit die Überwindung ebendieser Rezession gemeint. Impliziter Gegenbegriff zu ›Krise‹ war ›Aufschwung‹; der Konjunk13 »Schmidt oder Kohl – wer macht das Rennen, Frau Professor?« Thema des Tages: BILD Interview mit Prof. Noelle-Neumann[,] Chefin des Meinungsforschungsinstituts Allensbach, in: BILD, Nr. 249, 25.10.1975, S. 2. 14 Vgl. ebd. 15 Wolfram Siebeck, Ohne Krise geht nichts mehr, in: SZ , Nr. 61, 13./14.03.1976, S. 96. 16 Ebd.
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turverlauf fungierte als der entscheidende Gradmesser, weit weniger der Beschäftigungsstand. Dies ergänzt die oben ausgeführten Beobachtungen zum Zäsurcharakter der Krise respektive den dauerhaft veränderten wirtschaftlichen Erwartungshaltungen.
2. Metaphorische Heterogenität als Folge struktureller Komplexität? Die beiden vorangegangenen Fallstudien erlaubten, einen Zusammenhang zwischen den dominierenden Metaphern und Interpretationen der Krise beziehungsweise ihrer Überwindung auszumachen. Die ›kleine Weltwirtschaftskrise‹ erschwert solch prägnante Ein- oder Zuordnungen. Zwar lassen sich auch bei ihr wiederholt auftretende Formen von Sprachbildern erkennen, die als Versatzstücke auf der Ebene tiefer liegender Semantiken den Krisendiskurs speisten. Es fällt aber ungleich schwerer, sie in den grundsätzlichen Krisenverlauf, spezifische Vorstellungen von der Ökonomie oder der Art der wirtschaftlichen Probleme sowie programmatische Ansätze zu ihrer Behebung einzuordnen. Eher liegt es nahe, in der größeren metaphorischen Heterogenität in doppeltem Sinn einen Ausdruck struktureller Komplexität zu sehen. Denn zum einen waren die Ursachen der Krise in mehreren, einander überlappenden Prozessen zu suchen. Zum anderen ließ sich keine wirtschaftstheoretisch eindeutig zu verortende Strategie ausmachen: Vielmehr wurde eine monetaristische Geldpolitik, kombiniert mit einer anfangs bremsenden, dann auf Expansion setzenden Fiskalpolitik zunehmend angereichert mit (zunächst semantischen) Impulsen zur Angebotspolitik. Mit Rekurs auf die Faktoren, die als bestimmend für die konkrete Gestalt des Metaphernhaushalts in Krisendiskursen ausgemacht wurden,17 erscheinen zwei Aspekte offenkundig: Erstens schlug sich die Phase des Glaubens an die Steuerbarkeit der wirtschaftlichen Entwicklung und die damit verknüpfte aktive Rolle des Staates im Wirtschaftsgeschehen in einem messbaren Effekt nieder. Abermals verschob sich das Verhältnis von einer körperlich-organischen Konzeptualiserung der Wirtschaft, wie sie sich in Krankheitsbildern ausdrückte, hin zu mechanistisch-maschinistischen Vorstellungen. Das Verhältnis der beiden Metapherngruppen, das in der ›großen‹ Weltwirtschaftskrise 3,8:1 und in der Krise 1966/67 noch 2,6:1 betragen hatten, betrug nun 2,3:1. Zweitens liegt es nahe, die größere sprachbildliche Unübersichtlichkeit auch auf das Zusammentreffen ökonomischer und politischer Problemfaktoren zurückzuführen, das vor allem die Anfangsphase der ›Krise‹ prägte. Letztlich schlug sich diese Des17 Siehe abermals die Vorbemerkung in Kap. IV.4.
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orientierung in mindestens fünf Ausprägungen von Metaphern nieder: den aus den beiden vorangegangenen Krisen bekannten Krankheits- und Maschinenbildern, unterschiedlichen Arten von Natur- und Navigationsmetaphern sowie Passivitätsmetaphern.
Passivitätsmetaphern – ›Wellen-‹ und ›Lawinen‹-Bilder Letztgenannte Metaphernform war speziell im ersten Krisenabschnitt verbreitet. Anders als bei den beiden anderen Gruppen ermöglicht sie noch am einfachsten, einen Zusammenhang zwischen den übrigen diskursiven Aussageformen und den Sprachbildern herzustellen. Passivitätsmetaphern ergänzten die Sichtweise, der zufolge die Bundesrepublik, genau wie andere westlich-industrialisierte Staaten, einem Prozess ausgesetzt war, den sie selbst kaum beeinflussen konnte. Bevölkerung wie Politiker standen passiv dem Handeln der arabischen Ölexportstaaten und dessen Folgen gegenüber – eine Sichtweise, die sich auf der Prognose-Ebene durch die ›herrschende Zukunft‹ etabliert hatte. Passivitätsmetaphern fanden ihren konkreten Ausdruck überwiegend in der Form von Wellen- oder Lawinenbildern, also Vorstellungen von automatisierten Bewegungen, denen man, sobald sie einmal in Gang gesetzt waren, nicht entkommen konnte. Im Herbst und Winter 1973/74 war zuvorderst die Rede von ›Teuerungswellen‹. So diagnostizierte die SZ eine »Preiserhöhungswelle« bei Rohölprodukten.18 Der SPIEGEL berichtete, dass Bonner Regierungskreise mit Blick auf die unmittelbaren Folgen für die Bevölkerung vor allem die »Teuerungswelle beim Hausbrand« fürchteten.19 BILD warnte in einem »Die größte Preislawine« betitelten Artikel, die Bundesrepublik könne »von der bisher größten Teuerungswelle überrollt« werden, die als »dramatischste Preiserhöhung für Mineralölprodukte […] die ohnehin schon überschäumende Preiswelle weiter verstärken« werde.20 Gelegentlich wurde die Metaphorik ebenso in späteren Krisenphasen bemüht, beispielsweise als die rapide zunehmende Deckungslücke im Bundeshaushalt zu einer »lawinenartigen Zunahme der öffentlichen Verschuldung« führte.21 In einem Punkt endete die Gleichsetzung mit ›Naturphänomenen‹ allerdings: Die ›Wellen‹ und ›Lawinen‹ wurden nicht als ein unpersönlicher, nicht-menschlich verursachter Prozess verstanden, sondern durchaus auf benennbare Urheber zurückgeführt. Wurden im Herbst und Winter 1973/74 die arabischen Staaten 18 Neue Preiswelle bei Heizöl und Benzin rollt. Verteuerung um drei Pfennig je Liter bis Mitte November / Arabische Preiserhöhungen schlagen durch, in: SZ , Nr. 255, 05.11.1973, S. 10. 19 Ölangst: Keiner kennt die Lage, in: DER SPIEGEL , Nr. 49, 03.12.1973, S. 19–22, hier S. 21. 20 Die größte Preislawine!, in: BILD, 23.01.1974, S. 1. 21 Slotosch, Die frohe Botschaft der Weisen, in: SZ , 20.08.1975, S. 4.
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und in zweiter Instanz die Mineralölkonzerne als Verursacher der ›Preiserhöhungswellen‹ unterstellt, waren in den späteren innenpolitischen Diskussionen auch andere Verantwortungszuschreibungen möglich. Seitens der CDU / C SU warf etwa Karl Carstens der Bundesregierung vor, diese habe mit der »Erhöhung der Mineralölsteuer im Sommer 1973 […] selber die Lawine in Gang [gesetzt], die dann im Herbst die Preise in diesem Bereich emporschnellen ließ.«22 In vergleichbarer Weise machte BILD im Sommer 1975 die Steuererhöhungspläne der Bundesregierung für eine erwartbare »Welle von Preissteigerungen« verantwortlich.23
Natur- und Navigationsmetaphern Deutlicher angelehnt an den unpersönlichen, nicht menschlichem Handeln, sondern eigenen Gesetzmäßigkeiten entspringenden Charakter von Naturphänomenen waren explizite Natur- sowie Navigationsmetaphern. ›Natur‹ meint dabei ein weites Feld: Mit Analogien zur Natur konnte eine Vorstellung vom Konjunkturverlauf als regelmäßig angeordneter Gebirgslandschaft entworfen werden, die nahezu zwangsläufig Hoch- und Tiefpunkte aufweist – dann war die Rede von der ›konjunkturellen Talfahrt‹24 oder davon, ›(noch nicht) über den Berg (zu) sein‹25. Ebenso konnten die Konjunktur oder das Ausmaß der ökonomischen Probleme mit Analogien zum Wetter oder Klima konzeptualisiert werden. Entsprechende Sprachbilder waren die »Weltkonjunktur[, die sich] abkühlt«,26 eine Schilderung der weltwirtschaftlichen Lage als »weltweite[ ] Dürre zeit«,27 eine »Abkühlungsperiode«28 der Nachfrage, eine Beschreibung der 22 Carstens, Bundestag, 7. WP, 93. Sitzung, 02.04.1974, S. 6243 D – 6244 A. Als Replik hierzu siehe Lambsdorff, Bundestag, 7. WP, 101. Sitzung, 20.05.1974, S. 6675 C, der diese Argumentation als absurd zurückwies und darauf insistierte, dass »die Mineralölkrise und diese Preiserhöhung [maßgeblich] durch den Nahostkrieg ausgelöst worden« seien. 23 [Jeder merkt es an seiner Brieftasche.] Bonn verlangt Milliarden von uns allen!, in: BILD, Nr. 201, 30.08.1975, S. 1 f., hier S. 1. 24 Z. B.: Otto Graf Lambsdorff, Bundestag, 7. WP, 73. Sitzung, 17.01.1974, S. 4558 D (»Beurteilung der konjunkturellen Situation. Die Prognosen […] haben eine Talfahrt […] genommen, und seither geht es in der Prognosestellung wieder ein bißchen aufwärts«); 1975 geht’s bergauf, in: BILD, 20.12.1974, S. 1 (»wird langsam wieder aufwärts gehen«, »konjunkturelle Talfahrt ist zu Ende«, siehe zudem »bergauf« in der Überschrift). 25 Z. B. Schmidt, Bundestag, 7. WP, 137. Sitzung, 13.12.1974, S. 9427 A (»Dieser Aufschwung kommt; er braucht Zeit. Noch nicht im Frühjahr, aber im Frühsommer werden wir sichtbar über den Berg sein.«) 26 Schmidt, Bundestag, 7. WP, 59. Sitzung, 23.10.1973, S. 3431 A. 27 »Irgendwann muß man die Wahrheit sagen«, in: DER SPIEGEL , Nr. 24, 09.06.1975, S. 19–21, hier S. 20. 28 Währungsfonds: Vor weltweiter Rezession, in: SZ , Nr. 213, 16.09.1974, S. 19.
Metaphorische Heterogenität als Folge struktureller Komplexität?
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neuartigen weltwirtschaftlichen Verhältnisse als mehr denn eine »bloß durchziehende Schlechtwetterfront«29 sowie das ›Wirtschafts-‹30 oder ›Investitionsklima‹31. Diese Formen des Klimas waren zwar beeinflussbare wirtschaftspolitische Sphären. Das Ausmaß möglicher Einflussnahme – mithin die unterstellte Gestaltungsmacht der Wirtschaftspolitik – erschien allerdings deutlich eingeschränkt. Damit passten sich die Metaphern in das diskursive Umfeld der Angebotspolitik ein, das einen deutlich geringeren wirtschaftspolitischen Gestaltungsdrang des Staates pries. Umgekehrt könnte man formulieren: Sie waren Ausdruck der zunehmenden Überzeugung, dass der Staat die Wirtschaft mit seinen politischen Instrumenten nicht hinreichend erfolgreich steuern, sondern lediglich wachstumsfördernde Rahmenbedingungen schaffen könne. Zu diesem Eindruck einer verminderten wirtschaftspolitischen Steuerungsmöglichkeit trugen auch Navigationsmetaphern bei. Teilweise konnten sie in Verbindung mit den Wettermetaphern vorkommen; so zum Beispiel, wenn es hieß, dass die »Konjunkturpolitiker vorerst mehr oder minder nur mit der Stange im Nebel herumfahren könn[t]en«.32 Oder sie verwiesen einmal mehr auf von außen kommende Störungsfaktoren, die ein planvolles wirtschaftspolitisches Agieren erschwerten. Die Metaphorik war somit von sprachpragmatischem Mehrwert; beispielsweise schimmerte ein möglicher Entschuldigungsgrund für etwaige Erfolglosigkeit bereits durch, als der stellvertretende SPD -Fraktionsvorsitzende Herbert Ehrenberg im Sommer 1974 ankündigte, »daß die Bundesrepublik weiterhin auf dem unruhigen und unsicheren Meer der Weltkonjunktur einen klaren Kurs steuern« werde33 oder Herbert Wehner 1975 auf die »Internationa lität der rezessiven Entwicklungen in der Ökonomie« verwies, die verdeutliche, »gegen welche Stürme wir unser Schiff zu steuern haben.«34 Zugleich waren Navigationsmetaphern jedoch auch Signum der Persistenz zuvor bestehender Vorstellungen von der Steuerbarkeit wirtschaftlicher Prozesse, konkret: der konjunkturellen Entwicklung. So erklärte Regierungssprecher Grünewald im Herbst 1974, es »spr[eche] manches dafür, daß noch 1974 oder Anfang 1975 in der Konjunkturpolitik das Steuer bewußt umgelegt« werde.35 29 Schmidt, Ansprache des Bundeskanzlers zum Jahreswechsel 1974/75, S. 5. 30 Z. B. Kabinett beschließt Konjunkturprogramm in Höhe von 5,75 Milliarden Mark, in: SZ , 28.08.1975, S. 1. 31 Bonn erörtert Steuererleichterungen, Anreize für Investitionen angestrebt. SPD will Forderungen des Koalitionspartners berücksichtigen / Auch mögliche Reaktionen der Gewerkschaften sollen einkalkuliert werden, in: SZ , Nr. 235, 13.10.1975, S. 1 f., hier S. 1. 32 Franz Thoma, Vorsichtige Propheten, in: SZ , Nr. 22, 28.01.1976, S. 4. 33 Herbert Ehrenberg, Bundestag, 7. WP, 116. Sitzung, 19.09.1974, S. 7775 D. 34 Zit. nach: Eduard Neumaier, »Ich habe innerlich gezittert«. Ein Gespräch mit Herbert Wehner, in: DIE ZEIT, Nr. 28, 04.07.1975, S. 3 f., hier S. 3. 35 Zit. nach: Arbeitslosigkeit: Bundesregierung macht neue Milliarden locker, in: BILD, 09.11.1974, S. 1.
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Dominante Semantiken und fluide Übergänge
Genauso traten weiterhin Formulierungen wie jene einer »Politik des konjunkturellen Gegensteuerns« auf.36 Ein- und dieselbe Art von Sprachbildern konnte letztlich Elemente unterschiedlicher wirtschaftlicher Programmatiken und wirtschaftstheoretischer Grundüberzeugungen repräsentieren. Die konzeptuelle Uneindeutigkeit des wirtschaftspolitischen Handelns ergab sich mithin auch aus einem Nebeneinander grundlegender Vorstellungen über Optionen wirtschaftspolitischer Einflussnahme.
Krankheits- und Maschinenbilder Das höchste Maß an sprachbildlicher Kontinuität (in der konkreten Gebrauchsweise:) vor allem zwischen den 1960er und 1970er Jahren zeigte sich auf den ersten Blick in den Maschinen-, (indirekten) Krankheits- sowie Medizinmetaphern. Das ›Ankurbeln‹37 der Konjunktur, deren notwendige ›Belebung‹38 durch das Verabreichen von ›Spritzen‹39 oder ›(bitteren) Pillen‹40, das Drehen an ›Schrauben‹41 sowie das Betreiben oder Ausfallen von ›Motoren‹42 – diese und 36 Hans D. Barbier, Alle Wege führen zur Mehrwertsteuer. Mit Rotstift und Verschuldung sind die Haushaltslöcher nicht zu schließen, in: SZ , Nr. 96, 26./27.04.1975, S. 4. 37 Z. B. [SZ -Interview mit Bundesbank-Präsident Klasen] Mehr Konjunkturankurbelung nicht möglich. Weltweite Inflation Grund der Misere / Vorerst keine festen Kurse, in: SZ , Nr. 202, 04.09.1975, S. 23 f. 38 Z. B.: Noch mehr Arbeitslose. Quote im August bei 2,3 Prozent / Niedrigstes Stellenangebot seit 1966, in: SZ , Nr. 206, 07./08.09.1974, S. 1 f., hier S. 1 (»keine konjunkturelle Belebung«); Bundesbank sieht Anzeichen für eine Belebung, in: SZ , 18.12.1975, S. 19 (»Konjunkturbelebung«, siehe zudem »Belebung« in der Überschrift); Slotosch, Die Tendenzwende ist erkennbar, in: SZ , 14./15.02.1976, S. 23 (»Besserungssymptome«, »einsetzende Konjunkturbelebung«). 39 Z. B.: [Beschluß der Bundesregierung] Konjunkturspritze von 900 Millionen Mark. Das Hilfsprogramm des Bundes und der Länder soll vor allem Regionen mit überdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit zugute kommen / »Stabilisierungspolitik wird mit den Maßnahmen abgesichert«, in: SZ , Nr. 210, 12.09.1974, S. 1 f., hier S. 1 (»Finanzspritzen«, s. zudem »Konjunkturspritze« in der Überschrift); Arbeitslosigkeit: Bonns Milliardenplan. Wer Arbeitsplätze schafft, wird belohnt. Auch Geld für Straßenbau, Bundesbahn und Steinkohle, in: BILD, Nr. 288, 11.12.1974, S. 1 (»weitere Milliardenspritze […] für den Straßenbau und die Modernisierung der Bahn«). 40 Z. B. Das ist die schönste Nachricht des Jahres: Der Aufschwung kommt doch!, in: BILD, 21.10.1975, S. 2 (eine »bittere Pille […] verpassen die Wirtschaftsexperten den […] Arbeitnehmern« – »Lohnsteigerungen dürfen nur 5,5 bis 6 Prozent betragen«). 41 Z. B. DGB: Die Regierung muß ankurbeln, in: BILD, Nr. 183, 09.08.1974, S. 1 (»Zurückdrehen der Preisschraube«, siehe zudem das Verb »ankurbeln« in der Überschrift). 42 Z. B.: Walter Slotosch, Die Öldruckbremse, in: SZ , Nr. 272, 24./25.11.1973, S. 31 (»die Investitionstätigkeit, der Motor jeder Expansion«); Exportmotor soll 1976 anspringen. Ifo-Prognose: Man wird optimistischer, in: Handelsblatt, Nr. 188, 01.10.1975, S. 1.
Metaphorische Heterogenität als Folge struktureller Komplexität?
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ähnliche wohlbekannte Metaphoriken waren auch im Krisendiskurs der 1970er Jahre anzutreffen, manchmal gar gemeinsam.43 Sie unterstrichen die Persistenz grundlegender Denkfiguren und Semantiken. Insbesondere um Problemlagen festzustellen, wurden Krankheitsdeutungen herangezogen, was abermals das Bild von einer Körperlichkeit des Ökonomischen aktualisierte. So sprach Helmut Schmidt von »Inflation« als »gefährliche[r], ansteckende[r] Krankheit«,44 und als der CDU-Abgeordnete Volkmar Köhler analysierte, die Bundesrepublik leide sowohl an einer fehlenden Auslastung des Produktionspotenzials als auch an mangelndem Wachstum bei Investitionen, bezeichnete er dies als »zwei Krankheitserscheinungen«, für die es »unterschiedliche[r] Therapie[n]« bedürfe.45 Wie 1966/67 transportierten solche bildhaften Ausdrücke gleichwohl noch immer die Einschätzung, mit den richtigen politischen Impulsen sei die Krise zu überwinden. Das Potenzial zu anders ausgerichteten, zumindest uneindeutigen Gebrauchsweisen offenbarten indes auch diese Metaphern. Denn auf die Sprachbilder konnte, wenngleich dies sehr viel seltener vorkam, auch rekurriert werden, um zu behaupten, dass sie nicht mehr adäquat seien und keine erfolgversprechenden Programmatiken repräsentierten. Ein prägnantes Beispiel lieferte Franz Josef Strauß. Erkennbar angebotspolitisch orientiert argumentierte er Ende 1974, »[v]iel wichtiger als Investitionsspritzen [sei] die Verbesserung der Ertragslage der Unternehmen und ihrer Liquidität aus sich selbst heraus«; eine »Spritze« wirke nur kurzfristig als »Aufputschmittel«, trage aber nicht zu einer mittel- und langfristig verbesserten Wirtschaftslage bei.46 Mithin war es möglich, sich der gleichen Metaphern zu bedienen, die zur Legitimierung von Konjunkturprogrammen nutzbar waren, um für eine programmatisch vollkommen entgegengesetzte Richtung zu werben. Insgesamt zeugten die sprachbildliche Vielfalt, ihre teils uneinheitlichen Gebrauchsweisen sowie einzelne Reflexionen über die Eignung der metaphorisch repräsentierten Ideen von der speziell gegenüber 1966/67 deutlich gesteigerten Heterogenität auf der Ebene basaler semantischer Strukturen. Ein Grund für die wirtschaftspolitische Vielstimmigkeit und partielle Desorientierung ist auch hier zu suchen.
43 Z. B. Arbeitslosigkeit: Bundesregierung macht neue Milliarden locker, in: BILD, 09.11.1974, S. 1 (»Konjunktur mit einer Milliardenspritze ankurbeln«). 44 Zit. nach: Franz Josef Strauß [sic!], Bundestag, 7. WP, 61. Sitzung, 25.10.1973, S. 3489 A. 45 Köhler, Bundestag, 7. WP, 149. Sitzung, 20.02.1975, S. 10353 D. 46 Franz Josef Strauß, Bundestag, 7. WP, 137. Sitzung, 13.12.1974, S. 9437 A.
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Dominante Semantiken und fluide Übergänge
3. ›Opfer‹- und ›Vernunft‹-Semantiken Die Anfangsphasen der Krisen 1966/67 und ab 1973 und die Krise der frühen 1930er Jahre wiesen in sprachlich-appellativer Hinsicht eine eindrückliche Gemeinsamkeit auf.47 Sowohl ab Sommer 1930 als auch im Spätherbst 1966 und im Spätherbst 1973 kamen zeitgleich mit der Verbreitung von Krisendeutungen ›Opfer‹-Semantiken auf. Obgleich die Ursachen und Entstehungskontexte der Krisen sich merklich unterschieden, provozierten sie stets sogleich Aussagen, die von jeder und jedem Einschränkungen verlangten. Individueller Verzicht – das Erbringen von ›Opfern‹ – wurde reflexhaft als Notwendigkeit zur Überwindung der Krise, wenigstens zur Minderung des potenziellen Krisenausmaßes gefordert und gepriesen. Was unter diesen ›Opfern‹ genau zu verstehen war, blieb mitunter im Detail unpräzisiert. 1966/67 zielten die Forderungen darauf, aufgrund und zur Überwindung der gegenwärtigen Situation persönliche finanzielle Einbußen zu akzeptieren.48 In den 1930er Jahren versuchten Politiker, über ›Opfer‹-Formulierungen Verständnis für gravierende Wohlstandsminderungen als Teil der erstrebten umfassenden Kostensenkung zu wecken.49 Die in der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre ebenfalls übliche Verwendung von ›Opfer‹-Semantiken in beschreibender oder anklagend-skandalisierender Absicht war 1966/67 kein tragendes Diskurselement – und sollte es auch in den 1970er Jahren nicht in vergleichbarem Ausmaß werden. Wie die traditionellen Rundfunkansprachen verdeutlichten, bezogen sich die ›Opfer‹-Semantiken, die am Jahresende 1973 verbreitet waren, indes dennoch nicht ausschließlich auf den Aspekt eines finanziellen Zurücksteckens. Gustav Heinemann forderte, »jeder einzelne« müsse »zur Unterstützung von Maßnahmen bereit [sein], die schmerzlich sein werden und Opfer fordern«. Der Bundespräsident bezog diese Mahnung, wie bereits erläutert,50 sehr weit gefasst auf »eine Überprüfung unserer Vorstellungen vom Sinn und Wert unserer Lebensweise«.51 Auch Willy Brandt sprach von »gewisse[n] Opfer[n]«, die zu erbringen seien, sah in der neuen ›Opfer‹-erfordernden Situation gleichwohl auch eine »Chance« zu einem verständnisvolleren und sozialeren Miteinander zu gelangen.52 Für den Krisendiskurs in den 1970er Jahren war – hier lag der gravierende Unterschied zu den 1930er und 1960er Jahren – ein zweiter semantischer Strang 47 Siehe auch Kap. XIII .1. 48 Siehe Kap. VIII .3 49 Siehe Kap. IV.3.1. 50 Vgl. Kap. XIII .1. 51 Heinemann, Weihnachtsansprache 1973 des Bundespräsidenten, S. 2. 52 Vgl. Brandt, Ansprache des Bundeskanzlers zum Jahreswechsel 1973 / 74, S. 5 f., Zitate S. 5.
›Opfer‹- und ›Vernunft‹-Semantiken
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von entscheidenderer Bedeutung. Denn Semantiken der Einschränkung kamen nicht allein in Form einer ›Opfer-Erbringungs‹-Rhetorik auf, und sie waren nicht beschränkt auf einen überschaubaren Zeitraum. Als beständiger erwies sich eine zweite Form, individuellen Verzicht einzufordern: ›Vernunft‹-Semantiken. Anfangs konnte, sich ›vernünftig‹ zu verhalten, durchaus noch bedeuten, schlicht den Vorschlägen und Verordnungen zum Einsparen von Energie zu folgen.53 Doch bereits unmittelbar nach Krisenbeginn etablierte sich ein weiterer, sehr viel beständigerer Objektbereich von ›Vernunft‹-Forderungen. Er bezog sich auf finanziellen Verzicht und meinte, anders als 1966/67, nicht eine zeitlich begrenzte, primär situationsbezogene, sondern mittel- bis langfristige Einschränkung. Erbringen sollten sie zuvorderst abhängig Beschäftigte. Entsprechend wurden Rufe nach ›vernünftigem‹ Verhalten pragmatisch eingesetzt, um Forderungen in Tarifverhandlungen zu begrenzen. Zu Krisenbeginn konnten sie gelegentlich noch in terminologisch älteren, bekannten Gewändern erscheinen. So war im Januar 1974 in der SZ zu lesen, der Kanzler habe »Arbeitnehmer zu einer angesichts der wirtschaftlichen Lage maßvollen Lohnpolitik aufgefordert«.54 Parallel eingesetzt und zu diesem Zeitpunkt bereits verbreiteter waren allerdings ausdrücklich auf die ›Vernunft‹ abzielende Formulierungen. Hans Friderichs wurde im gleichen Kontext zitiert mit der Mahnung »an alle Bürger […], sich in diesem Jahr vernünftig zu verhalten. Nur dann könnten die wirtschaftlichen Probleme gemeistert werden.«55 Konkret bedeutete ›vernünftiges‹ Verhalten für Friderichs, keine Tarifabschlüsse mit Steigerungsraten von mehr als zehn Prozent einzugehen.56 Eine besondere Eignung zur Durchsetzung politischer Forderungen zogen ›Vernunft‹-Semantiken aus den unausgesprochen mit-transportierten Aussagen, speziell dem naheliegenden Gegenbegriff. Ein Verhalten, das den Einschränkungsforderungen zuwider lief, zog automatisch den Makel des ›Unvernünftigen‹, letztlich des ›Nicht-Sachgerechten‹ auf sich. Gelegentlich wurde dies sogar ausdrücklich formuliert, speziell von der oppositionsnahen, konservativen Presse, die ihre eigene politische Position in dieser Frage mit Vehemenz vertrat.57 53 So z. B. ebd., als Brandt »dank[te] für die Einsicht und Vernunft, mit der Sie in den letzten Wochen die Maßnahmen der Bundesregierung unterstützt haben«, unter anderem die »Autofahrer[ ], die sich mit Disziplin an die unumgänglichen Fahrbeschränkungen gehalten haben«. 54 Arbeitnehmer zum Maßhalten aufgefordert. Brandt hält Lohnforderungen im Öffent lichen Dienst für überhöht, in: SZ , Nr. 21, 25.01.1974, S. 1 f., hier S. 1. 55 Minister Friderichs: Alle müssen vernünftig sein, in: BILD, Nr. 32, 07.02.1974, S. 1. 56 Vgl. ebd. 57 So bezeichnete ein FAZ-Kommentar die Chancen für einen dauerhaften Aufschwung als äußerst gering, falls es zu deutlichen Lohnsteigerungen komme, wobei er diese Bedingung mit den Worten »[w]enn solche Unvernunft sich durchsetzte« formulierte; siehe: Gedämpfte Töne, in: FAZ , 23.02.1976, S. 1. Als weiteres Beispiel für die deutlichst kundgetane Position der FAZ in dieser Frage siehe: Ernst Günter Vetter, Das Schlagwort
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Dominante Semantiken und fluide Übergänge
In dieser Hinsicht lassen sich ›Vernunft‹-Semantiken als eine abgemilderte Form von ›Sachzwang‹-Argumentationen interpretieren. Gemeinsam war ihnen nicht nur der Verweis auf Rationalität, sondern ebenso eine unterstellte Eigenlogik (hier des volkswirtschaftlichen Wohlergehens), der man sich zu fügen habe.58 In der Tariffrage zeigte sie sich in einer – bisweilen auch so explizierten59 – eingängigen Argumentationskette: Demnach gelte: ›Wer unvernünftig hohe Lohnerhöhungen beschließt, heizt die Inflation weiter an, überfordert die öffent lichen Haushalte, vor allem aber Unternehmen, und gefährdet Wachstum und Arbeitsplätze.‹ Ein Unterschied zum ›Sachzwang‹ bestand in den eingestandenen Spielräumen. Nicht eine einzige, ›rational betrachtet zwangsläufig alternativlose‹ Handlungsoption stand im Raum, sondern theoretisch waren mehrere Entscheidungen möglich, wenngleich nicht unbedingt zweckdienlich. Es ging eher um ein bestimmt formuliertes ›Soll‹ denn um ein unbedingtes ›Muss‹.60 Es griffe zu kurz, wollte man diese Beobachtungen als ein hervorstechendes, aber isoliertes Sprachphänomen in einem begrenzten Themenfeld verstehen. Vielmehr ordneten sich die ›Vernunft‹-Semantiken sowohl in die Vorbereitung der Hinwendung zur Angebotspolitik als auch in die Forderungen nach einschneidenden Begrenzungen öffentlicher Ausgaben ein. Beispielsweise behauptete Hans Schuster in der SZ , zur mittelfristigen Überwindung der Deckungslücke im Bundeshaushalt bleibe »nur die harte Alternative: Noch mehr Steuern oder sparsamer – und das heißt: vernünftiger – wirtschaften im öffentlichen Dienst.«61 Versucht man, den Argumentationsmodus auf einer abstrakten Ebene zu fassen, zeigen sich Gemeinsamkeiten mit sogenannten Sinnverkehrungsargumenten.62 Schließlich wurde in den Äußerungen unterstellt, wer eine explizite Wohlstandserhöhung anstrebe, gefährde den Wohlstand des Einzelnen, vor allem
58 59 60 61 62
»Lohnpause«, in: FAZ , Nr. 221, 24.09.1975, S. 1 (»Die Lohnrunde hat ihren ersten Schatten vorausgeworfen. […] Schon die Vorgeplänkel lassen erkennen, wie schwierig es wieder werden wird, vernünftigen Überlegungen eine Chance zu geben. Zwar haben einige Gewerkschaftsführer gelegentlich Einsicht in die veränderte Lage unserer Volkswirtschaft angedeutet; doch die offiziellen Reden vor Mitgliedern verraten nach wie vor eine aggressive Einstellung, die alle Opfer von der eigenen Klientel wegwenden und anderen zumuten möchte.«) Zur Sprachformel des ›Sachzwangs‹ vgl. Steinmetz, Anbetung und Dämonisierung, zu den hier betonten Merkmalen bes. S. 293–295. Z. B. Minister Friderichs: Alle müssen vernünftig sein, in: BILD, 07.02.1974, S. 1. Vgl. auch Steinmetz, Anbetung und Dämonisierung, S. 295 f. Schuster, Der unbezahlbare Sozialstaat, in: SZ , 10.10.1975, S. 4. Der Soziologe Albert O. Hirschmann, Denken gegen die Zukunft, S. 24, versteht unter einer Sinnverkehrungsthese eine Behauptung, der zufolge eine »Entscheidung […] über eine Kette unbeabsichtigter Folgen zum genauen Gegenteil dessen führen [werde], was erklärtermaßen beabsichtigt sei.«
›Opfer‹- und ›Vernunft‹-Semantiken
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perspektivisch. Dem Instrument der Einkommenspolitik zur Ermöglichung von finanziellem und sozialem Aufstieg durch beträchtliche Reallohnsteigerungen wurde so argumentativ der Boden entzogen, neoliberalen Argumentationsweisen hingegen der Weg geebnet. Eine in der Bezugnahme auf verschiedene der erwähnten Diskursstränge besonders eindrückliche Äußerung fand sich bereits in der (teilweise schon zitierten) Neujahrsansprache des Bundeskanzlers am 31. Dezember 1974. Darin erklärte Schmidt: »Dieses neue Jahr wird uns wieder voranbringen, wenn erstens die Bürger den Staat nicht finanziell überfordern, wenn zweitens die Unternehmen sich in ihrer Preisgestaltung vernünftig bewegen und wenn drittens unsere Gewerkschaften und die Arbeitgeber beim Aushandeln von Löhnen und Gehältern sich vernünftig verhalten. Wer zu hoch abschließt, der übersteigert die Produktionskosten, der gefährdet damit die Erträge der Unternehmen. Und das gilt natürlich auch für den öffentlichen Dienst und für den Staat. Jedermann muß wissen, die Erträge von heute sind die Investitionen von morgen. Und die Investitionen von morgen sind die Arbeitsplätze und die Masseneinkommen von übermorgen.«63
Wie verbreitet dieser Modus des Argumentierens war, der auf die Formel des ›Gewinns durch Verzicht‹ hinauslief, belegen zahlreiche weitere Beispiele, in denen auf ›Vernunft‹ oder verwandte Termini aus dem Begriffsfeld wie ›Angemessenheit‹, ›Augenmaß‹ oder ›Einsicht‹ rekurriert wurde. Er zeigte sich, wenn der Bundeswirtschaftsminister seine »Erwartung« kundtat, »daß sich in großen Bereichen der Wirtschaft die Sozialpartner von gesamtwirtschaftlicher Vernunft und von der Notwendigkeit leiten lassen, zur Belebung der Investitionstätigkeit und des Wirtschaftswachstums und damit zum Abbau der Arbeitslosigkeit beizutragen«,64 die Bundesbank verlauten ließ, »[b]ei auch künftig angemessenen Lohnerhöhungen würden nicht nur gefährdete Arbeitsplätze erhalten, es werde den Unternehmen auch möglich sein, freie Stellen wieder zu besetzen«65 oder Bundespräsident Walter Scheel mahnte, »[u]nsere relativ gute Wettbewerbsposition hängt von vielen Faktoren ab, […] nicht zuletzt von der Vernunft und vom Augenmaß der für die Wirtschaftspolitik Verantwortlichen – auch bei Lohnverhandlungen«.66 Schuldzuweisungen, denen zufolge ein unangemessenes Verhalten in der Vergangenheit die Krise mitverursacht habe, waren ebenfalls möglich. Franz Thoma argumentierte in der SZ – sich zugleich des Feldes der Krankheits- und Körpermetaphoriken bedienend –, der »nicht ungesund[e]« Zwang 63 64 65 66
Schmidt, Ansprache des Bundeskanzlers zum Jahreswechsel 1974/75, S. 5 f. Friderichs, Bundestag, 7. WP, 149. Sitzung, 20.02.1975, S. 10278 D. Bundesbank sieht Anzeichen für eine Belebung, in: SZ , 18.12.1975, S. 19. Scheel, Weihnachtsansprache 1975 des Bundespräsidenten, S. 2.
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Dominante Semantiken und fluide Übergänge
zur Rationalisierung führe zu einer begrüßenswerten »Entschlackung der Privatwirtschaft«, die allerdings nur dann erfolgversprechend sei, »wenn sich die Erlössituation bessert [und] die Gewerkschaften nach ihren bösen Fehlern der Vorjahre einsichtsvoll bleiben«.67
67 Thoma, Die Fata Morgana des Aufschwungs, in: SZ , 24./25.05.1975, S. 4.
XV. Einzelbetrachtungen: Akteure, Strategien und Meta-Deutungen
Das abschließende Kapitel richtet das Augenmerk auf sechs Komplexe. Zunächst behandelt es grundlegende Sprachstrategien der Politiker, die im Unterschied zu den beiden zuvor behandelten Krisen eine glasklare Trennung zwischen Regierungs- und Oppositionsnarrativen erkennen lassen (XV.1). Anschließend wird die Bedeutung vorangegangener Krisen als Orientierungsreferenz im Krisen diskurs erörtert (XV.2). Sodann wird der Blickwinkel gezielt einmal geweitet. In den Mittelpunkt rückt die Frage, ob der seit Herbst 1973 ebenfalls virulente Kanzlerkrisendiskurs und der hier untersuchte Krisendiskurs ineinandergriffen und inwiefern Helmut Schmidt kurz- und langfristig von beiden Krisen profitieren konnte (XV.3). Nach dieser detaillierteren Beschäftigung mit zwei Akteuren kehrt das folgende Unterkapitel zu einer allein historisch-semantischen Perspektive zurück. Es behandelt Mechanismen der Raumkonstruktion, die die Krise als gleichzeitiges Nebeneinander eines bundesdeutschen, transnationalen und globalen Ereignisses entwarfen (XV.4). Schließlich wird die Frage angerissen, wie sich der Wirtschaftskrisendiskurs in andere zeitgenössische Umbruchs- und Krisendeutungen einschrieb (XV.5–XV.6).
1. Narrative von Regierung und Opposition Ob die Schärfe der parteipolitischen Auseinandersetzung in der Bundesrepublik in den 1970er Jahren ihren Höhepunkt erreichte oder diesen schon in den 1950er und frühen 1960er Jahren erreicht hatte, ist eine Frage, die man unterschiedlich beantworten kann. Unzweifelhaft aber waren die ›langen 1970er Jahre‹ ab 1969 eine Periode klarer Polarisierung.1 Dazu trug bei, dass die Konfrontation sich nicht allein in harten Sachauseinandersetzungen, zum Beispiel in der zur Grundsatzfrage stilisierten Ostpolitik, oder Schlagabtäuschen profilierter 1 Ein breit aufgefächertes Panorama der politischen Konflikt- und polarisierenden Themenfelder in den 1970er Jahren entwirft Mergel, Zeit des Streits.
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Einzelbetrachtungen
Persönlichkeiten erschöpfte. Sondern sie zeichnete sich ebenso durch den Kampf um Begriffe und Narrative aus. Diese semantischen Kämpfe waren den historischen Akteuren durchaus bewusst. Gerade für die sich unterlegen fühlenden und als Opfer einer »politisch-semantischen Doppelstrategie« betrachtenden Unionsparteien2 entwickelte sich die Frage, wie »Begriffe besetzt« werden können, zu einem wiederholt diskutierten Ziel.3 Man kann diese Debatten als ein weiteres Beispiel für die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gesteigerte politische Sprachreflexion werten. Speziell der seit 1973 amtierende CDU-Generalsekretär Kurt Biedenkopf und der langjährige bayerische Kultusminister Hans Maier (CSU) lenkten die Aufmerksamkeit auf ihrer Meinung nach bestehende kommunikative Barrieren, die von der (Neuen) Linken, Intellektuellen und der sozialliberalen Koalition aufgebaut worden seien und die Mehrheitsfähigkeit der Unionsparteien gefährdeten.4 Sie zu überwinden war Teil der Strategie, die vielzitierte ›Tendenzwende‹ zu erreichen.5 Biedenkopf, Maier und eine eigens eingerichtete »Projektgruppe Semantik«6 arbeiteten daran, die Deutungshoheit über Begriffe zurückzugewinnen, die von den politischen Gegnern – hier offenbarte sich ein verblüffend naives Verständnis von Semantik und semantischem Wandel – ihrer ›eigentlichen‹ Bedeutung beraubt worden seien.7 Die prominentesten Beispiele für solche Begriffe waren ›Fortschritt‹, ›Gesellschaft‹ und ›Reform‹, aber auch spezielle Schlüsselbegriffe politischer Debatten wie ›Chancengleichheit‹, ein Terminus, dem die Union, um nur ein Beispiel zu konkretisieren, ›Chancengerechtigkeit‹ gegenüberstellte.8
2 Biedenkopf, Politik und Sprache, S. 23. 3 Vgl. Geyer, War over Words, bes. S. 294–309, Zitat z. B. S. 294. 4 Eine Zusammenfassung ihrer Ideen mündete 1975 in den Aufsatz von Biedenkopf, Politik und Sprache. 5 Zum schillernden Begriff der ›Tendenzwende‹, der ab 1973 Verbreitung fand, anfangs einen klar wirtschaftlichen Bezug (Umschwung in der Inflationsentwicklung) aufwies und sich zu einer heterogenen Beschreibungskategorie für verschiedene Prozesse wider dem dominierenden (›linken‹) Zeitgeist entwickelte, siehe konzise Hoeres, Von der »Tendenzwende«, S. 95–101. 6 Den Stellenwert dieser Arbeitsgruppe sollte man indes nicht überschätzen; sehr kritisch zur (mangelnden) fachlichen Qualifikation und zum mageren Ertrag der »Projektgruppe«, der anfangs nicht ein einziger Linguist oder Philologe angehörte und die 1977 ihre Arbeit wieder einstellte: Klein, Kann man »Begriffe besetzen«?, S. 48 f., Anm. 3. Allerdings ist genauso festzuhalten, dass mit der Gründung der von Sommer 1974 an für zwei Jahre bestehenden CDU-nahen Einrichtung »Sematest. Insititut für Kommunikations- und Sprachforschung« ein deutlicher Verwissenschaftlichungsschub beabsichtigt wurde, vgl. Steber, Hüter der Begriffe, S. 220–229, hier bes. S. 224–228. 7 Vgl. Geyer, War over Words, S. 299–309. 8 Vgl. ebd., S. 299, 306, 309. Biedenkopf, Politik und Sprache, S. 28, führt selbst als weitere umkämpfte, von der »SPD […] besetzte Begriffe« ›Freiheit‹, ›Friede‹, ›Solidarität‹, ›Mitbestimmung‹, ›Mündigkeit‹ und ›Emanzipation‹ an.
Narrative von Regierung und Opposition
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Der Kampf um Begriffe – das sollten diese skizzenhaften Ausführungen zeigen – als Folge des Bewusstseins für die von ihnen ausgehende Macht war für Politiker in den 1970er Jahren ein präsentes Thema; ihn zu gewinnen, ein nachhaltig verfolgtes Ziel. Dies galt keineswegs nur für die Ebene übergreifender parteipolitischer Strategieentwicklung oder Diskussionen über abstrakte Schlüsselbegriffe im öffentlichen Sprachgebrauch. Vielmehr schlug es sich in den thematischen Sachdebatten in einem unnachgiebig geführten Streit nicht nur um einzelne Termini, sondern kohärente Narrative nieder. Die parteipolitisch konnotierten Äußerungen im Wirtschaftskrisendiskurs lassen sich als Beispiel für die vehementen Versuche lesen, geschlossene Erzählungen zu einem Themenund Problemfeld zu verbreiten und so die Deutungshoheit über dieses Feld zu erlangen. Angesichts der wahlmitentscheidenden Relevanz, die in der Bundesrepublik den Themen Wirtschaft und Finanzen zukam (und zukommt), war der Kampf um die Narrative im direkten Sinn ein politischer Machtkampf. In Form dieser Narrative erhielt die Zeitebene der Vergangenheit ihre Repräsentation im Krisendiskurs. Während die bisherigen Ausführungen zur ›kleinen Weltwirtschaftskrise‹ abermals die herausragende Bedeutung insbesondere der Zukunft, aber auch der Gegenwart für Krisendiskurse vor Augen geführt haben, zeigte sich in den Ansätzen übergreifender Erklärungen die Dimension der Vergangenheit. Indem sie als Begründungsinstanz für Argumentationen angeführt wurde, geriet sie zu einem der Kampfplätze um Deutungshoheit.
1.1
Blick ›nach draußen‹: Synchrone Vergleiche als Argumente bei SPD und FDP
Eine Strategie, ebendiesem Kampfplatz zu entkommen, konnte darin bestehen, diachron vergleichende Diskussionen möglichst zu vermeiden. SPD und FDP versuchten, konsequent diesen Weg zu wählen. Ihre Argumente waren nicht auf einen Vergleich der wirtschaftlichen Situation vor und nach 1973 oder gar vor und nach 1969 ausgelegt. Vielmehr unterstellten sie fundamental veränderte weltwirtschaftliche Gegebenheiten, denen sich die Bundesrepublik zu stellen habe und mit denen sie sich erfolgreicher arrangiere als nahezu alle anderen Industriestaaten. Ihre Kommunikationsstrategie basierte auf drei Ansatzpunkten: erstens dem erwähnten Vermeiden diachroner Vergleiche, zweitens stattdessen angeführter synchroner Vergleiche mit anderen westlichen Industriestaaten, drittens dem offensiven Gebrauch von ›Welt‹-Semantiken, etwa in Form der ›Weltwirtschaftskrise‹, ›Weltinflation‹ oder ›Weltrezession‹. Dem von der Unions-Opposition erhobenen Vorwurf, die Regierung habe vor allem das Inflationsproblem zu spät erkannt, begegnete diese mit dem Verweis darauf, ein Gegensteuern sei erst nach dem endgültigen Übergang zum
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Einzelbetrachtungen
Floating im Frühjahr 1973 möglich gewesen und sodann energisch betrieben worden.9 Grundsätzlich strebten SPD und FDP an, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in der Bundesrepublik als Folge einer transnationalen Entwicklung zu erklären.10 Im Spätherbst 1973 leuchtete dies unmittelbar ein, schließlich war das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Ölexport- und westlichen Importstaaten offenkundig. Ebenso war die Versorgungssituation in anderen Staaten tagtäglich Gegenstand der Presseberichterstattung; dass es sich um ein Ereignis von nationsübergreifendem Ausmaß handelte, bedurfte keiner gesonderten Begründung. In den folgenden Krisenphasen erforderte es größere Anstrengungen, eine solche Sichtweise aufrechtzuerhalten. Um dies zu erreichen, bemühten die Vertreter der Regierungsparteien zum einen die Vergleiche mit anderen Industrie ländern, zum anderen die erwähnten ›Welt‹-Semantiken. Ohne dass damit unmittelbar konkretisiert wurde, auf welche Weise globale Interdependenzen ursächlich für die von den Bonner Politikern zu lösenden Schwierigkeiten waren, dienten derart konstruierte ›Welt‹-Bilder der Regierung als argumentative Entlastung. Sie ließen die ökonomischen Schwierigkeiten Westdeutschlands als Element einer räumlich sehr viel größeren Entwicklung erscheinen. So erklärte Helmut Schmidt im Herbst 1975: »[Ich] stelle […] die Weltwirtschaft nicht als Entschuldigung an die Spitze, sondern vielmehr deshalb, weil die Weltkrise der Zahlungsbilanzen von neun Zehnteln aller Staaten der Welt, des Währungssystems, der Ölpreise, der Terms of [T]rade im Welthandel, die Rezession des Welthandels und der Weltbeschäftigung die entscheidenden Daten sind, mit denen sich alle Regierungen der Welt – und natürlich auch wir selbst – nun schon seit fast zwei Jahren ohne Pause auseinanderzusetzen haben.«11
Demnach zeigten sich in der Bundesrepublik lediglich Probleme, mit denen ›die ganze Welt‹ konfrontiert sei und die nicht – oder nur zu kleinen Teilen – von der Bundesregierung zu verantworten seien.12 Im Gegenteil: Die Vergleiche mit anderen Ländern sollten das in Relation erfolgreiche Handeln der Bundesregierung 9 Vgl. z. B. Otto Graf Lambsdorff, Bundestag, 7. WP, 116. Sitzung, 19.09.1974, S. 7780 A. 10 Zur sprachlichen Konstruktion von Transnationalität in diesen Zusammenhängen siehe Kap. XV.4. 11 Helmut Schmidt, Bundestag, 7. WP, 184. Sitzung, 17.09.1975, S. 12885 C – 12885 D. 12 Z. B. auch Otto Graf Lambsdorff, Bundestag, 7. WP, 149. Sitzung, 20.02.1975, S. 10343 B – 10343 C (»Der Jahreswirtschaftsbericht hat in Erkenntnis dessen, was sich in der Weltwirtschaft inzwischen vollzogen hat, die Projektionen vom Herbst nach unten korrigiert. […] Natürlich liegt der Grund für eine solche Entwicklung weitgehend in der Abhängigkeit von der Weltwirtschaft. Es bleibt doch dabei, daß wir in außenwirtschaftliche Zusammenhänge eingebunden sind.«)
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herausstellen.13 Wenn Politiker von SPD und FDP beispielsweise anführten, die Inflationsrate in der Bundesrepublik sei niedriger als in nahezu allen anderen Industriestaaten, verwiesen sie nicht nur erneut darauf, dass auch andere Staaten mit hohen Inflationsraten kämpften, sondern dass die Stabilisierungsbemühungen der Regierungskoalition messbare Erfolge zeitigten.14 Diese Deutungs- und Kommunikationsstrategien einzig auf eine Entlastungs taktik zurückzuführen, wäre eine verkürzende Darstellung. Obgleich die pragmatische Dimension bei der Entwicklung und Nutzung eines solchen Narrativs auf der Hand liegt, verblieben die Aussagen nicht auf der Debatten- und Sprachoberfläche, sondern zeigten sich auch in der Ausrichtung der Wirtschaftspolitik. Seit seinem Amtsantritt war Helmut Schmidt bemüht, ein koordiniertes wirtschafts- und währungspolitisches Vorgehen der Staaten zu organisieren – sowohl in der Gruppe der westeuropäischen Länder als auch unter den führenden Industrienationen. Unterstützt vom französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing drängte er – wie sich seit dem ersten Weltwirtschaftsgipfel von Rambouillet Ende 1975 zeigte: erfolgreich – auf einen regelmäßigen wirtschaftspolitischen Austausch.15 Diese Politik passte zu einem weiteren Aussagemuster der Koalitionsvertreter, mit dem sie seit Anfang 1974 vor der Gefahr eines ›Rückfalls in den Protektionismus‹ oder handelspolitischen Bilateralismus warnten.16 Auch hatte Schmidt in einer wenige Wochen vor seinem Aufstieg 13 Exemplarisch: Willy Brandt, Bundestag, 7. WP, 93. Sitzung, 02.04.1974, S. 6247 A – 6247 B (»Wer ehrlich ist, der muß zugeben, daß wir nicht schlechter, sondern besser dran sind als die Menschen in allen vergleichbaren westlichen Staaten – von den anderen ganz abgesehen. Wie alle Industriestaaten […] leiden wir unter der Geldentwertung, den hohen Raten der Preissteigerung. Aber die Bundesrepublik Deutschland befindet sich […] trotz aller Schwierigkeiten am Ende des internationalen Geleitzuges. […] Was die Beschäftigungslage, die Vollbeschäftigung, angeht, so zählen wir auch hier zu den Staaten der westlichen Welt, die sich von anderen vorteilhaft abheben.«) Hans Apel, Bundestag, 7. WP, 149. Sitzung, 20.02.1975, S. 10302 A (»Wenn auch die wirtschaftliche Lage angespannt ist, so ist sie doch, verglichen mit der Lage anderer Industrieländer, beneidenswert. Diese Aussage stammt nicht von mir, sondern sie stammt von der ›Financial Times‹ und wurde Ende 1974 vom amerikanischen Handelsministerium wiederholt.«); Hans Friderichs, 1976 – hinein mit Zuversicht!, in: BILD, Nr. 301, 29.12.1975, S. 1 f., hier S. 2 (»Es ist uns 1975 besser gegangen als fast allen unseren Nachbarländern und unvergleichlich viel besser als dem Rest dieser Welt.«). 14 Z. B. Ehrenberg, Bundestag, 7. WP, 137. Sitzung, 13.12.1974, S. 9450 A (»Mit all diesen wohldosierten Maßnahmen ist es der Bundesrepublik gelungen, auf jener traurigen Weltrangliste der internationalen Preissteigerungen den ehrenvollen letzten Platz unangefochten zu belegen, und wir werden das mit diesem Programm auch weiterhin tun.«). 15 Vgl. auch Rebentisch, Gipfeldiplomatie und Weltökonomie. 16 Exemplarisch: Brandt, Bundestag, 7. WP, 67. Sitzung, 29.11.1973, S. 3911 C – 3911 D (»Um Wachstum und Wohlfahrt auch bei uns zu sichern, brauchen wir Zusammenarbeit und Arbeitsteilung. Deshalb darf […] 1974 nicht zum Jahr des Protektionismus werden. Die Bemühungen um die Weiterentwicklung des internationalen Handels und um die Reform
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vom Finanzminister zum Bundeskanzler verfassten, amtlich geheim gehaltenen, aber Mitte Mai 1974 durch einen ZEIT-Artikel bekannt gewordenen Denkschrift die »aktuelle[ ] ökonomische[ ] Problematik« unter einem weltwirtschaftlichen Blickwinkel zu analysieren versucht.17 Mithin wäre es absurd, das permanente Akzentuieren weltwirtschaftlicher Zusammenhänge einzig als Strategie semantischer Verschleierung zu deuten.18 Vielmehr hielt Schmidt auch in seiner Denkschrift fest: »Die Weltwirtschaft befindet sich in einer bisher in Friedenszeiten nie erlebten tiefgreifenden Inflationskrise, die von Vorboten nationalstaatlich-egoistischer Eingriffe in den internationalen Handel und von rezessiven Erscheinungen begleitet ist. Der Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems war nur der Prolog des Dramas. Die Ölkrise war Beginn des ersten Aktes; weitere Rohstoffkartelle könnten folgen. Der zweite Akt könnte von weitgehendem Rückfall in handelspolitischen Bilateralismus (Anfang in Italien!), von scheiternden Autarkieversuchen, und Stagnation oder gar Rückgang der Realeinkommen in den Industriestaaten und von zunehmendem Elend rohstoffarmer Entwicklungsländer gekennzeichnet sein. Bei einem solchen Verlauf würden in einem dritten Akt die demokratischen Strukturen in den Industriegesellschaften zerbrechen. […] Es ist dies keine apokalyptische
des Weltwährungssystems müssen sich gerade und besonders auf dem Hintergrund einer abflachenden Weltkonjunktur bewähren.«); Lambsdorff, Bundestag, 7. WP, 101. Sitzung, 20.05.1974, S. 6670 B (»Ich darf für meine Fraktion sagen, daß wir dem wirtschaftspolitischen Teil der Regierungserklärung uneingeschränkt zustimmen. Vor allem gilt das für das Bekenntnis zur Marktwirtschaft, das Bekenntnis zum Wettbewerb, die Absage an jedwede Form von Protektionismus.«). Siehe zudem: Helmut Schmidt, Die Folgen der Ölpreis-Explosion. Der Rückfall in einen bilateralen Tauschhandel und ein Abwertungswettlauf sind zu vermeiden, in: Handelsblatt, Nr. 42, 28.02.1974, S. 5. 17 Schmidt, Exposé. Wenig später wurden zentrale Aussagen der Denkschrift öffentlich bekannt: [In einer vertraulichen Studie hat Helmut Schmidt kürzlich für die SPD -Spitze die Ziele und Taktik seiner Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik entwickelt] »Unsicherheit ist Gift«. Wie bei der Bevölkerung die »Angstlücke« geschlossen werden kann, in: DIE ZEIT, Nr. 21, 17.05.1974, S. 26. Insbesondere die von Schmidt als letzter »Akt« für denkbar gehaltene Entwicklungsstufe der Krise, der Zerfall demokratischer Strukturen, rief bei der Opposition deutliche Kritik hervor. Sie sah darin, so Rainer Barzel, Bundestag, 7. WP, 101. Sitzung, 20.05.1974, S. 6665 D – 6666 A, eine unzulässige Übertreibung und unnötige Infragestellung der Belastbarkeit der parlamentarischen Ordnung in der Bundesrepublik. 18 Diese Ansicht stützte jüngst auch Spohr, The Global Chancellor, bes. S. 11–16, indem sie Schmidts Denkschrift in seine grundsätzlichen, konzeptuell international angelegten ökonomischen Überzeugungen einordnete. (Eine abweichende Position vertritt – in einer allerdings politisch partiell tendenziösen Studie – Gérard Bökenkamp, Das Ende des Wirtschaftswunders, hier bes. S. 119–131, der das Anführen weltwirtschaftlicher Zusammenhänge einseitig als Inszenierungs- und rhetorische Entlastungsstrategie Schmidts interpretiert, mit der dieser eigene schwerwiegende politische Fehler habe kaschieren wollen.)
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Vision, sondern eine reale Möglichkeit der Weltwirtschaft.19 […] Wenn die Industrie-Staaten nicht zur Erkenntnis der Notwendigkeit einer solchen international verabredeten, unter internationalem moralisch-politischen Druck verwirklichten Stabilitätspolitik gelangen und ihr nicht gehorchen sollten, könnten viele Länder sehr schnell von einer chaotischen über sie hereinbrechenden austerity gepackt werden.20 […] Gleichwohl: [D]er bisherige ökonomische Gesamterfolg unserer Politik ist sehr viel größer, als er im eigenen Lande gesehen und gemacht wird […]. Daß Springer und Sohl etc. die Vergleiche mit der Preis-, Beschäftigungs- und Wachstumsentwicklung der übrigen Industriestaaten verschweigen und stattdessen schwarz malen, ist selbstverständlich.«21
Die prinzipielle Kongruenz zwischen Schmidts Denkschrift und seinem öffentlichen Argumentieren, die damit verbundenen Versuche, internationale Kooperation anstelle von einseitig bilateralem oder protektionistischem Handeln zu forcieren, und die relative Geschlossenheit, mit der Vertreter der Regierungskoalition das Narrativ verbreiteten, waren ein wichtiger, aber nicht der einzige Faktor, der den Erfolg der Koalition erklärt. Die These, dass die Strategie, auf eine synchrone statt diachrone und globale statt nationale Perspektivierung zu setzen, die Schmidt in der Denkschrift gar dezidiert empfahl,22 Erfolg zeitigte, wird dabei auf zwei Fakten gestützt: zum einen den Eintritt der Möglichkeit, mit dem Slogan ›(Weiterarbeiten am) Modell Deutschland‹ überhaupt in den Wahlkampf 1976 ziehen zu können, zum anderen die Tatsache, diese Bundestagswahl trotz der Folgen der schwersten Nachkriegsrezession gewonnen zu haben, wenngleich nur hauchdünn. Offensichtlich ließ sich eine Mehrheit der WählerInnen davon überzeugen, dass die Bundesrepublik verglichen mit anderen Industriestaaten gut mit den ökonomischen Herausforderungen zurechtkam und diese Herausforderungen – zu welchem Anteil auch immer – weltwirtschaftlich bedingt waren. Zu diesem Eindruck trug bei, dass das von der Regierung vertretene Narrativ nicht alleine stand. Auch der Sachverständigenrat akzentuierte in seinem Jahresgutachten 1975 in einem Kapitel, das er mit »Weltweite Rezession« betitelte, das nationale Volkswirtschaften übergreifende Ausmaß der Wirtschaftskrise.23 Im Zuge der Ölpreiskrise sei den Industrieländern bewusst geworden, dass ihre über
Schmidt, Exposé, S. 31. Ebd., S. 34. Ebd., S. 54. So mahnte Schmidt in der »Schlußbemerkung« – ebd., S. 74 – unter anderem, »nicht auf das Spiel der anderen ein[zu]gehen und sich für ein angeblich zu geringes Maß an Preisdämpfung [zu] entschuldigen, das noch bisher in [der] Weltwirtschaft einzig dasteht«, und forderte: »Im Gegenteil: internationale Vergleiche ziehen!« 23 Vgl. (zum gesamten übrigen Absatz) Sachverständigenrat, Vor dem Aufschwung, S. 17–22.
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mehrere Jahre gepflegte Politik einer Inkaufnahme hoher Inflationsraten sowie die Nutzung der in großem Maße vorhandenen internationalen Liquidität zur Kaschierung von Zahlungsbilanzproblemen nicht fortzusetzen sei. Nachdem die USA, Japan und die Bundesrepublik relativ früh und unter Tolerierung von Beschäftigungseinbußen den notwendigen Umschwung zur Restriktionspolitik vollzogen hätten, seien andere Länder erst im Laufe des Jahres 1974 zu einer solchen Politik übergegangen. Gegen Jahresende hätten sich zyklische und stabilisierungsbedingte Abschwungtendenzen gegenseitig verstärkt, was in den westlichen Industrieländern 1975 zur gravierendsten Nachkriegsrezession geführt habe. Eine einzelne Volkswirtschaft hätte dieser kaum entkommen können, da es infolge der kontinuierlich gestiegenen internationalen Handelsverflechtung schwierig sei, dem globalen Konjunkturverlauf zu entgehen. Nicht nur Expertenmeinungen trugen zur Stabilisierung des Narrativs einer globalen Krise bei. Auch die Presse transportierte deren sowie die Regierungspositionen oder vertrat einen international vergleichenden Blickwinkel.24 Besonders regierungsnahe Organe verteidigten diese Sicht sogar offensiv in Gesprächen mit Oppositionspolitikern.25 Angesichts dessen bedeutete es für CDU und CSU eine beträchtliche Herausforderung, dem Regierungsnarrativ eine eigene Krisendeutung entgegenzustellen.
1.2. Blick zurück: Diachrone Vergleiche als Argumente bei CDU und CSU Die beiden Kernelemente der sozialliberalen Krisenerzählung – die Thesen von weltwirtschaftlichen Ursachen und dem relativen Erfolg der Bundesrepublik – zu widerlegen, war das fundamentale Ziel der Opposition. Allein wahlentscheidend war die wirtschaftliche Lage zwar nicht, gewiss aber eines der maßgeblich mitentscheidenden Themenfelder und daher fortwährend umkämpft. CDU und CSU kaprizierten sich weniger auf Einzelaspekte der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Eine Alternative zur Regierung darzustellen, versuchten sie nur be-
24 Siehe z. B. Franz Thoma, In der Stabilitätspolitik zeigt sich Helmut Schmidt stabil. Aber Gegner aus den verschiedensten Lagern formieren sich / Vom Ziel noch entfernt, in: SZ , Nr. 212, 14./15.09.1974, S. 4 (»Die Bundesrepublik ist mit Inflationsraten schließlich glimpflich davongekommen; sie kommt – im weltweiten Vergleich – selbst jetzt noch gut weg.«) 25 So stellte die ZEIT bei einem Gespräch mit Franz Josef Strauß im Sommer 1976 dessen Diagnosen hoher Arbeitslosigkeit und zerrütteter Staatsfinanzen explizit als erklärende These (und anstelle einer Frage) gegenüber: »Wir hatten eben eine weltweite Rezession gehabt in den letzten zwei Jahren, der sich die Bundesrepublik nicht entziehen konnte.« – Den idealen Kanzler gibt es nicht…Kurt Becker und Diether Stolze sprachen mit Franz Josef Strauß, in: DIE ZEIT, Nr. 26, 18.06.1976, S. 3 f., hier S. 3.
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dingt, indem sie Gegenvorschläge unterbreiteten oder Detailverbesserungen anmahnten. Vielmehr beabsichtigten sie, ein sehr viel grundlegenderes Narrativ zu entwickeln, mit dem das Bild eines anhaltenden Niedergangs seit 1969 transportiert wurde. Dieses Narrativ war nicht zwangsläufig mit einer der beiden konkurrierenden Handlungsstrategien verbunden, zwischen denen die Unionsparteien im Vorfeld der Wahl 1976 lavierten: zum einen der sogenannten Sonthofen-Strategie, von Franz Josef Strauß 1974 bei einer Klausurtagung im oberallgäuischen Sonthofen formuliert, die im Sinne einer Fundamentalopposition jegliche Kooperation mit der Regierung ablehnte, um das Scheitern der Regierung zu erzwingen und die Bundestagswahl einfacher gewinnen zu können; zum anderen einer Strategie bedingter Kooperation mit der Regierung, speziell im Bundesrat, in dem die Unionsparteien über die Mehrheit verfügten, um das Land nicht gänzlich zu lähmen.26 Basis beider Strategien war das Bild eines seit Amtsantritt der sozial liberalen Koalition fortdauernden Niedergangs; ein Eindruck, den nicht nur die Oppositionsparteien pflegten, sondern ebenso die konservativen Organe der Medienöffentlichkeit.27 Zentral für das Narrativ des Niedergangs waren zwei Elemente: erstens Vergleiche mit der Zeit vor 1969, der Regierungszeit christdemokratischer Kanzler, in der die Republik eine ungleich größere ökonomische Prosperität und vor allem Geldwertstabilität erfahren habe; zweitens das permanente Wiederholen argumentativer Versatzstücke und Begriffe, die erklären sollten, wie diese Prosperität seit 1969 verlorengegangen war. Offensiv stellten Unionspolitiker ihre Sichtweise der Regierungserzählung entgegen. Der Fraktionsvorsitzende Karl Carstens erklärte: »Es kommt immer die Argumentation […]: In den anderen Ländern ist die Inflation noch höher als bei uns. Meine Damen und Herren, das ist ein ganz schlechtes Argument. Erstens weise ich darauf hin […]: Es war in den Jahren, in denen die Bundeskanzler Adenauer, Erhard und Kiesinger in diesem Lande regierten, so, daß die Bundesrepublik Deutschland am Ende der Inflationsskala der westlichen Länder stand. […] Deutlicher kann doch wohl nicht dargelegt werden, daß die Tatsache, daß die Bundesrepublik Deutschland am Ende der inflationären Entwicklung steht, nicht ein Verdienst dieser Regierung ist, sondern daß dies das Erbe ist, welches sie von den vorangehenden Regierungen übernommen hat, nur mit dem Unterschied, daß damals die durchschnittliche Preissteigerungsrate unter 2 % lag und jetzt bei 7 %.«28
26 Vgl.: Schildt, »Die Kräfte der Gegenreform[«], S. 466; Bösch, Krise als Chance, S. 299. 27 Vgl. ebd. 28 Karl Carstens, Bundestag, 7. WP, 117. Sitzung, 20.09.1974, S. 7852 B – 7852 C. Sehr ähnlich Philipp von Bismarck, Bundestag, 7. WP, 102. Sitzung, 21.05.1974, S. 6730 B.
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Und Gerhard Stoltenberg, der christdemokratische Ministerpräsident SchleswigHolsteins, argumentierte: »[…][D]ie tieferen Gründe für Rezession und Arbeitslosigkeit lagen vor der Ener gieversorgungskrise, ohne ihre Wirkungen zu verkennen. Sie sind nun auch einmal nicht ausschließlich im internationalen Bereich anzusiedeln, sondern liegen in Fehlentwicklungen der nationalen Politik, die wir auf die Jahre 1969 und 1970 zurückführen müssen. […] Wir haben nach Veröffentlichungen von Sachverständigen heute in der Bundesrepublik […] im Vergleich mit den westlichen Industrieländern die höchste Belastung mit ertragsunabhängigen Steuern, und wir haben auch die Kehrseite eines weiteren […] Ausbaues der Sozialgesetzgebung, eben massiv steigende Sozialabgaben für Betriebe und für Arbeitnehmer.«29
Als Kernproblem machte die Opposition die Inflation aus, die keineswegs primär weltwährungspolitisch verursacht sei. Vielmehr habe die Regierung einen vermessenen »Erwartungshorizont«30 geschürt, mit ihrer finanziell expansiven Reformpolitik das Sozialprodukt überfordert, eine »Inflationsmentalität«31 entstehen lassen und insgesamt das Inflationsproblem zu spät erkannt. Um letzteren Vorwurf zu belegen, verwiesen Oppositionspolitiker mantrahaft auf zwei Zitate Helmut Schmidts, in denen er ›Stabilität als Modewort abgetan‹32 und – in 29 Gerhard Stoltenberg, Bundestag, 7. WP, 149. Sitzung, 20.02.1975, S. 10306 D – 10307 A. 30 Z. B.: Gerhard Stoltenberg, Bundestag, 7. WP, 92. Sitzung, 29.03.1974, S. 6211 B; Strauß, Bundestag, 7. WP, 149. Sitzung, 10284 D – 10295 C, 20.02.1975, S. 10289 A. Besonders prägnant Müller-Hermann, Bundestag, 7. WP, 73. Sitzung, 17.01.1974, S. 4565 C – 4565 D (»Ich glaube, eine ganz entscheidende Ursache für die inflationäre Entwicklung ist, daß gerade diese Regierung einen Erwartungshorizont in der deutschen Öffentlichkeit gesetzt hat, der von vornherein unerreichbar und unerfüllbar gewesen ist, und daß sie dem deutschen Volk suggeriert hat, man könne mit der Politik der inneren Reformen in einer beliebigen Zeit das deutsche Schlaraffenland schaffen.«). 31 Z. B. Hans Katzer, Bundestag, 7. WP, 93. Sitzung, 02.04.1974, S. 6254 C. Exemplarisch für eine Verbindung beider Begriffe siehe – aus der gleichen Bundestagssitzung – Karl Carstens, S. 6243 C – 6243 D (»Die Regierung hat durch großartige Ankündigung von geplanten Reformen, deren Finanzierung in gar keiner Weise gesichert war, den Erwartungshorizont der Bevölkerung erweitert und dadurch eine Inflationsmentalität entstehen lassen.«). 32 Die Opposition bezog sich auf Schmidts Äußerung »Stabilität ist so ein Modewort. Die Besorgnis um die Stabilität bedrängt mich persönlich nicht so sehr wie andere.« – [Reformpolitik] Interview mit Helmut Schmidt, stellvertretender Vorsitzender der SPD, in: Wirtschaftswoche, Nr. 44, 29.10.1971, S. 22–26, hier S. 24. (Er fügte allerdings unmittelbar an: »Es ist doch eine Fehlvorstellung zu glauben, ein so in die Weltwirtschaft verflochtenes Land wie unseres könne außerhalb des Gleichschritts marschieren. Wenn man auf der Welt Inflationsraten hat, die wesentlich über den unsrigen liegen, dann können wir uns eigentlich dazu beglückwünschen.« Insofern könnte man das Zitat ebenso als Erklärung und nicht als Absage an Inflationsbekämpfung interpretieren und bereits das aufgezeigte Narrativ des synchronen Vergleichens und der weltwirtschaftlichen Bedingtheiten erkennen.)
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einer überholten Interpretation der Phillipskurve33 – ›5 Prozent Inflation gegenüber 5 % Arbeitslosigkeit vorgezogen‹34 hatte.35 Argumente, die auf diesen Grundpfeilern fußten, konnten in allerhand einzelne Sachdebatten eingebunden werden. Sie bildeten das wirtschaftspolitische Grundnarrativ der Opposition, das schon vor 1974 geprägt wurde.36 Ein Beispiel: Bereits Anfang Oktober 1973, als der Bundestag den Entwurf eines Gesetzes zur Kompensation von Inflationsfolgen bei der Einkommen- und Lohnsteuer beriet, behauptete Franz Josef Strauß »eine gegenwärtige[ ] wirtschafts- und finanzpolitische[ ] – oder allgemein: konjunkturpolitische[ ] – Situation«, in der »es überhaupt kein Heilmittel mehr [gebe], dessen Anwendung alle genannten volkswirtschaftlichen Ziele – Wachstum, Preisstabilität, Vollbeschäftigung und ausgeglichene Zahlungsbilanz – in optimaler Weise befriedigen würde«.37 Strauß’ zentraler Vorwurf bezog sich auf die Inflationsentwicklung. Dabei denke er »an die Zeit, als [Schmidt] noch das Wort ›Stabilität‹ als ein Modewort abtat«, »versuchte […], die Inflation gewissermaßen als Mittel zur Sicherstellung 33 Die Phillipskurve, in ihrer ursprünglichen Form auf Arbeiten des britischen Wirtschaftswissenschaftlers Alban William Phillips basierend, legte eine bemerkenswert beständige inverse Beziehung zwischen Arbeitslosigkeit und Nominallohnhöhe nahe und ließ die wirtschaftspolitisch relevante Schlussfolgerung zu, mit einer kalkuliert höheren Inflationsrate sei Arbeitslosigkeit einzudämmen. Bereits Ende der 1960er Jahre sah sich diese einfache Interpretation wirtschaftstheoretischer Kritik ausgesetzt, u. a. weil sie Inflationserwartungen nicht miteinbezog und nicht zwischen kurz- und langfristigen Effekten differenzierte. Die heutigen, mehrfach erweiterten Phillipskurven zeigen, dass die behauptete Beziehung langfristig nicht beobachtbar, Arbeitslosigkeit mit dem Zulassen höherer Geldentwertung folglich nicht dauerhaft zu bekämpfen ist – vgl. z. B.: Berlemann, Makroökonomik, S. 169–175, sowie – sehr differenziert und ausgesprochen anschaulich – Clement / Terlau / Kiy, Angewandte Makroökonomie, S. 422–432. 34 Gegenüber der SZ hatte Schmidt erklärt: »[I]ch lehne es ab, Stabilität und Wirtschaftswachstum in einem höheren Rang zu sehen als Vollbeschäftigung. Mir scheint, daß das deutsche Volk – zugespitzt – 5 Prozent Preisanstieg eher vertragen kann als 5 Prozent Arbeitslosigkeit.« – Hans Ulrich Spree, SZ -Gespräch mit Helmut Schmidt. An höheren Steuern kommen wir nicht vorbei…aber 1973 bleiben wir verschont, erklärt der Wirtschafts- und Finanzminister / »Kein Wort über Schiller«, in: SZ , Nr. 171, 28.07.1972, S. 8. 35 Z. B.: Barzel, Bundestag, 7. WP, 101. Sitzung, 20.05.1974, S. 6661 C – 6661 D (»Ohne Inves titionen kein Wachstum; ohne Investitionen keine Arbeitsplatzsicherheit, keine höheren Löhne und kein sozialer Fortschritt. Soweit der Kanzler. So reden Sie nun. Aber als Finanzminister haben Sie doch die Voraussetzung für das alles, nämlich die Stabilität, als ein ›Modewort‹ abgetan; […] Herr Bundeskanzler, Sie haben diese Entwicklung unterlassener Investitionen zu verantworten. […] [W]ir erinnern uns doch alle noch an den Satz: Lieber um 5 % höhere Preise als 5 % Arbeitslose.«); Karl Carstens, Bundestag, 7. WP, 184. Sitzung, 17.09.1975, S. 12900 B (»Sie haben jahrelang, von 1969 bis 1973, Inflationspolitik betrieben nach dem Motto: 5 % Inflation sind mir lieber als 5 % Arbeitslosigkeit. Damit sind Sie einem fundamentalen volkswirtschaftlichen Irrtum zum Opfer gefallen.«). 36 Vgl. auch Bösch, Krise als Chance, S. 299. 37 Strauß, Bundestag, 7. WP, 54. Sitzung, 04.10.1973, S. 3025 B.
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der Vollbeschäftigung darzustellen« und so die »Hänsel-Gretel-Rechnung, 5 % Inflation seien leichter zu ertragen als 5 % Arbeitslosigkeit«, aufmachte.38 Vor diesem Hintergrund ergibt sich eine spannende Beobachtung zum Krisenbegriff. Denn für das Verfallsnarrativ nutzten CDU und CSU gern den Krisenbegriff, indes in Form einer allgemeinen, von der Regierung verursachten Misere. Er sollte ein strukturelles Versagen der Regierungsparteien bezeichnen. Den von der Regierung vertretenen, medial dominierenden, ab der ›Ölkrise‹ aufkommenden Krisenbegriff, besonders das Kompositum der ›Weltwirtschaftskrise‹, mieden sie hingegen weitgehend oder bestritten ihn explizit. ›Krise‹ fungierte als indirekter Kampfbegriff.39 Gegenseitige Vorwürfe, die Lage zu dramatisieren respektive ›schwarzzumalen‹ oder zu beschönigen, bezogen sich überwiegend auf eine Krise im von der Opposition unterstellten Sinn. Letztlich war ›Krise‹ je nach zugeschriebenem Bedeutungsgehalt für die Regierung wie die Opposition ein Begriff von merklichem Gebrauchswert, mithin existierten zwei parallele, sich spätestens Anfang 1974 überlappende Wirtschaftskrisendiskurse. Hypothesen, weshalb sich die Union mit ihrer Sichtweise nicht, – trotz des zweitbesten je bei einer Bundestagswahl erreichten Ergebnisses – zumindest nicht in Form eines Wahlsiegs durchsetzen konnte, sind im vorangegangenen Unterkapitel entwickelt worden. Ihr Narrativ stand dem der Regierung, einer Reihe von Medien, teilweise dem Sachverständigenrat40 und der offenkundigen 38 Ebd., S. 3027 D. 39 Exemplarisch zur Krisensemantik der Opposition (und zu deren explizitem Aufgreifen durch die konservative Presse) Strauß: Die wirtschaftliche Instabilität ist hausgemacht. CSU soll dem Wähler das »Ausmaß der Wirtschaftskrise« bewußt machen / Parteitag in München, in: FAZ , Nr. 212, 13.09.1975, S. 1 (»Als die Aufgabe der CSU […] hat der Parteivorsitzende Strauß die unablässige Bemühung bezeichnet, dem Wähler die Tiefe und das Ausmaß der wirtschaftlichen Krise in der Bundesrepublik bewußt zu machen. […] Das Problem der importierten Inflation und Instabilität sei zwar vorhanden, dürfte jedoch nicht als Feigenblatt dienen. ›Der größte Teil der Instabilität ist hausgemacht‹, sagte Strauß. […] Strauß bestritt überhaupt, daß es zur Zeit eine größere Weltwirtschaftskrise gebe.«). Ähnlich Carstens, Bundestag, 7. WP, 184. Sitzung, 17.09.1975, S. 12899 C (»Es ist falsch, wenn der Bundeskanzler sagt, das Scheitern der Politik der SPD -FDP-Koalition sei primär eine Folge der weltweiten Rezession.«) und 12900 C – 12900 D (»Mit jedem Reformprojekt, das uns hier vorgelegt wurde, war eine Ausweitung des Staatsanteils am Bruttosozialprodukt, war eine Ausweitung der Personalausgaben verbunden mit der Folge, so daß die Staatsquote jetzt 47 % des Bruttosozialprodukts ausmacht; vor fünf, sechs Jahren waren es noch 37 %. Hier liegen die tieferen Ursachen der Schwierigkeiten und der Krise, in der wir uns befinden.«). 40 Die Positionen des Sachverständigenrats sind nicht eindeutig einem der beiden Narrative zuzuordnen. Zwar stützte er mit seiner weltwirtschaftlich ausgerichteten Analyseperspektive deutlich Positionen, wie sie die Regierung vertrat. Zugleich aber fand sich im selben Gutachten – Sachverständigenrat, Vor dem Aufschwung, S. 41–47 – eine deutliche Kritik an mangelnder Stabilisierungspolitik nach Ende des vorangegangenen Booms 1969/70. Tarifabschlüsse, die deutlich die Produktivitätssteigerung übertrafen, und staatliche Reformvorhaben, die dessen »Ansprüche an das Produktionspotential«
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Tatsache gegenüber, dass eine Reihe anderer Industrieländer ebenfalls mit Krisenerscheinungen in der Wirtschaft konfrontiert war, mit denen sie schlechter zurechtkamen als die Bundesrepublik. Dennoch wäre es ein Fehlschluss, die Unionsparteien als Akteure einzuordnen, die mit ihrer Perspektive vollständig isoliert waren. Denn zum einen fanden sich einzelne ihrer Aussagen nach und nach in den Positionen anderer Akteure; wie am Beispiel der auf ›das Mögliche‹ zu fokussierenden Ausgabenpolitik gesehen, in den Wirtschaftskommentaren genauso wie in Regierungserklärungen. Der Topos der ›strukturell überlasteten Finanzen‹ war fast vollständig deckungsgleich mit dem Oppositionsnarrativ. Zum anderen vertrat die konservative Presse Positionen, die jenen der Union entsprachen. Bei der BILD -Zeitung stach dieser Eindruck nicht direkt hervor; wenigstens zum Teil scheint diese Beobachtung auf deren prinzipiell knappere Berichterstattung zurückzuführen zu sein. Dagegen verbreitete die FAZ das Narrativ eines wirtschaftlichen und finanzpolitischen Verfalls seit Amtsantritt der SPD -/FDP-Regierung in einer Weise, die jener der Opposition sehr nahe kam. Zur Haushaltspolitik schrieb sie: »Wenn die Opposition der Bundesregierung vorwarf, sie steuere die öffentlichen Finanzen in eine Katastrophe, dann wurde solche Kritik immer als unsachlich, als böswillige Übertreibung zurückgewiesen. Schuld an der jetzigen Misere der Staatsfinanzen, so hieß es, sei vor allem die Rezession. Natürlich hat der Konjunktureinbruch die Haushaltsdefizite vergrößert, aber nur die Hälfte davon ist wirklich konjunkturbedingt […]. Jetzt werden die Wechsel präsentiert, die vor allem von der Regierung Brandt / Scheel in einer geradezu waghalsigen Reformbegeisterung so leichtfertig, ja unverantwortlich ausgestellt worden sind. Der Verschwendung vor allem in den Bereichen Bildung und Sozialpolitik wurde Tür und Tor geöffnet. Alle Warnungen, daß dieses Füllhorn auch bezahlt werden müsse, wurden als reformfeindlich, als reaktionäre Engstirnigkeit abgetan. […] Nun bleibt gar kein anderer Weg mehr, als bei den öffentlichen Ausgaben drastisch zu sparen und zu kürzen. Aber das scheinen, trotz der sich rapide verschlechternden Situation, manche Leute in Bonn und insbesondere in der SPD immer noch nicht begriffen zu haben.«41
Der Kommentar war kein Einzelbeispiel. Auch bei einer Reihe weiterer wirtschaftspolitischer Themen, wie der Lohnpolitik, war die Kongruenz zwischen dem Narrativ der parlamentarischen Opposition und jenem konservativer Pressestimmen unübersehbar.42 (S. 41) weiter erhöht hätte, seien – zusammen mit dem außenwirtschaftlichen Problem der lange bestehenden festen Wechselkurse – für die Inflationsentwicklung seit Anfang der 1970er Jahre, die trotz der Preissteigerungen sinkenden Unternehmenserträge und die infolgedessen zurückgehende Investitionsneigung verantwortlich gewesen. 41 Kürzer treten, in: FAZ , Nr. 194, 23.08.1975, S. 1. 42 Exemplarisch: Vetter, Das Schlagwort »Lohnpause«, in: FAZ , 24.09.1975, S. 1; bezogen auf die Lohnquote in der Bundesrepublik, die 1974 eine Höhe von 71,4 % erreicht habe,
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2. Das Dilemma der Referenzlosigkeit Ein besonders augenfälliger Unterschied zwischen der ›Wachstumsdelle‹ und der ›kleinen Weltwirtschaftskrise‹ bestand im Rekurrieren auf kohärente wirtschaftstheoretische Programmatiken zur Krisenüberwindung. Dass die Stoßrichtung der Wirtschaftspolitik in den 1970er Jahren anders als 1966, als der Keynesianismus als Schlüssel zur Krisenfreiheit erschien, uneinheitlich war, ergab sich sowohl aus der spezifischen Problemkonstellation als auch der Absetzbewegung vom Keynesianismus in der Wirtschaftstheorie, die sich seit Ende der 1960er Jahre vollzog. Diese doppelte Desorientierung zeigte sich in den Quellen, die dieser Arbeit zugrunde liegen, nicht nur daran, dass das explizite Bezugnehmen auf Theorien und Theoretiker, überhaupt Programmatiken, kaum zu beobachten war. Es zeigte sich auch daran, dass Vergleiche mit anderen Krisen und Versuche, deren Verläufe als handlungsleitende Referenzen heranzuziehen, zumeist ausblieben. Verdichtungen oder Muster der Bezugnahme kristallisierten sich nicht heraus. Selbst wenn Journalisten die Frage aufwarfen, ob die Politik gegenüber der Krise »wirklich besser gerüstet [sei] als 1929«, ging es nicht um einen systematischen Krisenvergleich, sondern um eine Einordnung des Krisenausmaßes.43 Eine wirkliche Ausnahme stellte hingegen die zitierte Denkschrift Helmut Schmidts aus dem Frühjahr 1974 dar.44 In ihr diente der Ablauf der Weltwirtschaftskrise als Orientierungsmuster für den potenziellen weiteren Krisenverlauf. Und Schmidt leitete aus ihr Argumente für sein entschiedenes Eintreten für eine verstärkte internationale Verständigung auf eine stabilitätsorientierte Wirtschaftspolitik ab.45 Doch trotz dieses Gegenbeispiels: Dauerhaft diskursprägend wurden Vergleiche mit der Weltwirtschaftskrise oder anderen Krisen nie. Die zuvorderst mit Verweis auf Schmidts Denkschrift entwickelte These Werner Abelshausers, der zufolge »die Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise den politisch Verbemerkte der Autor: »Wenn man bedenkt, daß diese Quote in den Sechzigern zwischen 60 und 65 Prozent geschwankt hat, dann kommt die Steigerung seit 1970 einer Explosion gleich. Zwangsläufig müssen dann Investitionen erlahmen, die gerade jetzt zu einer Belebung der Konjunktur dringend gebraucht werden.« 43 Michael Jungblut, [Weltweite Inflation, zunehmende Arbeitslosigkeit, wachsender Pessimismus: Sind wir wirklich besser gerüstet als 1929?] Alte Rezepte versagen, in: DIE ZEIT, Nr. 51, 13.12.1974, S. 25. Siehe etwa auch Rudolf Herlt, Wiederholt sich das Elend von 1929? Die Furcht vor einer neuen Weltwirtschaftskrise wächst, in: DIE ZEIT, Nr. 31, 27.07.1974, S. 30. 44 Schmidt, Exposé. 45 So insbesondere auch die Interpretation bei Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 392 f., und, noch deutlicher, dems., Aus Wirtschaftskrisen lernen, S. 468–470.
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antwortlichen in der Kleinen Weltwirtschaftskrise der siebziger Jahre [ganz selbstverständlich] als Kompass der Krisenpolitik« gedient hätten, trifft für konzeptionelle Überlegungen einzelner Akteure mutmaßlich zu.46 Für den öffentlich-politischen Sprachgebrauch erscheint sie in dieser Pauschalität – und mit Blick auf den gesamten Krisenverlauf – überzogen. Denn insgesamt blieben Vergleiche mit der Weltwirtschaftskrise nach 1929 rar, und auch die ›Wachstumsdelle‹ 1966/67 entwickelte sich nicht zu einem wiederholt herangezogenen Vergleichsobjekt. Wenn Verweise auf diese beiden Krisen – andere Krisen spielten keine Rolle – auftraten, bewirkten sie, die Deutung einer gegenwärtig vorhandenen Krise zu stabilisieren. Schließlich bedeutete das ›Nennen in einem Atemzug‹ automatisch, auch die gegenwärtige Situation als ›Krise‹ zu klassifizieren, im Falle der Weltwirtschaftskrise als besonders ernste Krise. Ferner, dies galt vor allem für Vergleiche mit 1966/67, ergab sich ein Vergleichsmaßstab, der zuvorderst der Opposition als Argumentationsbasis diente, die Regierungsarbeit zu bewerten. Gleichwohl: Beide Formen der Bezugnahme auf bisherige Krisenerfahrungen blieben selten. Speziell Vergleiche mit der Weltwirtschaftskrise erweckten den Eindruck eines potenziell immensen Krisenausmaßes und evozierten oder verstärkten den Anschein einer politisch besonders herausfordernden Situation. Daraus ergab sich eine pragmatische Nutzbarkeit für Regierungspolitiker, die Erwartungen dämpfen und den Bewertungsmaßstab für ihr Agieren senken konnten. So wurde Willy Brandt schon Ende 1973 mit der Warnung zitiert, »man stehe »vor der größten Weltwirtschaftskrise seit den dreißiger Jahren.«47 Sein Nachfolger Helmut Schmidt erklärte knapp zwei Jahre später: »Aus der ständig sich beschleunigenden Weltinflation, aus dem Auseinanderbrechen des Weltwährungssystems zu Beginn der 70er Jahre und aus der Öl- und Rohstoffkrise, die im Herbst 1973 begann, hat sich 1974 eine Weltrezession entwickelt, die alles in den Schatten stellt, was wir seit der Depression der 30er Jahre erlebt haben.«48
Und Herbert Wehner, der bereits während der Krise in einem Interview zurückblickte, gestand, wegen der »tiefgehende[n] Erschütterung internationaler ökonomischer, monetärer, finanzwirtschaftlicher Verhaltensweisen und Beziehungen« habe er seit Ende 1973 »die ganze Zeit innerlich gezittert vor einer ähnlichen Entwicklung, wie sie […] die verheerende Krise der dreißiger Jahre ausgelöst hat.«49 46 Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 392. 47 Walter Slotosch, Kurskorrektur der Konjunkturpolitik, in: SZ , Nr. 294, 20.12.1973, S. 4. 48 Schmidt, Bundestag, 7. WP, 184. Sitzung, 17.09.1975, S. 12885 B. 49 Zit. nach: »Ich habe innerlich gezittert«. Ein Gespräch mit Herbert Wehner, in: DIE ZEIT, 04.07.1975, S. 3.
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Der Vergleich mit der Krise 1966/67 geriet bisweilen zu einem Interpretationskampf zwischen Regierung und Opposition. Mit Blick auf die gestiegene Arbeitslosigkeit warf Franz Josef Strauß der Regierung im September 1974 vor, die Situation zu beschönigen: »Die Lage im Rezessionswinter 1966/67 beurteilte der […] heutige Bundeskanzler mit folgenden Worten: ›Die wachsenden Arbeitslosenziffern zeigten, daß aus dem Abschwung ein Absturz zu werden drohte.‹ War diese Einschätzung der Gefahren im Winter 1966/67 richtig, dann sind bloß beruhigende Erklärungen, mit denen der Kanzler heute die Gefahr verniedlicht, fehl am Platze. […] Dann müßte auch jetzt ein Absturz drohen; denn obwohl die Beschäftigungslage üblicherweise im Sommer wesentlich günstiger als im Winter ist, hatten wir im Juli und August dieses Jahres noch mehr Arbeitslose und Kurzarbeiter als im Dezember 1966.«50
Vergleichbar argumentierte sein CDU-Kollege Ernst Müller-Hermann. Er beschrieb die »heutige volkswirtschaftliche Situation [als] im Grunde wesentlich alarmierender als 1966/67«.51 In einem Abschnitt seiner Ursachenanalyse fand sich auch eine Akzentsetzung hin zu notwendiger Lohnzurückhaltung, die auf dem Vergleich mit 1966/67 aufbaute. Anders als in den 1960er Jahren seien gegenwärtig besonders arbeitsintensiv produzierende Wirtschaftszweige von Absatzproblemen und infolgedessen Arbeitslosigkeit betroffen, was auf einen klaren Konnex »zwischen […] der Lohnkostenbewegung und den Absatzmöglichkeiten sowohl im Inland als vor allem auch im harten internationalen Wettbewerb auf den Weltmärkten« verweise.52 Politiker von SPD und FDP reagierten auf die Vorwürfe, indem sie die Aussagekraft der Zahlen für das Schicksal der Betroffenen relativierten. Dank der Arbeits- und Sozialpolitik der sozialliberalen Koalition seien Erwerbstätige, die mit Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit konfrontiert würden, wesentlich besser abgesichert, was die weitgehende gesellschaftliche Ruhe trotz der gestiegenen Arbeitslosenzahlen erkläre.53 Die Angemessenheit eines rein statistischen Vergleichs wies der SPD -Abgeordnete Werner Staak vehement zurück: »[Die Arbeitslosigkeit] war im Januar bei 621 000 und betrug 1967 im August dann knapp 400 000. Im Vergleich dazu sind es heute im August 527 000. Dieser rein statistische Vergleich erweckt doch den Eindruck, als hätte das Parlament in dieser Zeit die politische und soziale Absicherung der Arbeitnehmerschaft durch Gesetze nicht vollzogen.«54 50 Strauß, Bundestag, 7. WP, 116. Sitzung, 19.09.1974, S. 7735 C. 51 Ernst Müller-Hermann, Bundestag, 7. WP, 116. Sitzung, 19.09.1974, S. 7770 C. Ähnlich Zeitel, Bundestag, 7. WP, 117. Sitzung, 20.09.1974, S. 7830 B. 52 Müller-Hermann, Bundestag, 7. WP, 116. Sitzung, 19.09.1974, S. 7770 A. 53 Vgl. Lambsdorff, Bundestag, 7. WP, 116. Sitzung, 19.09.1974, S. 7782 B. 54 Werner Staak, Bundestag, 7. WP, 116. Sitzung, 19.09.1974, S. 7798 A.
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Im weiteren Krisenverlauf wurden Verweise auf die Krise 1966/67 noch seltener. Wenn sie auftraten, galt für sie das Gleiche wie für Vergleiche mit der Weltwirtschaftskrise: Eine Systematik der Vergleiche war nicht erkennbar. Bei den spärlichen Versuchen, das wirtschaftspolitische Handeln gegen die ›Wachstumsdelle‹ als Orientierung zu nutzen, konnte sich jedoch ein doppeltes Irritieren des diskursiven Mainstreams zeigen. Während Graf Lambsdorff Ende 1974 sogar angezweifelt hatte, ob es klug war, der Krise der 1960er Jahre mit »den alten Rezepten des seligen Herrn Keynes« begegnet zu sein, und betont hatte, angesichts der gegenwärtig vornehmlich strukturellen und damals primär konjunkturellen Problemlage tauge die damalige Politik der Krisenbekämpfung nicht als Blaupause,55 plädierte der Frankfurter SPD -Oberbürgermeister Rudi Arndt noch im Sommer 1975 genau in diese Richtung. Damit fiel Arndt nicht nur durch den Vergleich mit 1966/67 auf, sondern auch, weil er diesen bemühte, um sich der inzwischen weithin geteilten Überzeugung entgegenzustellen, der Krise sei durch mehr Investitionen und nicht primär durch Konsumanregungen zu begegnen.56 Debatten über die richtigen oder falschen Lehren aus den Erfahrungen der 1960er Jahre für die Krise der 1970er Jahre entwickelten sich aus derartigen Äußerungen nicht. Je länger die ›kleine Weltwirtschaftskrise‹ anhielt, desto konturierter erschien den Zeitgenossen die neue, spezifische Problemkonstellation, für die sie in vorangegangenen Krisen keine Referenz erblickten.
3. Kein Opfer und ein Profiteur: Brandt und Schmidt 1973/74 Der erste Eindruck nötigt den Beobachter förmlich, ein Muster zu vermuten: Auf eine wenige Monate zuvor glänzend gewonnene Bundestagswahl folgt alsbald Kritik am Führungsstil des Kanzlers. Noch vor kurzem als Wahlkampflokomotive umjubelt, gilt er jetzt als führungsschwach. In nicht geringem Maß entspringt die Kritik den eigenen politischen Reihen. Der Fraktionschef tut sich besonders hervor, seinen Parteivorsitzenden in die Enge zu treiben. Auch die wirtschaftlichen Erwartungen trüben sich ein. Bald ist von verschiedenen 55 Otto Graf Lambsdorff, Bundestag, 7. WP, 137. Sitzung, 13.12.1974, S. 9442 C. 56 Vgl. Rudi Arndt kritisiert »falschen Kurs« der Konjunkturpolitik, in: SZ , Nr. 193, 25.08.1975, S. 2 (»In einer ungewöhnlich scharfen Kritik hat der Frankfurter Oberbürgermeister Rudi Arndt (SPD) dem Bundeswirtschaftsministerium sowie der Bundesbank vorgeworfen, in der Konjunkturpolitik den ›falschen Kurs‹ zu steuern und immer noch nicht die ›Lektionen‹ aus der letzten Rezession 1966/67 begriffen zu haben.« […] Der »SPD -Politiker [sagte], der staatliche Ansatzpunkt zur wirtschaftlichen Belebung müßte in der Förderung des Konsums und weniger in einer öffentlichen Ankurbelung der Investitionen liegen.«)
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›Krisen‹ die Rede, wenig später ein neuer Kanzler im Amt. Die ›Krise‹, inzwischen in andere Kompositumformen gehüllt, besteht fort. Ob hier die Geschichte von Ludwig Erhard oder Willy Brandt erzählt wird, verrät der voranstehende Absatz nicht. In dieser mit groben Strichen angelegten Skizze scheint es denkbar, dass die Krisenhistorie zwischen Herbst 1973 und Frühjahr 1974 eine Neuauflage der Geschichte zwischen Sommer und Herbst 1966 bedeutete. Doch zumindest in einer engeren historisch-semantischen Sicht täuscht der Eindruck. Denn anders als 1966 gingen und griffen die semantischen Felder der ›Kanzlerkrise‹ um Brandt und der ›Energie-‹ und binnen kurzem befürchteten ›Wirtschaftskrise‹ kaum ineinander über. Insofern handelte es sich eher um zeitgleich verlaufende Paralleldiskurse. Sie wiesen gelegentliche, insgesamt aber wenige direkte Berührungspunkte auf. Im Folgenden soll diese These zunächst anhand einer knappen Nachzeichnung des Kanzlerkrisendiskurses unterstrichen werden. Anschließend wird gefragt, inwiefern Helmut Schmidt von der ›Kanzlerkrise‹ um seinen Vorgänger und dem einsetzenden Wirtschaftskrisendiskurs profitieren konnte.
Willy Brandt – kein ›Energie- und Wirtschafts-Krisen‹-Opfer Nimmt man die Literatur zur Person Brandts57 und zur SPD in den 1970er Jahren58 zum Ausgangspunkt und sucht nach dem, was vor allem dort unter dem Etikett »Kanzler in der Krise« firmiert,59 wird man zu vier Peaks in der öffentlichen Diskussion geleitet. Diese standen allesamt – und für die hier eingenommene Perspektive entscheidend – in keinem direkt aufscheinenden Zusammenhang mit dem Energie- und Wirtschaftskrisendiskurs und beeinflussten diesen nicht unmittelbar. Im Unterschied zum Sommer und Herbst 1966 wurde mit der Kritik an Brandt kein Deutungsrahmen begründet, an den der untersuchte Krisendiskurs ab November 1973 unmittelbar anschloss. Auch Veränderungen, Wende- und Höhepunkte der beiden Diskurse waren zeitlich nicht kongruent. Den weithin sichtbaren Ausgangspunkt der öffentlichen Infragestellung der Tatkraft Brandts markierten die berühmt gewordenen Äußerungen Herbert Wehners wenige Wochen vor Beginn des ›Energiekrisen‹-Diskurses. Anfang 57 Schöllgen, Willy Brandt; Merseburger, Visionär und Realist; (in der Perspektive ein Sonderfall, da die Sicht des Sohnes mit der des professionellen Historikers verbindend:) Brandt, Mit anderen Augen; Faulenbach, Willy Brandt; Miard-Delacroix, Brandt; Noack, Ein Leben. 58 Vor allem: Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt. 59 So explizit die entsprechende Kapitel-Überschrift bei Merseburger, Visionär und Realist, S. 657; Noack, Ein Leben, S. 251, titelt ähnlich: »›Der Herr badet gern lau, so in einem Schaumbad‹. Krise und Rücktritt«.
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Oktober 1973 monierte der SPD -Fraktionsvorsitzende, mit einer Delegation von Bundestagsabgeordneten zu Besuch in Moskau, »der Kanzler »bade[ ] gern lau – so in einem Schaumbad«, sei »abgeschlafft«, gar »entrückt«.60 Seine Kritik, die sich speziell gegen einen angeblich nachlassenden Elan Brandts in der Ostpolitik und seinen zu großzügigen Umgang mit der FDP richtete,61 fand medial große Aufmerksamkeit.62 Allen voran zeigte dies die 9-seitige SPIEGEL-Titelgeschichte vom 8. Oktober.63 Aus einer semantisch orientierten Sicht ermöglicht sie interessante Beobachtungen abseits der inhaltlichen Schilderung des Konflikts zwischen Brandt und Wehner. Bemerkenswert ist die Wortwahl gerade dort im Text, wo nicht direkt die Zitate Wehners wiedergegeben oder paraphrasiert wurden. Denn hieraus lassen sich Anhaltspunkte für verbreitetere Sichtweisen auf die Person Brandts in der ersten Oktoberhälfte 1973 ableiten. So war vom »geschmähten Bundeskanzler«64 und »Kanzler-Schlendrian[ ]«65 die Rede, Brandt wurde als »zaudernd« und »gemächlich« beschrieben.66 Der zweite Peak war biografisch begründet. Am 18. Dezember 1973 feierte Brandt seinen 60. Geburtstag. Aus diesem Anlass widmete ihm die FAZ gleich zwei Artikel, die hier interessieren. Drei Tage vor dem Geburtstag machte A lfred Rapp »Warnzeichen für Brandt« aus.67 Als Aufhänger diente ihm die These vom Verlust der »Strahlkraft« Brandts.68 Dieser zeitige nicht nur negative Auswirkungen auf künftige SPD -Wahlergebnisse, sondern eine geschwächte SPD sei umso anfälliger für innerparteiliche Zerwürfnisse. Insbesondere aus der verschärften Konfrontation zwischen »Alt- und Neumarxisten« auf der einen, regierungsorientierten Sozialdemokraten auf der anderen Seite speise sich die Gefahr für die Stellung Brandts und die Einheit der SPD.69 Bemerkenswert an dem Artikel war weniger, dass die politisch konservative FAZ den Eindruck einer zerrissenen SPD hervorrief, in der linke, ›marxistische‹ Stimmen an Einfluss zu gewinnen drohten. Diese Form der ›Warnung‹ passte als ideologisch wenig überraschendes Bild in die politische Auseinandersetzung und ließ die SPD als unkalkulierbare Größe erscheinen. Beachtlich war vielmehr der Schluss des Artikels, denn hier stellte Rapp einen unmittelbaren Bezug zur Kanzlerschaft Ludwig Erhards her. Diese »lehre[ ]«, »wie rasch auch das größte Kanzlerprestige 60 Zit. nach: »Was der Regierung fehlt, ist ein Kopf«, in: DER SPIEGEL , Nr. 41, 08.10.1973, S. 25–34, hier S. 27. 61 Vgl. ebd., S. 28–30. 62 Vgl. Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt, S. 401. 63 »Was der Regierung fehlt, ist ein Kopf«, in: DER SPIEGEL , 08.10.1973, S. 25–34. 64 Ebd., S. 25. 65 Ebd., S. 28. 66 Ebd., S. 31. 67 Alfred Rapp, Warnzeichen für Brandt, in: FAZ , Nr. 292, 15.12.1973, S. 1. 68 Ebd. 69 Ebd.
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schwinden« könne.70 Ein unmittelbares »Warnzeichen« für Brandt müsse sein, dass gegenwärtig in der »Kanzlerpartei« SPD über Brandt »geredet [werde] wie in der früheren Kanzlerpartei über deren Kanzler Erhard«.71 Ohne dies explizit auszusprechen, spielte Rapp mit dem Vergleich auf die Option eines Kanzlersturzes an. Wenngleich in eine rhetorische Figur gekleidet, potenzierte er so den Eindruck eines Kanzlers, dessen Einfluss vollständig erodieren könne. En passant skizzierte er somit einen möglichen Finalpunkt der Krise um Brandt. Am Geburtstag selbst bedachte FAZ-Mitherausgeber Nikolas Benckiser den Kanzler mit der kritischen Würdigung »Willy Brandt, der Deutsche«.72 Eingangs strich er sogleich heraus, dass der Kanzler gegenwärtig »Zielpunkt vielfacher und heftiger Kritik« sei, die »stark in die persönliche Sphäre« rage. »Es [sei] nicht immer schmeichelhaft, was da in den letzten Monaten und Tagen gesagt und mit Vokabeln wie ›Führungsschwäche‹ oder ›Entrückung‹ markiert worden ist.«73 Besonders treffen müsse den Gescholtenen, »daß solch harte Kritik vor allem auch aus den Reihen der eigenen Partei und der politischen Freunde komm[e] – offen etwa von Günter Grass, auf Umwegen von Herbert Wehner.«74 Auch wenn er formal eine Beobachterposition einnahm und die Beschreibungsund Bezeichnungsweisen für Brandt referierte, schrieb Benckiser auf diese Weise zweifellos den Brandt-kritischen Diskurs fort. Zugleich war auffällig, dass auch er keinen unmittelbaren Bezug zur energie- und wirtschaftspolitischen Lage herstellte. Einen direkten Konnex von tagesaktueller politischer Problemkonstellation und Brandts persönlicher Problemlage fand sich in Benckisers Text nicht. Vielmehr unterstrich er mit seiner Argumentation und nicht zuletzt der zeitlich einordnenden Formulierung »in den letzten Monaten und Tagen«, dass die Kritik älteren und tieferen Ursprungs sei.75 Unmissverständlicher noch als derartig verbalisierte Kritik war der SPIEGEL-Titel vom 10.12.1973 ausgefallen (vgl. die Abb. auf der folgenden Seite). Auch der SPIEGEL referierte und aktualisierte in der Titelgeschichte die etablierten Brandt-kritischen Aussagemuster. Der Eingangsabsatz fasste sie prägnant zusammen: Brandt sei an die »Grenzen seiner Führungskunst geraten«, die »Ostpolitik stagnier[e]«, das »Programm der inneren Reformen komm[e] kaum voran«, in der SPD habe »die integrierende Kraft des Vorsitzenden nachgelassen« und in »der Regierung [lasse] der Kanzler nach dem Geschmack vieler Genossen der FDP zuviel Freiheit«, mithin sei »der Gedanke an [Brandts] Sturz 70 Ebd. 71 Ebd. 72 Nikolas Benckiser, Willy Brandt, der Deutsche. Zum 60. Geburtstag: viele kritische Stimmen, in: FAZ , Nr. 294, 18.12.1973, S. 2. 73 Ebd. 74 Ebd. 75 Ebd.
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Abb. 12: DER SPIEGEL, Nr. 50, 10.12.1973, Titelbild. (© DER SPIEGEL, 50/1973.)
[…] nicht mehr tabu.«76 Der umfangreiche Artikel sezierte nicht nur en détail das Verhalten Brandts und die daran geäußerte Kritik in zahlreichen politischen Problemfeldern. Vielmehr suchte er darüber hinaus explizit den Ausgangspunkt des sich verstetigenden Diskurses der Brandt-Kritik und lokalisierte ihn bei Herbert Wehner und dessen Äußerungen während und nach seiner Moskau-Reise.77 Insofern bot der SPIEGEL trotz des überwiegend referierenden Stils auch ansatzweise eine Form der dekonstruierenden Analyse der persönlichen ›Krise‹ des Kanzlers. 76 Willy Brandt 60: Das Monument bröckelt, in: DER SPIEGEL , Nr. 50, 10.12.1973, S. 28–47, hier S. 28. 77 Vgl. ebd., S. 28 f.
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In der Summe verstärkten die ›Würdigungen‹ Brandts das Bild eines angeschlagenen Kanzlers, der aus vielfältigen Gründen an Strahlkraft und Autorität verloren hatte.78 Es sollte sich während des dritten, weniger scharf datierbaren Peaks weiter verstetigen. Dieser ereignete sich im Vor- und Umfeld der Wahlen zur Hamburger Bürgerschaft vom 3. März 1974. Die SPD büßte bei dieser Wahl mehr als 10 Prozentpunkte gegenüber 1970 ein, erreichte nur noch 45 Prozent der Stimmen und verlor ihre absolute Mehrheit.79 Auch bei den Kommunalwahlen in Rheinland-Pfalz (17. März 1974) und Schleswig-Holstein (24. März 1974) verlor die SPD deutlich an Zustimmung und musste landesweite Stimmanteilsverluste von 5,8 bzw. 7,9 Prozentpunkten hinnehmen.80 Brandt, der vor seiner Zeit als Berufspolitiker als Journalist gearbeitet, früher als andere ein immenses Gespür für »die herausragende Bedeutung der Medien für die politische Meinungsbildung« entwickelt und bereits in den 1960er Jahren durch gezielte mediale Präsenz seine Popularität gesteigert hatte, versuchte aktiv, seinem Reputationsverlust entgegenzuwirken.81 Medienkontakte und mediale Präsenz erschienen ihm hierzu als wichtiges Mittel. Wie gesehen, war er bereits im Januar in mehrminütigen TV-Interviews von ARD und ZDF aufgetreten.82 Am Tag nach der Wahl in Schleswig-Holstein zeigte er abermals an prominenter Stelle TV-Präsenz. In der ARD -Sendung Monitor stellte er sich im Rahmen der Reihe Im Kreuzverhör den Fragen von Claus Hinrich Casdorff und Rudolf Rohlinger.83 Casdorff konfrontierte Brandt mit der Ausgabe der Illustrierten Quick vom 13. März, die unter dem Titel »Mitleid mit Willy Brandt« kritische Stimmen zur »angebliche[n] Entscheidungsschwäche des Bundeskanzlers« gesammelt habe.84 Diese stammten gerade auch aus Brandts persönlichem Umkreis. Seit der Wahlniederlage vom Vortag, so Casdorff weiter, sei der »Appell, der Bundeskanzler und Parteivorsitzende solle sichtbar und fühlbar handeln, […] noch dringender geworden«.85 Die inzwischen wohlbekannten Thesen und Forderungen führten den geringen Wandel in der Brandt-Kritik anschaulich vor Augen und unterstrichen so abermals die Verstetigung des kanzlerkritischen Diskurses. Im Interview versuchte Brandt, den Eindruck innerparteilicher Zerwürfnisse zu zer78 Vgl. auch Soell, Macht und Verantwortung, S. 309. 79 Vgl. Ritter / Niehuss, Wahlen in Deutschland, S. 160. 80 Angaben zu den Stimmanteilsverlusten entnommen aus: Saar. Neuer Auftrieb, in: DER SPIEGEL , Nr. 20, 13.05.1974, S. 38 f., hier S. 38. 81 Münkel, Medienpolitik von Konrad Adenauer, S. 307–315, Zitat S. 315. Siehe zudem – ausführlicher, jedoch leider ebenfalls ohne eingehende Thematisierung der Schlussphase der Kanzlerschafts Brandts –: dies., Willy Brandt und die »Vierte Gewalt«. 82 Siehe Kap. XIII .2. 83 [o. N.], Interview des Bundeskanzlers und Vorsitzenden der SPD, Brandt, für das Erste Deutsche Fernsehen, 25. März 1974. 84 Ebd., S. 499. 85 Ebd.
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streuen und die Äußerungen einzelner Kritiker – namentlich Wehner, Schmidt und von Dohnanyi – zu relativieren.86 Ein explizites Zeichen von Führungsstärke konnte er so schwerlich setzen, als argumentativer Befreiungsschlag ließ sich das Interview kaum interpretieren. Dass Brandt Medienarbeit als einen eminent wichtigen Faktor betrachtete, um der Kritik an seiner Person und der SPD zu begegnen, verdeutlichten nicht nur derartige Auftritte. Aufschlussreich ist überdies eine Notiz, die Brandt am 18. Januar 1974 zur Vorbereitung einer SPD -Vorstandssitzung anfertigte.87 Darin notierte er unter Punkt »IV. Zur Presse« unter anderem: »Kein Grund zur Resignation. Dreifache Art des Verhaltens: 1. Auf gutwillige, wenn auch kritische Journalisten zugehen. (z. B. Redaktions gespräche) 2. Eigene Kommunikationsträger gezielt nutzen. 3. Glaubwürdigkeit betroffener Blätter auf richtiges Maß zurückführen. (Unseren Freunden erklären, daß nicht alles stimmt, was in Blättern steht.)«88
Brandt hatte offenkundig im Sinn, zielgerichtet mediale Kontakte einzusetzen und (eigene) mediale Kanäle zu bespielen. An welchen Stellschrauben gedreht werden müsse, um das von ihm und der SPD gezeichnete Bild zu wenden, stand dem Kanzler klar vor Augen. Doch sein Versuch, auf einzelne politische Kommunikationsträger einzuwirken und auf diese Weise Deutungen zu seinem Vorteil zu beeinflussen, misslang augenscheinlich. Hier kann nicht geklärt werden kann, welche konkreten Schritte Brandt im Einzelnen einleitete – er selbst etwa führte im Februar ein ausführliches Hintergrundgespräch mit der ZEIT 89 –, inwieweit er für dieses Ziel überhaupt motivierte innerparteiliche Mitstreiter fand und wer möglichweise mit wem Kontakt aufnahm. Eindeutig aber gelang es ihm bis zum Ende seiner Kanzlerschaft nicht, einen Umschwung im Kanzlerkrisendiskurs zu provozieren. Der vierte und letzte Peak berührte die vorangegangene Kritik inhaltlich kaum. Als Günter Guillaume, Referent im Bundeskanzleramt, im April 1974 als DDR-Spion überführt wurde, gereichte dies Brandt mutmaßlich eher kurzfristig 86 Vgl. ebd., S. 499–505, bes. S. 503 f. 87 [Brandt], Aus den Notizen des Bundeskanzlers, Brandt, für die Sitzung des Parteivorstandes der SPD. 18. Januar 1974, S. 471 f. 88 Ebd., S. 472. 89 Siehe: [o. N.], Aus dem Hintergrundgespräch des Bundeskanzlers, Brandt, mit den Redakteuren von Die Zeit, 22. Februar 1974. [Hervorhebung im Original.] Brandt legte ausführlich seine Sichtweisen auf aktuelle Konfliktfragen, vor allem die Tarifauseinandersetzung im Öffentlichen Dienst, dar; auch betonte er die Belastungen, die sich aus der Ölpreissituation ergäben. Insgesamt behielt das Gespräch einen tendenziell defensiv-rechtfertigenden Tenor; an welchen Stellen er möglichweise versuchte, Deutungen aktiv zu verändern, ist jedenfalls nicht eindeutig auszumachen.
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zum Anlass für seine Demission; er übernahm die politische Verantwortung für das Fehlverhalten anderer.90 Vorwerfen konnte man ihm allenfalls, dass er eine Weiterbeschäftigung Guillaumes in seinem unmittelbaren Umfeld nicht strikt unterbunden hatte, nachdem 1973 erste Verdachtsmomente gegen den Referenten vorlagen.91 Auch war es, wie er selbst in seinen im Sommer 1974 verfassten, erst 1994 öffentlich zugänglich gewordenen »Notizen zum Fall G« einräumte,92 unglücklich gewesen, dass er am 26. April im Bundestag behauptet hatte, Guillaume hätte keinen Zugang zu »Geheimakten« gehabt93 – was nicht stimmte, weil ihm diese als Begleiter des Kanzlers im Norwegenurlaub 1973 zugänglich gewesen waren.94 Aus beiden Faktoren waren kaum zwingende Rücktrittsgründe abzuleiten. Als sich Brandt am Abend des 8. Mai, zwei Tage nach seinem Amtsverzicht, in einer Fernsehansprache erklärte, führte er möglicherweise deshalb noch weitere Gründe an: seine Sorge, sich in den außenpolitischen Beziehungen zu Polen und der DDR »zeitweilig nicht mehr unbefangen genug« vorgekommen zu sein, und die Gerüchte, sein »Privatleben [solle] in Spekulationen über den Spionagefall gezerrt werden«.95 Wie diese knappe Nachzeichnung der persönlichen Krise Brandts verdeutlicht, folgten die ›Kanzler-‹ sowie die ›Energie-‹ und (spätere) ›Wirtschaftskrise‹ jeweils voneinander unabhängigeren Verlaufsmustern, bauten in weit geringerem Maße aufeinander auf. Das bedeutet ausdrücklich nicht, dass es sich um zwei völlig isoliert voneinander verlaufende Krisen gehandelt hätte. Zum einen erfolgten im ›Energie-‹ und beginnenden ›Wirtschaftskrisen‹-Diskurs gelegentlich Bezugnahmen – oder eher: Anspielungen – auf jene Zuschreibungen von verblasster Tatkraft und mangelnder Führungsstärke, denen Brandt im Zuge der ›Kanzlerkrise‹ ausgesetzt war. So konstatierte die SZ Ende November 1973, »[i]n der Krise [werde] der Kanzler energischer«.96 Brandt habe gegen FDP-Wirtschaftsminister Friderichs durchgesetzt, dass das Energiesicherungsgesetz früher als vom Wirtschaftsministerium beabsichtigt vorgelegt wurde, und dabei 90 Vgl. z. B. auch die entsprechende Interpretation und These bei Merseburger, Visionär und Realist, S. 720, sowie Brandt, Mit anderen Augen, S. 263 f. 91 Vgl.: Schöllgen, Brandt, S. 203; Noack, Ein Leben, ein Jahrhundert, S. 276 f. 92 Laut editorischer Anmerkung in Brandt, Mehr Demokratie wagen, S. 606, Anm. 1 zu Dok. Nr. 104, verfasste Brandt den Text größtenteils zwischen Mai und September 1974 und verwendete einzelne Passagen auch in Brandt, Über den Tag hinaus, S. 168–181; sodann lagerte das im Original 43 Seiten lange Dokument in einem versiegelten Umschlag, der nach notariellen Angaben erst am 24. Januar 1994 geöffnet wurde. 93 Willy Brandt, Deutscher Bundestag, 7. WP, 96. Sitzung, 26.04.1974, S. 6469 D. 94 Vgl. [Brandt], Hs. Aufzeichnungen des Vorsitzenden der SPD, Brandt, über den »Fall Guillaume«, 24. April – 6. Mai 1974, S. 509. 95 Vgl. [Brandt], Erklärung des Vorsitzenden der SPD, Brandt, für das Erste Deutsche Fernsehen, 8. Mai 1974, S. 540. 96 In der Krise wird der Kanzler energischer, in: SZ , 26.11.1973, S. 3.
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»sanft von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch« gemacht.97 Auch habe der Kanzler »in seiner Rundfunk- und Fernsehansprache [vom 24.11.1973, K. K.] klar [gezeigt], daß er die Zügel in der Hand« halte.98 Wirklich beeinflussen oder gar dauerhaft irritieren konnten diese einzelnen Aussagen den Brandt-kritischen Diskurs nicht; eher wurde dieser durch die impliziten Bezugnahmen gar indirekt aktualisiert, zeitigten sie also potenziell einen gegenteiligen Effekt. Zum anderen – und abseits einer semantischen Perspektive – leuchtet ein, dass die veränderten energie-, wirtschafts- und mittelbar finanzpolitischen Ausgangsbedingungen die Spielräume für Brandts reformpolitische Projekte einschnürten, kurzum »die Geschäftsgrundlage [für seine] Politik« wandelten.99 Gerade an seiner Niederlage im Tarifstreit um die Lohn- und Gehaltserhöhungen im öffentlichen Dienst im Februar 1974 ließ sich dies sehr plastisch erkennen. Ganz generell bedeutete die ›Energie-‹ und sodann aufziehende ›Wirtschaftskrise‹ schlicht ein gravierendes, zusätzliches Problem in einem Zeitraum, in dem Brandt innerparteilich und persönlich angeschlagen war. Sachgeschichtlich betrachtet, wirkte sie potenzierend in einem mehrsträngigen Problemgeflecht; einen Katalysatoreffekt für das, was als ›Kanzlerkrise‹ erschien und bis heute als solche beschrieben wird, übte sie daher fraglos aus. Über diese Einschätzung besteht auch in der Brandt-biografischen Literatur ein weitreichender Konsens.100 Den entscheidenden Ausgangspunkt für Brandts Reputationsverlust und schließlich seinen Rücktritt als Kanzler markierte die ›Wirtschaftskrise‹ gleichwohl eben nicht. Insofern war Brandt kein unmittelbares Opfer des in dieser Arbeit untersuchten Krisendiskurses.
Helmut Schmidt – ein ›Krisen‹-Profiteur Das Attribut des erfolgreichen ›Krisenmanagers‹ haftete Helmut Schmidt nachhaltiger an als jedes andere. Seine Ursprünge lagen in Schmidts entschlossenem Handeln als Polizeisenator während der Hamburger Sturmflutkatastrophe von 1962; »seither [umgab ihn] das Charisma des Lenkers«.101 Mithin eilte Schmidt der Ruf des Krisenbewältigers zu Beginn der 1970er Jahre bereits voraus. Gleichwohl sollten die Herausforderungen dieser Dekade, neben der Wirtschaftskrise auch der Kampf gegen den RAF-Terrorismus, maßgeblich zur Persistenz des Etiketts beitragen. Wie weitgehend sich damit Vorstellungen von Schmidt’scher 97 Ebd. 98 Ebd. 99 Brandt, Mit anderen Augen, S. 171. 100 Vgl.: Faulenbach, Willy Brandt, S. 82 f.; ders., Das sozialdemokratische Jahrzehnt, S. 398–404; Brandt, Mit anderen Augen, S. 171 f.; Miard-Delacroix, Brandt, S. 214–216. 101 Soell, Vernunft und Leidenschaft, S. 391.
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(Krisen-)Kompetenz verankerten, zeigte sich stellenweise schon während der 1970er Jahre ungewöhnlich deutlich. So eröffneten SPIEGEL-Redakteure ein Interview mit Schmidt im Januar 1975 mit der Bemerkung, er sei fraglos eine der »drei oder fünf politischen Figuren auf dieser Welt […], deren Ausfall ad hoc nicht zu ersetzen wäre.«102 Noch sehr viel plastischer stach die Beständigkeit der Zuschreibung des Krisenlenkers zutage, je länger Schmidts aktive politische Laufbahn zurücklag. Zu seinem 90. Geburtstag im Dezember 2008, wenige Monate nach Beginn der Finanzkrise im Anschluss an die Lehman-Pleite, schrieb der SPIEGEL schon im Untertitel der Schmidt gewidmeten Titelgeschichte: »[Schmidt] verkörpert Führungskraft, Standhaftigkeit und einen starken Staat. Gerade in den Zeiten einer Krise kommt das gut an.«103 Als Schmidt sieben Jahre später verstarb, betitelte nicht nur der Bayerische Rundfunk seinen Nachruf mit »Kanzler, Krisenmanager, Welterklärer« und erinnerte daran, dass Schmidt »Sturmflut, Ölkrise und [den] ›Deutsche[n] Herbst‹ […] [ge]managt[ ]« habe.104 Auch der FDP-Vorsitzende Christian Lindner nutzte den knappen Raum eines Tweets, um wenige Stunden nach dessen Tod zuvorderst Schmidts Fähigkeiten als Krisenmanager zu rühmen: »Helmut #Schmidt wurde durch Krisen groß, die er klein machte. Heute wird Politik oft klein, weil sie Krisen groß macht.«105 (Dass Lindners Nachruf zugleich pointierte Kritik an aktuellem politischem Handeln darstellte, ist offensichtlich und ambivalent zu beurteilen. Dessen ungeachtet produzierte Lindner durch sein gekonntes Spiel mit implizitem Vergleich, Gegensatzpaaren und Konzinnität ein seltenes Beispiel für eine stilistisch hervorstechende – und so wohl überdurchschnittlich rezipierte – politische 102 [Spiegel-Gespräch] »Wir sind ein erstklassiger Partner.« Kanzler Helmut Schmidt über die politische und ökonomische Rolle der Bundesrepublik, in: DER SPIEGEL , Nr. 1/2, 06.01.1975, S. 30–34, hier S. 30. 103 Eine Aura der Stärke. Helmut Schmidt wird 90 Jahre alt. Kaum ein Deutscher ist so populär wie er. Er verkörpert Führungskraft, Standhaftigkeit und einen starken Staat. Gerade in den Zeiten einer Krise kommt das gut an. In seiner Beliebtheit steckt aber auch Kritik an den aktuellen Politikern, in: DER SPIEGEL , Nr. 50, 08.12.2008, S. 52–64, hier S. 52. 104 Stefanie Gentner, [Kanzler, Krisenmanager, Welterklärer] Helmut Schmidt ist gestorben. Ob Sturmflut, Ölkrise oder »Deutscher Herbst« – mit hanseatischer Nüchternheit managte Helmut Schmidt einige Krisen. Zuletzt fungierte er als Welterklärer und deutsches Gewissen. Heute Nachmittag ist der Alt-Bundeskanzler im Alter von 96 Jahren gestorben, br-online Artikel vom 10.11.2015 – abrufbar unter: http://www.br.de / nachrichten / helmut-schmidt-nachruf-102.html (letzter Zugriff am 09.10.2018). Ähnlich: Thomas Kröter, [Alt-Bundeskanzler] Helmut Schmidt ist tot, fr-online-Artikel vom 10.11.2015 – abrufbar unter: http://www.fr-online.de/politik/alt-bundeskanzler-helmut-schmidt-isttot,1472596,32374122.html (letzter Zugriff am 09.10.2018). Gleich im ersten Satz des Nachrufs hieß es: »Er galt als Macher und Krisenmanager und war bis zu seinem Tod einer der populärsten Politiker in Deutschland.« 105 Christian Lindner (@c_lindner), Tweet vom 10.11.2015, 18:23 Uhr, online abrufbar unter: https://twitter.com/c_lindner/status/664086060561997824?lang=de (letzter Zugriff am 09.10.2018).
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Kurznachricht. Insofern hob er sich von der Vielzahl an Politikern ab, die jene Foren sozialer Medien allzu oft inhaltlich übereilt und sprachlich uninspiriert bedienen.106) Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, dass Schmidt die aufkommenden Krisendeutungen seit Herbst 1973 durchaus zupass kamen, er von ihnen profitieren, sie sich zum eigenen Nutzen aneignen und letztlich seinen Ruf festigen konnte. Dies galt – und hier liegt der maßgebliche Punkt – sowohl für den Krisendiskurs um Brandt als auch für den Energie- und Wirtschaftskrisendiskurs. Schmidt geriet doppelt zum Profiteur. Erkennbar wird dies zunächst bei einem Blick auf konkrete Zuschreibungen, die Schmidt seit Aufkommen der ›Energiekrisen‹-Deutungen erfuhr. Betrachtet man exemplarisch die Etiketten, die ihm der SPIEGEL ab Herbst 1973 – teils demonstrativ, teils en passant – anheftete, wird deutlich, dass und wie Schmidt der persönliche Krisendiskurs um seinen Vorgänger nützte. Denn bei den Bezeichnungen für Schmidt handelte es sich (in einem weiteren Sinne) um Gegenbegriffe zu jenen Termini, mit denen die Kritik an Brandt hervorgerufen wurde. Als sich im Spätherbst 1973 die Sorgen um die Energieversorgung mit denen um die wirtschaftliche Entwicklung verzahnten, schilderte der SPIEGEL die grassie rende Erwartungsunsicherheit, die auch die Bundesregierung erfasst habe. Illustriert war der Artikel mit einem Foto, das Schmidt beim Aktenstudium zeigte und mit wenigen Worten untertitelt war: »Krisenmanager Schmidt: ›Wir brauchen Eingriffe des Staates‹«.107 (Als zweiter so bezeichneter »Krisenmanager«, und ebenfalls mit einem Foto bedacht, fand Wirtschaftsminister Friderichs Erwähnung.108) Schmidt erschien als ein Kontrapol zu Brandt, denn im Unterschied zur erwähnten Deutung der SZ109 interpretierte der SPIEGEL Brandt im Zusammenhang mit seiner Fernsehansprache vom 24. November nicht als einen souverän Handelnden, sondern als einen Bedrängten. Brandt habe »sich nach langem Zaudern […] zu Wort [gemeldet], getrieben von seinen Genossen der SPD -Spitze«.110 »Helmut Schmidt, Herbert Wehner und Parteigeschäftsführer
106 Zweifellos wird die Frage, wie allein im Internet veröffentlichte Texte, Nachrichten und Verlautbarungen politische Kommunikation verändern und prägen (und wie sie forschungspraktisch erschlossen werden können!), für die zeithistorische Politik- und Kommunikationsgeschichtsschreibung künftig drängender werden. Erste Zugänge in dieses entstehende Forschungsfeld bietet – aus kommunikations- und medienwissenschaftlicher Warte – der Band von Gerhard Vowe und Philipp Henn (Hg.), Communication in the Online World. 107 Ölangst: »Keiner kennt die Lage«, in: DER SPIEGEL , Nr. 49, 03.12.1973, S. 19–22, hier S. 21. 108 Ebd. 109 In der Krise wird der Kanzler energischer, in: SZ , 26.11.1973, S. 3. 110 Ölangst: »Keiner kennt die Lage«, in: DER SPIEGEL , 03.12.1973, S. 19.
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Holger Börner [hätten] den Kanzler zur Aktion [gedrängt]«.111 Und weiter: »Im Fernsehen mußte Willy Brandt vor den Bundesbürgern zur Krise sprechen, […] am Donnerstag verlas er dem Parlament eine Regierungserklärung«, wobei ihm die »Kernpunkte seiner Botschaft an die Nation […] der stärkste Mann seiner Regierung, Helmut Schmidt, ins Manuskript geschrieben [hatte]«.112 Brandt-entgegengesetzte Attribute ließen sich auch auf weniger offensichtliche Weise platzieren. In der Titelgeschichte zum ›bröckelnden Monument‹ Brandt war Schmidt im Rahmen einer Collage aus vier Fotos abermals abgebildet.113 Das Foto, das Schmidt zeigte, wies indes das größte Format auf. Auf den übrigen Bildern waren mit dem niedersächsischen Kultusminister Peter von Oertzen und dem Juso-Vorsitzenden Wolfgang Roth zwei Parteilinke, daneben Bundesforschungs- und -postminister Horst Ehmke zu sehen. In der Bildunterschrift wurden sie allesamt als »Sozialdemokratische Führungsplaner« gewürdigt.114 Die Frage, wer die SPD führe, führen wolle oder überhaupt führen könne – und wie mit Parteilinken umgegangen werde –, thematisierte der SPIEGEL auch in der Folgezeit. Anfang April 1974 widmete er ihr nicht nur einen ausführlichen Artikel,115 sondern ebenso ein Titelbild (vgl. die Abb. auf der folgenden Seite). Hinter dem resigniert nach unten blickenden Brandt zeigte es übergroß die Umrisse von Schmidts Kopf; der Finanzminister wurde so zum bestimmenden Schatten hinter Brandt erhoben.116 Als Schmidt im Folgemonat Brandt als Kanzler beerbte, sprach das Nachrichtenmagazin vom »Hoffen auf den Macher«117 und schilderte den Wunsch der Partei, der »forsche[ ] Pragmatiker«118 möge das »abtrünnige Wahlvolk«119 zu ihr zurückführen. Dass Schmidt gerade gegen wärtig als geeignet erscheine, sei auch der aktuellen Situation geschuldet: »In Krisenzeiten gerät der behende Macher stets in Hochstimmung, denn nirgendwann sonst kann Schmidt seine Dynamik so unverhüllt entfalten. Um so heftiger trifft die Wortgewalt des Hanseaten jene, die zum Sinnieren und zum langfristigprogrammatischen Denken neigen, die – anders als er – Erkenntnis nicht sogleich in Aktion umsetzen.«120
111 Ebd. 112 Ebd. 113 Vgl. Das Monument bröckelt, in: DER SPIEGEL , 10.12.1973, S. 34. 114 Ebd. 115 SPD: »Ohne Willy Brandt sind wir weg«, in: DER SPIEGEL , Nr. 14, 01.04.1974, S. 18–29. 116 Siehe hierzu auch Birkner, Mann des gedruckten Wortes, S. 66. 117 Kanzler Schmidt: Hoffen auf den Macher, in: DER SPIEGEL , Nr. 20, 13.05.1974, S. 19–34, hier S. 19. 118 Ebd., jew. S. 19 u. 20. 119 Ebd., S. 19. 120 Ebd., S. 32.
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Abb. 13: DER SPIEGEL, Nr. 14, 01.04.1974, Titelbild. (© DER SPIEGEL, 14/1974.)
Ohne Brandt namentlich zu erwähnen, entwarfen diese Zeilen Schmidt als Gegenfigur zum bisherigen Regierungschef. Schmidt wurden jene Fähigkeiten und Merkmale zugeschrieben, die Brandt in den vorangegangenen Monaten abgesprochen worden waren: Er erschien als entscheidungs- und führungsstark, dynamisch und zielorientiert, seine Regierung in der Folgewoche als »Kabinett der Polit-Handwerker«121 – und überdies die Krise als jene Situation, in der Schmidt es besonders vermöge, seine Fähigkeiten einzusetzen. (Dass ihm indirekt zugleich attestiert wurde, sein Denken und Handeln sei kaum langfristig orientiert respektive weitsichtig, sollte Schmidt noch Jahrzehnte später beschäftigen.
121 Regierung Schmidt: Schonfrist gibt es nicht, in: DER SPIEGEL , 20.05.1974, S. 19.
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Wenigstens nach seiner Erinnerung empfand er die Zuschreibung des ›Machers‹ aufgrund ihrer Gebrauchsweise mitunter gar als »Schimpfwort«.122) Von der persönlichen Krise um Brandt profitierte Schmidt mithin, weil ihm entgegengesetzte Eigenschaften und eine andere Persönlichkeitsstruktur als Brandt bescheinigt wurden. Sein Aufstieg gelang aber auch, weil er sich den Diskurs um die ›Energie- und Wirtschaftskrise‹ bisweilen geschickt zu Nutzen machte. Als sich ab Herbst 1973 die wirtschafts- und bald auch finanzpolitischen Rahmenbedingungen gravierend wandelten – sich so »die zentralen Themen der Politik […] zu verschieben [begannen]«123 – und Wirtschafts- und Finanzfragen in der öffentlichen Diskussion einen größeren Stellenwert einnahmen, kam dies Politikern, die auf dieses Feld spezialisiert waren, zunächst generell zugute. Schmidt nutzte die so geschaffene Bühne jedoch ebenso aktiv, wie zwei bereits erwähnte Kommunikationssituationen und -formen beispielhaft vor Augen führen: In der Rolle des Telefonexperten, der im Dezember 1973 die Fragen verunsicherter BILD -Leser beantwortete, konnte er sich im führenden Medium der Boulevardpresse als ein Minister präsentieren, der ein komplexes Problemfeld – »Arbeitsplätze, Inflation, Ölkrise« – überblickt und Fragen nicht aus dem Weg geht, vielmehr erklärt, »wohin die Reise geht«.124 Hier griffen Schmidts Selbst- und seine Fremdinszenierung durch BILD erkennbar gut ineinander. Spannender ist der zweite Fall: sein Agieren im Umfeld seiner zunächst geheim gehaltenen Denkschrift zur »aktuellen ökonomischen Problematik« aus dem Frühjahr 1974.125 Dem am 3. Mai an Brandt, Wehner und den nordrheinwestfälischen Ministerpräsidenten Heinz Kühn gerichteten Begleitbrief zufolge erarbeitete er sie auf Vorschlag von Wehner und Brandt.126 Den Inhalt schätzte Schmidt als »teilweise […] zu sensitiv« und daher ungeeignet für »eine allgemeine Versendung an die Mitglieder« des SPD -Parteivorstands ein; für diese müsse er »in den nächsten Tagen […] durch Streichungen eine jugendfreie Volksausgabe« 122 Helmut Schmidt im Gespräch mit Sandra Maischberger, Hand aufs Herz, S. 224 f.: »Ein einziges Klischee hat mich zu Anfang gestört, das war nämlich abschätzig gemeint: Dieser Schmidt ist ja bloß ein Macher. Der hat keine Theorien im Kopf wie die Intellektuellen, die das Schimpfwort erfunden haben. Das waren natürlich ganz große Theoretiker.« – Frage / Bemerkung: »Macher vor allem auch im Gegensatz zu Willy Brandt, dem Visionär: da der Macher – hier der Visionär.« – »Ja, das war die Vorstellung, die dahinter stand.« 123 Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt, S. 409. 124 Arbeitsplätze, Inflation, Ölkrise: Minister Schmidt sagt, wohin die Reise geht, in: BILD, 10.[?]12.1973, S. 3. 125 Schmidt, Exposé. 126 Vgl. Helmut Schmidt, Bundesminister der Finanzen, an Bundeskanzler Willy Brandt, Herbert Wehner, MdB, Vorsitzender der SPD -Bundestagsfraktion, und Ministerpräsident Heinz Kühn, 3.5.1974, S. 2.
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erstellen.127 Angesichts dieser einleitenden Bemerkungen erscheint es durchaus beachtlich, wie vielen Personen Schmidt sein Papier dennoch in der vorliegenden Form zusandte: In dem Begleitbrief listete Schmidt mit Kanzleramtschef Horst Grabert, Bundesbankpräsident Karl Klasen, SPD -Bundesgeschäftsführer Holger Börner, den der SPD angehörenden Bundesministern sowie seinen SPD -Fraktionskollegen Alex Möller, Andreas von Bülow und Herbert Ehrenberg bereits eine Reihe weiterer Empfänger explizit auf.128 Ferner spielte er mit dem Gedanken, auch FDP-Wirtschaftsminister Hans Friderichs und FDP-Fraktionschef Wolfgang Mischnick die Denkschrift zukommen zu lassen, und bat Brandt und Wehner in dieser Frage um ihre Meinung.129 Nach verschiedenen Verteilerlisten, die in Schmidts Büro entstanden, erhielten nach und nach mehr als 50 Personen die geheim gehaltene Fassung des Exposés.130 Auf Seiten der FDP befand sich unter ihnen neben Friderichs und Mischnick auch Graf Lambsdorff. Dass Schmidt der Bitte, ein solches Exposé zu erstellen, bereitwillig nachkam, die insgesamt 74 Seiten selbst verfasste und darauf stolz hinwies,131 überrascht kaum. Es bot ihm die Gelegenheit, innerhalb der eigenen Parteiführung und gegenüber Brandt seinen ökonomischen und wirtschaftsgeschichtlichen Wissens- und Kompetenzvorsprung vorzuführen. Schmidt profitierte von den neuen Fragen, die durch den Krisendiskurs aufkamen, und konnte das Exposé als eine Form des internen Podiums zur Selbstdarstellung nutzen. Daneben gibt es mehrere Anhaltspunkte dafür, dass er zudem bewusst darauf spekulierte, mit dem Exposé auch öffentlich seine Expertise unter Beweis zu stellen. Angesichts des schon anfangs nicht kleinen Kreises von Adressaten musste ihm zum einen das Risiko bewusst sein, dass Teile der Denkschrift einem größeren Kreis bekannt werden könnten. Zum anderen bespielte er fast zeitgleich gezielt unterschiedliche Kommunikationskanäle. So verschickte Schmidt die angekündigte gekürzte Fassung des Exposés, die vom 7. Mai 1974 datiert und nicht vertraulich zu behandeln war, nicht nur an die übrigen Mitglieder des SPD -Parteivorstandes, sondern an einen größeren Adressatenkreis. Zu diesem gehörten nicht zuletzt die Fernsehjournalisten Fides Krause-Brewer (ZDF) und Friedrich Nowottny (WDR) sowie ZEIT-Chefredakteur Theo Sommer.132 Anderthalb Wochen später 127 Ebd. 128 Vgl. ebd. 129 Vgl. ebd., S. 3. 130 Vgl.: ebd., S. 3 f.; [o. N.], Listen »Fassung [amtlich] geheimgehalten mit Extra-Brief«; [o. N.], Liste »Fassung Amtlich geheimgehalten, mit Fotokopie Brief an Willy Brandt«. 131 Schmidt betonte ausdrücklich: »Laßt Euch bitte von der Länge nicht erschrecken: es ist gut lesbar (weil ich es selbst geschrieben habe!).« – Schmidt, Bundesminister der Finanzen, an Bundeskanzler Willy Brandt, Herbert Wehner, MdB, Vorsitzender der SPD -Bundestagsfraktion, und Ministerpräsident Heinz Kühn, 3.5.1974, S. 2. 132 Vgl. [o. N.], »Verteiler für die neue Fassung des Papiers zur ökonomischen Problematik«.
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Einzelbetrachtungen
erschien jener ZEIT-Artikel, der Schmidts Überlegungen in den wesentlichen Zügen in einer größeren Öffentlichkeit bekannt machte.133 Wenig spricht dafür, dass Schmidt dies unrecht war oder ungelegen kam. Stattdessen liegt es nahe, dass der Polit- und Medienprofi Schmidt134 – bereits vor seiner Kanzlerschaft Autor für die ZEIT und andere Blätter, ab Ende der 1940er Jahre für die sozialdemokratische und Hamburger Lokalpresse aktiv, in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre Kolumnist der Münchner Abendzeitung und des Kölner Express135 – recht genau antizipierte, welchen Weg sein Papier nehmen und welche Wellen es schlagen würde. Somit scheint es nicht unplausibel, sein Verhalten als ein versiertes Spiel mit Partei- und Medienmechanismen zu interpretieren. Er konnte darauf spekulieren, auch öffentlich als ein Politiker zu erscheinen, der einen Problemkomplex ungewöhnlich gründlich, tiefgehend und jenseits allein tagespolitischer Erwägungen analysiert – und so aus der Masse der Politiker hervorsticht.
4. Raum-Bezüge: Westdeutschland als primärer Fokus, Transnationalität als Erklärung – und die ›Weltwirtschaft‹ Genau wie die Weltwirtschaftskrise wirft die ›kleine Weltwirtschaftskrise‹ die Frage auf, wie die Zusammenhänge zwischen den Problemen der eigenen Volkswirtschaft und räumlich darüber hinausragenden Wirtschaftsbeziehungen und Einflussfaktoren sprachlich gefasst und benannt wurden. Die gleiche Frage deckt prinzipielle Ähnlichkeiten genauso auf wie Unterschiede im Detail. Im Vergleich zu den frühen 1930er Jahren traten direkte sprachliche Darstellungen von Transnationalität seltener auf. Das vor allem 1930 und 1931 beobachtbare Behaupten zweier sich überlappender und so verschärfender Krisen, einer ›deutschen‹ und einer ›Welt‹-Krise, blieb in den 1970er Jahren aus. Weil zudem das Börsengeschehen in den 1970er Jahren einen geringeren Stellenwert als Krisenindikator besaß, kam es seltener zum Benennen von direkten, sich unmittelbar auswirkenden Interdependenzen. Vielmehr waren drei Formen räumlicher Bezugnahmen verbreitet, die allesamt schon erkennbar geworden sind. Für das Feststellen der Krisensituation, das Bemessen ihres Ausmaßes und ihrer Entwicklung sowie die Diskussion poli133 »Unsicherheit ist Gift«. Wie bei der Bevölkerung die »Angstlücke« geschlossen werden kann, in: DIE ZEIT, 17.05.1974, S. 26. 134 Siehe hierzu kompakt – mit kurzer Behandlung der Zeit vor und intensiver Thematisierung der Phase ab 1974 – Birkner, Stratege Schmidt. 135 Vgl. ders., Mann des gedruckten Wortes, S. 19–24, 46–53; den Angaben ebd., S. 47, Anm. 102, zufolge verfasste Schmidt mindestens 123 Texte für die Abendzeitung und 18 für den Express.
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tischer Maßnahmen zu ihrer Überwindung war zuvorderst Westdeutschland der relevante Bezugspunkt. Bei der Opposition galt dies ebenso für den überwiegenden Teil der Ursachenanalyse. Bereits die Betrachtungen zur ersten Krisenphase führten den Zusammenhang zwischen der Situation im eigenen Land und dem Aufkommen von Krisensemantiken vor Augen. Erst (aber auch: sofort) als die Bundesrepublik von eingeschränkten Öllieferungen bedroht schien, verbreiteten sich Krisendeutungen. Als ab Anfang 1976 der Aufschwung in der Bundesrepu blik deutlich sichtbar wurde, ebbten sie schließlich merklich ab. Die Entwicklung der Konjunktur (oder anderer Faktoren) in anderen Ländern war für Beurteilungen der Krisenlage sekundär. Speziell in den Bundestagsdebatten zeigte sich der dominierende nationale Raumbezug. Zum Teil war er zurückzuführen auf die Zuständigkeiten des Parlaments; Beratungen über den Haushalt, Konjunkturprogramme oder Steuerfragen bezogen sich zwangsläufig auf die Bundesrepu blik. Er galt aber auch für die Kategorien, die zumeist herangezogen wurden, um den Krisenverlauf zu beurteilen: die Entwicklung der Arbeitslosigkeit und die Inflation in der Bundesrepublik. Wie in den 1930er Jahren dominierte mithin eine methodologisch national-orientierte Perspektive. Neben diesen national ausgerichteten Blick traten zwei weitere Perspektivierungen, die eine Einbettung des Geschehens in einen transnationalen Rahmen bewirkten. Während der ›Ölkrise‹ erfolgte sie durch das mediale und von Politikern herausgestellte Abhängigkeitsverhältnis zwischen O(A)PEC- und west lichen Ölimportstaaten. Es zeigte sich auch in der signifikanten Verbreitung von Begriffen, die politische oder politisch-geografische Räume beschrieben, wie ›Bundesrepublik‹, ›Nahost‹ oder ›Arabien‹.136 In den folgenden Krisenabschnitten ergab sich die transnationale Einbettung durch direkte und – wie in den 1930er Jahren – indirekte Vergleichskommunikation. Direkte Vergleichskommunikation, eine Neuerung gegenüber den 1930er Jahren, meint das in den Sprachstrategien der Regierungsparteien besonders deutlich erkennbare Bezugnehmen auf die Lage in anderen Ländern. Diese Länder waren in der Regel ›europäische‹ oder ›westlich-industrialisierte‹ Staaten; das heißt es ging um die Situation in der Bundesrepublik im Vergleich zu westeuropäischen und nordamerikanischen Staaten sowie gegebenenfalls Japan. Der Effekt war durchaus ambivalent. Zwar zeigten die Vergleiche an, dass zahlreiche Volkswirtschaften zeitgleich von Problemen betroffen waren. Dies unterstrich das räumlich große, transnationale Krisenausmaß. Doch indem die Lage einzelner Länder nebeneinandergestellt wurde und diese Länder als separat zu beurteilende Vergleichseinheiten erschienen, wurden zugleich unmittelbare Bezüge zwischen den Volkswirtschaften ausgeblendet.
136 Vgl. Ziem / Scholz / Römer, Korpuslinguistische Zugänge, S. 338.
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Indirekte Vergleichskommunikation kam wie in der ›großen‹ Weltwirtschafts krise in Form von Presseberichten über die Krisenentwicklung in anderen Staaten auf. Expressis verbis wurde kein Vergleich mit der Bundesrepublik angestellt, prinzipiell aber suggeriert, die Volkswirtschaft des jeweiligen Landes habe mit sehr ähnlichen Krisenerscheinungen zu kämpfen. LeserInnen in der Bundesrepublik wurden auf diese Weise in unregelmäßigen Abständen über die ökonomische Entwicklung zum Beispiel in Japan, den USA, Großbritannien, Kanada oder Frankreich informiert.137 Indem die Berichterstattung der (Qualitäts-)Presse auf die im Detail verschiedenen Ausmaße und Verläufe der Krisen, generell aber ähnlichen Problemlagen aufmerksam machte, evozierte sie den Eindruck eines transnationalen Phänomens. Zusätzlich steigerten diesen Eindruck die aufgezeigten ›Welt‹-Semantiken. Politisch radikale Begriffsverwendungen, wie sie sich drastisch im antisemitisch aufgeladenen Gebrauch von ›Welt‹-Formulierungen durch die Nationalsozialisten gezeigt hatten, blieben in den 1970er Jahren aus. Davon abgesehen aber zeigten sich hier offensichtlichste Parallelen zwischen der ›großen‹ und der ›kleinen‹ Weltwirtschaftskrise. Abermals konstruierte das Präfix ›Welt‹ einen Problemzusammenhang, der sämtliche Formen nationaler Barrieren übertraf. Vielmehr verwies es auf Globalität, eine Globalität, die indes kaum konkretisiert wurde. Anders formuliert: Was ›Welt‹ bedeuten sollte, welche Wirtschaftsräume der Erde gemeint waren, wenn von ›Welt‹ die Rede war, blieb erneut zumeist offen. Spürt man, wie in der ersten Fallstudie mit dem Blick in Ernst Wagemanns Werk »Struktur und Rhythmus der Weltwirtschaft« in anderen Quellen dem zeitgenössischen Begriffsverständnis nach,138 hilft eine Einführung in die Geschichte der Weltwirtschaft, die der Wirtschaftshistoriker Wolfram Fischer Ende der 1970er Jahre publizierte.139 Fundamentale definitorische Unterschiede zwischen den 1930er und den 1970er Jahren zeigten sich nicht. Auch Fischer verwies auf den oft freihändigen Gebrauch des Wortes; er selbst definierte als 137 Exemplarisch: Gebhard Hielscher, Japans Wirtschaft am Scheideweg. Wachstum oder Gesundschrumpfen wird zum politischen Streitfall, in: SZ , Nr. 290, 15./16.12.1973, S. 24; Herbert von Borch, [Amerikas Wirtschaft ist krank] Inflation zum Staatsfeind Nr. 1 erklärt. Trost für Europa: Hohe Arbeitslosigkeit setzt der antiinflationären Politik Grenzen, in: SZ , Nr. 212, 14./15.09.1974, S. 1; [US -Wirtschaft] Vier Schocks. Immer tiefer sackt Amerika in die Depression ab. Hilflos laviert Präsident Ford zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit, in: DER SPIEGEL , Nr. 12, 17.03.1975, S. 94–96; Thilo Bode, Hilflos steht England vor der Krise, in: SZ , Nr. 113, 20.05.1975, S. 4; [Einladung zur Schatzsuche] Kanadas Weg aus der Krise. Offerte aus Quebec: Rohstoffe und Kooperation, in: SZ , Nr. 228, 04./05.10.1975, S. 23; In Frankreich ist noch kein Aufschwung in Sicht. Pessimistische Prognose der OECD / Zunahme der Arbeitslosigkeit erwartet / Inflationsmentalität ungebrochen, in: FAZ , Nr. 54, 04.03.1976, S. 11. 138 Siehe Kap. V.3. 139 Fischer, Die Weltwirtschaft.
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›Weltwirtschaft‹ »alle wirtschaftlichen Beziehungen, die über die Grenzen von Staaten hinaus stattfinden«140 beziehungsweise den »Weltaußenhandel, also nur den grenzüberschreitenden […] trotz der damit verbundenen Verzerrung zugunsten kleinstaatlicher Regionen, also vorwiegend Europas«.141 Die angefügte Einschränkung gab einen Hinweis auf die tatsächlich gemeinten Räume. Weltwirtschaftlich relevant – und bei der Begriffsverwendung gemeint – war weder der Handel innerhalb großer Wirtschaftsräume, wie sie durchaus auch innerhalb eines Staates bestanden, geschweige denn die ökonomische Situation in Staaten, die kaum in internationale Handelsbeziehungen integriert waren. Kurzum: Primär ging es abermals um die westlichen Industrieländer und Japan. ›Weltwirtschaft‹ und andere ›Welt‹-Komposita wie ›Weltinflation‹ dienten als übergeordnete Raumkategorie für Prozesse in und zwischen Ländern, die ebenso Objekte der aufgezeigten direkten Vergleichskommunikation waren. Dieser Eindruck wird verstärkt, wenn man einen Blick in die Verlautbarungen von Expertengremien wirft. Ein Diskussionsbeitrag des Kieler Instituts für Weltwirtschaft zur »Krise der Weltwirtschaft?« aus dem Jahr 1975 behandelte unter ›Weltwirtschaft‹ ebenfalls die »westlichen Industrieländer« und grenzte weiter ein, es gehe zuvorderst um die USA, Japan und die Bundesrepublik, »die zusammen […] die Entwicklung der Weltkonjunktur entscheidend bestimmen«.142 Neben diesem räumlichen Zuschnitt am Rande erwähnt – und sodann aus der Analyse ausgeblendet – wurde nur das Verhältnis zwischen Ölexport- und Ölimportstaaten, das außenwirtschaftlich primär wegen der verstärkten Zahlungsbilanzüberschüsse auf der einen, Zahlungsbilanzdefizite auf der anderen Seite relevant sei.143 Ein ganz ähnliches Raumverständnis zeigte sich beim Sachverständigenrat. Auch er beschäftigte sich in seinem Kapitel zur »Weltweite[n] Rezession« im Jahresgutachten 1975 ohne weitere Erklärung mit den ökonomischen Konstellationen »in den westlichen Industrieländern«.144 Wie in den 1930er Jahren gab es keinen Anhaltspunkt dafür, dass Politiker oder Journalisten ein anderes Verständnis von ›Weltwirtschaft‹ pflegten. Die grundsätzliche Vorstellung vom Raum der ›Weltwirtschaft‹ schien unumstritten respektive nicht definitionswürdig. Gleichzeitig war es wenigstens für Regierungsvertreter kaum zweckdienlich, den Raum genauer einzugrenzen. Schließlich stabilisierte die suggerierte Globalität das Regierungsnarrativ von der außenwirtschaftlichen Bedingtheit der Krise beträchtlich. Diese Globalität wurde im Übrigen nicht durch einen entsprechend expliziten Wortgebrauch (›Globalität‹ / ›global‹) transportiert. Obwohl sich in den 1970er 140 Ebd., S. 8. 141 Ebd., S. 9. 142 K. D. Schmidt, Inflation und Arbeitslosigkeit, S. 3. 143 Vgl. ebd. 144 Vgl. Sachverständigenrat, Vor dem Aufschwung, S. 17–22, Zitat S. 17.
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Einzelbetrachtungen
Jahren die »Globalisierungsrede« (Bach), deren Ursprünge in den 1940er Jahren liegen, stabilisierte und auszubreiten begann,145 spielten ›Global‹-Termini für Raumkonstruktionen im Krisendiskurs keine Rolle. (Wenn derartige Wendungen auftraten, evozierten sie keine räumlichen Vorstellungen, sondern bezogen sich auf die ›Globalsteuerung‹.) Mutmaßlich war dies auf zwei Hauptgründe zurückzuführen: Erstens verbreitete sich die Globalisierungsrede überwiegend in abgegrenzten, zum Beispiel wissenschaftlichen Diskursforen,146 während sie in die politische Alltagssprache noch nicht diffundierte.147 Zweitens bezeichnete sie gerade in wirtschaftlicher Sicht als Prozessbegriff eine beobachtbare Ausdehnung von Handelsräumen, anders als ›Weltwirtschaft‹ aber nicht die bestehende Größe eines ›Weltaußenhandelsraums‹.
5. Frühe Meta-Deutungen: eine Epochenwende? Abschließend stellt sich die Frage, wie sich die Aussagen des analysierten parlamentarisch-journalistischen Wirtschaftskrisendiskurses zu zwei politischen und gesellschaftlichen Diskussionszusammenhängen verhielten, die in den 1970er Jahren eine beträchtliche Aufmerksamkeit auf sich zogen: Deutungen bald erreichter Wachstumsgrenzen einerseits, die These von ›unregierbar‹ werdenden westlichen Demokratien andererseits. Für beide Diskussionsfelder gilt, dass sie auf den ersten Blick auf einer Meta-Ebene oberhalb tagesaktueller politischer Fragen angesiedelt waren. Entsprechend handelte es sich bei den tragenden Akteursgruppen oft um Wissenschaftler, Gesellschaftskritiker und Publizisten. Auf den zweiten Blick ist gleichwohl eine Präzisierung vonnöten. Denn während die Diskussionen über (Un-)Regierbarkeit tatsächlich weitgehend ein Elitendiskurs blieben, diffundierten Aussagen einer Epochen-Zäsur immer wieder auch in tagespolitische Äußerungen. Sie zeigten sich dort indes meist nicht in grundsätzlichen Reflexionen über die Periodisierung der mit-erlebten Zeit, sondern eher unterschwellig. Insbesondere kann man Spuren impliziten Einflusses überall dort verorten, wenigstens vermuten, wo eine Auseinandersetzung mit (veränderten) Wachstumsvoraussetzungen erfolgte oder von gravierend gewandelten sozio-ökonomischen Bedingungen die Rede war.
145 Vgl. Bach, Erfindung der Globalisierung, S. 90–93, 109, Zitat (u. a.) S. 90. 146 Vgl. ebd., S. 109–128. 147 Eine Volltextsuche auf Basis sämtlicher Plenarprotokolle und Drucksachen führt für die 7. Wahlperiode des Bundestags (1972–1976) beispielsweise zu lediglich zwei Belegen für das Stichwort ›Globalisierung‹. (Die Suche kann online durchgeführt werden unter: http://pdok.bundestag.de/index.php?qsafe=%23change%23&aload=off&q=Globalisierung &x=0&y=0&df=07.09.1949&dt=23.07.2015 [Zugriff am 23.07.2015].)
Frühe Meta-Deutungen
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Während die ›(Un-)Regierbarkeit‹ im folgenden Kapitel behandelt wird, soll hier die Frage aufgegriffen werden, in welchem Verhältnis der Wirtschaftskrisendiskurs zu den Debatten um die vielzitierten ›Grenzen des Wachstums‹ stand. Deren Rezeptionen, sprich die Reaktionen auf die Veröffentlichung des Berichtes des Club of Rome zur Lage der Menschheit 1972, waren vielstimmig.148 Neben Zustimmung rief der Bericht auch harschen Protest hervor. Widerspruch gegen die Thesen erhoben US -amerikanische Ökonomen wie der Nobelpreisträger von 1971, Paul A. Samuelson, genauso wie Entwicklungsländer. Während die Ökonomen die dem Bericht zugrundeliegende Datenbasis als zu gering erachteten und bemängelten, positive Folgen technischer Innovationen seien nicht einkalkuliert worden, störten sich Kritiker aus Entwicklungsländern an der Option des ›Null-Wachstums‹, das die Wohlstandsdifferenz zwischen industrialisierten und nicht-industrialisierten Regionen dauerhaft besiegele.149 Die Kritik schmälerte die öffentliche Resonanz auf die Veröffentlichung freilich nicht, sondern steigerte sie eher.150 Dies war auch Folge der großen Professionalität bei der Veröffentlichung; der Bericht wurde zeitgleich in zwölf Sprachen publiziert, die Darstellung übersichtlich gestaltet und die Grundaussage in einfacher Sprache vermittelt.151 Schlagartig wurde so eine Botschaft verbreitet, die in ihrem Kern nicht neu, sondern in den Jahren zuvor bereits in anderen Studien vertreten worden war.152 Auf einen kurzen Nenner gebracht, lautete sie, dass »die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht« würden.153 Hergeleitet wurde die These unter Rekurrieren auf ein kybernetisches Weltmodell und computerbasierte Auswertungen großer Datenmengen. Betrachtete Faktoren waren die exponentielle Zunahme von Weltbevölkerung, Umweltverschmutzung, Industrialisierung, Nahrungsmittelproduktion und Rohstoffverbrauch. Letztgenannter Faktor war somit einer unter mehreren Parametern, nicht der zentrale. So war auch die Prognose zu den Erdölreserven – 550 Milliarden Barrel – keineswegs prominent im Bericht platziert, sondern nur in einer langen tabellarischen Aufstellung über die Vorräte nicht zu regenerierender Rohstoffe enthalten.154 148 Siehe: Kupper, »Weltuntergangs-Vision aus dem Computer«; Hahn, Unsinn bis Untergang, bes. S. 101–121; Graf, Grenzen des Staates. Als Beispiele für zeitgenössische Diskussionen: Richter (Hg.), Wachstum bis zur Katastrophe?; Oltmans (Hg.), »Die Grenzen des Wachstums« 149 Vgl.: Kupper, »Weltuntergangsvision aus dem Computer«, S. 103–105; Graf, Grenzen des Staates, S. 210; Seefried, Bruch im Fortschrittsverständnis?, S. 440. 150 Vgl.: Hahn, Unsinn bis Untergang, S. 120 f.; Freytag, »Eine Bombe im Taschenbuchformat«?, S. 467 f. 151 Vgl. Kupper, »Weltuntergangsvision aus dem Computer«, S. 100. 152 Vgl. Graf, Grenzen des Staates, S. 209. 153 Meadows u. a., Grenzen des Wachstums, S. 17. 154 Vgl. Kupper, »Weltuntergangsvision aus dem Computer«, S. 106 f.
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Einzelbetrachtungen
Fragt man nach dem Konnex zwischen Wachstumsgrenzen- und Krisen diskurs, ergeben sich zwei gegensätzliche Beobachtungen, je nachdem, ob man den ersten oder die folgenden Krisenabschnitt(e) betrachtet. Zunächst schufen die Krisendeutungen der ersten Krisenphase, also die zu diesem Zeitpunkt in unmittelbarer wie ferner Zukunft unklar erscheinende Versorgungslage, eine Konstellation, in der wiederholt direkte Bezugnahmen auf die ›Wachstumsgrenzen‹ zu beobachten waren. Die Aussagen selbst entsprangen nicht dem Krisendiskurs, sondern dieser bereitete ein Feld, entsprechende Interpretationen aufzugreifen und Diagnosen einer Epochenwende zu verbreiten. Bereits Anfang November 1973 hieß es im Streiflicht der SZ: »Wir müssen […] den Ölhahn-Zudrehern danken, daß sie uns zum Nachdenken gezwungen haben, und daß negative Utopie nicht mehr nur als eine Sache weniger Kulturpessimisten erscheint. Auch ohne arabische Nachhilfe wären eines Tages die ›Grenzen des Wachstums‹ allen sichtbar geworden.«155
In der gleichen Zeitung forderte wenige Wochen später der Kernchemiker KarlErik Zimen eine Abkehr »vom maßlosen ›Genuß im Stil der neuen Zeit‹ […] hin zu umweltfreundlicheren Technologien, auch wenn wir dafür auf andere verzichten müssen. […] Wir brauchen auch ein […] tragfähiges Konzept dafür, wie der Übergang von der explosiven Wachstumsphase zur Anpassung an die Kapazitätsgrenzen unseres eng gewordenen Planeten ohne totalitäre Gesellschaftsplanung möglich ist.«156
Der SPIEGEL kündete in der dritten Novemberwoche vom »Ende der Überflußgesellschaft« (vgl. die Abb. auf der folgenden Seite). Rudolf Augstein konstatierte besorgt: »Die von den Scheichs ausgerufene Energiekrise ist nur der Paukenschlag, der Nahostkrieg hat nur den Durchbruch gebracht. Die Versorgung der Industrienationen mit Rohstoffen steht zur Debatte. […] Das Raumschiff Erde, dies die erste Lektion, hat seine Energiequellen zu stürmisch angezapft. Noch ist nicht sicher, ob neue Quellen so zeitig erschlossen werden können, daß für die immer noch wachsenden Menschheitspopulationen Katastrophen bisher ungeahnten Ausmaßes vermieden werden können.«157
Und ein FAZ-Kommentar prophezeite unter der Überschrift »Oel-Schock – Kulturwende?«:
155 Das Streiflicht, in: SZ , 02.11.1973, S. 1. 156 Karl-Erik Zimen, Globalbilanz der Energiekrise. Die Bevölkerungsexplosion wird weltweit wachsenden Energieverbrauch erzwingen, in: SZ , Nr. 277, 30.11.1973, S. 47. 157 Rudolf Augstein, Not lehrt treten, in: DER SPIEGEL , Nr. 47, 19.11.1973, S. 26.
Frühe Meta-Deutungen
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Abb. 14: DER SPIEGEL, Nr. 47, 19.11.1973, Titelbild. (© DER SPIEGEL, 47/1973.)
»Die Energie-Unbill […] wird allmählich den Anschein verlieren, sie sei bloß eine arabische Schikane. Die Ölbesitzer haben […] uns nur noch härter mit der Tatsache konfrontiert, die schon vorher da war: die Welt lebte über ihre Verhältnisse.«158
Sodann diskutierte er mögliche Konsequenzen: von veränderten Bauweisen bis zum Umgang mit »Wegwerf-Gebrauchsgegenstände[n].«159 158 Robert Held, Oel-Schock – Kulturwende?, in: FAZ , Nr. 281, 03.12.1973, S. 1. 159 Ebd. Ähnlich: Helmut Maier-Mannhart, [SZ -Interview mit dem Zukunftsforscher Robert Jungk] Die Wegwerf-Gesellschaft hat keine Überlebenschance. Die Energiekrise hat die Grenzen des materiellen Wohlstandes deutlich gemacht / Umorientierung bedeutet nicht nur Einschränkung und Entbehrung / Schaffung einer humanen Technik und Wiedergewinnung von verbrauchten Rohstoffen sind Hauptziele der nächsten Jahrzehnte, in: SZ , Nr. 301, Silvester 1973 / Neujahr 1974, S. 19.
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Einzelbetrachtungen
Bundeswirtschaftsminister Friderichs rief dazu auf, »zu erkennen, daß das, worüber wir bisher mehr oder weniger theoretisch diskutiert haben, nämlich über die Grenzen des Wachstums unserer Volkswirtschaft, über Nacht Realität geworden ist«; daher gelte es nun »dieses Wachstum unter Berücksichtigung dieser Schwierigkeit in ein qualifiziertes und dauerhaftes Wachstum zu überführen.«160 Die (bereits mehrfach zitierte) Weihnachtsansprache Gustav Heinemanns, in der er mit Sicco Mansholt ausführlich einen Wachstumskritiker zitierte, wies ebenfalls unüberhörbar Verweise auf den Wachstumsgrenzendiskurs auf. Wenn der Bundespräsident »eine Überprüfung unserer Vorstellungen vom Sinn und Wert unserer Lebensweise« anmahnte,161 klang dies kaum anders als die Forderung, »neue Denkgewohnheiten zu entwickeln, die zu einer grundsätzlichen Änderung menschlichen Verhaltens […] führen«, wie sie der Bericht des Club of Rome enthielt.162 Wenige Tage später warf Heinemann explizit die Frage auf, ob die westlichen Gesellschaften nicht zu lange dem »Götzen Wirtschaftswachstum« anheimgefallen seien.163 Mit dem Übergang zum zweiten Krisenabschnitt Anfang 1974 endete die Phase direkter Bezugnahmen. Während, wie angeklungen ist, die wissenschaftlich-publizistischen Diskussionen der Thesen anhielten, spielten sie in den Quellen der vorliegenden Studie keine tragende Rolle mehr. Weder für Politiker noch die analysierten Printmedien stellten sie eines der dominierenden Themen dar. Diese Feststellung trifft sich partiell mit Beobachtungen, die Elke Seefried gemacht hat. Sie zeigte, dass sich Bundesregierung, SPD und Gewerkschaften 1972/73 durchaus intensiv mit dem Wachstumsgrenzendiskurs und alternativen Wachstums- respektive Wohlstandsmaßen beschäftigten, diese Auseinandersetzung 1974/75 aber deutlich nachließ und speziell auf wirtschaftspolitische Konzepte der Bundesregierung keinen nennenswerten Einfluss mehr ausübte.164 Im hier untersuchten Korpus kam es in den Krisenphasen ab 1974 nur mehr zu sporadischen, jedoch – hier lag der gravierende Unterschied zur ersten Krisenphase – überwiegend kritischen Bezugnahmen auf den ›Grenzen‹-Diskurs. Sie folgten, den Verweisen auf vorangegangene Krisen ähnlich, keinen Mustern und traten nicht verdichtet auf. Auch ergaben sie sich nicht mehr aus Reflexionen über die Energieversorgungslage. Sondern ihr Gegenstand war der Wachstumsbegriff, genauer: eine Absage an die Vorstellung, vom Wirtschaftswachstum im bislang üblichen Sinn könne Abstand genommen werden, ohne dass dies Wohlstandseinbußen provoziere. Franz Josef Strauß nahm ausdrücklich eine Gegenposition zum Club of Rome ein: 160 Hans Friderichs, Bundestag, 7. WP, 67. Sitzung, 29.11.1973, S. 3940 B. 161 Heinemann, Weihnachtsansprache 1973 des Bundespräsidenten, S. 2. 162 Meadows u. a., Grenzen des Wachstums, S. 170. 163 Zit. nach: Heinemann: Vor wesentlichen Änderungen, in: SZ , Nr. 5, 07.01.1974, S. 1. 164 Vgl. Seefried, Zukünfte, S. 452–468.
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»Wir haben nur sehr an den Club von Rom erinnernde Aussagen über die Fragwürdigkeit des Wachstums gehört. Wir sollten eigentlich gerade diesen Anlaß benutzen, um einmal uns eine durch nichts aus der Welt zu schaffende Tatsache wieder ins Gedächtnis zurückzurufen, […] daß stetiges und angemessenes Wachstum […] die unerläßliche Voraussetzung, die conditio sine qua non […], nicht nur für die Verbesserung unserer Lebensverhältnisse […], nein, die unerläßliche Voraussetzung auch für die Erhaltung des gesetzlich beschlossenen Leistungsstandes […] ist.«165 SZ-Wirtschaftsressortleiter Franz Thoma, sehr viel zurückhaltender im Ton, erklärte, »das viel gefürchtete Null-Wachstum an sich [sei] zwar nicht so schlimm, wenn auch beileibe kein Idealzustand«, skizzierte aber sogleich, was – wie 1975 – passiere, sobald das Sozialprodukt schrumpfe: dann müsse »[s]tatt daß verteilt wird […], genommen werden«.166 Auch der Sachverständigenrat, einem klassisch quantitativen Wachstumsverständnis kaum verhüllt das Wort redend,167 diskutierte in seinem Jahresgutachten 1975 als Folge der Diskussionen um die Wachstumsgrenzen »Qualitatives versus quantitatives Wachstum«.168 Generell argumentierte er, in der marktwirtschaftlichen Ordnung der Bundesrepublik flössen qualitative Aspekte ohnehin stets ins Wachstumsziel ein, unter anderem durch Umweltschutzauflagen. An wenigen Stellen schimmerten dennoch eindeutigere Positionen durch, wenn der Rat etwa auf die Kosten qualitativen Wachstums verwies:
»Daß mehr Freizeit, mehr Umweltgüter, verbesserte Arbeitsbedingungen finanziert werden könnten durch die Beseitigung marktmachtbedingter Unternehmensgewinne, ist zwar eine verbreitete Vorstellung, aber gleichwohl ein Märchen. Die Kosten haben alle zu tragen, über ein erhöhtes Preisniveau oder über verminderte Einkommenssteigerungen.«169
Letztlich ergänzten derartige Aussagen eine klar erkennbare Beobachtung, die sich durch die gesamte Fallstudie zieht: Die Kategorien, die zur Beurteilung der ökonomischen Situation herangezogen wurden und die als Beurteilungsreferenzen für erfolgreiches wirtschaftspolitisches Agieren dienten, änderten sich im Wirtschaftskrisendiskurs der 1970er Jahre nicht. Wie schon in der Krise 1966/67 ging es weiterhin zuvorderst um Geldwertstabilität, Beschäftigungsstand und quantitatives Wachstum. Anders formuliert: Die Kriterien, die Wissen über das volkswirtschaftliche Wohlergehen repräsentierten, erwiesen sich als äußerst persistent. Ein nachhaltiger Einfluss der Diskussionen über die 165 166 167 168 169
Strauß, Bundestag, 7. WP, 149. Sitzung, 20.02.1975, S. 10288 D – 10289 A. Thoma, Die Fata Morgana des Aufschwungs, in: SZ , 24./25.05.1975, S. 4. Vgl. auch Schanetzky, Ernüchterung, S. 179. Sachverständigenrat, Vor dem Aufschwung, S. 121–123. Ebd., S. 122.
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Einzelbetrachtungen
Wachstumsgrenzen auf sie war nicht festzustellen, weder in den wirtschaftspolitischen Diskussionen im Bundestag noch in der hier untersuchten Presse. In einem unveränderten Sinn blieb ›Wachstum‹ Zielvokabel wirtschaftspolitischen Handels.170 Zugleich fällt auf, dass Aussagen, die neue ökonomische Grundbedingungen behaupteten oder, wie in den Diskussionen über anhaltende Arbeitslosigkeit trotz Aufschwungs ab Anfang 1976 ersichtlich, mit dem Ende der Rezession nicht die Rückkehr zur Prosperität der Vorkrisenzeit verbanden, nicht mit Verweisen auf die ›Grenzen des Wachstums‹ begründet wurden. Das offensive Artikulieren eines Epochenwandels war eher Ausgangs-, nicht Endpunkt des Wirtschaftskrisendiskurses.
6. Späte Meta-Deutungen: die Frage der (Un-)Regierbarkeit Weniger klar ersichtlich sind die Zusammenhänge zwischen dem untersuchten Wirtschaftskrisendiskurs in der Bundesrepublik und Diskussionen um die (Un-)Regierbarkeit der westlichen Demokratien. Erörtert wurde die Frage der ›Regierbarkeit‹ in mehreren westlichen Gesellschaften zwischen Ende der 1960er und Mitte der 1980er Jahre.171 Ihren Höhepunkt erreichte sie in der Bundesrepublik zu Beginn der zweiten Hälfte der 1970er Jahre. Wie Gabriele Metzler prägnant herausgearbeitet und gezeigt hat, ließen sich zwei ideologisch klar zu differenzierende Grundströmungen ausmachen:172 eine linke, in der Bundesrepublik der Theorie des Spätkapitalismus folgend und prominent von Jürgen Habermas173 und Claus Offe174 vertreten,175 sowie eine konservativ-neoliberale. Die international bekanntesten und einflussreichsten Publikationen, allen voran der von Michel Crozier federführend verantwortete und 1975 veröffentlichte Bericht für die Trilateral Commission176, einen elitären Diskussionszirkel von Wirtschaftsvertretern und Politikern aus Europa, Japan und Nordamerika, stammten von Vertretern des Neoliberalismus. In der Bundesrepublik verfochten besonders die CDU-nahen Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis und Peter Graf Kielmansegg mit ihren zwei zwischen 1977 und 1979 herausgegebenen Bänden 170 Vgl. auch Bossmann, »Arrested Development«?, S. 27, 65. Zu zeitgenössischen wissenschaftlichen Infragestellungen der Aussagen zu Wachstumsgrenzen sowie Entgegnungen auf die vom Club of Rome gepriesene, »vermeintlich rigorose Verzichtsethik« vgl. ebd., S. 66–71, Zitat S. 70. 171 Vgl. Metzler, Staatsversagen, S. 244. Siehe ferner dies., Krisenbewusstsein, Krisendiskurse und Krisenbewältigung. 172 Vgl. v. a. (und zum gesamten Absatz) Metzler, Staatsversagen, bes. S. 244–248. 173 Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. 174 Offe, »Unregierbarkeit«. 175 Ebenfalls einflussreich: Greven / Guggenberger / Strasser, Krise des Staates? 176 Crozier / Huntington / Watanuki, The Crisis of Democracy.
Späte Meta-Deutungen
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zur »Regierbarkeit« einen konservativ-neoliberalen Blickwinkel.177 Gleichfalls bekannter Vertreter einer ähnlichen Perspektive war der Soziologe Erwin K. Scheuch, seit 1972 ebenso CDU-Mitglied. In seinem Urteil blieb er dennoch abwägend und erwartete zumindest keine Unregierbarkeit bezogen auf die ›klassischen‹ Funktionen des Staates.178 Links-spätkapitalistisch argumentierende Theoretiker erblickten krisenhafte Züge darin, dass der Staat Legimitation für Entscheidungen durch staatliche Leistungen suche und auf diese Weise die Loyalität erstrebe, die für seine unhinterfragte Existenz notwendig sei. Sowohl eine deutliche Steigerung der Staatsausgaben als auch ein signifikanter Ausbau des Staatsapparats seien die Folge gewesen.179 Eine auf diese Weise angestrebte Legitimationssicherung gerate an Grenzen, weil die potenziell erträgliche finanzielle Belastung des Staates und dessen politische Steuerungsfähigkeit zunehmend beschränkt seien.180 Die Gefahr mangelnder Regierbarkeit ergebe sich letztlich aus dem Problem, mit den genannten Mitteln dauerhaft Systemloyalität zu sichern.181 Obwohl ideologisch aus einer anderen Richtung kommend, eben nicht Strukturmerkmale des Kapitalismus als problemverursachend betrachtend, und mit anderer Stoßrichtung argumentierend, zeigten sich durchaus Parallelen zwischen linken und konservativ argumentierenden Theoretikern.182 Auch Letztere diagnostizierten eine fiskalpolitische Überforderung des Staates durch das Einführen und Versprechen erweiterter staatlicher Leistungen.183 Ferner machten sie einen Verlust gesellschaftlicher Integration durch das Erodieren traditioneller Werte und Bindungen aus, beispielsweise gegenüber der Kirche.184 Die wachsende Unfähigkeit des Staates, problembehebend und gesellschaftlich-integrativ zu agieren, sei auch Ergebnis eines Übermaßes an Demokratisierung; zu viele Akteursgruppen hätten Einfluss auf staatliches Handeln erlangt.185 Als Spezifikum der bundesdeutschen Debatte trat die Diagnose eines gefährlichen Einflussverlustes des Staates im Feld moralisch-sittlicher Normsicherung hinzu.186 Wilhelm Hennis prangerte an, dem Staat werde zunehmend seine Funktion 177 Hennis / Kielmansegg / Matz (Hg.), Regierbarkeit. 178 Scheuch, Wird die Bundesrepublik unregierbar? Als Beispiel für einen weiteren dezidiert konservativen Regierbarkeits-Theoretiker siehe Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hg.), Der überforderte schwache Staat. 179 Vgl. Metzler, Staatsversagen, S. 245. 180 Vgl. Habermas, Legitimationsprobleme, S. 98. 181 Vgl. Metzler, Staatsversagen, S. 245. 182 Vgl. Hacke, Staat in Gefahr, S. 188, der auch auf die entsprechende, bereits zeitgenössische Einschätzung bei Offe, »Unregierbarkeit«, S. 294, verweist. 183 Vgl. z. B. Scheuch, Bundesrepublik unregierbar?, S. 39–46. 184 Vgl. Metzler, Krisenbewusstsein, Krisendiskurse und Krisenbewältigung, S. 154 f. 185 Vgl. dies., Staatsversagen, S. 245. 186 Vgl. ebd., S. 246 f.
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Einzelbetrachtungen
als »Hüter, Pfleger, Förderer der Sittlichkeit« abgesprochen, er werde auf einen »technische[n] Dienstleistungsbetrieb« reduziert.187 Dies gefährde die Regierbarkeit, da jedes Versagen des Staates bei der von ihm erwarteten Leistungs erbringung potenziell eine Staatskrise heraufbeschwören könne.188 Das Argument lief auf eine notwendige Stärkung des Staates als sittliche Instanz hinaus. Der behaupteten fiskalpolitischen und administrativen Überforderung des Staates sei hingegen, so die neoliberale Auffassung, durch einen Abbau staatlicher Regelungsansprüche und die Stärkung des Marktes zu begegnen.189 Stellt man vor diesem Hintergrund die Frage, in welchem Verhältnis die Ergebnisse unserer Sprachanalyse zu den umrissenen Varianten von Unregierbarkeitsdiagnosen stehen, ergibt sich ein vermeintlich eindeutiger Befund: Sowohl unter den zentralen Topoi als auch bei (der Infragestellung von) Sprachbildern, besonders aber bei tragenden Einzelbegriffen und Semantiken des Krisennarrativs, das die Opposition pflegte, stechen die Gemeinsamkeiten mit konservativ-neoliberalen Unregierbarkeitsdeutungen ins Auge: Dies galt speziell für das Redemuster von der notwendigen Fokussierung auf ›das Mögliche‹, den Topos des ›strukturell überlasteten Haushalts‹ und die Warnung vor dem ›unbezahl baren (Sozial-)Staat‹. Auf Gemeinsamkeiten deutete auch die Verbreitung von ›Vernunft‹-Semantiken, die darauf hinausliefen, individuelle finanzielle Ansprüche zurückzufahren, im öffentlichen Dienst den Staat zu entlasten und die Ertragslage der Unternehmen und deren Position im Marktgeschehen zu stärken. Nicht zuletzt war die Nähe zum Krisennarrativ der Opposition an einem zentralen Punkt unübersehbar: Die von CDU und CSU als inflationsursächlich angeprangerte Überdehnung der Erwartungshorizonte der Bürger ergänzte passgenau die These von den kontinuierlich überzogen gesteigerten Ansprüchen an den Staat, der ›Anspruchsinflation‹.190 Dennoch sind zwei Einschränkungen zu machen. Die erste bezieht sich auf das Quellenkorpus. Dass die Befunde der Semantik-Analyse eine Nähe zu konservativ-neoliberalen Argumentationsweisen in den Unregierbarkeitsdiskussionen und nicht zu solchen kapitalismuskritischer Provenienz aufzeigen, lässt sich nur bedingt zu einer These über deren prinzipielle diskursive Unterlegenheit weiterspinnen. Die hier untersuchten Quellen, der Bundestag mit sozialliberaler Regierung und christdemokratischer Opposition sowie (sozial-)liberale bis konservative Zeitungen, waren keine typischen Foren kapitalismuskritischer 187 Hennis, Begründung der Fragestellung, S. 17. 188 Vgl. ebd. 189 Vgl. Metzler, Staatsversagen, S. 247 f. 190 Vgl. Offe, »Unregierbarkeit«, S. 296 f. Offe arbeitet an dieser Stelle die Elemente neo-konservativer Unregierbarkeits-Argumentationen heraus, darunter die »Erwartungs-Überlastung« (S. 296), die sich gleichermaßen auf die »›Überdehnung‹ sozialstaatliche[r] Teilhabe- und demokratischer Teilnahmeansprüche« (S. 297) beziehe.
Späte Meta-Deutungen
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Gesellschaftstheoretiker. Insofern hätten entsprechend deutliche Bezugnahmen ohnehin überrascht. Die zweite Einschränkung betrifft explizite Bezugnahmen auf die Unregierbarkeitsdebatten, wie sie sich im Wortgebrauch (›Unregierbarkeit‹ / ›unregierbar‹) zeigten. Solche Wortverwendungen kamen in der untersuchten Presse und den Parlamentsprotokollen ausgesprochen selten vor, regelrechte Debatten um diese Begriffe entsprangen erst recht nicht.191 Paradoxerweise galt dies, obgleich die Presse bisweilen durchaus diagnostizierte, »alle Welt [spreche] von der Unregierbarkeit des modernen Staates«.192 Mitunter lehnten Politiker es ausdrücklich ab, das Wort »in den Mund [zu] nehmen«, womöglich, weil sie die performativen Folgen fürchteten, nicht zuletzt für die Legitimation ihres eigenen Status.193 Eine der dünngesäten ausdrücklichen Thematisierungen der Unregierbarkeits frage fand sich im Herbst 1976 in einem Kommentar von SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein. Darin ordnete er »›Unregierbarkeit‹« als ein »Kennwort« für einen abstrakten, nicht an präzisen Indikatoren festzumachenden Zustand ein.194 Er analysierte die These von der ›Unregierbarkeit‹ zunächst als ein Debattenphänomen, das politisch praktisch nur begrenzt durchschlage, weil »[i]rgendwie […] immer weitergewurstelt« werde.195 Diese An- und Einsicht hinderte ihn nicht, dennoch inhaltlich dafür zu plädieren, das Risiko drohender Unregierbarkeit zu senken. Er forderte eine strikte »binnenländische Haushaltsordnung«, die sicherstelle, dass die Menschen in der Bundesrepublik »nicht länger über [ihre] Verhältnisse leb[t]en«.196 Dazu müsse das »enge Netz der sozialen Sicherung […] aufgedröselt« und bei der Versorgung von »Rentner[n] und Kranke[n]« 191 Auf eine Ausnahme muss hingewiesen werden: Ende 1974, Anfang 1975 entbrannte kurzzeitig eine Debatte um eine Äußerung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Heinz Kühn. Politiker von CDU und CSU, z. B. Karl Carstens, Bundestag, 7. WP, 135. Sitzung, 11.12.1974, S. 9263 B, warfen Kühn vor, er habe für den Fall von Wahlsiegen der Union vor der Unregierbarkeit der Bundesrepublik gewarnt. Kühn nahm im Bundestag auf die Vorwürfe zu seiner »Interpretation der Unregierbarkeit« Bezug und bestritt sie ausdrücklich. Er habe gerade nicht die Union insgesamt gemeint, sondern eine Regierung unter Führung von Franz Josef Strauß und Alfred Dregger. Diese würden so »sehr nach rechts polarisier[en], daß die zwangsläufige Konsequenz eine Polarisierung nach links« sei und eine »italienische Situation« drohe. – Heinz Kühn, Bundestag, 7. WP, 155. Sitzung, 13.03.1975, S. 10805 A, 10805 D – 10806 A. 192 Wolfgang Rieger, Rat für Regierende, in: DIE ZEIT, Nr. 43, 17.10.1975, S. 44. Rieger sah einen Grund, warum der (politik-)wissenschaftliche Diskurs sich kaum mit den Debatten und Handlungsreflexionen der Politiker verbinde, in Theorie- und Sprachbarrieren wie dem »vertrackte[n] Fachjargon« im akademischen Feld. 193 »Ich habe innerlich gezittert«. Ein Gespräch mit Herbert Wehner, in: DIE ZEIT, 04.07.1975, S. 3. 194 Rudolf Augstein, Geht nun gar nichts mehr?, in: DER SPIEGEL , Nr. 44, 25.10.1976, S. 26. 195 Ebd. 196 Ebd.
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Einzelbetrachtungen
gekürzt werden.197 Unverkennbar stützte sich auch Augsteins Argumentation auf die Topoi des ›strukturell überlasteten Haushalts‹ und des ›unbezahlbaren (Sozial-)Staats‹ und zeugte klar von einer Nähe zur konservativ-neoliberalen Variante der Unregierbarkeitsdiagnose. Bereits im Vorjahr hatte Hans Schuster in der SZ eines der noch selteneren Beispiele für eine ausgesprochen tiefgehende Auseinandersetzung mit der Unregierbarkeitsthese in der Tagespresse geliefert. Im September 1975 versuchte er sich an einer Einordnung der Diskussionen, die auf mehreren Tagungen zum Zusammenhang von »wirtschaftliche[n] Krisenerscheinungen und Wachstumshemmungen« sowie »Zweifel[n] an der Zukunft der parlamentarischen Demokratie« respektive der »vermeintlich drohenden ›Unregierbarkeit‹ westlicher Gesellschaften« geführt worden waren.198 Seine eigene Position lief auf ein Plädoyer für Vertrauen in das System der liberalen Demokratie hinaus, zumindest in Deutschland. In ungewöhnlich reflektierter Weise lokalisierte Schuster die Ursachen für das Aufkommen der Thesen (auch) in Deutschland in einer Diskrepanz von Außen- und Innen-Sicht sowie einer Verschiebung von Steuerungsutopien in der Vergangenheit zu Unsicherheitsszenarien in der Gegenwart. Während im Ausland die »relative Krisenfestigkeit« der Bundesrepublik gerühmt werde – in wirtschaftlicher Sicht wie mit Blick auf das parlamentarische System –, herrsche in Deutschland Verunsicherung. Diese beruhe nicht allein auf Inflationsangst und verlorenem Glauben an stetiges Wachstum, sondern ergebe sich vor allem aus der strukturell erscheinenden Arbeitslosigkeit und dem Faktum, dass »der Bürger die Arbeitslosenziffern nicht mit denen des Auslands, sondern mit denen von gestern und vorgestern« vergleiche.199 Daneben hätten sich zwischen Ende der 1960er und Mitte der 1970er Jahre die Ansatzpunkte für Sorgen um die Zukunft des parlamentarischen Systems der Bundesrepublik verschoben. Die in den späten 1960er Jahren aufgekommene Überzeugung, dass »Wirtschaftsabläufe [so] reguliert« werden könnten, dass Politik zu Technokratie verkomme, habe die Befürchtung genährt, dass die »liberale Dynamik des parlamentarischen Wechselspiels« verloren gehe.200 Im Zuge des »neuen Nord-Süd-Klassengegensatz[es]« und der »Weltwirtschaftskrise« schlage hingegen jetzt der »Aberglaube an die Machbarkeit und Planbarkeit aller Dinge [um] in den ebenso falschen Fatalismus, daß die parlamentarischen Demokratien die Zukunftsaufgaben nicht mehr bewältigen könnten«.201 Schuster teilte diesen Fatalismus mithin nicht. Vielmehr sah er in den Änderungen, die sich seit Krisenbeginn in der Regierungsprogrammatik vollzogen hätten, dem auf der Opposition neu lastenden Druck, 197 Ebd. 198 Hans Schuster, Die Furcht vor der Unregierbarkeit, in: SZ , Nr. 204, 06./07.09.1975, S. 4. 199 Ebd. 200 Ebd. 201 Ebd.
Späte Meta-Deutungen
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»Alternativen vorzulegen«, und den funktionierenden Prozessen öffentlicher Meinungsbildung im Dreieck von Politik, Presse und Verbänden den Beweis für die Funktionsfähigkeit des liberal-demokratischen Systems.202 Entgegen der Unregierbarkeitsthesen sei die liberale Demokratie stark; »Alternativen« gebe es – indes nur »in ihr«, nicht aber »zu ihr.«203
202 Ebd. 203 Ebd. Hervorhebungen im Original.
XVI. Zwischenfazit
Als Anfang 1976 das Wiedereinsetzen wirtschaftlichen Wachstums weithin erkennbar wurde, mithin innerhalb des politischen Kommunikationsraums Konsens über den Beginn des ›Aufschwungs‹ bestand, ebbten Deutungen einer Wirtschaftskrise weitgehend ab. Konträr zur Krise der 1960er Jahre verband sich damit allerdings nicht die Erwartung, einen Weg gefunden – respektive ein wirtschaftspolitisches Instrumentarium in der Hand – zu haben, um zur Vor krisenprosperität zurückzukehren. Offenkundigstes Beispiel für diese veränderten Annahmen waren die Erwartungen fortgesetzt hoher Arbeitslosigkeit. (Wie die Folgejahre zeigten, sollten sie sich als zutreffend erweisen.1) Während der Umgang mit der ›Wachstumsdelle‹ den zeitgenössischen Glauben an Steuerung und Planbarkeit (auch) der Konjunktur bestätigt hatte, demontierte der Krisendiskurs der 1970er Jahre diesen Glauben zügig. Vor einer wirtschaftlich und wirtschaftspolitisch-programmatisch unklar konturierten Zukunft zu stehen, machte einen Baustein der mentalitätsgeschichtlichen Zäsur aus. Die zeitgenössisch sehr schnell entwickelte, sich schon zu Beginn des Jahres 1974 in Aussagemustern zeigende Überzeugung, dass mit den Ereignissen seit Ende 1973 der »kurze Traum immerwährender Prosperität«2 ein jähes Ende gefunden habe, bedeutete gleichwohl nicht, mit dem Zeitraum vor 1973 vollständig zu brechen. Vor allem die Persistenz der wirtschaftspolitischen Leitkategorien Geldwertstabilität, (Voll)-Beschäftigung und – trotz der Debatten um dessen bald erreichte ›Grenzen‹ – Wachstum verdeutlichten dies. Aus einem zeittheoretischen Blickwinkel besehen verlor die Zukunft ihren Stellenwert als aktiv beschriebener und bemessener Gestaltungsraum. Politisch, zumal wirtschaftspolitisch büßte sie ihre Funktion als Legitimationsressource ein. Entsprechend fiel es schwer, in den wirtschaftspolitischen Debatten überhaupt ausbuchstabierte Zukunftsbilder zu finden. Erwartungen speisten sich eher aus der unmittelbaren Gegenwartserfahrung. Das Ende der Interpretationen einer akuten Krise rief weder die Hoffnung hervor, alle (davor dazu gezählten) Krisensymptome 1 Im Jahresdurchschnitt lag die Zahl der Arbeitslosen in der Bundesrepublik 1976, 1977 und 1978 bei 1,06 / 1,03 / 0,99 Millionen. – Vgl. Statistisches Jahrbuch 1979, S. 106. 2 Lutz, Der kurze Traum immerwährender Prosperität.
Zwischenfazit
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überwunden zu haben, noch die Erwartung, zu den Rahmenbedingungen des Booms zurückkehren zu können. Der unmittelbare Erfahrungsraum der Gegenwart strukturierte die unmittelbaren Erwartungen. Dagegen blieb die Funktion der Vergangenheit, ergo des klassischen Erfahrungsraums, undurchsichtig. Die Analyse trifft sich in dieser Sicht mit den in jüngster Zeit vermehrt vernehmbaren Diagnosen einer »neue[n] Zeit-Krise«: Kulturkritische Stimmen aus verschiedenen Disziplinen erblicken in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts das sukzessive Etablieren einer »Neuordnung und […] damit verbundenen Unordnung des Verhältnisses von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft«.3 Unordnung in Form von Uneinheitlichkeit und Widersprüchlichkeit offenbarte die semantische Untersuchung genauso bei den zeitgenössischen Versuchen, die ökonomische Problemlage begrifflich und sprachbildlich zu fassen. Verschiedene Komposita des Krisenbegriffs, je nach Akteursgruppe favorisiert oder gemieden, traten nach- und nebeneinander auf. Überdies ergab sich eine beachtliche metaphorische Vielfalt. Sie fiel deutlich größer aus als bei den zuvor untersuchten Krisen. Eindeutig dominierende Formen von Sprachbildern, die wie Anfang der 1930er Jahre und 1966/67 in einen Zusammenhang mit Strategien zur Problembehebung gestellt werden könnten, waren nicht auszumachen. Dies stützt die eingangs der Fallstudie referierte These eines programmatisch widersprüchlichen Handelns der sozialliberalen Koalition in der Wirtschaftspolitik.4 Die These wird ferner dadurch gestärkt, dass die Befunde zu domi nierenden Sprachmustern auf eine frühe Hinwendung zur Angebotspolitik deuteten, die konkreten Maßnahmen zur Krisenbekämpfung allerdings Ideen keynesianischer Konjunktursteuerung entsprangen. Die drei Konjunkturprogramme zwischen Mitte 1974 und Mitte 1975 versuchten, abnehmendem Wachstum und zunehmender Arbeitslosigkeit mit Nachfragesteigerungen zu begegnen. Die expansive Fiskalpolitik des Bundes stand einer restriktiven, monetaristisch orientierten Geldpolitik der Bundesbank gegenüber, die mit ihrem 1975 erstmals benannten Geldmengenziel finanzielle Spielräume absteckte. Diese waren nicht zuletzt für Tarifverhandlungen Orientierungs- und Disziplinierungsmaßstab, sollte die Inflation nicht wieder zunehmen. Ohnehin richteten sich Forderungen nach finanzieller Disziplin, effektvoll transportiert durch ›Opfer‹- und speziell ›Vernunft‹-Semantiken, unmittelbar seit Krisenbeginn an die ArbeitnehmerInnen. Sie sollten zur Entlastung der öffentlichen Haushalte, vor allem aber zur Stärkung der Ertragslage und Investitionskraft der Unternehmen beitragen und auf diese Weise helfen, Arbeitsplätze zu sichern und zu schaffen. Sowohl bei diesen Forderungen als auch hinsichtlich der Topoi, die grundsätzliche wirtschafts- und finanzpolitische Handlungsanleitungen ausdrückten, 3 Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen?, S. 250 f. 4 Siehe Kap. XII .2 bzw. Schanetzky, Von Keynes zu Friedman.
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Zwischenfazit
offenbarten sich keine gravierenden Unterschiede zwischen den hier betrachteten Akteuren. Bei der Interpretation dieser Beobachtung ist indes Vorsicht geboten. Sie erlaubt zwar Rückschlüsse auf die dominierenden Aussagemuster in jenem Teil der medialen Öffentlichkeit, der den liberal-marktwirtschaftlich orientierten Mainstream ausmachte. Bezöge man Stimmen mit ein, deren Wirkmächtigkeit für öffentlich dominierende Deutungen geringer war, beispielsweise linke Zeitungen, gewerkschaftsnahe und -fernere Gesellschaftskritiker, zeigte sich, dass diese Aussagen auch zeitgenössisch Widerspruch hervorriefen, wenngleich der Erfolg offenkundig begrenzt blieb. Vorsicht ist überdies deshalb geboten, weil die prinzipielle Gleichförmigkeit von Aussagen auf der Ebene der Handlungstopoi keineswegs bedeutet, der Krisendiskurs in Parlament und untersuchter Presse habe sich durch große Harmonie ausgezeichnet. Im Gegenteil: Die parteipolitische Polarisierung der 1970er Jahre zeigte sich in fundamental verschiedenen Erklärungen über die Krisenursachen, die zu zwei konkurrierenden Krisennarrativen führten. Diese fanden sich in nur leicht abgeschwächter Form auch in den Printmedien. Unter den hier ausgewerteten Organen vertraten SZ , ZEIT und bisweilen der SPIEGEL eher das regierungsnahe Narrativ, während die FAZ im Einklang mit den Unionsparteien stand. Nur im ersten Krisenabschnitt, der, ausgelöst durch einen politischen Konflikt, als ›Energie-‹ oder ›Versorgungskrise‹ mit der perspektivischen Gefahr einer ›Wirtschaftskrise‹ interpretiert wurde, zeigte sich eine diskursive Gleichförmigkeit. Kurzum: Solange ›Krise‹ eine plötzliche, zugespitzte (und von außen verursachte) Situation bezeichnete, engte sich das Spektrum möglicher Erklärungen, Verantwortungszuschreibungen und Handlungsvorschläge drastisch ein. Der sich so ergebende relative parteipolitische und mediale Konsens nützte der Regierung, die im Spätherbst 1973 weitgehend widerspruchlos agieren konnte. Dieser Vorteil schwand jedoch sofort, als ›Krise‹ in den folgenden Krisenabschnitten eine dauerhaftere Konstellation ökonomischer Schwierigkeiten beschrieb. Anders formuliert: als aus dem Bedeutungsspektrum von ›Krise‹ nicht länger der Ereignis-, sondern der Strukturbezug abgerufen wurde.
Fazit
XVII. Wirtschaftskrisen als politische Kommunikation
Die Arbeit hat Wirtschaftskrisen als Folge politischen Sprachgebrauchs und Faktor politischer Kommunikation in den Fokus gerückt. Dazu untersuchte sie den Sprachgebrauch in einzelnen Printmedien sowie – überwiegend anhand von Plenardebatten in Reichstag und Bundestag – die Rede- und Argumentationsweisen von Politikern. Aus dieser Perspektive erscheinen Krisen als ein politisch äußerst wirkmächtiges Deutungsmuster: Es restrukturierte Erwartungshorizonte und Handlungsspielräume und bewirkte so gravierende (wirtschafts-) politische Veränderungen. Die drei Fallstudien lassen sich zunächst unschwer als unabhängige Analysen lesen. In einer vordergründigen Lesart spiegelten die jeweiligen historisch-semantischen Befunde die politischen und wirtschaftsgeschichtlichen Eigenheiten der Krisen direkt wider. Löst man aber den Blick von den sprachlichen Kennzeichen im engeren Sinne, vor allem Redemustern und Einzelbegriffen, treten bemerkenswerte Gemeinsamkeiten hervor. Sie betreffen unter anderem Metaphern, Modi sprachlicher Raumkonstruktion sowie die Verwendungsweisen des ›Krisen‹-Begriffs. Im Folgenden wird die in der Einleitung aufgeworfene Frage nach Spezifika und wiederkehrenden Mustern der sprachlichen Krisenhervorbringung beantwortet. Die beiden abschließenden Gedanken gelten der übergeordneten Wirkmächtigkeit der untersuchten Diskurse jenseits des öffentlichen Sprach gebrauchs und der Frage, ob und inwieweit die Krise der 1970er Jahre bis in die Gegenwart fortwirkt.
Spezifika Auf den ersten Blick wies jede Wirtschaftskrise eine eigene Geschichte auf, war von sehr spezifischer Gestalt. Dies betraf nicht nur – und wenig überraschend – die wirtschaftlichen, politischen und medialen Kontextbedingungen, die Konstellationen schufen, in denen Krisendeutungen Plausibilität erlangten und dauerhaft im politisch-medialen Diskurs verankert wurden. Sondern dies zeigte sich auch sprachgeschichtlich: in der Mehrheit der tragenden Topoi sowie den Einzelbegriffen, die den Krisendiskurs hervorbrachten und prägten. Die Sprach-
tragende Topoi / Einzel begriffe
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Sprach reflexion
Wirtschaftskrisen als politische Kommunikation
muster und Kernbegriffe repräsentierten die je eigenen ökonomischen und politi schen Problemgeschichten. Bei allen drei Krisendiskursen ließen sich Diagnose-, Erklärungs- und Handlungstopoi differenzieren. Eine derartige Kategorisierbarkeit ermöglichten die zentralen Einzelbegriffe nicht. In der Weimarer Republik erlangten mit den Begriffsfeldern um ›Not‹, ›Elend‹ und ›Kampf‹ Beschreibungstermini einen hohen Stellenwert. Pragmatisch einsetzbar waren sie, um das gravierende Ausmaß individuell spürbarer Krisenfolgen oder der politischgesellschaftlichen Zersplitterung zu akzentuieren und daraus politischen Handlungsdruck abzuleiten. Nicht nur in Weimar, sondern in allen drei Krisen kamen unmittelbar ›Opfer‹-Formulierungen auf. Sie dienten nicht allein der Beschreibung, sondern eigneten sich angesichts des religiösen Restbestandes im ›Opfer‹Begriff auch, um individuellen Verzicht als Mittel zur Krisenüberwindung zu preisen. Mit ihnen waren indes keineswegs so eindeutige Programmatiken verbunden wie mit den ›Vernunft‹-Semantiken, die in den 1970er Jahren bemüht wurden, um die Hinwendung zu angebotsorientierten wirtschaftspolitischen Konzepten einzufordern. Im Einklang mit der zeitgenössischen Macht technokratischer Steuerungsphantasien erwies sich 1966/67 mit ›Stabilität‹, ›Wachstum‹ und ›Vertrauen‹ eine Begriffstrias als wesentlich, die parteiübergreifend geteilte Zielkoordinaten der Wirtschaftspolitik beschrieb – und deren Erreichen als Gradmesser für die Tauglichkeit komplexer Konzepte wie der Globalsteuerung fungierte. Unterschiede zwischen den Krisen zeigten sich nicht nur bei wesentlichen semantischen Versatzstücken, also der vorwiegend und wiederkehrend verwendeten Sprache. Sie zeigten sich ebenso im Maß der Sprachreflexion. Von Krise zu Krise ließ sich ein gesteigertes Bewusstsein für die Macht und Folgewirkung erkennen, die vom Gebrauch einzelner Begriffe und Redemuster ausging. Die Krisendiskurse passten sich damit in eine sprachgeschichtliche Grundtendenz des 20. Jahrhunderts ein.1 Bereits in der Weltwirtschaftskrise waren vereinzelt Überlegungen zur Angemessenheit bestimmter Begriffe zu beobachten; ein eindrückliches Beispiel stellte das Nachdenken über unterschiedliche Verständnisse von ›Krise‹ in Deutschland und den USA dar.2 In den Weimarer Diskus sionen blieben solche Reflexionen aber Randerscheinungen. Die Krise 1966/67 führte hingegen ein signifikant gesteigertes Bewusstsein für die Wirkmächtigkeit spezifischer Semantiken vor Augen. Zum einen ging mit der Globalsteuerung ein ganzes Set von Schlüsseltermini einher, was dazu beitrug, den Anschein konzeptueller Neuartigkeit und Kohärenz zu verstärken. Zum anderen rief genau dieses Begriffsensemble den Verdacht hervor, partiell durchaus konventionelle wirtschaftspolitische Maßnahmen würden durch eine Form semantischer 1 Vgl. Steinmetz, New Perspectives, S. 3. 2 Siehe Kap. IV.5.
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Verkleidung überhöht. Eine nochmals gesteigerte Sensibilität für die politische Prägekraft eines konsequent verfolgten und strategisch ausgerichteten Sprachgebrauchs ließ sich in den 1970er Jahren erkennen. Besonders beachtenswerten Ausdruck fand sie in der Gründung der ›Projektgruppe Semantik‹ der CDU; im Krisendiskurs war sie erkennbar durch das konsequente Verfolgen einander dichotomisch entgegenstehender Krisennarrative. Einem synchron vergleichenden Narrativ der sozialliberalen Koalition und ihr nahestehender Medien wie der SZ widersprach eine diachron vergleichende Krisenerzählung von CDU und CSU sowie unionsnaher Medien wie der FAZ . Der musterhafte Aufbau dieser ›Erzählungen‹ verwies auf Ähnlichkeiten mit »Plotstrukuren«, wie sie kulturwissenschaftliche Arbeiten zu Krisen(-geschichten) bisweilen behaupten und gerade am Beispiel zeitlich und räumlich überschaubarer Krisen anschaulich herausarbeiten.3 Im Übrigen aber erlaubten es die hier untersuchten Krisen nicht, kohärente Erzählmuster zu identifizieren, deren Aufbau als Abbild literarischer Genres gelten könnte. Die Gründe hierfür lagen mutmaßlich in der Komplexität der Krisen, der Heterogenität der Akteure, die je eigene pragmatische Interessen verfolgten, und – abgesehen von der ›Wachstumsdelle‹ – in der Krisendauer. Andere Beobachtungen kämen zustande, wenn man nicht nach der zeitgenössischen semantischen Konstruktion der Krisen, sondern dem pragmatischen Gebrauch von ›Krise‹ in historiografischen Darstellungen – sei es zur politischen Geschichte, Wirtschaftsgeschichte oder der Geschichte des Kapitalismus – fragen würde. Schon die Ausführungen zum jeweiligen Forschungsstand machten offenkundig, dass der ›Krise insgesamt‹ hier tatsächlich eine narrative Ordnungsfunktion zukam. Sie fungierte nicht nur als Erklärungsfaktor, sondern ebenso als Orientierungsraster oder Wendepunkt der Geschichten.4 Das Gewicht, das der Presse – weiter gefasst: den Medien – insbesondere bei den beiden untersuchten Nachkriegskrisen zukam, ist nicht zu unterschätzen und böte sich fraglos als Thema einer gesonderten mediengeschichtlichen Untersuchung an, die hier weder beabsichtigt noch zu leisten war. Aus der historisch-semantischen Sicht bestand es vor allem darin, eine Konzentration bestimmter Sprachmuster in kurzer Zeit zu bewirken. Auch für die Weimarer Republik war festzustellen, dass die grundlegenden Topoi, die für die einzelnen Krisenphasen kennzeichnend waren, gleichermaßen im Sprachgebrauch der untersuchten liberalen Ullstein-Presse sowie des Wirtschaftsdienstes und der Politiker auftraten. Das Aufkommen und die Veränderung einzelner Topoi vollzogen sich in Weimar allerdings deutlich langsamer als in der Bundesrepublik. 3 Meyer / Patzel-Mattern / Schenk, Einführung, S. 13. Als sehr plastisches Beispiel, das sich allerdings eher auf eine Katastrophe als auf eine Krise bezieht, siehe Patzel-Mattern, »Unsagbares Grauen«. 4 Vgl. auch Tanner, Krise, S. 158 f.
Presse / Medien
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Deutungs dynamiken
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Das machte eine trennscharfe Abgrenzung von Krisenphasen aufgrund semantischer Befunde keineswegs unmöglich, erschwerte sie aber. Die Krisen der 1960er und 1970er Jahre erlaubten es dagegen eher, Krisenabschnitte präzise voneinander zu unterscheiden. Dies beruhte unter anderem auf dem Phänomen unmittelbar erkennbarer Deutungsdynamiken. Mit ›Deutungsdynamiken‹ gemeint sind sich sehr schnell vollziehende Veränderungen oder Erweiterungen von Deutungen und Sprachmustern in einem Presseorgan oder in den Redeweisen von Politikern durch Aufgreifen gerade aufgekommener Deutungen anderer Medien oder Politiker. Wie anhand der Krisenausbrüche infolge des Koalitionsbruchs 1966 und des Ölboykotts gegen die Niederlande 1973 gezeigt, etablierte sich auf diese Weise das Deutungsmuster ›Krise‹ binnen weniger Tage in der westdeutschen Öffentlichkeit. Auch der Krisendiskurs seit Herbst 2008, als nach dem Bekanntwerden der drohenden Insolvenz der Hypo Real Estate ebenfalls rasant und folgenschwer das Deutungsmuster ›Krise‹ aufkam, führte eine derartige Dynamik vor Augen. Die angesichts solcher Beobachtungen auf der Hand liegende Frage nach der genauen ›Spur‹ des Deutungsmusters durch verschiedene Medien, nicht zuletzt das Fernsehen, sowie einzelne Teilöffentlichkeiten ließe sich indes nur mit einem wesentlich breiter angelegten, dann aber historisch-semantisch nicht mehr adäquat zu bearbeitenden Quellenkorpus verfolgen. Auch unabhängig davon ist jedoch festzustellen, dass die beschleunigte Verbreitung und Veränderung weithin geteilter Interpretationsweisen sowie das zügige Konvergieren von Presse- und Politiker-Sprachgebrauch einen merklichen Unterschied zu Weimar ausmachte. Bei einem anderen Aspekt traten hingegen weder signifikante Unterschiede noch Überraschungen hervor: Die Differenzen zwischen den Zeitungsgenres lagen im Bereich des ex ante-Erwartbaren. Höhepunkte der Krisendiskurse waren am einfachsten an der Berichterstattung der Boulevardpresse festzustellen. Für B. Z. am Mittag und BILD waren Wirtschaftsfragen nicht der zentrale Interessengegenstand. Über längere Zeiträume im Krisenverlauf spielten sie keine Rolle. Dagegen avancierten sie speziell bei BILD in Phasen (so auch erzeugter) großer Zuspitzung – speziell auf Personen, einzelne Ereignisse und politische Entscheidungen – für kurze Zeit zum dominierenden Thema. Die Monate von Ende Oktober 1966 bis Mitte Januar 1967 und der Spätherbst 1973 dienen hierfür als augenfällige Exempel. Mutmaßlich zeigen sich hier Kontinuitätslinien bis in die jüngste Vergangenheit. Zumindest gelangte eine der diskurslinguistischen Krisenstudien am Beispiel der Agenda-Krise des Jahres 2003 zu vergleichbaren Beobachtungen.5 Den Gegenpol zur Boulevardbericht5 Scholz und Wengeler, »Steuern runter macht Deutschland munter«, S. 165–170, konnten bei ihrer Untersuchung der Monate Januar bis Juni 2003 zum einen die Zuspitzung auf einzelne Personen – u. a. »›Reformer[ ]‹« wie Schröder und Clement sowie »›Blockierer‹«
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erstattung bildete die Wirtschaftspresse. Dass Wirtschaftszeitungen ökonomische Fragen tagtäglich zum Gegenstand ihres Interesses machten, versteht sich von selbst. Ebenso selbstverständlich rangierten sie in puncto Analysetiefe und Artikelumfang vor der Qualitäts- und Boulevardpresse. Mehr noch als das Handelsblatt war der Wirtschaftsdienst an der Schnittstelle von ökonomischem Spezialdiskurs – respektive einer wirtschaftswissenschaftlichen Teilöffentlichkeit – und einer breiteren Medienöffentlichkeit angesiedelt. Weil er bisweilen Artikel namhafter Ökonomen wie John Maynard Keynes druckte, fanden sich manche aus der wissenschaftlichen Diskussion stammende Sprachmuster, sowohl Erklärungs- als auch Handlungstopoi, in seiner Berichterstattung früher als in der übrigen hier analysierten Presse. Die Qualitätszeitungen schließlich bewegten sich zwischen boulevardesker Zuspitzung und tiefergehenden ökonomischen Analyseversuchen. Ihre Berichterstattung war am stärksten durch die Verbindung wirtschaftlicher Problemlagen und tagespolitischer Entwicklungen gekennzeichnet. Daraus ergaben sich gleich dreierlei Möglichkeiten der Meinungsbeeinflussung: Erstens nahmen die Zeitungen bei ihrer ausführlichen Schilderung von Parlamentsdebatten – bei SZ und FAZ inklusive längerer Zitatabdrucke aus den gehaltenen Reden – eine Auswahl vor und beeinflussten so, welche Rede- und Argumentstationsmuster sie transportierten. Zweitens setzten sie, wie jede andere Zeitung, in den gewöhnlichen Artikeln Schwerpunkte. Die expliziteste Akzentsetzung und inhaltliche Positionierung fand sich – drittens – in Kommentaren. Sie fungierten als Ort für appellative Äußerungen. Inhaltliche Forderungen waren in der Boulevard- und Wirtschaftspresse hingegen Bestandteil der regulären Artikel, sofern sie überhaupt vorkamen. Ein letzter signifikanter Unterschied ergab sich bei möglichen und tatsächlich abgerufenen Orientierungsreferenzen. Bezugnahmen auf vorhergehende Krisen kamen in allen drei Fällen vor. Bei der Weltwirtschaftskrise standen freilich wenige Vergleichsmöglichkeiten zur Verfügung, und es ließ sich auch kein Muster erkennen. In den wenigen Fällen, in denen Parallelen gesucht oder Einordnungen in Krisenmuster versucht wurden, gereichten unterschiedliche Krisen zur Referenz, von der Gründerkrise ab 1873 bis zur Konjunkturkrise 1926. Bei den Krisen in der Nachkriegszeit bot sich eine andere Szenerie: 1966 und 1973 (und genauso 20086) kamen zu Beginn der ersten Krisenphase Vergleiche mit der Krise der 1930er Jahre auf. Sie hielten sich jedoch nur kurzzeitig und entwickelten sich nicht zu einer dauerhaften Handlungsreferenz. Gleichwohl bewie Eichel, Müntefering und linke Sozialdemokraten (vgl. ebd., S. 165 f., Zitate S. 165) – ausmachen, was sie von der »Inszenierung [eines] Showdowns« (ebd., S. 166) sprechen ließ. Zum anderen zeugten ihre Beobachtungen von einer merklichen Intensivierung der Berichterstattung im unmittelbaren Umfeld der berühmt gewordenen Agenda-Rede Gerhard Schröders vom 14. März 2003 (vgl. ebd., S. 166–169). 6 Vgl. Wengeler, »Noch nie zuvor«, S. 144–151.
Orientierung/ Referenzen
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wegten die Krisendiskussionen einige Autoren zu abstrahierenden Krisenschematisierungen, bei denen die Weimarer Krise die entscheidende Orientierung bot. Dies gilt speziell für die anfangs geheim gehaltene Denkschrift Helmut Schmidts aus dem Frühjahr 1974. Es erscheint plausibel, dass Schmidts darin zum Ausdruck gebrachte Furcht vor einem abermaligen Implodieren der Weltwirtschaft insoweit handlungsleitend wurde, als dass sie ihn bestärkte, zusammen mit Giscard d’Estaing das Austauschforum der Weltwirtschaftsgipfel zu initiieren. Letztlich könnte man das gesamte Sprachmuster der Warnung vor einem ›Rückfall in den Protektionismus‹ als eine Handlungsorientierung auf Basis der Erfahrungen der 1930er Jahre betrachten. Bloß war dies nicht die einzige und keinesfalls die dominierende wirtschaftspolitische Leitlinie in den 1970er Jahren. Und: Im öffentlich-politischen Sprachgebrauch wurde sie nicht explizit mit den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise in der Weimarer Republik begründet. Wenn sie auftraten, ließen sich die formulierten Weimar-Analogien primär mit pragmatischen Überlegungen erklären.7 Das Stichwort ›Weimar‹ bot ein Kondensat von Erfahrungen und Assoziationen, mit dem augenblicklich der Ernst einer Situation und das potenzielle Ausmaß eines Krisenverlaufs vor Augen zu führen waren. Mit dem Gebrauch nur eines einzigen Wortes ließ sich eine Warnungsprognose formulieren; seine Wirkung, die unmittelbar Erwartungen dämpfte, machte es für den Sprachgebrauch von Politikern besonders attraktiv. Die behaupteten potenziellen Weimar-Analogien zielten indes nicht unbedingt auf den gleichen Fluchtpunkt. Im Unterschied zu den 1970er Jahren ging es im Herbst 1966 – anders als die Historiografie bisweilen suggeriert – nicht zuvorderst um einen Vergleich ökonomischer Problemlagen, sondern um eine befürchtete Destabilisierung des Staates im Falle eines fortgesetzten Regierungsvakuums. Kurzum: Die durch den Vergleich beabsichtigten Warnungen zielten weit weniger auf die Weltwirtschaftskrise als vielmehr auf die Staatskrise der Weimarer Republik.
Gemeinsamkeiten Für das Kerninteresse der Studie reizvoller ist die Frage nach Gemeinsamkeiten, denn sie verweisen auf wiederkehrende Elemente und Merkmale semantischer Krisenkonstruktionen.
7 Dieses Merkmal macht Ullrich, Der Weimar-Komplex, S. 13, auch als Charakteristikum der in verschiedenen politischen Debatten der ›neuen‹ Bundesrepublik bemühten WeimarAnalogien aus.
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Zwar schlugen sich die Krisenspezifika in der Mehrheit der Sprachmuster nieder, dennoch traten auch Topoi auf, die bei jeder Krise auszumachen waren. Bei ihnen handelte es sich um unspezifische Redemuster, mit denen die (in der Regel plötzlich eingetretene) Neuartigkeit einer Situation – mithin ein Bruch in einer unterstellten linearen Zeitentwicklung – ausgedrückt, ›notwendige‹ oder ›erbrachte Opfer‹ eingefordert oder beklagt und eine ›sich bald bessernde Lage‹ prognostiziert werden konnten. Letzteres Muster konnte die Zukunft als Legi timationsressource für gegenwärtiges Handeln entwerfen und war so von pragmatischem Wert für Regierungsvertreter oder regierungsnahe Stimmen. Zumindest der Topos der Neu- oder Einzigartigkeit – der ›nie dagewesenen Situation‹ – kennzeichnete auch die Krisen zwischen den 1970er Jahren und der Gegenwart.8 Davon zeugen die diskurslinguistischen Arbeiten der Forschergruppe um Martin Wengeler, der dieses Redemuster als »Singularitätstopos« bezeichnet.9 Anders als die Topoi lassen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Metaphernvorkommens weniger leicht kategorial differenzieren. Neben Sprachmustern und Einzelbegriffen fungierten Metaphern als drittes Element semantischer Krisenkonstruktion. Als Sprachbilder evozierten sie in direkterem Maße plastische Vorstellungen, was die transportierten Aussagen zum einen intuitiv eingängiger, zum anderen komplexer, weil deutungsoffener werden ließ. In den Details wies jede Krise einen eigenen Metaphernhaushalt auf. Für seine konkrete Zusammensetzung erschienen drei Faktoren ausschlaggebend: Der Grad der dem Staat zugeschriebenen Verantwortung, aktiv in die Wirtschaft einzugreifen, der Einfluss angrenzender Diskurse sowie die umfassendere politische Problemgeschichte. Zumindest legt die größere Verbreitung an Körpermetaphorik im Wirtschaftskrisendiskurs der Weimarer Republik eine Wirkung der zeitgenössischen biopolitischen Diskurse nahe. Die beachtliche metaphorische Heterogenität in den 1970er Jahren verweist wiederum darauf, dass nicht nur die Energie- und Wirtschaftslage, sondern zeitweise ebenso das Verhältnis zwischen ›westlicher‹ und ›arabischer‹ Welt als Krisenfaktor erschien. Der erstgenannte Faktor hingegen war an zwei Metapherngruppen zu erkennen, die stets auftraten: Körper-, oft Krankheitsbilder einerseits, Mechanik8 Vgl. z. B. zur Krise 2008 Wengeler, »Noch nie zuvor«. S. 148, 155. Bemerkenswerterweise wird die These vom fallübergreifenden Vorkommen des Topos auch gestützt durch die Studie von Reinhart / Rogoff, This Time is different. Trotz ihres inhaltlich gänzlich anders gelagerten Interesses verweist der Titel auf einen Aspekt der Konstruktion von Krisen: die stets wiederkehrende Behauptung, die gegenwärtige Krise stelle ein neuartiges Phänomen dar (auf das man vorbereitet sei, da die Fehler aus vorangegangenen Krisen nicht wiederholt würden), vgl. ebd., S. 1. 9 Z. B. Wengeler, Analyse von Argumentationsmustern, S. 54. Vgl. zudem – inhaltlich ähnlich, aber ohne die explizite Verwendung der Topos-Bezeichnung – dens. / Ziem, Wie über Krisen geredet wird, S. 70.
unspezi fische Topoi
Metaphern
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Kriterium: Arbeits marktlage
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bzw. Maschinenmetaphern andererseits. Unter anderem war die Rede vom ›Wirtschaftskörper‹, der ›Wirtschaftsbelebung‹, verabreichten ›Konjunkturspritzen‹, notwendigem ›Ankurbeln‹ oder dem (bockenden) ›Konjunkturmotor‹. Folgt man der Annahme, dass Metaphern nicht allein Übertragungsfunktionen zwischen unterschiedlichen Bildbereichen erfüllen oder einzig Veranschaulichungszwecken dienen, sondern Bedeutung produzieren und einen Zugang zu stabileren Sprach- und Denkstrukturen eröffnen, deutet der Befund über die einzelnen Krisendiskurse hinaus. Er verweist auf prinzipielle Konzeptualisierungen und unterstellte Funktionsweisen des Ökonomischen. Dieses erschien zum einen als Organismus, der natürlichen Regulationsprinzipien unterliegt, zum anderen als mechanisch-maschinistisches System, das Steuerung ermöglicht und verlangt. Obwohl diese Grundvorstellungen einander dichotomisch gegenüberstehen, traten beide Metapherngruppen durchweg auf, wenngleich ihre Verwendungsintensität variierte. Auch Befunde aus dem Krisendiskurs seit 2008 unterstreichen die Persistenz dieser Vorstellungsweisen.10 Dennoch ließ sich eine Veränderung feststellen, genauer ein Zusammenhang zwischen der sich sukzessive ausbreitenden Überzeugung, der Staat habe eine Eingriffsfunktion ins Wirtschaftsgeschehen – wie sie sich am stärksten in keynesianischem Gedankengut ausdrückte – und einer in Relation zunehmenden Verwendung mechanisch-maschinistischer Sprachbilder. Die Verwendungsquote organischer Metaphorik blieb jedoch über alle Krisenzusammenhänge hinweg höher. Der Grund hierfür liegt mutmaßlich in der längeren Tradition dieses Bildhaushalts; dies gilt gerade für Krankheitsmetaphorik, die im 19. Jahrhundert das meistverwendete Vokabular zur Beschreibung ökonomischer Störungen bereitstellte. Insgesamt lassen sich Sprachbilder des ›Körpers‹, beispielsweise in der Wendung vom ›Staats-‹ oder ›politischen Körper‹ teils bis in die Antike zurückverfolgen, während Maschinenmetaphern erst seit der Frühen Neuzeit aufkamen.11 Hinzu kommt, dass organische Sprachbilder kompatibler mit (neo-)klassischen respektive liberalen Ansätzen in der Wirtschaftstheorie sind, die ein sich selbstregulierendes ökonomisches System unterstellen und politischen Eingriffen skeptisch gegenüberstehen. Der Konnex zwischen Wirtschaftstheorie und Metaphorik ist dabei als doppelter Prozess zu denken; die Metaphorik kann sowohl als Faktor, der die Wirtschaftstheorie beeinflusste, als auch als Ausdruck ebendieser wirtschaftstheoretischen Vorstellungen verstanden werden. Auch bei einem anderen Faktor könnte eine Längsschnittstudie zum Krisengeschehen der Gegenwart möglicherweise die Wiederkehr eines Musters aufdecken, das sich durch die drei analysierten Krisenfälle zog. Unter den Katego10 Zur Krise ab 2008 vgl. Kuck / Römer, Metaphern und Argumentationsmuster, S. 83–89. 11 Vgl.: Musolff, Metaphor, Nation and the Holocaust, S. 121–136; Stollberg-Rilinger, Staat als Maschine, (u. a.) S. 21, 36.
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rien, auf die referiert wurde, um das Fortbestehen einer Krise oder ihre Verschärfung zu behaupten, stieß ein Kriterium hervor: eine hohe Arbeitslosenzahl. Dieser statistische Ausdruck einer signifikanten Belastung des Arbeitsmarktes war die wichtigste Größe, um Krisendeutungen dauerhaft aktualisieren und plausibilisieren zu können. Bei allen drei Fallstudien zeigte sich, dass für das Etablieren breitenwirksamer Krisendeutungen nur bedingt eingetretene ökonomische Problemlagen der ausschlaggebende Faktor waren. Genauso verdeutlichten sie, dass im Krisenverlauf stets ein Nebeneinander verschiedener Kategorien zu beobachten war, mit denen das Wissen über Existenz und Ausmaß der wirtschaftlichen Störung beschrieben wurde. Schon in Weimar spielten quantifizierende Größen, zum Beispiel in Form von Außenhandelsbilanzen, eine Rolle, speziell in der Wirtschaftspresse. Ihr Stellenwert für den übrigen politischen Sprachgebrauch war aber gering. Mit der Fortentwicklung und Ausdifferenzierung der Wirtschaftsstatistik und insbesondere der »Erfindung des Bruttosozialprodukts« (Speich Chassé) verdichteten sich die Kategorien, die Wissen über den Zustand der Volkswirtschaft repräsentierten. Die seither allgegenwärtige und durch die Krisendiskurse seit den 1970er Jahren zwar wiederholt, aber stets nur kurzzeitig hinterfragte Größe des Wachstums – gemessen als Änderungsrate des BSP oder BIP – liefert hierfür das prägnanteste Beispiel. Gerade in Expertendiskussionen, davon zeugten die Jahresgutachten des Sachverständigenrates, stellte sie die dominierende Zielreferenz der Wirtschaftspolitik dar. Die entscheidende Größe, um öffentliche Krisendiskurse zu stützen, war sie nicht. Vielmehr bewiesen die Fallstudien, dass steigende, sinkende oder anhaltende Arbeitslosigkeit weitreichendere Folgen zeitigte. In der Weltwirtschaftskrise wurde sie, in den konkreten Äußerungen eng verknüpft mit dem Begriffsduo ›Not‹ und ›Elend‹, angeführt, um spätestens ab 1931 eine Abkehr von der Deflationspolitik Brünings einzufordern. In den 1970er Jahren war die Arbeitslosigkeit das Argument, trotz des Ende 1975 wieder einsetzenden Wachstums von einer neuen wirtschaftspolitischen Grundkonstellation und nicht von einer Überwindung der Krise im Sinne einer Rückkehr zur Vor-Krisen-Situation auszugehen. Am vielleicht augenfälligsten zeigte sich die Macht der Arbeitslosenzahlen jedoch zu Beginn des Jahres 1967. Als im Verlauf des Januar ihre überraschend drastische Steigerung bekannt wurde, spitzte sich die latente Krisendiskussion binnen weniger Tage auf die Deutung einer massiven ›Wirtschaftskrise‹ zu, die wiederum die wirtschaftspolitischen Entscheidungsprozesse in Regierung und Parlament beschleunigte. Zugleich galt der Rückgang der Arbeitslosenzahlen ab März als Indikator, den Höhepunkt der Krise überwunden zu haben – und das, obwohl der konjunkturelle Tiefpunkt noch bevorstand. Für die Wirkmächtigkeit dieser Zahl war offenkundig sekundär, dass sich die konkreten materiellen Folgen von Arbeitslosigkeit in den Fallbeispielen signifikant unterschieden. Während in Weimar Arbeitslo-
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›Vertrauen‹/ Zuversicht
Nur Männer … und Gräfin Dönhoff
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sigkeit zu elementarer Existenzgefährdung und (Massen-)Verelendung führte, bedeutete sie in der Bundesrepublik zuvorderst nicht mehr als eine Belastung der sozialen Sicherungssysteme. Auch weitergehende Befürchtungen bezogen sich weniger auf die Gefahren von Verarmung und sozialer Exklusion, sondern auf eine etwaige staatliche Destabilisierung im Falle einer dauerhaft hohen Arbeitslosenquote. Sowohl bei Erklärungen als auch bei Prognosen gelangten Sprecher und Auto ren regelmäßig an Grenzen: Nicht alles, was für eine Problemlage oder deren Überwindung ausschlaggebend schien, ließ sich quantifizierend ausdrücken oder präzise benennen, geschweige denn steuern. Die schwer-erklärbaren oder nicht-beeinflussbaren Elemente des Wirtschaftsgeschehens verlangten gleichwohl nach Begriffen. Dies erklärt die krisenübergreifende Konjunktur des Substantivs ›Vertrauen‹ und des Adjektivs ›psychologisch‹. Wer die ›Stimmung‹ der Wirtschaftssubjekte zum Argument machen wollte, erklärte sie zum ›psychologischen Faktor‹. Vertrauen her- oder sicherzustellen konnte, wie 1966/67, zu einem expliziten Ziel der Wirtschaftspolitik werden. Es fand seinen Niederschlag in der Wendung, ›Wirtschaftspolitik sei zu xy Prozent Psychologie‹. Was ›Vertrauen‹ genau bezeichnen sollte, blieb in den meisten Verwendungszusammenhängen unbestimmt. Anders als auf einer mikroökonomischen Ebene meinte es oftmals nicht den Glauben an die ökonomische Potenz und Integrität von Geschäftspartnern, wies folglich keinen direkten interpersonalen Bezug auf. Stattdessen lag in den meisten Kontexten nahe, dass entweder das Vertrauen in die Stabilität des staatlich-institutionellen Rahmens gemeint war oder das Schaffen von Investitionssicherheit. Somit bezeichnete ›Vertrauen‹ eine Kombination aus ›Zutrauen‹ und ›Zuversicht‹. Dies kam der von Jakob Tanner formulierten – und für gelingende Marktransaktionen unabdingbaren – Funktion von »Vertrauen« als »Mechanism[us] der Erwartungsstabilisierung« sehr nahe.12 Bestärkt wird diese Interpretation dadurch, dass in den Nachkriegskrisen ein ›Mangel an Vertrauen‹ wiederholt als Erklärung für eine geringe oder ausbleibende Investitionsneigung von Unternehmen angeführt wurde. Letztlich zielte die Redeweise auf die Erwartungshaltungen der Wirtschaftssubjekte – und dies schon lange vor der entsprechenden wirtschaftstheoretisch-programmatischen Wende in den 1970er Jahren. In der Betonung ›psychologischer Effekte‹ konnte sich indirekt der Sinn für performative Folgen bestimmter Redeweisen zur ökonomischen Lage ausdrücken. Die Unterstellung, diese schlügen sich (un-)mittelbar in Verhaltensweisen von Produzenten oder Konsumenten nieder, verwies somit auf eine Form impliziter Sprachreflexion. Krisendiskurse werfen nicht nur Fragen nach ihren Inhalten auf, sondern auch nach ihren Trägern. Einzelne Akteure können den Ordnungsprinzipien 12 Tanner, Krise, S. 164.
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nicht entkommen, deren Ausdruck die herausgearbeiteten Sprachmuster, Kernbegriffe und Metaphern waren. Das bedeutet im Umkehrschluss aber nicht, dass sie dem Deutungsmuster ›Krise‹ passiv ausgesetzt gewesen wären. Vielmehr prägten und veränderten es die einzelnen Sprecher und Autoren, indem sie Äußerungsweisen übernahmen oder in Details andere Akzente setzten. So reagierten sie auf bisher Gesagtes, positionierten sich (sprach-)strategisch oder verarbeiteten semantisch Veränderungen, die sich außersprachlich vollzogen. Beim Blick auf die Akteure stechen zwei Merkmale hervor: Mit Ausnahme von ZEIT-Herausgeberin Marion Dönhoff kamen erstens – soweit erkennbar13 – nur Männer zu Wort. Dies lässt Rückschlüsse über Einfluss und Themenschwerpunkte von Frauen in Parteien und Presse der Weimarer und Bonner Republik zu. Sowohl in Regierungen und Parlamentsfraktionen als auch in den Redaktionen der untersuchten Printmedien waren die Akteure, die über wirtschaftspolitische Fragen sprachen oder schrieben, männlich. Mithin analysierte die Studie einen männlichen Krisen-Sprachgebrauch, ohne dass es im Korpus ein weibliches Pendant gegeben hätte. Dies deutet auf eine geschlechtsspezifisch konnotierte Diskursverknappung hin. Zwar bleibt spekulativ – gerade angesichts der gegenwärtigen Krise, bei der es sich offenkundig anders verhält –, ob und inwieweit Frauen ein anders konturiertes Deutungsmuster ›Krise‹ hervorgebracht hätten. Gleichwohl verweist die Beobachtung auf Zugangsbedingungen zum Diskurs respektive Exklusionsmechanismen, die Frauen offenbar hinderten, sich die Bühnen, die Krisendiskurse schufen, aktiv anzueignen. Dagegen agierten – zweitens – einige männliche Politiker und Journalisten genau in dieser Weise. Ihr Verhalten ging deutlich über den Aspekt hinaus, dass beiden Akteursgruppen Krisen oftmals gelegen kommen, anders als Unternehmen, Arbeitnehmern oder Arbeitslosen. Krisendeutungen zu etablieren und aufzugreifen, bot ihnen die Chance, Aufmerksamkeit zu generieren, politisches Handeln zu (de-)legitimieren oder sich selbst in Szene zu setzen. Von dieser Option machten sie in sehr unterschiedlicher Weise Gebrauch. Weimarer Wirtschaftspublizisten wie Kurt Singer, der bis 1931 für den Wirtschaftsdienst schrieb, Hans Buschmann, der bei der Vossischen Zeitung als tonangebender Redakteur agierte, oder die leitenden SZ-Wirtschaftsredakteure Walter Slotosch und Franz Thoma profilierten sich (auch) als Krisen-Erklärer. Bei Politikern stachen vor allem Bonner Regierende hervor, die versuchten, sich als kompetente und energische Krisenbekämpfer darzustellen. Neben dem großkoalitionären Ministerduo Strauß und Schiller lieferte das eindrücklichste Exempel Helmut Schmidt, der sich als Finanzminister im Herbst 1973 berufen fühlte, Anrufern in einer BILD -Telefon13 Nicht alle Artikel in den Printmedien waren namentlich gekennzeichnet; sämtliche Artikel, bei denen entsprechende Angaben vorhanden waren, wiesen (abgesehen von Marion Dönhoff) auf männliche Autoren.
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Raumbezüge
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sprechstunde zu erklären, »wohin die Reise geht«,14 und sich als Kanzler bereitwillig das Etikett des ›Weltökonomen‹ anheften ließ.15 Ohnehin markierten Schmidt und sein Agieren einen qualitativen Wandel hinsichtlich der Aneignung von Krisendeutungen durch Regierende. So sticht im Vergleich der drei Fallstudien ins Auge, dass und wie deutlich sich Regierende in den 1970er Jahren aktiv der Krisenrede bedienten und diese fortgesetzt aktualisierten, um ihr politisches Handeln zu plausibilisieren. Die Redefigur vom ›Weltökonomen‹ wies über die so bezeichnete Person hinaus – und sowohl auf sprachliche Raumkonstruktionen als auch Sprachstrategien hin. Denn ›Welt-‹ Semantiken waren ein Faktor, mit dem in den 1920er und 1930er genauso wie den 1970er Jahren ein transnational verflochtener ökonomischer Raum beschrieben wurde. Prominentestes Beispiel war der Begriff der ›Weltwirtschaft‹. Hinzu kam eine Reihe weiterer ›Welt‹-Komposita, unter anderem jenes der ›Welt-Krise‹, bei denen meistens vage blieb, was ›Welt‹ konkret meinte. Das Reden von der ›Weltwirtschaft‹ sowie das Akzentuieren von Interdependenz-Narrativen – die Verortung der eigenen Volkswirtschaft in einem nationsübergreifenden Beziehungs- und Handelsgeflecht – war dabei in Weimar keineswegs weniger, eher stärker verbreitet als in der ›kleinen Weltwirtschaftskrise‹. Dagegen kamen Raumkonstruktionen, die auf direkten Vergleichen beruhten, in den 1970er Jahren häufiger vor. Indirekte Vergleichskommunikation respektive scheinbare Partikularberichterstattung war hingegen bei beiden Weltwirtschaftskrisen auszumachen. Durch Vergleichskommunikation wurde die Krise nicht ausdrücklich zu einem transnationalen Phänomen erklärt, ein solcher Zusammenhang aber suggeriert. Dies geschah, indem die Berichterstattung über ein anderes Land indirekt ein volkswirtschaftsübergreifendes Krisenausmaß implizierte oder die wirtschaftliche Lage der Bundesrepublik direkt mit der Situation in einem anderen Land verglichen wurde. Die sprachstrategische Verwendung einer solchen Vergleichskommunikation und der Gebrauch von ›Welt‹-Semantiken war auffälliges Merkmal des Krisennarrativs, das sozialliberale Stimmen in den 1970er Jahren verbreiteten. Auch in der Weimarer Republik stellten vor allem Regierende auf diese Weise Raumbezüge dar, ermöglichten sie doch, Verantwortung zu delegieren. Anders als in Weimar kam den Bonner Regierenden zusätzlich zupass, dass die Bundesrepublik in Relation zu anderen Ländern krisenfest wirkte. Dies ermöglichte der SPD erst, den Bundestagswahlkampf 1976 erfolgreich mit dem Slogan vom ›Weitarbeiten am Modell Deutschland‹ zu bestreiten.16 Zugleich erklärt sich so, 14 Arbeitsplätze, Inflation, Ölkrise: Minister Schmidt sagt, wohin die Reise geht, in: BILD, 10.[?]12.1973, S. 3. 15 Vgl. zu Schmidt z. B. auch die Einschätzung bei Schanetzky, Ernüchterung, S. 212. 16 Vgl. auch Plumpe, »Ölkrise«, S. 105 f.
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warum die CDU / C SU-Opposition derartige synchrone Vergleiche mied und stattdessen diachrone Vergleiche mit ihrer eigenen Regierungszeit, der Hochphase des Booms, pflegte. Eine Perspektive, die sich klar auf das eigene Land richtete, passte prinzipiell gut zu der ohnehin vorherrschenden räumlichen Bezugsgröße. Denn trotz der beschriebenen transnationalen Raumkonstruktionen bezog sich die überwiegende Mehrheit an Aussagen räumlich stets auf Deutschland beziehungsweise die Bundesrepublik. Mehrheitlich blieben Sprecher und Autoren einer methodologisch national-orientierten Sicht verhaftet. Es liegt nahe, dies auf national organisierte und ausgerichtete (Medien-)Öffentlichkeiten zurückzuführen. Auch waren die Verantwortungs- und Einflussgrenzen der Parlamente zumeist mit der Staatsgrenze identisch. Zugleich bewirkte dies, dass die dominierenden Raumbezüge bei den beiden Weltwirtschaftskrisen und der Krise 1966/67 nicht wesentlich differierten. Unterschiede ergaben sich eher infolge der sehr verschiedenen Krisendauern. Dass die langanhaltenden Krisen vielfältigere Prozesse semantischen Wandels erkennbar werden ließen als die nicht nur ›kleine‹, sondern insbesondere ›kurze Wachstumsdelle‹, überrascht freilich kaum. Weitet man den Fokus über Akteure und Konstruktionselemente der Krisendiskurse hinaus, eröffnet sich eine abstrahierende Perspektive, die zu zweierlei führt: einem Schema von ›Krisen‹-Verläufen sowie – damit verknüpft – der Antwort auf die Frage, inwieweit ›Krisen‹ Ereignisse oder Strukturen bezeichnen. Die Fallstudien haben gezeigt, dass der Beginn breitenwirksamer Krisendeutungen mit politischen, nicht im engen Sinne ökonomischen Ereignissen einherging. Zwar war gerade in Weimar bereits zuvor ein permanent-latentes Zirkulieren von Krisendeutungen zu beobachten, und auf niedrigerem Niveau galt seit Sommer 1966 Vergleichbares für die Bundesrepublik. Doch erst mit dem Notverordnungsstreit vom Juli 1930 und dem Koalitionsbruch vom Oktober 1966 verankerte sich das Deutungsmuster weithin im öffentlichen Sprachgebrauch. Die so entstandenen ersten Krisenphasen gründeten, vor allem in der Bundesrepublik, nur bedingt auf eingetreten wirtschaftlichen Problemlagen, zuvorderst veränderten sie Erwartungshaltungen. Dabei schrumpften die Zeiträume, auf die sich Prognosen bezogen, schlagartig zusammen. In den jeweils ersten Krisenphasen dominierte das Spannungsfeld von unmittelbarer Zukunft und Gegenwart die Krisendiskussion. ›Krise‹ haftete primär eine Ereigniskonnotation an. Die ursprüngliche Semantik von ›Krise‹ als zugespitzte Situation, die auf einen Entscheidungspunkt zuläuft, erwies sich als tragend. Letztlich zeigte sich geradezu mustergültig die von Reinhart Koselleck betonte zugleich diagnostische wie prognostische Dimension der Krise.17 Gleichzeitig verengte sich das Spektrum möglicher Aussagen zu Krisendiagnosen und 17 Vgl. Koselleck, Art. Krise, S. 628–632.
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›Krise‹ – Ereignis und Struktur
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Handlungsnotwendigkeiten drastisch. Hieraus, so meine These, resultierte (und resultiert) der Effekt, dass Krisen Regierenden oftmals zunächst nütz(t)en. Nicht allein ihre unmittelbare Handlungsmacht im Sinne von Entscheidungskompetenz, sondern die Tatsache, dass ihren Erklärungen und Handlungsvorschlägen wenig konkurrierende Aussagen entgegengestellt werden konnten, erleichterte es ihnen, Entscheidungen zu begründen und umzusetzen. (Dies gilt selbstredend nicht im Falle fundamentaler System-Ablehnung, wie sie Kommunisten und Nationalsozialisten in der Weimarer Republik verfochten.) Die ausgesprochen zügigen Gesetzgebungsverfahren, mit denen die ›keynesianische Wende‹ 1967 implementiert oder 1973 das Energiesicherheitsgesetz verabschiedet wurde, zeugten von diesem Effekt. Der Wandel der Handlungsspielräume lässt sich in der Formel des ›Gewinns durch Verlust‹ ausdrücken: eine neuartige Problemlage vereinfachte es, tiefgreifende Beschlüsse durchzusetzen. Mit dem Übergang zu den jeweils folgenden Krisenphasen schwand dieser Vorteil. Denn in diesen Zeiträumen bezeichnete ›Krise‹ nicht länger eine Ereigniskonstellation, sondern eine anhaltende wirtschaftliche Misere. Die ›Krise‹ geriet zur Strukturbezeichnung einer längerfristigen volks- oder weltwirtschaftlichen Schwächephase. War sie zuvor Objekt von Erklärungen, entwickelte sie sich sukzessive zum vielfältig einsetzbaren Argument. Die in der Einleitung angesprochene Kritik am uneinheitlichen Gebrauch und daher geringen Wert von ›Krise‹ als analytischem Begriff, der wissenschaftlich mal als explanans, mal als explanandum bemüht werde,18 spiegelte sich somit genauso in den zeitgenössischen Verwendungsweisen. In den Krisendiskursen referierte ›Krise‹ sowohl auf Ereignisse als auch dauerhaftere Problemlagen. Verantwortungszuschreibungen und polarisierende Diskussionen über Ursachen bewirkten, dass die Krisendiskurse nun auf allen drei Zeitebenen – Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit – angesiedelt waren. Wirtschaftspolitische Entscheidungen stießen nicht mehr auf überdurchschnittlich große Zustimmung, sondern provozierten beachtlichen Widerspruch. Die Verwendungsrate des Krisenbegriffs entwickelte sich in diesen Phasen uneinheitlich. Zwar war allen drei Krisen gemeinsam, dass der Höhepunkt expliziter ›Krisen‹-Deutungen jeweils vor den Krisenhöhepunkten erreicht wurde, die ökonomische Indikatoren nahelegen. Sodann zeigten sich aber Unterschiede: In Weimar blieb das Verwendungsniveau von ›Krisen‹-Komposita bis Anfang 1933 dauerhaft hoch. In den 1970er Jahren hielt sich der Krisenbegriff ebenfalls lange, verglichen mit der Gebrauchsfrequenz Ende 1973 aber auf deutlich niedrigerem Level und in veränderten Kompositumformen. Im Fall der ›Wachstumsdelle‹ war ›Krise‹ dagegen im Frühjahr 1967 kaum mehr auszumachen. Dies berührt letztlich die Frage, inwieweit die untersuchten Krisen zeitgenössisch 18 Vgl. Kap. I.4.
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›Wirtschaftskrisen‹ waren oder von der Historiografie erst später auf dieses Merkmal zugespitzt wurden. Zudem war die Bandbreite von ›Krisen‹-Komposita beträchtlich: ›Finanzkrise‹, ›Staatskrise‹ und ›Weltkrise‹, um nur an drei Beispiele zu erinnern, waren zeitweise ebenfalls sehr verbreitet. Genauso konnte ›Krise‹ zum Kollektivsingular werden und verschiedene Komplexe zusammenfassen. Vereinfacht lassen sich die Krisenverläufe wie folgt schematisieren: Phase(n) Vorgänge
Merkmale der pol. Kommunikation (u. a.)
›Krise‹
Zeitebenen
0
Aufkommen –– Problemlage ver–– ›K.‹ nicht vorhan- Gegenwart ökonomischer, ggf. bleibt Themenkomden od. bei gerinauch politischer Probplex unter mehreren ger Gebrauchs lemlagen –– kein dauerhaft intensität nur (z. B. Börsencrash, hohes mediales situativ abgerufen Wachstumseinbruch, Interesse Umbrüche auf Einzelmärkten wie dem Energiemarkt / Infragestellung politischer Führung, internationaler Konflikt)
1
entstandene –– Thema dominiert pol. KommunikaProblemlage tionsraum + einzelnes politisches –– hohes mediales Ereignis Interesse (Notverordnungs–– Verengung des streit Juli 1930, Spektrums mögKoalitionsbruch 1966, licher Aussagen zu niederländische (!) Problemlage und EnergiesparverordHandlungsvornungen 1973) schlägen –– Schrumpfen des Zeithorizonts
weitere
Fortdauern wirt–– Thema nicht mehr –– ›K.‹ = ›Struktur‹, schaftlicher Schwieallein vorherrschend Bezeichnung für im pol. Kommunirigkeiten / politischer anhaltende Pro kationsraum Wandel (veränderte blemkomplexe Handlungsspiel–– zurückgehende –– größere Bandbreite räume, neue Ermediale Aufmerkan ›Krisen‹-Komwartungshorizonte, samkeit posita wirtschaftspolitische –– Spreizung des AusShifts, institutioneller sagespektrums Wandel) –– heterogenere Ursachendiskussionen –– Wiederausdehnung des Zeit horizonts
–– ›K.‹ = ›Ereignis‹ od. Gegenwart, Zukunft ereignisbedingte Situation –– hohe Gebrauchsrate –– überschaubare Anzahl an ›Krisen‹-Komposita
Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft
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Wirkmächtigkeit der Krisendiskurse Bedingungsverhältnis: sprach licher/ außersprachlicher Wandel
Schließt man den Bogen der Untersuchung, gelangt man zu einem Aspekt, der an verschiedenen Stellen bereits durchschien: der prinzipiellen Wirkmächtigkeit der Krisendiskurse. Er führt zu mehreren übergeordneten Überlegungen, zu allererst zu der Frage, in welchem Verhältnis Krisen als Deutungsmuster zu außersprachlichen Entwicklungen standen. Die Befunde waren in mehrfacher Hinsicht eindeutig: Ein Automatismus, bei dem aus einer ökonomischen Pro blemlage oder einem einzelnen ökonomischen Ereignis eine Krise entstand, war in keinem der drei Fälle festzustellen. Stattdessen bedurfte es eines Zusammentreffens von gewandelten wirtschaftlichen Grundbedingungen und einzelnen politischen Ereignissen, um eine Konstellation zu erzeugen, die Akteure zu Krisendeutungen provozierte und diese plausibilisierte. Das Tempo, die Wucht und die Kongruenz, mit der sich Kriseninterpretationen verbreiteten, waren speziell bei den Nachkriegskrisen enorm. Die im Vergleich zur Weimarer Republik veränderte Presselandschaft, der technische Wandel, der die Informationsübertragung vereinfachte und beschleunigte, und das dichtere mediale Netz aus Presse, Radio und Fernsehen liefern hierfür naheliegende Erklärungen. In der Summe unterstreichen diese Beobachtungen, dass die Wirtschaftskrisen anfangs weder allein noch primär ›wirtschaftliche‹ Erscheinungen waren. Ihre Ausbrüche beruhten auf einem Zusammenspiel aus politischen Begebenheiten, Wissen über einen signifikanten außersprachlichen Wandel und medial entstandenen oder aufgegriffenen Aussagen. Allgemeiner und formaler ließe sich formulieren: Veränderungen ökonomischer Ausgangslagen einerseits, einzelne politische und medial vielbeachtete Ereignisse andererseits bildeten jeweils notwendige Bedingungen für das Aufkommen der Krisendiskurse; erst zusammen ergab sich eine hinreichende Bedingung für den Beginn einer ›Krise‹. (Studien zu anderen Formen von Krisen, zum Beispiel Sicherheits- oder Lebensmittelkrisen, könnten zeigen, ob sich vergleichbare Bedingungsgefüge auch für Krisenausbrüche in anderen Kontexten herauspräparieren lassen und sie insofern generalisierbar sind.) Das Aufkommen der Krisensemantik machte zunächst den Kernunterschied zwischen Vor-Krisen-Stadium und Krise aus. Überspitzt: Die Semantik erzeugte die Krise. Gleichwohl waren und blieben die Krisendiskurse kein ausschließliches Deutungsphänomen. Vielmehr standen Prozesse semantischen Wandels in einem Wechselverhältnis mit nicht-sprachlichen Veränderungen. Es bedurfte der Kommunikation über eine außersprachliche Gegebenheit, etwa eine zurückgegangene Auslastung der Volkswirtschaft und insbesondere eine hohe Zahl an Arbeitslosen, um Krisendiskurse längerfristig begründet erscheinen zu lassen. Diese lösten zugleich vielfältige politische Veränderungsprozesse aus, die außer-
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sprachliche Wirkungen zeitigten. Am offenkundigsten zu erkennen waren diese bei wirtschaftspolitischen Kurswechseln, mit denen stets ein verändertes Verhältnis von staatlichem, besonders konjunkturpolitischem Handeln und ›freiem‹ Marktgeschehen einherging. Diese Beobachtungen führen die Vorteile der in dieser Studie eingenommenen Perspektive vor Augen. Streng wirtschaftsgeschichtlich verfahrende Untersuchungen arbeiten die strukturellen Ursachen, die Situationen erzeugen, in denen Krisendeutungen begründet erscheinen können, detailliert heraus. Gleiches gilt für die vorangegangenen, längerfristigen ökonomischen Prozesse und das zwischen ihnen bestehende Interdependenzgeflecht. Hier liegt fraglos der enorme historiografische Wert dieser Studien. Durch den Verzicht auf eine semantische Perspektive geraten sie aber an Grenzen, sobald es um das Zusammenwirken von wirtschaftlichen Entwicklungen und öffentlichen Interpretationen geht. Doch erst aus diesem Zusammenwirken resultiert die politische und gesellschaftliche Wirkmacht, die Krisen entfalten. Ein Untersuchungsdesign, wie es hier verfolgt wurde, erlaubt, Wirtschaftskrisen weit stärker als multifaktorielle Phänomene zu erfassen – mit politischen, ökonomischen und medialen Anteilen. Letztlich mündete es in eine politische Sprach- und Argumentationsgeschichte als Baustein einer Kommunikationsgeschichte der Krisen, die das Wissen über ihre Verläufe und Folgen erweitert und präzisiert. Ein solcher Zugang und eine gezielt mikrodiachrone Herangehensweise gestatteten, ansonsten schlüssig erscheinende Annahmen zu korrigieren. Drei Beispiele machen dies plastisch: Die zeitliche Diskrepanz zwischen dem Börsencrash 1929 und dem Begreifen, sich in einer gravierenden Wirtschaftskrise zu befinden, lässt sich eben nicht allein damit erklären, dass man bis zur Bankenkrise 1931 von einer heftigen, aber gewöhnlichen Konjunkturschwankung hätte ausgehen können. Für das folgenschwere Aufkommen des Krisendiskurses 1966 waren nicht zuvorderst wirtschaftliche Abstiegsängste verantwortlich, sondern diese rückten erst zeit verzögert ins Zentrum der Krisendiskussionen. Und die heute so bildhaft erinnerten autofreien Sonntage im Herbst 1973 riefen Krisendeutungen nicht hervor, sie waren vielmehr ihre Konsequenz. Eine semantische und kommunikationsorientierte Perspektive hilft darüber hinaus, zu vermeiden, dass Krisen in ihren politischen Folgen oder Effekten zu einer ›black box‹ reduziert werden, wie es vor allem der Krise 1966/67 oft widerfährt. Die Krisen als politische Kommunikationsprozesse ernst zu nehmen, befähigt, nachzuverfolgen, wie Problemlagen sich politisch konstituierten, Handlungsspielräume reformuliert wurden und sich schließlich (wirtschafts-) politische Handlungsweisen veränderten. An dieser Stelle wird offensichtlich, auf welche Weise sich aus der vorliegenden Arbeit Anschlussmöglichkeiten für andere Forschungsfelder ergeben. So erscheint beispielsweise eine Verbindung mit unternehmensgeschichtlichen Fragestellungen vielversprechend. Die
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mögliche Anschlussfragen
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Veränderungen im politischen Kommunikationsraum wirkten sich gewiss auf Verhaltensweisen anderer Wirtschaftsakteure aus. Auf welche Weise sich diese Auswirkungen ergaben und wie mittelbar oder unmittelbar sie erfolgten, wäre eine Frage, der (nicht nur) am Beispiel von Unternehmen gut nachzugehen wäre. Kurzum: Auf Basis der Ergebnisse zum öffentlich-politischen Sprachgebrauch wäre zu erkunden, wie handlungsprägend die Diskurse auf anderen Handlungsebenen waren. Wie beeinflussten sie das sprachliche und nicht-sprachliche Handeln von Akteuren, deren Referenz kein öffentlicher Kommunikationsraum war? Für einen solchen Fragezuschnitt bietet sich die Verknüpfung der historischsemantischen Analyse mit der schon eingangs der Arbeit erwähnten Theorie Hansjörg Siegenthalers zu sozialem und institutionellem Wandel an.19 Siegentha ler betrachtete Krisen als Phasen, in denen sowohl die »kognitiven Regelsysteme«, mit denen Akteure Informationen erfassen, bewerten und handlungsleitend werden lassen, als auch die institutionellen – beispielsweise rechtlichen – Rahmen, in denen sie sich bewegen, grundlegenden Umstrukturierungen unterliegen; derartige »Prozesse fundamentalen Lernens« interpretierte er als Konsequenz eines kommunikativ bewusst gewordenen Missverhältnisses zwischen bisherigen Denk- und Handlungsmustern und neuartigen ökonomischen Voraussetzungen.20 Siegenthalers Beobachtungen fußten auf der Analyse individueller Akteure und ihrer unmittelbaren sozialen Kommunikationsnetze. Schon der Umwelthistoriker Patrick Kupper hat dafür plädiert, Siegenthalers Theorie mit diskursanalytischen Zugriffen zu verbinden.21 An diskursiven Bruchstellen in öffentlichen Kommunikationszusammenhängen machte Kupper gesellschaftliche Prozesse fundamentalen Lernens aus. Noch aufschlussreicher erscheint es, die Beobachtungsebenen nicht nur zu ändern, sondern zu kombinieren. So träte zutage, inwieweit und wann sich ein Wandel von Redeweisen, Erwartungshaltungen und Handlungsmaximen im politischen Kommunikationsraum beispielsweise in den Kommunikationsprozessen von Unternehmensleitungen niederschlug. Sowohl die zeitliche als auch die inhaltliche Varianz, mit der veränderte Aussagemuster verschiedene Akteursebenen erreichten und prägten, würde so erkennbar. Eine anders gelagerte – und die letzte hier aufgegriffene – Frage betrifft die Wirkmacht der untersuchten Krisendiskurse bis hinein in die Gegenwart. Damit ist nicht die Wiederkehr bestimmter semantischer Versatzstücke der Krisenkonstruktion im Krisendiskurs seit 2008 gemeint. Wie die Verweise auf entsprechende Forschungen andeuten, lassen sich im Bereich der unspezifischen Topoi und Metaphern in der Tat Gemeinsamkeiten feststellen. Gleiches gilt für die 19 Siegenthaler, Regelvertrauen, Prosperität und Krisen. 20 Ebd., S. 16 f. 21 Vgl. Kupper, Die »1970er Diagnose«, S. 331–333.
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These vom zurückgehenden Spektrum des Sagbaren in zugespitzten Ereignissituationen, wenn man an das Diktum von der ›Alternativlosigkeit‹ denkt. Auch das vorgeschlagene Phasenmodell – ›Krise‹ zunächst als Ereignis, sodann als Bezeichnung einer anhaltenden Misere – darf angesichts der Geschehnisse im Herbst 2008 einerseits, der anschließenden Entwicklung seit dem Frühjahr 2009 andererseits, prinzipiell Plausibilität beanspruchen. Allerdings wäre zu prüfen, ob diese ›Dauermisere‹ gegenwärtig nicht immer wieder durch Phasen erneuter Zuspitzung, beispielsweise im Zuge der sogenannten ›Euro-Krise‹, unterbrochen wurde, das Modell daher einer Ergänzung bedürfte. Doch nicht diese Merkmale des gegenwärtigen Krisendiskurses sollen hier interessieren, sondern die Phase zwischen dem Krisendiskurs der 1970er Jahre und der Zeit seit 2008. Dieser Zeitraum seit den 1970er Jahren, den die Geschichtswissenschaft mit Labeln wie »nach dem Boom« (Doering-Manteuffel / Raphael) versehen hat, ruft bei Zeitzeugen, die sich an die Zeit vor und nach 1973 erinnern, bisweilen das Gefühl einer permanenten Krise hervor. (Nebenbei bemerkt, kann dies als Indiz für eine durchaus mögliche Überlappung historiografischer »Deutungs-« und »zeitgenössischer Erfahrungs- oder Ordnungs zäsur[en]« gelten.22) Damit ist nicht allein ein allgemeines Geschwirr von Krisenbehauptungen gemeint, das zu nahezu jedem Zeitpunkt in der Moderne auszumachen gewesen sein dürfte.23 Im Mittelpunkt steht vielmehr der Eindruck, dass es trotz unterschiedlichster Expertenvorschläge und politischer Anstrengungen verschiedener Couleur seither nicht gelungen ist, zu einer stabil erscheinenden wirtschaftlichen Prosperitätsperiode und finanzpolitischer Entspannung zurückzukehren. Rein ökonomisch ist dies mit unterschiedlichen Faktoren zu erklären – angefangen von der »Rückkehr zum klassischen Zyklus« (Abelshauser),24 über neue Wettbewerbssituationen infolge fortschreitender wirtschaftlicher Globalisierung bis hin zu sozialen Sicherungssystemen, für deren solide Finanzierung, nicht zuletzt angesichts der demografischen Entwicklung, höhere Wachstumsraten notwendig wären, als sie in den letzten vierzig Jahren durchschnittlich erreicht wurden. Aus einer historisch-semantischen Sicht können zwei weitere Faktoren benannt werden. Zum einen legt die Analyse großer Korpora via Google-NgramViewer, wie sie Jakob Tanner durchführte, den Schluss nahe, dass das allgemeine Reden von ›Krise‹ seit den 1970er Jahren quantitativ eine neue Dimension erreichte.25 Die ›Krisen‹-Rede konnte alle Themenfelder und Lebensbereiche be22 Sabrow, Zäsuren in der Zeitgeschichte, S. 122–130, Zitate S. 123, betrachtet diesen Fall in seiner Typisierung von Zäsuren tendenziell als Ausnahme. 23 Vgl. Koselleck, Einige Fragen, S. 203. 24 Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 301. 25 Vgl. Tanner, Krise, S. 158.
Dauerkrise der Gegenwart?
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treffen, damit vermutlich in beträchtlichem Maße immer auch die Wirtschaft.26 (Ganz sicher zu sagen ist dies ohne eine genaue Kenntnis und Auswertung der Korpusinhalte jedoch nicht. Entsprechend verweist diese Hypothese zugleich auf Chancen und Grenzen der Nutzung des Ngram-Viewer, der mit dem undurchschaubar zusammengesetzten Bestand von Google Books arbeitet.27) So wäre der Eindruck einer wirtschaftlichen ›Dauerkrise‹ eine Art Nebeneffekt einer neuen ubiquitären Konjunktur vielfältiger Krisensemantiken. Worauf diese Konjunktur genau zurückzuführen ist, bleibt in einer solchen Sicht allerdings einstweilen ungeklärt. Daneben jedoch führen die Ergebnisse dieser Arbeit zu einer zweiten, präziseren Hypothese. Demnach verschwand auch nach 1975/76 ›Krise‹ als Bezeichnung für eine strukturelle wirtschaftliche Problemlage nie vollständig aus dem politischen Kommunikationsraum. Anders als im Fall der Weltwirtschaftskrise, die in Deutschland als dominierende Deutung 1933 – in globaler Sicht spätestens 1939 – endete, und der ›Wachstumsdelle‹, die Zeitgenossen bereits Ende 1967 historisierten, setzte sich ›Krise‹ seit den 1970er Jahren offenbar als ein latent stets vorhandenes Gegenwartsinterpretament fest. Nicht nur etablierten sich, genau wie bei den beiden anderen Krisen, keine eindeutigen Gegenbegriffe zu ›Krise‹. Sondern mit einer Arbeitslosenzahl, die seit 1974 trotz gradueller Schwankungen auf einem Niveau oberhalb der Vollbeschäftigung verharrt, blieb ebenso die einflussreichste Referenz zur Stabilisierung von Wirtschaftskrisendiskursen erhalten. Zumindest ein Indiz für die Stichhaltigkeit dieser Hypothese lässt sich auch aus der Auswahl der Krisen ableiten, die Gegenstand der diskurslinguistischen Forschungen zu den Krisengeschehen seit 1973 sind. Dass diese Forschungen nicht allein eine große Wirtschaftskrise ins Zentrum rücken, sondern von fünf wirtschafts- und sozialpolitischen Krisen ausgehen, die seit 1973 die Bundesrepublik in kurzen Zeitabständen erfassten, deutet auf eine beinahe permanente Abrufbarkeit des Krisenbegriffs hin. Unter ihnen befinden sich mit der Arbeitsmarktkrise 1997 und der Agenda-Krise 2003 mindestens zwei Krisen, für die ein belasteter Arbeitsmarkt bereits offensichtlich das ausschlaggebende Kennzeichen war. So gewinnt die Annahme von der herausragenden Bedeutung, die Arbeitsmarktdaten zukommt, um ›Krisen‹-Deutungen zu provozieren und zu verstetigen, einmal mehr an Überzeugung. Mit Sicherheit wird nicht zuletzt die Zukunft genügend Gelegenheiten bieten, gerade letztgenannte Hypothese abermals zu prüfen. Sollte sie sich bestätigen, 26 Vgl.: Ebd., S. 157 f.; Raphael, Gescheiterte Krisen, S. 85 f. 27 Zu dieser und weiteren prinzipiellen Schwierigkeit(en) bei der Nutzung des Korpus von Google Books für historisch-semantische Analysen, die sich etwa aus der inkonsistenten Datierungspraxis bei Neuauflagen und Editionen ergeben, siehe die Bemerkungen bei Steinmetz, ›Vergleich‹, S. 92, 98–100.
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träte eine bemerkenswert stabile Kontinuitätslinie zutage. Wäre sie zu verwerfen, verwiese dies auf einen qualitativen Wandel im Vergleich der Krisendiskurse. In jedem Fall also wird auch die Geschichte künftiger Wirtschaftskrisen erhellende Einblicke bereithalten.
Abkürzungsverzeichnis
AfB AfS AKG APuZ ArchSozWiss CHC GG GWU HdWW HOPE HSA HZ JEH JMEH JWG NPL o. N. Soc. Res. VfZ VSWG WuG ZF ZSE
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Quellen- und Literaturverzeichnis
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Dank
Die gerade gelesene Studie ist im Wintersemester 2016/17 von der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld als Dissertation angenommen worden. Für die Drucklegung habe ich sie geringfügig überarbeitet, nach Sommer 2016 erschienene Literatur aber unberücksichtigt lassen müssen. Für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe »Historische Semantik« danke ich herzlich ihren Herausgebern, für die Betreuung beim Verlag Vandenhoeck & Ruprecht speziell Kai Pätzke. Ohne Kritik und Kommentare hätte die Untersuchung vermutlich eine andere und sicher keine bessere Form angenommen. Ich freue mich, in diesen Zeilen einmal alle Wegweisenden gemeinsam versammeln zu können. Vor allen anderen und ganz besonders danke ich Willibald Steinmetz, der die Arbeit nicht nur angestoßen und als Erstgutachter betreut, sondern mich auch in allen Phasen der Promotion mit größtem Engagement unterstützt hat. Als Vorsitzende meiner Prüfungskommission sorgte Gisela Diewald-Kerkmann für einen sehr umsichtig organisierten Verfahrensablauf. Jörg Requate und Thomas Welskopp danke ich für die Übernahme von Zweit- und Drittgutachten samt weiterer wertvoller Hinweise und Denkanstöße. Letztere gaben auch die VeranstalterInnen und TeilnehmerInnen mehrerer Kolloquien, Tagungen und Workshops in Berlin, Bielefeld, Dortmund, Helsinki / Jyväskylä und Potsdam, bei denen ich Teilergebnisse zur Diskussion stellen durfte. Darüber hinaus haben zahlreiche ehemalige Bielefelder KollegInnen meine (Arbeit an der) Arbeit in unterschiedlichen Stadien (angenehmer und) besser gemacht. In der Hoffnung, niemanden zu vergessen, nenne ich gerne: Christina Brauner, Jens Elberfeld, Julia Engelschalt, Theo Jung, Arne Käthner, Stefan Laffin, Anna-Gesa Leuthardt, Christian Meyer, Benno Nietzel, Marcus Otto, Jonas Hübner, Florian Schleking, Dominique Schröder, Kerstin Schulte, Silke Schwandt, Tobias Weidner, Lili Zhu und Isolde Zimmermann. Ausdrücklich hervorheben und besonders danken möchte ich Stefan Scholl, der das Projekt von der ersten Idee bis zum letzten Satz gekannt und verfolgt, besonders aber stets freundschaftlich begleitet und bereichert hat. Nicht zuletzt nahm er die Mühe auf sich, das Gesamtmanuskript korrigierend zu lesen. Die Bielefeld Graduate School in History and Sociology förderte die Arbeit nicht nur mit einem langfristigen Stipendium, sondern auch mit einer her-
Dank
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vorragenden Infrastruktur und immer hilfsbereiten MitarbeiterInnen, unten denen Frank Leitenberger besonders hervorstach. Am Arbeitsbereich Historische Politikforschung war Jutta Wiegmann bei allerlei organisatorischen Fragen eine wunderbare Unterstützung. Der Bielefelder Nachwuchsfonds erleichterte die Manuskriptvollendung durch ein Abschlussstipendium, und die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften förderte die Drucklegung des Buches mit einem beachtlichen Zuschuss. Der größte Dank schließlich gebührt meinen großartigen Eltern – für ihr Vertrauen in mich sowie ihre immer und in jeder Hinsicht fabelhafte Unterstützung. Ihnen sei diese Arbeit gewidmet. Bielefeld u. Rostock, im Januar 2019 Kristoffer Klammer
Personenregister
Abelshauser, Werner 188, 398, 455 Adenauer, Konrad 183, 393 Ahrens, Karl 320, 335 Althammer, Walter 236 Arndt, Klaus Dieter 330 Arndt, Rudi 401 Augstein, Rudolf 422, 429, 430 Baade, Fritz 71 Bandmann, Egon 133 Barzel, Rainer 193, 205, 208, 212, 218, 220, 225, 261, 321, 390 Bayer, Hans 105 Bayern, Konstantin Prinz von 212 Benckiser, Nikolas 404 Berkenkopf, Paul 98 Bernanke, Ben 57 Beveridge, William 241 Biedenkopf, Kurt Hans 329, 386 Blasius, Dirk 72 Blessing, Karl-Heinz 198, 232, 242, 247, 283 Börner, Holger 412, 415 Borchardt, Knut 44, 67 f., 188 Bracher, Karl Dietrich 54, 77 Brandt, Willy 256, 299, 312 f., 323, 325 f., 330, 338, 340, 342 f., 380 f., 397, 399, 401–409, 411–415 Braun, Magnus von 125 Braun, Otto 73 Brauns, Heinrich 110, 117 Breitscheid, Rudolf 86, 121, 138, 173, 178 Brüning, Heinrich 58, 65–68, 72–74, 79, 87, 91–93, 100, 103, 114, 116–119, 122–124, 127–129, 138, 141, 144–147, 149, 158, 167, 170, 173, 178, 180, 182 f., 286, 445 Bucerius, Gerd 28 Buchheim, Christoph 63 Bülow, Andreas von 415 Büttner, Ursula 54 Buschmann, Hans 84, 123, 146, 154, 447
Carstens, Karl 342, 376, 393 Carter, Jimmy 306 Casdorff, Claus Hinrich 406 Churchill, Winston 325 f. Clement, Wolfgang 440 Conze, Eckart 191, 194 Crämer, Karl 82 Crozier, Michel 426 Curtius, Julius 108, 145 Dahlgrün, Rolf 219 f. Deng[,] Xiaoping 295 Dietrich, Hermann Robert 99 f., 107, 137 Dietz, Bernhard 301 Dietz, Fritz 323 Dönhoff, Marion Gräfin 28, 341, 446 f. Doering-Manteuffel, Anselm 297–299, 455 Dohnanyi, Klaus von 407 Duda, Edmund 367 Düsterwald, Wilhelm 130, 132 f., 142 Dussel, Konrad 24 Ehrenberg, Herbert 348, 377, 415 Eichel, Hans 440 f. Eick, Jürgen 354 Eitz, Thorsten 26, 55 Elsas, Moritz Julius 92 Elsberg, Paul 115 Emde, Hans Georg 242 f., 262, 284 Engelhardt, Isabelle 55 Erhard, Ludwig 187, 189–193, 195, 201, 204–216, 218–220, 221, 223 f., 251, 256, 261, 273, 275, 277, 285 f., 289, 330, 393, 402–404 Ferguson, Niall 294 Ferguson, Thomas 64 Fischer, Wolfram 418 Föhr, Ernst 99, 146, 153 Föllmer, Moritz 14, 160
489
Personenregister Freeden, Michael 165, 276 Frevert, Ute 258 Frick, Wilhelm 126, 170 Friderichs, Hans 255, 314, 317, 319–321, 329, 335, 349, 351, 355 f., 363, 381, 408, 411, 415, 424 Friedman, Milton 295 Gay, Peter 54 Gereke, Günther 125, 145 Gerhards, Jürgen 32 Gerstenmaier, Eugen 193 Giscard d’Estaing, Valéry 389, 442 Glombig, Eugen 361 Görtemaker, Manfred 191, 193 Grabert, Horst 415 Graf, Rüdiger 14, 160 Grass, Günter 404 Graßmann, Peter 120, 126, 147 Groener, Wilhelm 78, 183 Grünewald, Armin 329, 348, 377 Guillaume, Günter 407 f., Habermas, Jürgen 32, 426 Hayek, Friedrich August 295 Heinemann, Gustav 340, 380, 424 Hennemann, Gerhard 334 Hennis, Wilhelm 426 f., Herbert, Ulrich 74, 79 Herchenröder, Karl Heinrich 247 Hesse, Jan-Otmar 43 Heyde, Philipp 79 Hildebrand, Klaus 195 Hilferding, Rudolf 60, 88, 90, 168 Hindenburg, Paul von 72–75, 78, 91, 97 Hitler, Adolf 75, 77, 81, 148, 169, 183 Hobsbawm, Eric John Ernest 294 Hölscher, Lucian 106, 270 Holtfrerich, Carl-Ludwig 67 Hoover, Herbert 84, 113 f., 123, 142 Hoppe, Hans-Günter 359 Hugenberg, Alfred 24 f., 93, 103, 119, 165 Inglehart, Ronald 300, 302 Johnson, Lyndon Baines 193 Johnson, Mark 151 Josten, Johann Peter 212 Junghans, Hans-Jürgen 275 Karsten, August 119, 145, 173
Kasper, Wilhelm 148, 167 Keil, Wilhelm 102, 172 Keppler, Otto 129 Keynes, John Maynard 23, 53, 69, 95, 106, 135, 139 f., 142, 158 f., 241, 352, 401, 441 Kielmansegg, Peter Graf 426 Kiesinger, Kurt Georg 187, 193 f., 196, 201, 223, 229, 235, 237, 242, 244, 246, 249, 251 f., 255, 258, 260, 274, 276, 279, 282, 284, 286, 393 Klasen, Karl 415 Klotz, Helmuth 76 Knickerbocker, Hubert Renfro 177 Knortz, Heike 54 Köhler, Heinrich 59, 127 f. Köhler, Ingo 300 f. Köhler, Volkmar 379 Koenen, Wilhelm 147, 167 Köppen, Paul 68 Köster, Roman 68 Kohl, Helmut 359 Kolb, Eberhard 57, 73 Koselleck, Reinhart 13, 43, 269, 283, 449 Krämer, Carl 82, 86 Krämer, Erich 123 Krause-Brewer, Fides 415 Kühlmann-Stumm, Knut von 225, 228 Kühn, Heinz 206, 414, 429 Kupper, Patrick 454 Lakoff, George 151 Lambsdorff, Otto Graf 322, 329 f., 335, 344 Landsberg, Otto 101 f. Landwehr, Achim 36 Lauritzen, Lauritz 345 f. Lautenbach, Wilhelm 70 Leicht, Albert 242, 255, 260, 263 Leicht, Johann 89 Leo, Per 160 Lindner, Christian 410 Longerich, Peter 54, 57 Love, John A. 310 Lübke, Heinrich 235 Luhmann, Niklas 258 Luther, Hans 120, 173, 181 Maier, Charles Steven 296 Maier, Hans 386 Mansholt, Sicco 340, 424 Marquardt, Sabine 26 Matthöfer, Hans 356
490 McCloskey, Deirdre 40, 151 Mendelssohn, Franz von 108, 176 Mergel, Thomas 36, 45, 55, 75, 385 Merkel, Angela 12 Metzler, Gabriele 426 Meyers, Franz 206 Mischnick, Wolfgang 415 Möller, Alex 242, 255 f., 279, 415 Moldenhauer, Paul 93 f. Mommer, Karl 224 Mommsen, Hans 54 Müller, Hermann 61, 86 91, 93, 103 f., 117, 142, 144, 172 Müller-Hermann, Ernst 329, 350 f., 365, 400 Müller-Marein, Josef 28 Münkel, Daniela 27 f. Müntefering, Franz 266, 441 Neidhardt, Friedhelm 32 Neubauer, Theodor 59, 138, 144, 166 Neumark, Fritz 101, 199 f. Noelle-Neumann, Elisabeth 372 f. Nowottny, Friedrich 415 Oberfohren, Ernst 102, 118, 124, 138, 145 Oertzen, Peter von 412 Palonen, Kari 48 Papen, Franz von 71, 74, 120 f., 124 f., 131 f., 138, 142, 146–149, 158 Peukert, Detlev 54, 79 Phillips, Alban William 395 Pieck, Wilhelm 119, 137 f. Plumpe, Werner 57, 187, 190, 294 Proebst, Hermann 286 Radu, Robert 55 Raphael, Lutz 42, 297–299, 455 Rapp, Alfred 403 f. Reinhart, Carmen Maria 443 Reinhold, Peter 109 f., 123 Reißner, Anton 119, 139, 148 Remmele, Wilhelm 118, 167 Rippel, Otto 104, 142, 148 Ritschl, Albrecht 67 Roeper, Hans 234, 286 Rogoff, Kenneth Saul 443 Rohlinger, Rudolf 406 Roth, Wolfgang 329, 412 Russe, Hermann Josef 320–322
Personenregister Samuelson, Paul Anthony 57, 421 Schacht, Hjalmar 60 f., 84, 87–90, 286 Schanetzky, Tim 189, 304 f. Scheel, Walter 274–276, 367, 383, 397 Scheuch, Erwin Kurt 427 Schildt, Axel 23 f. Schiller, Karl 39, 196, 198, 201, 234, 238–240, 246–249, 251, 255, 258, 263, 267, 269, 275–277, 281 f., 285, 447 Schleicher, Kurt von 71, 74 f., 78, 125, 138, 145, 147 Schmidt, Erich 119 Schmidt, Helmut 38, 194, 306, 312 f., 323 f., 326, 329, 335, 342–344, 348, 352, 355 f., 358, 363, 368, 379, 383, 385, 388–391, 394 f., 398 f., 401 f., 407, 409–416, 447 f. Schmücker, Kurt 189, 225, 262, 273, 277 f. Schneider, Hermann 171 Schröder, Dieter 333 Schröder, Gerhard (CDU) 193 Schröder, Gerhard (SPD) 440 Schumann, Dirk 57, 76 Schumpeter, Joseph Alois 44, 155 Schuster, Hans 344, 353, 360, 382, 430 Schwarzer, Rudolf 147 Seefried, Elke 424 Siebeck, Wolfram 373 Siegenthaler, Hansjörg 44 f., 295, 454 Silverberg, Paul 85 Singer, Kurt 23, 92, 162, 447 Slotosch, Walter 218, 221, 232 f., 261 f., 279, 336, 338, 353, 361, 447 Soell, Hartmut 343 Sommer, Theo 415 Staak, Werner 400 Staratzke, Hans-Jürgen 246, 261 Steinbrück, Peer 12, 116 Steinmetz, Willibald 15, 272 Stingl, Fritz 327, 361 Stollberg-Rilinger, Barbara 36, 150 Stoltenberg, Gerhard 394 Straßer, Gregor 75, 90, 147, 169, 179 Strauß, Franz Josef 39, 167, 208, 211–213, 234, 237–239, 245 f., 251, 261, 267, 275 f., 285, 313, 328, 342, 351, 368 f., 379, 392 f., 393, 395 f., 400, 424, 429, 449 Stresemann, Gustav 119, 183 Süskind, Wilhelm Emanuel 210 Tanner, Jakob 43, 446, 455 Tarnow, Fritz 71
491
Personenregister Temin, Peter 64 Thatcher, Margaret 295, 304 Theunis, Georges 111 Thoma, Franz 249, 263 f., 383, 425, 447 Treviranus, Gottfried 74 Troeger, Heinrich 200 Vetter, Ernst Günter 234, 397 f. Wehler, Hans-Ulrich 68, 72, 77, 79, 307 Wehner, Herbert 194, 224 f., 229, 261, 313, 377, 399, 403–405, 407, 411, 414 f.
Wengeler, Martin 14, 19, 26, 46–48, 55, 440 f., 443 Westrick, Ludger 193 Wild, Joseph 248 Winkler, Heinrich August 54, 72, 74, 79 Wolfrum, Edgar 191 f., 194 Woytinsky, Wladimir 71 Ziem, Alexander 14, 46 Zimen, Karl-Erik 422 Zimmermann, Friedrich 162 Zinn, Karl-Georg 353
Sachregister
ADGB (Allgemeiner Deutscher Gewerk-
schaftsbund) 118, 164 Angebotspolitik 306, 352, 359, 368, 374, 377, 382, 433 Arbeitsbeschaffung 70 f., 121–128, 138, 145, 159, 181 Arbeitslosigkeit 95, 99 f., 104, 107, 110 f., 119–122, 132, 134, 136–139, 144, 149, 168, 175, 177, 181, 240, 244, 248, 250 f., 257, 269, 286, 295, 299, 304, 315, 323, 327, 338–340, 348, 355, 357, 360 f., 363, 365–369, 373, 383, 392, 394–396, 400, 417, 426, 430, 432 f., 445 Arbeitslosenzahl 18, 29, 63, 67, 110, 122, 131 f., 134, 137, 139, 232, 237, 239, 248, 270, 286, 305, 311, 344, 347, 349, 351, 361, 363, 400, 445, 456 Arbeitslosenquote 63, 190, 237, 248, 305, 344, 367, 371, 446 ARD s. Fernsehen Autofreier Sonntag 308, 315, 322, 325, 337, 453 BDI (Bundesverband der Deutschen
Industrie) 238 biologisch / biologistisch 122, 153, 155 f., 181, 259 Börsencrash 15, 58, 63, 65, 80–82, 84, 148, 154, 285, 451, 453, Boykott, boykottiert 12, 308, 311, 314, 316 f., 333 f., 337, 440 Brauns-Kommission 110, 122 Bretton-Woods-System 11, 299, 302 f., 390 Bruttoinlandsprodukt / BIP 61, 63, 67, 137, 190, 344 f., 445 Bruttosozialprodukt / BSP 137, 190, 219, 305, 342, 360, 396, 445 Bundesanstalt für Arbeit 233, 237, 248, 269 f., 327, 350, 361, 367 Bundesbank 189, 198, 200, 216 f., 219, 231 f.,
237, 239, 242, 246 f., 249, 251, 254, 258, 263, 281, 283–286, 303, 305, 327, 350, 361–364, 368, 383, 415, 433 christlich-liberal 194, 203, 206, 220, 285, 307 Club of Rome 300, 336, 421, 424–426 Danatbank (Darmstädter und Nationalbank) 55, 64 Dawes-Plan 60, 119 Deflation(-s) 106, 126 f., 181 –– -konsens 97, 102 f., 164 –– -kurs 67, 121, 181 f. –– -politik 65 f., 79, 118, 121, 127, 154, 164, 166, 168, 180, 445 –– -tendenz 58 Deutungsdynamik 184, 316, 440 Dienstleistungsgesellschaft 295, 298 DIHT (Deutscher Industrie- und Handelskammertag) 68, 108 Diskurslinguistik, diskurslinguistisch 14, 19, 46, 440, 443, 456 DIW (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) 269, 330 Energiesicherungsgesetz 315, 319, 321, 326, 408 Erwartungshorizont 233, 269, 271, 394, 428, 437, 451 Eventualhaushalt 197 f., 237, 240–244, 246 f., 249, 255, 258, 263, 268, 274–276, 282, 288 Fernsehen 22, 27, 33, 184, 319 f., 331, 338, 406, 408 f., 411 f., 415, 440, 452 Floating 303, 388 Friedrich-List-Gesellschaft 70 Geldmengenziel 305, 368, 433
Sachregister Globalisierung(-s-) 294 f., 420, 455 –– -rede 420 Globalsteuerung 188, 196, 255 f., 262, 270, 277, 290, 299, 305, 356, 420, 438 Goldstandard 58, 65, 108, 128 f., 179 f. Google –– Books 456 –– Ngram-Viewer 455 f. ›Grenzen des Wachstums‹ 300, 340, 420–422, 424–426 Große Koalition 226, 243, 252 Handlungsspielraum 16, 67, 114, 235, 334, 437, 450 f., 453 historisch-semantisch 13 f., 16, 21, 34, 36, 44, 47 f., 80, 111, 115, 182, 204, 244, 266, 282, 289, 385, 402, 437, 439 f., 455 f. Hoover-Moratorium 66, 108, 112–114, 123 f. Hypo Real Estate 12, 440 Ifo-Institut 248 Industriegesellschaft 11, 295, 298, 390 Inflation(-s) 12, 18, 54, 61, 67, 170, 189, 196, 198, 216, 219, 232, 240, 256 f., 275, 285, 295 f., 299, 302 f., 304 f., 310, 313 f., 323, 328, 341 f., 344, 356, 359, 368, 372, 379, 382, 386 f., 393–399, 414, 417, 419, 428, 430, 433 –– -krise 54, 58, 135, 296, 390 –– -mentalität 394 –– -rate 11, 29, 189, 251, 254, 305, 344, 363, 389, 392, 394 f., Institut für Konjunkturforschung 94, 129, 131 Interview 39, 182 f., 208, 239, 241, 267, 314, 324, 326, 338, 346, 372 f., 399, 406 f., 410 Investitionslenkung 353, 355 Jom-Kippur-Krieg 11, 308 Kapitalismus, kapitalistisch 90 f., 148, 160, 167, 172–174, 182, 330, 427 f., 439 Keynesianismus, keynesianisch 16, 53, 69 f., 153, 188, 196, 198, 216, 241, 255, 259, 285, 290, 295, 299, 304, 306, 347, 352, 356 f., 398, 433, 444, 450 Kollektivsingular 143, 161, 451 Konjunktur –– -krise 59, 111, 135, 441 –– -politik 68, 71, 95, 124, 127, 181, 190, 217, 243, 256, 352, 357, 377
493 –– -programm 197, 242, 249–251, 282, 306, 352, 379, 417, 433 –– -steuerung 201, 214, 255, 433 kontrollierte Expansion 196, 248 Konzertierte Aktion 196–198, 239, 255, 275–277, 282 Lehman Brothers 11 f., 410 Liberalismus, liberal 25, 31, 69, 82, 110, 121, 123, 126, 147, 153 f., 165, 172, 181, 246, 430 f., 434, 439, 444 Lieferstopp s. Boykott Machbarkeit 153, 262, 271, 353, 430 Macher (polit. Figur) 410, 412, 414 Marktwirtschaft, marktwirtschaftlich 200, 262, 325, 328–330, 354, 390, 425, 434 Marxismus, marxistisch, ,marxsch‹ 44, 90, 168–170, 403 Metaphern (u. Sprachbilder) –– körperlich-organische 149, 155–158, 259–261, 374, 379, 443 f. –– Krankheits-M. 149, 151 f., 155–157, 181, 259–262, 271, 374 f., 378 f., 383, 443 f. –– mechanistisch-maschinistische / Maschinen-M. 122, 149–153, 158 f., 181, 259, 261–263, 271, 374 f., 378, 443 f. –– Passivitäts-M. 114, 117, 271, 375 f. –– der (Selbst-)Reinigung 82, 111, 122, 149, 154 f., 157, 181 –– Metaphernhaushalt 153, 181, 259, 374, 443 Metaphorizität 150, 152 Mittelfristige Finanzplanung 196, 199, 215, 276 f. Monetarismus, monetaristisch 16, 295, 304 f., 368, 374, 433 Nachfragesteuerung 158, 199, 216, 356 Nationalökonomie s. Wirtschaftswissenschaft Nationalökonom s. Wirtschaftswissenschaft Neoliberalismus, neoliberal 306, 383, 426–428, 430 Nordwolle AG 64, 173 Normalisierung 225, 231–233, 257, 273 Notverordnung(-s) 65, 70, 73–75, 77, 96, 99 f., 104, 109, 114, 119, 121, 123, 145, 167 f. -streit 97, 163, 167, 180, 449, 451 OAPEC (Organization of Arab Petroleum Exporting Countries) 308, 316, 324
494 ÖTV (Gewerkschaft Öffentlicher Dienst,
Transport und Verkehr) 326, 341 Österreichische Credit-Anstalt 58, 64, 111 OPEC (Organization of the Petroleum Exporting Countries) 308–310 Opfer(-Semantik) 12, 78, 96, 101, 143, 145–147, 149, 172, 229 f., 235–237, 325, 327, 331, 334, 370, 380–383, 386, 395, 401 f., 409, 433, 438, 443 ordoliberal 198 Papen-Programm 121, 124, 131, 142, 148, 158 Phillipskurve 395 politischer Kommunikationsraum 36 f., 39, 94, 152, 222, 288, 432, 451, 454, 456 politische Planung 195, 199 Präsidial –– -kabinett 78 –– -regierung 72–74 –– -system 21 Pressekonferenz 12, 38 Projektgruppe Semantik (der CDU) 386, 439 Protektionismus, protektionistisch 58 f., 65, 128, 389–391, 442 Psychologie, psychologisch 82, 120, 128, 134, 138 f., 141 f., 187, 191, 198, 234, 240, 245–247, 258, 263, 264, 275, 324, 446 Radio s. Rundfunk RDI (Reichsverband der Deutschen Industrie) 78, 85 Reaganomics 295 Reichsbahn 60, 104, 123 Reichsbank 59 f., 63, 65, 67 f., 70, 82, 87 f., 120, 173 f., 176, 181 Reinhardt-Programm 71 Reparationen 59–61, 66 f., 78 f., 102, 107–110, 112–114, 122, 145 f., 175, 183 Rundfunk 22–24, 27, 83, 125, 184, 319, 380, 409 f., 452 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 189, 197, 201, 223, 249, 251, 254, 256, 268, 270, 276 f., 281, 305 f., 323, 347, 350, 359, 361–363, 367, 391, 396, 419, 425, 445 Sachzwang 325, 382 satzsemantisch 16, 18
Sachregister Schwarzer Dienstag 62 Schwarzer Donnerstag 62 Siedlung 125–128 Sonthofen-Strategie 393 sozialliberal 23, 28 f., 194, 224, 256, 281, 305, 313, 349 f., 352, 359, 386, 392 f., 396, 400, 428, 433, 439, 448 Spätkapitalismus, spätkapitalistisch 426 f. SPD -FDP-Koalition s. sozialliberal SPIEGEL -Affäre 23 Sprachreflexion, sprachreflexiv 162, 245, 258, 272, 274, 321, 386, 438, 446 Sprachsensibilität s. Sprachreflexion Staatskrise 72 f., 79, 88, 93, 163, 182, 195, 222, 225 f., 428, 442, 451 Staatsschauspieler 38 Stabilitäts- / Stabilitäts- und Wachstumsgesetz 198, 200 f., 205, 208, 211, 214, 216, 218 f., 226, 254, 256, 262, 276 f., 288 Stagflation 225, 240, 305, 323, 344, 386 Steuerbarkeit 271, 374, 377 Strukturwandel 42, 155, 303, 357, 368 Tendenzwende 233, 339, 363 f. (le) théorème de Schmidt (frz.) 356 Trilateral Commission 426 Tweet 410 Unregierbarkeit / Regierbarkeit 420 f., 426–431 Vergleichskommunikation 176, 417–419, 448 Vertrauen 11, 64, 82, 88, 134, 139–142, 170, 239, 241, 244–247, 250, 253 f., 256–258, 265, 271, 288, 295, 360, 430, 438, 446 Vertrauensfrage 224 Vernunft(-Semantik) 325, 370, 380–383, 428, 433, 438 Vietnamkrieg 193, 296, 302 Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung 137, 196, 215 Vollbeschäftigung 198, 234, 251, 257, 363, 367 f., 389, 395 f., 456 vorgelagerte Semantik 283, 286, 344 Währungssystem 11 f., 15, 65, 388, 390, 399 Weltökonom 448 Weltwirtschaftsgipfel 306, 368, 389, 442 Wirtschaftskurve 86, 151 Wirtschaftsstatistik, wirtschaftsstatistisch 110, 135, 445
Sachregister Wirtschaftswissenschaft, wirtschaftswissenschaftlich 15, 31, 33, 39, 43, 67–69, 135, 137, 151, 246, 293, 309, 395, 441 Wirtschaftswissenschaftler s. Wirtschaftswissenschaft Wissenschaftlicher Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium 199, 328 WTB -Plan 71
495 Young-Plan 59, 61, 68, 78 f., 86–89, 107–109, 113, 118, 119, 168 ZDF s. Fernsehen zeitliche Tiefe 106, 226, 232, 245, 269, 272, 335 f., 366