Wirtschaftsbürgertum in den deutschen Staaten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert: Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 1987 und 1988 [Reprint 2014 ed.] 9783486830248, 9783486562699

Karl Möckl: Wirtschaftsbürgertum im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, Einleitung Friedrich-Wilhelm Henning: Das Wir

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German Pages 456 Year 1996

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Table of contents :
Wirtschaftsbürgertum im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Einleitung
Das Wirtschaftsbürgertum in einer Agrarregion im 19. Jahrhundert, dargestellt am Beispiel Ostpreußen
Das Wirtschaftsbürgertum Österreichs von den Anfängen der Industrialisierung bis 1848
Berliner Finanzbürgertum im 19. Jahrhundert
Das Wirtschaftsbürgertum an der Saar im 19. Jahrhundert
Das Wirtschaftsbürgertum des Rhein-Main-Gebiets im 19. Jahrhundert. Ein Beitrag zur historischen Mobilitätsforschung
Wirtschaftliche Führungsschichten in Augsburg 1800-1914
Kölns Wirtschaftsbürgertum im 19. Jahrhundert (bis 1914)
Das Nürnberger Wirtschaftsbürgertum im 19. Jahrhundert
Die Bedeutung des Konnubiums, aufgezeigt an Beispielen aus dem Nürnberger Wirtschaftsbürgertum im 19. Jahrhundert
Wirtschaftsbürger und Wirtschaftsbürgertum in Regensburg im 19. Jahrhundert
Wiener Wirtschaftsbürgertum um 1900. Methodische Vorüberlegungen zur Erforschung und Darstellung einer sozialen Gruppierung
Wirtschaftsbürger und Unternehmer. Die Bedeutung von Produkt und Ausbildung am Beispiel der Chemischen Industrie Deutschlands um 1900
Die Familie Perrot: „Wirtschaftsbürger“ in den deutschen Kolonien
Männer von Verdienst und Vermögen: Die Bankiers Simon und Abraham von Oppenheim
Fabrikantenvillen
Personenregister
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Wirtschaftsbürgertum in den deutschen Staaten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert: Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 1987 und 1988 [Reprint 2014 ed.]
 9783486830248, 9783486562699

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Wirtschaftsbürgertum in dai deutschen Staaten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert

DEUTSCHE FÜHRUNGSSCHICHTEN IN DER NEUZEIT

Band 21

Im Auftrag der Ranke-Gesellschaft Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben herausgegeben von KARL MÖCKL

® Harald Boldt Verlag im R. Oldenbourg Verlag

Wirtschaftsbürgertum in den deutschen Staaten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert

Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 1987 und 1988

herausgegeben von KARL MÖCKL

® Harald Boldt Verlag im R. Oldenbourg Verlag München 1996

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wirtschaftsbürgertum in den deutschen Staaten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert / hrsg. von Karl Möckl.Miinchen : Boldt im Oldenbourg-Verl., 1996 (Biidinger Forschungen zur Sozialgeschichte ; 1987/1988) (Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit ; Bd. 21) ISBN: 3-486-56269-X NE: Möckl, Karl [Hrsg.]; 1. GT; 2. GT

© 1996 Harald Boldt Verlag im R. Oldenbourg Verlag München Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Gesamtherstellung: WB-Druck, Rieden ISBN 3-486-56269-X

Inhalt Karl Möckl Wirtschaftsbürgertum im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Einleitung

7

Friedrich-Wilhelm Henning Das Wirtschaftsbürgertum in einer Agrarregion im 19. Jahrhundert, dargestellt am Beispiel Ostpreußen

13

Harm-Hinrich Brandt Das Wirtschaftsbürgertum Österreichs von den Anfangen der Industrialisierung bis 1848

47

Helmut Böhme Berliner Finanzbürgertum im 19. Jahrhundert

83

Fritz Hellwig Das Wirtschaftsbürgertum an der Saar im 19. Jahrhundert

109

Franz Fischer Das Wirtschaftsbürgertum des Rhein-Main-Gebiets im 19. Jahrhundert. Ein Beitrag zur historischen Mobilitätsforschung 145 Peter Fassl Wirtschaftliche Führungsschichten in Augsburg 1800-1914

217

Klara van Eyll Kölns Wirtschaftsbürgertum im 19. Jahrhundert (bis 1914)

251

Rainer Gömmel Das Nürnberger Wirtschaftsbürgertum im 19. Jahrhundert

281

Gerhard Hirschmann Die Bedeutung des Konnubiums, aufgezeigt an Beispielen aus dem Nürnberger Wirtschaftsbürgertum im 19. Jahrhundert

307

Dirk Schumann Wirtschaftsbürger und Wirtschaftsbürgertum in Regensburg im 19. Jahrhundert

317

6

Inhalt

Ernst Bruckmüller/Wolfgang Meixner Wiener Wirtschaftsbürgertum um 1900. Methodische Vorüberlegungen zur Erforschung und Darstellung einer sozialen Gruppierung

343

Jürgen Schneider Wirtschaftsbürger und Unternehmer. Die Bedeutung von Produkt und Ausbildung am Beispiel der Chemischen Industrie Deutschlands um 1900 375 Francesca Schinzinger Die Familie Perrot: „Wirtschaftsbürger" in den deutschen Kolonien

397

Michael Stürmer Männer von Verdienst und Vermögen: Die Bankiers Simon und Abraham von Oppenheim

419

Johannes Cramer Fabrikantenvillen

431

Personenregister

449

Karl Möckl WIRTSCHAFTSBÜRGERTUM IM 19. UND BEGINNENDEN 2 0 . JAHRHUNDERT. EINLEITUNG

Die Erfahrung von Bürgerlichkeit aus Aufklärung und Liberalismus legt es nahe, das Bürgertum als eine verhältnismäßig einheitliche gesellschaftliche Schicht zu fassen. Die Betrachtung der einzelnen Gruppen des Bürgertums wird die Vorstellung vom bürgerlichen Antlitz des 19. Jahrhunderts zwar nicht grundsätzlich in Frage stellai, wohl aber geschichtliche Wirklichkeit stärker erfassen. Das Wirtschaftsbürgertum ist in der Epoche zwischen Sattelzeit und Erstem Weltkrieg vielfaltigen Wandlungen unterworfen. Dies hängt nicht nur mit seiner Bedeutung für dai Modemisierungsprozeß im allgemeinen, sondern mit der Durchsetzung des Industriesystems im besonderen zusammen. Dabei geht es in diesem Zusammenhang nicht um die durch Entzweiung bedingte Erkenntnis gesellschaftlicher Wirklichkeit, wie Leopold von Ranke formulierte, auch nicht um das Design des bürgerlichen Jahrhunderts, sondern um die Darstellung der lokalen, regionalen und strukturellen Vielfalt eines Teils der bürgerlichen Welt. Den hier gedruckten Studien liegen Vorträge zugrunde, die im Rahmen der Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte gehalten Es ist hier nicht möglich, die Forschungen zur Geschichte des Bürgertums aufzuarbeiten. In folgender Literatur finden sich Ausführungen zu Problemen des Wirtschaftsbürgertums. Lothar Gall, Hg., Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert (= Historische Zeitschrift, Beihefte, Bd. 12). München 1990; ders., Hg., Stadt und Bürgertum im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft (= Historische Zeitschrift, Beihefte, Bd. 16). München 1993; ders., Hg., Vom alten zum neuen Bürgertum. Die mitteleuropäische Stadt im Umbruch 1780 bis 1820 (= Historische Zeitschrift, Beihefte, Bd. 14). München 1991; ders., Bürgertum in Deutschland. Berlin 1989; ders., Vom Stand zur Klasse? Zur Entstehung und Struktur der modernen Gesellschaft (= Historische Zeitschrift, Bd. 261 (1995) S. 1-21); Utz Haltern, Die Gesellschaft der Bürger. Literaturbericht, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 1993, H. 1, S. 100-134; Jürgen Kocka, Hg., Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert (= Sammlung Vandenhoeck). Göttingen 1987; ders., Hg., Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, 3 Bde. München 1988; Hans-Jürgen Puhle, Hg., Bürger in der Gesellschaft der Neuzeit (= Bürgertum, Bd. 1). Göttingen 1991; Richard Tilly, Hg., Vergleichende Unternehmensgeschichte (= Geschichte und Gesellschaft, Jg. 1993, H 4); HansUlrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 3 Bde. München 1987 bis 1995.

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KarlMöckl

worden sind. Die Autorinnen und Autorai suchen sich auf unterschiedliche Weise dem Phänomen Wirtschaftsbürgertum zu nähern. Schon der Begriff ist vielschichtig. Jedoch zeigen sich im jeweiligen historischen Kontext Formen von Erwerbsmentalität, die geeignet sind, zu einer bürgerlichen Identitätsbildung bei zutragen. Der Horizont des Engagements des Wirtschaftsbürgertums wurde nicht nur durch die ökonomischen Interessen bestimmt, sondern auch vom Streben nach gesellschaftlicher, politischer und kultureller Akzeptanz. Die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung ließ ältere kommunalistische und 2

gemeindebürgerliche Traditionen bis ins 19. Jahrhundert fortwirken. Das Wirtschaftsbürgertum formierte sich aus unterschiedlichen lokalen und regionalen Sozial- und Berufsgruppen. Meinungsbildend wurden die Vertreter des Bildungsbürgertums. Diese stellten das „Bürgerideal" vor. Der bürgerliche Liberalismus mit seinen Staatsund Verfassungsmodellen mündete nach dem Scheitern der politischen Revolution von 1848 mit der Platz greifenden industriellen Revolution in eine Neugestaltung vor allem des Wirtschaftsbürgertums. War das einigende Ziel der 1850er und 60er Jahre die deutsche Einheit, so setzten sich, nachdem dieses Ziel erreicht war, mit dem Ausbau der industriellen Welt auch im Wirtschaftsbürgertum mit sich verstärkender sozialer Abgrenzung nach unten Tendenzen der Entsolidarisierung und Pluralisierung durch, die in der Interessenorientierung den „berufsständischen" Charakter deutlich machten. Wer zum Wirtschaftsbürgertum gehört, ist im Kern unbestritten, so Unternehmer, Kaufleute, Bankiers, Rentiers, Manager; die Grenzen zu anderen Gesellschaftsschichten sind fließend, was sich aus der historischen Begrifflichkeit ebenso erklärt, wie aus der wirtschaftlichen Entwicklung und der sozialen Horizontal- und Vertikalmobilität. Seit der frühen Neuzeit entwickelte sich aus den altreuropäischen kaufmännischen, gewerblichen und handwerklichen geburtsständischen Gruppen das Wirtschaftsbürgertum des 19. Jahrhunderts. Bergbau, Finanz- und Forstwirtschaft machen deutlich, daß das Wirtschaftsbürgertum in vorindustrieller Zeit ein lokales und regionales Phänomen war. Berufstreue, gewerbliche Begabung, hohe Investitionsbereitschaft, asketische Lebensführung und flankierende staatliche Maßnahmen konnten zur Herausbildung von „Unternehmerdynastien" führen. 2

Paul Nolte, Gemeindebürgertum und Liberalismus in Baden 1δ30 - 1850. Tradition - Radikalismus - Republik. Göttingen 1994.

Einleitung

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Bedingungen der Mobilität waren seit dem 18. Jahrhundert Zuwanderung und Peuplierung. Hinzu traten, verstärkt mit der Reformepoche, Vervollkommnung und Weiterentwicklung der traditionellen Fähigkeiten einerseits und die Ausnutzung neuer Bildungsmöglichkeiten andererseits. Der wachsende Bedarf an Gütern, die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Staaten, vor allem hinsichtlich der Abschaffung der Zünfte sowie der Durchsetzung der Bauernbefreiung und der zollpolitischen Neuorganisation Deutschlands, und die Verbesserung der Infrastruktur, so durch Eisenbahnbau und Förderung der Binnenschiffahrt verstärkten die Dynamik und die Differenzierung des Wirtschaftsbürgertums. Aus Kaufleuten und Gewerbetreibenden wurden Fabrikanten und Bankiers. Aber auch die ländlichen Verhältnisse im Einzugsbereich der „Industne"-regionen änderten sich. Die Bedeutung der Güterproduktion nahm zu. Der mit Heimarbeit beschäftigte Landwirt wird zum Nebenerwerbsbauern, zum „Arbeiterbauern". Soziale Öffnung, wenn auch vielfach begrenzt, und Möglichkeiten der Zuwanderung gewannen ihre Bedeutung in Wechselwirkung mit Bildungsstreben und politischer Betätigung. Das entstehende Solidaritätsbewußtsein des Bürgertums überstieg durch die sich angleichenden Interessallagen den lokalen und regionalen Rahmen. Das Bürgertum sensibilisierte die Gesellschaft für die Gesetzmäßigkeiten des industriellen Erwerbsstrebens ebenso wie für die politischen Veränderungen. In den deutschen Staaten wurde der Kulminationspunkt des Übergangs von der bürgerlichen zur bürgerlich-industriellen Epoche Mitte des 19. Jahrhunderts erreicht. Bis 1848 war die Freiheit der Wirtschaft ein selbstverständliches Ziel bei der Durchsetzung des liberalen Verfassungsstaates. Schon der Steuerzensus bei Wahlrecht und Indigenat hatte die sozialen Abgrenzungstendenzen des Bürgertums im Vormärz offengelegt. Während der Revolution entwickelten sich Frontstellungen, die nicht nur die politisch-gesellschaftliche Entwicklung veränderten, sondern auch die innere Struktur des Wirtschaftsbürgertums beeinflußten. Mit der Durchsetzung des Industriesystems seit den 50er Jahren verstärkte sich der DifFerenzierungs- und Entsolidarisierungsprozeß unter dem Druck wirtschaftlicher und sozialer Interessen, auch wenn der Konsens in der nationalen Frage die 3Illusion der Einheit noch bis in die Mitte der 70er Jahre vorgaukelte. Konkurrierende Modelle der WirtAndreas Biefang, Politisches Bürgertum in Deutschland 1857 - 1868. Nationale Organisationen und Eliten. Düsseldorf 1994; Andreas Schulz, Weltbürger und

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Karl Möckl

schaftsordnung förderten die Auffacherung des Wirtschaftsbürgertums ebenso, wie die unterschiedlichen Probleme der verschiedenen Wirtschaftssektoren. Am Finanzbürgertum wird die Entwicklung deutlich. Durch Mobilisierung des Vermögens der Mittelschichten diente es den Bedürfnissen des Staates und schuf die Voraussetzungen zum Aufbau des Verkehrs- und Versicherungswesens. Mit der Organisation der industriellen Investitionsfinanzierung fiel ihm eine Schlüsselrolle im Industrialisierungsprozeß zu. Es grenzte sich sozial nach unten ab, wurde zur einflußreichen Kraft im Großbürgertum, fühlte sich Aristokratie sowie Hof verbunden, hielt aber Abstand zu dai Universitäten. Der Anteil der jüdischen Bevölkerung an der Geldaristokratie war verhältnismäßig hoch. Auch dann, wenn die religiösen Traditionen hochgehalten wurden, suchte dieser Teil des Finanzbürgertums in der Regel keine soziale Distanz, bestimmte vielmehr das Profil dieser Gruppe des Wirtschaftsbürgertums. Die Differenzierung des Bürgertums nach ökonomischen Provenienzkriterien Handel, Industrie, Bankwesen und Magnatentum, bedeutete eine wachsende Abgrenzung vor allem zum Kleinbürgertum, findet Niederschlag in Tendenzen der Fraktionierung, die im Verbandsund Vereinswesen deutlich wurde, zeigte aber gleichwohl eine Weiterentwicklung der lokalen und regionalen Ausprägung der Erwerbsmentalität. Die vertikale Mobilität nahm in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eher ab. Die Kohäsion nach persönlichen und verwandtschaftlichen Verbindungen sowie geschäftlichen Beziehungen nahm zu. Die konfessionellen Bindungen spielten nach wie vor eine große Rolle. Allerdings sind diese Orientierungshilfen oft weniger Ausdruck asketischer Lebenseinstellung als soziales Regulativ. Aus diesem Grund wurde der Konfessionswechsel aus Motiven gesellschaftlicher Anpassung keineswegs von vorneherein als verpönt oder auch nur anrüchig angesehen. Weniger religiöse Werke oder fromme Stiftungen dienten nunmehr der Gewissensberuhigung sondern Spendenbereitschaft, soziales Engagement und ausgreifendes Mäzenatentum. Durch sie ließen sich außerdem Ehrungen und Auszeichnungen erlangen, die die Erinnerung über den Tod hinaus lebendig hielten, und dai traditionellen Bürgerstolz für Stadt und Region fruchtbar machten. Das Konnubium verlor seinai älteren geblütsrechtlichen Gehalt und wurde zum Mittel der Heiratspolitik, bei der die Kriterien der wirtschaftli-

Geldaristokraten. Hanseatisches Bürgertum im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift, Bd. 259/3 (1994) S. 637-670.

Einleitung

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chen Absicherung und sozialen sowie finanziellen Gleichrangigkeit im Vordergrund standen. Neue Formai der Kommensualität wurden Ausdruck des veränderten Lebensstils. Die Trennung von Wohnung und Fabrik beeinflußte die Form der Geselligkeit. Der Trend zum Stadtpalais und die entstehenden Villenviertel ermöglichten nun, ein „großes Haus" zu führen. Wirtschaftliche Vereine, kulturelle Vereinigungen und gesellige Zusammenschlüsse beeinflußten nachhaltig das bürgerliche Leben und prägten die Form der Bürgerlichkeit. Der wirtschaftliche Erfolg hing nicht mehr allein von unternehmerischem Mut und Risikobereitschaft ab. Die traditionelle Qualifikation bedurfte spezieller fachlicher Weiterbildung, oft eines akademischen Studiums auf technischen Hochschulen bzw. Universitäten und überregionaler, auch internationaler Erfahrungen. Durch die steigende Zahl industrieller Innovationen erweiterte sich das Unternehmerprofil. Mit der Jahrhundertwende setzte sich durch das sprunghafte Anwachsen der anonymen Gesellschaften und das Engagement in speziellen Bereichen, wie den Kolonien, der Typus des leitenden Angestellten, des Managers durch. Bei allen Einschränkungen blieb das Wirtschaftsbürgertum aber gundsätzlich eine offene soziale Schicht. Wenn diese Schicht in Wien um 1900 Abschließungstendenzen erkennen läßt, so erfolgten diese nicht nur nach unten, sondern auch gegenüber Hof und Aristokratie, der sogenannten ersten Gesellschaft. Die geringe Zahl an Nobilitierungen korrespondierte mit einem vielfach deutlich werdenden bürgerlichen Pflicht- und Leistungsbewußtsein. Besitz und Bildung gingen eine so eigenartige Symbiose ein, daß diese Schicht in der „nächsten" Generation eine große Zahl von Kulturschaffenden und Künstlern hervorbrachte. Das Wirtschaftsbürgertum des 19. Jahrhunderts entwickelte sich aus der ständischen Gesellschaft Alteuropas durch Emanzipation und staatliche Reformpolitik. Der Prozeß der Selbstfindung wurde bis zur Revolution von 1848 vom Kampf um die Freiheit der Wirtschaft und um die Durchsetzung des liberalen Verfassungsstaates getragen, auch wenn der lokale und regionale Aspekt vielfach die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung deutlich macht. Nach der Mitte des Jahrhunderts gewann mit der Durchsetzung der Industrialisierung einerseits der nationale Rahmai im Ringen um eine marktgerechte Wirtschaftsordnung an Bedeutung und andererseits behieltai in einem Transformationsprozeß bestimmte Städte und Regional die Leitfunktion der ökonomischen Entwicklung. Der sozialen Differaizierung des Wirtschaftsbürgertums entsprach eine Auffacherung der politischai Über-

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zeugungen. Bei aller Loyalität zur Monarchie, national-liberalen, auch fortschrittlichen oder konservativen Zielsetzungen dominierte die Staatstreue und ein Patriotismus, der im Kapital ein „Stärkungsmittel des nationalen Geistes" sah. Wenn Vertreter des Wirtschaftsbürgertums Mandate in politischen Gremien und staatlichen Beiräten übernahmen, wenn sie sich in vielerlei Verbänden engagierten, so darf man die Wirksamkeit eines inneren Konsenses, eines Chorgeistes nicht unterschätzen, der den direkten und indirekten Einfluß des Wirtschaftsbürgertums auf die Politik kennzeichnet und der nachhaltiger war, als der anderer Gruppierungen des Bürgertums. Wertvolle Hilfen bei Korrektur und Bearbeitung der Manuskripte leisteten Dr. Stefan Kestler, Anneliese Christian, Michael Nüßlein und Florian Di eri. Ihnen sei vielmals gedankt.

Friedrich-Wilhelm Henning DAS WIRTSCHAFTSBÜRGERTUM IN EINER AGRARREGION IM 19. JAHRHUNDERT, DARGESTELLT AM BEISPIEL OSTPREUBEN

1. Die Gruppe der Wirtschaftsbürger in Ostpreußen a. Das Grundproblem der Wirtschaftsbürger in einer Agrarregion Die Forschungen und Darstellungen zum Wirtschaftsbürgertum stellen vor allem die Entwicklung und die Probleme im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit dem Industrialisierungsprozeß in den Mittelpunkt. Die Ausdehnung der Zahl der Wirtschaftsbürger wird dabei als Ausdruck der zunehmenden industriellen Entwicklung einer Region angesehen. Es wird davon ausgegangen, daß einerseits ein wachsendes Wirtschaftsbürgertum diese wirtschaftliche Entwicklung bewirkt hat. Andererseits hat danach die Industrialisierung die Entwicklung dieser Gruppe der Bevölkerung gefördert. Diese Zusammenhänge sind wohl als aitscheidend dafür anzusehen, daß bisher keine Untersuchung über das Wirtschaftsbürgertum in einer Agrarregion vorliegt. Wenn im folgenden das Wirtschaftsbürgertum in einer noch bis hin zum Ersten Weltkrieg - und darüber hinaus - als überwiegend agrarisch zu charakterisierenden Region betrachtet werden wird, dann soll damit zugleich gezeigt werden, daß auch solche Gebiete bei allen Unterschieden im Vergleich zu stärker in dai Industrialisierungsprozeß einbezogenen Teilen Mitteleuropas parallele Entwicklungen aufzuweisen hatten, die in der Problemstruktur sowohl den allgemeinen Grundlinien aitsprechende Erscheinungai wie auch durch das starke agrarische Element bedingte Besonderheiten aufzuweisen hattai. Unter Ostpreußai wird dabei das Gebiet der beiden Regierungsbezirke Königsberg und Gumbinnen für die Zeit von 1815 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, ferner der 1905 aus den südlichai Teilai dieser beiden Bezirke neu geschaffene Regierungsbezirk Allenstein verstanden. In diesem Gebiet waren am Anfang des 19. Jahrhunderts etwas über 80 und in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg etwas über 50 v.H. aller Erwerbstätigen in der Land- und in der Forstwirtschaft be-

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Friedridi-Wilhelm Henning

schäftigt1. Der Agrarsektor bestimmte mithin den Charakter der Wirtschaft dieses Gebietes. Geht man davon aus, daß das Wirtschaftsbürgertum in einer sich industrialisierenden Wirtschaft mit privatem Unternehmertum entscheidende Aufgaben bei der wirtschaftlichen Entwicklung hat, insbesondere der Träger des wirtschaftlichen Wachstums und damit der Verbesserung der materiellen Ausstattung der Bevölkerung ist, dann kam diesem Wirtschaftsbürgertum gerade in der Übergangsperiode von der agrarisch bestimmten Wirtschaftsstruktur zu einer industriell bestimmten Wirtschaftsstruktur eine Schlüsselrolle zu. Bei der Betrachtung der Wirtschaftsbürger dieses Gebietes wird es zunächst auf eine Abgrenzung der Gruppe und auf eine Definition des Begriffes der Wirtschaftsbürger allgemein und unter dem besonderen Gesichtspunkt einer noch weitgehend agrarisch geprägten Wirtschaft und Gesellschaft ankommen. Zu ergänzen ist dies dann auf der Basis dieser Abgrenzung durch Überlegungen zur größenordnungsmäßigen Einschätzung und damit schließlich auch zur wirtschaftlichen und zur gesellschaftlichen Bedeutung dieser Gruppe. b. Die Abgrenzung der Gruppe der Wirtschaftsbürger unter Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse in Ostpreußen Eine eindeutige und unumstrittene Definition von Wirtschaftsbürger und damit auch von Wirtschaftsbürgertum gibt es nicht2. In der sozialgeschichtlichen Literatur wird, sofern man sich überhaupt der Mühe einer Definition unterzieht, das Wirtschaftsbürgertum häufig gegenüber dem Bildungsbürgertum abgegrenzt, wobei manchmal auch zwischen Besitz- und Bildungsbürgertum unterschieden wird. Manchmal wird auch eine Abgrenzung zum vorindustriellen Bürgertum vorgenommen, wobei davon ausgegangen wird, daß das Bürgertum der vorindustriellen Zeit allenfalls Ähnlichkeiten mit dem Wirtschaftsbürgertum der industriellen Zeit gehabt hat, aber keineswegs als identisch anzusehen ist. Da der Begriff Wirtschaftsbürgertum des 19. und 20. Jahrhunderts im Zusammenhang mit dieser Argumentation dann auch synonym mit dem Begriff Bourgeoisie gebraucht wird, wird deutlich, 1

Vgl. die Veröffentlichungen des Statistischen Reichsamtes zur Berufszählung von 1907. 2 Vgl. dazu auch die verschiedenen Veröffentlichungen aus dem Sonderforschungsbereich der Universität Bielefeld ab 1986.

Wirtschaftsbürgertum in einer Agrarregicii

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daß hier vor allem zwei Komp orientai bei der Abgrenzung wichtig sind: (1) Die Abgrenzung zum Bildungsbürgertum zeigt die berufliche Komponente. (2) Die Abgrenzung zum städtischen Bürgertum der vorindustriellen Zeit zeigt eine im Vergleich dazu völlig neue Dimension, nämlich die Zugehörigkeit zu einer Klasse im Sinne der Betrachtungsraster für das 19. und 20. Jahrhundert, wie dies insbesondere unter dem Einfluß von Karl Marx und den Marxisten gesehen wird.3 Während der Bürger der vorindustriellen Zeit seine Stellung durch Rechtspositionen abgesichert hat, was man kurz als ständisches Prinzip bezeichnen kann, ist der Bürger des 19. und des 20. Jahrhunderts durch seine Funktion gekennzeichnet, die auf der Wirtschaftskraft (Wirtschaftsbürger) oder auf der speziellen (Aus-)Bildung (Bildungsbürger) beruht. Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten wird man bei der Abgrenzung des Wirtschaftsbürgertums zwei Aspekte in dai Vordergrund zu stellen haben: (a) Die Einordnung des einzelnen in dai Arbeitsprozeß mit einer dispositiven, nicht oder kaum weisungsabhängigen Tätigkeit, was selbständig erwerbswirtschaftlich tätige Personen ebenso umfaßte wie überwiegend dispositiv tätige Personal, die von dem Betriebsinhaber für ihre Tätigkeit entlohnt wurdai. (b) Aufgrund dieser funktionalen Prägung wird in der Regel der so definierte Wirtschaftsbürger auch ein über die breite Masse der weisungsabhängig Beschäftigtai hinausgehendes Einkommai gehabt haben, was ihm eine gehobene Lebenshaltung ermöglichte. Würde man allein diese beiden Gesichtspunkte der dispositiven Tätigkeit (funktionales Element) und der Einkommaisstärke (materielles Element) zugrunde legen, dann würde man sämtliche Personen zu dai Wirtschaftsbürgern zu rechnen habai, die wirtschaftlich selbständig sind, vom kleinsten Ein-Mann-Betrieb bis zur größten Unternehmung, und dazu sämtliche Personen, die in diesen Unternehmungen eine dispositive Funktion haben, von einer kleineren Gruppe am unteren Rande der Einkommaispyramide wegen des geringen Einkommens abgesehen. Im allgemeinai wird aber, sofern überhaupt Abgrenzungsüberlegungen angestellt werden, davon ausgegangen, daß zu den „Wirt3

Marx, Karl: Die deutsche Ideologie, in: Marx, Karl und Engels, Friedrich: Historisch-kritische Gesamtausgabe. Werke, Schriften, Briefe, Abteilung 1, Bd. 5, Berlin 1932, S. 43.

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schaftsbürgem" nur Personen zu rechnen sind, die im Ergebnis nur einen kleinen Teil, eine Spitzengruppe der dispositiv Tätigen umfaßt: (a) „Ökonomisch einflußreiche" Personen4, die insbesondere die durch die staatlichen Organe vorgenommenen Entscheidungen (Gesetzgebung und Verwaltung) zur Begünstigung der eigenen Interessen beeinflussen (Stamokap-Modell), (b) Personen mit einem beachtlichen wirtschaftlichen Potential, und zwar unabhängig von der Einwirkung auf den nichtwirtschaftlichen Bereich, und (c) Personen mit erheblichen unternehmerischen Aktivitäten, von denen eine Ausweitung der Unternehmung, insbesondere eine Zunahme der Arbeitsplatzzahl zu erwarten ist. Im Ergebnis bedeutet dies, daß man nur die zum Großbürgertum, zur Haute-Bourgeoisie zählenden Personen als Wirtschaftsbürger bezeichnet5. Hinter dieser Argumentation steckt das marxistische Zwei-Klassen-Modell mit Kapitalisten und Arbeitern6. Die dazwischen anzusiedelnde Gruppe der kleineren Unternehmer, die in der marxistischen Terminologie sogenannten kleinen Warenproduzenten (Bauern, Händler, Handwerker usw.), werden wegen ihrer geringeren wirtschaftlichen Potenz nicht zu dai Wirtschaftsbürgern gezählt. Im Kern geht es hierbei also um das Problem der materiellen Ausstattung und der hiervon ausgehenden Außenwirkung auf andere, nicht aber um das Bewußtsein bei den möglichen Wirtschaftsbürgern. Eine exakte Abgrenzung zwischen diesen Wirtschaftsgroßbürgern und dai kleinen Unternehmern läßt sich aber nicht mit der erforderlichen Zuverlässigkeit durchführen. Man könnte entsprechend heutigen Definitionen an die Beschäftigtenzahl, an die Kapitalausstattung oder an den Umsatz eines Unternehmens als Abgrenzungskriterien denken. Hierbei handelt es sich aber immer nur um Indikatoren für die Einschätzung der Außenwirkung. Im Grunde läßt sich für den gesamten breiten Übergangsbereich zwischen (Klein-)Handwerker und Fabrikant, ebenfalls zwischen (Klein-)Händler und Handler mit einem großen Betrieb, auch zwi4

Hesselmann, Hans: Das Wirtschaftsbürgertum in Bayern 1890 - 1914. Ein Beitrag zur Analyse der Wechselbeziehungen zwischen Wirtschaft und Politik am Beispiel des Wirtschaftsbürgertums im Bayern der Prinzregentenzeit (= Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 32), Stuttgart 1985, S. 21. 5 Vgl. dazu das Manifest der Kommunistischen Partei von 1848. 6 Hesselmann, Das Wirtschaftsbürgertum (wie Anm. 4), S. 21, klammert die "Kleinbürger" ausdrücklich aus.

Wirtschaftsbürgertum in einer Agrarregicii

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sehen (Klein-)Gastwirt und dem Inhaber einer größeren Gaststätte keine genaue Abgrenzung finden. Einkommen, Zahl der Beschäftigten, Umfang des Betriebskapitals oder Höhe des Umsatzes sind Merkmale, die eine objektive Abgrenzung ermöglichen, die aber jeweils allein oder auch in einer Kombination als willkürliche Abgrenzung anzusehen sind. Dieses Abgrenzungsproblem ist nicht akademischer Natur, denn gerade das Großbürgertum hat mindestens seine Wurzeln zu einem erheblichen Teil in diesem vielleicht als Kleinbürgertum zu bezeichnenden Bereich. Unter dem Gesichtspunkt der speziellen Ausrichtung dieses Aufsatzes auf eine Agrarregion und damit auf die Wirkung der Tätigkeit der Wirtschaftsbürger in einer Entwicklungssituation wird man die genannte Untergruppe der kleinen Wirtschaftsbürger mit in die Betrachtung einbeziehen müssen, da sie gerade in einem frühen Entwicklungsstadium eine große Bedeutung gehabt hat, und zwar als Reservoir von Unternehmern, aber auch als wirtschaftliches Umfeld der industriellen Entwicklung im 19. Jahrhundert. Die erweiterte Einbeziehung auch von kleineren Unternehmern in die Gruppe der Wirtschaftsbürger ist aber noch aus zwei weiteren Gesichtspunkten als gerechtfertigt anzusehen: (1) Nicht selten werden Besitzbürger in der Abgrenzung der Wirtschaftsgroßbürger zusammen mit dai Bildungsbürgern in die Gruppe der Bürger des 19. und des 20. Jahrhunderts zusammengefaßt7. Dabei wird dann aber nicht berücksichtigt, daß man in der Teilgruppe der Besitzbürger die soziale Pyramide wesentlich weiter nach unten erfaßt als bei den Wirtschaftsbürgern. Gerade das Konnubium zeigt, daß die Bildungsbürger keineswegs nur auf das Wirtschaftsgroßbürgertum ausgerichtet waren. (2) In dem Problemkreis, der durch die Sonderweg-Debatte Deutschlands - Sonderweg im Verhältnis zu den Ländern Westeuropas - gekennzeichnet ist, wird davon ausgegangen, daß es in Deutschland zu einem Bündnis zwischen Adel und Bürgertum - im Sinne von Wirtschaftsgroßbürgertum und Bildungsbürgertum - gekommen sei. Die große Gruppe der wirtschaftlich selbständigen Bürger mit kleineren und mittleren Unternehmungen war gerade seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, spätestens seit dem Jahre 1848 ein wichtiges Reservoir des 7

Vgl. dazu auch Kocka, Jürgen: Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der neueren Geschichte vom späten 18. zum frühen 19. Jahihundert, in: Kocka, Jürgen (Hg ): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 23ff.

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Friedrich-Wilhelm Henning

politischen Konservatismus. Man sollte diese Gruppe daher sowohl wegen der ökonomisch-funktionalen Stellung als auch wegen der politisch-finalen Mentalität mit zu dai Wirtschaftsbürgem zahlen, wenn auch die Unterschiede zwischen den einzelnen Teilgruppen des so erweiterten Wirtschaftsbürgertums durchaus zu sehen und zu beachten sind. Im allgemeinen werden die Land- und die Forstwirtschaft ebenfalls aus der Betrachtung der Wirtschaftsbürger herausgelassen, vielleicht weil Bürger eben nur in der Stadt wohnen konnten, jedenfalls in der vorindustriellen Zeit. Die Beschränkung auf städtische und nichtlandwirtschaftliche Bürger ist aber nicht gerechtfertigt, da der Bürger-Begnff des 19. und 20. Jahrhunderts nicht an die Stadt und an eine nichtlandwirtschaftliche Tätigkeit gebunden ist, zumal da audi von der Landwirtschaft und den dort vorhandenen Unternehmern gesamtwirtschaftliche Wirkungen ausgehen können, die durchaus mit den Folgen der Tätigkeit städtischer Wirtschaftsbürger zu vergleichen sind. In der Landwirtschaft sind es vor allem zwei Gesichtspunkte, die für das Wirtschaftsbürgertum von Bedeutung sind: (1) Unternehmerisch eingestellte Menschen konnten in ihren landwirtschaftlichen Betrieben oder darüber hinaus im gesamten landwirtschaftlichen Sektor Aktivitäten entwickeln, die durchaus einer wirtschaftsbürgerlichen Tätigkeit entsprachen'. Diese Tätigkeit innerhalb der Landwirtschaft konnte noch mit nichtlandwirtschaftlichen Tätigkeiten verbunden werden, und zwar im Anschluß an die Landwirtschaft (Zuckerfabriken, Ziegeleien, Stärkefabriken usw.) oder unabhängig hiervon. Domänen- und Gutspächter waren in diesen Branchai häufig sehr initiativ. (2) Zwar nicht direkt Wirtschaftsbürger, aber ein wichtiges Potential für die Gruppe der Wirtschaftsbürger bildeten die nachgeborenen Söhne der selbständigen Landwirte, die nicht als Hoferben in Betracht kamen. Sofern nicht versucht wurde, für sie einen landwirtschaftlichen Betrieb käuflich oder durch ein Pachtverhältnis zu erwerben, wurden sie häufig in einem nichtlandwirtschaftlichen Beruf ausgebildet. Aus ihrem Erbteil konnten sie je nach der Größe des väterlichen Hofes mit

8 Für Ostpreußen ist hier insbesondere Henry Axel Bueck zu nennen, der zunächst praktischer Landwirt und Geschäftsführer (Generalsekretär) des "Landwirtschaftlichen Centraivereins für Litauen und Masuren" gewesen ist; nach der Gründung des "Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller" im Jahre 1874 wurde Bueck dessen Geschäftsführer.

Wirtsdiaftsbürgeitum in einer Agrarregion

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einer Erbabfindung rechnen, die es ihnen erleichterte, sich selbständig zu machen. Insgesamt wird man bei der Frage nach der Bedeutung des Wirtschaftsbürgertums für Wirtschaft und Gesellschaft drei Gruppen zu unterscheiden haben: (1) Personal, die als Wirtschaftsgroßbürger zu bezeichnen sind und die jeweils auch allein für die Wirtschaft eines Ortes oder einer Region eine gewisse Bedeutung haben oder gehabt haben. (2) Die breite Masse der weniger bedeutenden Wirtschaftsbürger, die in ihrer Gesamtheit ein wichtiger Bestandteil der Wirtschaft eines Ortes oder einer Region sind oder waren. (3) Personen, die als Reservoir für die Ausdehnung und Ergänzung des Wirtschaftsbürgertums in Betracht kommen oder kamen.

c. Die zahlenmäßige Bedeutung der Wirtschaftsbürger in Ostpreußen Für die Feststellung der zahlenmäßigen Ausdehnung der Gruppe der Wirtschaftsbürger im sekundären und im tertiären Sektor in Ostpreußen im Jahre 1907, d.h. in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg und damit am Ende des in Deutschland im 19. Jahrhundert abgelaufenen Industrialisierungsprozesses, ist zunächst von der Zahl der selbständigen Unternehmer, d.h. Unternehmen auszugdien. 1907 lag die Ausstattung Ostpreußens mit gewerblichen Hauptbetrieben erheblich unter dem Durchschnitt des Deutschen Reiches. Es gab zwar in Ostpreußen etwa 70.000 gewerbliche Hauptbetriebe im sekundären und im tertiären Sektor9, die man vielleicht mit der Zahl der Unternehmensleiter gleichsetzen und um einige dispositiv tätige Nichteigentümer ergänzen kann. Wie stark aber in dieser Hinsicht die einzelnen Teile Deutschlands differierten und welche Stellung Ostpreußen dabei einnahm, zeigt folgende Übersicht, vgl. Tabelle 1.

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Statistik des Deutschen Reiches, Gewerbezählung 1907, Bd. 215 und 220/221.

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Friedrich-Wilhelm Henning

Tab.l: Zahl der Hauptbetriebe des sekundären und des tertiären Sektors und Zahl dieser Betriebe je 1.000 Einwohner im Jahre 1907 im Deutschen Reich und in einigen Ländern und Landesteilen Gebiet Deutsches Reich Sachsen Württemberg Rheinprovinz Pommern Ostpreußen

Gewerbehauptbetriebe 3.400.000 380.000 134.000 340.000 74.000 70.000

Gewerbehauptbetriebe je 1.000 Einwohner 55 81 56 50 43 33

Quelle: Errechnet nach Angaben des Statistischen Reichsamtes aus den Erhebungen des Jahres 1907. Würde man die Kleingewerbebetriebe im sekundären und im tertiären Sektor mit weniger als 6 Beschäftigtal je Betrieb hiervon abziehen, dann blieben für Ostpreußen nicht mehr als 5.400 Hauptbetriebe, d.h. kaum mehr leitende Personen über. Dies wäre dann in etwa die Größenordnung derjenigen, die man als Wirtschaftsbürger bezeichnen kann, sofern man dai Begriff weit faßt, aber nicht auf sämtliche Selbständigen oder Leitenden im sekundären und im tertiären Sektor abstellt. Unternehmungen mit mehr als 50 Beschäftigten - in der damaligen Definition des Statistischen Reichsamtes Großbetriebe - gab es sogar nur 387. Diese Zahl kann man mit der Zahl der Wirtschaftsgroßbürger gleichsetzen, wobei allerdings zu berücksichtigen ist, daß in der Literatur im allgemeinen an die Inhaber noch größerer Unternehmen gedacht wird. Die Entwicklung über das gesamte 19. Jahrhundert ist folgendermaßen verlaufen: Von 1815 bis 1907 verdoppelte sich die ostpreußische Bevölkerung von etwa 1 Mill, auf etwa 2 Mill.10 Die Ausstattung mit selbständigen Handwerksbetrieben je 1.000 Einwohner ist dabei in etwa gleich gewesen und lag bei etwa 45 Erwerbstätigen und 20 bis 25 Handwerksbetrieben je 1.000 Einwohner. Die Ausdehnung der Arbeitsplätze im 10

Henning, Friedrich-Wilhelm: Die Entwicklung von Einkommensmöglichkeiten und Bevölkerung in Ostpreußen im 18. und im 19. Jahrhundert, in: Wirtschaftskräfte und Wirtschaftswege, Festschrift Hermann Kellenbenz, Bd. 3, Auf dem Weg zur Industrialisierung, Stuttgart 1978, S. 310ff.

Wirtschaftsbürgertum in emer Agrarregjan

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sekundären Sektor war stärker als das Bevölkerungswachstum. Dabei kam es auch zu einer Ausdehnung der selbständigen Gewerbebetriebe, aber größenordnungsmäßig nur in etwa parallel zum Bevölkerungswachstum. Insgesamt läßt sich feststellen, daß innerhalb der Gruppe der Selbständigen im sekundären und im tertiären Sektor eine breite Streuung vorhanden war, daß selbst in der Gruppe der sogenannten Großbetriebe keineswegs ein soziales Zusammengehörigkeits- und Solidaritätsgefühl bestand. Ein Unternehmersohn aus einer Unternehmung mit etwa 60 Beschäftigten wäre kein Heiratskandidat für die Tochter eines Unternehmers mit mehr als 500 Beschäftigten gewesen. Und die Väter der beiden konnten sich kaum am Stammtisch treffen. Die sozialen Schichten innerhalb der Gruppe der Unternehmer wurden gerade im täglichen Leben deutlich und von den Beteiligten respektiert. Auch die Landwirtschaft stellte unter den oben genannten Gesichtspunkten ein erhebliches Potential an Ansatzpunkten für eine Entwicklung zum Wirtschaftsbürger. Immerhin gab es im Jahre 1907 in Ostpreußen etwa 220.000 landwirtschaftliche Betriebe, von denen allerdings 115 .000 Nebenbetriebe waren, so daß mindestens von den etwas mehr als 100.000 Hauptbetrieben ein erheblicher Teil als der Gruppe oder dem Reservoir der möglichen Wirtschaftsbürger zuzurechnen war. Man wird allerdings davon ausgehen können, daß die Betriebsgröße als Ausgangsbasis eine wesentliche Rolle gespielt hat. Diese war 1907 folgendermaßen verteilt, vgl. Tabelle 2. Tab. 2 : Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe in Ostpreußen im Jahre 1907, gegliedert nach der Betriebsgröße Betriebsgrößengruppen weniger als 0,5 ha 0,5 bis 2 ha 2 bis 5 ha 5 bis 20 ha 20 bis 100 ha 100 bis 200 ha mehr als 200 ha zusammen

Zahl der Betriebe 77.568 Betriebe 37.079 Betriebe 32.525 Betriebe 43.982 Betriebe 24.795 Betriebe 1.632 Betriebe 1.664 Betriebe 219.245 Betriebe

Quelle: Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 212, 2b, S. 2.

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Man kann rein schematisch davon ausgehen, daß die Betriebe mit bis 2 ha (insgesamt 114.647) in etwa den 114.620 Nebenbetrieben entsprachen, so daß es sich hierbei nicht um wirkliche landwirtschaftliche Betriebe mit Haupterwerbscharakter gehandelt hat. Die hauptberufliche Tätigkeit lag hier offensichtlich außerhalb dieses Betriebes. Auch die Betriebe mit 2 bis 5 ha werden allenfalls bei Intensiv- und Spezialkulturen ein für die materielle Absicherung einer Familie ausreichendes naturales und monetäres Einkommen vermittelt haben. Da es hier aber nur darauf ankommt, das mögliche Potential an Personen festzustellen, die als Wirtschaftsbürger im weiteren oder im engeren Sinne in Betracht kommen, mögen diese Zahlen für alle drei Sektoren der Wirtschaft ausreichen, um einen Eindruck von diesem Potential zu vermitteln. Nach der persönlichen Einstellung der einzelnen Angehörigen dieser Gruppen, nach dem Wahlverhalten und nach anderen Kriterien wird man dabei sowohl bei dai Betriebsinhabem wie auch bei den in fremden Betrieben dispositiv Tätigen wesentlich weiter innerhalb der Pyramide dieser Gruppe nach unten den Trennungsstrich zu verlegen haben, als dies meistens in der bisherigen Literatur geschieht. 2. Die Herkunft der Wirtschaftsbürger und ihre Tätigkeit Die Wirtschaftsbürger Ostpreußens lassai sich nach ihrer Herkunft im wesentlichen vier Untergruppen zuordnen: a. aus dem alten Wirtschaftsbürgertum der vorindustriellen Zeit, b. aus dem Handwerk, c. aus Zuwanderung und d. aus sonstigen Quellen. Mit dazu zählt auch die zunehmende Zahl deijenigen Wirtschaftsbürger, die das meistens väterliche Erbe übernahmen. a. Wirtschaftsbürger des 19. Jahrhunderts aus dai aitai Wirtschaftsbürgerfamilien der vorindustriellai Zeit Als Wirtschaftsbürger im engeren Sinne sind für die vorindustrielle Zeit in Ostpreußen vor allem die Kaufleute des überregionalen Handels anzusehai. Diese waren fast ausschließlich in Königsberg angesiedelt.

Wirtschaftsbürgerlum in einer Agrarregion

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Als ein Beispiel fur größere Fabrikationsbetriebe im ausgehenden 18. Jahrhundert in Ostpreußen sei das Papiermachergewerbe genannt. Von dai insgesamt 14 Papiermühlen, die 1802 in Ostpreußen vorhanden waren, hatten 4 mehr als 10 Beschäftigte. Zu den Papiermühlenbesitzem gehörte auch die Familie Kanter in Königsberg. Diese Familie war wirtschaftlich in mehreren Branchai tätig: Der Familie gehörte das ehemals köllmische, nunmehr adlige Gut Trutenau im Amt Neuhausen, d.h. in der Nähe Königsbergs. Hier betrieb man die genannte Papiermühle und außerdem wurden „Preß-Karten" oder „Preß-Späne" hergestellt, „welche zum Pressai der Tuche und Zeuge gebraucht werden und bisher nur in England verfertigt wurden, die er aber mit vielen Kosten eben so gut nachzumachen erfunden hat". Zur Herstellung dieser Karten aus Hanf wurde ein „Glätwerk" angelegt.11 Eine andere Unternehmerfamilie des ausgehenden 18. Jahrhunderts ist ebenfalls dem Druckereigewerbe zuzurechnen. Der aus Thüringen stammende Johann Heinrich Härtung heiratete 1731 die Tochter des Druckereibesitzers Josef Stelter in Königsberg und in wenigen Generational aitwickelte sich daraus eine Buchhandlung, ein Verlagsunternehmen und eine Druckerei, die weit über Königsberg hinaus bekannt wurde, und zwar im 19. Jahrhundert durch die Herausgabe der „Königsberger Hartungschai Zeitung", die aber schon im 18. Jahrhundert einai Vorläufer hatte.12 Die meisten anderai Gewerbezweige außerhalb des Handwerks überstandai den Übergang in das 19. Jahrhundert nicht. Sie produzierten in der Regel unter dem Schutz von Privilegien und gingen entweder schon in den napoleonischai Jahren wegen der fehlenden Nachfrage ein oder wurden nach der Einfuhrung der Gewerbefreiheit verdrängt, da sie nicht auf Konkurrenz ausgerichtet waren und sich den neuen Verhältnissen weder unter kaufmännischen noch unter produktionstechnischen Gesichtspunktai anpassen konnten. Die ehemaligen Königsberger Kaufmannsfamilien des 18. Jahrhunderts gingen auch nur ausnahmsweise zu neuen wirtschaftlichen Tätigkeiten im sekundärai oder im tertiärai Sektor über. Einige erwarben Landbesitz und reihten sich damit in die Gruppe der größeren 11

Goldbeck, Johann Friedrich: Vollständige Topographie des Königreiches Preußen, Bd. 1, Königsberg und Leipzig 1789, S. 12; vgl. auch Rachel, Hugo: Die Handels-, Zoll- und Akzisepolitik Brandenburg-Preußens, Bd. 3, 2. Hälfte, 1740 1786, Berlin 1928, S. 420. 12 Ganse, Fritz: Die Geschichte der Stadt Königsberg, Bd. 2 (= Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart, Bd. 10/2), Köln und Graz 1968, S. 128.

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Grundbesitzer ein. Teilweise war dies schon im 18. Jahrhundert geschehen, wie z.B. bei der Familie (von) Farenheid, teilweise geschah dies erst im 19. Jahrhundert wie bei der Familie (von) Simpson. Eine Teilgruppe der Wirtschaftsbürger des ausgehenden 18. Jahrhunderts ist noch zu nennen. Es sind diejenigen, die innerhalb eines Handelsgeschäfts auch Bankgeschäfte betrieben haben. So hat z.B. Immanuel Kant bei zwei solcher Handels- und Bankhäuser Depositen gehalten. Auch im 19. Jahrhundert bestanden vergleichbare Ansatzpunkte. Immerhin gab es in Königsberg im Jahre 1858 33 Unternehmen, die als Geld- und Kreditunternehmen bezeichnet wurden. Damit lag Königsberg an vierter Stelle in der preußischen Monarchie. Berlin stand mit 140 Unternehmen dieser Art an der Spitze, gefolgt von Köln mit 41 und Breslau mit 39. Bereits zu dieser Zeit zeigte sich aber die geringe Entwicklung dieses Wirtschaftszweiges in Königsberg. Im Durchschnitt waren in jedem dieser Unternehmen in Königsberg nur 0,67 Gehilfen neben dem Betriebsinhaber vorhanden, in Breslau immerhin bereits 2,5 und in Köln sogar 5 „Hilfspersonal".13 Aus den äußeren Umständen läßt sich zweierlei ablesen: (1) Es bestand keine Kontinuität von den Handels- und Geldunternehmen des ausgehenden 18. Jahrhunderts zu denen der Mitte des 19. Jahrhunderts. (2) Die Bedeutung der Geld- und Kreditunternehmen war in Königsberg gemessen an der Zahl der Beschäftigten je Unternehmen gering. Wirtschaftsbürger im engeren Sinne waren hier nicht zu finden, was sich auch darin zeigte, daß von diesen Unternehmen keine wirtschaftlichen Entwicklungsimpulse ausgingen, wie sie für Köln z.B. für die Entwicklung des rheinisch-westfälischen Eisenbahnsystems oder für die Entwicklung der Montanindustrie im Ruhrgebiet seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts nachzuweisen sind.

b. Aus dem Handwerk stammende Wirtschaftsbürger Das Handwerk ist in vielen Industrieregionen ein wichtiger Ansatzpunkt für die Entstehung von industriellen Unternehmungen gewesen. 13

Sombart, Werner: Die deutsche Volkswirtschaft im neunzehnten Jahrhundert, 2. Aufl., Berlin 1909, S. 518.

Wirtsdiaftsbürgertum in einer Agrarregiaa

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Auch für Ostpreußen lassen sich einige Beispiele nennen. Hierbei sind verschiedene Entwicklungslinien zu unterscheiden: (1) Es gab aus der vorindustriellen Zeit Handwerkerzusammenschlüsse, die für dai überregionalen Markt produzierten und auch noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestanden, und zwar bei den Tuchmachern. Diese bewarben sich z.B. in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts um die Belieferung des Militärs. Sie konnten sich aber nicht zu industriellen Produktionsstätten entwickeln.14 (2) Eine ganze Reihe von Handwerkern entwickelte dai eigenen Betrieb mit handwerklicher Produktion, d.h. der Betriebsinhaber wurde zum Wirtschaftsbürger im engeren Sinne. Einige Weber der Woll- und Flachsgewerbe versuchten ab den vierziger Jahren zur maschinellen, d.h. industriellen Produktion überzugehen. Es gab eine ganze Reihe von Beispielen auch aus relativ unbekannten Orten, z.B. aus Moritzkehnen und aus Vogelsang, beide nahe Tilsit, auch aus Pr.-Eylau, aus Memel, aus Darkehmen usw.15 Diese wenigen Ansätze einer fabrikmäßigen Produktion kamen nur zum Teil zu einem über 10 bis 20 Beschäftigte hinausgehenden Erfolg. Auch diese sind dann in dai sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts in erhebliche Schwierigkeitai gekommen. Im Grunde scheiterte man daran, daß in dai sechziger Jahren die Versorgung mit Wolle aus Übersee nicht mehr die bisherige Nähe zur Wollproduktion in Ostpreußen als Standort begünstigte. Zum anderai aber auch daran, daß man es nicht verstand, seine Absatzbemühungai über Ostpreußen hinaus erfolgreich zu gestalten.16 Ein anderer aus dem Handwerk entstehender Wirtschaftszweig war die Landmaschinaifabrikation. Schmiedai, d.h. Dorfschmieden erweiterten das bisherige Leistungsangebot. Sie begannen auch einfache landwirtschaftliche Geräte wie Pflüge, Eggen und Walzen in größerer Zahl zu produzieren. Daraus entstanden aber nur wenige Fabriken mit bis zu 20 oder 30, nur ausnahmsweise bis zu 60 Beschäftigten, wie z.B. bei der Firma Schmidt in Osterode, die zudem auch noch eine stark saisonale Schwankung aufzuweisai hatten.17 Das einzige Bei14 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz XX.HA, StA Königsberg, Rep. 2, Tit. 7, Nr. 7, S. 112. 13 StA Königsberg (wie Anm. 14), Rep. 2, Tit. 7, Nr. 10, Bd. 1, passim. 16 StA Königsberg (wie Anm. 14), Rep. 2, Tit. 7, Nr. 10, Bd. 2, passim. 17 StA Königsberg (wie Anm. 14), Rep. 2, Tit. 7, Nr. 8, Bd. 4; Tit. 7, Nr. 16; Riedel, Gerhard: Die Ostdeutsche Maschinenfabrik in Heiligenbeil, Leer 1985, passim.

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spiel mit einer Entwicklung zu einem größeren Betrieb mit bald über 100 Arbeitskräften war die Landmaschinenfabrik von Rudolf Wermke in Heiligenbeil. Auch in anderen Städten, vor allem in Königsberg kam es zur Gründung von metallverarbeitenden Fabriken, meistens als „Maschinenfabrik und Eisengießerei" firmierend, von denen einige aus Handwerksbetrieben hervorgegangen sind. Ihre Zahl war aber nicht so groß, daß es zu einer bemerkenswerten Beeinflussung der Wirtschaftsstruktur Ostpreußens kam. Die Beschäftigtenzahl je Betrieb lag meistens lange Zeit bei 10 bis 30 Personen.18 Im holzverarbeitenden Gewerbe blieb die Entwicklung zur holzverarbeitenden Industrie ebenfalls gering, obgleich die Versorgung mit Holz aus Rußland und Litauen kostengünstig war. Die Holzsägebetriebe im Memelmündungsgebiet sind hier für eine erste Bearbeitung des Holzes zu nennen. Bretter und Balken, d.h. die Umwandlung der Holzstämme in Bauholz stand dabei im Vordergrund19. Eine Weiterverarbeitung gab es kaum. Sofern sich eine solche entwikkelte, stand die Entfaltung aus Handwerksbetrieben im Vordergrund, wie z.B. im Falle des Königsberger Tischlers W. Engelbrecht, der 1866 eine Tischlerei eröffnet hatte und ab 1891 als Möbelfabrikant firmierte.20 Unter systematisierenden Gesichtspunkten kann man für das Handwerk als Quelle aktiver Wirtschaftsbürger ansehen: (1) Handwerke, die unterschiedlich von der Industrialisierung betroffen warm: (a) Handwerke, die von der industriellen Produktion bedrängt und schließlich verdrängt wurden, aus deren Mitte aber eben wegen der Fachkenntnisse die neuen Unternehmer kommen konnten; z.B. konnten Tuchmacher zu Tuchfabrikanten oder Bierbrauer zu Brauereibesitzern werden. (b) Handwerke, deren Aufgaben nicht oder nur in begrenzter Weise von der Industrie übernommen werden konnten, z.B. Fleischer und Bäcker. Fleischfabriken und Brotfabriken entstanden in Ostpreußen kaum, lediglich in Königsberg. (c) Handwerke, die im Zusammenhang mit der Industrialisierung neu entstanden oder die bereits vorhanden waren, aber neue Aufgabenfelder erhielten, z.B. als Zuarbeiter für die Industrie oder für die 18

StA Königsberg (wie Anm. 14), Rep. 2, Tit. 7, Nr. 10, Bd. 1 und 2, passim. StA Königsberg (wie Anm. 14), Rep. 2, Tit. 40, Nr. 2, Bd. 3. 20 Gause, Königsberg (wie Anm. 12), S. 583. 19

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Landwirtschaft, z.B. der Hufschmied, der zugleich Landmaschinen reparierte, aber dabei meistens Schmied blieb, d.h. keine Landmaschinen produzierte. (2) Unabhängig von diesai allgemeinen Entwicklungen konnten besonders aktiv veranlagte Handwerker auch aufgrund ihrer individuellen Einstellung zu Fabrikanten werden. Allgemein läßt sich feststellen, daß etwa bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts eine ganze Reihe von Handwerkern den Weg zum Fabrikanten einschlug, teilweise mit, teilweise ohne Erfolg. Danach war es offensichtlich immer schwieriger, war der Unterschied zwischen handwerklicher und industrieller Produktionstechnik fiir einen solchen Weg häufig zu groß.

c. Zugewanderte Wirtschaftsbürger Die Zahl der im 19. Jahrhundert nach Ostpreußen zugewanderten Unternehmer und damit Wirtschaftsbürger war nicht groß. Es handelte sich um Ausnahmefalle. Dies ist zu berücksichtigen, wenn im folgenden einige sehr unterschiedliche Beispiele angeführt werden. An erster Stelle wird Wilhelm Oechelhäuser genannt, der aus einer Fabrikantenfamilie des Siegerlandes stammte und später als Politiker mit sozial-liberaler Ausrichtung, aber auch als Manager und als Verbandsfunktionär der Wirtschaft einen hohen Bekanntheitsgrad erlangte. Der 1820 in Siegen geborene Oechelhäuser kam 1843, vielleicht auch schon 1841 nach Ostpreußen. Es war die Zeit des Wandels in der Papierfabrikation vom Büttenpapier zum Maschinenpapier. Aus der siegerländischen Papiermaschinenfabrik der Oechelhäuser war 1841 eine solche Maschine für 3.500 Taler an die Papierfabrik Hempel/Wadang bei Allenstein geliefert worden.21 Wilhelm Oechelhäuser kam nach Ostpreußen, um für seine väterliche Firma hier u.a. den Absatz von Papiermaschinen zu organisieren, allerdings ohne großen Erfolg. An zweiter Stelle sei der aus Schottland nach Königsberg zugewanderte Unternehmer D. Robertson genannt. Er gründete 1840 eine Ketten- und Schiffsanker-Schmiede, die ebenfalls über einen handwerklichen Umfang schnell hinausging. Robertson hatte Schwierigkeiten bei der geplanten Erweiterung der Fabrik in den vierziger und in den fiinf21

StA Königsberg (wie Anm. 14), Rep. 2, Tit. 7, Nr. 10, Bd. 1, S. 88ffi

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ziger Jahren. Er versuchte, sich über die Gewährung staatlicher Mittel zu finanzieren.22 Immerhin bestand die Firma noch in dai neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Wie wichtig die Zuwanderung und wie vielfältig die Herkunft der Personen sein konnten, zeigt das dritte Beispiel, zeigt die Geschichte der Union-Gießerei. Sie ist zugleich ein Beispiel für die Bildung einer aufgefächerten Dynastie: Am Anfang stand der Engländer Charles Hughes aus Birmingham. Er hatte 1826 eine Eisengießerei in Königsberg eingerichtet, die bald mehr als 25 Personen beschäftigte. Werkführer war bei ihm der Former Karl Friedrich Martin, bis dahin in der königlichen Eisengießerei in Berlin beschäftigt. Ab 1828 kamen drei junge Königsberger Kaufleute als Teilhaber in die Firma.23 Die Union-Gießerei wurde zwar 1881 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Die Anteile blieben aber in den Händen der Erben der drei genannten Teilhaber, so daß man (bis 1945) von einem Familienuntemehmen sprechen kann. Das Einheiraten war offensichtlich im 19. Jahrhundert wie schon in der vorindustriellen Zeit ein wichtiger Ansatzpunkt für die Anwerbung und schließlich Anbindung kaufmännischen und technischen Sachverstandes. Dies zeigen auch andere Beispiele, so z.B. die Zuwanderung des Kaufmanns Julius Dumcke im Jahre 1849 nach Königsberg. Sein Vater hatte in Pollnow in Pommern eine Schmiede betrieben und diese um die Reparatur landwirtschaftlicher Maschinen erweitert. Der Sohn Julius Dumcke ging von Pollnow nach Danzig, um hier im Betrieb des Likörfabrikanten J.S. Keiler zum Kaufmann ausgebildet zu werden. Dumcke heiratete die Tochter des Keiler und gründete eine eigene Likörfabrik in Königsberg, wo es immerhin schon etwa 40 solcher Fabriken gab.24 Ein zweites Beispiel zeigt, daß durchaus eine Häufung vergleichbarer Lebenswege zu verzeichnen war, daß aber die Herkunft der Unternehmer sehr unterschiedlich war. 1852 war nämlich ein anderer Likörfabrikant nach Königsberg gekommen, und zwar der Sohn eines Lehrers aus Pommern, Wilhelm Ziemer. Ziemer hatte seine Ausbildung in einer Spritfabrik in Kolberg erhalten. Die beiden Firmen Ziemer und Dumcke schlossen sich 1904 übrigens zu dai Königsberger Spritwer-

22

StA Königsberg (wie Anm. 14), Rep. 2, Tit. 7, Nr. 10, Bd. 2, S. 34. Gause, Königsberg (wie Anm. 12), S. 43 8f. 24 Gause, Königsberg (wie Anm. 12), S. 441. 23

Wirtschaftsbiirgertum in einer Agrarregjon

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ken Dumcke, Ziemer & Co GmbH zusammen. Das Unternehmen firmierte später als Ostdeutsche Spritwerke.23 Insgesamt läßt sich feststellen, daß die zugewanderten Unternehmer in Ostpreußen im 19. Jahrhundert eine nicht unwichtige Rolle gespielt haben. Auch die Mitwirkung jüdischer Einwohner an der Entwicklung der ostpreußischen Wirtschaft im 19. Jahrhundert war erheblich und daher auch ihr Anteil an dem entstehenden Wirtschaftsbürgertum. Für Königsberg werden solche Initiativen jüdischer Zuwanderer aus fast der gesamten Zeit des 19. Jahrhunderts genannt. Der Anteil dieser Unternehmer war sicher überproportional im Vergleich zum Bevölkerungsanteil. Trotzdem war aber für die jüdischen Zuwanderer meistens die Fortsetzung der wirtschaftlichen Aktivitäten in Berlin oder anderen Orten Mittel- und Westdeutschlands erfolgversprechender, so daß auch viele wieder abwanderten.26 Die Konfession scheint bei den übrigen Unternehmern keine entscheidende Rolle gespielt zu haben. Daß die Zahl der Protestanten überwog, lag an deren hohem Anteil an der Gesamtbevölkerung. d. Aus sonstigen Schichten und beruflichen Gruppen kommende Wirtschaftsbürger des 19. Jahrhunderts Die Wirtschaftsbürger konnten aber auch anderer als der genannten Herkunft sein. Aus der Vielfalt der möglichen Herkünfte sollen hier zwei besonders hervorgehoben werden: (1) Über die praktische Erlernung eines Handwerks hinaus konnte eine mehr oder weniger umfassende Ausbildung an einer Bildungseinrichtung erfolgt sein. Hierfür kamen die auf Initiative des Organisators des technischen Bildungsbereiches, des damaligen Geheimen Oberfinanzrates Peter Wilhelm Beuth, in Preußen ab 1821 gegründeten (Provinzial-) Gewerbeschulen, meistens eine je Regierungsbezirk, in Betracht. Drei Beispiele mögen zeigen, wie solche beruflichen Wege unter Berücksichtigung der möglichen Entwicklung zum selbständigen Unternehmer aussahen:

25 26

Gause, Königsberg (wie Anm. 12), S. 583. Gause, Königsberg (wie Anm. 12), S. 199, 434f. und 577ff.

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Der aus dem zu Westpreußen gehörenden Elbing stammende Ferdinand Schichau war als Sohn eines nach Elbing zugewanderten Gelbgießermeisters geboren (1814). Nach Abschluß der Schlosserlehre in seiner Geburtsstadt besuchte er das Gewerbe-Institut in Berlin und war danach einige Zeit in Großbritannien tätig. 1837 eröffnete er in Elbing eine „Maschinenbauanstalt" mit zunächst acht Arbeitern. In der Elbinger Zeitung wurde eine Gründungsanzeige aufgegeben, die zugleich als die erste Kundenwerbung der Firma anzusehen ist. Das Produktionsprogramm wurde dort folgendermaßen umschrieben: „Dampfmaschinen, sowohl Wattsche Maschinen als Kondensationsmaschinen mit Expansion und Hochdruckmaschinen, eiserne Wasserräder jeder Art, Pferdegöpel, hydraulische Pressen, Walzwerke, Apparate zum Abdampfen des Zuckers in luftverdünnten Räumen usw. Auch ... ganze Anlagen als Oelmühlen, Sägemühlen, RunkelrübenZuckerfabriken."27 Diese Angebotspalette bei einer Beschäftigtenzahl von zunächst nur acht Arbeitern zeigt einen Wirtschaftsbürger am Anfang eines über etwa sechs Jahrzehnte gehenden Aufstiegs. Schichau hat sein Unternehmen zu einem der großen Unternehmen dieses Raumes entwickelt.2' Der Maschinenbaumeister Benjamin Leopold Steinfurt (1804 bis 1864) war Sohn eines aus Bremen nach Königsberg kommenden Klempnermeisters. Nach Absolvierung einer Lehre in Königsberg und dem Besuch des Gewerbe-Instituts in Berlin richtete er 1830 in Königsberg eine Fabrik für Feuerwehrspritzen und für Dampfmaschinen ein. Aus diesem Unternehmen wurde nach und nach eines der wenigen großen Königsberger Unternehmen. In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurden zwischen 200 und 250 und kurz vor dem Ersten Weltkrieg mehr als 1.000 Personen beschäftigt.29 Der ebenfalls aus Königsberg stammende Mühlenbaumeister Gustav Hein hatte sich nach dem Besuch des Berliner Gewerbe-Instituts 1844 wieder nach Königsberg begeben und zunächst eine Planungsund Beratungstätigkeit aufgenommen. Es zeigte sich aber bald, daß die potentiellen Auftraggeber nicht mit zwei Personen zu tun haben wollten, daher begann Hein 1847 auch die Produktion von „Mahl-, 27

Vgl. Krüger, E.: Die Schichau-Werke, Elbing 1927. Rattay, Helmut: Die Entwicklung der Danziger Werft industrie mit besonderer Berücksichtigung der Nachkriegszeit, Diss. Köln 1935, gedruckt Würzburg 1935, S. 12f. 29 StA Königsberg (wie Anm. 14), Rep. 2, Tit. 7, Nr. 10, Bd. 1 und 2; Tit. 7, Nr. 8, Bd. 3. 28

Wiitsdiaftsbürgertum in einer Agrarregicn

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Öl- und Schneidemühlen". Dem Unternehmen war aber keine besondere Blüte beschieden, denn die Industrialisierung ging in eine andere Richtung, sofern sie in Ostpreußen überhaupt Chancen hatte. Immerhin hatte Hein aber nach einem Bericht des Regierungspräsidenten von Königsberg vom Sommer 1847 für 5.600 Taler in Königsberg ein Grundstück erworben und weitere 6.000 bis 7.000 Taler in die Einrichtung der Maschinenfabrik gesteckt.30 (2) Ein Unternehmer besonderer Ausprägung war Bartel Heinrich Straußberg, 1823 im ostpreußischen Neidenburg geboren (1884 gestorben). Nach 20 Jahren umfassendem Aufenthalt in Großbritannien (1835 bis 1855) nannte er sich Bethel Henry Strousberg. Seine unternehmerische Tätigkeit in Deutschland und damit auch in Ostpreußen begann er als Interessenvertreter britischen Kapitals beim Bau einer etwas mehr als 50 km reichenden Strecke von Insterburg nach Tilsit, als Stichstrecke von der Linie Königsberg-Insterburg-Eydtkuhnen (1865 in Betrieb genommen). Diese Tätigkeit wurde bald ergänzt durch andere Bahnstrecken. Von der Mitte der sechziger bis in die Mitte der siebziger Jahre war dann Strousberg am Bau von etwa 3.000 km Eisenbahnstrecken in Deutschland und Teilen des östlichen Europa beteiligt. 1875 mußte er Konkurs anmelden, weil seine rumänischen Unternehmungen notleidend wurden. Die dadurch bedingte Zahlungsunfähigkeit griff auch auf seine wirtschaftlichen Interessai in Deutschland über.31 3. Gemeinsamkeiten und Besonderheiten innerhalb der Gruppe der Wirtschaftsbürger a. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die Entwicklung dieser Gruppe Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die Entstehung einer Wirtschaftsbürgergruppe im engeren Sinne waren in Ostpreußen vor allem durch folgendes bestimmt: (1) Inländische Absatzmärkte entfalteten sich wenig, so daß ein Massenabsatz weder von Konsumgütern nodi von Investitionsgütern in Betracht kam. Die Geldeinkommen der breiten Masse, vor allem der 30

StA Königsberg (wie Anm. 14), Rep. 2, Tit. 7, Nr. 10, Bd. 1, S. 308 bis 329. Bufe, Siegfried: Eisenbahnen in West- und Ostpreußen, Egglham 1986, S. 22; Strousberg, Bethel Henry: Dr. Strousberg und sein Wirkai, Berlin 1876, S. 252ff. 31

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mehr als 400.000 als Lohnabhängige in der Landwirtschaft Arbeitenden (mehr als 40 v.H. aller Erwerbstätigen)32 und aufgrund der starken Naturalversorgung kaum in die Marktbeziehungen eingebundenen Personen, beschränkten die Nachfrage der privaten Haushalte erheblich. Die Anfange des Eisenbahnbaus und der Industrialisierung wurden mit Investitionsgütern aus den schon weiter fortgeschritteneren Gebieten mit mehr Erfahrungen auf diesem Gebiet bedient. Selbst so zukunftsträchtige Bereiche wie z.B. die Zuckerfabriken, deren Ausstattung der Maschinenbau Magdeburgs zeitweise bis zu zwei Dritteln seines Absatzes zu verdanken hatte, kamen in Ostpreußen nicht in Gang. Der inländische Markt konnte mithin die Entwicklung einer Industrie nicht tragen. (2) Märkte außerhalb der Region wurden nicht oder kaum entwickelt. Hier zeigten sich vor allem die unternehmen sehen Grenzen der Königsberger Kaufleute, die weitgehend auf die traditionellen Ausfuhrgüter und Transitgüter ausgerichtet blieben. Daß dies geändert werden konnte, zeigte die Entwicklung bei Schichau. (3) Die Kenntnisse von neuen Produktionstechniken waren verbreitet oder mindestens zugänglich. Der Besuch des Gewerbe-Instituts in Berlin und Reisen nach Großbritannien brachten diese Kenntnisse auf den neuesten Stand. Es fehlte aber an einer genügenden Ausdehnung dieser Gruppe, um eigenen neuen Entwicklungen in beachtlicher Zahl eine Entstehungschance geben zu können. (4) Einen Mangel an Facharbeitskräften gab es nicht. Für eine schnelle Expansion hätte ein solcher Mangel zwar bestdien können. Für eine schrittweise Erweiterung der industriellen Aktivitäten reichte der Nachwuchs aus den vorhandenen Handwerks zweigen. Im übrigen holte man sich Fachkräfte für übergeordnete Bereiche auch aus anderen Gebieten.33 Daneben war aber eine ganze Reihe von anzulernenden Arbeitskräften erforderlich. Diese konnte man aus der Landwirtschaft, mindestens aus deren Bevölkerungsüberschuß bei hohen Geburtenraten anwerben. Teilweise ging man davon aus, daß gerade die angelernten Arbeitskräfte für viele Aufgaben im industriellen Bereich völlig ausreichten34, 32

Berufszahlung von 1907 (vgl. Stat. Jahrbuch des Deutschen Reiches, Bd. 204). Gause, Königsberg (wie Anm. 12),S. 437. 34 Richter, Friedrich: Preußische Wirtschaftspolitik in den Ostprovinzen. Der Industrialisierungsversuch des Oberpräsidenten v. Goßler in Danzig (= Schriften der Albertus-Universität, Geisteswissenschaftliche Reihe, Bd. 15), Königsberg und Berlin 1938, S. 64. 33

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teilweise wurde aber auch von einzelnen Unternehmen über Facharbeitermangel geldagt, bis hin zu der Argumentation, daß die Ausbildung als Handwerker nicht für eine Tätigkeit im industriellen Bereich ausreiche33. Wichtig war aber auch die Lohnhöhe, denn Fachkräfte gingen gern in den Westen, weil dort die Löhne teilweise um 50 v.H. über denen in Ostpreußen lagen, wobei dann offensichtlich aber nicht berücksichtigt wurde, daß die Lebenshaltungskosten wegen der niedrigeren Agrarpreise in Ostpreußen ebenfalls erheblich niedriger lagen36, so daß der Unterschied in etwa ausgeglichen wurde. (5) Unternehmerisch eingestellte Personen gab es in Ostpreußen eine große Zahl. Sie hatten aber offensichtlich nur ausnahmsweise die für die Entwicklung einer Produktion und vor allem des Absatzes unter den gegebenen schwierigen Bedingungen erforderlichen Fähigkeiten. Möglicherweise spielte die geringe Leistungsfähigkeit des Kapitalmarktes eine wichtige Rolle. (6) Fast alle Anträge auf Unterstützung durch dai Staat, die in die Verwaltungsakten gekommen sind, haben zum Inhalt, daß es an dem erforderlichen Kredit fehlt.37 Man beantragt die Überlassung einer Maschine, weil man sie mangels Geld nicht anschaffen kann oder man beantragt Geld, um Investitionsgüter erwerben zu können oder um das umlaufende Kapital - damals Betriebskapital genannt - beschaffen zu können. Darin kommt eine Kapitalknappheit bei den potentiellen Unternehmern zum Ausdruck, die aber keineswegs Ausdruck einer allgemeinen Kapitalknappheit war oder sein mußte. Immerhin war es möglich, daß Kapital mehr Sicherheit suchte, als die potentiellen Unternehmer bieten konnten. Im Grunde fehlte ein breit über das Land verbreitetes Bankwesen. Lokale Banken kennen die Kundschaft und können eher die Risiken von Personalkrediten einschätzen. Sparkassen und Genossenschaftsbanken wurden in Ostpreußen erst nach und nach und keineswegs flächendeckend bis zum Jahre 1914 gegründet.38 (7) Die staatliche Wirtschaftspolitik war hinsichtlich des gewerblichen Sektors, einschließlich des Königsberger Großhandels bis zum Anfang 35

Riedel, Ostdeutsche Maschinenfabrik (wie Anm. 17), S. 22. Jacobs, Alfred und Richter, Hans: Die Großhandelspreise in Deutschland von 1792 bis 1934 (= Sonderhefte des Instituts für Konjunkturforschung, Nr. 37), Berlin 1935, S. 53. 37 StA Königsberg (wie Anm. 14), Rep. 2, Tit. 7, Nr. 7 bis 10. 38 Werner, F. : Der Handel und die Kreditbanken in Ostpreußen (= Grundlagen des Wirtschaftslebens von Ostpreußen, Teil 4), Jena 1917, S. 119ff. 36

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des 19. Jarhunderts durch Erhaltung der Zünfte und die Erteilung und Absicherung von Privilegien gekennzeichnet. Erst mit der Einführung der Gewerbefreiheit ab 1807 (Oktober-Edikt) und 1810 (Steuer-Edikt) verschwanden die Beschränkungen für über die handwerkliche Produktion hinaus orientierte Unternehmer. Der Staat versuchte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, durch Bereitstellung von Gebäuden und teilweise auch von Maschinen - allerdings in begrenztem Maße - die gewerbliche Wirtschaft in Ostpreußen wie in seinen anderen Provinzen in Gang zu setzen oder zu fördern.39 Diese Maßnahmen waren aber zu gering, um wirklich die Industrialisierung in einer Agrarregion wie Ostpreußen in Gang zu setzen. In der Zeit von den sechziger bis in die achtziger Jahre lehnte der Staat jegliche, die Wirtschaft fördernden Maßnahmen ab. Erst in den neunziger Jahren änderte sich diese Haltung unter dem Einfluß des Oberpräsidenten von Danzig (seit 1891), Gustav von Goßler, der für die drei Provinzen Ostpreußen, Westpreußen und Posen eine Förderung der Industrialisierungsbemühungen durch den Staat betrieb.40 Der Erfolg dieser Politik und damit der Einfluß auf die Entwicklung des Wirtschaftsbürgertums in Ostpreußen darf aber nicht sehr hoch eingeschätzt werden, wie z.B. ein Vergleich der Wirtschaftsstruktur in den Jahren 1882, 1895 und 1907 zeigt.41 (8) Es erhebt sich die Frage, in welchem Maße die Stärkung des Wirtschaftsbürgertums durch die Interessenvertretungen der Wirtschaft betrieben wurde, etwa durch eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Entwicklung der bereits vorhandenen Unternehmungen. Die wichtigste Interessenvertretung der Wirtschaft außerhalb der Landwirtschaft waren die kaufmännischen Korporationen, die aus dem 18. Jahrhundert herüber bestanden und im 19. Jahrhundert die Aufgaben wahrnahmen, die in anderen Teilen Deutschlands von den neu errichteten Handelskammern nach und nach übernommen wurden. Diese Korporationen bestanden allerdings nur in dai wichtigsten Handelsorten, nämlich zunächst nur in Königsberg, in Memel und in Tilsit.42 Sie haben sich aber keineswegs der Interessen der ersten Indu39

StA Königsberg (wie Anm. 14), Rep. 2, Tit. 7, Nr. 7. Richter, Preußische Wirtschaftspolitik (wie Anm. 34) , S. 23fiF. und passim. 41 Vgl. die entsprechenden Veröffentlichungen des Statistischen Reichsamtes. 42 Henning, Friedrich-Wilhelm: Zur Geschichte der wirtschaftlichen Selbstverwaltung. Kammern zwischen Staat und Wirtschaft, in: Wirtschaftsarchive und Kammern. Aspekte wirtschaftlicher Selbstverwaltung gestern und heute (= Schriften zur Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsgeschichte, Bd. 34), Köln 1982, S. 38. 40

Wirtschaftsbürgeitum in einer Agrarregian

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strieunternehmungen angenommen, sondern sidi bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts fast ausschließlich dai Problemen des Handels gewidmet und hier vor allem desi Problemen des Transithandels. Eine andere Entwicklungslinie der Interessenvertretungen kommt aus der Gründung des Vereins zur Beförderung des Gewerbefleißes in Preußen im Jahre 1821 unter der Obhut des schon genannten Peter Wilhelm Beuth in Berlin. Dieser Gründung folgten weitere Gründungen von entsprechenden Vereinen in den einzelne! Provinzen. Bei dai Interes senVertretungen sind im Grunde zwei Ausrichtungen zu unterscheiden: (a) Die Förderung der Rahmenbedingungen sollte allen zugute kommen, und zwar in erster Linie den schon vorhandenen Unternehmungen. (b) Einzelmaßnahmen konnten einzelne Personal fördern und taten dies auch, wie im Falle Schichau, zum Wohle der Allgemeinheit. Nur bei dieser zweiten Ausrichtung kann man mit einiger Sicherheit den Erfolg der Arbeit der Vereinigung erkennen.

b. Bildungs- und Ausbildungschancen und deren Nutzung Man kann davon ausgehen, daß Unternehmer vor allem dann besonders erfolgreich waren, warn ihre natürlichai, ihre angeborenen Fähigkeiten mit einer angemessenen Ausbildung kombiniert wurden. Diese Ausbildung konnte sich aus verschiedenen Teilen zusammensetzen: Zunächst war die Allgemeinbildung nicht unwesentlich. Schreiben, Rechnen und andere Fächer des allgemeinbildendai Schulwesens konnten in den verschiedaien Formen des Schulsystems erlernt werdai. Man kann davon ausgehai, daß in Ostpreußen die Voraussetzungen für eine solche Allgemeinbildung recht gut warai, denn immerhin gehörte dieses Gebiet zu den Regionen, in denen recht früh die allgemeine Schulpflicht eingeführt worden war, beginnend mit dem SchulEdikt vom 6. Juli 1717.43 Nach und nach verbesserte sich das Niveau des Unterrichts, insbesondere als mit dem 19. Jahrhundert sich die Ausbildung der Lehrkräfte verbesserte und die tägliche Schulzeit ausgedehnt wurde. 43

Henning, Friedrich-Wilhelm: Herrschaft und Bauernuntertiinigkeit. Beiträge zur Geschichte der Herrschaftsverhältnisse in den ländlichen Bereichen Ostpreußens und des Fürstentums Paderborn vor 1800 (= Beiheft 25 zum Jahrbuch der Albertus-Universität Königsberg/Pr.), Würzburg 1964, S. 78.

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Wichtig waren aber auch die allgemeinbildenden weiterführenden Schulen. Dabei kam es nicht auf die Erreichung einer Hochschulreife an, sondern auf eine Ausbildung, die in etwa zum Einjährigen führte. Lateinschulen wurden hier im 19. Jahrhundert nach und nach durch Realschulen ergänzt. Dies öffnete formell dai Weg zu den weiterbildenden berufsfeldbezogenen Ausbildungsstätten über die Lehre in einem Handwerk hinaus. Im wesentlichen waren dies vor allem die praktische Ausbildung in einem Handwerk oder als Kaufmann, ferner die schulische Ausbildung in den seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bestehenden Fortbildungsschulen als Sonntags- oder Abendschulen,44 meistens neben einer handwerklichen Ausbildung, so daß man diese Einrichtungen als die Vorläufer der Berufsschulen bezeichnen kann. Ihr Besuch setzte nicht den Besuch einer weiterführenden Schule voraus. Seit dem Beginn der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts gab es dann die Gewerbeschulen, die neben den Grundfachern, vor allem Mathematik und Zeichnen, auch fachspezifische Ausbildungen boten. Als Krönung dieser schulischen Ausbildung kam dann der Besuch des Gewerbe-Instituts in Berlin in Betracht. Nach dem Abschluß der Ausbildung am Gewerbe-Institut erfolgte meistens noch eine praktische Ausbildung in einer deutschen oder britischen Unternehmung, mindestens wurden Reisen nach Großbritannien oder seltener auch nach Belgien und Frankreich vorgenommen. c. Soziale Beziehungen, einschließlich Heiratsusancen Sowohl die sozialen Beziehungen innerhalb der engeren oder der weiteren Gruppe der Wirtschaftsbürger allgemein wie auch speziell die Heiratsusancen zeigen eine erhebliche Differenzierung der Gruppe. Die sozialen Beziehungen waren im Grunde schichtenspezifisch, allerdings mit erheblichen Überschneidungen, zumal da am Anfang des unternehmerischen Weges der einzelnen Familie noch eine erhebliche Mobilitätsbereitschaft und soziale Offenheit bestand. Dies zeigte sich insbesondere bei den Heiraten. Dabei war sicher von Bedeutung, daß Heiraten von den Eltern vorbereitet wurden. Hierbei spielten eine Rolle: 44

StA Königsberg (wie Anm. 14), Rep. 2, Nr. 2097, Bd. 1 bis 4, für die Zeit von 1849 bis 1920, d.h. bis zu dem Zeitpunkt mit dem diese Schulen als Berufsschulen bezeichnet wurden.

Wirtsdiaftsbürgertum in einer Agrarregjon

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(a) unternehmerische Überlegungen, z.B. junge Leute als Schwiegersöhne festzuhalten (zugleich mit dem Nebeneffekt, daß keine Konkurrenz gefördert wurde). (b) Status-Überlegungen, z.B. Einheirat der Töchter in den Großgrundbesitz, insbesondere in den Adel. Geld als Lockmittel für einen meistens sehr hoch verschuldeten Adligen. (c) auch die Verheiratung der Töchter an Offiziere und höhere Beamte war meistens Ausdruck von Status-Überlegungen. Für den Offizier und den höheren Beamten war häufig nur die Heirat mit einer Tochter aus vermögender Familie möglich, da die Erteilung der Heiratserlaubnis vom Vorhandensein eines bestimmten Vermögens oder Einkommens abhängig war. Ein Teil der sozialen Beziehungen fand außerdem in Vereinigungen verschiedener Art statt.45

d. Die politische Einstellung Die politische Einstellung des Wirtschaftsbürgertums im engeren und im weiteren Sinne war einmal geprägt durch Treue zur Monarchie, aber zunächst bis in die vierziger Jahre doch mit erheblichen Wünschen nach Wandlung der Staats- und Gesellschaftsverfassung. Dies zeigte sich in den Verwaltungsakten bei der politischen Beurteilung von Antragsteilem für eine wirtschaftliche Förderung. So wurde bei einzelnen Personen bei der Beantragung von Darlehen aus der Provinzialhilfskasse darauf hingewiesen, daß der Antragsteller „demokratisch" gesonnen sei und damit politisch unzuverlässig sei (z.B. bei Robertson). Wörtlich hieß es in der Begründung der Ablehnung eines Unterstützungsantrages von Robertson aus dem Jahre 1850: „Obgleich derselbe als eingewanderter Schottländer der Preußischen Regierung durch die besagte bedeutende Berücksichtigung" Robertson hatte Anfang der vierziger Jahre bereits eine Unterstützung erhalten - „mit besonderer Anhänglichkeit und Treue zugetan sein sollte, hat er solche Gesinnungen in den politischen Wirren seit dem Jahre 1848 doch keineswegs an den Tag gelegt. Er gilt vielmehr für einen exaltierten Demokraten, der unter anderem auch von dem Verein zur Unterstützung bedrängter Volksmänner zum Vertrauensmann gewählt ist. Schwerlich möchte sich der Robertson dem Gouverne45

Gause, Königsberg (wie Anm. 12), S. 223.

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ment auch bei wiederholten Berücksichtigungen und Gnadenbewilligungen treu zuwenden." Robertson wehrte sich in einer weiteren Eingabe zunächst damit, daß er beabsichtige seine Arbeiterzahl zu verdoppeln, so daß „viele brotlose Arbeiter Beschäftigung und Erwerb finden" werden. „Schon diese Umstände dürften mein Gesuch unterstützen, woran ich umso weniger zweifele, als ich die Segnungen einer geregelten Staats-Verfassung und eines befestigten Königthrons jetzt näher kennen gelernt habe und mich glücklich schätze, einem Staate als Untertan einverleibt zu sein, wo ein so weiser als gerechter Landesvater das Zepter führet ..,"46 Robertson hatte 1840, sieben Jahre nach seiner Übersiedlung von Dundee nach Königsberg die preußische Staatsbürgerschaft erhalten. Robertson erhielt übrigens auch danach keinen positiven Bescheid. Auch ein weiteres Gesuch aus dem Jahre 1851 wurde abgelehnt, da der Polizeipräsident geschrieben hatte, „Bittsteller hat bei der letzten Gemeindewahl mit den Demokraten gestimmt".47 Daß diese Überprüfung der politischen Gesinnung kein Einzelfall war, zeigen zwei andere Beispiele: Als der Fabrikant Steckel aus Elbing 1853 einen Antrag stellt, wurde ausdrücklich in dem Verwaltungsbericht aus Elbing hinzugefugt, daß Steckel zur Konservativen Partei gehört; bei einem ähnlichen Antrag von Schichau aus Elbing hieß es, daß der Fabrikant Schichau „so mit seinem Betrieb beschäftigt (ist), daß er nicht zur Gemeinderatswahl gegangen ist".48 Es wurde also genau aufgepaßt, wer welche Kandidaten bei den Wahlen wählte. Im allgemeinen waren die Unternehmer mindestens seit dem Jahre 1848 nicht mehr liberal gesonnen, viele waren es vielleicht auch schon zuvor nicht. Die in den vierziger Jahren beginnende Formierung der Arbeiterschaft und die Ereignisse des Jahres 1848 wurden von den meisten größeren und auch von vielen kleineren und mittleren Unternehmern als Weg zu einer möglichen Bedrohung ihres Eigentums angesehen. 1848 war im Grunde deutlich geworden, daß das Bürgertum im weiteren Sinne und die Arbeiterschaft unterschiedliche Interessen verfolgten. Das Bürgertum war daher zu einem erheblichen Teil gegen die Demokratie, gegen eine gleiche Beteiligung der Arbeiter an den Wahlen auf örtlicher und auf überörtlicher Ebene. Der politische Liberalismus war zunächst unbedeutend, konnte sich aber vor allem in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhun46 47 48

StA Königsberg (wie Anm. 14), Rep. 2, Tit. 7, Nr. 10, Bd. 2, S. 17ff StA Königsberg (wie Anm. 14), Rep. 2, Tit. 7, Nr. 10, Bd. 2, S. 32ff. StA Königsberg (wie Anm. 14), Rep. 2, Tit. 7, Nr. 10, Bd. 2, S. 256.

Wirtsdiaftsbürgertum in einer Agrairegion

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derts in Ostpreußen mit einem besonderen Schwerpunkt in Königsberg entwickeln. Von hier gingen erhebliche Impulse auf dai Liberalismus in anderen Teilen Deutschlands aus, z.B. auch auf dai rheinischen Liberalismus, wie der häufige Bezug der Rheinischen Zeitung während ihres kurzen Bestehens vom Januar 1842 bis zum März 1843 auf dai ostpreußischai Liberalismus zeigt.49 Möglicherweise hat man in Köln - unter der Mitarbeit von Karl Marx - audi versucht, für seine eigenen Ideai Eideshelfer in einem Gebiet Preußais zu finden, das man mit dem Hohenzollern-Haus besonders eng verbunden wußte oder glaubte. Als Folge der politischai Akzentuierung in dai Jahren 1848 und 1849 kam es zu einem Bruch innerhalb des Lagers des Liberalismus. Die beiden bis in die Gegenwart im Liberalismus vorhandaiai Ausrichtungen formierten sich in den folgaiden Jahren. Die einen blieben der bisherigen Linie treu, verstärkten allaifalls noch die Entwicklung zur reinen Lehre. Es war die Entstehung des Linksliberalismus, der sogaiannten Fortschrittler. Für Ostpreußen ist hier insbesondere der Arzt Johann Jacoby zu nennen.50 Ein großer Teil der bisherigen Liberalen formierte sich zu den National-Liberalen. Der Konservativismus nahm diese Liberalen immer mehr in sich auf. Es war eine Abwehrhaltung gegenüber der sozialistischai Bewegung, die erstmals in den Auseinandersetzungen des Jahres 1848 deutlich geworden war. Der für Ostpreußai wichtigste National-Liberale wurde Eduard von Simeon (1810 bis 1899), der an der Spitze der Delegation gestandai hatte, die dem König Friedrich Wilhelm IV. die Kaiserkrone im Namen des Frankfurter Parlamaites angeboten hatte und der 1871 der erste Präsident des Reichstages wurde. Aber auch der Wirtschaftsliberalismus erhielt kurz vor der Mitte des 19. Jahrhunderts neue Impulse. Der damit zusammen zu nennende Name ist John Prince-Smith (1809 bis 1874), der von 1831 bis 1846 in Elbing lebte, und dai nordostdeutschen Wirtschaftsliberalismus beeinflußte. Ostpreußai wurde zu einer Wirtschaftsregion, in der der Freihandel besonders stark vertretai war. Dies wirkte sich bis in die Zeit der Auseinandersetzungen um die Einführung der Schutzzölle 1879 und 1880 aus. In der Debatte um die Einführung von Schutzzöllen stand gerade die Landwirtschaft Ostpreußens auf der Seite des Freihandels, denn 49

An der "Rheinischen Zeitung für Politik, Handel und Gewerbe" waren auch (wirtschafts-)bürgerliche Kreise beteiligt. Gause, Königsberg (wie Anm. 12), S. 508.

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sie war an einem freien Export ihres Getreides interessiert. Auch die Königsberger Kaufleute konnten nur von einem freien Transitverkehr profitieren, der mit dem Bau der Eisenbahn von Prostken (und damit Königsberg) nach Brest-Litowsk, sich erheblich verstärkte. Am Ende des 19. Jahrhunderts war der überwiegende Teil der Bevölkerung, die man zum engeren oder zum weiteren Kreis des Wirtschaftsbürgertums rechnen kann, national-liberal oder sogar konservativ und dies bedeutete politisch konservativ und wirtschaftlich teilweise liberal (Freihandel), teilweise schutzzöllnerisch. In den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg hatten zwar die Fortschrittlichen oder Freisinnigen, d.h. die Linksliberalen in den größeren Städten dai größten Teil der Wähler hinter sich gebracht. Die Konservativen und die National-Liberalen dominierten aber bei dai Wirtschaftsbürgem. 4. Die Bedeutung der Wirtschaftsbürger Ostpreußens für Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur der Region a. Die Bedeutung der Wirtschaftsbürger Ostpreußens Auch wenn die Gruppe der Wirtschaftsbürger im weiteren Sinne und erst recht im engeren Sinne weder die Wirtschaft noch die Gesellschaft Ostpreußens dominierte, d.h. bestimmte, so war sie doch ein wichtiger Faktor, vor allem der Faktor, der für dai Weg in die Zukunft der hier lebenden Menschen die entscheidenden Ergänzungen und Entwicklungen bringen konnte und tragen mußte. Ohne Initiativen aus diesem Teil der Bevölkerung war nicht zu erwarten, daß es zu einem entscheidenden Aufbruch aus der noch landwirtschaftlich geprägten und weitgehend durch große Gutswirtschaften und eine sehr große Zahl von Landarbeitern charakterisierten Wirtschaft kommen konnte. Zwar war Ostpreußen in stärkerem Maße ein Bauernland, als dies meistens dem Außenstehenden deutlich war. Die große Zahl der hauptberuflichen selbständigen Landwirte zeigt dies. Immerhin wurden 1907 „nur" 37,1 v.H. der landwirtschaftlichen Nutzfläche von Betrieben mit 100 ha und mehr bewirtschaftet, aber 56,4 v.H. von Betrieben zwischen 5 und 100 ha. Man kann davon ausgehen, daß die Zahl der in der Landwirtschaft Erwerbstätigen im Laufe des 19. Jahrhunderts allenfalls bis in die sechziger Jahre noch angestiegen ist, danach aber kaum mehr. Der

Wiitschaftsbürgatum in einer Agranegian

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Bevölkerungszuwachs von etwa 1 Mill, auf etwa 2 Mill, in der Zeit von 1800 bis 1914 wurde mithin zum weit überwiegenden Teil aus dai Einkommen des sekundären und des tertiären Sektors abgesichert. Immerhin wuchs der Anteil dieser baden Sektoren an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen von etwa 20 auf fast 50 v.H. oder in absoluten Zahlen ausgedrückt von wenig über 100.000 auf etwa 350.000 Personen, die erwerbswirtschaftlichen Teile - ohne Militär, öffentliche Zivildienste, Gesundheitswesen, häusliche Dienste - von etwa 80.000 bis 90.000 auf 260.000. Ohne die Entwicklung einer Gruppe von Wirtschaftsbürgern, und zwar vor allem auch einer Gruppe mittlerer und kleinerer Wirtschaftsbürger, wäre eine so große Zahl zusätzlicher Arbeitsplätze nicht entstanden. Gerade die zahlreichen Landkreise Ostpreußens ohne Industrie, zeigen dies deutlich. Für die gesellschaftlichen Verhältnisse innerhalb eines Gebietes mit einer gewissen Dynamik im erwerbswirtschaftlichen Teil des sekundären und des tertiären Sektors war es aber auch wichtig, daß diese Entwicklung nicht einseitig durch wenige Groß unternehmen geprägt wurde, sondern durch die Entwicklung einer Vielzahl mittlerer und kleinerer Unternehmungen auf eine breit gestreute Produktion und damit auf eine gesunde Basis gestellt wurde. Die Gesellschaft wurde damit nicht durch die Zweipoligkeit (Kapitalist - Proletarier) ausgerichtet, sondern erhielt eine breite Übergangszone im Bereich der Unternehmer, nämlich in Form der mittleren und kleineren Unternehmer bis hin zum Alleinmeister, und im Bereich der Arbeiter und Angestellten, nach Funktion und Ausbildung, so daß dadurch die gesellschaftliche Mobilität und auch die gesellschaftliche Elastizität gefördert wurden. Die Gesellschaft konnte eher zu einer offenen Gesellschaft werden, wobei das Überschreiten mehrerer sozialer Schichten verständlicherweise unmöglich war oder die Ausnahme blieb. In der Politik, d.h. zunächst im Wahlverhalten und dann in der tatsächlichen Gestaltung vor allem auf der Ebene der Gemeinden und der Gemeindeverbände, kam trotz des bestehenden Drei-Klassen-Wahlrechtes bis 1914 durch die Entstehung und die Ausdehnung der Gruppe der Wirtschaftsbürger ebenfalls ein zusätzliches Element. Dies beruhte vor allem auf der Bedeutung der linksliberalen Richtung, dann aber auch der Arbeiterpartei, seit 1875 als Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands, ab 1891 als Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) bezeichnet.

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Aber auch im kulturellen Bereich gab es wichtige Entwicklungen, die mit dem Wirtschaftsbürgertum in engem Zusammenhang standen. Hier sind verschiedene Beräche zu unterscheiden. (a) Die technisch-materielle Kultur der einzelnen privaten Haushalte wurde bei dai Wirtschaftsbürgern vor allem durch die zunehmend bessere materielle Ausstattung gefördert, durch dai Nachahmungstrieb, das musterkonforme Verhalten aber in eine Richtung gelenkt oder sogar gedrängt, die eine oberflächliche Erneuerung des höfischen Lebens in kleinem Format bewirken sollte. Das Wirtschaftsbürgertum im engeren Sinne baute sich schloßähnliche Villen oder sogar Schlösser, die durchaus mit denen der oberem Einkommensschichten des Adels konkurrieren konnten. Die in der Sozial- und Einkommenspyramide darunter angesiedelten wirtschaftsbürgerlichen Teilgruppen versuchten, entsprechend ihrer geringeren materiellen Absicherung in einfacherem Stil sich ebenfalls musterkonform zu verhalten. Daß dies manchmal mehr am erhofften als am tatsächlichen Einkommen orientiert war, zeigt das Beispiel des Textilfabrikanten M.L. Putzroth in Insterburg. Dieser geriet im Jahre 1857 in Konkurs. Im Nachlaß des Putzroth befanden sich u.a. bei Vermögensgegenständen im Werte von insgesamt 185.000 Taler auch 70.000 Ziegelsteine, femer Fundamentsteine, Holz usw. im Werte von 1.500 Taler zum Bau eines neuen Wohnhauses. Der gesamte Schuldenstand soll sich auf nur 19.000 Taler belaufen haben. Putzroth war also keineswegs überschuldet. Ihm fehlte es „nur" an Liquidität, nicht zuletzt weil die Banken selbst in Refinanzierungsschwierigkeiten gekommen waren." Immerhin hatte aber Putzroth eben die genannten 1.500 Taler in das Baumaterial für sein Wohnhaus gesteckt und es waren mit Sicherheit weitere Ausgaben für die Bauarbeiten selbst geplant. (b) Hinzu kam das kulturelle Leben außerhalb der privaten Haushalte, wie es in Theatern, Musikveranstaltungen, Museen, Bildungseinrichtungen, Vereinen usw. zu finden war. Die gesellschaftliche Note dieser Einrichtungen und Veranstaltungen darf sicher nicht übersehen werden, aber auch nicht der trotzdem darin liegende kulturelle Wert. Das Wirtschaftsbürgertum war zusammen mit dem Bildungsbürgertum und dem Adel Träger der materiellen Fundierung und der Nachfrage der Leistungen dieser kulturellen Einrichtungen. (c) Aber auch die immaterielle Kultur, die vor allem in der Denk- und Verhaltensweise der Bevölkerung und der einzelnen Gruppen der Be51

StA Königsberg (wie Anm. 14), Rep. 2, Tit. 7, Nr. 10, Bd. 2, S. 193ff.

Wirtsdiaftsbürgertum in einer Agrarregion

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völkerung zum Ausdruck kam, erhielt ebenfalls im 19. Jahrhundert durch die Ausdehnung des Wirtschaftsbürgertums als einem wichtigen Teil des gesamten Bürgertums zusätzliche Impulse. Gerade hierbei wird man aber zu unterscheiden haben zwischen den Folgen der allgemein«! Entwicklung im kulturellen Bereich und den Ergebnissen einer besonderen Konzentration von Bevölkerungsgruppen mit spezifischen Denk- und Verhaltensweisen. Auch hier kam es zu einer Mischung aus oberflächlichem, materiell abgesichertem oder auch nur statusorientiertem Gehabe, was gerade in der wilhelminischen Periode nicht gering zu veranschlagen ist, und problemorientiertem Interesse. Insgesamt läßt sich feststellen, daß man zwar für das 19. Jahrhundert gem vom bürgerlichen Zeitalter spricht, mindestens für die Zeit ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, daß aber damit nur die egozentrischen Ansichten eben des Bürgertums übernommen werden und wurden. Dabei wird übersehen, daß gerade im kulturellen Bereich eine große Vielfalt verschiedener Entwicklungen vorhanden war, aber auch ein vielfaltiges Bild derjenigen kulturellen Erscheinungen, die nur einem sehr geringen Wandel unterlagen. Gerade in einer Agrarregion wie Ostpreußen ist dieser zuletzt genannte Faktor für dai ländlichkleinstädtischen Bereich nicht zu unterschätzen, was sich schließlich auch in der politischen Ausrichtung und damit in der politischen Kultur niederschlug.

b. Ursachen der geringen Entwicklung und damit Bedeutung eines Wirtschaftsbürgertums in Ostpreußen Im Ergebnis kann man also keineswegs davon ausgehen, daß die relativ stabile agrare Struktur, noch dazu mit einer erheblichen Ausprägung durch die adligen Gutsbesitzer nicht zu überwinden gewesen wäre. Es wäre allein darauf angekommen, den nichtlandwirtschaftlichen Bereich erheblich auszudehnen, d.h. zunächst vor allem dai sekundären Sektor. Dies ist nicht geschehen. Das Wirtschaftsbürgertum war daher in Ostpreußen im Vergleich zu anderen Teilen Deutschlands unterentwickelt. Die Ursachen waren recht vielfaltige. Die zunächst bereits geringe Ausbildung einer gewerblichen Produktion, die über die Bedienung des örtlichen und des regionalen Marktes hinausging, war sicher nicht unwichtig, wie ein Vergleich mit anderen Gebieten Deutschlands zeigt. So ist z.B. im Ravensberger Land, d.h. im Gebiet um Bielefeld gerade in Anknüpfung an die vorindustrielle ge-

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werbliche Produktion für den überregionalen Markt zunächst das industrielle Textilgewerbe, dann das Bekleidungsgewerbe und schließlich der Maschinen- und Gerätebau im weitesten Sinne entstanden. Die geringe Ausbildung der vorindustriellen gewerblichen Produktion in Ostpreußen hat wie vergleichbare Erscheinungen in anderen Teilen des östlichen Mitteleuropa sdir unterschiedliche, vor allem wirtschaftliche Gründe. Daß nicht die staatliche und die soziale Verfassung, ferner die Verwaltung entscheidend waren, wie Rosenberg meint'2, ergibt sich bereits aus der Beschäftigung mit kleineren Teilregionen, z.B. Schlesiens, Polens oder auch Ostpreußens. In der Industrialisierungsphase fanden sich nur wenige neue Unternehmer, die über eine punktmäßige Entwicklung hinaus für eine Weiterentwicklung des nichtlandwirtschaftlichen Sektors gesorgt hätten. Die dafür in Betracht kommenden einheimischen Gruppen zeigten keine über wenige Personen hinausgehende Initiativen. Zugewanderte Unternehmer und damit Wirtschaftsbürger gab es nur in geringer und für die gesamte Entwicklung unbedeutender Zahl. Dies ist um so erstaunlicher, weil die äußere Verkehrslage des Gebietes mindestens in den Küstenstandorten sehr günstig war, teilweise günstiger als z.B. der Standort Württemberg. Es fehlte grundlegend an dai Schumpeterschen Unternehmern, und zwar sowohl an solchen, die neue Produktionen in Gang setzten, als auch an solchen Unternehmern, die unter Ausnutzung der Standortvorteile Ostpreußens bekannte Produktionen übernahmen und sich in den europäischen Markt einschalteten.53 Die vorhandenen Unternehmer orientierten sich so gut wie nicht auf den Markt außerhalb Ostpreußens, so daß die Vorteile einer Exportwirtschaft (Exporthypothese des wirtschaftlichen Wachstums) für Ostpreußen nicht zu verzeichnen waren. Die staatliche Wirtschaftspolitik, insbesondere die Förderung der gewerblichen Produktion an der Wende zum 20. Jahrhundert im Zusammenhang mit dem Wirken des Oberpräsidenten v. Goßler in Westpreußen hatte ebenfalls keinen durchschlagenden Erfolg. Dies war keineswegs erstaunlich, denn es wurden keineswegs auf den Export aus der Region orientierte Gewerbe gefördert und angeregt.

52 Rosenberg, Hans: Bureaucracy, Aristocracy and Autocracy: The Prussian Experience 1660-1815, Cambridge (Mass.) 1958, 3. Aufl., 1968, S. 34ffi, 202ff. und passim. Vgl. Schumpeter, Joseph Aloys: Unternehmer, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl., Bd. 8, Jena 1928, S. 483.

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Vereinfachend lassai sich die zahlreichen Ursachen auf einen Faktor zusammenziehen: Es fehlte an Unternehmern, d.h. an potentiellen Wirtschaftsbürgern, die eine über dai Absatz innerhalb der Region hinausgehende Produktion in Gang brachten, so daß damit wichtige Impulse für die Wirtschaft innerhalb der Region (Sekundäreffekte) nicht auftraten. Die These Müller-Armacks, daß eine Unternehmerschicht aus einer vorhandenen Unternehmergruppe entsteht, zeigt einen wesentlichen Teil auch der ostpreußischen Zusammenhänge.34 Man kann davon ausgehen, daß vor allem die dreißiger, vierziger und fünfziger Jahre durch zahlreiche Ansätze einer industriellen Entwicklung, aber auch durch einen großen Anteil des Scheitems dieser Bemühungen gekennzeichnet waren. Damit scheint die wichtigste Phase der Anschlußmöglichkeit an die Entwicklung in anderen Teilen Deutschlands überholt gewesen zu sein. Bedenkt man allerdings, daß gerade in Württemberg seit den siebziger Jahren ein industrieller Aufschwung eintrat, dann wird man die hier gemachte Äußerung allerdings relativieren müssen.

54 Müller-Armack, Alfred: Entwicklungsgesetze des Kapitalismus. Ökonomische, geschichtstheoretische und soziologische Studien zur modernen Wirtschaftsverfassung, Berlin 1932, S. 57 und 200.

Harm-Hinrich Brandt D A S WIRTSCHAFTSBÜRGERTUM ÖSTERREICHS VON DEN ANFÄNGEN DER INDUSTRIALISIERUNG BIS 1 8 4 8

Die Verwendung der Begriffe „Bürgertum", „Bürgerlich", „Bürgerlichkeit" im Rahmai der Sozialgeschichte der europäischen Moderne hat, wie nicht besonders betont werden muß, ihre begriffsgeschichtlichen und definitori sehen Tücken. Sie ergeben sich, nimmt man die Auflösung der alteuropäischen Ständegesellschaft als hinreichend gesichelte Ausgangstatsache, bereits aus dem Spannungsverhältnis zweier miteinander konkurrierender Konzepte, die mit der Figur des „Citoyen" und der des „Bourgeois" symbolisiert werden können: also einerseits die Projektion einer allgemeinen, an die Erfüllung von Qualifikationskriterien gebundenen aber prinzipiell als klassenlos gedachten Staatsbürgerschaft, andererseits die von empirischen Befunden ausgehende Bestimmung einer „Mittelschicht", die nach Besitz- und Bildungsmerkmalen, administrativen oder ökonomischen Leitungsfunktionen, dem Kriterium des Statuserwerbs und einem zugeordneten mentalen Selbstverständnis nach oben und unten abgegrenzt und bestimmt werden kann. Konzentriert man sich im Sinne unseres Themas auf den zweiten Aspekt, nämlich dai der sozialhistorischen Schichtenanalyse, so tun sich abermals erhebliche Probleme der Inhaltbestimmung und Abgrenzung des „Bürgerlichen" auf.1 Unbeschadet dessen kann man sich jedoch - vom Zentrum der Sache und nicht von dai Randzonen der Abgraizungsprobleme ausgehaid - durchaus auf eine pragmatisch vernünftige und heuristisch brauchbare Gegenstandsbestimmung verständigen. Was sich im Horizont des europäischai 19. Jahrhunderts als Wirtschaftsbürgertum 1 Hierzu jetzt Jürgen Kocka, Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. zum frühen 20. Jahrhundert, in: ders. (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 21-63; ders., Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Europäische Entwicklungen und deutsche Eigenarten, in: ders. (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, 3 Bde., München 1988, Bd. 1, S. 11-76. Umfangreiche Lit.; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, bish. 2 Bde., Göttingen 1987, Bd. 1, S. 177-193, 202-217, Bd. 2, S. 174-241. Vgl. auch Vera Bácskai (Hg.), Bürgertum und bürgerliche Entwicklung in Mittel- und Osteuropa, 2 Bde., Budapest 1986. Ernst Bruckmüller et al. (Hg-), Bürgertum in der Habsburger-Monarchie, Wien-Köln 1990.

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bestimmen läßt, gewinnt man am besten aus einer historischen Herleitung und nimmt demgemäß seinen Ausgang bei einer Personalgruppe im Bereich der alteuropäischen gewerblichen Wirtschaft, die in der Hauptsache dem Stadtbürgertum entstammt, aber über den Rahmen der lokalen Bedarfsproduktion und Verteilung hinauswächst und zugleich die traditionelle personale Einheit von manueller Herstellung, Betriebsorganisation und Vertrieb sprengt, sich vielmehr auf die Dispositions- und Lenkungsfunktionen konzentriert und im allgemeinen das Eigentum an den Betriebsmitteln hat. Diese Erscheinung ist historisch nicht neu, vielmehr aus Mittelalter und früher Neuzeit geläufig; entscheidend ist, daß im Verlauf der Industrialisierung das Prinzip der Arbeits- und Funktionsteilung im Rahmen größerer Betriebseinheiten zum quantitativ und qualitativ bestimmenden Charakteristikum der gewerblichen Wirtschaft wird und traditionelle Wirtschaftsformai an den Rand drängt. Damit einher geht die Durchsetzung der Verkehrswirtschaft und die spekulative Orientierung von Produktion und Verteilung sowie deren Finanzierung am anonymen Markt. Im Horizont dieser neuen dynamischen Wirtschaftsweise wird die Unternehmerfunktion zur Schlüsselfunktion, da hier mit der relativ größten Dispositionsfreiheit und Gestaltungsmacht diejenigen Entscheidungen über Faktorkombination und Faktoreinsatz getroffen werden, die den Wirtschaftsprozeß bestimmen. Die Bedeutung dieser Schlüsselfunktion ist von Jean-Baptiste Say bis Schumpeter immer wieder eindrucksvoll hervorgehoben und analysiert worden.2 Ich würde ihre Träger, also die Unternehmer (entrepreneurs), als die Kerngruppe des neuen Wirtschaftsbürgertums bezeichnen. Sie treten uns in der Frühzeit der Industrialisierung überwiegend als Eigentümer-Unternehmer entgegen. Die Sicherung ihrer Dispositionsfreiheit nach Maßgabe ihrer Gewinnerwartungen ist ihr wichtigstes politisches Anliegen, weshalb sie im allgemeinen dem ökonomischen Liberalismus oder seinen interessensmäßig passenden Teilaspekten anhängen. Neben den EigentümerUnternehmern begegnen uns auch damals schon Direktoren von Kapi2

Literaturüberblick bei Wolfgang Zorn, Typen und Entwicklungskräfte deutschen Unternehmertums, in: VSWG 44 (1957), S. 56-77f ; wieder in: Karl Erich Bom (Hg ), Moderne deutsche Wirtschaftsgeschichte, Köln-Berlin 1966, S. 25-41, 427429; zu Definitionsproblemen mit Österreichbezug vgl. auch Alois Brusatti, Die Unternehmer in Industrie und Handel, in: Erich Zöllner (Hg.), Österreichs Sozialstrukturen in historischer Sicht, Wien 1980, S. 59-69; ferner Alois Brusatti u.a., Der Unternehmerbegriff. Eine Aufgabe der Forschung, Wien 1974 (= VeröfF. d. Ver. der wiss. Forschung auf dem Gebiete der Unternehmerbiographie und Firmengeschichte, Heft 4).

Wirtschaftsbürgertum in Österreich bis 1848

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talgesellschaften oder - ein Aspekt, der für Österreich wichtig wird Beamte in Unternehmerfunktion als Leiter von Staatsbetrieben oder von gewerblichen Unternehmungen des grundherrschaftlichen Adels. Um diese Kemgruppe unternehmerisch tätiger Handel- und Gewerbetreibender herum lagert sich die anfanglich schmale Schicht von Kaufleuten und Technikern, die man modern als leitende Angestellte bezeichnen würde, des weiteren jene Gruppe selbständiger Handler, Makler, Wechsler, Sensale, die an der modernen Verkehrswirtschaft aktiven Anteil haben. Dieses so beschriebene Wirtschaftsbürgertum umfaßt nicht das traditionelle Handwerk und den kleinen Einzelhandel, also jenen sozialen Bereich, der später als „alter Mittelstand" bezeichnet wird. Ihm gegenüber läßt sich in der Unternehmerfunktion ein hinreichendes Abgrenzungskriterium entwickeln, wobei klar ist, daß es Zonen des Überganges gibt, daß sich die Grenzlinien im historischen Industrialisierungsprozeß verschieben und der Bereich des alten Mittelstandes dabei immer deutlicher zu einer Residualgröße geworden ist.3 Die historische Unternehmerforschung hat nach dai Merkmalen sozialer Herkunft und funktionaler Ausgangssituation unterschiedliche Unternehmertypen herausgearbeitet und mit variierenden Verhaltensmustern in Beziehung gesetzt. So lassen sich nach Wolfgang Zorn4 fünf ursprüngliche Herkunfts- bzw. Werdegangstyp en des Industrieunternehmers unterscheiden: 1. feudale Grundbesitzer, 2. bürgerliche Gewerke (d.h. Bergbau-Anteilseigner), Fabrik- und Geschäftserben, 3. Kaufleute und Bankiers, 4. Handwerker und Techniker, 5. Forscher. Hiemach kann man etwa bei allai dem handwerklich-technischen Bereich entstammenden Vertretern gemäß dem Ausgangsinteresse ein stärkeres Beharrungsvermögen in der eigenen Branche vermuten, bei den Vertretern des Handels und Geldkapitalbesitzes hingegen eine größere Mobilität in den Engagements. Bei den Vertretern des historischen Grundadels ist (wie übrigens auch bei dai Kapitalisten im ursprünglichen Wortsinn) stets zu prüfen, wie intensiv die unternehmeri-

3 Vgl. die Bemerkungen bei Kocka, Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft, in: ders. (Hg ), Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 1, S. 12ff. (mit Lit.). Für Österreich werden sozialgeschichtliches Profil, Abgrenzungs- und Übergangsfragen behandelt bei Herbert Knittler, Handwerk und Gewerbe in Österreich (bis ins 19. Jahrhundert), in: Erich Zöllner (Hg ), Österreichs Sozialstrukturen in historischer Sicht, Wien 1980, S. 70-82. 4 Zorn, Typen und Entwicklungskräfte, in: Born, S. 3Off.

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sehe Eigentätigkeit tatsächlich ist und wieweit sie an Beauftragte delegiert erscheint. Neben der sozialen ist die regionale Herkunft zu beachten, insonderheit die Frage, wieweit das unternehmerische Wirtschaftsbürgertum sich im lokalen Bereich entwickelt und wieweit es auf Zuwanderung basiert; die Frage nach dem Ursprungsland verknüpft sich dabei mit Problemen des Entwicklungsgefalles und der vielberufenen konfessionellen Frage.3 Das Wanderungsphänomen lenkt schließlich auf die Erscheinung der Glücksritter und Projektmacher, des weiteren auf die Rolle der Juden als Fürstendiener.6 In historischer Perspektive ist das neue Wirtschaftsbürgertum also ein Amalgam aus Gruppen unterschiedlichster sozialer und regionaler Herkunft. Die Art seiner Zusammensetzung verleiht der Industriewirtschaft der europäischen Einzel Staaten bei gleichartigen Strukturmerkmalen eine durchaus unterschiedliche Dynamik. Hierbei bildet das je spezifische Gruppenprofil der Unternehmerschaft selbstverständlich nur ein Moment, seine Analyse ist einzubetten in die allgemeinen natürlichen und sozialen Rahmenbedingungen der Territorialwirtschaften und schließlich von der Rolle des Fürstenstaates her zu bewerten. Im Falle der Habsburgermonarchie erscheint es sinnvoll, die Untersuchung des Wirtschaftsbürgertums auf den Kembereich der deutschen und böhmischen Erbländer zu konzentrieren.7 Seine Analyse ' Für Österreich verweist Matis auf die protestantische und speziell calvinistische Herkunft einer Reihe von eingewanderten Unternehmerfamilien und bezieht dieses Phänomen auf die bekannte These Max Webers. (Herbert Matis, Österreichs Wirtschaft 1848-1913, Berlin 1972, S. 71f.). Da sich unter den Einwanderern in ebensolcher Menge auch Katholiken und Juden ausmachen lassai, wird man das Gesamtproblem eher der im Rahmen des europäischen West-Ost-Gefalles zunehmenden „Extemalität" des Wirtschaftsbürgertums zuzuordnen haben. Vgl. dazu unten S. 64f., 70f. Zur Extemalität die Bemerkungen und Verweise von Kocka, Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft, in: ders. (Hg.), Bürgertum, Bd. 1, S. 58f. 6 Zum Hofjudentum die umfangreiche Materialsammlung von Heinrich Schnee, Die Hochfinanz und der moderne Staat. Geschichte und System der HofFaktoren an deutschen Fürstenhöfen im Zeitalter des Absolutismus, 6 Bde., Berlin 19531967. Aus der Fülle der Literatur Francis L. Carsten, The Court Jews. A Prelude to Emancipation, in: LBI Yearbook 3 (1958), S. 140-156; Nachum T. Gross (Hg.), Economic History of the Jews, New York 1975. 7 Ungarn und Galizien ebenso wie die Niederlande und Vorlande, Mailand bzw. das Lombardo-Venetianische Königreich bleiben von der Betrachtung ausgeschlossen. Es wird mithin eine Reduktion auf diejenigen Reichsteile vorgenommen, die im theresianisch-josefinischen Staatsbildungsprozeß am intensivsten und mit der relativ größten Dauerhaftigkeit staatlich-bürokratisch integriert worden

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und Bewertung ist sehr stark bestimmt von der allgemeinen und noch anhaltenden Diskussion über Charakter und Qualität von Industrialisierung und wirtschaftlichem Wachstum im Gesamtreich; eine Diskussion, bei der sich in Abgrenzung von den zunächst die Szene beherrschenden Modellvorstellungen eines notwendigen „take-off ' oder „great spurt" zunehmend die Auffassung eines langsamen und relativ stetigen Wachstums als eines eigenständigen (Frankreich nicht unähnlichen) Typus der Entwicklung durchgesetzt hat.' Jedoch stellt sich gerade auch bei der Vorstellung einer „gemütlichen"9 Industrialisierung die Frage, ob im Datenkranz der übrigen Faktoren wie: Mangel an oder ungünstige Zuordnung von sind und die in der Folge auch industriewirtschaftlich und sozial die stärkste Integration erfahren haben. Zu den regionalen Aspekten der Wirtschaftsentwicklung in der Habsburgermonarchie vgl. die Skizze von Franz Baltzarek, Zu dai regionalen Ansätzen der frühen Industrialisierung in Europa. Mit Überlegungen zum Stellenwert der frühen Industrialisierung im Habsburgerstaat des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Herbert Knittler (Hg.), Wiitschafts- und sozialhistorische Beiträge. Festschrift für Alfred Hoffinann zum 75. Geburtstag, München 1979, S. 334-355. 11 Hierzu von österreichischer Seite Kurt W. Rothschild, Wurzeln und Triebkräfte der österreichischen Wirtschaftsstruktur, in: Wilhelm Weber (Hg.), Österreichs Wirtschaftsstruktur gestern - heute - morgen, 2 Bde., Berlin 1961, Bd. 1, S. 1-157; Herbert Matis, Österreichs Wirtschaft 1848-1913. Konjunkturelle Dynamik und gesellschaftlicher Wandel im Zeitalter Franz Josephs I., Berlin 1972, insbes. Kapitel I; Herbert Matis u. Karl Bachinger, Österreichs industrielle Entwicklung, in: Adam Wandruszka und Peter Urbanitsch (Hg ), Die Habsburgermonarchie 18481918, Bd. 1: Alois Brusatti (Hg.), Die wirtschaftliche Entwicklung, Wien 1973, S. 105-232, hier S. 105-150; Eduard März, Einige Besonderheiteil in der österreichischen Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert, in: Sozialwissenschaftliche Annalen 1(1977), S. 87-107; maßgeblich femer Richard Rudolph, Austrian Industrialization. A Case Study in Leisurely Economic Growth, in: Sozialismus, Geschichte und Wirtschaft, Festschrift für Eduard März, Wien 1973, S. 249-262; ders., The Pattern of Austrian Industrial Growth from the Eighteenth to the Early Twentieth Century, in: Austrian History Yearbook 11 (1975), S. 3-25; Nachum T. Gross, Die Stellung der Habsburgermonarchie in der Weltwirtschaft, in: Brusatti (Hg.), Die wirtschaftliche Entwicklung, S. 1-28; ders., Die Industrielle Revolution im Habsburgerreich 1750-1914, in: Carlo Cipolla, Knut Borchardt (Hg.), Europäische Wirtschaftsgeschichte, dt. Ausg. 4 Bde., Stuttgart-New York 1977, Bd. 4: Die Entwicklung der industriellen Gesellschaften, S. 203-235; fur die Spätphase der Monarchie: Alexander Gerschenkron, An Economic Spurt that failed. Four Lectures in Austrian History, Princeton 1977. Kritisch hierzu und zur „pessimistischen" Interpretation insgesamt: David F. Good, The Economic Rise of the Habsburg Empire, 1750-1914, Berkeley-Los Angeles-London 1984, dte. Ausg. Wien-KölnGraz 1986; s.a. John Komlos, Die Habsburgermonarchie als Zollunion. Die Wirtschaftsentwicklung Österreich-Ungarns im 19. Jahrhundert, Wien 1986 (amerikan. Original Princeton 1983), insbes. Kapitel ΙΠ. 9 Komlos, Habsburgermonarchie als Zollunion, S. 75f.

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Ressourcen, verkehrsgeographische Hemmnisse, verspätete Modernisierung der Gesellschaft, Defizite an nationaler Integration und wachstumshemmmende Weichenstellungen staatlicher Wirtschaftspolitik auch ein spezifischer Mangel an unternehmerischer Initiative und risikofreudigem Kapital eine signifikante Rolle gespielt hat.10 In der frühneuzeitlichen Ausgangssituation folgten Sozialstruktur, Agrarwirtschaft und Stadtwirtschaft Österreichs dem allgemeinen zentraleuropäischen Muster.11 Der Urbanisierungsgrad - als wichtiger Indikator verkehrswirtschaftlicher Wachstumschancen - blieb nach Dichte und Größe der Städte insgesamt deutlich hinter den europäischen Verdichtungszonen zurück; dafür überragte Wien mit seiner Residenzfunktion an Größe und Bedeutung schon früh jede andere deutsche Stadt, was sich aus der Bedeutung des Hofes, der Größe des Reiches und der daraus erwachsenden Kumulation adeliger Hofhaltungen und der zentralen Verwaltungen ergibt.12 Als Folge entstand in Wien - aitsprechenden Pariser Verhältnissen entfernt vergleichbar eine höfisch orientierte Luxusindustrie auf handwerklicher bzw. manufaktureller Grundlage und ein entsprechender Fernhandel. Im übri10 Dazu vor allem Herbert Matis, Der österreichische Unternehmer. Erscheinungsbild und Repräsentanten, in: Karl-Heinz Manegold (Hg.), Wissenschaft, Wirtschaft und Technik. Studien zur Geschichte, Wilhelm Treue zum 60. Geburtstag, München 1969, S. 287-298; ders., Österreichs Wirtschaft 1848-1913, S. 6482. Vgl. auch Josef Mentschl, Das österreichische Unternehmertum, in: Brusatti (Hg.), Die wirtschaftliche Entwicklung, S. 250-277, insbes. S. 274ff; Edith Naderer, Versuch einer historischen Untemehmertypologie für Österreich (1848-1918), Diss. (Masch.) Wien 1976; Alois Mosser, Genie und Geschäft. Die Kulturleistungen des Unternehmers und die Gesellschaft, in: Magie der Industrie. Leben und Arbeiten im Fabrikzeitalter, Niederösterr. Landesausstellung 1989, Katalog, München 1989, S. 226-237. 11 Knapper und instruktiver Überblick zuletzt bei Gustav Otruba (Hg.), Österreichische Fabriksprivilegien vom 16. bis ins 18. Jahrhundert, Wien-Köln-Graz 1981, Einleitung S. 41-63 (mit Lit ). 12 Zum Urbanisierungsproblem Franz Baltzarek, Die wirtschaftliche Entwicklung der Großstadtregion Wien im 18. und 19. Jahrhundert. Mit einem Überblick über die Rolle von Stadtregionen im Industrialisierungsprozeß Europas; ders., Staat und Bürgertum im Zeitalter des Kameralismus und Merkantilismus im Habsburgerreich. Ein Versuch zur Typologie vorindustriellen Städtewesens in seinen politischen und sozio-ökonomischen Strukturen, beide als Typoskript, o. D. [um 1975], Nationalbibliothek Wien 1.168.230-C. Herbert Knittler, Österreichs Städte in der frühen Neuzeit; Franz Mathis, Städte und Märkte zur Zeit der Frühindustrialisierung, beide in: Erich Zöllner (Hg.), Österreichs Städte und Märkte in ihrer Geschichte, Wien 1985, S. 43-84, 69-84. Zu Wien auch Günther Chaloupek, Wiitschaftsentwicklung, merkantilistische Wirtschaftspolitik und die Wiener Wirtschaft bis Joseph Π. (1790), in: Wiener Geschichtsblätter 31 (1976), S. 14-31.

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gen bestand in der Residenz, wie in allai übrigen Städten ausschließlich, ein traditionalistisch gebundenes Handwerk, das nur im Bereich der Textilindustrie bereits einem Prozeß der betrieblichen und sozialen Differenzierung unterlag und audi in Österreich den Verleger hervorbrachte, der außerzünftig auf dem flachen Land für Massenbeschäftigung sorgte und daraus eine Quelle der Kapitalakkumulation machte. Schwerpunkte dieses Verlagssystems waren - neben dem abseits gelegenen und wirtschaftsgeographisch dem alemannisch-schweizerischen Raum zuzuordnenden Vorarlberg - vor allem Mährai und neben Prag die deutsch besiedelten und durch Grenzböden charakterisierten Randzonen Böhmens .13 Der zweite Bereich eines das Handwerksniveau übersteigenden Gewerbes war der innerösterreichische alpine Eisenerzbergbau mit den daran sich anschließenden Hütten und Hammerwerken. Bergwerksbesitz und -betrieb waren gewerkschaftlich organisiert; hier wie in den Hütten und Hammerwerken herrschten bürgerliche Unternehmer vor; der Staat hielt ansehnliche Berganteile. Verleger wiederum vermittelten das Rohmaterial an eine weitverbreitete, handwerklich organisierte Kleineisenindustrie vor allem in Oberösterreich und in Teilen Niederösterreichs.14 Ganz anders strukturiert waren Bergbau und Hüttenwesen in Mähren und im böhmischen Becken, wo die Berggerechtsame an adelige Grundherren übergegangen waren. Diese ließen ihre Montanwirtschaft im Verbund mit der dazugehörigen

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Zur Frühgeschichte der Textilgewerbe in den böhmischen Ländern Hermann Aubin: Das Textilgewerbe in und um Reichenberg bis zum Übergang in die moderne Industrie, in: Sudetenland 5 (1963), S. 109-123; Arnost Klima, Die Textilmanufaktur im Böhmen des 18. Jahrhunderts, in: Histórica 15 (1967), S. 123-181; ders., Industrial Development in Bohemia, 1648-1781, in: Past and Present 11 (1957), S. 87-97; ders., Industrial Growth and Entrepreneurship in the Early Stages of Industrialization in the Czech Lands, in: Journal of European Economic History 6 (1977), S. 549-574; Gustav Otruba, Anfange und Verbreitung der böhmischen Manufakturen bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts (1820), in: Bohemia 6 (1965), S. 203-331; Amost Klima, Hausindustrie, Manufaktur und Frühindustrialisierung in Böhmen, in: Österreichische Osthefte 30 (1988), S. 528-541. 14 Zur alpinen Erzindustrie die Übersichten bei Ferdinand Tremel, Wirtschaftsund Sozialgeschichte Österreichs, Wien 1969, S. 156-163, 255-262; Alfred Hoffmann, Wirtschaftsgeschichte des Landes Oberösterreich, 2 Bde., Salzburg-Linz 1952, Bd. 1, S. 117-128, 196-211, 348-382; zuletzt der Sammelband Michael Mitterauer (Hg.), Österreichisches Montanwesen. Produktion, Verteilung. Sozialformen, München 1974.

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Forstwirtschaft von Patrimonialbeamten in der Form einer Hörigenindustrie betreiben.15 Diese industriewirtschaftlichen Ansätze entfalteten sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kräftig weiter unter den Bedingungen des theresianisch-josefinischen Merkantilismus und seiner Förderungsmaßnahmen. Diese Politik folgte den üblichen west- und mitteleuropäischen Mustern, war aber schon deshalb von tiefergreifenderen Folgen als etwa in dai kl einräumigen Territorial des Altreiches, weil sie sich auf die Wirtschaftsregulierung eines geschlossenai Großreiches bezog. 16 Das gilt in erster Linie für die Zollpolitik, die darauf ausging, die Gesamtheit der Monarchie unter Einschluß der östlichen Ergänzungsräume (Ungarn, Galizien) zugunsten der fortgeschrittenen Gewerberegionen als Binnenmarkt zu organisieren, dementsprechend alle Binnenschrankai abzubauen, zugleich aber die Auslandskonkurrenz durch ein Grenzsystem, das für Schlüsselerzeugnisse sogar vom Hochschutzzoll zur Prohibition überging, vollständig fernzuhalten. Die hier getroffaie Weichenstellung legte nun eine aitscheidende Grundlinie der Wirtschaftspolitik fest, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts überhaupt nicht, dann aber nur zögerlich korrigiert wurde. Ein vergleichbares Verhalten mit mutatis mutandis ähnlichen strukturbildenen Konsequenzen langfristiger Art finden wir etwa in Frankreich. Damit wurde der heimischen Industrie ein Wachstumspfad eröffnet, der einerseits in der Exklusivität des Binnenmarktes eine sichere Basis hatte, andererseits an das relativ langsame Tempo der verkehrswirtschaftlichen Integration und Konsumsteigerung eines weithin dünnbesiedelten Großraumes ruraler Selbstversorgungsgemeinschaf-

15 Übersicht bei Otruba, Anfange und Verbreitung der böhmischen Manufakturen, in: Bohemia 6, S. 3 llfiF. 16 Aktueller Überblick über die theresianisch-josefinische Wirtschaftspolitik mit Lit. bei Gustav Otruba, Verwaltung, Finanzen, Manufakturen, Gewerbe, Handel und Verkehr, technisch-gewerbliche Bildung und Bevölkerungsentwicklung, in: Erich Zöllner (Hg.), Österreich im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus, Wien 1983, S. 103-150. Sdir wichtig ferner der Sammelband Herbert Matis (Hg.), Von der Glückseligkeit des Staates. Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Österreich im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus, Berlin 1981. Die Modernität der Reformimpulse betont Good, The Economic Rise of the Habsburg Empire, S. 34f., im Anschluß an Tremi, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, S. 281. Kritische Einschätzung der Integrationseffekte bei Gross, Die Industrielle Revolution im Habsburgerreich, in: Cipolla-Borchardt, Bd. 4, S. 209ff.

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ten gebunden blieb.17 Freilich kümmerte der merkantilistische Staat sich frühzeitig auch um dai Export; hierbei war der Orient das bevorzugte Ziel, wofür die Kontrolle des Donauweges und der Besitz des Hafens Triest einen Ansatz bot. Doch gingen hiervon aufs Ganze gesehen keine entscheidenden Wachstumsimpulse aus.18 Innerhalb dieser Rahmenbedingungen suchte der Reformabsolutismus die gewerbliche Wirtschaft zu dynamisieren, indem er neben den traditionellen Zünften, wenn sie schon nicht zu beseitigen waren, die Entwicklung neuer Trägerschichten förderte, so durch die Ausdehnung des Systems der Hofbefreiungen für unzünftige Handwerker, vor allem aber durch die Erteilung von Fabriken- und Manufakturkonzessionen und die Ausstattung der Neugründungen mit einer breiten Palette von Privilegien, durch materielle Vergünstigungen und Zuwendungen, schließlich durch direkte staatliche Untemehmensgründung oder Übernahme angeschlagener Unternehmen. Die Aufhebung der Leibeigenschaft (1781) hatte in diesem Zusammenhang den wichtigen Zweck, ungelernte Massenarbeitskraft verfugbar zu machen.19 Wesentliche Impulse erwartete man von der Anwerbung ausländischer Unternehmer und Techniker,20 dem diente wiederum die Toleranzgesetzgebung für Protestanten und Juden.21 Zu den materiellen gesellten 17

Gross, Die Industrielle Revolution im Habsburgerreich, in: Cipolla-Borchardt, Bd. 4, S. 209ff. 18 Vgl. Herbert Hassinger, Der Außenhandel der Habsburgermonarchie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Friedrich Lütge (Hg.), Die wirtschaftliche Situation in Deutschland und Österreich um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 1964, S. 61-98, insbes. das Resümee S. 97f. Eindringliche und kritische Würdigung der bisherigen Forschung, das Bild vom Vorrang des Binnenmarktes und der relativen Schwäche des Außenhandels jedoch bestätigend, bei Manfred Sauer, Aspekte der Handelspolitik des „aufgeklärten Absolutismus", in: Matis (Hg.), Glückseligkeit des Staates, S. 235-265. 19 Hierzu eine Fülle von Lit., insbes. die Arbeiten von G. Otruba, H. Hassinger, A. Klima, Κ Freudenberger; Zugang über die in Anm. 13 bis 16 genannte Lit. Von den älteren Werken v a. Karl Pribram, Geschichte der österreichischen Gewerbepolitik von 1740 bis 1860, Bd. 1: 1740-1798 [mehr n. ersch.], Leipzig 1907. 0 Gustav Otruba, Englische Fabrikanten und Maschinisten zur Zeit Maria Theresias und Josephs Π. in Österreich, in: Tradition 12 (1967), S. 365-377. 21 Knappe Hinweise mit Beachtung der ökonomischen Motive bei Elisabeth Bradler-Rottmann, Die Reformen Kaiser Josefs Π., 'Göppingen 1976, S. 147ff.; Peter Baumgart, Die „Freiheits-rechte" der jüdischen Minorität im Staat des aufgeklärten Absolutismus. Das friderizianische Preußen und das josefinische Österreich im Vergleich, in: Günter Birtsch (Hg.), Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, Göttingen 1981, S. 121-145; Paul Bernhard, Joseph Π. and the Jews. The Making of the Toleration Patent of 1782, in: Austrian History Yearbook 4/5 (1968/69), S. 101-119.

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sich immaterielle, auf soziale Anerkennung zielende Förderungsmittel; besonders wirksam war die prestigeträchtige und in Österreich weit mehr als anderswo praktizierte Nobilitierung.22 In ihrer Handhabung und Beliebtheit manifestiert sich zugleich die außerordentlich starke Geltung höfisch geprägter Wertmuster für das Sozial verhalten. Diese Art sozialpsychologischer Integration des neuen Unternehmertums ist nur ein Teil des mitteleuropäischen Typus der reformabsolutistisch vermittelten monarchischen Integration, die sich auf dai alten Feudaladel und den Klerus ebenso richtete wie an dai bürgerlichen Aufstieg und den Auslandsimport von Führungskräften, und die ihre wichtigste Vermittlungsebene in der landesfürstlichen Bürokratie mit ihren Lenkungs- und Verwaltungsfünktionen hatte. Diesem Integrationsmuster, dessen relativ großer und länger anhaltender Erfolg Mitteleuropa von Westeuropa unterscheidet, folgt auch die Bindung der neuen, dai altständischen Rahmen sprengaiden Wirtschaftsbürger an den Fürstenstaat. Neben der vorhin angesprochenen außenwirtschaftlichen Abschottung scheint mir dieser Sachverhalt das zweite strukturbildende Ausgangsdatum zu sein, dessai Konsequenzai für die Unternehmermentalität noch zu erörtern sein werden. Zunächst sei die Skizze der gesamtpolitischen bzw. wirtschaftspolitischai Rahmenbedingungen von der theresianisch-josefinischen Anfangsperiode auf das franzisceische Zeitalter und den österreichischen Vormärz (1792 bis 1848) ausgedehnt. Es aitspricht der historiographischen Tradition, diese beiden Epochal vor allem unter ge22

Nikolaus von Preradovich (Rezension zu Otruba/Treml - vgl. Anm. 52 - in: VSWG 53 (1966), S. 249) und unter Berufung auf ihn auch Matis (Österreichs Wirtschaft 1848-1913, S. 65) betonen, daß zwischen 1701 und 1918 nur insgesamt 1242 Industrielle, Bankiers und Handelsleute geadelt worden sind gegenüber 8596 Offizieren und Beamten. Diese Relation ist keineswegs erstaunlich, bedenkt man die zentrale Funktion von Armee und Bürokratie für die Systemerhaltung des monarchischen Staates, die Bedeutung der Abhängigkeits- und Loyalitätshierarchien in diesem Zusammenhang und schließlich die Tatsache, daß für den Fürstenund Staatsdiener Ehrungen aller Art den materiellen Unterhalt psychologisch ergänzten bzw. substituierten. Signifikant ist vielmehr, daß das Wirtschaftsbürgertum überhaupt in diesem Umfang in die Nobilitierungspraxis und damit in die höfische Integrationsstrategie einbezogen wurde. Auch hierbei war der Aspekt des Fürstendienstes zunächst durchaus der Ansatzpunkt, denn als erste wurden die Verdienste um Kriegsfinanzierung und Staatskredit auf diese Weise honoriert. Dies betont jetzt auch: William McCagg, Austria's Jewish Nobles, 1740-1918, in: LBI Yearbook 34 (1989), S. 163-183. Die ungedruckte Wiener Dissertation von Franz Putz, Die österreichische Wirtschaftsaristokratie, 1815-1859, Wien 1975, war mir nicht zugänglich.

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gensätzlichen Vorzeichen - Dynamik vs. Statik - zu erfassen und zu bewerten. Diese Beurteilung hat ihre guten Gründe, doch sollten demgegenüber mit Bezug auf unser Thema auch die Kontinuitätslinien und die dynamischen Aspekte der Restaurations- und Vormärzzeit beachtet werden. Bekanntlich ist der Reformabsolutismus Josefs Π. mit seinen auf öffentlich-rechtliche Egalisierung der Gesamtuntertanenschaft, auf Bodenmobilisierung und Freisetzung der bäuerlichen und unterbäuerlichen Massai gerichteten sozialpolitischen Tendenzen früher und deutlicher als sonst im deutschmitteleuropäischen Bereich an Grenzen gestoßen, wo die entgegengesetzten Interessallagen des altbevorrechtigten Adels in ihrer Substanz beeinträchtigt wurden.23 Träger dieser Veränderungstendenzen war mit dem Kaiser eine stark (aber nicht nur) bürgerlich bestimmte Reformbürokratie, die die tief ins 19. Jahrhundert weiterwirkende gouvernemental-liberale politische Sonderkultur des sog. Josefinismus begründet und damit stilbildend auf den etatistisch gebrochenen bürgerlichen Liberalismus Österreichs gewirkt hat.24 Die von hier ausgehenden Gefahrdungen führten - etwa zeitgleich mit der Französischen Revolution und verstärkt durch ihre kontrainduzierenden Effekte - zu einer vehementen Adelsreaktion und in der Folge zu einem Kompromiß, der die Herrschafts- und Sozialverhältnisse auf einem frühjosefinischen Niveau stabilisierte und die Dynastie bewog, von nun an die Bewahrung des Status quo zur tragenden Maxime ihrer Innenpolitik zu machen.25 Dem entspricht das Wiedervordringen des Altadels in dai bürokratischen Spitzenpositionen und die Herausbildung eines innerbürokratischen nicht spannungslosen Gleichgewichts zwischen dai beharrenden und verändernden Kräftoi.26 Infolgedessen blieb die sozialpolitisch wichtigste Frage, das 23

Roman Rozdolski, Die große Steuer- und Agrarreform Josefs Π. Ein Kapitel zur österreichischen Wirtschaftsgeschichte, Warschau 1961. 24 Hierzu zuletzt Harm-Hinrich Brandt, Liberalismus in Österreich zwischen Revolution und Großer Depression, in: Dieter Langewiesche (Hg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 79), Göttingen 1988, S. 136-160; vgl. in demselben Band Klaus Koch, Frühliberalismus in Österreich bis zum Vorabend der Revolution 1848, S. 64-70. 25 Zuletzt Helmut Reinalter, Aufgeklärter Absolutismus und Revolution, WienKöln-Graz 1980, (hier die einleitenden Analysai, S. 142-185, mit Lit.). 26 Zeitgenössische Kritik: Ignaz Beidtel, Geschichte der österreichischen Staatsverwaltung 1740-1848, aus dem Nachlaß hg. v. Alfons Huber, 2 Bde., Innsbruck 1896/1898, Nachdruck 1968, insbes. Bd. 2. Vgl. jetzt Waltraud Heindl, Gehorsa-

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Problem der Auflösung der Grundherrschaft, dauerhaft von der Tagesordnung ausgeschlossen. Damit waren die Voraussetzungen für einen industriewirtschaftlichen Durchbruch im Sinne Rostows an einem strategisch zentralen Punkt nur halb erfüllt: Zwar war die ländliche Bevölkerung seit Josef Π. aus der Hörigkeit in die persönliche Freiheit entlassen, doch blieben Gebundenheit des Bodens, Patrimonialherrschaft, Niederlassungs- und Heiratsbeschränkungen bestdien, die verkehrswirtschaftliche Mobilisierung der Produktionsfaktoren und des Konsums blieb bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts gebremst, wenn auch keineswegs blockiert.27 Innerhalb dieser retardierenden Rahmenbedingungen war die staatliche Wirtschaftspolitik Österreichs in Restauration und Vormärz keineswegs industriefeindlich. So sdir die traditionellen Zünfte in dieser Richtung drängten: Eine gewerbepolitische Reaktion zugunsten des aitai Mittelstandes fand niemals statt. Andererseits kam es, obwohl im Schöße der Spitzenbehörden daran über Jahrzehnte herumlaboriert wurde, auch nicht zu einer Modernisierung und Kodifikation des Gewerberechtes gar im Sinne der Gewerbefreiheit; vielmehr vollzog sich die langsam aber stetig fortschreitende Industrialisierung weiterhin im Rahmen einer durchaus liberal gehandhabten staatlichen Konzessionierungspraxis. Die Regierung wünschte und förderte Fabrikgründungen, jetzt freilich unter Vermeidung fiskalischer Subventionsopfer, wie sie für die naive Phase des Merkantilismus charakteristisch waren.28 Dieser Gesamteindruck wird auch nicht durch zeitweilige industriefeindliche Äußerungen und Entscheidungen des Kaisers Franz beeinträchtigt, die sich isoliert auf die Residenzstadt bezogen und hier

me Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich 1780 bis 1848, Wien-KölnGraz 1991. 27 So Matis, Österreichs Wirtschaft 1848-1913, S. 22-30; Gross, Die Stellung der Habsburgermonarchie in der Weltwirtschaft, S. 2ff ; ders., Industrielle Revolution im Habsburgerreich, S. 214fF. Pointierte Revision der traditionellen Sicht bei Komlos, Habsburgermonarchie als Zollunion, Kap. 2 u. 3, der die Bedeutung der institutionellen Reformen ab 1848 negiert und den Beginn des wirtschaftlichen Wachstums in den 20er und 30er Jahren ansetzt. Differenziertes Urteil bei Good, Economic Rise of the Habsburg Empire, S. 32-73. Vgl. auch Harm-Hinrich Brandt, Der österreichische Neoabsolutismus. Staatsfinanzen und Politik 1848-1860, 2 Bde., Göttingen 1978, Bd. 1, S. 25-47. 28 Hierzu noch immer materialreich Johann Slokar, Geschichte der österreichischen Industrie und ihrer Förderung unter Kaiser Franz I., Wien 1914, erstes Buch (allgemeine Industriepolitik).

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von Proletarisierungs- und Revolutionsfurcht getragen waren.29 Pariser Verhältnisse sollten vermieden werden. In derselben Linie industrialisierungsfreundlichen Gesamtverhaltens liegt das staatliche Interesse am Eisenbahnbau, der in dai späten 30er Jahren einsetzte, und an der Konzessionierung und Förderung der hierzu erforderlichen Kapitalgesellschaften. Dasselbe gilt für die Förderung der Donaudampfschiffahrtsgesellschaft und des Triestiner Österreichischen Lloyd. Freilich zeigte sich beim Eisenbahnbau rasch, daß sich über die Stimulierung des Privatkapitals kein stetiger Verkehrsausbau mit befriedigenden Ergebnissen erreichen ließ. Ähnlich wie die übrigen deutschen Flächenstaaten ging daher auch Österreich in dai 40er Jahren zum Staatsbahnsystem über.30 Erstmals seit der theresianisch-josefinischen Periode des Merkantilismus engagierte sich der Staat damit wieder direkt in einem Schlüsselbereich der gewerblichen Wirtschaft. Die Gründe hierfür im Kontext der wirtschaftsbürgerlichen Entwicklung werden weiter unten erörtert. Wenn die österreichische Restaurations- und Vormärzzeit gleichwohl in der historiographischen Tradition bürgerlicher Selbstinterpretation auch bezüglich der Wirtschaftsgeschichte überwiegend kritisch bewertet wird, so liegen die Gründe hierfür weniger im Bereich der ProduktionszifFern als im Bereich des gesellschaftlichen Bewußtseins. Die staatliche allgemeine Innenpolitik war, wie schon angedeutet, in ihrer Gesamtheit von konservativen Stabilitäts- und Beharrungstendenzen geleitet; die hieraus sich ergebende soziale und mentale Stagnation blockierte zweifellos die Entfaltung eines wirtschaftsbürgerlichen Selbstbewußtseins. Die im Reformabsolutismus aufgebaute polizeistaatliche Regierungs- und Verwaltungsmaschinerie setzte sich samt ihrem im älteren Polizeibegriff liegenden Selbstverständnis einer eudämonistischen Allzuständigkeit in das 19. Jahrhundert hinein ungebrochen fort und blähte sich noch weiter auf. Dieser franzisceische Apparat mit seiner sprichwörtlichen Schwerfälligkeit verbreitete aber eben deshalb ein Klima allgemeiner Behinderung, weil der umfassende Lenkungs- und Gestaltungsanspruch mit der Zögerlichkeit und Entscheidungsunlust kontrastierte, die aus dem Gegeneinander der Behörden (etwa der tendameli dynamischeren Hofkammer und Kommerzhofkommission einerseits und der sozialkonservativen Vereinigten Hofkanzlei als allgemeiner Innenbehörde andererseits) und den 29

Slokar, Geschichte der österreichischen Industrie, S. 25-49 (Vorgänge von 1802 bis 1809). 30 Brandt, Neoabsolutismus, Bd. 1, S. 40, 316f

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Ängstlichkeiten und Bedenklichkeiten der Spitzenverantwortlichen resultierten und in die Technik des Verschleppens und Liegenlassens einmündeten.31 Diese Systemdefekte nahmen nach 1835 angesichts der Perversion einer absoluten Monarchie ohne Monarchal und der institutionalisierten Paralysierung der obersten Entscheidungsgewalt ein derartiges Ausmaß an, daß im März 1848 neben den Exponenten anderer Führungsschichten auch einige Spitzenvertreter des Wirtschaftsbürgertums auf dai Plan traten und eine Sanierung dieser Verhältnisse forderten.32 Man darf jedoch nicht verkennen, daß die Unternehmerschaft im Vormärz den Immobilismus der Regierung in einem zentralen Bereich der Wirtschaftspolitik wesaitlich mitgefördert hat: Sie sorgte bei Hofe dafür, daß diejenigen innerbürokratischen Kräfte, die für einen Wechsel im außenwirtschaftliche! Abschirmungssystem durch zollpolitische Oflhung eintratai, sich nicht durchsetztai.33 Insgesamt kann von einer wirtschaftsbürgerlich getragaiai Systemopposition und von einem entsprechenden politischai Macht- und Gestaltungsanspruch um die Jahrhundertmitte nur marginal die Rede sein; vielmehr erweist sich mit der Etablierung des nachrevolutionären Neoabsolutismus erneut, daß die Wiederaufnahme der josefinischen bürokratisch gelenkten Zentralisierungs-, Homogaiisierungs- und Reformtendenzen am ehestai die Bereitstellung derjenigen Rahmenbedingungen gewährleistete, die den Interessai der österreichischai Wirtschaftsbürger in der Linie der bisherigai Entwicklungsbedingungen entsprach.34 Damit stellt sich die Frage nach Zusammaisetzung und Art dieses Unternehmertums sowie die weitere Frage, bis zu welchem Grade man vormärzlich bereits von seiner Integration in eine wirtschaftsbürgerliche Schicht oder gar Klasse sprechen kann.

31

Aktenmäßige Aufarbeitung mit eindrucksvollen Belegen bei Slokar, Geschichte der österreichischen Industrie. 32 Zu den bekannten Szenen im Niederösterreichischen Gewerbeverein Heinrich Reschauer und Moritz Smets, Das Jahr 1848. Geschichte der Wiener Revolution, 2 Bde., Wien 1872, Bd. 1, S. 104-140. Vgl. unten S. 78f. 33 Darstellung der vergeblichen Zollreformversuche ab 1841 bei Adolf Beer, Die österreichische Handelspolitik im neunzehnten Jahrhundert, Wien 1891 (Nachdruck Wien 1972), S. 16-25. Vgl. auch Julius Marx, Die wirtschaftlichen Ursachen der Revolution von 1848 in Österreich, Graz-Köln 1965, S. 41-50. 34 Dazu Brandt, Neoabsolutismus, Bd. 1, Kapitel 3 u. 4; vgl. auch Matis, Österreichs Wirtschaft 1848-1913, S. 30-49; ders., Leitlinien der österreichischen Wirtschaftspolitik, in: Brusatti (Hg ), Die wirtschaftliche Entwicklung, S. 30-38.

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Die theresianisch-josefinische Industriepolitik führte zu einer Fülle von Manufakturgründungen und induzierte damit auch in Österreich die Phase der „Protoindustrialisierung", in der neben die traditionellen Formen des Handwerks und der dezentralisierten Heimarbeit nunmehr die Konzentration arbeitsteiliger Fertigung in Fabrikräumen trat, wobei die alten und neuen Produktionsweisen häufig organisatorisch verbunden wurden. Die historische Bedeutung dieser Übergangsphase lag auch in Österreich in einer neuen Art der Konditionierung und Disziplinierung ungelernter Arbeitskräfte aus den städtischen, vor allem aber ländlichen Unterschichten sowie in der mit viel Lehrgeld erkauften Einübung neuartiger unternehmerischer Fähigkeiten.35 Umfang und Verteilung der Manufakturen sind durch die Arbeiten österreichischer und tschechischer Historiker gut erforscht.36 Von den um 1790 mit 317 bezifferten Manufakturen entfiel etwa die Hälfte auf dai textilen Bereich. Geographische Schwerpunkte waren Nordböhmen und das Prager Becken mit der überlieferten Leinen- und der modernen Baumwollindustrie, Brünn mit der ebenfalls auf heimischer Grundlage basierenden Wollindustrie, dann vor allem Wien, das Wiener Becken und die weitere niederösterreichische Umgebung mit einer relativ breiten Palette von Branchai (Eisen- und Metallverarbeitung, Lederwaren, Papierindustrie und Druckgewerbe, Farben und Seifen), jedoch ebenfalls mit einem deutlichen textilindustriellen Schwergewicht: hier neben der Baumwoll- insbesondere die Seidenverarbeitung. Die übrigen Alpenländer blieben hinter dieser Entwicklung deutlich 33 Das Konzept der Protoindustrie als Übergangsphase wird für Österreich diskutiert von Herman Freudenberger, Die protoindustrielle Entwicklungsphase in Österreich. Proto-Industrialisierung als sozialer Lernprozeß; Alois Mosser, Protoindustrialisierung. Zur Funktionalität eines Forschungsansatzes, beide in: Matis (Hg ), Von der Glückseligkeit des Staates, S. 355-381, 383-410. Von grundlegender Bedeutung auch Herman Freudenberger und Gerhard Mensch, Von der Provinzstadt zur Industrieregion (Brünn-Studie). Ein Beitrag zur Politökonomie der Sozialinnovation, dargestellt am Innovationsschub der industriellen Revolution im Räume Brünn, (= Studien zum Wandel von Gesellschaft und Bildung im 19. Jh., 13), Göttingen 1975. 36 Herbert Hassinger, Der Stand der Manufakturen in den deutschen Erbländem der Habsburgermonarchie am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Lütge (Hg.), Die wirtschaftliche Situation in Deutschland und Österreich, S. 110-176; Otruba, Verwaltung, Finanzen, Manufakturen, in: Zöllner (Hg.), Österreich im aufgeklärten Absolutismus, insbes. S. 112-121, Karte S. 117, Verweis auf weitere eigene Arbeiten S. 103; Arnost Klima, Die Textilmanufaktur im Böhmen des 18. Jahrhunderts, in: Histórica 15 (1967), S. 123-181; ders., The Role of Rural Domestic Industry in Bohemia in the 18th Century, in: EconHistRev. 2. Folge 27 (1974), S. 48-56.

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zurück, abgesehen von der Baumwollmanufaktur in Vorarlberg und einigen Ansätzen im Raum von Klagenflirt und Graz.31 Als Träger dieses Prozesses traten in den Anfangen, und dies vor allem in dai böhmischen Ländern, altadelige „Unternehmer" auf.3' Auf die traditionelle Rolle des böhmischen Adels als Besitzer von Bergwerken, Eisenhütten, Hämmern und Glashütten wurde bereits hingewiesen, wobei Besitz keineswegs unternehmerische Tätigkeit bedeuten mußte, die grundherrlichen Rechte vielmehr die Basis für Herrschafts- und Besitzeinkommen bildeten. In ähnlicher Weise gehört die traditionelle Lizenzvergabe an - zumeist auswärtige - Leingarn- und Leinwandaufkäufer bzw. Verleger39 in die Nähe der Zwangs- und Bannrechte als Quelle für Einkommensbildung. Auch die im 18. Jahrhundert einsetzende Einrichtung herrschaftlicher Manufakturen, bei der im Bereich der Textilindustrie der Manufakturbetrieb für gewöhnlich mit dezentraler Massalheimarbeit kombiniert wurde, erwächst aus diesem Umfeld der unternehmerischen Nutzung überkommener Herrschaftsrechte, waren doch die Frondienstverpflichtungen (Robot) und bis 1781 auch die Einschränkung der Freizügigkeit im Rahmen der Hörigkeit („Leibeigenschaft") wesentliche Grundlagen dieser Betriebe.40 Neben 37

Zur Analyse von Hassinger (Anm. 36) die Karte 'Manufakturenbestand' bei Otruba, in: Zöllner (Hg.), Österreich im aufgeklärten Absolutismus, S. 117. 38 Zum folgenden außer den Arbeiten von Hassinger, Otruba und Klima (vgl. Anm. 36) Josef Menischi, Unternehmertypen des Merkantilzeitalters, in: Matis (Hg.), Glückseligkeit des Staates, S. 341-354. 39 Plastische Beschreibung des Aufkauf- und Exportsystems (v.a. auch Veredelungsexport nach Schlesien) und der daran beteiligten oberdeutschen und schlesischen, dann auch englischen Gam- und Rohleinenaufkäufer sowie des Entstehens einer einheimischen Kleinverlegerschicht bei Klima, Rural Domestic Industry in Bohemia, in: EconHistRev. 27 (1974), S. 48ff.; vgl. auch ders., English merchant capital in Bohemia in the 18th century, in: EconHistRev. 12 (1959/60), S. 34-48. 40 Zusammenstellungen bei Hassinger, Manufakturen, S. 15Off., Klima, Die Textilmanufaktur in Böhmen des 18. Jhs., in: Histórica 15 (1967), S. 123-181. Die traditionelle Leingarn- und Leinwanderzeugung fand nur selten den Übergang zur Manufaktur; hier sind die Grafen Kinsky und Harrach, femer die staatliche Manufaktur Pottenstein unter der Leitung des Schlesienflüchtlings Graf Chamaré anzuführen. (Über die Tätigkeit des letzteren und die Bemühungen, nach dem Verlust Schlesiens die Leinwandveredelung in den verbliebenen böhmischen Ländern zu etablieren, vgl. Klima, Textilmanufaktur in Böhmen, in: Histórica 15, S. 154-181.) Für die Wollverarbeitung ist vor allem die schon seit 1715 bestehende Oberleutensdorfer Manufaktur der Grafen Waldstein zu nennen, daneben Graf Lazansky und Graf Haugwitz. Der entscheidende Durchbruch zur adeligen Manufaktur vollzog sich ab der Mitte des Jahrhunderts in der Baumwollbranche: Hier traten die Fürsten bzw. Grafen Auersperg, Kinsky, Rottenhan, Bolza, Blümegen, Kaunitz prominent hervor.

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dem Wunsch nach Modernisierung und Diversifikation der Einkommensquellen spielten höfische Anregungen und Wünsche im Rahmen der merkantilpolitischen Zielsetzungen bei der Anlage dieser Manufakturen eine erhebliche Rolle; Vasallentreue, Kavalierspflicht, dienstliche Abhängigkeit und höfische Prestigeerwägungen vermischten sich mit dem im engeren Sinn ökonomischen Gewinnmotiv. Die Adeligen, häufig Inhaber wichtiger Amter, wurden auf diese Weise selbstverständlich nicht zu gewerblichen Unternehmern,41 jedoch gibt es einige Fälle eines bedeutsamen unternehmerischen Engagements und betrieblichen wie technischen Interesses.42 In aller Regel lag das betriebliche und kaufmännische Management wie beim übrigen Domani um in der Hand von Patrimonial- oder Wirtschaftsbeamten bzw. eigens engagierten Fachkräften. Dai Aristokraten selbst blieben nur die wichtigsten unternehmen sehen Entscheidungen vorbe41

Vgl. die Bemerkungen bei Hassinger, Manufakturen, S. 128f.; ferner Freudenberger und Mensch, Brünn-Studie, S. 600°.; Menischi, Unternehmertypen des Merkantilzeitalters, in: Matis (Hg.), Glückseligkeit des Staates, S. 342fif. So auch Herman Freudenberger, Progressive Bohemian und Moravian Aristocrats, in: Stanley B. Winters u. Joseph Held (Hg.), Intellectual and Social Developments in the Habsburg Empire from Maria Theresia to World War I. Essays dedicated to Robert Α. Kann, New York-London 1975, S. 115-130, S. 126f. Es geht bei diesen Urteilen um das Problem der Unternehmertätigkeit im strikten Sinn. Damit soll selbstverständlich nicht die Aufgeschlossenheit dieses Adels fur ökonomische Modernisierung zugunsten von Einkommais- und Statussicherung bestritten werden, wie dies in treffender Polemik gegen das Schema Feudalismus vs. Kapitalismus und in Einklang mit der aktuellen Adelsforschung von Ralf Melville in seinen Forschungen betont wird, (ders., Grundherrschaft, rationale Landwirtschaft und Frühindustrialisierung, in: Matis (Hg.), Glückseligkeit des Staates, S. 295-313.) 42 Hier ist vor allem Franz Stephan von Lothringen zu nennen, der selbst Manufakturen in Ober-Ungarn und Mähren besaß. Zu ihm Hanns Leo Mikoletzky, Franz Stephan von Lothringen als Wirtschaftspolitiker, in: MÖSTA 13 (1960), S. 231257; ders., Holies und Sassin, die beiden Mustergüter des Kaisers Franz I. Stephan, in: MÖSTA 14 (1961), S. 192-212. Vgl. auch die Hinweise zu Graf J.L. Harbuval v. Chamaré in Anm. 40. Redlich, Unternehmer, S. 317, spricht auch dem Grafen Joseph Maximilian Kinsky herausragende unternehmerische Qualitäten zu; Freudenberger, Bohemian and Moravian Aristocrats, S. 120ff, klassifiziert im gleichen Sinn die Grafen Rottenhan, Buquoy und Sternberg als Unternehmer. Für die nachfolgende Zeit der eigentlichen Industrialisierung (Maschinisierung) ist Hugo Altgraf zu Salm zu nennen, der 1802 persönlich und unter Gefahr Konstruktionszeichnungen fur eine Schafwollspinnmaschine aus England schmuggelte und in Brünn eine Maschinenfabrik errichtete. Mit Fachleuten (Dr. Reichenbach, Florent Robert) betrieb er später die Errichtung von Zuckerfabriken. (Slokar, Geschichte der österreichischen Industrie, S. 328, 606ff; Freudenberger, Bohemian and Moravian Aristocrats, S. 125f. Vgl. auch Anm. 67.) Zu Eh. Johann vgl. unten Anm. 68.

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halten, die sich nun zudem in einem weiteren, Grundherrschaft, Landund Forstwirtschaft u.a.m. umfassenden Rahmen von Vermögensdispositionen abspielten. Es bestand insofern auch kein Unternehmerrisiko existenzieller Art, wie es für den bürgerlichen Unternehmer zumindest in der Aufstiegsphase charakteristisch ist. Vielmehr liefen derartige Vermögensentscheidungen in erheblicher Ferne von der gewerblichen und kaufmännischen Sphäre ab. Diese sozialpsychologische Distanz, die sich bei bürgerlichen Unternehmerfamilien erst nach einigen Generationen unter dem Eindruck von „Feudalisierung" des Lebensstils und mit dem Übergang vom Gewerbe oder Warenhandel zu Vermögensgeschäften einzustellen pflegt, war also im Falle des Unternehmer· Adels von Anfang an gegeben. Als Veranstalter gewerblicher Unternehmungen steht der Adel eher den landesfürstlichen oder „Staats-" Betneben nahe. Dies zeigt sich auch in der Privilegierungs- und Subventionierungspraxis, die die Adeligen nicht zuletzt dai personellen Verflechtungen in der administrativen Sphäre verdankten. Warn die grundherrlichen Manufakturen gleichwohl nicht nur für die protoindustrielle Schulung und Disziplinierung der Arbeitskräfte und die Entwicklung der Betriebsorganisation, sondern im speziellen auch für Herausbildung des Wirtschaftsbürgertums bedeutsam sind, so einerseits wegen der wiederholt anzutreffenden partnerschaftlichen Verbindung des Adels mit Vertretern des bürgerlichen Handels,43 darüber hinaus andererseits wegen der Herausbildung einer Schicht von unternehmerisch tätigen Staats- und Patrimonialbeamten, die dann nicht selten herrschaftliche Manufakturen übernahmen und als moderne Fabriken fortführten oder sich anderweitig als bürgerliche Unternehmer selbständig machten.44 Der Aufstieg eines Teils des Wirtschaftsbürgertums vollzog sich also in

43

In solchen Kompanien verbanden sich kaufmännische Professionalität und der Einsatz von Handelskapital mit der Bereitstellung von Anlagen, Arbeitskräften, Geldkapital und politischen Beziehungen von Seiten des Adels. Beispiele für solche Verbindungen bei Hassinger, Manufakturen, S. 135f., 162; ebenso Mentschl, Unternehmertypen des Merkantilzeitalters, S. 348ff ; vgl. auch Herman Freudenberger, Frühindustrielle Unternehmertypen in Österreich, in: Der Untemehmerbegriff, hg. v. Verein der wissenschaftlichen Forschung auf dem Gebiete der Unternehmerbiographie und Firmengeschichte, Wien 1974 (= Veröffentl. des Vereins..., Heft 4), S.30-35. 44 Beispiele bei Mentschl, Unternehmertypen des Merkantilzeitalters, S. 347f., und Matis (vgl. unten Anm. 58). Zu dieser Grappe allg. Alois Brusatti, Die Stellung der herrschaftlichen Beamten in Österreich in der Zeit von 1780 bis 1848, in: VSWG 45 (1958), S. 505-516.

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engen Beziehungen zu Staat und Grundadel, was die Herausbildung eines genuin bürgerlichen Bewußtseins möglicherweise gebremst hat. Im Wiener Becken, dem Hauptzentrum der protoindustriellen Manufakturentwicklung, mischten sich die Aktivitäten des großen Adels mit denen des Staates und des eingesessenen oder zugewanderten bürgerlichen Handelskapitals.45 (Die Gruppe der eingewanderten außerständischen Vertreter der Haute Finance soll später gesondert behandelt werden.) Hierbei waren Großunternehmen in der Form der Kapitalgesellschaft und auch relativ häufiger Besitzwechsel charakteristisch.46 Daneben trat, statistisch schwer faßbar, eine große Zahl manufakturieller Kleinunternehmen in Erscheinung, bei denen neben den alteingesessenen bürgerlichen Kaufleuten auch das zünftige Handwerk als Ursprung für modernes Unternehmertum stärker zu beachten sein dürfte. Es ist gewiß richtig, daß die merkantilistische und nachmerkantilistische Gewerbepolitik des Staates eine antizünftlerische Stoßrichtung hatte und daß die Zünfte den Einbruch der Manufakturen sowie die damit verbundene Zuwanderung auswärtiger Fachkräfte in die städtische Sphäre abzuwehren trachteten.47 Gleichwohl zeigen 43

Übersicht bei Hassinger, Manufakturen, S. 130-148. Genannt seien die Kottonmanufaktur Schwechat, gegründet 1724 von der Orientalischen Handelskompanie, später im Besitz eines Wiener GroßhändlerKonsortiums; die Kottonmanufaktur Friedau bei St. Pölten, die vom Wiener Bankier Graf Fries 1752 gegründet und aufgestockt wurde (über ihn als Vertreter der Haute Finance s.u. S. 72f ), der später als Teilhaber den Augsburger Unternehmer J.H. Schüle aufnahm; die 1765 in Kettenhof bei Schwechat vom mährischen Hofkanzler Graf Blümegen mit Wiener Großhändlern gegründete Baumwollmanufaktur, die später wiederum Fries als Teilhaber aufnahm; die von dem Wiener Kommunalbeamten Franz Xaver Lang gegründete Baumwollmanufaktur Ebreichsdorf. Wiener Großhändler unter Führung J.G. Schullers übernahmen auch die Sassiner Baumwollmanufaktur Franz Stephans, die dann in den Alleinbesitz von Schullers Stiefsohn und Erben J.B. Puthon überging; Puthon wiederum war Mitbegründer der Haugwitzschen Tuchmanufaktur in Namiest (Mähren). Wechselhaft waren auch die Besitzverhältnisse der Linzer Wollzeugmanufaktur, der größten österreichischen Manufaktur des 18. Jahrhunderts: gegründet 1672 vom Linzer Ratsbürger Sinn, 1717 Übergang an das Wiener Armenhaus, 1724 an die Orientalische Kompanie, 1754 verstaatlicht; ebenso die Besitzverhältnisse der sog. „Nadelburg" bei Wiener Neustadt, die nach privater Gründung 1747 später verstaatlicht, in den 80er Jahren an den ungarischen Magnaten Graf Batthyani verkauft wurde. Auch die Wiener Porzellanmanufaktur und Neuhauser Spiegelfabrik waren private Gründungen und wurden dann verstaatlicht. Die enge Verflechtung von Fürstenstaat, hohem Adel, großbürgerlichen Kapitalbesitzern und Beamten-Unternehmern wird an diesen Beispielen der Großunternehmen abermals deutlich. 46

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So Franz Baltzarek, der damit die Feststellung verbindet, daß Akkumulationsmangel, schulische Barrieren und das Fehlen der wichtigen Transformationsfunkti-

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neuere Forschungen, daß die Zahl der Handwerker unter den privilegierten „Fabrikanten" der theresiamsdi-josefinischen Periode sehr ansehnlich war.4' Die dynamischeren Vertreter des altständischen Bürgertums trugen also aus sich heraus zu seiner Erosion bei. Dies gilt vor allem für das Wiener Becken und die Gewerbelandschaften der böhmischen Länder, proportional zur allgemeinen Wirtschaftsentwicklung aber audi für die Alpenländer.49 Sdir viel besser erforscht ist der Anteil, den die Einwanderung selbständiger und unselbständiger Fachkräfte aus dem Ausland an der Industrialisierung Österreichs und an der Herausbildung seines Unternehmertums genommen hat. Diese Einwanderung konzentrierte sich on der freien Berufe ein breites einheimisches Unternehmertum nicht aufkommen ließen. (Franz Baltzarek, Staat und Bürgertum im Zeitalter des Kameralismus und Merkantilismus im Habsburgerreich, Typoskr. S. 25f.) 48 Hinweise auf ihre erhebliche Zahl in Wien und die quellenmäßigen und methodischen Schwierigkeiten der Erfassung der „gewachsenen" Manufakturen bei Hassinger, Manufakturen, S. 115f., 130ff., 174ff. Für die böhmischen Länder zeigt Klima (Domestic Industry in Bohemia, in: JoumEconHist. 27 (1974), S. 55f ) das starke Vordringen bürgerlicher Manufakturiers aus handwerklicher und verlegerischer Wurzel im letzten Viertel des 18. Jhs. Eine Neubewertung des Beitrages des alten gewerblichen Bürgertums zur Entstehung des Wirtschaftsbürgertums ermöglichen jetzt die Forschungen Gustav Otrubas und seiner Mitarbeiter Manfred Lang und Harald Steindl für die deutschen Erbländer (die böhmischen Länder ausgeschlossen). (Gustav Otruba (Hg.), Österreichische Fabriksprivilegien vom 16. bis ins 18. Jahrhundert (= Fontes Rerum Austriacarum, Abtlg. 3, Bd. 7), Wien-KölnGraz 1981.) Der statistischen Auswertung der hier ermittelten Privilegierungsfalle kommt ohne Zweifel ein erheblicher Indikationswert für die Genese des Unternehmertums zu (vgl. op.cit. S. 30-40). Danach verteilt sich die soziale Herkunft der Privilegierten während des gesamten Untersuchungszeitraumes für die drei wichtigsten Gruppen wie folgt:

Adlige Händler Handwerker 49

vor 1650 1

1650- 1700- 1720- 1740- 17601700 1720 1740 1760 1780 8 12 3 12 3 6 6 11 21 3 3 13 2 19 16

nach 1780 4 -

Summe 43 47 53

Dies wird auch an der Übernahme herrschaftlicher Manufakturen durch bürgerliche, ursprünglich aus dem Handwerk stammende Unternehmer deutlich. Am prominentesten der Aufstieg der nachmalig größten Textiündustriellenfamilie, Leitenberger in Reichenberg, die, von Färberei und Kattundruck ausgehend, mit dem Kauf der Bolzaschen Manufaktur Kosmanos und deren Umwandlung in eine Fabrik die maschinelle Baumwollindustrie in Böhmen begründete. In ähnlicher Weise und mit analogen Modernisierungsfolgen übernahm F. Römheld die Waldsteinsche Wollmanufaktur Oberleutensdorf. (Hassinger, Manufakturen, S. 152, 155.)

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wiederum vornehmlich, warn auch nicht ausschließlich, auf die Hauptstadt Wien und ihre Region. Einwanderung aus Regional fortgeschrittener Fertigungstechniken, namentlich aus den Niederlanden, Frankreich und Italien für die Woll- und Seidenstofferzeugung, die Färberei und eine Fülle von Branchen der Luxusindustrie waren seit Beginn der Neuzeit eine kontinuierlich beobachtbare Erscheinung;50 sie steigerte sich in der theresianischen Zeit unter den merkantilpolitischen Bedingungen der gezielten (auch illegalen) Abwerbung und Anfangssubventionierung. Die verzweigte Wiener Seidenindustrie wurde zunächst von Italienern aufgebaut, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kamen französische Unternehmer hinzu;51 gegen Ende des Jahrhunderts übernahm die aus Hamburg eingewanderte Familie Hornbostel die Führung.52 Daneben konzentrierte sich die Anwerbung auf englische Fachkräfte der Metallbearbeitung. Daraus ist eine Reihe von Untemehmerfamilien hervorgegangen, von denen hier nur die Familie Rosthorn genannt sei, da sie später in der alpinen Eisenindustrie eine bedeutende Rolle spielte.53 Für dai Aufstieg Brünns als Zentrum der Wollindustrie ist ebenfalls der wichtige Impuls bezeichnend, den die Ansiedlung einer Gruppe von Facharbeitern aus dem Raum Lüttich im Jahre 1764 bedeutete; diese waren von der Regierung zunächst zu Schulungszwek-

50

Herbert Matis (Der österreichische Unternehmer, in: Manegold (Hg ), Wissenschaft, Wirtschaft und Technik, S. 293) linterscheidet drei Immigrationswellen: die romanisch-flandrische Einwanderung von Gewerbetreibenden der gehobenen Textilindustrie Ende des 17. Jhs.; die gezielte Anwerbung z.Zt. der theresianischen Merkantilpolitik; die Einwanderung von Technikern im Zuge der ersten Mechanisierung und Maschinisierung ab 1800. 51 Hierzu materialreich die ältere ungedruckte Wiener Dissertation von Maria Leth, Westeuropäische Manufakturisten und Fabrikanten in Wien in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Diss. Phil. [Masch.] Wien 1933; für die ältere Periode auch Helene Deutsch, Die Entwicklung der Seidenindustrie in Österreich 16601840. (= Studien zu Sozial-, Wirtschafts- und Veifassungsgeschichte, hg. v. Karl Grünberg, Heft 3), Wien 1909. Beispiele für die böhmischen Länder bei Freudenberger, Die protoindustrielle Bitwicklungsphase, in: Matis (Hg.), Glückseligkeit des Staates, S. 366ff. 52 Familienportrait der Hornbostel bei Josef Mentschl u. Gustav Otruba, Österreichische Industrielle und Bankiers, Wien 1965, S. 138-144 (Otruba). Vgl. Anm. 62. 53 Gustav Otruba, Englische Fabrikanten und Maschinisten zur Zeit Maria Theresias und Josephs Π. in Österreich, in: Tradition 12 (1967), S. 365-377. Zu Rosthorn vgl. unten Anm. 68.

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ken nach Iglau geholt, dort aber von den Zunftmeistern vertrieben worden.54 Der Einwanderung ausländischer Fachkräfte ist in der Literatur gern besondere Aufmerksamkeit geschenkt worden, was in der qualitativen Bedeutung der von ihr ausgehenden innovatorischen Impulse zweifellos gut begründet ist. Doch ist die Migration von wagemutigen Talenten ein durchaus allgemeines Phänomen und ihre Aufnahme keine genuin österreichische Besonderheit.55 In quantitativer Hinsicht darf der ausländische Anteil an dem entstehenden Wirtschaftsbürgertum des 18. Jahrhunderts nicht überschätzt werden. Die von Gustav Otruba ermittelten Zahlen der Fabriksprivilegien weisen für das 16. bis 18. Jahrhundert insgesamt eine Ausländerquote von etwa einem Viertel der Privilegierten aus, bei einem deutlichen Höhepunkt der Privilegierungen (von In- wie von Ausländern) in der Zeit zwischen 1740 und 1760.56 Mit der Mechanisierung, dem Maschineneinsatz zunächst auf der Basis der Wasserkraft, dann der Dampfkraft begann der Prozeß der Industrialisierung im eigentlichen Sinne. Er setzte um 1800 im Bereich der Baumwollspinnerei ein, entfaltete sich im Schutz des kontinentalen Systems und ergriff - nach Überwindung der schweren Konjunktureinbrüche des Nachkriegsjahrzehnts - weitere Teile der Textilindustrie, zog das Entstehen einer Maschinenbauindustrie nach sich, drang auch in die Hüttenindustrie ein und leitete mit den ersten Eisenbahnbauten des Vormärz den Durchbruch des industriellen Systems ein.57 Ein Teil der Groß-Manufakturen des 18. Jahrhunderts samt dem 54

Dazu zuletzt Freudenberger, Brünn-Studie, S. 72f. So auch Freudenberger, Die protoindustrielle Entwicklungsphase, in: Matis (Hg.) Glückseligkeit des Staates, S. 375f. 56 Otruba, Österreichische Fabriksprivilegien, S. 38ff Demnach Herkunft nach Nationalität: 55

Inländer Ausländer 57

vor 1650 2 1

16501700 21 -

17001720 24 9

17201740 11 8

1740- 17601760 1780 43 19 17 4

nach 1780 3 1

Summe 123 40

Vgl. die in Anm. 8 genannte Lit. Die Bedeutung der 20er Jahre als Beginn der Industrialisierung wird betont von Komlos, Habsburgermonarchie als Zollunion, Kap. 3; fiir Böhmen von Jaroslav Purs, The Industrial Revolution in the Czech Lands, in: Histórica 2 (1960), S. 183-303. Die Industrialisierung ab dem Ende des 18. Jhs. mit Betonung des Epochenjahres 1781 (Aufhebung der Hörigkeit) zeigt auf: Arnost Klima, Industrial Growth and Entrepreneurship in the Early Stages of Industrialization in the Czech Lands, in: JoumEuropEconHist. 6 (1977), S. 549-

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angeschlossenen Heimarbeitssystem fand mit dem Aufkommen der Fabriken sein Ende, ebenso geriet die traditionelle Leinenindustrie und ihre Verlagsorganisation in eine Dauerdepression, die ihren Untergang einleitete. Der andere Teil der Groß-Manufakturen wurde in Fabriken umgewandelt, sei es, daß die bisherigen Besitzer allein oder in Gesellschaftsform die dazu erforderlichen Investitionsmittel aufbrachten, sei es im Zusammenhang mit dem Übergang der Unternehmen an bürgerliche Fabrikanten. Diese rekrutierten sich aus der Schicht der Verleger und wesentlich auch der manufakturiellen Werkmeister und Techniker mit handwerklichem Hintergrund. Danebai standen Neugründungen aus demselben sozialen Umfeld. Ein Großteil der Kleinmanufakturen v.a. Wiens und des Wiener Beckens lebte unter partieller Mechanisierung noch Jahrzehnte weiter.58 Mit dem Bezug der erforderlichen maschinellen Ausrüstung zumeist aus England ging von Anfang an die Einwanderung ausländischer Fachleute einher; es kam zu einem neuerlichen Immigrationschub unternehmerischen Potentials.39 Der Engländer John Thornton aus Manchester errichtete 1801 als Beauftragter einer Kapitalgesellschaft in Pottendorf/Niederösterreich die seinerzeit größte Baumwollspinnerei des Kontinents und begründete bald darauf auf eigene Rechnung mehrere weitere Spinnereien.60 Die Schweizer Bankiersfamilie 574. Als Materialsammlung und Auflistung von Unternehmen grundlegend Slokar, Geschichte der österreichischen Industrie, 2. Buch; zahlreiche Rückbezüge auf die Restaurations- und Vormärzzeit feiner in dem Jubiläumswerk: Die Großindustrie Österreichs. Festgabe zum glorreichen 50jährigen Regierungsjubiläum Sr. M. des Kaisers Franz Josef I., 5 Bde., Wien 1898. ' 8 Zu den Schicksalen der großen Manufakturen vgl. die zahlreichen Einzelangaben bei Hassinger, Manufakturen; zur Statistik nach 1800 ebendort S. 174ff. Zur Manufaktur als Schule fur künftige bürgerliche Unternehmer Herbert Matis, Über die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse österreichischer Fabrik- und Manufakturarbeiter um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: VSWG 53 (1966), S. 433-476; eine Fülle von Einzelnennungen auch bei Gustav Otruba, Österreichs Industrie und Arbeiterschaft im Übergang von der Manufaktur- zur Fabrikepoche (1790-1848), in: Österreich in Geschichte und Literatur 15 (1971), S. 569-604; für die böhm. Länder ausführlich Klima, Industrial Growth and Entrepreneurship, in: JournEuropEconHist. 6 (1977), S. 549-574 passim. " Vgl. Anm. 50. Beispiele auch bei Matis, in: VSWG 53 (1966), S. 447ff. 60 Die Gründung dar Spinnerei Pottendorf stand unter der Führung der Kommerzial-, Leih- und Wechselbank Wien (dazu unten Anm. 84), in deren Auftrag 1801 der englische Spinn- und Maschinenmeister J. Thornton angeworben und zugleich eine größere Anzahl von Spinnmaschinen importiert wurden. Unabhängig hiervon hatten böhmische Industrielle, allen voran J. Leitenberger, bereits zuvor mechanische Baumwollspinnereien für den Eigenbedarf der Tuchherstellung eingerichtet

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Fries61 vollzog ebenso wie die schon erwähnten Hornbostel62 den Übergang zur Fabrikindustrie. Die ursprünglich schottische Familie Skene gründete Wolltuchfabriken und bekam das Militärmonturswesen in die Hand;63 die im Baumwollgeschäft tätigen Coith stammten aus Sachsen;64 zu den beiden bedeutendsten nordböhmischen Industriellenfamilien Liebig und Leitenberger trat der Breslauer Lindheim.65 Eine der bekanntesten Industriellenfamilien der Franz-JosephZeit, die Schoeller, transferierten ihr Vermögen 1919 von Düren nach und die nötigen Maschinen am Ort selbst konstruieren lassen. (Vgl. Anm. 67). Die Pottendorfer Spinnerei war die erste, die die Massenproduktion für dai Markt aufnahm. Thornton selbst und seine Nachkommen gründeten in den nächsten Jahrzehnten vier weitere Baumwollspinnereien im Wiener Raum. (Zu den Vorgängen Slokar, Geschichte der österreichischen Industrie, S. 183fE, 280-286 passim.) 61 Vgl. unten Anm. 76. 62 Vgl. oben Anm. 52. Der erste Vertreter, Cornelius C.G. Hornbostel, Sohn eines Hamburger Geistlichen, wird von dem ebenfalls aus Hamburg stammenden Seidenfabrikanten E. König 1768 als Betriebsleiter nach Wien geholt, übernimmt den Betrieb nach dem Tode Königs und macht ihn zur größten Seidenmanufaktur Wiens. 1772 Nobilitienmg. Sohn Christian G. (1778-1841) tritt nach Studienreisen in Italien, Frankreich (v.a. Lyon), Deutschland in den Betrieb ein und stellt ihn ab 1811 auf mechanischen Fabrikbetrieb um, Auslagerung nach Leobersdorf. Enkel Theodor F. (1815-88): Studium der Mechanik am polytechn. Institut, Studienreisen Frankreich, Deutschland, Betriebsübernahme 1841. Der erste bedeutende bürgerliche Wirtschaftspolitiker Wiens: führende Rolle im nö. Gewerbeverein und in der kommunalen 48er Bewegung, Handelsminister 1848, Mitglied des Kremsierer Reichstages, im Neoabsolutismus Handelskammerpräsident, Wiener Gemeinderatsmitglied, Gründer der Wiener Handelsakademie, Kirchenvorstand der evangelischen Gemeinde Wiens, Mitbegründer der nö. Escompte-Gesellschaft, dann der Credit-Anstalt, seit 1861 in der Direktion der CA, in mehreren Aufsichtsräten von Eisenbahnen und Industriegesellschaften. 63 Als Textil Unternehmer Übersiedelung aus Belgien nach Mähren um 1830; Gründung von Feintuchfabriken in Eibenschütz und Brünn. Handelskammer-, Kommunal· und Abgeordnetentätigkeit. Ab 1870 Monturserzeugung in Wien, Investition in Zuckerfabriken. (Rudolf Granichstaedten-Cerva, Josef Mentschl, Gustav Otruba, Altösterreichische Unternehmer, Wien 1969, S. 116f.) 64 Chr. H Edler v. Coith, Einwanderung aus Sachsen, Großhändler, 1820 Gründung einer Baumwollspinnerei in Fahrafeld (Raum Wien), Mitbegründer des nö. Gewerbevereins u. führende Stellung. (Slokar, Österreichische Industrie, S. 283, 286, 2 2 l f ) 65 Baumwollhandel 1825, Spinnerei in der Grafschaft Glatz (Preuß. Schlesien). 1839 Gründung einer Baumwollspinnerei im Kreis Königgrätz. In den 40er Jahren Übergang zu Eisenerzeugung (Kauf der Josephihütte, Kreis Pilsen), Einrichtung von Walzstraßen, Schienenerzeugung, in den 50er Jahren Eisenwerke auch in Preuß. Schlesien, Mitbegründung der Prager Eisenindustrie-Gesellschaft und verschiedener Bahngesellschaften. (Benedikt, Die wirtschaftliche Entwicklung, S. 38f.)

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Österreich und begründeten die größten Wolltuchfabriken Brünns; die Standortverlagerung sollte dai Absatz in Oberitalien nach dessen Einbeziehung in das österreichische Prohibitivsystem weiterhin sichern.66 Im Umkreis der mechanisierten Textilindustrie entwickelte sich zur Importsubstitution bald ein einheimischer Maschinenbau, der anfanglich ebenfalls sehr stark von englischen Fachkräften und dann auch von englischen Unternehmern getragen wurde.67 Sehr viel zäher ließ sich die Modernisierung der Hüttenindustrie im Alpengebiet an, bedingt durch die Standortprobleme - vor allem dai Steinkohlemangel und das (notgedrungene) Festhalten an Holzkohlenverhüttung und Frischen. Hier waren es Mitglieder der schon genannten englischen Familie Rosthorn, die (auf Braunkohlebasis) die erste Anlage von Puddelöfen und Walzwerken errichteten. Heimische Unternehmer nahmen diese Modernisierungsimpulse rasch auf.68 66

Auch in dieser Familie wurde die Sphäre der Textilindustrie schon im Vormärz überschritten. Alexander (1862: von) Schoeller übernahm um 1830 die kaufmännische Vertretung der Brünner Fabriken in Wien, begründete eine Großhandelsfirma für allg. Waren- und Effektenhandel; gründete 1843 zusammen mit Krupp die Berndorfer Metallwarenfabrik; ab den 50er Jahren folgten Gütererwerb und Anlage von Zuckerfabriken, Mühlen, Brauereien und (zusammen mit dem aus Solingen eingewanderten Bleckmann) weiteren Eisen- und Stahlwerken in Form von Kapitalgesellschaften. (Menischi u. Otruba, Österreichische Industrielle, S. 96ff.) 67 Übersicht bei Slokar, Geschichte der österreichischen Industrie, S. 609-623; ferner das Jubiläumswerk Die Großindustrie Österreichs, Bd. 3. Arnost Klima, Hie Beginning of the Machine-Building Industry in the Czech Lands in the First Half of the 19th Century. A Study of the Influence of the English Industrial Revolution on the Continent, in: JoumEuropEconHist. 4 (1975), S. 49-78. Hier detaillierte Schilderung der Entwicklungsstufen: Maschinenimport, Blaupausenschmuggel, Anwerbung englischer Fachkräfte durch die führenden Textilindustriellen in Nordböhmen und Brünn, Schulung heimischer Fachkräfte und Etablierung selbständiger Maschinenfabriken. Femer zahlreiche Nennungen und Beschreibungen bei Klima, Industrial Growth and Entrepreneurship, in: JoumEuropEconHist. 6 (1977), S. 553-573 passim. 6 " Matthäus Rosthom (1721-1805) gehörte zu den unter Maria Theresia angeworbenen englischen Metallfabrikanten (Nobilitierung 1790). Seine Söhne (Matthäus, August, Franz) kauften 1826 Kärntner Kameralherrschaften mit dazugehörigen Montanwerken und Braunkohlegruben und übertrugen ab 1832 das PuddelVerfahren nach Österreich. Die Puddelöfen und Walzstraßen zu Prävali (1836) konzentrierten sich vor allem auf die Eisenbahnschienenerzeugung. Die größten einheimischen Eisenerzeuger Kärntens, Dickmann, Rauscher und Grafen Egger, verharrten bei den herkömmlichen Techniken, wobei Egger bereits um die Jahrhundertwende Blechwalzwerke entwickelte. In der Steiermark gab Eh. Johann schon in den 20er und 30er Jahren Modernisierungsimpulse, die sich neben technischen Fragen vor allem auf besitzrechtliche und betriebliche Straffung und Verbes-

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In Böhmen und Mähren, wo Erz und Kohle bei schlechteren Erzqualitäten günstiger zugeordnet waren, knüpfte sich die Einführung dieser modernen Verfahren an die Übernahme von Witkowitz durch das Haus Rothschild.69 All diese Gründungen standen mit dem beginnenden Eisenbahnbau in Zusammenhang, der auch der Geburtshelfer bedeutsamer Maschinenbaunternehmen70 wurde, und dessen Probleme sogleich zu erörtern sind. serung der genossenschaftsähnlich arbeitenden und inzwischen rückständigen Vordernberger Radmeisterkommunität bezogen. Eh. Johann war, wenngleich Anteilseigner, nicht eigentlich Unternehmer, sondern quasi-obrigkeitlicher Förderer und Landesentwickler. (Über Eh. Johann zuletzt die Kurzbeiträge in dem Ausstellungs-Begleitband Grete Klingenstein (Hg.), Erzherzog Johann von Österreich. Beiträge zur Geschichte seiner Zeit, Graz 1982; darin A. Weiß, HJ. Köstler u. O. Pickl, mit Lit.) Der Hauptträger des steirischen Eisenerzbergbaus, die Innerberger Hauptgewerkschaft, war staatlich. Unter diesen Rahmenbedingungen begann in der eisenverarbeitenden Industrie der Steiermark modernisierendes Unternehmertum mit der Familie Mayr (-Meinhof, nobilitiert 1859/1872). Nach Ausbildung in England experimentierte Franz Mayr junior in Zusammenarbeit mit dem Maschinenbauer John Haswell (vgl. Anm. 70) mit dem Puddel-Verfahren, das 1837 auf der familieneigenen Franzenshütte zu Donawitz eingeführt wurde; in der Folge Ausbau der Walzstraßen und starke Expansion. (1872 Rückzug der Familie aus der Montanindustrie auf Guts- und Forstbesitz.) Daneben der einheimische Montanunternehmer Josef Seßler, der 1838 auf Braunkohlenbasis in Kriglach/Mürztal zusammen mit seinem Schwiegersohn Prevenhueber ebenfalls Puddel- und Walzwerke aufbaute; Prevenhueber ging in der Folge auch zum Lokomotivbau über. Auch die Familie Seßler verkaufte den Industriebesitz 1870 zugunsten von Großgrundbesitz und Nobilitierung. Der dritte modernisierende Großunternehmer der Steiermark, der noch für die Vormärzzeit zu nennen ist, der oberschlesische Industriemagnat Hugo Graf Henckel-Donnersmarck, erwarb 1846 die Montanherrschaften Wolfsberg und St. Leonhard. Der Aufbau modemer Produktionsanlagen (Hütte Zeltweg mit Puddel- und Walzwerken) begann 1851/52. (Vgl. die Schilderungen und Auflistungen bei Slokar, Geschichte der österreichischen Industrie, S. 467487.) Zur Familie Rosthorn vgl. auch Granichstaedten-Cerva, Mentschl, Otruba, Altösterreichische Unternehmer, S. 98ff. Steirische Unternehmerportraits bei Ferdinand Tremel (Hg ), Steirische Unternehmer des 19. und 20. Jahrhunderts, Graz 1965; zur Gesamtentwicklung ders., Die Rolle des Unternehmers in der industriellen Revolution am Beispiel der Steiermark, in: Tradition 15 (1970), S. 67-83. 69

Das Eisenwerk Witkowitz war im Besitz des Erzbistums Olmütz, wurde zunächst von Rothschild und Geymüller gepachtet und ging dann in den Besitz von Rothschild über. Die Modernisierungsmaßnahmen im Zusammenhang mit der Schienenerzeugung (erster Kokshochofen der Monarchie, Puddelöfen und Walzwerke) wurden ebenfalls von englischen Fachkräften bewerkstelligt. (Klima, Beginning of Machine-Building Industry, in: JournEuropEconHist 4 (1975), S. 69. Zu Witkowitz Hundert Jahre Eisenwerk Witkowitz, 1828-1928, Witkowitz 1928.) 70 So die Lokomotivfabrik der Wien-Raaber Eisenbahngesellschaft (1840), ebenfalls unter der Leitung eines Engländers, John Haswell; im selben Jahr die Ma-

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Die Namensliste eingewanderter Unternehmerfamilien ließe sich im textilen Bereich wie in zahlreichen anderen Branchen noch erheblich verlängern. Der quantitative Anteil der Zugewanderten an der vormärzlichen Unternehmerschaft Österreichs ist bei dem gegenwärtigen Stand der Forschung nicht genau zu bestimmen; seine Ermittlung bietet auch insofern methodische Schwierigkeiten, als Unternehmen unterschiedlichster Größe schwerlich addiert werden können. Nimmt man die von Johann Slokar zusammengetragenen Betriebslisten als groben Anhaltspunkt, so ergibt sich, daß die Zuwanderung in der textilindustriellen Unternehmerschaft der böhmischen Länder eine kleine Minderheit ausmacht. Für Wien und das Wiener Becken liegt dieser Anteil im Bereich der Textilindustrie deutlich höher bei etwa einem Drittel. Komplementär dazu wurde der Maschinenbau in dai Gewerbezentren Böhmens, Mährens und Niederösterreichs überwiegend, nämlich zu fast zwei Dritteln, von Unternehmern getragen, die aus England und dem außerösterreichischen Deutschland, vereinzelt auch aus den beiden Niederlanden und dem Elsaß eingewandert waren.71 Dieser Befund deutet zugleich darauf hin, daß die qualitative Bedeutung der Einwanderung für die österreichische Industrialisierung zweifellos über dai numerischen Aspekt hinausgeht, wenngleich sie schwer meßbar bleibt. Sie liegt in der Übertragung des technischen und unternehmerischen Wissens aus tendenziell fortgeschrittenen in relativ dahinter zurückstehenden Wirtschaftsregionen, sodann in dem Wirksamwerden jener spezifischen Dynamik des Verhaltens, die sozialpsychologisch aus der Einwanderungssituation als solcher erwächst. Dies ist eine allgemeine, im Horizont der „economic backwardness" deutbare Erscheinung im Industrialisierungsprozeß, die sich mehr oder minder ausgeprägt allerorten im Rahmen des generellen europäischen West-Ost-Gefälles beobachten läßt. Von der Existenz ausgeprägter Unternehmereinwanderung auf ein Defizit autoch-

schinenfabrik der Wien-Gloggnitzer Eisenbahngesellschaft mit englischer Werkzeugmaschinenausrüstung; femer die Werkstätte der Nordbahn, die Lokomotivund Dampfmaschinenfabrik Prevenhueber, Günther & Armbruster in Wr.-Neustadt (1840) und die Lokomotivfabrik des Amerikaners William Norris in Wien (1851 Übergang an den Niederösterreicher Georg Sigi, seit 1832 Fabrikant von Schnellpressen). (Slokar, Geschichte der österreichischen Industrie, S. 617ff.) 1 Slokar, Geschichte der österreichischen Industrie, S. 279-358 passim, 394-407, 609-623. Die aktenmäßige Erhebung aller Fabrikprivilegienerteilungen zwischen 1800 und 1848 und ihre personengeschichtliche und statistische Auswertung ist ein Desiderat.

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thoner unternehmenscher Kapazität in Österreich zu schließen, wie dies gelegentlich geschieht72, ist kaum zulässig. Im Rahmen der Frühgeschichte des österreichischen Wirtschaftsbürgertums ist schließlich nach der Rolle der Haute Finance zu fragen, einer Unternehmergruppe, die wir als relativ isoliertes Phänomen bislang aus unserer Analyse weitgehend ausgeschlossen haben. Sie bildete innerhalb des 1774 obrigkeitlich reorganisierten „Gremiums der Großhandlungshäuser"73 diejenige Gruppe besonders vermögender Handels- und Wechselhäuser, die das Staatsgeschäft in der Hand hatte. Nach der Periode der frühen jüdischen Hoffaktoren, der Oppenheimer und Wertheimer,74 war im späteren 18. Jahrhundert in Wien eine calvinistische Schweizer Gruppe von Bankiers hochgekommen, die ihr Vermögen v.a. durch Heereslieferungsgeschäfte und in Kreditgeschäften mit dem Staat und dem hohen Adel vermehrt hatten. Die bedeutendsten Familial, die Fries, Geymüller und Steiner, ragten in das 19. Jahrhundert hinein, sie gingen in der Restaurationszeit aus einer Reihe von Gründen, unter denen exorbitanter Statuskonsum eine erhebliche Rolle spielte, in Konkurs.75 Der Anteil der Fries und Geymüller an der österreichischen Manufaktur- und Fabrikentwicklung sowie am Warenhandel war durchaus bedeutsam,76 doch blieben 72

Rothschild, Wurzeln und Triebkräfte, in: Weber (Hg.), Österreichs Wirtschaftsstruktur, S. 28-51 passim. Weitere Beispiele bei Matis, Österreichs Wirtschaft 1848-1913, S. 64ff. 73 Pribram, Geschichte der österreichischen Gewerbepolitik, S. 239-242. 74 Zu den österreichischen Hoffaktoren Heinrich Schnee, Die Hoffinanz und der moderne Staat, Bd. 3, S. 231-249. Jetzt die Gesamtdarstellung von William O. McCagg, A History of Habsburg Jews, 1670-1918, Bloomington 1989. 75 Hanns Leo Mikoletzky, Schweizer Handler und Bankiers in Österreich vom 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Österreich und Europa. Festgabe fur Hugo Hantsch, Graz-Wien-Köln 1965, S. 149-181. Zu Fries und Geymüller vgl. Menischi u. Otruba, Österreichische Industrielle, S. 39-46, 51-57 (mit Lit.). Femer Herbert Matis, Die Grafen von Fries. Aufstieg und Untergang einer Unternehmerfamilie, in: Tradition 12 (1967), S. 484-496; Lucia Welz, Die Familie Geymüller. Über die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation in Österreich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die Bedeutung der Familie Geymüller in dieser Zeit, Diss. [Masch.] Wien 1989. 76 Johann Fries gründete ab 1751 auf der Basis einer Mehrzahl von Privilegiai in und um Wien Wolltuch-, Seiden- und Metallfabriken und engagierte sich im österreichischen Orienthandel. (Für den Staat besorgte er - neben Subsidientransfer, Kriegsfinanzierung und Auflegung von Anleihen - über längere Zeit den levantinischen Münzexport und den Bergwerksproduktenvertrieb.) Seine Witwe beteiligte sich darüber hinaus an der Gründung von Zuckerraffinerien, weiteren Seiden- und Baumwollmanufakturen. Der Sohn Moritz - im wesentlichen Kunstsammler und Mäzen - beteiligte sich an der Einfuhrung der mechanischen Baumwollspinnerei

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diese Engagements eher ein Nebeninteresse neben den zentralen Finanztransaktionen für dai Staat als Hauptquelle der Vermögensbildung. Früher Übergang zu Großgrundbesitz, Vermögens- und Einkommensdiversifikation, Staatsdiaist und Hofiiähe mit der Tendaiz zur geschäftlichen Risikominderung, „Feudalisierung" des Lebensstils rückai diese Familien typologisch eher an dai Hofadel als an das Wirtschaftsbürgertum heran, wie dies in der Erhebung der Fries in dai Grafenstand auch seinen Ausdruck findet. Das Erbe der Schweizer Bankiers tratai die jüdischen Hauser Arnstein & Eskeles77 und dann vor allem Rothschild78 an; daneben gelang dem nach Herkunft griechischen Großhändler Sina,79 der das Tabakliefergeschäft monopolisiert hatte, eine erhebliche Reichtumsbildung. Einige minder reiche jüdische Wechselhäuser runden diese Gruppe ab, die rasch vollständig von Rothschild dominiert wurde. Sie alle waren so gut wie ausschließlich auf die Geschäfte mit dem Staat fixiert und machten den ständigai Anleihebedarf nebai der Vermittlung des staatlichen Zahdurch verschiedene Fabrikgründungen. Geymüller gründete 1833 unter Verwendung englischer und sächsischer Fachkräfte und Maschinen die Kammgarnspinnerei Vöslau und beteiligte sich am Ausbau der Rothschildschen Eisenwerke zu Witkowitz. 77 Die jüdischen Großhändler und Bankiers Arnstein waren seit 1705 in Wien ansässig, nobilitiert 1783/1793. Familie fortgeführt durch Einheirat u. Adoption Heinrich v. Pereiras (portugies.-jüdische Familie, durch Karl VI. nach Wien). Bernhard Eskeles (1753-1839, Sohn eines Wiener Rabbiners, nobilitiert 1797/1810/1822) begann seine geschäftliche Tätigkeit in Amsterdam. 1774 Firmengründung Arnstein & Eskeles. Kriegsfinanzierung, v.a. 1805, 1809; Beteiligung an der Nationalbankgründung und enge Verbindung. Übernahme von Anleihesubmissionen. Im Vormärz Baumwollspinnfabrik in Böhmen, Zuckerraffinerien in Graz und Laibach; dann Engagement im privaten Eisenbahnbau der 40er Jahre, sowie ab 1854 (Reprivatisierung) als Exponent der Gruppe Crédit Mobilier. (Heinrich Schnee, Die Hoffinanz und der moderne Staat, Bd. 4, S. 328-331; Franz, Liberalismus, S. 199f.; Brandt, Neoabsolutismus, Bd. 1, S. 119ff., 310£, 322, 341345 passim, 356.) 78 Zu den Anfangen des Hauses Rothschild in Wien Bertrand Gille, Histoire de la Maison Rothschild, Bd. 1: Des origines à 1848, Genf 1965, S. 84-103. Überblick über die (in aller Regel nobilitierten) jüdischen Familien aus Finanz und Banken bei Georg Franz, Liberalismus. Die deutsch-liberale Bewegung in der Habsburgischen Monarchie, München 1955, S. 198-205. 79 Griechische Familie, Einwanderung aus Bosnien um 1780, Nobilitierung 1818/1832. Orienthandel, Tabaklieferungsgeschäft im Rahmen des staatl. Tabakmonopols, Finanzgeschäfte v.a. in Ungarn, staatl. Anleihegeschäft, Nationalbankleitung. Ausgedehnter Gütererwerb, Eisenbahnkonzessionen und -bau Ende 30er/40er Jahre. Mit Reprivatisierung der Eisenbahnen ab 1854 erneutes Engagement als Exponent der Gruppe Crédit Mobilier. (Franz, Liberalismus, 155-161 passim; Brandt, Neoabsolutismus, Bd. 1, S. 119f., 310f., 316f., 341-345.)

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lungsverkehrs zur entscheidenden Quelle ihrer Gewinne. Daneben spielte die Vermittlung von Anleihen an große Adelshäuser eine Rolle.80 Der Handel mit den Staatspapieren und dai zuletzt genannten Privatobligationen bestimmte den Kurszettel der Wiener Börse. Dieselbe Gruppe beherrschte direkt oder indirekt die 1816 als Aktiengesellschaft mit dem Exklusivprivileg der Notenemission gegründete Österreichische Nationalbank. Auch das Darlehens- und Wechseldiskont- bzw. Rediskontgeschäft dieser Bank war so gut wie ausschließlich im Umfeld der staatlichen Kreditbedürfhisse angesiedelt.81 Für die Aktionäre war diese Banktätigkeit eine Quelle beachtlicher und relativ risikoarmer Gewinne. Schon im Vormärz unterlagen die hieraus resultierenden Währungs- und Kreditverhältnisse heftiger Kritik, die durchaus einen gewerblichen und agrarwirtschaftlichen Interessenshintergrund hatte.82 So wie die Regierung jahrzehntelang Gesuche des Grundadels auf Errichtung provinzieller Hypothekarkreditanstalten verschleppte, so weigerte sie sich beharrlich, Diskontanstalten zu genehmigen oder die Nationalbank zur Eröffnung von Filialen zu zwingen. Für dieses Verhalten waren gegenüber dem Provinzadel politische, im übrigen fiskalische, am Interesse der staatlichen Kreditbedürfhisse orientierte Motive ausschlaggebend. In dieser Linie traf sich das staatliche Verhalten mit dem Interesse der Bankdirektion und der Aktionäre, die kein Bedürfnis nach einer Geschäftsausdehnung in das risikoreichere Feld der gewerblichen Wirtschaft verspürten.83 Ob und wieweit die Absorption des Kredits durch die Staatsbedürfnisse und die ursprüngliche Industrieferne der großen Wechselhäuser die gewerbliche Entwicklung Österreichs gebremst haben, ist selbstverständlich nicht exakt zu beantworten. Die Bedeutung der Fremdfi80

Zu den Adelsanleihen Alois Brusatti, Untemehmensfinanzierung und Privatkredit im österreichischen Vormärz, in: MÖSTA 13 (1960), S. 331-379, S. 342ff.; ähnlich ders., Das Problem der Untemehmensfinanzierung in der Habsburger Monarchie 1815-1848, in: Hermann Kellenbenz (Hg.), Öffentliche Finanzen und privates Kapital im späten Mittelalter und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1971, S. 129-139. Zum Staatsgeschäft der Haute Finance Brandt, Neoabsolutismus, Bd. 1, S. 119-121. 81 Brandt, Neoabsolutismus, Bd. 1, S. 108-114. 82 Albrecht Tebeldi [d.i. Karl Beidtel], Die Geldangelegenheiten Österreichs, Leipzig 1847; [anonym], Soziale und politische Zustände Oesterreichs mit besonderer Beziehung auf den Pauperismus, Leipzig 1847, S. 164; [Carl Moering], Sibyllinische Bücher aus Österreich, 2 Bde; Hamburg 1848, Bd. 1, S. 134f In den Revolutionsjahren dann eine Fülle kritischer Broschürenliteratur. Vgl. Brandt, Neoabsolutismus, Bd. 1, S. 327, 329ff. 83 Brandt, Neoabsolutismus, Bd. 1, S. 32f., 326-336 passim.

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nanzierung von Untemehmensgriindungen durch Darlehen, die auch in Österreich durchaus nicht fehlte,84 ist im deutschen Bereich in Restaurations- und Vormärzzeit ganz allgemein nicht hoch zu veranschlagen;83 auch für Österreich dürfte gelten, daß Eigenmittel, Familienbesitz bzw. Familiendarlehen und Selbstfinanzierung die größte Rolle bei Aufbau und Expansion der frühen Industrie gespielt haben.86 Nimmt man die entsprechenden Klagen zum Maßstab, so dürfte eher ein Mangel an Wechseldiskontmöglichkeiten und seiner Stützung durch zentralbankmäßigen Rediskont das Fortschreiten der verkehrswirtschaftlichen Integration verzögert haben. Erst im nachfolgenden Neoabsolutismus wurden die entsprechenden Institutionen geschaffen.87 Dennoch erfolgte schon im Vormärz auf andere Weise eine bedeutsame Weichenstellung, mit der die Privatbanken an den Industrialisierungsprozeß herangeführt wurden. Dies geschah mit dem Eisenbahnbau, dessen Anfange privatunternehmerisch auf efFektenkapitalistischer Basis organisiert wurden. Rothschild mußte anfanglich durchaus zu einem Engagement gedrängt werden; der Erfolg der unter 84 Dabei ist von den Subventionen und Aerarialvorschüssen der theresianischen Epoche der Industrieforderung abzusehen; diese Praxis wurde seit Josef Π. fast gänzlich abgeschafft. Stattdessen wurde dem Wiener Stadtbanco, der vornehmlich für den staatlichen Finanzbedarf tätig war, 1787 eine „Wiener Commercial-, Leihund Wechselbank" als Abteilung angegliedert, die bis 1811 bestand. Über ihre Tätigkeit in der Finanzierung von Fabrikgründungen vgl. Slokar, Geschichte der österreichischen Industrie, S. 183f., 280 (z.B. Baumwollspinnerei Pottendorf). Bei der Entwicklung der Brünner Textilindustrie im 18. Jh. spielte die 1751 gegründete Mährische Leihbank eine bedeutende Rolle (vgl. Freudenberger, Brünn-Studie, S. 65ff). Sparkassen und Waisenfonds waren auf mündelsichere Anlagen beschränkt, was den gewerblichen Kredit im allgemeinen ausschloß. Zum Ganzen: Brusatti, Untemehmensfinanzienmg und Privatkredit, in: MÖSTA 13 (1960), S. 331-379. 83 In diesem Sinne zuerst Knut Borchardt, Zur Frage des Kapitalmangels in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland, in: Jahrbücher fur Nationalökonomie und Statistik 173 (1961), S. 401-421; Ernst Klein, Zur Frage der Industriefmanzierung im frühen 19. Jahrhundert, in: Kellenbenz (Hg.), Öffentliche Finanzen und privates Kapital, S. 118-128; Karl Heinrich Kaufhold, Handwerk und Industrie 1800-1850, in: Hermann Aubin u. Wolfgang Zorn (Hg ), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 2 Bde., Stuttgart 1971, 1976, Bd. 2, S. 343f. 86

Brusatti, Probleme der Unternehmensfinanzierung in der Habsburger Monarchie 1815-1848, in: Kellenbenz (Hg ), Öffentliche Finanzen und privates Kapital, S. 132ff. 87 Brandt, Neoabsolutismus, Bd. 1, S. 326-351; Matis, Österreichs Wirtschaft 1848-1913, S. 109-118; Eduard März, Österreichische Industrie- und Bankpolitik in der Zeit Franz Josephs I. Am Beispiel der k.k.priv. österreichischen CreditAnstalt für Handel und Gewerbe, Wien 1968.

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Rothschilds Patronage stehenden Nordbahngründung veranlaßte die Häuser Arnstein & Eskeles und Sina dann jedoch, sich über Gesellschaftsgründungen die übrigen von Wien ausgehenden Hauptstrecken zu sichern. Mit dem Eisenbahnbau wurde die Aktiengesellschaft als Unternehmens- und Anlageform und der spekulative Börsenhandel in Bahnwerten mit einem breiteren Publikum zum erstenmal in Österreich populär.88 Freilich erwiesen die nächsten Spekulationskrisen sogleich die Begrenztheit des österreichischen Kapitalmarktes. Die Stagnation des Bahnbaus veranlaßte die Staatsverwaltung in dai 40er Jahren, zum System der Staatsbahnen überzugehen, Streckentorsi aufzukaufen und eine Finanzierung im Rahmen der gewohnten Staatsanleihen zu versuchen. Dieses Experiment scheiterte nach einem weiteren Jahrzehnt jedoch ebenfalls aufgrund der revolutions- und kriegsbedingten Finanzmisere.89 Nun erst erfolgte - unter dem Vorzeichen des politischen Neoabsolutismus - auf breiterer Front der Durchbruch zum Industrialismus, der jetzt ganz wesentlich auf dem Kapitaltransfer aus dem westlichen Ausland beruhte und durch Neugründung von Banken, Verkehrs- und Montangesellschaften vermittelt wurde. Dieser Prozeß führte dai schon bekanntai Unternehmergruppen weitere Schübe ausländischer Financiers, Manager und Techniker zu.90 Der Hinweis auf die neoabsolutistische Gründerzeit zeigt, daß die erste Jahrhunderthälfte in Bezug auf unser Thema kaum als geschlossene Periode betrachtet werden kann, sondern eine Vorbereitungsphase darstellt, die vor allem Ansätze von später zur Entfaltung gelangendai Entwicklungen, aber auch einige strukturbildaide Weichaistellungen aithält. Dies letztere gilt für die staatlichen Rahmenbedingungen, für einige Elemente der ökonomisch-sozialen Mentalität und für die Zusammensetzung der Unternehmerschicht. Von der Herausbildung eines Wirtschaftsbürgertums kann man erst in Ansätzai sprechen. Einmal war die Zahl der Unternehmer gegenüber der Masse der 88

Brusatti, Untemehmensfinanzierung und Privatkredit, in: MÖSTA 13 (1960) S. 362-368. Daneben auch Seeversicherungen und die Schiffahrtsgesellschaft des Österreichischen Lloyd (letztere ebenfalls wesentlich von Rothschild finanziert). 89 Brandt, Neoabsolutismus, Bd. 1, S. 132ff., 315-326, 351-378. Guter Überblick über die ersten Eisenbahnperioden bei Hermann Strach, Geschichte der Eisenbahnen Österreich-Ungarns. Von den ersten Anfangen bis zum Jahre 1867, in: Geschichte der Eisenbahnen der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, 4 Bde. in 5, Wien-Teschen-Leipzig 1898-99, Bd. 1,1, S. 73-503. 90 Benedikt, Wirtschaftliche Entwicklung, S. 23-26, 34-50 passim.

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zünftigen Handwerksmeister noch verschwindend gering; dies trifft übrigais auch für dai textilen Bereich zu. Vor allem aber war die Unternehmerschaft nicht nur nach der Herkunft, sondern auch nach dem weiterhin behaupteten Sozialstatus sdir heterogen zusammengesetzt. Schon hierdurch wurde die Ausbildung eines genuin unternehmerischen Gesamtbewußtseins im wirtschaftsbürgerlichen Sinne auf Dauer gebremst. Hinzu kommt, daß die Industrialisierung, an der Adelige in ansehnlicher Zahl selbst beteiligt waren, in einem politischsozialen Umfeld vonstatten ging, das sdir stark von altadeliger Lebensweise und adelig-höfisch geprägter Residenzkultur geprägt war. Sie und die staatlichen Vorgaben bürokratischer Lenkung bestimmten die Integrationsmuster für eine bürgerliche Unternehmerschicht, deren Aufstieg keine sozial-kulturelle Gegenwelt produzierte, sondern sich als Teilhabe und Anpassung vollzog.91 Ohne hieraus einen überstrapazierten Gegensatz zu anderen europäischen Gesellschaften konstruieren zu wollen, wird man doch sagen, daß die hieraus erwachsenden mentalen Eigenarten das österreichische Wirtschaftsbürgertum stärker bestimmt haben, in Wien gewiß mehr als in Nordböhmen oder Vorarlberg. Aber diese Randzonen sind, fragt man nach den Chancen einer bürgerlichen Gegenkultur, mit dem preußischen Rheinland der Zeit des Frühliberalismus in keiner Wdse zu vergleichen. Das beschriebene Integrationsmuster erfaßte freilich nicht das später aufsteigende tschechische Wirtsdiaftsbürgertum; doch der hiermit verbundene Polarisierungsprozeß gehört erst den letzten Jahrzehnten der Monarchie an.92 Die bis in den Vormärz sich ausbildende Konstellation spiegelt sich auch in den öffentlichen Organisationen der Unternehmer. Die Übertragung der Institution der Handelskammern nach Österreich wurde von der Regierung schon früh blockiert - entgegen gewissen Bemühungen der Kommerzhofkommission. Die ab 1831 als Ersatz eingerichteten Provinzial-Handelskommissionen, in denen unter beamteter Leitung obrigkeitlich ausgesuchte Gewerbetrdbende zu gutachtli91

Vgl. jetzt auch das gleichlautende Urteil bei Ernst Bruckmüller und Hannes Stekl, Zur Geschichte des Bürgertums in Österreich, in: Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, Deutschland im europäischen Vergleich, Bd. 1, S. 160-192. 92 Überblick mit Lit. bei Jiri Koralka und R. J. Crampton, Die Tschechen, in: Wandruszka α Urbanitsch, Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. 3,1, Wien 1980, S. 489-521, hier S. 503-510 passim. Vgl. auch Peter Heumos, Agrarische Interessen und nationale Politik in Böhmen 1848-1889, Wiesbaden 1979, S. 22-69. Forschungsübersicht bei Ji Koralka, Die tschechische Bürgertumsforschung, Bielefeld 1989 (= Univ. Bielefeld, SFB 177, Arbeitspapier 5).

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chen Stellungnahmen und Auskünften herangezogen wurden, ließ man bald wieder eintrocknen, da viele von ihnen zu Plattformen unerwünschter zünftlerischer Agitation wurden.93 Statt dessen wurde dann die Bildung von Gewerbevereinen gefördert, die nach Zusammensetzung und Tätigkeit eher in der Tradition der Patriotischen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts standen. Ihre Bildung stand v. a. im Zusammenhang mit der Ausrichtung von GeWerbeausstellungen: so in Prag 1829/1833 der Verein zur Ermunterung des Gewerbsgeistes in Böhmen, bei dem Josef Graf Dietrichstein im behördlichen Auftrag die Leitung übernahm;94 1837 der Innerösterreichische Gewerbeverein in Graz unter der Leitung Erzherzog Johanns;95 1839 der Niederösterreichische Gewerbeverein auf bürgerliche Initiative, der der Leitung des bekannten Ständepolitikers und Bürgerfreundes Graf ColloredoMannsfeld und dem Protektorat des Kaiserbruders Erzherzog Franz Karl unterstellt wurde.96 Die Aufgaben dieser von gewerblichen Unternehmern und außergewerblichen „hochgestellten Persönlichkeiten" getragenen Vereine konzentrierten sich abseits des Interessenvertretungsgedankens auf das Umfeld von Förderung, Bildung, Belehrung und Ermunterung; auf dieser Ebene waren ihre Leistungen und Wirkungen durchaus hoch einzuschätzen. Die obrigkeitliche Lenkung und Moderierung dieser Vereinsaktivitäten konnte freilich nicht verhindern, daß parallel zur vormärzlichen Ständebewegung auch der Niederösterreichische Gewerbeverein zu einer Plattform wurde, auf der am Vorabend der Revolution angesehene bürgerliche Unternehmer ihre Kritik an dai bestehenden Regie93

Aktenmäßige Darstellung bei Slokar, Geschichte der österreichischen Industrie, S. 114, 198-209, sowie bei Hermann Gerhardinger, Aus der Vorgeschichte der österreichischen Handels- und Gewerbekammem, in: Tiroler Wirtschaft in Vergangenheit und Gegenwart, Bd. 2, Innsbruck 1951, S. 7-127, hier S. 69-99. Jetzt auch Otto Hwaletz, Zur ökonomischen, sozialen und ideologisch-politischen Formierung des industriell-gewerblichen Bürgertums. Das Beispiel der Industrievereine, in: Emst Bruckmüller et al. (Hg.), Bürgertum in der HabsburgerMonarchie, S. 177-204. (Die grundsätzlichen Überlegungen mit Hinblick auf die konkreten österreichischen Erscheinungen sind etwas überdimensioniert.) 94 Slokar, Geschichte der österreichischen Industrie, S. 216f. Vgl. auch Anm. 68. 95 Slokar, Geschichte der österreichischen Industrie, S. 218ff. Vgl. auch Anm. 68. Otto Hwaletz, Zur sozialen Zusammensetzung des innerösterreichischen Industrieund Gewerbevereins, in: ZS Hist. Ver. f. Steiermark 78 (1987), S. 267-276. 96 Paul Müller, Hundertzehn Jahre Österreichischer Gewerbeverein, Wien 1949; Festschrift Hundertfünfundzwanzig Jahre Österreichischer Gewerbeverein, Wien 1964. Vgl. auch Geißler, Entstehung und Entwicklungsgang der Handelskammern, S. 51-55.

Wirtschaftsbürgertum in Österreidi bis 1848

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rungsverhältnissen formulierten.97 Danebai entwickelten sich für die massiveren Formai branchenspezifischer Interessenwahrung auch im Vormärz schon wiederholt Vertretungsausschüsse ad hoc, die nach Form und Funktion die Organisationsfahigkeit der neuen Unternehmerschichten erwiesen." All diese Ansätze vereinigten sich dann in der 48er Revolution in der von Unternehmerseite vorgebrachten und nun auch ohne Schwierigkeiten durchgesetzten Forderung, die Institution der Handels- und Gewerbekammern in Österreich einzuführen. Diese Kammern wurden im Neoabsolutismus rasch zu Instrumentai der damals im Vordergrund stehenden zollpolitischai Auseinandersetzungen mit der Regierung. Die außenwirtschaftlichen Fragen waren am Ende der 50er Jahre dann auch der maßgebliche Entstehungsgrund für branchenbezogene Interessenverbände.99 All das fügt sich in den allgemeinen europäischen bzw. mitteleuropäischen Entwicklungsrhythmus, und zwar mit der auch sonst charakteristischai Phasaiverschiebung im allgemeinen West-Ost-Gefalle. Ganz allgemein lassen sich zahlreiche Erscheinungai der österreichischai Wirtschafts- und Sozialgeschichte in ein solches Phasenmodell der europäischai Entwicklung einordnai und von daher interpretieren. Für eine umfassende Charakteristik des österreichischen Wirtschaftsbürgertums sind daneben jedoch einige strukturelle Momente zu beachten, die m.E. bis zum Ende der Monarchie Bestand haben. Sie ergeben sich zum einen aus den materiellai Rahmenbedingungen einer vorrangig an einem nur langsam sich entwickelnden Binnenmarkt orientierten Wirtschaft. Sozialgeschichtlich sind sie über den Wirtschaftsaspekt hinaus auf das (deutsch-)österreichische Bürgertum insgesamt zu beziehen und lassen sich als Einordnung und Anpassung "Heinrich Reschauer und Moritz Smets, Das Jahr 1848. Geschichte der Wiener Revolution, 2 Bde., Wien 1872, Bd. 1, S. 104-139. Dernö. Gewerbeverein arbeitete in der Folge aktiv an der Errichtung der Wiener Handelskammer mit. Zur Kammergründung Geißler, Entstehung und Entwicklungsgang der Handelskammern, S. 63-95. 98 Am wirkungsvollsten nahmen die Baumwollspinner ihre Interessen durch einen 1826 formlos gegründeten „Ausschuß" wahr, der auch in den 40er Jahren noch aktiv war. Ahnlich hatten sich schon 1817 die Böhmischen Landesfabrikanten (d.h. die Inhaber einer Landesfabrikbefugnis) wie auch die niederösterreichischen priv. Zitz- und Kattunfabrikanten formiert. Später folgten die Rübenzuckerfabrikanten, deren Interessen auf Schutz gegen den Kolonialzuckerimport gerichtet waren. All diese Verbände hatten keine feste Organisationsstruktur und arbeiteten ohne förmliche behördliche Genehmigung. (Slokar, Geschichte der österreichischen Industrie, S. 213ff.). 99 Brandt, Neoabsolutismus, Bd. 1, S. 412-432.

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an vorgegebene Integrationsmuster verstehen, die einerseits höfischaristokratisch und andererseits gouvernemental-bürokratisch bestimmt sind. Deutsch-bürokratischer und deutsch-liberaler Zentralismus bilden so in der zweiten Jahrhunderthälfte einen politischen Verbund aus, in der die Interessen des Großbürgertums am ehesten aufgehoben sind.100

100

Brandt, Liberalismus in Österreich, in: Langewiesche (Hg.), Liberalismus im 19. Jh., S. 136-160. Vgl. auch das Resümee von Mentschl, Das Österreichische Unternehmertum, in: Brusatti (Hg.), Wirtschaftliche Entwicklung, S. 274-277.

Helmut Böhme BERLINER FINANZBÜRGERTUM IM 19. JAHRHUNDERT

Das mir gestellte Thema ist ziemlich weitläufig und anspruchsvoll und nodi keineswegs so aufgearbeitet, daß ich hier ein Überblicksreferat halten könnte. Ich verstehe deswegen meine Ausführungen mehr als Bemerkungen zu einem Problemkomplex, der noch weiterer eingehender Untersuchungen bedarf. Stützen konnte ich mich bei diesem Referat besonders auf die Ergebnisse der Arbeiten von Hartmut Kaelble, Hans Pohl, Walther Däbritz und Fritz Stern, die vielfaltiges Material zu diesem Problemkreis bereitstellen, das ich mit meinem eigenen Quellenstudium verbinden konnte. Dodi idi bin mir bewußt, daß die sdir nah an den Quellen gewonnenen Ansichten eine begrenzte Reichweite haben und zuweilen verwirrend sind. Trotzdem bin ich überzeugt, daß die von mir verfolgte „mittlere Linie", mit exemplarisch ausgewählten Beispielen zu arbdten und sie in den größeren Zusammenhang der „Berlin-Literatur" zu stellen, eine gute Annäherung an die mit dem Thema vorgegebene Fragestellung erbringen wird. Ich gliedere mein Referat in vier Tdle. Im ersten Tdl will ich versuchen, den Status des Berliner Finanzbürgertums in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu umreißen; im zweiten Teil hoffe ich, die Triebkräfte andeuten zu können, die das Bank- und Finanzwesen Berlins ab der Mitte des Jahrhunderts veränderten; im dritten schließlich will ich einen kurzen Eindruck des Berliner Finanzbürgertums im Bismarckrdch geben, um mit einem kleinen Ausblick auf die wilhelminische Zeit im vierten Tdl zu enden. Ich enthalte mich dabd bewußt jeder Debatte über eine Begriffsdefinition oder gar der „Rdchwdte" und des Erklärungsgehalts eines solchen Ansatzes. Ich verstehe dieses Referat als einen Baustein zur Erfassung und Definition einer „bürgerlichen Schicht", nämlich der des „Berliner Finanzbürgertums" als Tdl des deutschen „Wirtschaftsbürgertums". I. Der Berliner Bankier Aron Hirsch Heymann berichtet in seinen Lebenserinnerungen über seine ersten Erfahrungen als selbständiger Bankier: „Am 1. April 1830 etablierte A.H. Heymann in Gemein-

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schaft mit seinem Bruder in dem Hause Unter den Linden No. 23 ein Bank- und Wechselgeschäft. Derartige Geschäfte waren damals noch nicht in zu großer Zahl vorhanden und das neue Etablissement erwarb sich auch bald gute Kundschaft. Es traten aber nach und nach unglückliche Epochen ein, von welchen Anfanger immer schwerer betroffen werden als ältere Häuser. Zuerst kam die Revolution in Frankreich, dann in Belgien, später in Polen, zuletzt der Staatsbankrott in Spanien, welcher im allgemeinen weit größere Verluste nach sich zog, als jene Revolutionen. Denn das Haus Rothschild, dem allein die schlechten Verhältnisse der spanischen Finanzen bekannt waren, belegte ganz Berlin mit den spanischen 3%-Papieren, die bis 45% bezahlt wurden. Durch geschickte Manöver wurden sie lange Zeit auf diesem Kurs gehalten und es war hier kein Kapitalist, der nicht die Hälfte seines Vermögens, ja seine ganze Habe in diesen Fonds angelegt hätte. Denn der Zinsertrag von 6% und darüber, bei gedachtem Kurse war ein Reizmittel zu ihrem Ankauf. Als aber am 1. Oktober 1834 die Zinszahlung aufhörte, da gingen die Papiere bis auf 15% herunter. Rothschild, der sie vielleicht ursprünglich zu diesem Kurse übernommen haben mag, hatte hier seinen Vertreter in der Person des Bankiers S. Bleichröder (Vater des jetzigen Herrn Gerson von Bleichröder). Dieser entschuldigte sich nach dem Krach an der Börse mit den Worten: „Kinder, ich bin ja nur der Agent vom Rothschild, was der mir aufgetragen hat, habe ich ausgeführt."1 Nun, Heymanns Bankgeschäft überlebte diesen Schlag wie auch andere Kräche. Im Zuge des sich ständig ausweitenden Kreditbedarfs der Regierungen und des ab Mitte der 1830er Jahre einsetzenden Eisenbahnbaus konnte sich Heymann als einer der mittelgroßen Bankiers von Berlin etablieren. In den 1860er Jahren verzeichnete sein Haus, das er gemeinsam mit drei Söhnen führte, einen Umsatz von 6-8 Millionen Talem aus dem Bank- und Wechselgeschäft.2 Daneben betrieb Heymann auch den Wollhandel, den er bei seinem Vater, einem jüdischen Wollhändler in Strausberg bei Berlin, von der Pike auf gelernt hatte.3

1 Aron Hirsch Heymann, Lebenserinnerungen (Manuskript 1879) zit. nach: Monika Richarz (Hrsg.), Jüdisches Leben in Deutschland. Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte 1780-1871. Stuttgart 1976. S. 213-235. hier 222. 2 Hartmut Kaelble, Berliner Unternehmer während der frühen Industrialisierung. Berlin 1972. S. 59. 3 Heymann, Lebenserinnerungen.

Berliner Finanzbürgertum

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Zwanzig Jahre jünger als der 1802 geborene Heymann war Moritz Plaut, Sohn eines jüdischen Bankiers in Nordhausen. Nach vierjähriger Lehrzeit bei einem Geldwechsler in Leipzig arbeitete Plaut dann bei seinem Vater. Er wurde schon mit 25 Jahren Leiter der neugegründeten Niederlassung der väterlichen Bank in Berlin. In den 1860er Jahren nahm seine Bank dann einen markanten Aufschwung. Sie engagierte sich in der Gründungstätigkeit von Verkehrsuntemehmen, Eisenbahngesellschaften, Maschinenfabriken und Chemiefabriken. Plaut entfaltete im Zusammenhang mit diesem Aufschwung auch einen aufwendigeren Lebensstil; sein Haus ließ er sich 1860 vom renommierten Architekten der Berliner Börse, Hitzig, bauen.4 Mit Heymann und Plaut führe ich nur zwei Beispiele jener Privatbankiers an, die sich neben den bereits Anfang des 19. Jahrhunderts etablierten Bankhäusern Mendelssohn, Gebr. Schickler, Benecke u.a. im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Berlin ansiedelten. Die Zahl der Bankiers in Berlin wuchs besonders schnell um die Jahrhundertmitte. Zwischen 1843 und 1861 verdoppelte sie sich. Diese zwar zahlenmäßig kleine, aber wirtschaftlich für Berlin bedeutsame Gruppe fasse ich unter dem Oberbegriff „Berliner Finanzbürgertum" zusammen, wobei ich aber jetzt schon betone, daß das „Berliner Finanzbürgertum" wohl im Mittelpunkt meiner Ausführungen steht, ich doch nicht umhin kann, - gerade im Falle Berlins - die lokalen Akteure und die von ihnen angestoßenen oder erlittenen Prozesse in den Kontext der sich im Verlauf unseres Untersuchungszeitraums entfaltenden nationalen Volkswirtschaft zu stellen. Denn ein entscheidendes Resultat der Entwicklungen im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts war eben, daß das Berliner Finanzbürgertum - oder zumindest wichtige Teile davon - aufhörte, bloß Berliner Finanzbürgertum zu sein und zur deutschen Finanzbourgeoisie wurde. Wie sah nun das Berliner Finanzbürgertum zur Mtte des 19. Jahrhunderts aus? Um 1850 gab es in Berlin 144 Privatbankhäuser, unter denen die wichtigsten neben dem Bankhaus der Gebrüder Schickler, die bereits als Hofbankiers für Friedrich Π. fungiert hatten, die Häuser von Delbrück, Leo & Co., J. Gebert & Co., R. Warschauer & Co., F M. 4

Vgl. Kaelble, Berliner Unternehmer während..., S. 50/51.

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Magnus, J. Mendelssohn & Co. und S. Bleichröder waren.5 Ein sdir großer Teil dieser Bankhäuser wurde von Juden betrieben; Hartmut Kaelble gibt in seiner Untersuchung der Berliner Unternehmer in der frühen Industrialisierung für diese von ihm analysierten 150 Unternehmer den Anteil von Juden mit ca. 50% an, obwohl der Anteil von Juden an der Berliner Bevölkerung insgesamt 1849 nur 2-3% betragen hatte. Unter dai Bankiers dürfte der jüdische Anteil noch weitaus größer gewesen sein; frühere Berufsbeschränkungen der Juden auf dai Geldhandel und das Wechselgeschäft, die entsprechende Spezialisierung nach sich gezogen hatten, wirkten hier ganz offensichtlich nach.6 Dies ist auch für mich ein wichtiger Grund für die überaus einseitige soziale und berufliche Herkunft der Berliner Unternehmer. Fast 80% der Unternehmer stammten gleichfalls aus Bankiers-, Kaufmanns- und Fabrikantenfamilien. Und auch bei der engeren Gruppe der Bankiers und Großkaufleute waren die Väter meist ebenfalls Bankiers oder Kaufleute.7 Von der Berufsausbildung her war allerdings nur ein kleiner Teil, wie etwa der eingangs erwähnte Moritz Plaut im Bankfach ausgebildet. Andere hatten eine kaufmännische Ausbildung durchlaufen oder waren gewerblich tätig gewesen, so der Gründer des Bankhauses Samuel Bleichröder als Parfümeriefabrikant. Nur ganz wenige hatten vor 1850 eine akademische Ausbildung absolviert." Fast alle Berliner Bankiers dürften der Korporation der Kaufmannschaft Berlin angehört haben. Diese Korporation war 1820 aus dem Zusammenschluß der beiden in Berlin bestehenden Kaufmannsgilden entstanden, nachdem sich nach der Einführung der Gewerbefreiheit 1810/11 und dem Judenemanzipationsedikt 1812 die Frage nach einer Gesamtorganisation der nun des Zunftzwangs enthobenen Berliner Kaufmannschaft stellte. Die Mitgliedschaft in der Korporation brachte große Vorteile. Nur Mitglieder durften sich als „Kaufmann" bezeichnen. Nur diese Mitglieder besaßen also die kaufmännischen Rechte wie sie das Landrecht bestimmte, insbesondere Glaubwürdigkeit der Bücher, Wechselfahigkeit, „Geschäftsfähigkeit der Handelsgehülfen" usw.9 3

Hans Pohl, Das deutsche Bankwesen (1806-1848), in: Deutsche Bankengeschichte Bd. 2, Frankfurt/M. 1982, S. 40/41. 6 Kaelble, Berliner Unternehmer während..., S. 79/80. 7 Kaelble, Berliner Unternehmer während..., S. 31/32. 8 Kaelble, Berliner Unternehmer während..., S.40/41. 9 Hans-Peter Heibach, Berliner Unternehmer in Vormärz und Revolution 18471848, in: Untersuchungen zur Geschichte der frühen Industrialisierung vornehmlich im Wirtschaftsraum Berlin/Brandenburg, hrsg. v. O. Büsch, Berlin 1971, S. 416-454, hier 420/21.

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Neben der Vertretung kaufmännischer Interessai, die die Korporation seit Ende der 1830er Jahre mit zunehmender Intensität gegenüber Magistrat und preußischer Regierung betrieb, waren es vor allem zwei Privilegien, die diese „Korporierten" hervorhob und im ökonomischen Sinne aktiv werden ließ. Nur die Mitglieder der Korporation konnten ihre Wechsel von der Königlichen Bank diskontieren lassai. Und nur sie gehörtai der Gewerbesteuerklasse A an, in der sich die Steuerpflichtigen selbst einschätzen konnten. Diese Steuerklasse haftete als Kollektivschuldner für einai Gesamtsteuerbetrag der Klasse. Je mehr Mitglieder mit relativ niedrigem Einkommen also der Korporation und damit der Steuerklasse A angehörten, umso höher wurde die Steuerbelastung der besser verdienaiden Mitglieder.10 Aus diesem Sachverhalt erklärt sich die sehr restriktive Aufiiahmepolitik der Korporation: Von 962 Mitgliedern zum Zeitpunkt der Gründung wuchs die Korporation lediglich auf 1270 im Jahr 1850, obwohl die Berliner Wirtschaft in diesen 30 Jahrai, vor allem durch dai Eisenbahnbau und die Verkehrsaitwicklung und die von ihm ausgelöstai Impulse seit Ende der 1830er Jahre einen sdir lebhaften Aufschwung genommen hatte.11 Die Korporation schirmte sich aber nicht nur nach außen gegen unerwünschte Aufsteiger ab, derai Aufnahme etwa mit dem Argument fehlender „kaufmännischer Intelligenz" und mangelnder Bekanntheit abgelehnt wurde.12 Auch in ihrer Binnaistruktur war die Korporation durch eine ausgeprägte Oligarchie geprägt. Die Leitung lag in den Händen eines aus 21 Mitgliedern bestehenden Ältestengremiums. Diese Ältesten berietai und beschlossai nichtöffentlich und exklusiv über alle Angelegenheiten der Korporation; sie waren keiner Kontrolle der Mitgliedschaft unterworfen. Dieses Ältestengremium wies eine außerordentlich hohe Kontinuität auf. Beim Ausscheidai eines Mitglieds ergänzte es sich faktisch durch Kooption. Die Chance der einfachai Mitglieder, einen anderen als die vorgeschlagaien Kandidaten in das Ältestengremium zu wählen, war außerordaitlich gering.13 Unter dieser Oligarchie warai gerade Bankiers führend vertreten. Der erste Vorsteher der Korporation nach ihrer Gründung war der Bankier Benecke (1820-27) und der Gründer des Bankhauses Joseph

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Kaelble, Berliner Unternehmer während..., S. 85/86 u. 199/200. Heibach, Berliner Unternehmer in Vormärz..., S. 422; Kaelble, Berliner Unternehmer während..., S. 200. 12 Kaelble. Berliner Unternehmer während..., S. 80ff. 13 Kaelble, Berliner Unternehmer während..., S. 205-126. 11

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Mendelssohn gehörte dem Ältestengremium als stellvertretender Vorsteher und als Vorsteher von 1820-1845 an.14 Das Ältestengremium war denn auch „Angelpunkt für die ökonomische und soziale Vorrangstellung" einer Führungsschicht unter dai Berliner Unternehmern, die mit dem von sozialkritischen Schriftstellern der 1840er Jahre geprägten Terminus „Geldaristokratie" gefaßt werden könnte.15 Die Korporationsältesten hatten über die Auswahl von Kommissarien entscheidenden Einfluß auf die Berliner Börse, und sie besaßen - zusammen mit führenden Bankiers außerhalb des Ältestengremiums - in dai 1840er Jahren zwei Drittel der Sitze in Kontrollgremien wirtschaftlicher Organisational, die von Berliner Unternehmern gehalten wurden. Nebai dieser wirtschaftlichen Macht durch Einfluß auf die Börse und die personellai Verflechtungen mit Eisenbahngesellschaftai, dai Hypotheken- und Baugesellschaftai hob sich die „Geldaristokratie" auch bezüglich ihres Schichtungsbildes, ihres Vermögais und ihres Lebensstils von der Masse der übrigen Unternehmer ab. In gesellschaftspolitischen Äußerungen von Korporationsältestai zeigt sich häufig ein dichotomisches Gesellschaftsbild, die Trainung der Gesellschaft in eine besitzende und eine nichtbesitzende, diaiende Klasse. Man rechnete sich selbst dabei der besitzenden Klasse oder Oberschicht zu. Man übertrug das alte Bild der preußischen Adelsgesellschaft auf die neue „Hardenbergsche" Zeit, in der Reichtum und gesteigerte Staatseinnahmai als Ergebnis der „von oben" eingeführten Reformen einen neuen Staat schaffai sollte, dessen Gesellschaft durch die Versöhnung von „Geburt" und „Geld" charakterisiert wurde. Ein „mittelständisches Bewußtsein" war also - im Gegensatz zu anderen Berliner Unternehmern - nicht vorhanden. Die Revolution von 1848/49 und die Erfahrung mit den gerade in Berlin stark ausgeprägten Bewegungen der Arbeiter spitzte diese soziale Dichotomie eher noch weiter zu. Deutliche Unterschiede zwischen „Geldaristokratie" und anderen Unternehmern zeigen sich auch beim sozialai Engagement. Die „Geldaristokratie" konzentrierte sich darauf, extreme Verschlechterungen im Lebensstandard der Unterschichten, die durch Katastrophen verursacht wurden, durch die Unterstützung punktueller Hilfsorganisationen aufzufangen. Dagegen waren sie kaum präsent in Organisationen, die langfristige Verände14 15

Kaelble, Berliner Unternehmer während..., S. 212. Ebd., S. 146ff.

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rungen, die auf eine Hebung des Lebensniveaus der Unterschichten durch strukturelle Reformen abzielten, bewirken wollten. Dai Grund für diesen auffälligen Unterschied glaubt Kaelble in der jeweiligen Arbeitssituation gefunden zu haben: „Gerade die führenden Bankiers Berlins standen weder solchem Interessendruck der Industriearbeiter so direkt gegenüber nodi verfugten sie über die Beobachtungsnähe wie die sich mittelständisch verstehenden Unternehmer."16 Auch hinsichtlich des Vermögais nahmen die Bankiers eine führaide Stellung unter den Berliner Unternehmern ein. Dies ist anhand von Titelakten der 1860er Jahre leicht festzustellen, zeitgaiössische Aussagen weisai jedoch für die Zeit vor 1850 in die gleiche Richtung. Die freihändlerische Wirtschafts- und Handelspolitik wurde von ihnen intensiv unterstützt; sie profitierten nach 1859 von der preußischai Konjunktur und trugai insbesondere ab 1862 Bismarcks Politik, waren unbedingte Parteigänger seiner Politik bis weit in die 70er Jahre.17 Beim Lebensstil der „Geldaristokratie" zeichnetai sich ebenfalls markante Unterschiede sowohl gegenüber den anderen Berliner Unternehmern als auch gegenüber dai Unternehmern in RheinlandWestfalen ab. Schon sehr frühzeitig entwickelten sich in karitativen Organisational wie dem „Comitee des Unterstützungs-Vereins für die Abgebrannten zu Hamburg" - nach dem großai Brand von 1842 dort - und in Aufsichtsräten von Eisenbahngesellschaften und Versicherungai gesellschaftliche Kontakte zwischen der Geldaristokratie und den Spitzen von Regierungsbürokratie, Justiz, Kirche und Militär. Diese Kontakte lassai sich auch im gesellschaftlichai Verkehr der Salons und Soireen wiederfinden. Die Salons der reichen Berliner Bankiers, unter denen der des Bankiers und Korporationsältestai Wilhelm Beer besonders herausragte, wurden neben Bankiers und Kaufleuten auch von Gelehrten, Künstlern, Schriftstellern, hohen Beamtai und Diplomaten frequentiert.18 Dieser intaisive gesellschaftliche Kontakt hatte auch Auswirkungen auf Berufswahl von Söhnen der Geldaristokratie und Heiratsverbindungen. So schlugen einzelne Söhne nach einem Studium Beamtenlaufbahnen ein, einige ergriffen künstlerische Berufe, die bekanntesten sind etwa die Komponisten 16

Kaelble. Berliner Unternehmer während..., S. 153. Helmut Böhme. Deutschlands Weg zur Großmacht, Köln 1966, S. 191ff. 18 Kaelble, Berliner Unternehmer während..., S. 160-165. 17

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Meyerbeer und Mendelssohn-Bartholdy, beide aus führenden Bankiersfamilien stammend. Und die Töchter der Geldaristokratie heirateten nicht selten Offiziere oder höhere Beamte.1' Es läßt sich also eine Tendenz zur Verschmelzung großbürgerlicher Familial und die Suche nach adliger Assimilation feststellen, die etwa auch im Bau prachtvoller Wohnhäuser, vor allem nach 1850 zum Ausdruck kam. Die partielle Übernahme aristokratischer Verhaltensweisen im Lebensstil hatte jedoch nur in seltenen Fällen auch eine Aufgabe der unternehmerischen Tätigkeit zur Folge, selbst wenn Angehörige der Geldaristokratie etwa Großgrundbesitz erwarben.20 Wir können also zusammenfassend festhalten: Das Berliner Finanzbürgertum um die Jahrhundertmitte konstituierte einen gewichtigen Teil der „Geldaristokratie", jener Oberschicht der Berliner Unternehmer, die die Schaltstellen wirtschaftlicher Macht in Form des Ältestengremiums der Korporation der Kaufmannschaft kontrollierte. Die „Geldaristokratie" grenzte sich relativ scharf nach untai, auch gegen nachdrängende Unternehmerschichten ab und suchte stattdessen den gesellschaftlichen Kontakt mit anderen prestigeträchtigen, aber wirtschaftlich oft weitaus weniger potenten gesellschaftlichai Führungsgruppen. Juden spielten in dieser Führungsschicht eine herausragende Rolle und persönliche, verwandtschaftliche und geschäftliche Beziehungen waren für die Kohäsion dieser Geldaristokratie insgesamt wie für Aufstieg und Fortkommen der einzelnen von entscheidender Bedeutung. Π. Welche Rolle spielte das Berliner Finanzbürgertum nun im Hinblick auf Berlin als Bank- und Börsenplatz in einem breiteren Kontext? In den eingangs zitierten Lebenserinnerungen hatte der Bankier Heymann berichtet, wie Rothschild zu Beginn der 1830er Jahre, vertreten durch seinen Berliner Agenten S. Bleichröder, die Berliner Finanzwelt mit einer total überbewerteten spanischai Staatsanleihe hereingelegt hatte. Dies zeigt zweierlei: Zum einen hatte Berlin kein Haus von der Bedeutung der Rothschilds mit ihren feinmaschig ausgebauten internationalen Beziehungen aufzuweisen. Zum anderen war Berlin im vortelegra19

Böhme, Deutschlands Weg..., S. 353, 579ff. LHA Brandenburg-Potsdam. Dep.30. Til. 94, Nr. 11791; Kaelble, Berliner Unternehmerwährend..., S. 166ff. 20

Berliner Fmanzbürgeitum

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phischen Zeitalter noch ziemlich ab vom Schuß, nur von sekundärer Bedeutung. Um 1850 war eindeutig Frankfurt, ursprünglich Stammsitz der Rothschilddynastie, der einzige Bank- und Börsenplatz auf deutschem Boden von internationalem Rang. Hauptgeschäft in Frankfurt war die Emission von Staatsanleihen. Insbesondere die Rothschilds, die neben Frankfurt in London, Paris, Wien und Neapel ihre Bankhäuser hatten, spielten über große Teile des 19. Jahrhunderts die Rolle einer Drehscheibe bei der Vermittlung von Staatskrediten.21 In Berlin hatte sich dagegen mehr der Handel in Eisenbahnaktien konzentriert: 1847 wurden bereits 33 Bahnaktien an der Börse notiert, in Frankfurt dagegen lediglich 12.22 Neben dem Handel in Eisenbahnaktien und Staatsanleihen standen vor allem das Wechselgeschäft und Warenvorschüsse im Zentrum der Aktivität der Privatbanken. Längerfristige Kreditgeschäfte an die Industrie, die größere Kapitalien gebunden hätten, wurden damals dagegen kaum getätigt. Das Jahr 1848 erwies dann die Fragilität und Unzulänglichkeit des existierenden Banksystems. Im Zeichen der politischen Ereignisse von Februar/März 1848 kam es zu einem fast völligen Stillstand des Zahlungsverkehrs und zu einer akuten Kreditkrise, die in den industriell entwickelten Regionen zum völligen Zusammenbruch der Wirtschaft zu fuhren drohte. In dieser Situation bot sich David Hansemann, einem der Wortführer der rheinischen Liberalen, als neuem preußischen Finanzminister im Märzministerium die Chance, tiefgreifende Veränderungen in die Wege zu leiten. Mit Sofortkrediten in Millionenhöhe und der Einrichtung von Darlehenskassen durch die Preußische Bank wurde die schlimmste Notlage in der Rheinprovinz und Berlin überwunden. Und als Ende März die Kölner Privatbank Abraham Schaafhausen, eine der größten Privatbanken am Rhein, vor dem Konkurs stand, wandelte Hansemann die Bank in eine Aktiengesellschaft unter akzentuierter staatlicher Kontrolle um; er wendete dadurch nicht nur den Ruin der umfangreichen Klientel der Bank ab, sondern führte darüber hinaus erstmals auch die Organisationsform der Aktiengesellschaft auf dem Banksektor ein.23 Die Gründung des Schaafhausen21

Manfred Pohl, Die Entwicklung des deutschen Bankwesens zwischen 1848 und 1870, in: Deutsche Bankengeschichte. Bd. 2, Frankfurt/M. 1982, S. 148ff. 22 Ebd., S. 150. 23 Helmut Böhme, Gründung und Anfänge des Schaafhausenschen Bankvereins, der Bank des Berliner Kassenvereins, der Direktion der Disconto-Gesellschañ und der (Darmstädter) Bank für Handel und Industrie, 1965/66, in: Tradition, Bd. 10, S. 189-212 u. Bd. 11, S. 34-56, hier 193-206.

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sehen Bankvereins, der von Hansemann nur als Auftakt für die Einfuhrung von Aktienbanken auf breiter Front gedacht war, erwies sich jedoch als Einzelfall. Dai Bemühungen der März-Minister um eine umfassende Bank- und Kreditreform blieb der Erfolg letztlich versagt: Im Angesicht der Radikalisierung der Revolution suchten die konstitutionellen Liberalen das Bündnis mit dem ostelbischen Grundbesitz, in der Hoffnung, dieser würde sich mit einem konstitutionellen System abfinden, und verzichtete darauf, die liberalen Reformen energisch voranzutreiben. Oberstes Ziel wurde die Stabilisierung der bestehenden Ordnung. Gustav Mevissen, ebenfalls ein führender Liberaler des Rheinlands, schrieb am 2.4.1848 an David Hansemann: „Kann der Kredit nicht wiederhergestellt werden, so ist die bestehende Ordnung rettungslos verloren."24 Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Liberalen über die einzuschlagende Strategie in der Bankreform waren ein weiterer Stolperstein. Im Gegensatz zu Mevissen sah Hansemann in der Form der Aktiengesellschaft nicht das Allheilmittel der Bankreform; er witterte die Gefahr, daß die bisherigen Kreditvermittler, die Privatbankiers, sich des Instruments der Aktiengesellschaften bemächtigen und das eigentlich von dai Liberalen verfolgte Ziel, nämlich vor allem die Unterstützung des gewerblichen Mittelstands durch eine bessere Versorgung mit Kredit, torpedieren könnten.25 Mitte September 1848 gelang es dai restaurativen Kräften aus Großgrundbesitz und Militär, die sich vom ersten Schock der Revolution erholt hattai, die Entlassung des liberalen Ministeriums Auerswald/Hansemann beim preußischen König durchzusetzen. Die Hoffnung der Liberalai auf eine Verständigung mit dem Großgrundbesitz oder zumindest dessai Stillhalten hatte also getrogen. Kurz vor ihrer Entlassung hatten Hansemann und Handelsminister Milde jedoch noch dem König den Entwurf für eine Bankreform vorgelegt, die wenig später auch als Erlaß rechtskräftig wurde. Die Reform sah die Zulassung von „Privatzettel-Banken", d.h. Privatbanken mit dem Recht auf Ausgabe von Banknoten, vor und hob die solidarische Haftung der Teilnehmer einer solchen Bank mit ihrem Gesamtvermögen auf, ermöglichte also theoretisch die Rechtsform der Aktiengesellschaft auch für solche Banken. Der Erlaß enthielt allerdings eine ganze Reihe einschränkender Bestimmungen; insbesondere machte er die Zulas24 25

Zit. nach Böhme, Gründung und Anfange..., S. 199. Ebd., S. 205.

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sung von der Genehmigung der Bürokratie abhängig, wobei auch die Bedürfhisfrage eine Rolle spielen sollte. Die Zulassungspraxis der Anfang Dezember 1848 berufenen neuen Finanz- und Handelsminister von Rabe und von der Heydt offenbarte dann deutlich die veränderte Zielsetzung der neuen Regierung: Hatte Hansemann die staatliche Kontrolle dazu benutzt, um die Entwicklung der Aktiengesellschaften in Unabhängigkeit von den Privatbanken zu garantiera!, so wurden in von der Heydts Ministerium überhaupt nur die Anträge bearbeitet, in denen Privatbankiers die Zulassung von Aktienbanken erbaten. Darüber hinaus wurden Anträge nur befürwortet, wenn sie auch die Kreditgebung für Ostelbien berücksichtigten.26 Dies läßt sich etwa am Antrag führender Berliner Privatbankiers zeigen, die Ende 1848 beantragten, den „Kassenverein" der Berliner Börse in eine Aktienbank mit Notenausgaberecht umgründen zu dürfen. Während von der Heydt dieses Projekt unterstützte, setzte Hansemann, der nach seinem Rücktritt als Finanzminister Chef der Preußischen Bank geworden war, seinen scharfen Widerstand dagegen. Er kritisierte, das Projekt sei lediglich vom Streben nach Gewinn motiviert, würde die eigentlichen Probleme der Kreditversorgung des „mittleren und kleinen Handelsstands" in keiner Weise lösen und vielmehr für die Preußische Bank und damit für den öffentlichen Kredit insgesamt eine schwere Gefahr darstellen. Hansemann legte gewissermaßen als Gegenentwurf ein Projekt für eine Kreditbank auf quasi-genossenschaftlicher Basis vor, die sich am Vorbild der Brüsseler „Union de Crédit" anlehnte. Diese „Berliner Kredit-Gesellschaft" sollte in erster Linie eine Lücke im öffentlichen Kredit schließen, die von Privatbankiers nicht ausgefüllt werden könne: den persönlichen Kredit, das Betriebskapital für dai mittleren und kleinen Handelsstand, für die Gewerbetreibenden.27 Hansemann verband bei seinem Bankprojekt wirtschaftliche und politische Ziele, er hoffte, damit „den Handels-, Handwerker- und Fabrikantaistand über den materiellai Interessen mit dem Mittel der Aktien-Gesellschaften (nun in genossenschaftlicher Variante) wieder zu einer Interessaigemeinschaft und Partei (...) zusammenzuführen".28 Obwohl Hansemann aus Kreisen der Berliner Industriellen in seinem Vorhaben unterstützt wurde und im November 1850 auf 500 Interessenten mit einem Zeichnungskapital von einer Million Taler verweisai konnte, traf sein Projekt auf den 26

Böhme, Gründung und Anfánge..., S. 210-212 u. 34/35. Ebd., S. 35-39. 28 Ebd., S. 39. 27

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Widerstand der zuständigen Ministerien. Dagegen war die Umgründung des Kassenvereins der Berliner Privatbankiers im April 1850 genehmigt worden.29 Ein Jahr später war auch Hansemanns Versuch, die Preußische Bank durch die Einrichtung zahlreicher Filialen und eine veränderte, stärker dai Bedürfnissen von Industrie und gewerblichem Mittelstand oitsprechende Kreditpolitik zum Instrument liberaler Bankpolitik zu machen, gescheitert. Die preußische Regierung hatte mit einer geschickten Taktik den Forderungen der rheinischen Liberalen nach einer großzügigeren Zulassungspraxis industrieller Aktiengesellschaften Rechnung getragen und durch die Aufhebung des staatlichen Bergregals rechts des Rheins und die Reduzierung der Steuerbelastung ausreichend Spielraum für unternehmerische Betätigung geschaffen. Damit war dem im Zuge politischer Restauration ohnehin verhaltenen liberalen Protest der Wind aus den Segeln genommen. In der Bankpolitik blieb die Regierung dagegen bei ihrer restriktiven Linie, und mit der Amtsenthebung Hansemanns von der Leitung der Preußischen Bank im April 1851 war auch der letzte „Störfaktor" besátigt.30 Der Industrialisierungsschub der frühen 1850er Jahre zeigte dann jedoch sehr deutlich die Schwächen des bestehenden Bank- und Kreditsystems. Insbesondere im Bergbau und in der Schwerindustrie fielen durch größere Schachttiefen und technische Neuerungen sdir viel umfangreichere Investitionen in Anlagen an, die langfristige Kredite größeren Umfangs erforderlich machten. Um diese Kapitalmengen bereitzustellen war es notwendig, nicht nur auf das Geldvermögen des Adels zu bauen, wie dies die Privatbankiers vorzugsweise taten, sondern auch das Kapital der Mittelschichten zu mobilisieren und einer produktiven und rentierlichen Verwendung zuzuführen. Einer der an Organisationsformai arbeitete, um dies zu bewerkstelligen, war wiederum David Hansemann, der seine Idee von der Kreditassoziation keineswegs aufgegeben hatte. Befreit von der Bürde des Amtes erarbeitete er ein neues Statut. Am 3. Juni 1851 genehmigte die Mehrheit der bisherigen Mitglieder der Credit-Gesellschaft deren Umwandlung in eine Handelsgesellschaft mit dem Namoi „Direction der DiscontoGesellschaft". Am 15. Oktober 1851 nahm die Disconto-Gesellschaft mit 236 Mitgliedern, die ein Kapital von über 500.000 Talem einbrachten, ihren Betrieb auf. Um die staatliche Zulassungsgenehrru29

Böhme, Gründung und Anfange..., S. 46; Helmut Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht, 1974, 3. Auflage Köln, S. 61. 30 Böhme, Gründung und Anfange..., S. 44-49.

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gung zu umgehen war eine komplizierte juristische Konstruktion notwendig geworden: Es wurde unterschieden zwischen Geschäftsinhabern, die die Träger der Firma waren - in den ersten Jahren ausschließlich David Hansemann - und stillai Teilhabern, die nur in internen Beziehungen zu dai Inhabern standen und auch nicht nach außen hafteten. Die Geschäftsanteile der Mitglieder bewegten sich zwischai 200 und 10.000 Talern, davon mußten 10% bar eingezahlt werden. Der Hauptzweck der Gesellschaft, der ihr auch den Namen gab, war die Gewährung von Kredit an die Mitglieder bis zur voilai Höhe ihrer Geschäftsanteile; dieser Kredit sollte in der Regel in Form der Diskontierung von Dreimonatswechseln gewährt werden.31 Wenn wir uns in Erinnerung rufen, daß die Diskontierung von Wechseln vor 1850 ein Privileg der Mitglieder der Korporation der Kaufmannschaft gewesen war, so kann es nicht erstaunai, daß die Disconto-Gesellschaft redit attraktiv war und die Mitgliederzahl bis Ende 1853 auf mehr als das Sechsfache anwuchs. Trotzdem erwies sich das Gesellschaftsstatut im Zuge des rasanten wirtschaftlichai Aufschwungs als außerordaitlich einschränkend. Am gewinnträchtigen Industrie- und Eisenbahngeschäft konnte die Gesellschaft nicht teilnehmen. Erst nach diversai Statutenänderungen, die 1856 faktisch einer Neugründung gleichkamen, war es der Disconto-Gesellschaft erlaubt, fast alle Arten von Bankgeschäften zu tätigai. Das Geschäft mit den Mitgliedern, ursprünglich Hauptzweck der Gesellschaft, rückte nun etwas in den Hintergrund. Nebai die Mitglieder traten nun noch Kommanditäre, die ihre Kommanditanteile von 200 Taler voll einbezahlen mußten. Damit hatte die Gesellschaft die Rechtsform einer Kommanditgesellschaft auf Aktien erhaltai, eine auch bei anderen Gründungen in dai nachfolgenden Jahren häufig gewählte Unternehmensform.32 Mit dieser Umwandlung hatte sich Hansemann, der 1857 auch seinai Sohn Adolf als Geschäftsinhaber mit in die Firma aufnahm, redit weit von der urspriinglichai Intention der Berliner CreditGesellschaft aitfernt, die ja die gegenseitige Kreditgewährung des gewerblichen und kaufmännischen Mittelstands gewesen war. Er hatte andererseits aber auch die Voraussetzung dafür geschaffen, die Disconto-Gesellschaft zu einer Universalbank zu machai, die sich in 31

Böhme, Gründung und Anfange..., S. 49; Walther Däbritz, David Hansemann und Adolf von Hansemann, Krefeld 1954, S. 23-25. 32 Däbritz, David Hansemann..., S. 30-32; Böhme, Gründung und Anfange..., S. 49; M. Pohl, Die Entwicklung des deutschen Bankwesens..., S. 181/82.

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großem Maßstab an der Gründung von Industrieunternehmen, Eisenbahngesellschaften und der Emission von Staatsanleihen beteiligte. Damit klinkten sich die Banken in den nun einsetzenden großen Traum von der „großen Vernetzung" ein, zuerst auf dem Gebiet des Verkehrswesens, dann dem Aufbau des Fabriksystems und schließlich dem der Nachrichten- und Energieversorgung. Mit der „Strahlkraft des Geldes" wurde durch das mobilisierte und konzentrierte Kapital ein neues „Nervensystem" geschaffen, das zunehmend als „Stärkungsmittel des nationalen Geistes" begriffen wurde, mit dem nun in den nächsten Jahren ein „fester Gürtel" geschaffen wurde, der West und Ost mit dem Zentrum Berlin zusammenbinden sollte.

m. Der Erfolg der Disconto-Gesellschaft blieb nicht ohne Auswirkungen auf das Berliner Finanzbürgertum: Schon 1853 hatte es - wahrscheinlich insgeheim zähneknirschend ob Hansemanns früherem Kampf gegen die Privatbankiers - den Aufstieg Hansemanns durch seine Aufnahme in das Ältestengremium der Korporation honoriert.33 Und 1856 gründeten die bedeutendesten Berliner Privatbankiers zusammen mit einigen rheinischen Bankiers, darunter Gustav Mevissen und Abraham Oppenheim die Berliner Handels-Gesellschaft, ebenso wie die Disconto-Gesellschaft nach ihrer Umwandlung als Kommanditgesellschaft auf Aktien. Dies war das Fanal einer neuen Zeit, die eigentliche große und für dai deutschen Rahmen von Berlin ausgehende Veränderung. Der Zweck der Gesellschaft sollte der Betrieb von Bank-, Handels- und industriellen Geschäften aller Art sein. Als Hauptziel wird im Statut das Gründungs- und Emissionsgeschäft genannt. Die Berliner Handels-Gesellschaft verfolgte also ähnliche Ziele wie die bereits 1853 gegründete Bank für Handel und Industrie in Darmstadt, die sich wiederum am Vorbild des „Crédit Mobilier" in Paris orientiert hatte.34 Die Bank für Handel und Industrie war eine Initiative der Kölner Bankiers Gustav Mevissen, Direktor des Schaafhausenschen Bankvereins und Abraham Oppenheim entsprungen, deren Plan, in Frankfurt eine Aktienbank mit den Rechten der Notenemission zu gründen, am Widerstand des Frankfurter Senats - bestärkt in erster Linie vom 33

Kaelble, Berliner Unternehmer während..., S. 215. M. Pohl, Die Entwicklung des deutschen Bankwesens..., S. 185/6; Böhme, Deutschlands Weg..., S. 63. 34

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Haus Rothschild - gescheitert war. Da ein Verwandter Oppenheims, der Privatbankier Moritz von Haber schon sät 1847 eine Konzession zur Errichtung einer Aktienbank in Darmstadt besaß, die er jedoch mangels Mittel nicht verwerten konnte, wurde die Bank für Handel und Industrie schließlich 1853 unter Beteiligung des Bankhauses Oppenheim, des Schaafhausenschen Bankvereins und von Frankfurter Bankhäusern wie Bethmann, die in Konkurrenz zu Rothschild standen, gegründet. Als Leiter der Bank war zunächst David Hansemann vorgesehen, der jedoch nach einigen Verhandlungen wegen des Aufbaus der Disconto-Gesellschaft zurückzog. Die Bank für Handel und Industrie mußte sich gegen dai erbitterten Widerstand der meisten Privatbankiers durchsetzen: Die Aktien der Bank stießen an den Börsen von Frankfurt und Berlin auf weitgehende Ablehnung, so daß ein größeres Paket in Frankreich untergebracht werden mußte.35 Diese vier Aktienbanken sollten in den Jahren bis 1870 die Entwicklung des deutschen Bankwesens entscheidend bestimmen und den neuen Typus der Universalbank prägen, der später zur beherrschenden Form der deutschen Banken wurde. In den Jahren bis zur Reichsgründung beteiligten sich diese Banken nicht nur an einer großen Zahl anderer Banken und an Eisenbahngesellschaften, sondern stiegen immer stärker auch in die Industriefinanzierung ein. Dabei ergab sich, daß die Banken nicht nur Betriebskapital zur Verfügung stellten und längerfristige Kredite vergaben, sie übernahmen auch bei Gründungen oder Umgründungen von Industrieunternehmen größere Aktienpakete allein oder im Konsortium mit anderen Banken, die sie dann an die Börse brachten. Zum Teil entwikkelten sich aus solchen Engagements, besonders im Zusammenhang mit Sanierungen, auch längerfristige Beteiligungen an Industriebetrieben, die sich - wie etwa der Kauf der Henrichs-Hütte bei Hattingen durch die Disconto-Gesellschaft - in den 1857 einsetzenden Krisenjahren durchaus als belastend erweisen konnten.36 Die Krise von 1857, in Deutschland die erste Krise, die keinerlei agrarische Ursachen mehr hatte, sondern rein aus dem kapitalistischen Krisenzyklus resultierte, löste einen Schock aus und veranlaßte etwa die Berliner Handels-Gesellschaft, die sogar ihr Kapital reduzieren

35

Böhme, Deutschlands Weg..., S. 63. M. Pohl. Die Entwicklung des deutschen Bankwesens..., S. 189-194; Däbritz, David Hansemann..., S. 45/46. 36

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mußte, zur Zurückhaltung gegenüber industriellen Beteiligungen.37 Dennoch können wir bis zur Reichsgründung deutlich die Anfänge jenes Verflechtungsprozesses zwischen industriellem Kapital und Bankkapital erkennen, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur Herausbildung der neuen Form des „Finanzkapitals" (Hilferding) führte.3" Zwar waren die Aktienbanken im industriellen Gründungsgeschäft führend, aber auch die bedeutenden Berliner Privatbankhäuser engagierten sich hier, etwa Gerson Bleichröder in Brauereien und Eisenbahnen, die Gebrüder Schickler in der rheinischen und schlesischen Schwerindustrie, außerdem Delbrück, Leo & Co. und Mendelssohn & Co.39 Auf dem bis zur Jahrhundertmitte eindeutig wichtigsten Feld des Kreditmarkts, den Staatsanleihen, ergaben sich gleichfalls wichtige Veränderungen.40 1859 forderte das preußische Finanzministerium, das zur Deckung der Mobilmachungkosten wegen des österreichischfranzösischen Kriegs um die Unabhängigkeit Italiens zusätzliche Finanzmittel brauchte, David Hansemann auf, zur Deckung einer Emission preußischer Staatsanleihen eine Vereinigung Berliner Bankhäuser herbeizuführen. Diese Aufforderung zeigt einerseits, welche Bedeutung Hansemanns Disconto-Gesellschaft zu diesem Zeitpunkt bereits erreicht hatte, sie verweist andererseits auf eine Annäherung zwischen preußischer Regierung und Hansemann, deren Verhältnis ja zu Anfang der 1850er Jahre durch offene Gegnerschaft geprägt war, denkt man etwa an die Amtsenthebung Hansemanns als Leiter der Preußischen Bank. Unter Führung der Disconto-Gesellschaft bildete sich 1859 ein Konsortium, dem die größten Berliner Bankhäuser angehörten. Das war der erste Schritt zum späteren „Preußenkonsortium", das über Jahrzehnte in z.T. wechselnder Zusammensetzung die Anleihen Preußens und später des Reiches emittieren und damit auch die Finanzpolitik entscheidend beeinflussen sollte.41 Damit war der Schritt „weg von den Ältesten" getan und die Kaufmannschaft zugleich fest in der Hand der Banken. 37

Däbritz, David Hansemann..., S. 39; M. Pohl, Die Entwicklung des deutschen Bankwesens..., S. 189. 38 Böhme, Deutschlands Weg..., S. 78ff; H. Rosenberg, Die Weltwirtschaftskrise von 1857, Stuttgart, 1934, S. 119, S. 130f, S. 141f. 39 M. Pohl, Die Entwicklung des deutschen Bankwesens..., S. 164/65. 40 DZ A Merseburg, Rep. 120, A XI, 2, Geschäftsbetriebe des Berliner Kassenvereins 1859-1864; ebd. Geschäftsbericht der Disconto-Gesellschaft 1860-65. 41 Däbritz, David Hansemann..., S. 47; Böhme, Deutschlands Weg..., 3. Aufl., 1974, S. 220ff.

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Als Führer und Drahtzieher dieses Konsortiums kristallisierten sich immer stärker die Hansemanns, David und Sohn Adolf, und Gerson Bleichröder heraus. Unter dem wachsenden Einfluß von Adolf Hansemann, der nicht nur frei war von den politischen Reserven seines Vaters gegenüber der keineswegs liberalen preußischen Regierung, sondern mit Verve das Interesse der nationalen Ambitionen Preußens trug, stellte sich die Disconto-Gesellschaft zunehmend in den Dienst preußischer Staatspolitik: Dies zeigte sich etwa, als die DiscontoGesellschaft 1864 die vorübergehende Annäherung Preußeis an Österreich durch ein zunächst kostspieliges Engagement bei der Emission einer österreichischen Silberanleihe unterstützte. Mit diesem Engagement gelang es ihr, das faktische Monopol der Frankfurter Rothschilds auf die Finanzierung der österreichischen Staatsschuld zu durchbrechen. Kurz darauf wurde beim Versuch, eine Landesbank in Schleswig-Holstein zu gründen, eine Zusammenarbeit zwischen der Disconto-Gesellschaft und Rothschild-Frankfurt im sogenannten Rothschild-Konsortium eingeleitet, in dessen Rahmai das Haus Rothschild allmählich jedoch der Idar schwächere Partner wurde, bis es schließlich um die Wende zum 20. Jahrhundert von der DiscontoGesellschaft übernommen wurde.42 Deutlich wird bei all diesen Aktionen, daß die „anonymen Kapitalorganisationen" die Führungsrolle übernahmen. Allerdings war für Berlin die Mitwirkung „Privater" nicht zuletzt aus politischen Gründen - charakteristisch. Der wichtigste „Mann" hierbei war Gerson Bleichröder. Gerson Bleichröders Bankhaus nahm in den 1860er Jahren einen rasanten Aufschwung und setzte sich deutlich gegen die anderen Privatbanken ab. Dazu dürften neben den engen Verbindungen mit Rothschilds insbesondere die Vertrauensstellung gefuhrt haben, die Bleichröder bei Bismarck genoß. Bleichröder war seit 1859, als Bismarck als preußischer Gesandter nach Petersburg geschickt wurde, auf Empfehlung der Frankfurter Rothschilds, Bismarcks Bankier. Nach Bismarcks Ernennung zum Ministerpräsidenten 1862 - mitten im preußischen Verfassungskonflikt - entwickelte sich eine sehr enge Beziehung zwischen Bismarck und Bleichröder, die sich oft sogar mehrmals wöchentlich trafen.43 Bismarck vertraute Bleichröder nicht nur die Regelung seiner privaten finanziellen Verhältnisse an. Auch 42

Böhme, Deutschlands Weg..., 3. Aufl., 1974, S. 196; Däbritz, David Hansemann..., S. 51. 43 Fritz Stern, Gold and Iron. Bismarck, Bleichröder and the Building of the German Empire, London 1977, S. 3-80.

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hinsichtlich der Staatsfinanzen, die wegen der Weigerung der liberalen Mehrheit des preußischen Landtags, dem Haushalt zuzustimmen, in großen Schwierigkeiten waren, baute er auf Bleichröders Hilfe. Daneben leistete Bleichröder für Bismarck unschätzbare Dienste als Mittelsmann zu anderen europäischen Regierungen, insbesondere nach Rußland und Frankreich. Da Bismarck um die engen Verbindungen zwischen Bleichröder und Baron James Rothschild in Paris wußte, damals Senior der Dynastie, konnte er davon ausgehen, daß alle wichtigen Informational, die er Bleichröder weitergab, ziemlich direkt die französische Regierung bzw. Napoléon ΠΙ, zu dem Rothschild direkten Zugang hatte, erreichten.44 Bleichröder spielte dann auch eine entscheidende Rolle, als nach dem Krieg gegen Dänemark 1864 eine militärische Auseinandersetzung zwischen Preußen und Österreich von Bismarck planmäßig vorbereitet wurde. Preußen mußte sich finanziell auf einen Krieg vorbereiten und gleichzeitig versuchen, eine finanzielle Gesundung des angeschlagenen Ri vaiai zu verhindern. Da der „normale" Weg über Steuererhöhungen, Sondersteuern oder Staatsanleihen durch den Verfassungskonflikt versperrt war, mobilisierte Bleichröder auf verfassungswidrigem Wege die benötigten Gelder. Ohne Bleichröder war die Handelspolitik und vor allem die freihändlerische Wirtschaftspolitik nicht durchführbar, und ohne diese Rückendeckung hätte Bismarck sein kühnes Spiel mit Österreich, das schließlich zum Zusammenbruch der österreichischen Zollunionsvorstellungen führte, nicht realisieren können.45 Zur Illustration von Bleichröders Rolle und Bedeutung ein kleines Beispiel: 1865 organisierte er als Direktor der Köln-Mindener Eisenbahngesellschaft den Kauf von Optionen, die sich der preußische Staat auf die Aktien der Bahn gesichert hatte, um zukünftig voll in den Besitz der wirtschaftlich und strategisch sehr bedeutenden Bahnlinie zu gelangen. Die Eisenbahngesellschaft erwarb also vom preußischen Staat dessen Rückkaufrechte zum Preis von 13 Millionen Taler und erhöhte gleichzeitig das Aktienkapital um diesen Betrag. Von der Kaufsumme wurden nur sechs Millionen in bar ausbezahlt, der Rest in Form neu geschaffener Aktien. Außerdem hatte die Staatskasse nun einen ähnlich hohen Betrag, der zur Abdeckung der Zinsgarantie des Staates in Reserve gehalten worden war, zur freien Verfügung. Als dann im Mai 1866 der Krieg gegen Österreich immittelbar bevorstand Stern, Gold and Iron..., S. 20-47, bes. S. 27; Böhme, Deutschlands Weg..., 3. Aufl., 1974, S. 204/5. 4 5 Ebd., S. 126f„ 147f., 153f„ 156f., 166. 44

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und es fur Preußen unmöglich war, irgendwo Kredit zu erhalten, da die Börsen, auch die Berliner, auf eine Niederlage Preußais spekulierten, sprang wiederum Bleichröder im Verein mit Adolf Hansemann ein. Der neue Finanzminister von der Heydt wollte die restlichen im Staatsbesitz verbliebenen Aktien der Köln-Mindener Bahn verkaufen und bat Hansemann, dafür ein Konsortium zu bilden. Aber nur Hansemann und Bleichröder waren letztlich bereit, für die Aktien einen fairen Preis zu bezahlen.4li Die Finanzierung des preußischösterreichischen Krieges beruhte also zu einem sdir erheblichen Teil auf Bleichröders Transaktion mit der Köln-Mindener Bahn von 1865 und dem nach preußischen Siegen gewinnbringenden Verkauf der in Staatsbesitz befindlichen Aktien. Der Ausgang des Krieges schaltete nicht nur Österreich endgültig aus dem deutschen Einigungsprozeß aus, er ließ auch die mittlerweile eingetretenen Gewichtsverlagerungen im Kreditwesen sichtbar werden bzw. beschleunigte diese nodi. Frankfürt wurde nicht nur militärisch besetzt, mit einer außerordentlich hohen Kontribution belegt und schließlich annektiert, es verlor auch seine zentrale Stellung in der Vermittlung des Staatskredits. Das Monopol der Frankfürter Rothschilds für die Emission preußischer Anleihen im süddeutschen Raum wurde gekündigt und in der Folgezeit orientierten sich auch die süddeutschen Staaten mit ihrem Kreditbedarf immer stärker auf Berlin.47 Schließlich war es durchaus von symbolischer Bedeutung, daß Bismarck 1866/67 seine Bankverbindung mit dem Haus Rothschild in Frankfürt, die bis dahin fast ausschließlich Kapitalanlagen für Bismarck besorgt hatten, löste und sein ganzes Geld Bleichröder anvertraute.48 Nach Beendigung des preußisch-österreichischen Krieges erholte sich die Wirtschaft sehr rasch. Es kam, nicht zuletzt durch die Vereinheitlichung des norddeutschen Marktes zu einem neuen Aufschwung, der dann nach dem deutsch-französischen Krieg, der nachfolgenden Reichsgründung und dem Einströmen der französischen Kriegskontributionen in den bald überhitzten Gründerboom überging. Im Zuge dieses Aufschwungs läßt sich eine zweite Gründungswelle von Aktienbanken beobachten. Nun entstanden die auch heute noch fuhrenden

Stern, Gold and Iron..., S. 60ff, S. 85. Ebd., S. 90/1; Böhme, Deutschlands Weg..., 3. Aufl., 1974, S. 213-219. 48 Stem, Gold and Iron..., S. 100; M. Pohl, Die Entwicklung des deutschen Bankwesens..., S. 164. 46 47

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Geschäftsbanken Deutsche Bank, Dresdner Bank und Commerzbank.4' Charakteristisch dabei ist, daß diese Gründungen meist von Privatbankiers getragen waren. Ihnen entglitt aber im Laufe der Zeit die Kontrolle. Nach der Krise von 1873 übernahmen die Aktienbanken die Führung. Dies wird etwa am Beispiel der Deutschen Bank deutlich. Die Deutsche Bank, 1870 gegründet, ging auf eine Initiative des Berliner Privatbankiers Adelbert Delbrück zurück und war ursprünglich rein als Außenhandelsbank gedacht. Im Inland sollte die Deutsche Bank komplementiert werden durch Zweigstellen des Berliner Bankvereins und der Deutschen Union-Bank, die gleichzeitig gegründet wurden. Dieser Bankverbund sollte durch den Aufsichtsratsvorsitz Delbrücks und einen Fünferausschuß, bestehend aus dai an der Gründung beteiligten Privatbanken kontrolliert werden. Zwischen Georg von Siemens, dem ersten Direktor der Deutschen Bank und Delbrück entwickelten sich jedoch bald schon harte Auseinandersetzungen über diese Konzeption. Als dann der Berliner Bankverein und die Deutsche Union-Bank im Zeichen der Gründerkrise 1875/76 in Liquidation gingen und deren Filialen samt Kundenstamm von der Deutschen Bank übernommen wurden, war Delbrücks Konzeption endgültig zerbrochen. Die Deutsche Bank war bereits 1876 die größte Bank Deutschlands. Ihr Vorstand konnte sich zunehmend der Gängelung durch dai Verwaltungsrat entziehen. Der Erfolg dieser Bank beruhte nebai ihrer internationalen Präsenz, vor allem am Bankplatz London, ihrer planmäßigen Industriepolitik und Exportförderung auch auf einer bankmäßigen Innovation: Als erste Bank zahlte die Deutsche Bank auch auf kurzfristig festgelegte Gelder Zinsen, was von Siemens als Bankier außerordentlich populär machte.30 Ahnliche Verdrängungsprozesse der ursprünglichen Initiatoren vollzogen sich auch bei der 1870 in Hamburg gegründeten Commerzund Disconto-Bank und der 1872 in Dresdai erriditetai Dresdner Bank. Manfred Pohl resümiert im zweiten Band der Deutschai Bankengeschichte diesen Prozeß: „Die Entwicklung der drei bedeutendsten Neugründungai der zweiten Gründungswelle zeigt eindeutig, daß in der Zeit von 1870 bis zur neuen Aktiennovelle im Jahre 1884 der Privatbankier den Kampf um seine dominierende Stellung im deutschen Bankgewerbe verloren hatte. Die Aktienbanken in Berlin, Hamburg, Dresden und Darmstadt 49

Böhme, Deutschlands Weg..., 3. Aufl., 1974, S. 320ff.; M. Pohl, 1982, Festigung und Ausdehnung des deutschai Bankwesens zwischen 1870 und 1914, S. 258ff. 50 Ebd., S. 259/60 u. 264-66.

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hatten innerhalb kürzester Zeit eine derartige Größenordnung erreicht, an die selbst so bedeutende Bankhäuser wie Bleichröder, Bethmann, Oppenheim und Warburg nicht mehr heranreichen konnten."51 Im Gründerboom und Gründerkrach etablierte sich Berlin endgültig als Finanzzentrum des neugegründeten Reiches. Auch die Bank für Handel und Industrie verlegte schon 1872 ihre Hauptverwaltung nach Berlin, sie behielt nur ihren juristischen Sitz in Darmstadt; die Dresdner Bank folgte diesem Schritt 1881. Wie schon am Beispiel der Deutschen Bank gezeigt, gelang es den großen Aktienbanken, die Konkursmasse der zahlreichen Banken zu absorbieren, die insbesondere nach der 1870 gesetzlich erfolgten Aufhebung der Konzessionspflicht für Aktiengesellschaften gegründet und in der schweren Krise ab 1873 liquidiert worden waren; von 186 in den Jahren 186974 reichsweit gegründeten Banken mußten 100 bis zum Jahr 1880 wieder liquidieren.52 Die großen Aktienbanken gingen also - auch wenn sie einzelne Verluste erlitten - letztlich gestärkt, mit Filialen, Kunden und qualifiziertem Personal der liquidierten Banken versehen, aus der Krise heraus. Zugleich hatte das Industriegründungsgeschäft der Boom-Jahre auch eine intensive Verflechtung von schwerindustriellen Interessen an Rhein und Ruhr, in Oberschlesien und Bankinteressen in Berlin herbeigeführt. Diese Achse Ruhrgebiet - Berlin - Oberschlesien hielt auch über die Gründerkrise und sollte für Jahrzehnte das ökonomische Rückgrat des deutschen Reiches bilden.53 IV. Kehren wir abschließend von unserem Vorbeiflug an zentralen Stationen der deutschen Wirtschafts- und Bankengeschichte dieser Jahre noch einmal zu unserem Berliner Finanzbürgertum in einem engeren sozialhistorischen Sinne zurück, jenem Finanzbürgertum, das im Laufe des Vierteljahrhunderts seit 1848 zur deutschen Finanzbourgeoisie geworden war, zur „haute finance" wie man sich damals ausdrückte. Zwar waren nicht alle Angehörigen der Hochfinanz so reich geworden wie unsere zwei häufiger erwähnten „Helden" und Stützen Bismarcks 51

M. Pohl. Festigung und Ausdehnung..., S. 261. Ebd., S. 226; Böhme, Deutschlands Weg..., 3. Aufl., 1974, S. 351. 53 Ebd., S. 333ff. u. 349ff. 52

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in höchster Not. Gerson Bleichröder und Adolf Hansemann waren am Ende ihres Lebens in dieser Reihenfolge die hinsichtlich der Steuerstatistik reichsten Männer Preußais, mehrfache Einkommensmillionäre. Zum geschäftlichen Erfolg kam aber auch die gesellschaftliche Ehrung. Schon vor 1870 war beiden neben zahlreichen Orden auch der hochangesehene Titel „Geheimer Kommerzienrat" verliehen worden. Und auf Betreiben Bismarcks wurden beide 1872 in den erblichen Adelsstand erhoben. Gerson von Bleichröder war dabei der erste ungetaufte Jude, der so geehrt wurde, eine einzigartige Auszeichnung.54 Außer Bleichröder und Hansemann waren zwischen 1850 und 1873 nur noch acht andere Berliner Unternehmer geadelt worden, fast alle Bankiers.55 Aber auch viele andere Finanzbürger waren äußerst wohlhabend geworden und gaben ihrem Reichtum u.a. durch prunkvolle Palais Ausdruck, die alle relativ nah beieinander lagen. So liest sich etwa das Adreßbuch der Straßen im Nobelviertel Tiergarten wie eine Börsenzeitung mit Namen von Aufsichtsratsmitgliedern. Warn Adolf von Hansemann wollte, brauchte er aus seiner vom Berliner Stararchitekten Hitzig gebauten Doppelvilla Tiergartenstraße 30/31 nur drei Häuser weiter zu gehen um den Direktor der Deutschen Bank, Georg von Siemens zu besuchen.56 Der schnell gewachsene Reichtum hatte jedoch nicht dazu gefuhrt, daß die Hochfinanz ein in sich ruhendes Selbstbewußtsein als ökonomische Elite entwickelt hätte, die nun auch ihren politischen Mitgestaltungsanspruch „einklagen" würde. Dies verhinderte die Kapitulation der Liberalen vor Bismarck mit der Indemnitätsvorlage und die glänzenden Siege der preußischen Armeen, die - obgleich mit Hilfe des Kapitals der Hochfinanz und dem Einsatz modernster Technik errungen - letztlich doch das Prinzip des monarchischen Staates wieder in hellem Licht erstrahlen ließen. Dazu kam die Sondersituation der Juden, die ja einen Großteil der Hochfinanz ausmachten. Die Reaktion auf diese Sondersituation reichten von totaler Assimilation durch Taufe, Namensänderung und Aufgeben jüdischer Lebensformen bis zur bewußten Akzentuierung der jüdischen Andersartigkeit, wie es etwa

34

Böhme, Deutschlands Weg..., 3. Aufl., 1974, S. 202-205; Stern, Gold aftd Iron..., S. 167. 55 Kaelble, Berliner Unternehmer während..., S. 168. 56 Erich Achterberg, , Berliner Hochfinanz. Kaiser, Fürsten, Millionäre um 1900, Frankfurt/M. 1965, S. 43-46.

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von Aron Hirsch Heymann überliefert ist, 1869 einer der Mitbegründer der orthodoxen Separatgemeinde.37 Aus dem Streben, neben wirtschaftlichem Erfolg auch gesellschaftliche Anerkennung der führenden Schicht zu ernten, und das war nach wie vor - trotz wirtschaftlichen Zurückfallens - der Adel, erwuchs ein aus heutiger Sicht zum Teil fast unwürdig anmutendes Bemühen, das Parvenühafte, dai Geruch des „Nouveau Riche" abzustreifen und sich zumindest äußerlich an die Aristokratie anzupassen. Dies darf jedoch nicht mit einer inneren Feudalisierung verwechselt werden. Tatsächlich vollzog sich zeitgleich wohl eher so etwas wie eine „Kapitalisierung" der Aristokratie, die in großem Maßstab versuchte, ihre Güter renditeorientiert zu bewirtschaften und flüssige Gelder spekulativ anzulegen; ein sehr gutes Beispiel hierfür gibt etwa Bismarck selbst.58 Wenn wir also versuchen wollen, das Berliner Finanzbürgertum und seine Rolle im Hinblick auf seine gesellschaftspolitische Gestaltungskraft einzuschätzen, so wäre der Vorwurf, das Finanzbürgertum habe seine historische Rolle, neben der wirtschaftlichen Modernisierung auch die politische Demokratisierung voranzutreiben, verraten, wenig sinnvoll. Gerade das Finanzbürgertum war schon frühzeitig in bedienender Funktion eng mit der Aristokratie und mit dem Hofe verbunden und zeichnete sich von daher durch besondere Staatstreue aus, hängt doch das Schicksal von Staatsanleihen und Währungsstabilität, das Wohl und Wehe der Börse, sdir direkt auch von der Stabilität von Staaten und Regierungen ab. Dazu hat gerade beim jüdischen Teil des Finanzbürgertums das Bewußtsein seiner Sonderstellung, seiner ständigen potentiellen Gefahrdung, anstelle einer etwaigen Klassensolidarität des Bürgertums aufgrund gemeinsamer ökonomischer Probleme und Interessen, viel mehr eine jüdische Solidarität entstehen lassen, neben die sich im Bezug auf die politische Führung häufig ein fast übertrieben unterwürfiges Verhältnis gesellte. Dies wird etwa sichtbar in dai Briefen Bleichröders an Bismarck. Zudem entsprach die Politik der preußischen und der Reichsregierung auf wirtschafts- und handelspolitischem Gebiet in dai Grundzügen bis 1876 durchaus den Interessen des Finanzbürgertums. Bis zu diesem Zeitpunkt war jedenfalls ein Anlaß für massivere Opposition nicht gegeben. 37

Vorwort zu Heymann, Lebenserinnerungen (s. Anm. 1), S. 213. Vgl. Lothar Machtan/Dietrich Milles, Die Klassensymbiose von Junkertum und Bourgeoisie, Frankfurt/M. 1980, bes. S. 24ff.; Stern, Gold and Iron..., S. 96-120. 38

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Nach dem Übergang zum Schutzzoll und der Ablösung des gouvernementalen Liberalismus durch Bismarcks „Konservatives System", das auf einem Interessenbündnis von Grundindustrie und Großlandwirtschaft beruhte, wurde die Situation schwieriger und spannungsgeladener. Denn die neue Politik entsprach nun keineswegs einer auf freiem Warenaustausch und liberaler Finanzpolitik beruhenden Grundkonzeption der Banken, die mit ihrem großen Klientel in dai Organisational des Deutschen Handelstages vertreten waren. Die Exportindustrie und die verarbeitende Industrie wurden zunehmend behindert vom nationalen Machtkartell, und diese Spannung spiegelte sich auch in einer zunehmend akzentuierten Politisierung des Finanzbürgertums. Dominierend blieb beim Finanzbürgertum der konservativ rechtsliberale Grundzug. Doch je nach Klientelbindung konnte man auch freisinnig liberalere Überzeugungen erkennen, die die spannungsgeladenen gesellschaftspolitischen Antinomien des Kaiserreichs reflektierten und die dann während des Ersten Weltkriegs zu sehr grundsätzlichen Diskussionen über die weitere Entwicklung des Kaiserreichs führen sollten. Wollte man diese Entwicklung mit Namen verbinden, dann wäre Adolf von Hansemanns Disconto-Gesellschaft einerseits und Georg von Siemens' Deutsche Bank andererseits zu nennen. Hansemann verband die Disconto-Gesellschaft sdir eng mit den Interessen der Grund- und Rüstungsindustrie; er führte die Bank früh - trotz großer Verluste - in die Kolonial- und dann Weltmachtpolitik hinein, unterstützte vehement dai Alldeutschen Verband und Ostmarkenverein, führte sein Klientel in enger Absprache mit den kaiserlichen Weltmachtträumai und sah in der imperialen Politik eine Garantie gegen Umsturz und Sozialdemokraten. Siemens hingegen, der auch der „Rote" gaiannt wurde, setzte viel deutlicher auf Modernisierung, auf Liberalisierung, Freihandel und Reformen. Mit ihm enger verbundai können Fürstaiberg und Rathenau als solche „Modernisten" angesehen werden, die die Banken vor einer allzu engen Bindung an die Schwerindustrie und die Agrarier bewahren wollten und sich stark in dai neuen Industrien von Elektrotechnik und Chemie engagierten. Doch diese Auseinandersetzungen vollzogen sich nicht nur in einem immer engeren Kreis von hochkapitalai Kreisen hinter verschlossenen Türen, sondern auch das Engagement in und für oder Kritik gegen die Politik des wilhelminischen Reiches wurde öffentlich nie virulent, dazu brauchte es den Krieg. Entscheidend blieb letztlich die ökonomische, profitable Entwicklung, die das Kaiserreich und seine Struktur

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trotz allem zu garantieren schien. Dadurch, daß der Einfluß der Manager stieg, der der Kapitalbesitzer sank, die Spitze der Finanzwelt immer enger wurde, die Vermögen zunahmen, auch der wirtschaftliche Einfluß, aber der politische wegen der unterschiedlichen Interessenlage ambivalent blieb, schloß sich das Berliner Finanzbürgertum immer mehr ab. Die Rekrutierung wurde breiter, aber der Aufstieg enger und aus dai eigenen Unternehmen gespeist. Wenige Akademiker nur zählte der Kreis, zu den Universitäten wurde deutlich Distanz gehalten, eine eigene Identität nicht gesucht, vielmehr Rang, Adel, Ehre. Die IHK Berlin - so hieß es - sei eigentlich ein Ordenskonvent, allerdings für Orden minderer Klassen, denn das Reich und sein Adel hielt auch auf Distanz. Doch letztlich kam es zu keiner Konfrontation. Die berühmte „Mittwochs-Gesellschaft", in der die Bankiers den Ton angaben, diskutierte wohl die Probleme des modernen Industriestaates, finanzierte aber Ruhe und Ordnung, Weltmachtstreben, Rüstung und Flottenbau, war dankbar für den angebotenen Platz im immer brüchiger werdenden, weil sozial belasteten Reichsbau. Auch das Finanzbürgertum war durchdrungen von dem Gedanken, wie es der Dresdner Bank-Direktor Eugen Guttmann formulierte, „daß Macht, nicht Gerechtigkeit das Fundament des Reiches" sei.39

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E. Guttmann, Schattenriß einer Generation, 1888-1919, Stuttgart, 1950, S. 75.

Fritz Hellwig D A S WIRTSCHAFTSBÜRGERTUM AN DER SAAR IM 19. JAHRHUNDERT

I.

Das Saarindustriegebiet, wie es sich im 19. Jahrhundert in einem politisch zersplitterten, geographisch uneinheitlichen Grenzraum zwischen dem Rheinischen Schiefergebirge, dem Pfalzer Bergland und der lothringischen Stufenlandschaft entwickelt hat, galt in vorindustrieller Zeit als „ein kulturgeographisch 'toter' Raum" (Overbeck)1. Das heutige Saarland deckt sich nicht mit dem durch Kohlenbergbau und Eisenindustrie geprägten Industriegebiet, dessen Aufstieg im 19. Jahrhundert nicht durch die Grenzen zwischen Preußen, Bayern und Lothringen beeinträchtigt wurde. Als Frankreich unter dem Titel von Reparationen nach dem Ersten Weltkrieg die Ausbeutung der Saarkohlengruben auf die Dauer von fünfzehn Jahren zugesprochen wurde, wurde mit dem „Saargebiet" ein Verwaltungsbezirk aus preußischen und bayerischen Gebietsteilen gebildet, dessen Abgrenzung auch die Wohnbezirke der Bergarbeiterschaft einbezog. Dieses „Saargebiet" hatte bei einem Anteil von nur 0,4% der Fläche des Deutschen Reichs (in den Grenzen von 1922) einen Anteil von 1,1% der Reichsbevölkerung: Die wirtschaftliche Leistung erreichte dagegen 1913 bei der Steinkohle 8,6%, bei Roheisen 11,2%, bei Rohstahl 14,5%, bei Tafelglas 24%, bei Wand- und Bodenplatten noch höhere Anteile an der jeweiligen deutschen Erzeugung (immer bezogen auf das Reichsgebiet in den Grenzen von 1922). Das „Saargebiet" blieb auch nach Beendigung des Sonderstatus unter Verwaltung des Völkerbundes als „Saarland" bestehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Saarland noch um weitere Randzonen von 1.900 qkm auf 2.600 qkm vergrößert. Das Kemgebiet für unser Thema bildet das „Saargebiet" in den Grenzen von 1919. Die Völkerbundszeit kann auch bei der Betrachtung des 19. Jahrhunderts nicht ausgeschlossen werden, bildet sie doch den Abschluß eines Entwicklungsprozesses, der es erlaubt, auch räumlich einen Bezirk eigener Struktur und besonderen Selbstverständnisses abzugrenzen. 1

Saar-Atlas, hg. v. Hermann Overbeck u. Georg Wilhelm Sante, 1934, S. 58.

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Zwar bleibt damit der benachbarte, gleichfalls durch den Bergbau auf Saarkohle geprägte Teil von Lothringen außerhalb dieses Untersuchungsbezirks; die Familien- und Unternehmensverflechtung zwischen Saar und Lothringen braucht aber deswegen nicht vernachlässigt zu werden. In der zeitlichen Abgrenzung liegt es nahe, von der Zeit der Zugehörigkeit zu Frankreich (1793 besetzt, 1801-1814/15 an Frankreich abgetreten) als der Phase des Übergangs vom Ancien Régime mit seiner Kleinstaaterei zum Deutschen Bund auszugdien. Mit ihr endete die territoriale Zersplitterung, die sich auch in der Stadtentwicklung spiegelte: Nicht weniger als vierzehn deutsche Territorialherren mit oder ohne Reichsstandschaft hatten Anteil an dem Gebiet, dazu die Krone Frankreichs und das Herzogtum Lothringen. Im Umkreis von dreißig Kilometern um Saarbrücken gab es etwa 25 Städte oder stadtähnliche Siedlungen, von denen einige ältere den Stadtcharakter verloren hatten. Außer Saarbrücken und St. Johann, der nur durch die Saar getrennten Doppelstadt, die seit der Stadtrechtsverleihung 1321 unter einer gemeinsamen Verwaltungsspitze stand, hatte keine dieser Städte mehr als 2.000 Einwohner, meist bedeutend weniger. Dieser Masse von Kleinstädten, die ihre Funktion bzw. ihren Rang mehr landesherrlichen oder dynastischen Ambitionen als ihrer wirtschaftlichen Aktivität (neben der militärischen Funktion einiger befestigter Plätze) verdankten, standen als mächtige Nachbarn die alten Bischofsstädte Metz und Trier und die Städte der Rheinlinie, Straßburg, Speyer, Worms und Heidelberg gegenüber. Von ihnen gingen seit dem 16. Jahrhundert wirtschaftliche Aktivitäten auch im Saarraum aus (Hüttenpächter, Handel, Finanzierung). Von den älteren Residenzstädten Saarbrücken und Zweibrücken erwies sich schon im 18. Jahrhundert Saarbrücken dank seiner Lage am Schiffahrtsweg der Saar attraktiver als Standort für wirtschaftliche Unternehmungen. Saarlouis, die 1680 von Frankreich gegründete Festung, konnte als Festungsstadt bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts nicht mithalten; die wirtschaftlichen Möglichkeiten für unternehmerische Bürger lagen dort im Umland. Verglichen mit dai großstädtischen Zentren, für die das Thema Wirtschaftsbürgertum behandelt wird, bildet das hier zu untersuchende Saarland zwar eine Bevölkerungsagglomeration von etwa 700.000 Einwohnern (1910), deren städtisches Zentrum Saarbrücken aber eben 100.000 Einwohner erreicht. Der Prozeß der Urbanisierung dieses Einzugsbereichs kann hier nicht im einzelnen behandelt werden. Das Ergebnis ist die Gemeindegrößenstuktur (1910): Einer Großstadt, die

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erst 1909 durch die Vereinigung der Mittelstädte Saarbrücken, St. Johann und Malstadt-Burbach entstanden ist, stehen sieben ältere Städte und Marktflecken, keine über 10.000 Einwohner gegenüber, dazu aber acht Großgemeinden, jede über 10.000 Einwohner. Die Frage nach dem Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum muß bei der Saar also ausgehen von einer ungewöhnlichen Konstellation, einem Netz von Großgemeinden und Kleinstädten, bei denen der Übergang zwischen Dorf und Stadt fließend ist. Für den ganzen Zeitraum ist das wachsende Gewicht von Saarbrücken-St. Johann die durchgehende Linie, auf der sich das Bildungs- wie das Wirtschaftsbürgertum entwickeln. Die Stadt wird Sitz der preußischen Bergwerksverwaltung (1816), eines Landgerichts (1834) und Eisenbahnknotenpunkt (ab 1848). Die nach vergeblichen Anläufen in den 40er Jahren 1863 errichtete Handelskammer zu Saarbrücken wird das Sprachrohr des privaten Unternehmertums, obwohl der Kammerbezirk zunächst nur den Landkreis Saarbrücken mit der noch nicht kreisfreien Doppelstadt Saarbrücken-St. Johann umfaßt. Von den für die Wahl 1871 erfaßten wahlberechtigten 279 Firmen waren 199 Einzelfirmen, 67 Gesellschaftsfirmen und 13 Genossenschaften. Zwei Drittel davon hatten ihren Sitz in Saarbrücken-St. Johann. Der ganze Landgerichtsbezirk Saarbrücken, dem erst 1886 der Kammerbezirk angepaßt wurde, hatte 1871 605 Einzelfirmen, 120 Gesellschaftsfirmen und 20 Genossenschaften, zusammen also 745 Wahlberechtigte. Bis 1913 stieg die Zahl auf rund 1.700 Firmen. Bis 1886 gehörte ein so bedeutendes Unternehmen wie das Neunkircher Eisenwerk der Gebr. Stumm noch nicht zum Kammerbezirk. Auch nach der Erweiterung des Bezirkes 1886 fehlten nodi der zum Kammerbezirk Trier gehörende Kreis Merzig und die zur Handelskammer Ludwigshafen gehörenden, bis 1918 bayerischen Landkreise St. Ingbert und Homburg. So war das bedeutendste Unternehmen der unteren Saar, die Steingutfabrik von Villeroy und Boch, auf zwei Handelskammerbezirke (Saarbrücken und Trier) aufgeteilt, während das Eisenwerk St.Ingbert der mit der preußischen Seite familiär verbundenen Familie Kraemer zur Kammer Ludwigshafen gehörte. Nicht wahlberechtigt waren im übrigen die sogenannten Minderkaufleute, Kleingewerbetreibende, Handwerker, nichtbuchfuhrende Kleinhändler, deren Zahl sich in den Gründungsjahren der Saarbrücker Kammer auf etwa 1.000 belief. Unseren Betrachtungen werden die biographischen, familien- und firmenkundlichen Angaben zugrundegelegt, die vor dem Zweiten

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Weltkrieg für das von Kurt Wiedenfeld eingeleitete Vorhaben der Deutschen Akademie einer deutschen „Unternehmer-Biographie" zusammengetragen worden waren. Erfaßt waren ungefähr 100 Familiennamen, hinter denen ein Mehrfaches an Einzelpersonen, Familienstämmen und Firmen stand. Der erfaßte Personen- bzw. Firmenkreis dürfte groß genug sein, um von Einzelerscheinungen zu Aussagen für dai ganzai Raum zu gelangen, die die Eigenart seines wirtschaftlichen Aufbaus, die Intensität und Vielfalt des Wirtschaftslebens trotz der räumlichen Enge erkennen lassen. Π. Zu der räumlichen Enge des Arbeitsfeldes der Privatunternehmer an der Saar kommt noch eine schwerwiegende sachliche Einengung, indem der Steinkohlenbergbau - an der Ruhr wie in Oberschlesien der Nährboden allererster Untemehmerkräfte - ausscheidet. Der preußische Staat hatte 1815 dai überwiegenden Teil des Saarbergbaus übernommen, in Nachfolge der Verstaatlichung, die schon vor der Französischen Revolution durch den Landesherren, den Fürsten von Nassau-Saarbrücken, vorgenommai und während der Zugehörigkeit zu Frankreich, mit vorübergehendai Unterbrechungai durch Verpachtung, aufrechterhalten worden war. Ebenso übernahm der bayerische Staat dai ehemals landesherrlichai kleinen pfalzischen Anteil am Saarkohlenbecken. Nur zwei Gruben blieben bis zum Ausgang des Ersten Weltkriegs in privater Hand, eine im Besitz französischer Aktionäre, die andere - Hostenbach - war unter französischer Herrschaft in private Hand gekommen und wurde von einer Gewerkschaft betrieben, an der französische und deutsche Gewerken, u.a. die Hauser Villeroy, Vopelius und Röchling beteiligt waren. Hostenbach verdient deswegen besondere Erwähnung, weil diese Privatgrube schon vor dem Staatsbergbau, aber auch noch vor den Ruhrbergwerken, zum Schachtabbau übergegangen ist (1822) und gleichzeitig die Dampfmaschine für Förderung und Wasserhaltung eingeführt hat. Das private Unternehmertum hatte hier gegenüber der staatlichen Bergwerksverwaltung dai Befähigungsnachweis erbracht. Im preußischen Saarkohlenbezirk war den privaten Unternehmern auch die Erforschung und Erschließung noch unerforschter Lagerstätten unmöglich gemacht durch die Ausdehnung des fiskalischai Berechtigungsfeldes und die Sperrung der Mutungskonkurrenz (1860). So wandte sich die saar-

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ländische Privatindustrie, im Streben nach Unabhängigkeit vom fiskalischen Steinkohlenmonopol, der Fortsetzung des Saarkohlenvorkommens im angrenzenden Lothringen zu. Die Erschließung der ersten Gruben im lothringischen Saarkohlenrevier war das Werk der lothringischen Eisenhüttenindustriellen de Wendel und saarländischlothringischer Gemeinschaftsunternehmen, an denen sich namhafte saarländische Unternehmer wie die Karcher, Pabst, Cetto, Appolt, Westermann und Simon beteiligten. Noch später, als Lothringen zum Reich gehörte, haben vor allem saarländische Hüttenwerke versucht, im lothringischen Kohlenbergbau weiter Fuß zu fassen, sind aber zur bergmännischen Erschließung ihrer Konzessionen nicht mehr gekommen. Das Urteil des privaten Unternehmers über den Staatsbetrieb ist nicht einheitlich. In Zeiten politischer Gefahrdung, in denen der Saarbergbau ein Ziel französischer Saarpolitik war, ist die Berufung des Staates zur Verwaltung des Bergwerksbesitzes anerkannt worden. Ein Heinrich Böcking hat die Übernahme der Saargruben durch den preußischen Staat 1815 als Kernstück der politischen Rückgewinnung des Landes betrieben. Er stand damit im Gegensatz zu der Familie Stumm, in die er eingeheiratet hatte: Die Eisenindustriellen, die 1806 das Neunkircher Eisenwerk erworben und ihre führende Position durch weitere kleinere Erwerbungen ausgebaut hatten, trugen mehrfach den preußischen Behörden ihren Wunsch nach Erwerb einer Kohlengrube vor. Dagegen ist Carl Ferdinand Stumm, der nachmalige Freiherr v. Stumm-Halberg, 1866 bei Bismarck für die Aufrechterhaltung des Staatsbesitzes im Saarbergbau eingetreten, als im preußischen Staatsministerium eine Änderung in der Verwaltungsform der Saargruben besprochen wurde und gleichzeitig französische Angebote zur Errichtung einer deutsch-französischen Aktiengesellschaft für die Übernahme der Gruben vorlagen. In solchen Augenblicken sind die wirtschaftlichen Bedenken des privaten Unternehmertums gegen das Staatsmonopol im Saarbergbau zurückgetreten, ebenso die Wünsche einer einheimischen privaten Beteiligung. Aber schon 1867, als die Gefährdung der Saar gebannt zu sein schien, unterstrich die Handelskammer2 ihre Kritik am Staatsbergbau: „. .. sind auch jetzt noch der Ansicht, daß der Staat kein Gewerbe treiben sollte, und würden es als einen Gewinn für unsere Gegend und deren volkswirtschaftliche Ent2

Für dieses und die folgenden Zitate: Jahresberichte der Handelskammer Saarbrücken fiir 1864, 1867 u. 1870.

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wicklung halten, wain die hiesigen fiskalischen Kohlenwerke parzellenweise in die Hände von Privaten übergehen würden." Wortführer der Kritik am Staatsbergbau war die Handelskammer seit ihrer Gründung. Schon im ersten Jahresbericht (für 1864) hält sie der Regierung vor: „Nie können gesunde Verhältnisse durch ein Monopol, sondern nur durch Konkurrenz erzeugt werden." Und nach dem siegreichen Krieg gegen Frankreich heißt es im Jahresbericht für 1870: „Es kann heutigen Tages füglich nicht mehr als zur Diskussion stehend betrachtet werden, ob der Staat überhaupt Gewerbe treiben soll oder nicht. Wissenschaft wie Erfahrung haben gleichmäßig dai Stab darüber gebrochen." Es ist daran zu erinnern, daß der Kammerbezirk zu dieser Zeit nur den Kreis Saarbrücken, noch nicht dai Kreis Ottweiler mit dem Stummschen Neunkircher Eisenwerk umfaßte; Stumm gehörte der Kammer also noch nicht an. Die Kritik der Privatwirtschaft richtete sich nicht nur gegen die Preis- und Förderpolitik des staatlichen Monopolbetriebes; sie warf der Bergwerksverwaltung auch vor, bei ihrer Absatzorganisation über die eingesessenen Handelsfirmen hinwegzugehen. Es kam zum Konflikt mit der Aufsichtsbehörde, dem preußischen Handelsministerium, als der örtliche Einzelhandel sich durch die Förderung der Konsumgenossenschaften und durch die Errichtung von Werkskonsumanstalten durch die Bergwerksdirektion benachteiligt fühlte. Im Protest gegen eine Zurechtweisung durch die Aufsichtsbehörde - Handelsminister war zu dieser Zeit Bismarck - stellte die Kammer ihre Tätigkeit 1883 ein und löste sich selbst auf. Es war gewissermaßen eine mittelständische Demonstration gegen das großindustrielle Staatsunternehmen. Bei der Wiedererrichtung 1886 erfolgte die Ausdehnung des Kammerbezirks, womit das Übergewicht der Kaufmannschaft in dai Saarstädten durch dai Hinzutritt gewichtiger Industriefirmai, vor allem des Stummschen Werks in Neunkirchen, korrigiert wurde. Die Führung der Kammer ging dabei an Stumm über (1886-1901). Unter seinem Einfluß wurde das Verhältnis zwischen Unternehmertum und Staatsbergbau wieder besser, auch wenn Stumm selbst mitunter mit der Haltung der Bergwerksdirektion in den sozialai Auseinandersetzungen nicht einverstanden war und seine Kritik bis zu Bismarck und später Kaiser Wilhelm Π. selbst vortrug. Auch in dai Reihen des Staatsbergbaus selbst wurde eine gewisse Unterlegenheit des Staatsbetriebs in der unternehmerischen Leistung gegenüber dem Privatbetrieb anerkannt. Als 1825 das letzte früher landesherrliche Hüttenwerk im Saarland vom preußischen Staat ver-

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äußert wurde, schrieb der höchste preußische Repräsentant, der Vorsitzende der Saarbrücker Bergwerksverwaltung, Leopold Sello, in seinem Gutachten3: „Es steht zuerst fest, daß ein Hüttenwerk auf Kosten des Staates verwaltet schon durch die Stellung der Administration selbst niemals mit solchen Vorteilen betrieben werden kann als durch einen Besitzer, der Privatmann ist, warn selbst in Kenntnissen und gutem Willen der Betriebsbeamte des Staates dem Privatmann weit überlegen wäre." Die Unterlegenheit des Staatsbetriebes wird fast ein Jahrhundert später (1910) wiederum von einem Bergmann untersucht und eingehend dargelegt. Wir lesen bei Bergassessor Ernst Herbig4: „Noch schwerer fallt in wirtschaftlicher Beziehung ins Gewicht die mangelnde Anpassungsfähigkeit des Saarbrücker Bergbaus an die Konjunkturschwankungen..." Beklagt wird „die Starrheit des staatlichen Etatierungswesens und die starke Abhängigkeit des Bergetats von der allgemeinen Finanzlage des Staates". Nach Stumms Tod (1901) verstärkt sich wieder die Kritik der Handelskammer an der Preis- und Förderpolitik des Staatsbergbaus, dem wiederholt die vorbildlich überparteiliche Eisenbahnpolitik des preußischen Staates als Muster vorgehalten wird. Daß die eigentliche Leistung der staatlichen Bergwerksverwaltung in einer stabilen, niemals überstürzten Entwicklung lag, die das Saarrevier vor allem von ungesunden sozialen Folgen einer Expansion um jeden Preis freihielt, ist von dem privaten, auf Ausnutzung jeder Konjunktur eingestellten Unternehmer mitunter verkannt worden, hat aber in dai späteren Jahren der politischen Auseinandersetzungen um das „Saargebiet" nach dem Ersten Weltkrieg rückhaltlos die verdiente Anerkennung gefunden. Die Frontstellung der Saarbrücker Handelskammer gegen den Staatsbergbau läßt erkennen, daß die staatlichen Steinkohlenbergwerke nicht in der Handelskammer vertreten waren. Es blieb eine Ausnahme, als zeitweise Bergbeamte in ihrer Eigenschaft als Vorstand einer Konsumgenossenschaft in die Handelskammer gewählt wurden. So ist die Meinungsbildung in diesem Gremium unabhängig von den Repräsentanten des staatlichen Kohlenbergbaus geblieben. Auch der Stummschen Gründung eines „Vereins zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen der Saarindustrie" (1882) blieb der Staatsbergbau fern, nachdem ein zunächst von dem Vorsitzenden der Berg3

Bericht Seilos an das Oberbergamt, 8. November 1825 (Akten des Oberbergamts Bonn im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf). 4 Ernst Herbig, Die Löhne im staatlichen Steinkohlebergbau bei Saarbrücken, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 39 (ΙΠ), S. 289-324.

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werksdirektion, Adolf Achenbach, 1877 ausgegangener Versuch, mit der Industrie zusammen eine gemeinsame Organisation zur Abwehr sozialistischer Agitation zu schaffen, 1881 nach der Intervention des preußischen Handelsministers Maybach hatte aufgegeben werden müssen. Stumm hatte dieses „Komitee der Arbeitgeber zur Bekämpfung der Sozialdemokratie" so sdir zu seiner eigenen Sache gemacht, daß er auf die Desavouierung durch den Handelsminister mit dem zeitweiligen Verzicht auf ein parlamentarisches Mandat reagierte. Trotz dieser Distanz zwischen Privatwirtschaft und Staatsbergbau ist nicht zu verkamen, daß der preußische Staat als größter Arbeitgeber in der Saarwirtschaft nicht nur entscheidenden Einfluß auf das Tempo der wirtschaftlichen Entwicklung des Bezirks genommen, sondern auch auf die politische, wirtschaftliche und soziale Gedankenwelt des Unternehmertums gewirkt hat. Das gilt besonders für die betriebliche Ordnung wie für die Sozialleistungen, hier vor allem für die knappschaftlichen Versicherungskassen wie für den zur Ansiedlung und Eigentumsbildung hinfuhrenden Arbeiterwohnstättenbau. Um den Wirkungsbereich des Staatsbergbaus einschätzen zu können, sind einige Zahlen über die Gliederung der Berg- und Industriearbeiterschaft und die Verschiebungen im 19. Jahrhundert heranzuziehen. 1846, kurz vor der Fertigstellung der ersten Eisenbahn des Saarreviers, zeigt die Statistik der Fabrikanstalten und -Unternehmungen für den Regierungsbezirk Trier5 noch ein leichtes Übergewicht der nichtbergmännischen Industriebeschäftigten mit rund 5.000 gegenüber 4.400 Bergleuten im staatlichen und im privaten Bergbau. Betrieblich verteilten sich diese 4.400 auf 12 „Bergwerke", in denen meist mehrere Grubenanlagen zusammengefaßt waren. In den 35 „Großbetrieben" der Industrie (Eisen, Glas, Keramik, Papier, Chemie) waren 2.675 Arbeiter beschäftigt. Hinzu kamen 2.300 Beschäftigte in Klein- und Kleinstbetrieben (Mühlen, Ziegeleien, Bierbrauereien, Brennereien, Tabakverarbeitung, sowie die in Heimarbeit bzw. als landwirtschaftlicher Nebenerwerb betriebene Weberei). Mit dem Bau der Eisenbahnen, deren wichtigste Verbindungen bis 1870 in Betrieb genommen wurden, hat sich die gewerbliche Struktur wesentlich verändert. Die grundlegende Verbesserung der Absatzmöglichkeiten kam zunächst dem Kohlenbergbau zugute. Neue Bergwerke wurden von Anfang an als Eisenbahnzechen angelegt. Bei den

5 Georg Baersch, Beschreibung des Regierungs-Bezirks Trier, 1846-1849, Bd. I, S. 358-362.

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Eisenwerken und Glashütten setzte eine sich über drei Jahrzehnte hinziehende Neuorientierung der Standorte ein, der ältere, von Wald, Wasser und örtlichen Rohstoffvorkommen (Eisenerz, Glassand) bestimmte Werke zum Opfer fielen. Der Kohlenbergbau beschäftigte 1868 etwa zwei Drittel der Arbeiterschaft, gegenüber 47% in 1846. Der Anteil ging dann wieder zurück, er lag 1910 etwas über 60%. Für die Eisenhüttenindustrie ist ein stetiger Anstieg ihres Anteils zu beobachten: Von 11,5% (1846) über gut 16% (1868) auf 22% (1910). Dagegen ging der Anteil der Glasindustrie von etwa 5% (1846 wie auch 1868) auf 2,2% (1910) zurück. Die Industriai der Steine und Erden (1846: 7,7%) beschäftigten 1868 wie 1910 etwas über 5%. Eine eigenartige Verschiebung vollzog sich in der Heimarbeit. Die Verdienstmöglichkeiten im Bergbau und in der Hüttenindustrie zogen die kleinbäuerliche Bevölkerung an. Die Heimarbeit als Nebenerwerb ging Mitsprechend zurück; es erfolgte eine Umkehrung: Die Landwirtschaft wurde zum Nebenerwerbsbetrieb, eine Entwicklung, die vom Staatsbergbau wie von dai privaten Unternehmern bewußt durch die Methoden im Arbeiterwohnstättenbau (Prämiaisystem, Landzulagen, Kleinsiedlung) gefördert wurde. Der „Arbeiterbauer" war bis weit in das 20. Jahrhundert hinein ein Kennzeichai der Erwerbs- und Siedlungsstruktur im Saarland. Von dem Rückgang der Heimarbeit waren vor allem die Weberei und die Tabakverarbeitung betroffen. Andererseits gingen aus der Heimarbeit in dai revierferneren Zonen südlich vom Kohlenrevier bedeutaide Unternehmen hervor wie die Seidenplüschweberei im Raum von Saargemünd (Lothringai), die Dosenfabrikation und Pappmachéverarbeitung der Familie Adt in Ensheim (Saarpfalz) und in Forbach und Saargemünd (Lothringen), und die Panama- und Strohhutfabrikation in der Umgebung von Saarbrücken (bis in die Saarpfalz hinein). Wie der Kohlenbergbau, so blieb dem privatai Unternehmertum an der Saar auch das Eisenbahnwesen verschlossai. Zwar gingen von der Industrie wesentliche Initiativen zur Planung und zum Bau der Eisenbahnen des Reviers aus, wobei sich Persönlichkeiten der privaten Wirtschaft wie des Staatsbergbaus zusammenfanden. In den Versuchen zur Gründung einer Saarbrücker Eisenbahngesellschaft trafen sich 1836 unter Führung von Leopold Sello die Repräsentanten der erstai Unternehmerfamilien wie Stumm, Karcher, Schmidtbom, Böcking, Röchling und Haldy. Der Widerstand der preußischen und bayerischen Behörden erlaubte aber nur den pfalzischen Kraemer (Eisenwerk St. Ingbert) eine Beteiligung an der Pfälzischen Ludwigs-

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bahn, während der preußische Staat in Anbetracht der strategischen Bedeutung der Eisenbahnen im Umkreis der deutsch-französischen Grenze dai Ausschlag für die Linienführung wie für dai Staatsbetrieb gegeben hat (1848-1852). Daß die Verbindung zwischen der französischen Ostbahn Paris-Metz-Forbach (Grenze) und der pfalzbayrischen Ludwigsbahn Rheinschanze (Ludwigshafen) - Bexbach (preußischbayerische Grenze) über Saarbrücken geführt wurde, war allerdings den hartnäckigen Forderungen der Wirtschaft zu verdanken, die zudem erstmals für die Rentabilitätsberechnung des Projekts dai Güterverkehr, nicht, wie bis dahin üblich, den Personenverkehr zugrunde legte. Der Frachtverkehr, waiiger der Personenverkehr, war auch der beherrschende Gedanke der Gründer der Rhein-Nahe-Bahn, an der die Böckings auf Grund ihrer Eisenhütteninteressai im Hunsrück beteiligt warai. Die spätere Verstaatlichung ist übrigens gerade im Südwestai begrüßt worden als Voraussetzung einer überparteilichai einheitlichai Tarifpolitik. In der Person von Stumm, der der Eisenbahn-EnquêteKommission von 1875 angehörte, stellte das private Unternehmertum einen Vorkämpfer der Bismarckschen Reichseisenbahnpolitik und der Verstaatlichung der preußischai Bahnen dar.

m.

Die Wurzeln des saarländischen Unternehmertums liegen überwiegend in den aitai, bodenständigen Industriezweigen des Eisens und des Glases, sowie im herkömmlichen Saarbrücker Handel mit Kohlai, Holz, Salz, Eisen und Kolonialwaren, zu einem kleinen Teil auch in alten Handwerkszweigai, wie Bierbrauerei, Seilerei, Ziegelei, Holzund Eisenverarbeitung, auch in einigen Zweigen der schon obai erwähnten Heimarbeit. Der Aufstieg zum Unternehmertum ist nicht gleichmäßig erfolgt, sondern erstreckt sich auf rund zwei Jahrhunderte. Den Anfang machten die Familial, die seit Jahrhunderten zum Betrieb ihres Gewerbes besondere Privilegiai und landesherrliche Förderung genossen, die Eisenschmelzer, die Glasmacher, die Papiermacher, aber auch die Müller, die Metzger und Gastwirte als Posthalter. Ihnen folgten die alten städtischen Kaufmannsfamilien, die gleichfalls - neben der Ausbildung im Nah- und Fernhandel sowie im Speditionsgewerbe - über Kapital verfugten und daher schon früh den Anschluß an den älteren industriellen Kern gefunden hatten, schneller als die zunftgebundenen Zweige des städtischen Handwerks, die sich

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bis zur Waide zum 19. Jahrhundert in einer Art passivai Widerstands gegen das die Zunftgrenzen sprengende neue Unternehmertum befanden. Der erste Zusammenschluß der neuen Unternehmerschicht, die Saarbrücker Kranengesellschaft von 1760, wird zwar zum Bau und Betrieb einer Krananlage für die Saarschiffahrt gegründet, grenzt aber zunehmend den Handelsstand gegenüber den aitai Zünften ab und erhält 1781 für ihre Mitglieder das Privileg eines besonderen Gerichtsstandes durch die Schaffung eines eigenen Merkantilgerichtes. Bei dai Gründungsmitgliedern erscheinai 1760 u.a. die Handelshäuser von Schmidtborn, Kom, Karcher, Röchling, Haldy, Zix. Bei der Wiedererrichtung der Gesellschaft 1801 kommen die Namai von Köhl, Quien, Kraemer, Braun, Dryander u.a.m. hinzu. Die Beseitigung des Zunftzwangs hat im 19. Jahrhundert dann auch im Handwerk unternehmerische Kräfte freigemacht und sie vor allem in Erweiterung des handwerklichai Ausgangs - in die verarbeitaiden Industriai und in die Nahrungs- und Gaiußmittelindustrie gelaikt. In dem Aufstieg des saarländischen Unternehmertums sind mehrere Wellen zu erkainen. Die erste Welle reicht bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts zurück und verdankt ihre Anfange der merkantilistischai Wirtschaftspolitik der Landesherrai, die zugleich Saarbrückai-St. Johann als Handelsplatz attraktiv machte, eine Funktion, die der Stadt auch nach der Zugehörigkeit zu Frankreich verbleibt. Bis 1815 hatten sich weitere führaide Untemehmerfamilien wie die Stumm und Bökking, die Villeroy und Boch, die Vopelius, Appolt, Wagner, die Gouvy und die Piette an der Saar etabliert, zum Teil unter Ausnutzung der Möglichkeitai, die die französische Verwaltung mit dem Verkauf des sequestrierten ehemals landesherrlichai oder kirchlichai Besitzes bot. Es war die Generation, die mit dem Anschluß an Preußen (1814/1815), der Gründung des Deutschai Zollvereins und der Einführung der Dampfmaschine aitscheidaide politische und wirtschaftlich-technische Veränderungai erlebte und zu nutzen verstand. Eine zweite Welle setzt um die Mitte des Jahrhunderts nach dem Bau der Eisenbahnen ein, steigt nach der Reichsgründung an dank der Veränderung, die der Standort an der Saar durch dai Frankfurter Friedaisschluß erfahrt: Währaid der Zugehörigkeit Elsaß-Lothringens zum Reich (1871-1918) ist die Behinderung durch die Grenzlage fortgefallai; Saarbrücken profitiert von der Mittellage zwischai Saar, Pfalz und der aufstrebenden Industrie in Lothringai. Diese Phase ist vor allem gekainzeichnet durch den wachsenden Bedarf der expandierenden Grundstoffindustrien an Produktionsmitteln und dem Bedarf

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der rasch zunehmenden Bevölkerung an Verbrauchsgütem. So erfahren die Mittel- und Kleinindustrien und der Handel dai stärksten Zugang in dieser Zeit. Die späteren Wellen des Neuzugangs unternehmerischer Kräfte brauchen uns hier nicht im einzelnen zu beschäftigen; sie hängen ursächlich mit der politischen Sonderexistenz des damaligen „Saargebietes" (1919-1935) und des späteren „Saarlandes" (ab 1945) zusammen. Von dai Unternehmern der zweiten Welle, unter denen der Textilgroßkaufmann Arnold Becker eine herausragaide Rolle, auch als mittelständischer Verbandsgründer, einnimmt, kann gesagt werden, daß sie - stärker jedaifalls als die der späterai Phasen - in dai Rahmai der älteren Generation hineingewachsen sind. So hat das ältere Unternehmertum bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg das Gesicht des saarländischen Unternehmers, seine politische wirtschaftliche und soziale Gedankenwelt im wesentlichen bestimmt, wofür die Rolle der Röchling, Vopelius, Waitzel, Boch, Karcher und Becker noch während der Völkerbundsverwaltung im Saarland beredtes Zeugnis ablegt. Nur wenige saarländische Unternehmerfamilien können ihre Ansässigkeit im Saarland über den Dreißigjährigai Krieg zurück nachweisen, unter ihnen die Karcher, Adt, Bruch, Köhl, Braun, Schlachter und Zix. Nach der großai Entvölkerung in dai Kriegen des 17. Jahrhunderts setzte die landesherrliche Peuplierungspolitik in Lothringai und bei den angrenzenden deutschen Territorialherren ein, mit der auch die Heranziehung von Gewerbetreibenden, Eisenschmelzern, Glasmachern und Handwerkern vor allem des Baufachs einhergeht. Nach der landschaftlichen und stammesmäßigai Herkunft ergibt sich bei dai Unternehmerfamilien ein ähnlich buntes Bild wie bei der Gesamtbevölkerung, indem an der Wiederbesiedlung nicht nur Rückwanderer, sondern eine Einwanderung aus den Nachbargebieten Pfalz, Hunsrück, Lothringen, aber auch aus entlegeneren deutschen Landschaften beteiligt sind. Von Hunsrück, Nahe und Mosel kommen die Stumm und die Böcking, aus der Pfalz die Krämer (Kraemer) und Ehrhardt, aus Lothringen neben den hugenottischen Begründern der Saarglasindustrie die Villeroy, Boch, Fontaine, Didier, aus dem Herzogtum Luxemburg die Papiermacher Limbourg und Piette. Aus dem alten wallonischai Eisenrevier an der Maas stammen Eisaihüttenleute wie Gottbill und Gouvy. Hessai und das Maingebiet sind die Heimat der Vopelius, Wentzel, Eberhardt und Rexroth, Thüringai die Heimat der Pabst und Mühlhaus. Von der Eifel kamen die Firmond und die

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Poensgen, beide Nachfahren alter Eifeler Eisenhüttengeschlechter. Westfälisch«! Ursprungs sind die Röchling und die Schmidtborn. Das Alpenland ist beteiligt mit dai Neufang (Salzburg), dai Haldy (Schweiz) und dai Eichacker (Tirol). Auch an der Einwanderung italienischer Kaufleute in der zweitai Hälfte des 18. Jahrhunderts hat der Bezirk Anteil, wenn auch nicht so stark wie das Oberrheingebiet und Frankfurt; ihr gehören die Kaufmannsfamilie Cetto in Zweibrükken und St. Waidel, die westpfalzische Posthalter- und Industriellenfamilie Balzino in Landstuhl an. Ähnlich ist das Bild der Zuwanderung im 19. Jahrhundert. Hier sind es die unternehmungslustigen Söhne der Pfalz, des Hunsrück und der Eifel, überhaupt der rheinischen Bergländer, die die aufstrebenden Industriegebiete an der Saar wie am Niederrhein angelockt haben. Auch das eingesessaie Bauerntum stellt einige jüngere Unternehmer, die auf dem Weg über ursprüngliche Nebenbetriebe (Mühlen, Ziegeleien, Töpferei, Reparaturhandwerk und Bau von landwirtschaftlichen Maschinen) aufsteigen. Trotz der verschiedenartigen Herkunft gilt für das saarländische Unternehmertum fast noch mehr als für die gesamte Saarbevölkerung, daß es zu einer gewissen Einheit zusammengewachsen ist. Das zeichnete sich schon bei der älteren Schicht in den Anfangen der Industrialisierung ab. Die Gemeinsamkeit der Lebens- und Arbeitsbedingungen im politisch belastetai Graizgebiet mit ihren wechselnden Risiken hat auf engem Raum die Kräfte verschiedener Herkunft zusammengeführt und einander angeglichen. Hinzu kam eine ungewöhnlich starke familiäre Verflechtung als Ergebnis der in Jahrzehnten gewachsenen verwandtschaftlichen Beziehungen. Diese auf Heiratspolitik und Kinderreichtum beruhende innere Verflechtung ist geradezu ein Kennzeichen des saarländischen Unternehmertums im 19. Jahrhundert. Sie hat zwei weitere Eigenheiten dieser Familien begünstigt, ihre Generational überdauernde Berufstreue und ihren ausgeprägten Familiaisinn. Die unternehmerische Begabung in einzelnen Familien mag dadurch verstärkt worden sein. Von der Gefahr der Inzucht sind aber verschiedene dieser Familien später nicht verschont worden, zumal auch die Geburtenfreudigkeit zurückging. Drei- und mehrfache Eheverbindungen bis zu sechs - zwischen zwei Familien sind im älteren Unternehmertum ebenso weitverbreitet wie Kinderzahlen von acht, zehn, ja bis zu fünfzehn Kindern. Durch Kinderreichtum besonders ausgezeichnete Familien wie die Schmidtbom, Böcking, Röchling, Krämer und Kar-

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cher, auch die Villeroy und Boch, haben ihr Blut an zahlreiche andere südwestdeutsche Unternehmerfamilien weitergegeben. Räumlich haben die aitai Familial ihr Arbeitsgebiet über dai engeren Saarbezirk hinaus ausgedehnt. Der Kinderreichtum wie eheliche Verbindungen mit fuhrenden Familial anderer Bezirke haben die Wege geebnet. So entstanden Verbindungen zu dai Lanz, Reinhart und Schulz in Mannheim und Ludwigshafai, den Pastor in Aachen und den Cordes in Hamburg, zwischen den Schmidtbom und den mittelrheinischen Remy, den Monschauer Scheibler, die ihrerseits wieder in dreifacher Verbindung mit dai Böcking standen. Bei diesai führai weitere Verbindungen nach Köln und zu dai niederrheinischai Industriellenfamilien der Haniel, Krupp und Waldthausai, zu den moselländischen Familien der Caspary und Huesgen und zu den Aachener Claus. Weitgespannt sind die Verbindungai der Boch; sie reichai nach Luxemburg, Belgien, nach der Schweiz und dem Sudetenland. Die Kraemer gehen Verbindungen ein mit den Trierer Rautaistrauch, den Frankfurter Hauck und den Haniel. Von der räumlichen Ausdehnung der geschäftlichen Aktivitäten gibt das Haus Röchling eine bemerkaiswerte Vorstellung. Röchlings arbeiteten bereits an der Saar, in Flandern, im Baltikum, an der Mosel und am Oberrhein, als später, mit der Ausdehnung der Stammfirma die Einbeziehung von Ostfrankreich, Aachen, Niederrhein, Westfalen und Mitteldeutschland in das Arbeitsgebiet des Saarbrücker Hauses folgte. Vergleichbar ist die Ausbreitung der Interessen bei den Familial Böcking, Karcher, Schmidtborn, Villeroy und Boch, um nur die wichtigsten zu nennen. Vor dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/1871 waren die Röchling, Haldy, Schmidtbom, Karcher u.a. auch stark in Ostfrankreich engagiert. Politischer Druck führte hier zum Rückzug. Andererseits gaben die Gouvy und die de Wendel ihre Positionen an der Saar auf und konzaitriertai sich auf Lothringai.

IV. Zu den bemerkenswerten Zügen im saarländischai Unternehmertum gehören zwei scheinbar einander widersprechende Erscheinungen. Einerseits fallt bei den älteren Familial die vielseitige gewerbliche Betätigung auf, andererseits zeichneten sich bestimmte Familien über Generationen durch ihre Berufstreue aus. Aber selbst bei den Familien, die seit Gaierationen bestimmten Gewerbezweigai - Eisenindu-

Wirtsdiaftsbürgeitiun an der Saar

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strie, Glas- und Keramikindustrie - verbunden waren, ist später die Ausdehnung in weitere Produktionszweige zu beobachten, warn sie auch mitunter im Gefolge großindustrieller Expansion, horizontaler oder vertikaler Verflechtung auftritt. In zahlreichen Fällen ist eine vielseitige gewerbliche Begabung in dai weitverzweigten Familien wirksam, beflügelt von der in Generationen angesammelten Kapitalkraft, die nach zweckmäßiger Anlage sucht. Es wäre aber verfehlt, hierin etwa eine Form des Effekten-Kapitalismus zu erblicken; das Element der Spekulation fehlt völlig. Durchweg steht ein ehrlicher Arbeitsdrang dahinter und liegen unternehmerische Leistungen vor, die über die einfache Kapitalanlage hinausgehen. Wir finden Karchers im Großhandel und im Speditionsgewerbe, in der Alaun-, FarbenGlas- und Kristallindustrie, in der Eisenerzeugung und -Verarbeitung, in der Tabak-, Textil- und Zuckerindustrie und im Bankgewebe, finden Böckings im Großhandel und Bankgewerbe, im Weinbau und Weinhandel, in der Eisen- und Zementindustrie, in der Leder- und Papiererzeugung, in der Textilindustrie, im Mühlengewerbe und in der Holzwirtschaft. Röchlings arbeiten im Handel mit Holz, Kohlen und Eisen, im Bankgewerbe, in der Eisenerzeugung und -Verarbeitung, im Erz-, Kohlen- und Kalibergbau, schließlich auch in der chemischen Industrie; Partner des Hauses Röchling wie die Familien Haldy und Schmidtbom begegnen uns darüber hinaus im Kolonialwarenhandel, in der Glasfabrikation, in der Leder- und Tabakindustrie, in der Kokereiindustrie und in der Bierbrauerei. Die Boch und die Villeroy arbeiten in der Fayence- und Steingutindustrie mit allai verwandten Zweigen wie Porzellan, Glas und Kristall, Bodai- und Wandplatten, Terrakotta und Baukeramik, aber auch in Ziegeleien und in der Düngemittelerzeugung, die Villeroy stehen überdies auch in der älterai Eisenindustrie, im Kohlaibergbau, in der Zuckerfabrikation und in der Papierindustrie. Diese Vielseitigkeit tritt auch bei vielai kleineren, weniger bekanntgewordenen Familien auf, von denen beispielhaft nur wenige genannt seien: Pabst (Handel, Steine und Erdai, Bierbrauerei, Eisenverarbeitung, Kohlenbergbau), Korn (Handel, Leder-, Tabak- und Glasindustrie), Köhl (Holz-, Salz- und Kolonialwarenhandel, Glasindustrie), Braun (Holzhandel, Bankgewerbe, Eisenindustrie), Quien (Eisen- und Kohlaihandel, Gerberei, Eisenerzeugung und -Verarbeitung), Didier (Eisen- und Kohlenhandel, Posthalterei, Eisenerzeugung und -Verarbeitung), Zix (Tabak-, Leder-, Textilindustrie, Bierbrauerei, Eisenindustrie). Diese Namai stehen für viele andere; in gleicher Weise kön-

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nen hier noch jüngere Unternehmerfamilien von der mittleren und unteren Saar und aus dem lothringischen Raum um Saargemünd herangezogen werden; in der Gegend von Saarlouis etwa die Fontaine, Donnevert und Méguin. Aus allem ist der Schluß zu ziehen, daß die unternehmen sehe Begabung weniger in einer bestimmten fachlichen Richtung, als vielmehr in einer allgemeineren geschäftlich-organisatorischen Aktivität sichtbar wird, die an vielen Objekten erfolgreich angesetzt werden kann. Allerdings ist auch die Gefahr der Zersplitterung nicht zu übersehen; sie wird bedrohlich bei steigendem Investititions- und Kapitalbedarf und beim Zwang zur Rationalisierung und Konzentration. Die Berufstreue der älteren Untemehmerfamilien gilt nicht nur für eine sich durch Generationen fortsetzende unternehmerische Leistung, sondern auch in einzelnen Familienzweigen für ganz bestimmte Gewerbezweige. Daß fünf und sechs Generationen dem gleichen Gewerbe, den angestammten Werken der Familie verbunden sind, ist keine Ausnahmeerscheinung. Bei dem altersher in sich gefestigten Berufsstand der Eisenhüttenleute sind die Stumm, die Böcking, die Kraemer, die Gottbill und die Gouvy zu nennen, aber auch die am Saarland nur vorübergehend interessierten Gienanth und de Wendel. Bei den Glasfabrikanten, die als privilegierter Glasmacherstand seit Jahrhunderten gleichfalls eine bevorzugte Stellung einnahmen, sind es die Wentzel, Eberhardt, Reppert, Högel, neben die auch die später erst an die Saar gekommenen Vopelius mit einer stattlichen Generationenfolge treten. In der Keramikindustrie sind bis in die Gegenwart acht Generationen der Familie Boch tätig. Sechs Generationen waren bei Stumm in der Eisenindustrie tätig, ebensoviele bei Heckel in der Seil- und Drahtseilfabrikation, ähnlich in der Pappmachéindustrie die Familie Adt. Bei den Papiermachern sind, wenn auch nur zeitweise an der Saar tätig, die Piette, die Leistenschneider und die Maurer zu nennen, bei den Buchdruckern und Verlegern die Hofer. Auch mehrere Bierbrauerfamilien sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Man darf angesichts dieser Generationenfolgen von „Untemehmerdynastien" sprechen, die der Führungsschicht im älteren saarländischen Wirtschaftsleben ihr Gepräge geben. Die Familien sind sich dieser Stellung auch bewußt gewesen, dam diese war nur zu erreichen und zu halten durch eine folgerichtige Familienpolitik, die das oder die Familienunternehmen immer wieder im Familienbesitz gehalten und ein Entgleiten vermieden hat. Besonders streng waren die Bestimmungen über den Erbgang bei den Glasmachern, aber auch bei einer Ei-

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senhüttenfamilie wie den Stumm findet sich die Erbregelung, daß nur Söhne die Werke erben konnten, während Töchter mit anderem Besitz abgefunden werden mußten. In anderen Firmen, bei denen die wachsende Zahl von Familiengesellschaftern Führungsprobleme schuf, findet sich die Regel, daß nur ein befähigter Namensträger die Leitung haben sollte. Solche Bestimmungen zur Absicherung des Familienunternehmens waren natürlich nur so lange zu halten, wie eine natürliche Geburtenfreudigkeit auch das Heranwachsen unternehmerisch begabter männlicher Erbai sicherte. Von dieser Familienpolitik sind manche andere Wesenszüge des älteren saarländischen Unternehmertums zu erklären. Wer wie diese Familial das Unternehmen als eine Art „Erbhof' betrachtete, stand den Bindungen des Fideikommiß im Großgrundbesitz näher als den Fluktuationen der Kapitalgesellschaft. Das Verhältnis des Unternehmers, ja der Unternehmerfamilie, zur Arbeiterschaft erinnert an die feudal-patriarchalischen Lebensformen des Gutsbetriebes, von Stumm als sein „persönliches System" bezeichnet und verteidigt, auch als die Betriebe Großbetriebe geworden waren. Dahinter stand ein ganz persönliches Bekenntnis zur Unternehmerverantwortung: „Nicht Gelderwerb, sondern große Aufgabe, Arbeit zu schaffen, tüchtige Menschen und Soldaten erziehen, Motiv unserer Tätigkeit", so notierte Stumm die Bemerkungen, die er Wilhelm Π. gegenüber in einer bewegten Aussprache zu den sozialpolitischen Vorstellungen des Kaisers am 4. Februar 1890 gemacht hat6. Ahnlich dachte das jüngere Unternehmertum ; bei der Gründung der Maschinenfabrik Ehrhardt & Sehmer - die Gründer, bis dahin in anderen Firmen als Angestellte tätig - schreibt Theodor Sehmer an seinen Partner Ludwig Ehrhardt7: „Was unser Unternehmen von vielen anderen unterscheidet, ist der Wille, durch redliches Arbeiten unser Brot zu verdienen und nicht in einem Jahr reich zu werden und sich dann zur Ruhe setzen." Diese Männer sind Gegner jeder Anonymität in der Leitung ihrer Unternehmen, sind aber ebenso darauf bedacht, diesai eine Form zu geben, die den Eintritt Fremder dauernd verhindert. Einzelfirma und offene Handelsgesellschaft sind daher bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die vorherrschende Unternehmungsform. Abweidlungen davon sind Ausnahmen, die durch besondere Umstände bedingt sind. Das 6

Eigenhändige Aufzeichnung Stumms, unmittelbar nach dem 4. Februar 1890 (Fotokopie nach dem im letzten Krieg zerstörten Original im Besitz d. Verf.). Ehrhardt & Sehmer, Festschrift zum 50 jährigen Bestehen, 1925, S. 14.

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zeigt ein Blick auf die wenigen Aktiengesellschaften, die vor dem Ersten Weltkrieg an der Saar bestanden. Die Dillinger Hüttenwerke, 1680 gegründet, seit 1807/1808 auf Grund des Code de Commerce (1807) als Société Anonyme betrieben, wurden nach 1815 eine der wenigen industriellen Aktiengesellschaften im Rheinland. Sie vereinigte neben dai Aktionären der Familial Stumm und Böcking audi französische Aktionäre. Ebenso fanden sich in der Papierfabrik der Gebr. Piette, Dillingen, 1837-1860 deutsche und französische Aktionäre zusammen. Die Burbacher Hütte in Saarbrückai, Gründung einer belgisch-luxemburgischen Kapitalgruppe (1856), fing als Kommanditgesellschaft an und wurde 1861 in eine Aktiaigesellschaft belgi schai Rechts umgewandelt. Eine saarländisdi-lothringische Gruppe wählte die Form der Aktiengesellschaft bei der Gründung der lothringischen Bergbaugesellschaft La Houve bei Forbach (1858). So beschränkt sich die Rechtsform der Aktiengesellschaft bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts auf Gemeinschaftsunternehmungen deutscher und ausländischer Aktionäre. Einheimische Gründungsversuche (1835 bei einer Saarbrücker Porzellan- und Steingutfabrik, 1836 bei einer Eisenbahngesellschaft) erfahren die Ablehnung der Aufsichtsbehörde, die die Bedingungen des Allgemeinen Landrechts über die genehmigungspflichtigen Korporationen sehr eng auslegt. Auch nachdem die Fesseln des preußischen Gesellschaftsrechts von der Form der Aktiaigesellschaft gefallai waren (1843), können sich die saarländischen Unternehmerfamilien nicht mit dieser Unternehmungsform befreunden. Mit einer einheimischen Neugründung unter Beteiligung der Firma Haldy, der „Völklinger Eisenhütte AG" (1873) werdai ausgesprochen schlechte Erfahrungen gemacht, bis das Haus Röchling das Werk 1881 erwirbt. Mit weiteren Gründungen um die Jahrhundertwende geht es nicht anders, einheimische Gründungen, die erst eine gedeihliche Entwicklung nehmen, als sie von auswärtigen Konzernen übernommen werden. Erst nach der Jahrhundertwende erfahrt die industrielle Aktiengesellschaft an der Saar eine Ausdehnung, als einheimische Familiengruppen der Glas- und der Eisenindustrie mit auswärtigai Gruppen zusammengehen und dabei ihre Selbständigkeit verlierai, beispielsweise die Familie Kraemer (Eisenwerk St. Ingbert, AG seit 1889) im Zusammengehen mit Stinnes, die Familie Reppert beim Verkauf ihrer Glashütte an die Oldenburgische Glashütte AG. Die größten saarländischen Privatunternehmungen halten sich der AG-Form fern. Das Neunkircher Eisenwerk, das Herz des StummKonzerns, wird bis 1888 unter der Firma Gebr. Stumm als offene

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Handelsgesellschaft, seither bis zum Tode des Freiherrn C.F. v. Stumm-Halberg als Kommanditgesellschaft betrieben; die Halbergerhütte der Gebr. Böcking wird 1875 gleichfalls Kommanditgesellschaft, in der Stumm als Hauptbeteiligter Kommanditist ist. Die Gebr. Röchling bleiben auch offene Handelsgesellschaft, als die Interessen des Hauses in Großindustrie und Handel diesai Rahmai weit übersteigai und längst ein vielseitig interessierter Konzern entstanden ist. Die Familien Villeroy und Boch, die ihre keramindustriellen Betriebe 1841 vereinigen, bleibai der Form der offaiai Handelsgesellschaft, später der Kommanditgesellschaft trotz der Ausdehnung des Konzerns treu, obgleich die Zahl der durch Erbgang beteiligten Kommanditistai längst den Übergang zu einer anderen Gesellschaftsform nahegelegt hätten. Nur als Kuriosum sei vermerkt, daß führende Unternehmer 1863 die Form eines Aktienvereins für die zu gründaide Flußbadeanstalt an der Saar wählten; unter dai Aktionären finden sich die Namen Böcking, Haldy, Karcher, Korn, Kiessei, Röchling u.a.m.! Als gegen Ende des Jahrhunderts in einzelnen Familien die unternehmerische Aktivität nachläßt, interessiert man sich für dai Entwurf einer neuai Rechtsform, der Gesellschaft mit beschränkter Haftung, der von dem Deutschai Handelstag dem Preußischen Handelsminister vorgelegt wurde. Hier engagierte sich Stumm, dem der langersehnte Sohn und Erbe schon in der Wiege gestorben war, persönlich unter Einsatz seiner parlamentarischen Beziehungen und unter gutachtlicher Mitwirkung der Saarbrücker Handelskammer* für die Berücksichtigung der besonderen Interessai der Familien-Unternehmen: „Der Handel und mehr noch die Industrie im Gebiete der Handelskammer bedarf einer 'Anteilsgesellschaft mit beschränkter Haftung'... Im öffentlichen Interesse ist es dringend zu wünschai, daß Unternehmungen in dem Geiste, in welchem sie groß wurden, auch fortbestehen und zwar ungestört durch das Lebensschicksal einzelner Teilhaber und selbst durch Zeiten geschäftlichai Mißerfolges hindurch." Gefordert wurden alle möglichen Sicherungen für die Familiengesellschaft: Erschwerung der Übertragbarkeit der Anteile, Vorkaufsrecht der Teilhaber, hoch angesetzter Mindestbetrag des unteilbaren Anteils, aber auch die bei der Gewerkschaft übliche Zubußpflicht der Teilhaber. Die Publizitätspflicht der Aktiengesellschaft könne bei der FamilienG.m.b.H. in Fortfall kommen, sie sei dort auch unerwünscht. 8

Gutachten der Handelskammer Saarbrücken, in den Anlagen zum Jahresbericht der Handelskammer Saarbrücken für 1888, S. 47ff.

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Wain audi diese Fordeningen des Saarbrücker Gutachtais von 1888 in dem G.m.b.H.-Gesetz von 1892 nicht alle erfüllt wurden, so hat doch Stumm bei seinem Tode 1901 rückschauend die Ausgestaltung der neuen Rechtsform als ein Hauptverdienst der Handelskammer angesehen. Die G.m.b.H. wurde bald die Rechtsform der größten saarländischen Familiengesellschaften (mit Ausnahme der Villeroy & Boch K.G.); sie wurde von den Stumms, den Röchlings, der Halberger Hütte der Gebr. Böcking und den Vopeliusschen und Wentzelsehen Glashütten angenommen. Davon abweichend wählte die Familie Adt, die 62 Jahre hindurch ihr weit verzweigtes Unternehmen als offene Handelsgesellschaft betrieben hatte, 1901 die Form der Aktiengesellschaft, hier aber wiederum wegen ihrer Interessen in Frankreich, für die eine eigene französische Gesellschaft mit dem Sitz in Paris gegründet wurde. V. Gegenüber der industriellen Entwicklung muten das Bankwesen und die Kreditwirtschaft im Saarrevier recht bescheiden an. Mitte des 19. Jahrhunderts wird die Zahl der in der Kreditwirtschaft Tätigen mit etwa zehn Personen angegeben9. Die Erledigung von Geld- und Wechselgeschäften gehörte in der Grenzstadt Saarbrücken zu den Dienstleistungen der Handels- und Speditionsfirmen. Ihr Umfang nahm zu, als mit dem Bau der Eisenbahn über Saarbrücken nach Metz und Paris der Grenzbahnhof Saarbrücken erheblichen Verkehr an sich zog. Die Verselbständigung des Geld- und Wechselgeschäfts folgte, aber der familiäre Zusammmenhang mit den Kohlen-, Holz- und Eisenhandelsinteressen blieb bis weit in unser Jahrhundert hinein bestdien. Die Banken der Gebr. Haldy und Gebr. Röchling fungierten als „Hausbanken", die Stumms beteiligten sich an dem mit Übernahme des älteren Bankgeschäftes von B. Schlachter & Co. gegründeten Saarbrücker Zweig des pfalzischen Bankhauses Grohé-Henrich. Das Saarrevier hat keine Aktienbank von der Bedeutung anderer regionaler Großbanken, etwa der benachbarten Pfälzischen Bank oder der Rheinischen Kreditbank in Mannheim hervorgebracht. Für die banktechnische Abwicklung der kaum den großen Kapitalmarkt in Anspruch 9

Wilhelm Vogel, Der Bankplatz Saarbrücken, in: Saarbrücken - Wirtschaftszentrum an der Grenze, hg. v. d. Sparkasse der Stadt Saarbrücken, 1960, S. 129.

Wirtschaftsbürgertum an der Saar

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nehmenden Operationen reichte der bescheidene Apparat der eingesessenen Bankgeschäfte aus; eine Gründertätigkeit wie die der größeren Institute der Nachbarregionen wie Pfalz und Luxemburg ging von ihnen nicht aus. Die staatliche Bergwerksdirektion bediente sich der Preußischen Bank, die 1859 eine Agentur in Saarbrücken errichtete; die Verwaltung wurde mit der Bergwerks-Direktionskasse vereinigt. Bei dieser Verbindung blieb es auch nach der Umwandlung in die Reichsbank (1876). Bis 1890 noch wurde die der Reichsbankstelle Metz unterstellte Reichsbanknebenstelle Saarbrücken von der Bergwerkskasse mitverwaltet. Eine Sonderstellung nahm der Staatsbergbau auch in der Entwicklung der Sparkassen und Kreditgenossenschaften ein, die an der Saar ohnehin vergleichsweise spät einsetzte. Der genossenschaftliche Sinn sei im Saarbezirk recht schwach, auch sei ein empfindlicher Mangel an geeigneten Persönlichkeiten; so äußerte sich noch in den 60er Jahren die Regierung in Trier10: „Wir wissen dank der Itzenplitzschen Initiative, daß die Landkreise des heutigen Saarlandes im Jahre 1863 genossenschaftlich kaum erschlossen waren", ist die Feststellung auf Grund der von dem preußischen Handelsminister v. Itzenplitz veranstalteten Umfrage11; und weiter heißt es: „Die Grubenvereine tauchen in diesen Statistiken nicht auf, denn der Bergfiskus führte ein Eigenleben." Zu dieser Zeit setzte eine Welle von Gründungen von Spar- und Vorschußvereinen bei den Saargruben ein. Erst nach schlechten Erfahrungen war die Bergwerksdirektion ab 1883 bereit zur Zusammenarbeit mit den öffentlichen bzw. genossenschaftlichen Spar- und Darlehenskassen. Unter diesen erlangte die 1857 gegründete Kreissparkasse Saarbrücken eine führende Stellung: Sie erfreute sich seit der Gründung der Hilfestellung führender städtischer Unternehmer und wurde mit der Zeit audi als Kreditgeber nicht nur von städtische! Handelsfirmen sondern auch von der mittel standi sehen Industrie geschätzt. Das ältere private Bankgewerbe sah sich etwa seit der Jahrhundertwende der Konkurrenz auswärtiger Großbanken ausgesetzt. Gegenüber der Großbankentwicklung haben sich nur wenige halten kön-

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Otto Beck, Beschreibung des Regierungsbezirks Trier, 1868-1871, Bd.n (2), S. 122, 146, 394. 11 Philipp W. Fabry, Bewährung im Grenzland - Genossenschaftsarbeit an der Saar von 1860 bis zur Gegenwart, 1986, S. 41.

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nen. Die Turbulenzen nach dem Ersten Weltkrieg, Inflation und Währungsumstellungen überlebte nur das Bankhaus der Gebr. Röchling. Dieser flüchtige Überblick über die Stellung der Banken läßt dai Zusammenhang mit dai Finanzierungsmethoden beim alterai saarländischen Unternehmertum erkennen. Die konsequaite Familienpolitik verlangte die Beschränkung auf die eigenen und Familienkapitalien, lehnte die Hereinnahme fremden Kapitals, die Zuhilfenahme von fremden Banken und die Finanzierung über die Börse ab. Diese Beschränkung auf die Eigaifinanzierung setzte naturgemäß eine äußerst vorsichtige Gewinnpolitik voraus, die die Gewinne nur in kleinem Umfang ausschüttete, sie zum größtai Teil zur Rücklagaibildung und Anlagenerweiterung in den Unternehmen ließ. Selbst eine Aktiengesellschaft wie die Burbacher Hütte, konnte sich dieser in der Saarindustrie üblichen Politik nicht entziehen. Bei ihrem Jubiläum 1906 stellte Alexander Tille, der damalige Syndikus der Handelskammer und intime Kenner auch der anderen Saarwerke, fest12: „Mit keinen anderen Mitteln hätte eine Aktiengesellschaft an der Stelle groß werden können, wo die Burbacher Hütte nun einmal lag. Drei mächtige, reiche Häuser, das Haus Stumm, das Haus de Waidel und das Haus Röchling, waren ihre unmittelbarai Mitbewerber. Bei ihnai gab es keine Aktionäre, welche auf Ausschüttung von großen Dividaidai drängten. In Neunkirchen stand das Eisenwerk der Gebrüder Stumm seit geraumer Zeit mit einer Mark zu Buche... Bei diesen Häusern war immer neues Geld zur Erweiterung vorhandai." Die Kehrseite dieser finanziellen Familienpolitik war naturgemäß die, daß sie lacht zu einer Verknöcherung führte und bei größerai wirtschaftlichen Erschütterungen und dem wachsenden Kapitalbedarf zur technischen Weiteraitwicklung schließlich doch die alte Selbständigkeit gefährdete. In der Eisaihüttenindustrie war es der Übergang zum „gemischten Betrieb", im saarlothringischen Kohlenbergbau die Kostspieligkeit der bergmännischai Erschließung, in der Glasindustrie der Übergang zu neuen maschinellen Verfahren, wodurch die alten Unternehmungen vor die Existaizfrage gestellt wurden. Daß Männer wie Thyssen und Stinnes auch im Südwesten, im lothringischluxemburgischen Hüttenrevier, im lothringischen Kohlenbergbau und schließlich auch in der Saareisaiindustrie Fuß faßten, währaid die Saarhütten in Lothringai vergleichbare Investitionen nicht mehr vor12

Die Burbacherhütte 1856-1906. Denkschrift zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens, 1906, S. 92.

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nehmen konnten, beleuchtet die Situation am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Der von Familienbindungen bestimmte Unternehmer, dai aitai Methoden verhaftet, war dem das neue Instrument der kapitalistischen Finanzierung in Vollendung beherrschenden Unternehmertyp nicht mehr gewachsen. VI. Die historische Struktur der Saarwirtschaft und ihrer Unternehmaisverfassung erlaubt keine eindeutige Antwort auf die Frage: Wer gehört zum Wirtschaftsbürgertum? Nur die unternehmerisch tätigen Eigaitümer oder Teilhaber? Wo stehen die leitenden Angestellten, wo die stillen Teilhaber? Die angestellten Führungskräfte in dai größerai Privatunternehmungen haben sich selbst als der Privatwirtschaft mit persönlicher Verantwortlichkeit zugehörig verstandai. Die überwiegende Zahl der Unternehmerfamilien vereinigte in ihren Reihen Unternehmensleiter, die zugleich Eigaitümer oder Anteilseigner waren, aber auch Angestellte in familienverbundenen oder befreundeten Firmen. Ein treffendes Beispiel dafür ist die Halberger Hütte unter der Firma Rudolph Böcking & Cie (ab 1875), derai Anteile zu 5/6 bei Stumm lagen, deren Geschäftsführer mit einem Anteil von 1/6 Stumms Schwager Rudolph Böcking war. Bei der Burbacher Hütte genossai die Generaldirektoren Nikolaus Flamm (1860-1879), Hans Rudolf Seebohm (1879-1901) und Edmund Weisdorff (1902-1920) als Generalbevollmächtigte weitgehende Selbständigkeit, die von den Eigaitümer-Unternehmern im Saarrevier u.a. darin anerkannt wurde, daß sie in Spitzenstellungen der wirtschaftlichai Vereine gewählt wurden. In den politischen und sozialpolitischen Auseinandersetzungen stehen die leitenden Angestellten zweifellos im Lager des Wirtschaftsbürgertums. Der familiäre Zusammenhalt in dai Unternehmerfamilien erlaubt es schließlich, auch die nicht in der Wirtschaft tätigen oder interessierten Familienmitglieder mit einzubeziehen, wie etwa den Landgerichtsrat Karl Röchling, Landtagsabgeordneter (1903-1918). Die weitaus größte Zahl von angestellten (beamtetai) Werksleitern stellten die staatlichen Saarbergwerke: Sie waren dem an technischen Hochschulen und Bergakademien ausgebildeten Führungscorps der höheren deutschen Bergfachleute meist mehr verbunden, als den einheimischen Kaufleuten und Fabrikantai. Zwar gab es eheliche Verbindungen mit einigen führenden Familien, aber nicht viele haben

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dauerhaft Fuß gefaßt; dagegen wirkten die häufige Fluktuation und der Wechsel von Revier zu Revier, der im preußischen Bergbau üblich war. Am stärksten noch wuchs in das saarländische Wirtschaftsbürgertum der langjährige erste Leiter des preußischen Staatsbergbaus, Leopold Sello (im Amt 1816-1857) hinein, der schließlich auch noch in den Landtag gewählt wurde ( 1861 -1866). Der Aufstieg vom leitenden Angestellten zum Teilhaber oder selbständigen Unternehmer kommt nicht allzu häufig vor. Neben einigen Namen in der Keramindustrie mit ihren verschiedenen Verflechtungen sind hier vor allem die Gründer der Maschinenfabrik Ehrhardt und Sehmer und der Koksofenbauer Friedrich Rexroth, zuvor Leiter der de Wendeischen Kokereien, zu nennen. Leitende Angestellte aus der Zeit der französischen Verwaltung von Gruben und Hütten machten sich nach 1815 selbständig im Kohlen- und Eisenhandel, verbunden mit Spedition. Häufiger ist der Aufstieg zur Fabrikation aus dem Handwerk gelungen. In der eisenverarbeitenden Industrie vor allem sind so der Stahl- und Waggonbau, die Dampfkessel- und Geldschrankfabrikation, die Fabrikation von Drahtseil und dessen Anwendung für Seilbahnen und Förderanlagen entwickelt worden. Aus der Zweibrücker Handwerkerfamilie Dingler stammt nicht nur der Gründer der gleichnamigen Maschinenfabrik und der Bergwerksgesellschaft Frankenholz, sondern auch Johann Gottfried Dingler, der Begründer des Polytechnischen Journals „Dinglers Journal" (1820). Ihm zur Seite kann gestellt werden Friedrich Carl Glaser, Sohn eines Dampfkesselfabrikanten in Neunkirchen, als Patentingenieur Begründer von „Glasers Annalen" (1877). Beide belegen die technisch-wissenschaftliche Gedankenwelt, in der sich die jüngere Untemehmergeneration der Saargegend bewegt. Hier ist auch Louis Piette von der Dillinger Papierfabrik zu nennen, der nicht nur seinem Bruder Prosper den Anstoß und die experimentelle Grundlage für zahlreiche technisch-chemische Neuerungen in der Papierfabrikation liefert, sondern zugleich in einem umfangreichen Schrifttum die Papiertechnologie seiner Zeit zur Darstellung, nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt der Nachwuchsausbildung, bringt. Auch Louis Piette gründet gegen Ende seines Lebens eine Fachzeitschrift, das „Journal des Fabricants de Papier" (1854 zunächst in Arlon, dann in Paris). Aus seinen Schriften über die Maschine, die Fabrikarbeiter und die Organisation einer Papierfabrik spricht ein technologischer Optimismus, zugleich aber auch ein sozial

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verpflichteter Patriarchalismus. Die Technik wird als geistige Bewegung, als künftige Grundlage von Bildung und Gesittung verherrlicht. Louis Piette gibt auch jenem von der Technik geprägten Bildungsstreben Ausdruck, in dem sich Kaufleute, Industrie und Handwerk vereinigten. Zwar beschränkte sich die Tätigkeit der staatlichen Bergwerksdirektion mit drei Bergschulen im Revier und einer Hauptbergschule in Saarbrücken auf die Ausbildung des eigenen Personals. Bemühungen, diese in Verbindung mit einer allgemeinen Gewerbeschule auch der nichtbergmännischen Berufsausbildung zu öffnen, wurden abgelehnt. Anderseits ging von den führenden Männern des Bergbaus, Leopold Sello und Heinrich Böcking, 1843 eine Initiative aus für allgemein bildende „Volksvorlesungen" über wissenschaftliche Gegenstände. Nach der Lockerung des Vereinsrechts entstanden in den 50er Jahren Vereinigungen, die sich eine systematische Bildungsarbeit zur Aufgabe setzten, darunter ein naturwissenschaftlich-technischer Verein und der Handwerkerverein. Dieser erlangte größere Bedeutung, als er, zum „Volksbildungsverein" entwickelt, gegen Ende des Jahrhunderts Vorträge mit prominenten Gegnern von Stumms sozialpolitischen Vorstellungen, darunter Adolf Wagner und Friedrich Naumann, veranstaltete.

vn. Die Betätigung führender Unternehmer auf dem Gebiete des Schulwesens mag, dem Beispiel des Bergbaus folgend, zunächst dem Eigenbedarf an Berufsausbildung und Fortbildung für die Mitarbeiter gedient haben. Sie wuchs darüber hinaus in die Schulpolitik von Gemeinde und Staat hinein, wie die spätere Übernahme von zunächst privat gegründeten und finanzierten Einrichtungen zeigt. Aufschlußreich ist die sich über Jahrzehnte hinziehende Diskussion um das alte humanistische Gymnasium in Saarbrücken. Dem Wunsch nach einer stärkeren Berücksichtigung des Unterrichts in den „Realfachem", d.h. modernen Sprachen und Naturwissenschaften, wurde 1834 entsprochen. Zwanzig Jahre später wurde die Errichtung einer städtischen Gewerbeschule und der Handwerker-Fortbildungsschule gefordert. Zur Ausstattung der Neugründungen trugen private Unternehmer bei, wie denn auch der spätere Ausbau zu einer Oberrealschule, deren Absolvierung zum Hochschulstudium berechtigte, mit finanzieller Unterstützung der Industrie erfolgte. Neben die gewerblichen Fortbildungsschulen für

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Handwerker trat 1909 die kaufmännische Fortbildungsschule, die auf Betreiben der Handelskammer gegründet und von dieser auch bis zur Übernahme durch die junge Saargroßstadt finanziert wurde. Weitere Initiativen der Handelskammer, getragen wesentlich von der Aktivität des Syndikus Alexander Tille, strebten die Durchführung von wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Vorlesungen auf Hochschulniveau als ständige Einrichtung für die Unternehmer-Weiterbildung an, kamen aber nach dem Tod von Tille (1912) und dem Ausbruch des Weltkrieges zum Erliegen. Die Wertschätzung der höheren Schulen in Saarbrücken war unterschiedlich: Die jüngere Generation von aufstrebenden Kaufleuten und Gewerbetreibenden zogen die Oberrealschule vor und erreichten schließlich auch noch die 1910 erfolgte Gründung eines Reform-RealGymnasiums. Die alten Familien, vpn Böcking bis Zix, blieben dem humanistischen Gymnasium treu. Hier wirkte zweifellos eine Familientradition nach, waren sie doch den Pfarrer- und Gelehrtenhäusern vielfach verbunden. Nicht nur, daß aus den Unternehmerfamilien wie Röchling, Böcking und Schmidtborn selbst ausgezeichnete Pfarrer, Gelehrte und Beamte hervorgegangen waren, auch umgekehrt konnten zahlreiche Untemehmerfamilien, neben den schon genannten etwa noch Appolt, Karcher, Vopelius und Wagner, Pfarrer zu ihren Vorfahren zählen. Deren Anteil war im übrigen größer als der der anderen akademischen Berufe wie Juristen, Mediziner oder Lehrer. Das ältere saarländische Unternehmertum ist überwiegend protestantisch: Katholische Unternehmer gehören im wesentlichen dai ehemals kurtrierisch-lothringjschen Bezirken an, so die Villeroy, die Boch, die Gouvy, die Piette u.a.m. Die konfessionelle Stellung der alten Territorial wirkt in einigem Umfang noch nach, kann aber allein das protestantische Übergewicht nicht erklären, denn sie ist in der industriellen Zuwanderung sehr bald verwischt und beseitigt worden. Mit Ausnahme der reformierten Familie Haldy waren die in Frage stehenden Familien durchweg lutherisch. Das protestantische Bürgertum Saarbrückais war bei der Wende zum 19. Jahrhundert recht freigeistig und weltoffen; der Pfarrer, der bei der Pflanzung des Freiheitsbaums, des französischen Revolutionssymbols, die Festrede hält, ist recht charakteristisch hierfür. Derselbe Pfarrer, Friedrich Köllner, nachmalig Historiker der Grafschaft Nassau-Saarbrücken, gehört 1814/15 mit dem Schwiegersohn des Hüttenherrn Friedrich Philipp Stumm, Heinrich Böcking, dem Notar Carl Lauckhard und dem Kaufmann Johann Philipp Fauth zu dai Wortfüh-

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rem der nationalen Bewegung, die die Verbindung des Saarbrücker Ländchens mit Preußen betrieb. Es ist in dai ersten Jahrzehnten der Industrialisierung kaum möglich, zwischen dem Bildungsbürgertum und dem Wirtschaftsbürgertum zu unterscheiden. Angesichts der schmalen Basis, die für die Bildungsbürger nach dem Ende des Residenzcharakters in dai verschiedenen Kleinstädten verblieb - und Saarbrücken macht da keine Ausnahme - bilden die wirtschaftliche Entwicklung, der Aufstieg einzelner Familien zu Wohlstand und die Ansiedlung der von Bergbau und Industrie angezogenen Arbeiterbevölkerung die Grundlage für Berufe, die wir dem Bildungsbürgertum zurechnen: Über die Pfarrer hinaus Ärzte, Lehrer und vor allem Juristen, deren Gewicht in der geistig interessierten Bevölkerung mit der Errichtung des Landgerichts zu Saarbrücken (1834/35) fast schlagartig zunimmt. In diesem Lager wird die Rückständigkeit im kulturellen Leben besonders empfunden, aber auch die Distanz, in der die aitai Familien noch längere Zeit verharren: „teilweise deshalb galt Saarbrücken dem rheinischen Juristen als eine Art Verbannungsort."13 Eine integrierende Wirkung ging von der Zusammenarbeit in den kulturellen Vereinigungen aus. Wenn der Historiker für die Stadtgeschichte von Saarbrücken feststellen kann, „daß für die Jahrzehnte von 1815 bis 1870 das Bürgertum in den Städten der Träger des Kulturlebens wird"14, so gilt das für das Zusammenwirken von Bildungs- und Wirtschaftsbürgern. Daß die Untemehmerfamilien in der städtischen Selbstverwaltung stärker vertreten waren, kann kaum überraschen. Sie verfügten über größere materielle Möglichkeiten, hatten in ihren Kontoren Mitarbeiter, die sie bei der Ausübung ihrer Ehrenämter unterstützen konnten. Wenn das Bürgertum als der eigentliche Träger der kulturellen Entwicklung bezeichnet wird, so ist damit auch gemeint, daß es noch keine Kommunalverwaltung gab, die diese Funktion hätte übernehmen können. Daß Berufsbeamte als Bürgermeister gewählt wurden, tritt erst verhältnismäßig spät ein: In der durch die Burbacher Hütte geprägten jungen Arbeiterstadt Malstatt-Burbach 1866, in St. Johann 1868 und in Saarbrücken erst 1884. Daß die Unternehmerfamilien in der Kommunalpolitik diese hervorragende Rolle spielten, ist natürlich auch 13 August Krohn, Die Saarbrücker Bürgerschaft im Jahre 1815, in: Mitteilungen des Historischen Vereins für die Saargegend, 8 (1901), S. 313f. 14 Fritz Kloevekom, Geistiges und künstlerisches Leben in Saarbrücken und St. Johann im 18. und 19. Jahrhundert, in: Saarland, Zs. des Rheinischen Vereins für Denkmalpflege und Heimatschutz 22 (1929), S. 160-168.

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eine Folge des preußischen Kommunalrechts, besonders des Dreiklassenwahlrechts. Aber auch ohne dieses hatten die ortsansässigen Industriebetriebe in den schnell wachsenden Arbeitergemeinde« ein entscheidendes Wort mitzureden, fehlte doch durchweg die Infrastruktur für ein größeres Gemeinwesen. Die im Arbeiterwohnstättenbau auf Seßhaftmachung und Eigentumsbildung bei den Arbeitern orientierte Ansiedlungspolitik war ja nur der Anfang; es mußten die Verkehrsanbindung, Kirchen, Schulen, Krankenhäuser folgen. Erst mit der Niederlassung von Handwerkern, Gastwirten, Einzelhändlern, Ärzten und Rechtsanwälten entwickelte sich eine werksunabhängige Bürgerschaft, die schließlich - auch gegen die Vorstellungen des beherrschenden Unternehmens - die Stadterhebung der jungen Großgemeinde betrieb. An dem Widerstand der ortsansässigen Großunternehmen und der Bergwerksdirektion scheiterten diese Bemühungen - bis zum Ersten Weltkrieg erreichte keine der industriellen Großgemeinden (über 10.000 Einwohner) die Stadterhebung. Dieses Zurückbleiben in der städtischen Entwicklung kam der zunehmenden zentralen Funktion Saarbrückens zugute. Allerdings mußte auch hier eine Phase kleinlicher Kirchturmsrivalitäten überwunden werden. Alt-Saarbrücken und die Schwesterstadt St. Johann trennten sich, als die neue Rheinische Städteordnung 1856 dazu die Möglichkeit bot. In den Beschlüssen der Gemeinderäte spiegelten sich wohl die vermeintlichen Zukunftsaussichten beider Städte: Saarbrükken als der Sitz der Behörden mehr Beamtenstadt, St. Johann - durch den Standort des Bahnhofs begünstigt - die aufstrebende Kaufmannsstadt. Das Ergebnis der Trennung war ein Wettbewerb: Möglichst niedrige Gemeindesteuern sollten Wohnort und Niederlassung attraktiv machen. Somit unterblieben städtische Aktivitäten und Investitionen. Bürgerliche Initiativen, mit regelmäßiger aktiver Beteiligung der Unternehmer, traten in das Vakuum ein. Private Gründungen waren Träger des Musik- und Theaterlebens und des älteren Saar-Museums. Erst nach der Jahrhundertwaide gewann der Gedanke einer Wiedervereinigung unter Einschluß der jüngeren Industriestadt MalstatBurbach an Boden. Wieder war es die Handelskammer, die das Projekt vorantrieb, das 1909 endlich verwirklicht werden konnte.

Wirtschañsbürgeitum an der Saar

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Vili Bei ihrem Einsatz für die Städtevereinigung konnte die Handelskammer sich nach langen Jahren der inneren Spannungen im Unternehmerlager wieder der Legitimation durch die wahlberechtigten Firmai in Stadt und Land erfreuen. Über deren Gegensatz war es 1887 zum Bruch zwischen dem städtischen und dem ländlichen Wahlbezirk innerhalb des Landkreises Saarbrücken gekommen. Stumm, der nach der Selbstauflösung der alterai Saarbrücker Kammer 1886 die Neuerrichtung unter Einbeziehung seines eigenen Landkreises betrieben hatte, sah sich einer starken Opposition unter Führung seines Konkurrenten Karl Röchling gegenüber. Die Aufteilung des Kammerwahlbezirks sollte eine Majorisierung der in der ländlichen Umgebung ansässigen Industriellen durch die Kaufleute in den Saarstädten verhindern. Röchling, Haldy und ihre Anhänger legten daraufhin ihr Mandat nieder. Dem Protest schloßen sich 178 Gewerbetreibende der Städte an. Das Haus Röchling blieb bis 1898 der Handelskammer wie den von Stumm geführten Industrievereinen fern. Erst in Stumms letzten Jahren machten die beiden Streithähne Frieden, zwei Röchlings arbeiteten seit 1898 in der Kammer wieder mit, Louis Röchling, einer von Karl Röchlings Söhnen, galt bei den Eisenhütten als der eigentliche Nachfolger Stumms, den dieser noch selbst designiert hatte. Hinter dem Konflikt zwischen Karl Röchling und Stumm steckte mehr als nur der Angriffsgeist eines aufsteigenden Außenseiters. Röchling und seine Bundesgenossen, vor allem der Bankier Emil Haldy, waren vom internationalen Kohlen- und Eisenhandel kommend überzeugte Anhänger des Freihandels, Stumm dagegen Vorkämpfer der Schutzzollpolitik, zu deren Durchsetzung bei Bismarck er 1878 als führendes Mitglied der Eisen-Enquête-Kommission wesentlich beigetragen hatte. Röchling vertrat das Projekt der Saar- und Moselkanalisierung, Stumm war ein Gegner nicht nur dieses, Neunkirchen benachteiligenden Projektes, sondern allgemein der preußischen Kanalpolitik. Parteipolitische Gegensätze kamen hinzu. Röchling setzte die Tradition des liberal-demokratischen Lagers fort, das dem damals noch konservativen jungen Industriellen Stumm in den 60er Jahren die ersten Wahlniederlagen beigebracht hatte. Röchlings Organ war die St. Johanner Zeitung, die sich in den 60er Jahren als radikale Gegnerin Bismarcks und seines Parteigängers Stumm ausgezeichnet hatte.

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In der Sozialpolitik waren die Gegensätze allerdings nicht so kraß. Betriebliche Sozialleistungen, vor allem im Arbeiterwohnstättenbau, die Errichtung von Werksschulen, von Krankai- und Pensionskassen wurden auch beim Ausbau des Völklinger Hüttenwerks nach dem Erwerb durch Röchling nicht vernachlässigt. Das gebot schon die Konkurrenz der älteren Werke um die nach wie vor gesuchten Arbeitskräfte. Mit dem Wachstum von Völklingen wurde schließlich auch Karl Röchling Schutzzöllner. Das Erstarken der gewerkschaftlichen Bewegung im Saarrevier und die sozialdemokratische Agitation führten die Großindustrie in der Abwehr zusammen, auch wenn die polemische Überspitzung durch Stumm bei seinen Angriffen auf die „Kathedersozialisten" nicht von allen seinen Kollegen geteilt wurde. Stumm wollte sein „persönliches System", das unmittelbare, so oft patriarchalisch genannte Verhältnis zu seinen Arbeitern nicht durch Einmischungen von außen gestört sehen. So lehnte er gewerkschaftliche Tendenzen, die den kollektiven Tarifvertrag und das Mitspracherecht in dai Betrieben anstrebten, ab und bekämpfte in gleicher Weise alle Gruppen, die derartige Ansprüche unterstützten, Wissenschaft, Kirchen, politische Parteien. Seine Vorstellung von der „Einheit des Betriebes" ließ ihn die Idee ständiger, vielleicht auch noch durch Gesetz vorgeschriebener Arbeiterausschüsse aufs schärfste bekämpfen. Nur im Bereich der betrieblichen Sozialeinrichtungen hielt er die Mitberatung durch Arbeiterausschüsse für angebracht. Bei allgemeiner Ablehnung der gewerkschaftlichen Forderungen, insbesondere wenn sie von auswärtigen, in das Saarrevier entsandten Agitatoren vertreten wurden, war die Praktizierung der Mitberatung durch Arbeiterausschüsse bei der Saarindustrie recht differenziert. Am längsten wurde die „Arbeiterselbstverwaltung" für die verschiedenen, sozialen Aufgaben dienenden Betriebskassen bei Villeroy & Boch durchgeführt; um 1900 erscheint die Firma im Saarbezirk als die einzige, die ständige Arbeiterausschüsse eingerichtet hat. Die über der Behandlung von Gewerkschaftsfragen und ständiger Arbeitervertretung eingetretene Verschärfung der sozialpolitischen Diskussion hat im Saarrevier die von Zeit zu Zeit immer wieder aufflackernden Differenzen zwischen dem liberalen Bürgertum der Saarstädte und dai Industriellen verschärft. Symptomatisch dafür war die spontane Unterstützung der traditionsreichen „Saarbrücker Zeitung" durch das Bürgertum, als diese sich auf dem Höhepunkt der Stummschen Konflikte dessen Zorn zu-

Wiltscfaaftsbürgeitum an der Saar

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gezogen hatte. Versuche, das Blatt und seine Verleger, Frau Johanna Hofer und ihren Sohn Carl Hofer jun., durch finanzielle Angebote für das Stummsche Lager zu gewinnen, wurden zurückgewiesen, woraufhin Stumm und weitere Industrielle ein Konkurrenzblatt unter dem Titel „Neue Saarbrücker Zeitung" gründeten, ein später eingestellter Versuch, der die Beteiligten nicht nur viel Geld, sondern auch öffentliches Ansehen kostete. Die Phasen in der politischen Entzweiung zwischen dem Bildungsbürgertum und der Großwirtschaft können hier nur stichwortartig skizziert werden: 1843 noch vereinigen sich die Wortführer des liberalen Lagers mit dai Kaufleuten und Fabrikanten von Saarbrücken und Umgebung in einer Petition an dai rheinischen Provinziallandtag13, die die staatsbürgerliche Gleichstellung der Judoi verlangt, eine Forderung, die schon vorher C. Schmidtbom und L. H. Röchling im Landtag erhoben hatten. Unter dai 179 Bürgern von Saarbrücken und Umgebung finden sich die Unterschriften von führenden Kaufleuten und Fabrikanten, darunter allein sieben Glashüttenbesitzern. In der Bewegung von 1848 stehen die liberalen Aktivisten und die Unternehmer anfanglich noch zusammen, aber schon für die Maiwahlen von 1848 macht sich das Übergewicht der radikalen Demokraten bemerkbar: „Es bildet sich ein Gegensatz heraus zwischen den Akademikern, vornehmlich Juristen, und den Kaufleuten."16 Es bilden sich zwei Vereine, der radikal-demokratische „Bürgerverein" und der „konstitutionelle Bürgerverein". Nach der Reaktionszeit, in der „Neuen Ära", bricht der Gegensatz wieder auf. In dem Wahlkreis Saarbrücken-Ottweiler-St.Wendel werden von 1861-1866 die führenden Mitglieder der Fortschrittspartei, Rudolf Virchow und Franz Duncker zum preußischen Landtag gewählt, neben ihnen noch Leopold Sello, der - nun im Ruhestand - als einziger Vertreter der saarländischen Notabein dem linken Zentrum angehört, im Verfassungskonflikt sich mit Virchow und Duncker verbindet. Carl F. Stumm, seit 1860 alleiniger Chef des Neunkircher Eisenwerks, gelingt es erst 1867, nach dem politischen Umschwung in Preußen im Gefolge des siegreichen Kriegs gegen Österreich, die 15

Rheinisches Provinzialarchiv beim Landschaftsverband Rheinland, Köln, Best. Nr. 373. Das erst vor wenigen Jahren aufgefundene Dokument hg. u. eingel. v. Fritz Jacoby, Zwei Stellungnahmen zur Judenemanzipation aus den Saarstädten, in: Zs. fur die Geschichte der Saargegend, 33 (1985), S. 122-147. 16 Josef Beilot, Hundert Jahre politisches Leben an der Saar unter preußischer Herrschaft (1815-1918), 1954, S. 24 u. 27f.

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Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zum Reichstag des Norddeutschen Bundes zu gewinnen. Er gehört zu den Konservativen, die Bismarcks Politik bejahen und sich als „Freikonservative" von der Konservativen Partei trennen, im Reichstag als „Reichspartei" auftreten. Die Freikonservativen und die Nationalliberalen machen fortan die Wahlen zum Reichstag wie zum Landtag unter sich aus, wobei allerdings das Dreiklassenwahlrecht zum Landtag und das allgemeine gleiche Wahlrecht für die Reichstagswahlen eine differenzierende Wertung der Wahlergebnisse erfordern. Im liberalen Lager fanden die Auseinandersetzungen zwischen den Nationalliberalen und der Fortschrittspartei meist schon im Vorfeld der Kandidatenaufstellung und Wahlabsprachen statt. Während Richard Vopelius als Freikonservativer das Mandat zum Landtag im früher so umkämpften Wahlkreis Saarbrücken-Ottweiler-St. Wendel von 1876 bis 1903 sicher behaupten konnte, wuchs der Druck der aufkommenden Massenparteien, des Zentrums und der Sozialdemokraten, gegen Stumms Reichstagsmandat im Wahlkreis Ottweiler-St. Wendel-Meisenheim. Immerhin konnte Stumm den Wahlkreis gewinnen, so oft er kandidierte (1867-1881, 1889-1901). Dagegen gelang es im benachbarten Wahlkreis Saarlouis-Merzig-Saarburg weder Eugen v. Boch, seinem Schwager Wilhelm v. Feltenberg noch seinem Sohn René ν. Boch-Galhau, sich gegen das Zentrum durchzusetzen; dessen Stellung war bei der katholischen Arbeiterschaft und der Landbevölkerung durch die zwar streng katholische, politisch aber im freikonservativen Lager stehende Unternehmerfamilie nicht zu erschüttern. Hinter der langjährigen parlamentarischen Aktivität von Stumm und Vopelius wird meist ein bemerkenswertes Phänomen in der politisch-parlamentarischen Vertretung des Saarreviers nicht wahrgenommen: Das Übergewicht des öffentlichen Dienstes, aus dessen Reihen die meisten Abgeordneten der Kreise Saarbrücken, Ottweiler und St Wendel kamen. Nimmt man alle Wahlen zu beiden Parlamenten von 1867-1918 zusammen, so kamen aus dem öffentlichen Dienst 19 Abgeordnete (darunter vom Staatsbergbau allein 11), aus der Privatwirtschaft 7; nur 3 waren freiberuflich tätig (Anwälte). Es galt als Regel, daß der Bergbau mindestens einen der drei Abgeordneten zum Landtag stellte, wozu noch das Saarbrücker Mandat zum Reichstag kam, das von 1870-1893 von leitenden Männern des Staatsbergbaus wahrgenommen wurde. Politisch standen sie fast ausnahmslos bei den Nationalliberalen. Während die Landtagswahlen bis 1918 die Verschiebung in den Kräfteverhältnissen der politischen

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Parteien noch nicht erkennen lassen, wurde die Reichstagswahl von 1912 im angestammten Wahlkreis des verstorbenen Stumm zum Signal einer neuen Orientierung: Der christliche Gewerkschaftsführer und Zentrumskandidat Bartholomäus Kossmann schlug Stumms Schwiegersohn Conrad von Schubert.

Literaturhinweise: Friedrich Wilhelm Euler, Ahnen und Enkel, Bd. I (Röchling, Vopelius, Müller u.a.), 1955-1959. Friedrich Wilhelm Euler, Die Familie Schmidtborn, in: Zs. für die Geschichte der Saargegend, 19 (1971), S. 478-496. Philipp W. Fabry, Bewährung im Grenzland, Genossenschaftsarbeit an der Saar von 1860 bis zur Gegenwart, 1986. Klaus Fehn, Preußische Siedlungspolitik im saarländischen Bergbaurevier (1816-1919), 1981. Ulrike Geis, Hans-Jürgen Enzweiler und Peter Bierbrauer, Die Sozialpolitik an der Saar im 19. Jahrhundert. Fiskalischer Bergbau Stumm - Villeroy u. Boch. In: Zs. für die Geschichte der Saargegend, 26(1978), S. 79-117. Karl-Heinz Gorges, Der christlich geführte Industriebetrieb im 19. Jahrhundert und das Modell Villeroy & Boch, 1989. Fritz Hellwig, Unternehmer und Untemehmungsform im saarländischen Industriegebiet, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 158 (1943), S. 402-430. Fritz Hellwig, Die Saarwirtschaft und ihre Organisationen seit der Errichtung der Industrie- und Handelskammer zu Saarbrücken 1863/64, 1939. Didier Hemmert, L'esprit d'entreprise - Sarreguemines au milieu du XIX e siècle, in: Les Cahiers lorrains, 1987, S. 67-89.

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Wiitscfaañsbürgettum an der Saar

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Richard van Dülmen und Joachim Jacob (Hg.), Stumm in Neunldrchen. Unternehmerherrschaft und Arbeiterleben im 19. Jahrhundert, 1993. Hans-Walter Herrmann (Hg.), Das Saarrevier zwischen Reichsgründung und Kriegsende ( 1871-1918), 1989. Klaus-Michael Mallmann u.a. (Hg ), Richtig daheim waren wir nie. Entdeckungsreisen ins Saarrevier 1815-1955, 1988.

Franz Fischer D A S WIRTSCHAFTSBÜRGERTUM DES RHEIN-MAIN-GEBIETS IM 19. JAHRHUNDERT. E I N BEITRAG ZUR HISTORISCHEN MOBILITÄTSFORSCHUNG

1. Einführung Die vorliegende sozialgeschichtliche Regionalanalyse zum Wirtschaftsbürgertum des Rhein-Main-Gebiets in der Zeit von 1815-1914 beschäftigt sich mit dem Aspekt der Entstehung und Herkunft der im 19. Jahrhundert typologisch vorherrschenden industriellen Eigentümerunternehmer1. Die Feststellung der Rekrutierung und des Mobilitätsverhaltens dieser Schlüsselgruppe des Industrialisierungsprozesses erfolgt anhand der Fragen nach der beruflich-sozialen Herkunft, der regionalen Herkunft und der konfessionellen Zusammensetzung einer größeren Anzahl industrieller Firmengründer. Diese drei Fragestellungen werden untersucht für die Gesamtheit des Rhein-Main-Gebiets, für seine wichtigsten Wirtschaftszweige und seine wichtigsten Städte. Zur Erkenntnisgewinnung bedient sich diese Langzeitanalyse zur sozialen Mobilität der Unternehmer der für sozialstrukturelle Erhebungen vorrangig angemessenen quantifizierenden Methode der Sozialgeschichtsschreibung. Sie wird, besonders bei nichtquantifizierbaren Fragestellungen, ergänzt durch die biographisch-qualifizierende Betrachtungsweise und die Heranziehung weiterer Beispiele vor allem dann, wenn bei Aufschlüsselungen der tabellarisch ausgewerteten 175 (bei der Konfessionszugehörigkeit 250)2 Fabrikantenunternehmer nach verschiedenen Gesichtspunkten die Basis- und Prozentzahlen zu wenig 1 Fritz Redlich, Der Unternehmer. Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Studien. Mit einem Nachwort von Edgar Salin, Göttingen 1964, S. 155, 208f., S. 363f. 2 Siehe Anlage 1: Liste der 175 (bei der Konfessionsstatistik 250) untersuchten Firmengründer des Rhein-Main-Gebiets 1815-1914. Zur Methode: Hartmut Kaelble, Historische Mobilitätsforschung. Westeuropa und die USA im 19. und 20. Jahrhundert (Erträge der Forschung 85) Darmstadt 1978, S. 5f.; Konrad Η. Jarausch, Möglichkeiten und Probleme der Quantifizierung in der Geschichtswissenschaft, in: Konrad Η. Jarausch (Hg.), Quantifizierung in der Geschichtswissenschaft. Probleme und Möglichkeiten, Düsseldorf 1976, S. 24f. ; Lawrence Stone, Prosopographie - englische Erfahrungen, in: Jarausch (Hg.), Quantifizierung, S. 6497; Konrad Η. Jarausch, Gerhard Arminger, Manfred Thaller, Quantitative Methoden in der Geschichtswissenschaft. Eine Einfuhrung in die Forschung, Datenverarbeitung und Statistik, Darmstadt 1985.

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aussagefahig werden für repräsentative Ergebnisse. Insofern sind die Zahlen nur als Indikatoren zu sehen, die durch weitere Beispiele und Detailstudien abzusichern oder zu korrigieren wären. Allgemeines Kriterium der Auswahl des untersuchten Personenkreises war, die Gründer der im 19. Jahrhundert neuentstehenden und die Industriestruktur des Rhein-Main-Gebiets am Ende des Untersuchungszeitraums kennzeichnenden Industriezweige zu erfassen. Der Begriff Firmengründer wurde weit gefaßt, indem auch Unternehmer, die an sich ältere Betriebe weitergeführt oder übernommen haben, diesen aber eine neue Richtung oder überhaupt erst ein industrielles Erzeugungsprogramm gegeben haben, aufgrund dieser echt gründerischen Leistung den Gründern zugerechnet wurden. Das Rhein-Main-Gebiet stellt keine festumrissene Einheit dar. Als Produkt des hier mit einem Teilaspekt untersuchten, einem ständigen Wandel unterworfenen Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesses bedarf es daher der Abgrenzung. Diese Untersuchung nimmt pragmatisch und unter Berücksichtigung historischer Grenzen ihre Beispiele aus einem Gebiet, das um den wirtschaftlichen Mittelpunkt Frankfurt am Main liegend durch die Punkte Hanau - Friedberg/Hessen - Rheinknie bei Rüdesheim/Bingen - Worms - Boisheim Darmstadt - Hanau begrenzt wird. Sie läßt damit das nach dem heutigen Stand der wirtschaftlichen Integration einzubeziehende unterfränkische Gebiet westlich des Spessarts (z.B. Aschaffenburg) außerhalb der Betrachtung, bezieht aber das während des Untersuchungszeitraums hessische, zum Kernbereich des Rhein-Main-Gebiets schon randständige Worms noch in die Untersuchung ein3. Sie faßt damit retrospektiv einen Personenkreis in einer polyzentrischen Wirtschaftsund Verstädterungsregion mit höchst unterschiedlichen Traditionen und vielgestaltigem funktionalen Gefüge zusammen, die bis heute keine politische oder administrative Einheit bildet. Zudem haben die bis 1866 fünf (Kurhessen, Großherzogtum Hessen, Nassau, HessenHomburg, Frankfürt am Main), dann die zwei (Großherzogtum Hessen, Preußen) am Rhein-Main-Gebiet teilhabenden Territorial durch ihre Traditionen und die Wirtschaftspolitik den Gang der Industrialisierung durchaus beeinflußt. Es haben auch mancherlei vorindustrielle gewerbepolitische Maßnahmen und Traditional weitergewirkt. 3

Anneliese Krenzlin, Werden und Gefüge des rhein-mainlschen Verstädterungsgebietes. Ein Versuch landeskundlicher Darstellung, in: Frankfurter Geographische Hefte 37 (Festschrift zur 125-Jahrfeier der Frankfurter Geographischen Gesellschaft) (1961), S. 313 und S. 379f.

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Gleichzeitig haben aber auch die überkommenen funktionalen Verflechtungen sowie die weitgehend gleichartigen natürlichen Voraussetzungen der Industrialisierung des Rhein-Main-Gebiets bestimmte Bahnen gewiesen: Sie lagen und liegen in Verkehrsgunst, Rohstoffarmut und Rohstofferne sowie zunehmend audi in der Eigendynamik des vorhandenen Sozial- und Wirtschaftspotentials. 2. Die beruflich-soziale Herkunft der Firmengründer 2.1. Die beruflich-soziale Herkunft der Firmengründer nach Berufsgruppen Wie in anderen deutschen Industrielandschaften bildet auch im RheinMain-Gebiet das Gewerbe in Handwerk, Industrie und Handel in gewissem Sinne in Selbstergänzung das Hauptreservoir unternehmerischer Herkunft: 61,9% oder 101 Firmengründer des Rhein-MainGebiets entstammten diesen Berufszweigen4. Dabei war beim Übergang zur Industrie von Söhnen dieser wirtschaftsverbundenen Herkunftsgruppe die Kontinuität der Betriebe erheblich geringer als die Kontinuität der unternehmerischen Aktivität, die sich in einzelnen Familien offenkundig sdir viel häufiger mehr oder weniger bruchlos von der vorindustriellen in die industrielle Periode fortsetzte. Dies gilt auch für die Handwerksmeister und selbständigen Handwerker, die mit 32 Personen (19,6%) während des gesamten Untersuchungszeitraums die stärkste Einzelabkunftsberufsgruppe der Firmengründer stellai. Ihr Anteil ist relativ am höchsten in der Zeit der Frühindustrialisierung bis 1850. Damals gelang es wiederholt Handwerkersöhnen besonders in metall-, holz- und lederverarbeitenden Handwerken ohne Bruch mit der väterlichen Berufs- und teilweise Betriebstradition 4

Siehe Tabelle Anlage 2: Die beruflich-soziale Herkunft der Firmengründer. Zum Vergleich sei statt einer Vielzahl von Einzeluntersuchungen auf zusammenfassende Darstellungen und Gesamterhebungen zur Untemehmerherkunft verwiesen: Wilhelm Stahl, Der Elitekreislauf in der Unternehmerschaft, Frankfurt am Main, Zürich 1973, S. 104ff und S. 119ff.; Haitmut Kaelble, Soziale Mobilität und Chancengleichheit im 19. und 20. Jahrhundert (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 55), Göttingen 1983, S. 104 und S. 228-245; Kaelble, Mobilitätsforschung, S. 119-121; über das Problem der Kontinuität von der vorindustriellen zur industriellen Periode: Jürgen Kocka, Unternehmer in der deutschen Industrialisierung (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1412), Göttingen 1975, S. 30-34.

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ihren Handwerksbetrieb zum Ausgangspunkt eines Fabrikbetriebs zu machen. Beispiele dafür bieten unter anderen die Entwicklungen der Kutschenwagen- und späteren Waggonfabrik Gasteil in Mainz5 oder die Maschinenbaubetriebe Johann Simon Fries in Frankfurt6 und Johannes Heim in Offenbach am Main7. Ab der Jahrhundertmitte erzwang die sich komplizierende Technik bei Handwerkersöhnen immer häufiger dai Bruch mit der väterlichen Berufs- und Betriebstradition. Sehr viele von ihnen bleiben aber gekennzeichnet durch die ihnen durch Herkunft und Berufsqualifikation eigenen Interessen im Leistungsbereich und ihre Hinwendung zu mechanischen und zu solchen Industriezweigen, in denen ihnen aufgrund manueller und technischer Fertigkeiten ein unternehmerischer Aufstieg möglich war. Wie sehr das einmal entstandene Unternehmertum sich in der Folge aus sich selbst ergänzte, zeigt sich daraus, daß die genuin der industriellen Welt zugehörigen und wegen ihrer geringen Traditionstiefe in sich keineswegs homogene Gruppe der Fabrikanten, Industriellen, Bauunternehmer und Direktoren mit 27 Personen (16,6%) bereits das zweitgrößte Kontingent unter den Unternehmervätern stellt. Es umfaßt Angehörige alter vorindustrieller Unternehmerfamilien wie der Eifeler Reidemeisterfamilie Schoeller8 oder der Papiermacherfamilie Flinsch9. Stadtarchiv Mainz, Heiratsregister 14. August 1810; Albert Kimberger, Aus der Geschichte der ältesten deutschen Waggonfabrik, in: Kultur und Wirtschaft im rheinischen Raum. Festschrift fur Prof. Christian Eckert, Mainz 1949, S. 267ff.; Dieter Gessner, Metallgewerbe, Maschinen- und Waggonbau am Mittelrhein und Untermain (1800-1860/65), in: Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde. Neue Folge 38 (1980), S. 287-338, insbes. S. 291ff. 6 Konrad F. Bauer, Brücken zum Aufbau. 200 Jahre Firma J.S. Fries in Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1948, S. 15ff. 1 Andreas Voigt, Die Maschinenindustrie der Kreise Frankfurt am Main, Darmstadt und Offenbach, in: Zeitschrift des Vereins deutscher Ingenieure. Festnummer zur 45sten Hauptversammlung in Frankfurt am Main und Darmstadt (1904), S. 16; Offenbachs erste Maschinbauer, in: Offenbach Nachrichten 5.9.1937; Adolf Völker, Aus Offenbachs Maschinbau, in: Oflfenbacher Monatsrundschau H. 5 (Mai 1941), S. 21; Robert Müller, Die industrielle Entwicklung Offenbachs. Eine historische Standortbetrachtung, Ofifenbach/Main 1932, S. 75; Auskunft Margarete Heim, Hofheim/Taunus; vgl. auch: Gessner, Metallgewerbe, S. 287-301. 8 Leopold Schoeller, Stammblätter der Familie Schoeller. Stammblatt IV: Eifeler Zweig, Detmold 1965; Deutsches Geschlechterbuch. Genealogisches Handbuch bürgerlicher Familien 123 (1958), S. 312f. 9 Friedrich Wilhelm Süs, Das Handlungshaus Ferdinand Flinsch. Gedenkbuch zu dessen 50jähriger Jubelfeier 1869, Frankfurt am Main 1869, S. llflf, 35fif, 83flf; Hans Georg Kutzner, Ferdinand Traugott Flinsch, in: Neue Deutsche Biographie 5 5

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Dieser Herkunftsgruppe gehören aber auch bereits moderne Großindustrielle wie der Chemieindustrielle Heinrich Albert (1835-1908)10 oder Angestellten-Unternehmer wie Gustav Heinrich Brüning (18051865), Direktor der Vaterländischen Feuerversicherungs-Gesellschaft11 sowie Fabrikanten an, bei denen die Nähe zu ihren handwerklichen Ursprüngen unverkennbar ist, wie der Zimmermeister und spätere Zigarrenkisten- und Zigarrenwickelformenfabrikant Johann David Siebert (1835-1906)12 in Hanau. Infolge der späten Industrialisierung des Rhein-Main-Gebiets und der Unterentwicklung eines zahlenmäßig breiten vorindustriellen großgewerblichen Fabrikantenunternehmertums im Rhein-MainGebiet treten die Firmengründer dieser Herkunftsgruppe verstärkt erst nach 1850 auf. Sie stellen aber im Doppeljahrzehnt 1851-1870, das die eigentliche industrielle Gründungsphase, besonders in der chemischen Industrie für das Rhein-Main-Gebiet darstellt, sogar die größte Herkunftsgruppe. Dabei sind bezeichnenderweise sieben von zwölf firmengründenden Söhnen von Unternehmern dieser Jahre von außerhalb in das Rhein-Main-Gebiet zugewandert. Eine Eigenart der industriell tätig werdenden Söhne von Großkaufleuten (einschließlich Bankiers, Hoteliers und Verlegern), die als drittgrößte Herkunftsgruppe mit 24 Unternehmervätem (14,7%) auftreten, war, daß sie ausgeprägter als andere Gruppen dank ihrer Finanzmittel als kapitalkräftige Partner bei Firmengründungen mitwirkten oder durch Darlehen oder Kauf in den Besitz oder Mitbesitz schon bestehender Firmen gelangten. Zum Teil stand bei diesen Großkaufleute(1961), S. 248f.; Geschichte der Handelskammer zu Frankfurt am Main (17071908). Beiträge zur Frankfurter Handelsgeschichte. Hg. von der Handelskammer zu Frankfurt a. M., Frankfurt am Main 1908, S. 1290f. 10 Frithjof Kroemer, Heinrich Albert, in: Nassauische Lebensbilder I (1940), S. 220-231; Fritz Geisthardt, Heinrich Albert, in: NDB I (1953), S. 138; Heinrich Albert, Mein Leben, o.O. 1951; Fünfundzwanzig Jahre Dr. Kurt Albert GmbH. Zur Geschichte der Firma Dr. Kurt Albert GmbH Chemische Fabriken, WiesbadenBiebrich, o.O. [1935], 11 Gothaisches Genealogisches Taschenbuch der Adeligen Häuser, Reihe B: Briefadel, Gotha 1917, 3. 124f.; Ernst Fischer, Meister, Lucius und Brüning. Die Gründer der Farbwerke Hoechst AG, in: Tradition 3 (1958), S. 65ff; Ernst Fischer, Die Gründer der Farbwerke Hoechst AG. Eugen Lucius, Wilhelm Meister, Adolf Brüning, in: Nassauische Lebensbilder 6 (1961), S. 248ff.; Dolf von Brüning, Johann Adolf (von) Brüning, in: NDB 2 (1955), S. 665. 12 H. Houben (Hg.), Festschrift zum fünfzigjährigen Bestdien der Platinschmelze G. Siebert GmbH, Hanau 1881-1931, Hanau 1931, S. ΙΠ; DGB 129 (1962), S. 397f.

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söhnen die Aufnahme des Fabrikationsbetriebs in einem ursächlichen oder weiteren Zusammenhang mit ihren bisherigen Handelsfirma!. So gingen die Inhaber der Frankfurter Farbwarengroßhandlung Leopold Cassella, die Brüder Friedrich Ludwig Gans (1833-1920) und Leo Ludwig Gans (1843-1935) nach dem Aufkommen der Teerfarbenindustrie selbst zur synthetischen Farbstoffherstellung über13. Ahnliche Motive veranlaßten auch die Gründung der chemischen Fabrik Kalle & Co. in Wiesbaden-Biebrich14. Die langandauernde Zurückhaltung der Frankfurter Großkaufleute und Bankiers, die immerhin 13 der 24 Großkaufleute-Gründerväter stellen, gegen das industrielle Anlagengeschäft zeigt sich auch darin, daß ihre Nachkommen erst nach dem Ende der freistädtischen Zeit verstärkt sich persönlich an Industrieunternehmungen beteiligten. Im Zeitraum 1871-1890 dominieren jedoch dann Frankfurter Großkaufleute unter den Gründervätern derart, daß sie von zehn acht stellen. Darunter befinden sich so bekannte Altfrankfurter Namen wie Andreae, Passavant, Ziegler und Johann Christian Fellner (1851-1920), der Sohn des letzten freistädtischen Bürgermeisters15. 16 Untemehmerväter (9,8%) waren als Kaufleute tätig. Mit wenigen Ausnahmen, für die beschränkte wirtschaftliche Verhältnisse bezeugt sind (z.B. die Gebrüder Wertheim, Gründer einer Nähmaschinenfabrik und eines Asbestwerks"), gehörten die Kaufleute-Väter in 13 Werk Mainkur der Firma Leopold Cassella & Co., Gesellschaft mit beschränkter Haftung 1870-1920, Frankfurt am Main 1920, S. 11; Geschichte Handelskammer Frankfurt, S. 1285f. ; Franz Lemer, Leo Ludwig Gans, in: NDB 6 (1964), S. 64; Ahnen- und Verwandtschaftskreis Gans (Maschinschrift), in: Institut zur Erforschung historischer Führungsschichten, 6140 Bensheim a.d. Bergstraße 1, EmstLudwig-Straße 21; Gerd Schneider, Leo Gans, in: Jüdische Stiftungen in Frankfurt am Main. Stiftungen, Schenkungen, Organisationen und Vereine mit Kurzbiographien jüdischer Bürger dargest. von Gerhard Schiebler, hg. von Arno Lustiger, Frankfurt a.M. 1988, S. 333-338. 14 Kalle & Co. Aktiengesellschaft Biebrich am Rhein 1863-1913, Mannheim 1913, S. 4; Heinrich Voelcker, 75 Jahre Kalle. Ein Beitrag zur nassauischen Industriegeschichte 1863-1938. Kalle & Co. AG Wiesbaden-Biebrich, Frankfurt a.M. 1938, S. 34ff.; Grete Ronge, Wilhelm Kalle, in: NDB 11 (1977), S. 65-68. 13 Bookenheim. Seine Entwicklung, gegenwärtigen Einrichtungen und sonstigen Verhältnisse, hg. vom Verein fur Handel und Industrie, Bockenheim 1892, S. 87fF.; Geschichte Handelskammer Frankfurt, S. 1066, 1262; 75 Jahre Fellner & Ziegler 1882-1957, Frankfurt a.M.-West, o.O., o.J. [1957]; Stadtarchiv Frankfurt, Einwohnermeldekartei: Johann Christian Fellner. 16 Zu Joseph Wertheim: Joseph Wertheim t> ώ: Frankfurter Kleine Presse 68, 21.3.1899; Stadtarchiv Frankfurt, Einwohnermeldekartei: Joseph Wertheim; Staatsarchiv Wiesbaden, Judenregister Nr. 741-743; Geschichte Handelskammer

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ihrem Lebensbereich durchaus zur gutsituierten wirtschaftlichen Führungsschicht und standen manchen Großkaufleuten nicht fern (z.B. Bäckermeister und Mehlhändler, Inhaber einer renommierten Antiquitätenhandlung). Insgesamt deutet aber die Herkunftshäufigkeit der Firmatigründer aus dem handwerklich-industriellen und handeltreibenden Wirtschaftsbürgertum mit (einschließlich der leitenden Angestellten) 101 Untemehmervätem (61,9%) auf einen herkunftsbedingten, sich auf Berufsqualifikation und Untemehmermotivation, teilweise auch auf finanziellen und familialen Hintergrund sich gründenden Chancen- und/oder Mentalitätsvorsprung gegenüber anderen Abkunftsberufen hin. Liegt im internationalen Vergleich eine Besonderheit der sozialen Herkunft deutscher Unternehmer im hohen Anteil der Beamtenabkunft17, so zeichnet sich innerhalb Deutschlands das Rhein-MainGebiet wiederum durch die Stärke des Anteils der Abkunft der Firmengründer von dem beamteten und freiberuflichen Bildungsbürgertum aus. Den höheren und mittleren Beamten, den evangelischen Pfarrern und freien akademischen Berufen einschließlich der Apotheker gehörten - ohne die unteren Beamten - ziemlich genau ein Viertel (25,1%) oder 41 Untemehmerväter an. Unter ihnen bilden die höheren Beamten mit 18(11,0%) Personen, gefolgt von den mittleren Beamten mit neun (5,5%) Gründervätern die stärkste Herkunftsgruppe. Darunter befinden sich Angehörige von Familien, die speziell den mittelrheinischen Territorialherrn oft durch Generational die Staatsdiener-Führungsschicht in Verwaltung, Militär, Gastlichkeit und Geistigkeit gestellt haben (z.B.: Beck18, die Chirurgenfamilie Büchner19,

Frankfurt, S. 1243, 1247, 1255, 1258; Voigt, Maschinenindustrie, S. 15f. Zu Louis Wertheim: Stadtarchiv Frankfurt, S. 2/4334: Louis Wertheim f; Stadtarchiv Frankfurt, Einwohnermeldekartei: Louis Wertheim; Staatsarchiv Wiesbaden, Judenregister Nr. 741-743; Geschichte Handelskammer Frankfurt, S. 1297f. 17 Stahl, Elitekreislauf, S. 110; Kaelble, Mobilität, S. 234. u Harry Gerber, Ludwig Beck, in: Nassauische Lebaisbilder 4 (1950), S. 247-252; Hugo Racine, Ludwig Beck, in: NDB 1 (1953), S. 698f. 19 DGB 144 (1967), S. Iff., insbes. 41-49; Anton Büchner, Die Familie Büchner. Georg Büchners Vorfahren, Eltern und Geschwister (Hessische Beiträge zur deutschen Literatur), Darmstadt 1963, S. 30ff.; Armin Hildebrandt, Die Industrialisierung in Pfungstadt - von der Gründung der Krapp-Manufaktur bis zum modernen Industriebetrieb (1767-1945), in: Pfungstadt. Vom fränkischen Mühlendorf zur modernen Stadt. Hg. von J. Friedrich Battenberg, Pfungstadt 1985, S. 219-260, hier insbes. S. 233-239; Valentin Liebig, Wilhelm Büchner. Sozialer Unternehmer und liberaler Politiker (Ausstellungskatalog), Pfungstadt 1988.

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teilweise Dietze20, Euler21, Koch22, Römheld23, Scriba24, Schenck25, Schleussner26, Seil27, oder auf einer niedrigeren Ebene die Försterfamilie Albert2"). Neben dai Pfarrern (sechs Personen, 3,7%), welche dai höheren Beamten durch Herkunft, amtsorientiertes Dienstverständnis und Konnubium nahestehen, bilden die freien akademischen Berufe eine eigenständige Facette. Fünf der acht (4,9%) Unternehmerväter dieser Herkunftsrichtung waren Apotheker. Damit ist auch bereits die pharmazeutische und chemische industrielle Betätigung ihrer Söhne vorgegeben. Darunter befinden sich noch heute bekannte Namen wie E. Merck in Darmstadt29, W.C. Heraeus in Hanau30 und die kleiner ge20

Hermann Dietze, Aus meinem Leben, Frankfurt a.M. 1913, S. 92; W. Bornemann, Hermann Dietze, in: Frankfurter Kirchenkalender 31, 1919 (1918), S. 1721; Verein für chemische Industrie, in: Historisch-biographische Blätter. Industrie, Handel und Gewerbe. Das Großherzogtum Hessen, Berlin: Eckstein o.J. [um 1910], 21 Friedrich Wilhelm Euler, Wilhelm Euler (1847-1934) und seine Vorfahren. Maschinschriftl. Manuskript, in: Institut. 22 Friedrich Ludwig Koch, in: Hessische Biographien 1 (1913), S. 166-168. 23 August Römheld, Familienbuch der Familie Römheld, Darmstadt 1900, S. 33ffi; DGB 98 (1937), S. 338ff.; Jürgen Schwab, Eine eiserne Tradition 1859-1959, hg. anläßlich des hundertjährigen Bestehens der Firma Julius Römheld Eisengießerei, Maschinen- und Stahlbau, Mainz, Dannstadt 1959, S. 5ff. 24 Otfried Praetorius, Ferdinand Scriba, Familienbuch Scriba-Schreiber aus Medebach im Sauerland, Neustadt a.d.Aisch, 1955, S. 27ff, Christian Scriba, Genealogisch-biographische Übersicht der Familie Scriba, Friedberg 2. Aufl. 1884, S. 42ff, 79, 113f. ; Herbert Büschenfeld, Höchst. Die Stadt der Farbwerke (RheinMainische Forschungen 45), Frankfurt a.M. 1958, S. 65. 23 DGB 96 (1937), S. 281ff, insbes. S. 286. Im Zeichen der Waage. Biographie über Carl Schenck, hg. von der Carl Schenck Maschinenfabrik GmbH Darmstadt, anläßl. d. 75. Jahrestages der Werksgründung, Darmstadt 1956, S. lOff. 26 Irene Schleußner, Schleußner. Geschichte eines in Thüringen, Franken und Hessen beheimateten Geschlechts und seiner Ahnen, in: Deutsches Familienarchiv 14 (1959), S. 53ff; 75 Jahre Schleussner 1860-1935, Frankfiiit/M. 1935, S. 3ff; 100 Jahre Dr. Schleussner Fotochemie ADOX, Stuttgart 1960, S. 6ff; Dr. C. Schleussner AG, in: Historisch-biographische Blätter. Industrie, Handel und Gewerbe. Der Regierungsbezirk Wiesbaden, Berlin: Eckstein 1912. 27 DGB 52 (1927), S. 482-486; Hagenböcker, Zur Geschichte des Werkes Offenbach der IG-Farbenindustrie, maschr. Manuskript Stadtarchiv Offenbach, Offenbach 1936; Denkschrift der C.F. Boehringer & Söhne GmbH., Mannheim-Waldhof anläßlich ihres 75jährigen Bestehens 1859-1934, S. 39ff. 28 Siehe oben Anm. 10 und DGB 92 (1936), S. 62f. Anm. 70. 29 Carl Wernher, Heinrich Emanuel Merck, in: Hessische Biographien 2 (1927), S. 369-371; DGB 18 (1910), S. 249ff; Wilhelm Michel, E. Merck - Darmstadt 1937, Darmstadt 1937, S. 16ff; Die Chemische Fabrik E. Merck - Darmstadt. Ein Rückblick auf die Geschichte der Firma in Wort und Bild, Darmstadt 1952, S. 54f

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bliebenen Pharmafirmen Dr. E. Fresenius in Frankfurt, dann in Bad Homburg bzw. Oberursel31 und Karl Engelhard in Frankfurt32. Für die Struktur der Industrie im Rhein-Main-Gebiet mußte es aber formend wirken, wenn sich Nachkommen von Berufsgruppen verhältnismäßig stark an Industriegründungen beteiligten, die entweder traditionell oder aus sozialem Aufstiegsstreben, wie z.B. bei dai Lehrersöhnen, wenn schon nicht eine akademische, so doch eine qualifizierte, auch theoretisch abgesicherte Ausbildung erhielten oder sie sich im Fall von Ausbildungsdefiziten um eine theoretische Weiterbildung bemühten. Dabei ist aus der Abwendung der Söhne dieses beamteten und freiberuflichen Bildungsbürgertums von der bisherigen humanistischen Geistesbildung und traditionellen Berufslaufbahn nicht von vornherein auf eine bei dieser Herkunftsgruppe plötzlich erwachte Technik- oder Wirtschaftshochschätzung zu schließen. Häufig haben nämlich gerade bei ihnen die nicht vorrangig erwerbsorientierten Konventionen Bedenken der Väter gegen die technische, weniger gegen die bereits aus der Pharmazeutenausbildung her vertraute naturwissenschaftliche Berufswahl ihrer Söhne ausgelöst (z.B. bei Heinrich Voigt (18571937)33 und Carl Linde (1842-1934)34. Jedenfalls führte bei ihnen häufig kein direkter oder von vornherein beabsichtigter Weg zum Fabrikantenberuf. Vielmehr erzwang wiederholt auch eine schon an den Schulleistungen erkennbare technisch-naturwissenschaftliche Begabung (z.B. Wilhelm Ludwig Büchner (1816-1892)) oder die 30 Wilhelm Heraeus, Geschichte der Familie Heraeus. Zur Feier des 250jährigen Besitzes der Einhorn-Apotheke zu Hanau, Offenbach a.M. 1910, 59ff ; Festschrift zum 75jährigen Bestehen der Platinschmelze W.C. Heraeus GmbH 1851-1926, Hanau 1926, S. 6ff; Karl Siebert, Hanauer Biographien aus drei Jahrhunderten. Wilhelm Carl Heraeus, in: Hanauer Geschichtsblätter, Neue Folge 3/4 (1919), S. 81-83; Wilhelm Geibel u.a. (Hg.), Festschrift zum 70. Geburtstag von Dr.phil. Dring, e.h. Wilhelm Heraeus, Hanau 1930, S. Iff; Günther Mehl, Wilhelm Carl Heraeus, in: NDB 8 (1969), S. 571. 31 DGB 98 (1937), S. 98f.; Dr. E. Fresenius KG, Bad Homburg v.d.H., o.O., o.J. [1962], Institut. Geschichte Handelskammer Frankfurt, S. 1288; 90 Jahre Fabrik pharmazeutischer Präparate Karl Engelhard, Frankfurt a.M., maschr. Manuskript in Finnenbesitz 1962. 33 Heinrich Voigt, Nachdenkliches und Heiteres aus den ersten Jahrzehnten der Elektrotechnik, Leipzig 1925, S. 153. 34 Carl Linde, Aus meinem Leben und von meiner Arbeit, München 1916, 3. Aufl. 1983, S. 10; Kurt Mayer, Karl Michaelis, Carl Ritter von Linde, in: NDB 14 (1985), S. 577-581.

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Notwendigkeit zur finanziellen Entlastung des Lebensunterhalts des elterlichen Beamtenhaushalts bei zutragen, entgegen anderen Berufszielen eine frühe technische oder kaufmännische Berufswahl (z.B. Ludwig Beck (1841 - 1918)35). Mehrheitlich wandten sich aber Angehörige dieser beamteten und Bildungsbürger-Herkunftsgruppe verstärkt erst nach 1850 Industriegründungen zu, als ihnen der Ausbau des naturwissenschaftlichen und technischen höheren Schulwesens einen ihrer Herkunft bzw. ihrem Anspruch entsprechenden bildungsmäßigen Zugang zur Industrie ermöglichte. Die völlig ephemere Erscheinung des Großgrundbesitzes an Untermain und Mittelrhein sowie die industrieabstinenten Wertorientierungen dieser Schichten erklären wohl das völlige Fehlen der auch im übrigen Deutschland nur regional unter besonderen Entwicklungsbedingungen (z.B. Oberschlesien36) bedeutsamen agrarisch-feudalen Spitze der Großgrundbesitzer als Herkunftsreservoir der Industriegründer. Infolge des zeitlichen Ansatzes der Untersuchung fehlen unter ihnen auch die wesentlich erst der industriellen Welt zugehörigen Ingenieure, Chemiker und Techniker. Im Hinblick auf das große Arbeitskräftereservoir der klein- und zwergbäuerlichen Bevölkerung mit oft ländlichem Hausnebengewerbe im Untersuchungsgebiet und seinen mittelgebirgigen Nachbarregionen, ihrer schlechten, gebietsweise trostlosen wirtschaftlichen Lage, der Verstädterung und dem Zwang des Berufswechsels zur Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert blieb die Abkunftshäufigkeit der Firmengründer von Bauern mit sechs (3,7%) und von Werkmeistern und Arbeitern mit neun (5,6%) Personen ähnlich wie die von unteren Beamten mit drei (1,8%) Herkunftsfallen beschränkt. Das verstärkte Auftreten dieser Abkunftsberufe nach 1870 deutet aber doch auf verbesserte Aufstiegsmöglichkeiten und ein Offener-Werden der Gesellschaft für sozial von untai Aufsteigende in der Zeit seit der Hochindustrialisierung und nach der Reichsgründung hin.

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Siehe oben Anm. 18 und Büchner, Familie Büchner, S. 30f. Konrad Fuchs, Wirtschaftliche Führungskräfte in Schlesien vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs, in: Führungskräfte der Wirtschaft im 19. Jahrhundert 1790-1914, Teil Π, Büdinger Vorträge 1969-1970. Hg. von Herbert Heibig (Deutsche Führungsschichten der Neuzeit 7), Limburg/Lahn 1977, S. 59-108, insbes. S. 65ffi und S. 78. 36

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Entgegen manchen neueren Untersuchungen und Ansichten über die deutsche Unternehmerrekrutierung im 19. Jahrhundert37, scheint damit das vorliegende rhein-mainische, nur die Firmengründer und nicht die Gesamtunternehmerschaft einschließlich der Untemehmenserben einbeziehende Material wieder in Grenzen die ältere, zum Teil zeitgenössische und insgesamt sicher zu optimistische Ansicht zu bestätigen, nach der die „leitenden Manner des Wirtschaftslebens ... aus immer breiteren und somit immer tieferen Schichten der Bevölkerung" aufstiegen3*. Zwar gehörten gut die Hälfte, nämlich 85 Untemehmerväter (52,2%) der Oberschicht (Fabrikanten, Großkaufleute, höhere Beamte, Pfarrer, freiberuflich tätige Akademiker und Leitende Angestellte) an. Der Mittelschicht (mittlere Beamte einschließlich Lehrer, Kaufleute, Handwerksmeister und selbständige Handwerker, Bauern und Angestellte) entstammen aber immerhin 64 (39,2%) der Firmengründer. Die Unterschicht der unteren Beamten, Arbeiter und der von diesen wiederum erheblich geschiedenen Werkmeister ist mit 12 Personal (7,4%) als Herkunftsbereich vertreten. In der chronologischen Abfolge überwiegt in der frühindustriellen Ära bis 1850 entschieden die Herkunft aus der Mittelschicht. Der bedeutende Anstieg und das deutliche Übergewicht der Herkunft der Firmengründer aus der Oberschicht erfolgt dann im Untersuchungsdoppeljahrzehnt 1851-1870. Und offensichtlich hat man in der nunmehr verstärkten Beteiligung der kapital- und bildungsbesitzenden Kreise an Industriegründungen das entscheidende Moment des in diesen Jahrzehnten erfolgten Durchbruchs zur industriellen Gründungsund Wachstumsphase zu sehen. In der industriell, beruflich und gesellschaftlich vielgestaltiger werdenden Welt des entwickelten Kapitalismus des Kaiserreichs, insbesondere erkennbar im letzten Untersuchungsdoppeljahrzehnt ab 1891, finden sich unter den Vätern der Firmengründer dann verstärkt Angehörige unterer Schichten bei gleichzeitiger Angleichung der Herkunftswerte der Mittelschicht zu 37

Hartmut Kaelble, Sozialer Aufstieg in Deutschland 1850-1914, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 60 (1973), S. 41-71, hier bes. S. 5253; Kaelble, Mobilität, S. 102-110, insbes. S. 104; zum Teil anhand desselben Basismaterials (Neue Deutsche Biographie) wie H. Kaelble für die Gesamtunternehmerschaft kommt W. Stahl bei feinerer Differenzierung der Schichtzugehörigkeit für Gründer-Unternehmer zu einem günstigeren Bild der Aufstiegsmöglichkeit. Stahl, Elitekreislauf, S. 126. 38 Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus, 3. Bd. 1. Halbbd., Das Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus, Neudruck Berlin 1955, S. 19f.

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denen der Oberschicht39. Die Herkunft aus der Oberschicht hat aber insofern besonderes Gewicht, da das vorliegende Material das Grundmuster der elitären Rekrutierung bestätigt, nach der mit steigender Untemehmensgröße die Unternehmer in wachsendem Maße den oberen Schichten, in sinkendem dagegen dai sozial unteren Berufen entstammen. Insofern kommt dem Thema der Verbindung und Differenzierung von Aufstiegsmobilität und Wirtschaftszweig größte Bedeutung zu. 2.2. Die beruflich-soziale Herkunft und der Wirtschaftszweig Die unterschiedlichen Anforderungen der einzelnen Wirtschaftszweige an die bildungsmäßigen, technischen und kaufmännisch-finanziellen Ansprüche der Unternehmer führen im Hinblick auf die beruflichsoziale Stellung der Väter und die Wahl der Wirtschaftszweige durch die Firmengründer zur Unterscheidung von sozial offenen Branchen, also Aufstiegsbranchen und Branchen, die gegen Aufsteiger weitgehend resistent waren. Von den 48 Unternehmervätern des Maschinen-, Stahl- und Fahrzeugbaus gehören 28 dai mittleren und unteren Berufen an40. 19 Unternehmerväter waren Angehörige der Oberschicht. Die für die Hinwendung zu mechanischen Industriezweigen besonders ansprechbaren Handwerkersöhne bilden mit 17 Vertretern das weitaus größte Kontingent einer Einzelabkunftsberufsgruppe. Handwerksmeister als Väter besaßai unter anderen z.B. die Gründer der Maschinenfabrik Goebel in Darmstadt, Johann Peter Gandaiberger (1804-1869)41 und Johann Georg Goebel (1830-1900)42, Adam Opel (1837-1895) in 39

Siehe Tabelle Anlage 2. Den Sonderfall eines erstaunlichen unternehmerischen Aufstiegs von bäuerlicher Herkunft und keiner irgendwie erkennbaren höheren Spezialausbildung zu einem Großunternehmer stellt Louis Peter (1841-1921), Gründer der Mitteldeutschen Gummiwarenfabrik Louis Peter AG in Frankfurt am Main dar. Auf ihn ließe sich das Wort von Fritz Redlich „Unternehmer trotz Abkunft" anwenden: Wolfgang Medding, Louis Peter, in: Lebensbilder aus Kurhessen und Waldeck 1830-1930 (1950), S. 248fif.; Helm Wienkötter, Geschichte der Luftbereifìmg und der Peters Union, Frankfurt a.M. 1930, insbes. S. 13ff. 40 Für diese und die folgenden Zahlen siehe bitte Tabelle Anlage 3: Die beruflichsoziale Herkunft und der Wirtschaftszweig. 41 Staatsarchiv Darmstadt, Sterbeprotokoll Pfungstadt 15.Nov.1813. 42 Evangel. Pfarramt Ober-Ramstadt, Heirat 9.8.1829; Ali Lichtenstein, Die Maschinenfabrik Goebel und die Stadt Darmstadt, Darmstadt o. J. [um 1926], S. lOff.; Hundert Jahre Goebel AG 1851-1951, Darmstadt 1951; Gandenberger'sche

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Rüsselsheim43 oder die Gründer der Maschinenfabrik und Eisengießerei Gebr. Schmaltz in Offenbach, die Brüder Johann Philipp Schmaltz (1819-1881) und August Felix Schmaltz (1821-1874)44. Auf die handwerkliche Herkunft von Joseph Gasteil (1785-1852) in Mainz, Johann Simon Fries (1777-1835) in Frankfurt und Johannes Heim (1786-1844) wurde bereits oben hingewiesen45. Sie gilt auch für den Maschinenbauer Jacob Wilhelm Philippi (1829-1877) in Wiesbaden46, den Glasdachfabrikanten Claus Meyn (1871-1953) in Frankfurt47 oder den Kesselschmied und Stahlbauer Michael Lavis (1842-1906) in Offenbach48. Beispiele für eine nicht-handwerkliche einfache oder mittlere beruflich-soziale Stellung von Vätern, deren Söhne Maschinen-, Stahl- oder Fahrzeugbaubetriebe gründeten, bieten unter anderen Anton Joseph Collet (1830-1885), 1862 Mitgründer der Werkzeugmaschinenfabrik Collet & Engelhard in Offenbach, dessen Vater Gold- und Silberarbeiter und Inhaber eines kleinen Ladengeschäfts in Kassel war49, und der Eisenbahnpacker und Güterwieger Johann Conrad Dönges (18131866), dessen Sohn Georg Theodor Dönges (1843-1924) 1872 die Darmstädter Eisenbahnbau-Anstalt gründete30. Der Vater von Johann Forst (1814-1879), neben dem Schlossermeistersohn Johannes Klein Maschinenfabrik Georg Goebel, in: Histor.-biograph. Blätter, Großherzogtum Hessen. 43 Hans Friedrich von Ehrenkrook, Karl Förster u.a., Ahnenreihen aus allen deutschen Gauen 1 (1928), S. 242ff.; Hans Schäcker: Die Familie Opel, in: Der Uhrturm. Zeitschrift der nassauischen familiengeschichtlichen Vereinigung 16 (1936), S. 301ff. 44 Georg Lehnert, Johann Philipp Schmaltz und August Felix Schmaltz, in: Hessische Bigoraphie 1 (1918), S. 428-430; A. Voigt, Maschinenindustrie, S. 13f.; Gebr. Schmaltz, Maschinenfabrik und Eisengießerei, in: Histor.-biograph. Blätter, Großherzogtum Hessen. 43 Siehe oben Anm. 5-7. 46 Auskunft Maschinenfabrik Wiesbaden GmbH., Wiesbaden; Verein Deutscher Ingenieure. Festschrift zur 50. Hauptversammlung in Mainz und Wiesbaden vom 14. bis 17. Juni 1909, hg. vom Bezirksverein Rheingau, Mainz 1909, S. 190f.; Maschinenfabrik Wiesbaden GmbH, in: Histor.-biograph. Blätter, Reg.Bez. Wiesbaden. 47 Claus Meyn, Zum 80. Geburtstag des Firmengründers, Frankfurt/M. 1951, S. 5. 48 Auskunft Standesamt Offenbach am Main.; 50 Jahre Stahlbau Lavis. Eine Jubiläumsschrift, Offenbach/M. 1947, S. 1. 49 O. Mahr, 75 Jahre Collet & Engelhard, Werkzeugmaschinenfabrik AG, Offenbach/M. 1862-1937, Berlin 1937, S. 6f. 50 Stadtarchiv Darmstadt, Einwohnermeldekartei Georg Dönges; mündl. Auskunft W. Paulmann, Darmstadt.

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(1819-1896) 1847 Mitgründer der Druckmaschmenfabrik Johannisberg im Rheingau, war ein bei Waterloo gefallener Soldat, die Mutter war Hausiererin51. Der Beruf von Johannes Hartmann (1823-1887), dessen Söhne 1885 die Maschinenfabrik F. A. Hartmann in Offenbach gründeten, wird aufeinanderfolgend als Arbeiter, Mechaniker, Monteur und Werkführer angegeben52. Das Übergewicht der Abkunft aus sozial mittleren und unteren Berufen kennzeichnet jedenfalls dai Maschinen-, Stahl- und Fahrzeugbau als eine Aufstiegsbranche. Wesentlich für die soziale Durchlässigkeit ist aber, daß sich gegen Ende des Untersuchungszeitraums keineswegs eine Verengung der Herkunftshäufigkeit aus mittleren und unterai Berufen zeigt. Vorteilhaft für die Herkunftsbreite und die bis 1914 andauernden Erfolgsmöglichkeiten für Maschinenbaugründer erwies sich im Rhein-Main-Gebiet die mit der fortschreitenden Mechanisierung einhergehende Spezialisierung und Produktionsvielfalt, das Fehlen des aufstiegserschwerenden kapital- und technikintensiven Baus schwerer Maschinen und damit ein Überwiegen spezialisierter kleinerer und mittelgroßer Betriebe neben einigen Großbetrieben, insbesondere im Arbeitsmaschinen- und Fahrzeugbau (Nähmaschinen, Schreibmaschinen, Fahrräder, Autos, z.B. Adam Opel in Rüsselsheim53, Adler Fahrrad- und Autowerke vorm. Heinrich Kleyer in Frankfurt54). Die Söhne der unter den Maschinenbaugründern in nicht unbeträchtlicher Zahl vertretenen Oberschicht wandten sich bezeichnenderweise mit einer einzigen Ausnahme erst nach 1850 - am stärksten im Zeitraum 1871-1890 - der Gründung von Maschinenbaubetrieben zu (z.B. Otto Engelhard (1838-1926) in der Werkzeugmaschinenfa51 Theodor Goebel, Die Maschinenfabrik Johannisberg: Klein, Forst & Sohn Nachfolger zu Geisenheim/Rhein, Johannisberg 1897, S. 6f. 52 Einwohnermeldeamt Offenbach/M., Friedrich August Hartmann; Staatsarchiv Darmstadt, ev. Geburtsprotokoll Darmstadt 30. August 1855; Staatsarchiv Darmstadt, ev. Copulationsprotokoll Darmstadt (Steinbuch) 22. Okt. 1854; Hans Birling, H.W. Flemming, F. Klemm, 75 Jahre Maschinenfabrik Hartmann AG, Offenbach/M. 1885-1960, Darmstadt 1960, S. 9ff. 53 L. Opel, Adam Opel und sein Haus, 50 Jahre der Entwicklung 1862-1912, Darmstadt 1912, S. 6fF.; Heinrich Hauser, Opel, ein deutsches Tor zur Welt, Frankfurt 1937. 54 Alexander Lang, Die Adler-Fahrradwerke vorm. Heinrich Kleyer, Frankfurt/M. 1880-1905, Berlin 1905, S. llff.; Heinrich Schmitt, Die Adlerwerke 1880-1926, in: Industrie-Bibliothek 9 (1926), S. 3ff.; Paul W. Erhardt, So entsteht ein Auto (50 Jahre Adler 1880-1930), Frankfurt/M. 1930, S. 7ff; Hans Christoph Graf von Seherr-Thoß, Heinrich Kleyer, in: NDB 12 (1980), S. 63f.

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brik Collet & Engelhard in Offenbach", Carl Schenck (1835-1910) in der gleichnamigen Maschinen- und Waagenbaufabrik in Darmstadt56, Johann Christian Fellner (1851-1920) in der Frankfurt-Bockenheimer Firma Fellner & Ziegler57 oder Karl Wittekind (1855-1912) in der Frankfurter Maschinenbau AG., vorm. Pokomy & Wittekind5'). Konnte man doch erst seit den 1840er Jahren, vor allem aber mit dem industriellen Aufschwung der 1850er Jahre überhaupt von der Existenz eines deutschen Maschinenbaus als selbständigem Industriezweig sprechen. Es war dies auch die Zeit, in der der Ausbau der Polytechnischen Schul αϊ und des technischen Schulwesens eine standesgemäße theoretisch-technische Ausbildung zu ermöglichen begonnen hatten und sich gegenüber der Frühindustrialisierung zudem die Renditemöglichkeiten im Maschinenbau verbesserten.59 Mit der chemischen Industrie ist das Gegenteil der sozial offenen Maschinenbauindustrie angesprochen. Von 38 Unternehmervätern der Chemiegründer gehörten allein 29 der Oberschicht, acht der Mittelschicht und einer der Unterschicht an. Dieses Übergewicht der Herkunft aus der Oberschicht bei Firmengründern von Chemieunternehmen wird dadurch verschärft, daß Söhne von Mittel- und Unterschichtsangehörigen ihre Firmai mehrheitlich vor der Etablierung der chemischen Großindustrie, der Grundstoff-, Teerfarben- oder Düngemittelherstellung kurz nach der Jahrhundertmitte gegründet haben. Zudem befaßten sie sich vorrangig mit der Herstellung von chemischen Spezialerzeugnissen und Fertigprodukten in Klein- und Mittelbetrieben, deren Fertigungsprobleme zum Zeitpunkt der Unternehmensgründung durchaus noch durch die Empirie erlernbar und lösbar waren (z.B. die Seifensiedereien und Seifenfabriken August Jacobi in 55

Siehe oben Anm. 49. Siehe oben Anm. 25. 57 Siehe oboi Anm. 15. 58 Institut: Stammbaum der Familie Wittekind; Geschichte Handelskammer Frankfurt, S. 1248, 1255f.; Bockenheim, Entwicklung, S. 83f. 59 Alfred Schröter, Die Entwicklung der deutschen Maschinenbauindustrie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Alfred Schröter, Walter Becker, Die deutsche Maschinenbauindustrie in der industriellen Revolution (Veröffentlichungen des Instituts für Wirtschaftsgeschichte an der Hochschule für Ökonomie BerlinKarlshorst), Berlin 1962, S. 70, lOlf., 111; Walter Becker, Die Entwicklung der deutschen Maschinenbauindustrie von 1850 bis 1870, in: Schröter, Becker, Maschinenbauindustrie, S. 140ff., 195f. und S. 228ff; Otto Froriep, Zur Geschichte der Maschinenbau-Industrie und der Maschinenzölle im deutschen Zollverein (Tübinger staatswissenschaftliche Abhandlungen, NF 16), Stuttgart 1918, S. 40, 54, 59; Gessner, Metallgewerbe, S. 287-338. 56

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Darmstadt60, Martin Kappus in Offenbach61, die Spiritus- und Öllackfabrik Friedrich Roßbach in Friedberg62, der Wachswaren-, Schuhcreme- und Reinigungsmittelhersteller Werner & Mertz (Erdalwerke) in Mainz63 u. dgl.) Der Durchbruch zur nahezu vollständig auf wissenschaftlicher Forschung betriebenen modernen chemischen Industrie verlangte den Firmengründern in erster Linie ein chemisches Studium ab, erfordete einen höheren Kapitalbedarf, begünstigte die Verbindung eines Chemikers mit einem Kaufmann/Kapitalisten und ließ die Herkunft aus der Oberschicht für Chemiegründer die Regel werden. Der Aufstieg zum Beispiel von Friedrich Merz (geb. 1884) aus bäuerlicher Herkunft zum Chemie-, Pharma- und Kosmetikhersteller knapp vor 1914 erfolgte bezeichnenderweise über ein chemisches und pharmazeutisches Studium64. Dabei lag der Zugang zur Gründung der lange als chemische Kleinindustrie bezeichneten pharmazeutischen Betriebe, deren Initiatoren wiederum meist Apotheker oder Söhne der im Chemieunternehmertum relativ stark vertretenen geistigen Oberschicht waren, auch schon im Vormärz fast durchwegs in einer guten theoretischen Ausbildung bzw. im Studium. Die Feststellung des Überwiegens der Herkunft der Chemiegründer aus der Oberschicht ist noch durch dai Hinweis zu vertiefen, daß ein Teil von ihnen derjenigen Schicht entstammte, die man durchaus als die bürgerliche Spitzenschicht in Deutschland bezeichnen könnte. Der 60

Stadtarchiv Darmstadt, Einwohnermeldekartei: Johannes Jacobi und Johann August Jacobi, Evgl. Kirchenbuch Darmstadt, Heirat 26.Sept.1844; Arthur Uecker, Die Industrialisierung Darmstadts im 19. Jahrhundert, Darmstadt 1928, S. 150; generell über die Bedeutung des traditionellen vorindustriellen „Chemiehandwerks" und neuerer chemischer Industrie an Mittelrhein und Untermain siehe: Dieter Gessner, Chemiehandwerk und chemische Großindustrie an Mittelrhein und Untermain. Zur Vorgeschichte der chemischen Industrie im Rhein-MainRaum (1790-1865), in: Nassauische Annalen 91 (1980), S. 144-179. 61 Reinhold Ruhr, Offenbacher Lebensbilder 18: Johann Martin Kappus, in Offenbacher Volkszeitung 24.2.1923. 62 Georg Lehnert, Friedrich Roßbach, in: Hessische Biographien 2 (1927), S. 404f.; Spiritus- und Oellackfabrik F. Roßbach, in: Histor.-biograph. Blätter, Großherzogtum Hessen. 63 Standesamt Mainz, Familienregister 8942 und 15947: Laurenz Adam Werner und Friedrich Christoph Werner.; P. Stautz, Wanderungen durch die hessische Industrie, in: Mainzer Tageszeitung 29.Nov.1923. 64 Auskunft Chemische Fabrik Merz & Co., Frankfurt/M.; Friedrich Merz 80 Jahre, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 16. und 17.10.1964.

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Vater des Hauptinitiators bei der Gründung der Farbwerke Hoechst Nikolaus Eugen Lucius (1834-1903), der Großkaufmann und Textilunternehmer Sebastian Lucius (1781-1857), war selbst bereits Kommerzienrat, Präsident der Handelskammer Erfurt und Besitzer der Rittergüter Stödten und Klein-Ballhausen. Von seinen vier überlebenden Söhnen waren drei Mitglieder des Reichstags, unter ihnen Robert Lucius (1835-1914), sät 1888 Freiherr Lucius von Ballhausen, von 1879-1890 konservativer preußischer Minister fxir Landwirtschaft und seit 1895 Mitglied des Herrenhauses". Abkunft, wirtschaftliche Unabhängigkeit, Branchenbedeutung und zum Teil audi die Betriebsgröße, die Verfügbarkeit für öffentliche Betätigung ermöglichte, sowie Nähe zu den traditionell staatstragenden Gesellschaftsschichten haben bei den Chemieindustriellen anscheinend auch stärker als in anderen erfaßten Branchai, und zum Teil schon in der Gründergeneration zur Übernahme von Abgeordnetenmandaten, besonders zu Reichstagsmandaten, zu Nobilitierungen und zum Teil zum Übergang ihrer Nachkommen in hohe Beamtenstellungen gefuhrt66. Ein Beispiel für die Beteiligung der „geistigen Führungsschicht" an Gründungen der chemischen Industrie und deren öffentliche Betätigung stellt der Gründer der Ultramarinfabrik in Pfungstadt bei Darmstadt und Reichstagsabgeordnete der Fortschrittspartei Wilhelm Ludwig Büchner (1816-1892) dar. Er entstammte einer in seiner Generation genial-hochbegabten alten Odenwälder Bader-, Ärzte- und Chirurgenfamilie und war Bruder des Dichters Georg Büchner (18 Π Ι 837), des seinerzeit vielgelesenen materialistischen „Kraft- und Stoff-Büchners" Ludwig Büchner (1824-1892) und der Vorläuferin der Frauenbewegung Luise Büchner (1821-1877) 67 . DGB 4 (1896), S. 229 ff.; Ehrenkrook, Ahnenreihen 3 (1936), S. 59ff.; Fischer, Gründer, S. 251; Wolfgang Metternich, Eugen Lucius, in: NDB 15 (1987), S. 277278; Fischer, Meister, S. 65ff; Wilhelm Treue, Unternehmer und Finanziers, Chemiker und Ingenieure in der chemischen Industrie im 19. Jahrhundert, in: Heibig (Hg ), Führungskräfte, S. 235-254, hier bes. S. 24Iff. 56 Mitglieder des Reichstags unter dai erfaßten Chemiegründern waren z.B. der Mitgründer der Farbwerke Hoechst Johann Adolf (von) Brüning (1837-1884), der Offenbacher Toiletteseifen- und Parfiimeriefabrikant Gustav Boehm (1827-1900), der Teilhaber der Chemischen Fabrik Kalle & Co. Jakob Friedrich Kalle (18371915) und der Oestricher Oxalsäurefabrikant Rudolph Koepp (1830-1897). Siehe Max Schwarz, MdR, Biographisches Handbuch der Reichstage, Hannover 1965. Nobiltiert wurden von Chemieindustriellen Angehörige der Familien von Brüning, von Meister (beide Farbwerke Hoechst), von Gans und von Weinberg (beide Cassella). Zu den MdR gehört auch Wilhelm Büchner, siehe Anm. 13 und 19. 67 Siehe oben Anm. 19. 63

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Insgesamt läßt sich aber feststellen, die diemische Industrie war wenig aufstiegsfreundlich; am sozial offensten war sie nodi in einigen chemischen Spezialsparten, am geringsten in der späteren chemischen Großindustrie. Bei den 20 erfaßten Gründern der Leder- und Lederwarenindustrie, für die das Rhein-Main-Gebiet während des Untersuchungszeitraums ein Hauptzentrum ihres Standorts in Deutschland war, ist wegen der unterschiedlichen Anforderungen dieser beiden Industriesparten an den Unternehmer zu differenzieren zwischen der ledererzeugenden und der lederverarbeitenden Industrie. Die Gründer der Lederfabriken entstammen dabei weniger dem Gerbereihandwerk, wie man dies unter dem naheliegenden Gesichtspunkt „aus Gerberei wird Lederfabrik" vermuten würde, sondern vielmehr überwiegend der Gruppe der Großkaufleute, Kaufleute, zum Teil auch den Fabrikanten. Sie besaßen zudem überwiegend eine kaufmännische Ausbildung, auch warn es Beispiele erfolgreicher, von Gerbern gegründeter Lederfabriken gibt, wie z.B. die bereits auf das Jahr 1798 zurückgehende Lederfabrik von Mayer, Michel und Deninger in Mainz6'. Die bis zur Verwendung synthetischer Gerbstoffe im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auffallend rückständige Ledertechnologie mit langem Gruben-, dann Faßgerbungsprozeß und entsprechend langer Kapitalbindung, wie auch die kaufmännischen Kalkulationen beim Einkauf der Rohstoffe und beim Verkauf der Fertigprodukte, haben offenkundig die Abkunft von kapitalkräftigen Oberschichtsnachkommen oder Kaufleuten unter dai Lederfabrikanten begünstigt69. Da es sich bei den untersuchten Gründungen letztlich um eine Auslese durchgekommener und arrivierter Firmen handelt - dar68

Lederwerke vormals Mayer, Michel & Deninger, Mainz 1798-1898, Mainz 1898, S. 1-44. 69 Hans Hanisch, Deutschlands Lederproduktion und Lederhandel, in: Zs. für die gesamte Staatswissenschaft, Erg.H. XVI (1905), S. 25, 50, 52; Adolf Link, Die Lederindustrie (erzeugende und verarbeitende), in: Alfred Weber, Über den Standort der Industrien Π. Teil: Die deutsche Industrie seit 1860, 3, Tübingen 1913, S. 37, 41; C.L. Becker, Die wirtschaftliche Entwicklung der deutschen Lederindustrie, Straßburg 1918, S. 32ff., 42f., 52; Helmtraut Hendinger, Vom Gerberhandwerk zur Lederindustrie. Eine Untersuchung des Bedeutungs- und Strukturwandels der Gerberei in vier Jahrhunderten an Beispielen aus Franken und Schwaben (in: Jahrbuch furfränkischeLandesforschung 30 (1970), S. 25ff., S. 62f., S. 68) betont, daß sich nur ein kleiner Teil der Lederfabriken aus Handwerksbetrieben entwickelt hat; Dieter Gessner, Industrialisierung des Lederhandwerks am Mittelrhein und Untermain, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 57 (1980), S. 55-85, insbes. S. 62f.

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unter die zeitweise größte Lederfabrik der Welt, die Lederwerke Cornelius Heyl in Worms70 - treten wohl auch die kapitalkräftigeren, rentabler arbeitenden und daher rascher expandierenden Gründungen von Kaufleuten stärker hervor als dies in der Gesamtzahl der zeitgenössischen Gerbereibetriebe begründet läge. Die Aufstiegsbranche schlechthin unter dai untersuchten Wirtschaftszweigen bildet die Lederwarenindustrie, wenn auch die sieben erfaßten Offenbacher Lederwarenerzeuger, die dem Handwerk, den unterai Beamten und der Arbeiterschaft entstammen, dies nur beispielhaft verdeutlichen können. Entstanden als ein von der Buchbinderei verselbständigter Gewerbezweig ausgangs des 18. Jahrhunderts, ist die Lederwarenindustrie Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Erfindung des Lederwarenportemonnaies mit Metallrahmen und der Ergänzung des bis dahin bestimmenden geschlossenen Manufakturbetriebs durch Heimarbeit und Verlagssystem sowie der Nachfragesteigerung nach Damenhandtaschen, Photoalben und handlichen Reiseutensilien (Koffer, Reiseetuis, Reisetaschen) infolge der Verbesserung der Verkehrsverhältnisse für soziale Aufsteiger noch offener geworden. Die mehr arbeitsintensive als kapitalintensive Herstellung von Qualitätswaren, die Möglichkeit zur Mtarbeit von Familienangehörigen und die Kreditierung durch Grossisten begünstigten - unter Umständen über das Stadium eines Zwischenmeisters im Heimarbeitsprozeß - dai Weg in die Selbständigkeit71. Der Wert der Zahl der sozialen Aufsteiger in der Lederwarenfabrikation wird dadurch gemildert, daß viele dieser Lederwarenproduzenten oft über Kleinst- und Mittelbetriebe nicht hinausgelangten und ihre Firmen infolge der Modeabhängigkeit und Konjunkturanfälligkeit dieser Konsumgüterbranche mit seltenen Ausnahmen wie z.B. die Firma Ludwig Krumm AG, mitbedingt durch die Schaffung 70

Daniel Benin, Cornelius Heyl, in: Hessische Biographien 1 (1918), S. 177-179; Friedrich M. liiert, Umriß einer Geschichte des Hauses Cornelius Heyl, zum 60. Geburtstag des Seniorchefs Dr. jur. Cornelius Freiherr Heyl zu Herrnsheim. Maschr. Worms 1934; Günther Kriegbaum, Cornelius Heyl, in: NDB 9 (1972), S. 81f. 71 Ludwig Hager, Die Lederwaren-Industrie in Offenbach/Main und Umgebung (Volkswirtschaftliche Abhandlungen der badischen Hochschule Vin/3), Karlsruhe 1905, S. 2, 43ff; Müller, Entwicklung, S. 34ff., 104; Franz Jörissen, Die deutsche Leder- und Lederwaren-Industrie, Berlin 1909, S. 252; Carl Klöß, Heimarbeit und Verlag in der Offenbacher Lederwarenindustrie, wirtschafts- und sozialwiss. Diss. Frankfurt/M., Gelnhausen 1933, S. 5ff., 29ff, S. 35; Gessner, Industrialisierung Lederhandwerk, S. 63ff.

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der Warenmarke Gold-Pfeil anstelle der bisherigen Anonymität in der Offenbacher Lederwarenindustrie, oft sdir kurzlebig waren. Wenn auch in der Frühzeit der Portefeuillefabrikation die Buchbinderabkunft und Buchbinderausbildung, z.B. bei Johann Jakob Mönch (1786-1874)72 und später in der Reiseartikelbranche, der sogenannten Sattlerwarenbranche, die Sattlerherkunft oder -ausbildung nicht unüblich waren, so ist doch die Arbeiterherkunft für Lederwarenfabrikanten ein gängiges Herkunftsspektrum. Wilhelm Friedrich Bauer (1881-1961), 1906 Gründer einer Reiseartikelfabrik in OffenbachBieber, war z.B. der Sohn und Enkel von Fabrikarbeitern73. Der Vater von Ludwig Krumm (1827-1886), 1856 Gründer der heutigen GoldPfeil-Lederwaren, ist unbekannt, sein Großvater war Fuhrknecht, dann Bürger und Mehlhändler in Offenbach74. Für die Erkenntnis der sozial αϊ Mobilität sind diese Offenbacher Lederwarenfabrikanten von größter Bedeutung. Von der Größe und der Dauer ihrer Betriebe, der Wirtschaftskraft des einzelnen und wohl auch von ihrem Sozialanspruch sind sie mit wenigen Ausnahmai mit den Unternehmern anderer Branchai nur schwer vergleichbar. Ahnlich der Trennung der Leder- von der Lederwarenfabrikation, sind bei der Eisen- und Metallwarenindustrie wegen der unterschiedlichen Anforderungen dieser beiden Industriesparten an dai Unternehmer die Eisen- und Metallgießereien von den Betneben der Eisen-, Blech- und Metallverarbeitung zu separieren. Der Gießereiindustrie, der im 19. Jahrhundert im Industrieguß, dem Bauguß und dem Kunstguß eine ganz andere wirtschaftliche Bedeutung als heute zukommt, ist zwar die herkömmliche empirische Ausbildung und die entsprechende Herkunft nicht fremd. Bald als Halbzeug-, bald als Fertigwarenindustrie, bald als Teilbetrieb eines größeren Unternehmais, bald als Kundaigießerei fur den Markt oder als 72

Reinhold Ruhr, Johann Jakob Mönch, in: Hessische Biographien 1 (1918), S. 375-376; Reinhold Ruhr, Offenbacher Lebensbilder 24: Jakob Mönch, in: Offenbacher Volkszeitung 5.6.1923. 73 Einwohnermeldeamt Offenbach/M. : Wilhelm Friedrich Bauer; Kathol. Pfarramt Offenbach-Bieber; Wilhelm Friedrich Bauer GmbH, Lederwaren- und Reiseartikelfabrik Offenbach-Bieber, in: Die Westdeutsche Wirtschaft und ihre fuhrenden Männer, Land Hessen, Teil 2, Frankfurt a.M. 1956, S. 47-49. 74 Evgl. Kirchenbuchgemeinde Offenbach, Dt. ref. Heirat 28. Okt. 1777, luth. Beerdigungen 21. Mai 1839, evgl. Heirat 15. Jan. 1852; Die Geschichte der Firma Ludwig Krumm AG, in: Offenbacher Monatsrundschau, H. 7, (Juli 1940), S. 16f.; Gold-Pfeil-Jubiläumsschrift anläßlich des 100jährigen Bestehens der Ludwig Κ nimm AG Offenbach/M., Offenbach/M. 1956; Hugo Ebeihardt, Heinrich Krumm, in: NDB 13 (1982), S. 121f.

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beides zusammen organisiert, war die Stellung der Gießereien in der Industrie und ihre Betriebsgrößenstruktur durchaus mannigfaltig. Die Zukunft gehörte aber schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts dem theoretisch gut vorgebildeten Gießerei Unternehmer und wegen der umfangreicher werdenden Verwendung von Gießerei-, Form- und Transportmaschinen dai Personen mit Kapitaleinsatz75. Dies erklärt wohl überwiegend die Herkunft von Gießereiuntemehmern aus der Oberschicht. So war z.B. der Vater des Eisenkunstgießerei Unternehmers Alfred Richard Seebaß (1805-1884) in Offenbach Professor76, Ludwig Philipp Scriba (1847-1933) von der gleichnamigen Höchster Gießerei77 und Ludwig Beck (1841-1918)7' altstammten höheren Beamtenfamilien, während die in Frankfurt tätigai Julius Wurmbach (1831-1901)79 und Gebrüder Hesse Bergwerksverwalter bzw. Kupferhammerbesitzer zu Vätern hatten'0. Bei dai Gründern von eigentlichen Eisen-, Blech- und Metallwarenbetrieben fehlt zwar auch die Abkunft von Fabrikanten und Großkaufleuten nicht. Herkunftsbedingt erklärbar gründeten zum Beispiel einige Söhne von Offenbacher Lederwarenfabrikanten als Zulieferer von Portefeuillefabriken fungierende Gürtlerwarenbetriebe beziehungsweise führten sie mit dieser oder einer geändertai Metallwarenproduktionsrichtung als eigene Untemehmai weiter (z.B. Johann Ja-

75 Otto Brandt (Hg.), Zur Geschichte der deutschen Eisengießerei. Festschrift zur fünfzigsten Hauptversammlung des Vereins Deutscher EisengießereienGießereiverband 1869-1920, Düsseldorf 1920, S. 24f.; Walther Maurmann, Aus der Wirtschaftsgeschichte der Gießerei-Industrie in Deutschland. 100 Jahre Vereinsarbeit, Düsseldorf 1969, S. 7ff, 13ff; U. Lohse, Die geschichtliche Entwicklung der Eisengießereien seit Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Beiträge zur Geschichte der Technik und Industrie 2 (1910), S. 90ff, 132f., 147. 76 DGB 143 (1967), S. 400 f., 408; Voigt, Maschinenindustrie, S. 6, 11, 17; Völker, OfFenbachs Maschinenbau, S. 21. 77 Siehe oben Anm. 24. 78 Siehe oben Anm. 18. 79 Nachkommen des Johann Wurmbach in Müsen, in: Mitteilungen der Genealogischen Gesellschaft zu Frankfurt/M. 3 (1920), S. 21-35; Bockenheim, Entwicklung, S. 8Off.; Geschichte Handelskammer Frankfurt, S. 1073,1247f. 80 DGB 97 (1937), S. 191ff; Heddeniheimer Kupferwerke und Süddeutsche Kabelwerke AG Frankfurt/M. und Mannheim. Festschrift zur Feier des 25jährigen Bestehens der AG und des 65jährigen Bestehens des Unternehmens 1853-18931918, Frankfurt/M. 1918, S. 3ff ; Geschichte Handelskammer Frankfurt, S. 1264.

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kob Mönch (1842-1926)", Robert Weintraud (1860-1927), 1884 Gründer der nachmaligen Firma Rowenta Metallwarenfabrik82). Ohne Zweifel ausgeprägter als es die paar angeführten Beispiele vermuten lassai, waren aber die Gründer von Betrieben der Eisen-, Blech- und Metallwarenindustrie einfacher oder mittelständischer Herkunft, überwiegend auch als Männer der Praxis mit entsprechender empirischer Ausbildung. Bis heute gehen ja zahlreiche Betriebe der Metallwarenproduktion, des Metallbaus, der Eisen- und Stahlkonstruktionen, des Apparatebaus u. dgl. auf Kunst- und Bauschlossereien, Spenglereien, Kupferschmieden und verselbständigte Facharbeiter zurück. Dabei sind die Übergänge von einem reinen Handwerksbetrieb über eine industriebetriebsähnliche große Werkstätte zu einem meist mittelständischen Industriebetrieb oft fließend und schwer festzustellen, sie haben sich auch wiederholt über zwei oder mehrere Generationen hingezogen. Einige Beispiele sollen diese Aufstiegsmöglichkeiten in der Eisen-, Blech- und Metallwarenbranche über den gesamten Untersuchungszeitraum verdeutlichen. Johann Georg Huppe (1814-1871), 1847 Gründer der Taschenbügel- und Metallwarenfabrik Huppe & Bender in Offenbach war der Sohn eines Taglöhners, der später „Seiler oder Peitschenmacher gewesen sein könnte". Der andere Namensgeber dieser Firma, Adam Philipp Bender (1827-1901), war der Sohn eines Bäckermeisters83. Der Vater von Peter Schlesinger (1859-1934), 1885 Gründer der gleichnamigen Metallwarenfabrik in Offenbach, war Schlosser, dann Werkführer·4. Ernst Philipp Kinkels (1829-1894) Vater war Ackermann und Wirt, während der (minder selbst vor Aufnahme der Gürtlerwarenfabrikation 1875 in Offenbach als Schlos-

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K. Brockmann, Aus Alt-Offenbacher Tagen. Gültlerwaren- und Taschenbügelfabrik Jakob Mönch, in: Offenbacher Generalanzeiger, Juli 1922; Reinhold Ruhr, Jakob Mönch. Ein Lebensbild, in: Stadtarchiv Offenbach Mappe 702/9. 82 DGB 144 (1967), S. 502ff; Auskunft Dr. Wilhelm Weintraud, StuttgartBotnang; Auskunft Rowenta Metallwarenfabrik, Offenbach/M. 83 Evgl. Kirchengemeinde Offenbach, Heiraten 13. Nov. 1842; Rudolf Herrmann, 50 Jahre Huppe &, Bender 1847-1897, Offenbach/M. 1897, S. 6 und 9; Taschenbügel- und Metallwaren 1847-1922. Eine geschichtliche Betrachtung anläßl. des 75jährigen Bestehens der Firma Huppe & Bender in Offenbach/M., Offenbach 1922, S. 15ff.; Die Entwicklung unserer Güitlerwarenindustrie, in: Offenbacher Nachrichten 13. Jan. 1940. 84 Staatsarchiv Darmstadt, Sterbeprotokoll Dietzenbach 4. März 1874; Die Entwicklung unserer Gürtlerwarenindustrie, in: Offenbacher Nachrichten 24. Jan. 1940.

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sergeseile, Stahlarbeiter und Gürtler gearbeitet hatte". Die Metallwarenfabrik Louis Busch in Mainz wiederum geht auf eine Gürtlerei zurück, der Gründer des Fabrikbetriebs war ebenfalls Bronzearbeiter und Gürtler gewesen86. Die Gründer der Sdiraubenfabrik Gebr. Heyne in Offenbach stammten von einem Schneidermeister ab'7, während Balthasar Karl Hanss (1807-1880), 1847 Gründer einer Metallwarenfabrik in Mainz, Sohn eines Schreiners war". Der Vater von Ludwig Voltz (geb. 1869), der eigentlich erst den Apparatebau Fritz Voltz Sohn in Frankfurt emporgebracht hat, war Kupferschmiedemeister". Ähnlich führt das Preß- und Stanzwerk Jakob Faulstroh in GroßGerau seine Anfange auf einen Kunst- und Bauschlossereibetrieb zurück90. Jedenfalls verdeutlichen diese Beispiele, daß das Eisen- und Metallwarengewerbe in einem weit höheren Maße als es die in den Tabellen erfaßten Personal erkennen lassen, sozial eine ausgesprochene Aufstiegsbranche darstellt. Überhaupt könnte die stärkere Berücksichtigung beispielsweise der aufstiegsfreundlichen Lederwarenindustrie, von Teilen des Maschinenbaus und der Eisen-, Blech- und Metallwarenindustrie mit ihren zahlreichen Klein- und Mittelbetrieben bei unternehmerischen Herkunftsanalysen zu einem erheblich anderen und offeneren Bild des unternehmerischen Aufstiegsverhaltens führen, als manche bisherigen Untersuchungen zeigen, die vorrangig auf der Auswertung des Materials der in biographischen und genealogischen Nachschlagewerken überrepräsentierten Großunternehmer basieren. In der elektrotechnischen Industrie setzte die stürmische technische und wirtschaftliche Expansion auf der Grundlage der Starkstrom85 Staatsarchiv Darmstadt, Sterbeprotokoll Bisses 2. April 1833; Die Entwicklung unserer Gürtlerwarenindustrie, in: Offenbacher Nachrichten 16. Jan. 1940; K. Brockmann, Zur Geschichte der Offenbacher Portefeuille-Industrie, in: AltOffenbach 3 (1927), S. 83ff 86 Standesamt Mainz, Familienregister Nr. 9846, 18654; VDI-Festschrift, 50. Hauptversammlung, S. 203. 87 Evgl. Kirchengemeinde Offenbach, Taufen 4. Juli 1841; Richard Heyne, Geschichte der Firma Gebr. Heyne GmbH 1869-1949, Maschr. in Firmenbesitz; K. Brockmann, Festvortrag anläßl. des 50jährigen Bestehens der Firma Gebr. Heyne (5.4.1919), Manuskript in Firmenbesitz. 88 Standesamt Mainz, Familienregister Nr. 5974; Metallwaren-Fabrik Wilhelm Hanss Mainz 1847-1922, Mainz 1922, S. 7ff. 89 Hundert Jahre Fritz Voltz Sohn, Von der Kupferschmiede zum Apparatebau, Frankfurt/M. 1958, S. Iff. 90 Jakob Faulstroh, Preß- und Stanzwerk Groß-Gerau 1893-1953, Darmstadt 1953, S. 5.

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technik und ihrer Anwendung vor allem im Beleuchtungs- und Verkehrswesen sowie in der Energiewirtschaft erst zu einer Zeit ein, als ältere und entwickeltere Industriesparten (z.B. Montan-, Maschinenbau-, Textilindustrie und Eisenverarbeitung) in den Depressionsjahrzehnten nach der Krise von 1873 bereits in eine erste Konsolidierungsphase traten. Der Aufschwung besonders der elektrotechnischen und der an sich älteren feinmechanischen Industrie in dei letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts91 hatte audi zur Folge, daß sich hier Entwicklungen auf wenige Jahrzehnte verkürzt zusammendrängten, für deren Ausformung in anderen Wirtschaftszweigen lange Zeiträume benötigt worden waren. Diese „Gleichzeitigkeit" der Entwicklung in der elektrotechnischen und feinmechanischen Industrie erklärt wohl die ungewöhnliche Abkunftsbreite der Firmengründer dieser Branche. Von 13 Unternehmervätern der Elektrotechnik und Feinmechanik waren je fünf Angehörige der Ober- und der Mittelschicht und drei der Unterschicht, die zudem in höchst disparata! Berufen tätig waren. Ein Grund für diese weite Abkunftsbreite scheint audi in der Vielgestaltigkeit der Produktion und der Anforderungen an dai Unternehmer zu liegen, die Feinmechaniker92 wie theoretisch geschulte Unternehmer gleichermaßen reüssieren ließen. Es erfolgten hier auch wiederholt Partnerschaftsgründungen von Kaufleuten und Technikern, wie dies manche Doppelnamen von Firmen belegen (z.B. Hartmann & Braun, Voigt & Haeffner). Darüber hinaus hat im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts das Interesse der Frankfurter Bankiers, der Handelskammer und generell der Banken an der Entwicklung der Elektrotechnik dieser Branche von der Kapital- und Kreditierungsseite die

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Emil Kreller, Die Entwicklung der deutschen elektrotechnischen Industrie und ihre Aussichten auf dem Weltmarkt, phil. Diss. Greifswald, Leipzig 1903, S. 9; Waldemar Koch, Die Konzentrationsbewegung in der deutschen Elektroindustrie, München, Berlin 1907, S. 7ff., 14ff.; Sombart, Kapitalismus, 3. Bd., 2. Halbbd., S. 752, 840f.; A. Wirminghaus, Elektrizitätsindustrie, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften 3. Bd. 3. Aufl. 1909, S. 927ff.; Franz August Schmitt, Elektrizitätsindustrie und Elektrizitätswirtschaft, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften 3. Bd. 4. Aufl. 1926, S. 690-714; Karl Albrecht, Grundlagen und Leistungen der deutschen optischen und feinmechanischen Industrie (Schriftenreihe des Vereins zur Beförderung des Gewerbefleißes von 1821. H. 3), Berlin 1941, S. 3ff. 92 Ausgebildete Feinmechaniker waren z.B. Wilhelm Eugen Hartmann (18531915) in der Firma Hartmann & Braun in Frankfurt, Carl Lehner (1871-1969) in der Firma Telefonbau & Normalzeit (Telenorma) in Frankfurt und Albert Hauser (geb. 1884) in der Firma Albert Hauser, Fabrik für Meß- und Kontrollinstrumente in Frankfurt, dann in Oberursel.

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besten Entwicklungsmöglichkeiten und auch kapitalschwachen Gründern Aufstiegschancen geboten93. Eine gewisse Bindung der Abkunft an die spätere Größe der Firma ergibt sich daraus, daß die Gründer der später größten Unternehmen oder der gleich als Großunternehmen geplanten Firmai der Ober- oder der Mittelsdlicht entstammten. Bei der Firma Hartmann & Braun für Meß- und Regeltechnik in Frankfurt waren z.B. die Väter der Gründer Seminaroberlehrer bzw. Landgerichtsaktuar94. Heinrich Voigt (18571937) von der elektrotechnischen Fabrik Voigt & Haeffner in Frankfurt entstammte einem Pfarrhaus, während sein Kompagnon Adolf Haeffner (1862-1947) Sohn eines Hoteliers war95. Wilhelm Lahmeyer (1859-1907) von der Elektrizitäts-Aktiengesellschaft vorm. Lahmeyer & Co. in Frankfurt, einer der acht großen deutschen Elektrokonzerne um die Jahrhundertwaide, hatte einen Bergrevisor zum Vater, einer seiner Großväter war Generalsuperintendent96. Bei den kleinerai Industriezweigai wird die Basiszahl der untersuchten 175 Firmaigründer zu klein, um allgemeine Aussagai ohne Heranziehung weiterer Firmengründer machen zu können. Dies gilt auch für die regionale Sondererscheinung der Sektfabrikation und Weinbranderzeugung. Die erfaßten sechs Sektfabrikanten und Weinbranderzeuger entstammen zwar mehrheitlich mittelständischen, insbesondere handwerklichai Berufen, aber bei Heranziehung weiterer Unternehmer ist ein Berufszweig unter dai Firmengründern untervertretai, der durch seine Vertrautheit mit der Beschaffung und dai Absatzwegen sowie wegen der Kapitalintensität des Produkts, des langfristigen Produktionsprozesses und der Lagerhaltung verhältnismäßig häufig den Zugang zur Sekterzeugung gefunden hat: die Weinhänd-

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Geschichte Handelskammer Frankfurt, S. 1265ff. Adolf Wißner, Wilhelm Eugen Hartmann, in: NDB 7 (1966), S. 740f.; 50 Jahre elektrische Meßgeräte 1879-1929, Hartmann & Braun AG, Frankfurt/M. 1929, S. Iff.; Jonathan Zenneck, Ferdinand Braun, in: NDB 2 (1955), S. 554f.; Franz Gräser, Der Fuldaer Nobelpreisträger Ferdinand Braun und seine Ahnen, in: Hessische Familienkunde, S. 203 ff. 95 Emst König, 50 Jahre Voigt & Haeffiier, Frankfurt/M. 1941, S. 9 und S. 15; siehe oben Anm. 33; Paul O. Schneider, Adolf Haeffiier f , in: Elektrotechnische Zeitschrift 69 (1948), S. 247; Stadtarchiv Frankfurt, Einwohnermeldekartei Adolf Haeffiier. 96 Auskunft evgl. Kirchengemeinde Hohnstedt und Clausthal; Geschichte Handelskammer Frankfurt, S. 1271ff.; Helmut Mielert, Wilhelm Lahmeyer, in: NDB 13 (1982), S. 415f.; Elektrizitäts-AG vorm. W. Lahmeyer & Co., Frankfurt/M., in: Histor.-biogr. Blätter, Reg.Bez. Wiesbaden. 94

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1er97. Dies gilt z.B. für die Köln-Frankfurter Weinhandlung Mumm und ihre Angliederung eines Champagnerhauses in Reims", die Gründung einer Champagnerfabrik 1832 in Mainz durch die Handlungen Lauterai, Mappes und Dael" oder die Feist-Belmont'sche Sektkellerei in Frankfurt100, die ähnlich wie die bereits außerhalb des Untersuchungsgebiets liegende Sektkellerei Deinhard & Co. in Koblenz auf eine Weinhandlung zurückgeht101. Bemerkenswert ist, daß neben der Abkunft der Gründer von Sektkellereien von Weinhandlungen auch bei der Abkunft von anderen Berufszweigen nicht selten schon eine irgendwie geartete Vertrautheit des Gründers mit der späteren Tätigkeit durch den Beruf des Vaters gegeben war. Carl BurgefF (1813-1871) war z.B. der Sohn eines Weingutsbesitzers, der auch Weinbergsinspektor und Kellermeister auf Schloß Johannisberg im Rheingau war102. Von einem Schreiner und Kellermeister stammte auch Hugo Asbach (1806-1935) von der gleichnamigen Rüdesheimer Weinbrennerei ab103. Die Sekterzeuger 97

Heinrich Mackenstein, Die deutsche Sektindustrie, maschr. wirtschafts- und sozialwiss. Diss. Univ. Köln 1924, S. 15; Günther Weiß, Die deutsche Sektindustrie. Ihr Werden und das Einwirken des Staates auf ihre Geschichte (Tübinger wirtschaftswissenschaftliche Abhandlungen 13), Stuttgart 1931, S. 19ff.; Leo Dütsch, Die Schaumweinindustrie Deutschlands, maschr. staatswiss. Diss. Erlangen 1923, S. 33, 35. 8 Freiherr Mumm von Schwarzenstein, in: Frankfurter Blätter für Familiengeschichte 1 (1908), S. 13ff. und 2 (1909), S. 120f.: Stammbaum der Familie Mumm von Schwarzenstein; Alexander Dietz, Frankfurter Handelsgeschichte 5. Bd., Frankfurt 1925, S. 546. 99 Bilder und Skizzen aus Mainz. Rheinwein-Champagner-Fabrikation, in: Der rheinische Telegraph 6, 24. Nov. 1839; Hermann Friedrich Macco, von Mappes in: Mitteilungen des Roland 3 (1918), S. 43ffi; Die Sektkellerei Schönberger Cabinet AG in Mainz ging ebenfalls auf eine Weingroßhandlung zurück, siehe: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang, Untergang, Neubeginn, 2. Bd., Frankfurt/M. 1971, S. 27; Dieter Gessner, Umfang und Bedeutung der Produktion von Genußmitteln am Mittelrhein und Untermain 1790-1865. Eine quantifizierende Regionalanalyse der frühen Industrialisierung, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 59 (1958), S. 366. 100 Die Westdeutsche Wirtschaft und ihre führenden Männer. Land Hessen Frankfurt/M. 1956, S. 95ff.; Alexander Dietz, Stammbuch der Frankfurter Juden, Frankfurt 1907, 79f. 101 Wilhelm Treue, Deinhard. Erbe und Auftrag. Hg. zum 175jährigen Jubiläum der Firma Deinhard & Co., Koblenz, München 1969. 102 Helmut Amte, Festschrift zum 125jährigen Bestehen der ältesten rheinischen Sektkellerei Burgeff & Co. 1837-1962, Hochheim/M., Wiesbaden 1962, S. 10. 103 Harry Rump, Hugo Asbach, in: NDB 1 (1953), S. 409; Siegfried Kretschmar, Ahnentafel Asbach, maschr. in Institut.

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Matheus Müller (1773-1847) in Eltville104 und Johann Jakob Söhnlein (1827-1912) in Wiesbaden-Schierstein105 waren hingegen Söhne von Küfermeistern. Die Väter der sechs erfaßten Firmengründer der in sich heterogenen Industriegruppe der Steine und Erden, die Zement- und Zementwarenfabriken, ein Asbestwerk und eine Glashütte gegründet haben, waren vorwiegend Angehörige der Oberschicht (Fabrikanten und Großkaufleute, Kaufmann). Diese Herkunft ist für die erfaßte Personengruppe auch verständlich: Eine rein handwerksmäßige Herstellung z.B. von Zement hat es nie gegeben und die Gewinnung und das Brennen des Rohmaterials haben von Anfang an für Öfen, Mühlen, Brennstoff usw. einen hohen Kapitaleinsatz, die technisch-wissenschaftliche Durchdringung des Herstellungsprozesses und wegen der latenten Überproduktion und Konjunkturabhängigkeit eine scharfe kaufmännische Kalkulation und gute Absatzsicherung erfordert106. Insofern waren die Angehörigen der Familie Dyckerhoff durch ihre generationenlange Tätigkeit als Baumeister, Architekten, Ingenieure und im einschlägigen Großhandel geradezu schicksalshaft prädestiniert, in der Zement-, Zementwaren- und Baubranche tätig zu werden107. Nicht übersehen werden sollte aber auch, daß die von der allgemein«! Baukonjunktur, der Verstädterung und der Bevölkerungsvermehrung im 19. Jahrhundert emporgetragenen Inhaber von Ziegeleien vermutlich auch die Inhaber von Steinbruchbetrieben in den bergigen Randzonen des Rhein-Main-Gebiets wie das gesamte Bau-

104

Auskunft kathol. Pfarramt Kiedrich und Frau Müller-Gastell, Eltville. Stadtarchiv Frankfurt, Trauungsbuch 30. Sept. 1819; Rheingold Söhnlein & Co., in: Histor.-biogr. Blätter, Reg.Bez. Wiesbaden. 106 Günther Kühn, Die Zementindustrie. Ihre wirtschaftliche und organisatorische Struktur, Jena 1927, S. 28, 30. Ernst Madelung, Die Entwicklung der deutschen Portland-Zementindustrie von ihren Anfangen bis zur Gegenwart mit besonderer Berücksichtigung der Kartelle, München, Leipzig 1913, S. 14ff.; Peter Hans Kiepert, Die deutsche Zementindustrie, Charlottenburg 1927; Hans Hoflmann, Die geograph. Gebundenheit der Großindustrie an der Mainmündung. Eine standortanalytische Untersuchung der für das Mainmündungsgebiet typischen Industriezweige, maschr. naturwiss. Diss. Mainz 1954, S. 3 Iff. 107 DGB 92 (1936), S. 49ff; Hermann Pinnow, Gustav Dyckerhoff, in: NDB 4 (1959), S. 21 Of.; Hermann Pinnow, Aus alten Schriften der Portland-CementFabrik Dyckerhoff und Söhne zur 75jährigen Wiederkehr des Gründungstages, München 1939, S. 15 (Der Chronik zweiter Teil, 1896-1924, Wiesbaden 1954); Gert von Klass, Weit spannt sich der Bogen 1865-1965. Die Geschichte der Bauunternehmung Dyckerhoff & Widmann, Wiesbaden 1965, S. 13ff. 105

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haupt- und Baunebengewerbe sozial eine ausgeprochene Aufstiegsbranche gewesen sein dürften. Eine regionale Besonderheit stellen die in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts am dichtesten in Frankfurt und Offenbach angesiedelten Schriftgießereien dar10'. Gegenüber der älteren und länger andauernden handwerklichen Ausbildungs- und Berufsrichtung im Schriftgießereigewerbe sind die erfaßten Frankfurt-Offenbacher Schriftgießerei Unternehmer mit breiter sozialer Herkunft und kaufmännischer Ausrichtung ihrer Ausbildung symptomatisch Ausdruck des in dai Jahrzehnten vor 1914 erreichten Entwicklungsstadiums des deutschen Schriftgießereigewerbes. Es ist gekennzeichnet durch die Lösung der bis dahin häufigen Bindung an Druck- und Verlagsunternehmen, einen deutlichen betrieblichen Schrumpfungs- und Konzentrationsprozeß ab der Mitte des 19. Jahrhunderts und einen rasch anwachsenden Kapitalbedarf für Mechanisierung und Vertrieb. Dazu kamen die Trennung der Tätigkeit des Schriftentwerfers von der des Stempelschneiders auch unter dem Eindruck einer kunstgewerblich- typographischen Erneuerungsbewegung (William Morris), die Einführung der Gieß- und dann der Linotype-Setzmaschine bei gleichzeitiger Überführung der älteren handwerklichen Schriftgießereien in mehr oder weniger industriell organisierte und geleitete Unternehmen10'. Unternehmerisch war dies aber offenkundig im Schriftgießereigewerbe die Stunde der Kaufleute, die zum Teil in glücklicher Weise unternehmerisches Wirken, typographisches Formgefühl und eigene künstlerische Veranlagung oder Interessen miteinander verbanden (z.B. Georg Hartmann (1870-1954) von der Bauer'sehen Schriftgießerei in Frankfurt110, Gebrüder Kling-

Georg Kurt Schauer, Deutsche Buchkunst 1890-1960, Bd. 1, Hamburg 1963, S. 147. 109 Schauer, Buchkunst, S. 134f, 137-146; Fritz Funke, Buchkunde. Ein Überblick über die Geschichte des Buch- und Schriftwesens, München-Pullach 3. Aufl. 1969, S. 208ff; Dieter Gessner, Die Industrialisierung des graphischen Gewerbes an Mittelrhein und Untermain in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (1790-1865). Eine quantifizierende Regionaluntersuchung, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 117 (1981), S. 373-401, bes. auch S. 387f„ S. 399; GusUv Mori, Geschichte und Entwicklung des Schriftgießereigewerbes in Frankfurt am Main, in: Archiv für Buchgewerbe 44 (1907). 110 Franz Lerner, Johann Georg Hartmann, in: NDB 7 (1966), S. 742f.; Werden und Wachsen einer deutschen Schriftgießerei. Zum hundertjährigen Bestehen der Bauer'sehen Gießerei, Frankfurt/M. 1937, S. 35ff. 108

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spor in Offenbach111 oder David Stempel von der gleichnamigen Schriftgießerei in Frankfurt112). Die zwölf unter „Verschiedene" zusammengefaßten Unternehmer haben branchenmäßig recht unterschiedliche Firmai der Metallproduktion und des Metallhandels, der Holzbearbeitung, der Papierfabrikation und der Textilindustrie gegründet. Ihre Zahlen sind allerdings für die einzelnen Wirtschaftszweige zu klein, um allgemeine branchendifferenzierende Aussagen oder Rückschlüsse über die Verbindungslinirai von Herkunft und Zugang zur Unternehmertätigkeit machen zu können. Im Hinblick auf den Zusammenhang von Herkunftshintergrund, wirtschaftlicher Betätigung und hochkapitalistischem Unternehmensaufstieg ist allerdings bei dai Gründern der Frankfurter Metallgesellschaft, Wilhelm Merton (1848-1916) und Leo Ellinger (1852-1916), die Abkunft von Teilhabern der Frankfurter Metallhandelsfrima Phil.Abr. Cohen und deren Verbindung zum Londoner Merton-Haus und Metallhandelsmarkt von größter Bedeutung113. Bei ihnen wie den vorher als Prokuristai bei der Firma Phil.Abr. Cohen tätig gewesenai Gründern der nach der Metallgesellschaft seinerzeit nächstbedeutaidsten intemationalai Metallhandelsfirma Beer & Sondheimer in Frankfurt114, mag die Herkunft aus einem jüdischen

111

Alfred Lück, Reinhard Klingspor. Chronik und Stammtafel der Familie Klingspor, Offenbach/M. 1956, S. 38; Wilhelm H. Lange, Gebr. Klingspor und die deutsche Schrift, in: Offenbacher Monatsrundschau 6 (Juni 1940), S. 59ff; Dem Erneuerer deutscher Schrift- und Buchkultur. Karl Klingspor zum 25. Juni 1938, Brünn, Leipzig, Wien 1938, S. 4ff; Hans A. Halbey, Karl Klingspor, in: NDB 12 (1980), S. 98f. 112 Chronik der Schriftgießerei D. Stempel AG Frankfurt a.M. 60 Jahre im Dienste der Lettern 1895-1955, Frankfurt 1955, S. 6ff; David Stempel f , in: Frankfurter Nachrichten 3. Nov. 1927; Auskunft Standesamt Lambsheim/Rheinpfalz. 113 Walter Däbritz, Fünfzig Jahre Metallgesellschaft 1881-1931, Frankfurt/M. 1931, S. 15ff., 31f., 102, 151, 206; Hans Achinger, Wilhelm Merton in seiner Zeit, Frankfurt/M. 1965, S. 15ff, S. 27f.; Siegbeit Wolf, Wilhelm Merton, in: Jüdische Stiftungen, S. 355-360. Leo Ellinger t> in: Jahresbericht des Physikal. Vereins zu Frankfurt 1916/17, S. 3f.; P. Prior, Leo Ellinger, in: 47. Bericht der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft in Frankfurt, Frankfurt/M. 1918, S. 104f.; Stadtarchiv Frankfurt, Einwohnermelderegister: Philipp und Leo Ellinger; Geschichte Handelskammer Frankfurt, S. 1200-1202. 114 Däbritz, Metallgesellschaft, S. 65; Achinger, Merton, S. 31; Geschichte Handelskammer Frankfurt, S. 1200ff; Beer, Sondheimer & Co. Frankfurt, in: Europas Volkswirtschaft in Wort und Bild. Hg. von der Frankfurter Zeitung 1925/26, S. 92; Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang, Untergang, Neubeginn 1. Bd. Frankfurt/M. 1971, S. 326.

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Elternhaus insofern von Bedeutung gewesen sein, da sich dieser Handelszweig fast ausschließlich in jüdischen Händen befand113. Fragt man nach den allgemeinen Tendenzen und dem Wandel im Beziehungsverhältnis Herkunft der Firmengründer und Wirtschaftszweig während der rund 100 Jahre 1815-1914, so ist eine erstaunliche Kontinuität des unternehmerischen Aufstiegsverhaltens in dai einzelnen Wirtschaftszweigen festzustellen. Zwar scheint - wie oben dargelegt - in der Gesamtsumme aller Branchai gegen Ende des Untersuchungszeitraums sich die soziale Herkunft ausgeweitet zu haben. Der durch die industrielle Revolution ausgelöste wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandel hat aber bei keinem Wirtschaftszweig nach dem Übergang von der Frühindustrialisierung zur Hochindustrialisierung zu einer völligen Umpolung der Unternehmerrekrutierung geführt. Trotz gewisser Verschiebungen in dai Herkunftsberufen mit dem Ausgang der Ära der Frühindustrialisierung blieben vielmehr diejaiigen Branchai, die schon in der Frühindustrialisierung Aufstiegsbranchen waren (z.B. Teile des Maschinenbaus, Metallwarenindustrie, Lederwarenindustrie) dies auch in der Ära der Hochindustrialierung, zum Teil wurden sie sogar nodi offener für sozial von unten Aufsteigende. Diejenigen Branchen aber, bei daiai schon vor der Jahrhundertmitte die Herkunft aus der Oberschicht überwog (z.B. Chemisch-Pharmazeutische Industrie) waren in ihrem Kernbereich rund hundert Jahre später mit vereinzeltai Ausnahmen ebaifalls nicht offen für sozial von unten Aufsteigaide.

3. Die regionale Herkunft der Firmengründer 3.1. Die einzelnen Herkunftslandschaften Zur Ermittlung der regionalen Mobilität der Firmengründer wurden diese entsprechend der Entfernung ihres Geburtsortes zum Ort der späteren Firmengründung in vier konzentrisch angeordnete Herkunftsgebiete eingeteilt: 1) Der Geburtsort ist gleich dem Ort der späteren 113

Robert Liefmann, Die internationale Organisation des Frankfurter Metallhandels, in: Weltwirtschaftliches Archiv 1 (1913), S. 108-122; S M. Auerbach, Jews in the German Metal Trade, in: Leo Baeck Year Book 10 (1965), S. 188-203, insbes. S. 201.

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Firmengründung, 2) Herkunft aus dem übrigen Rhein-Main-Gebiet, 3) Herkunft aus dai Nachbarlandschaften des Rhein-Main-Gebiets und 4) Herkunft aus dem restlichen In- und Ausland. Von den 175 erfaßten Firmelgründern des Rhein-Main-Gebiets 1815-1914 wurden 61,1% (107 Personal) im Rhein-Main-Gebiet geboren116. Mit der Zuwanderungsquote von 38,9% der Industriegründer unterscheidet sich die Untemehmerherkunft im Rhein-Main-Gebiet vor allem von jenen Industrielandschaften, die - nicht selten anknüpfend an regionale Rohstoffvorkommen oder Verfügungsrechte an Produktionsmitteln (z.B. Wasser-, Hammerrechte) - eine ausgeprägt bodenständige gewerbliche Unternehmerschaft besaßen, „deren teilweise bis ins Mittelalter reichende Geschichte nie völlig abriß"117. Bis 1850 war der Trend der regionalen Mobilität überwiegend statisch. Bis zu diesem Zeitpunkt sind nämlich von 38 Firmengründern nur vier von außerhalb des Rhein-Main-Gebietes zugewandert, ein Indiz für eine geringe territoriale Mobilität der rhein-mainisehen Unternehmerschaft in der Frühindustrialisierung. Ausgehend von einem wenig entwickelten industriellen Ausgangsniveau verschaffte der späte industrielle Start, die Konzentrationsmöglichkeit auf Wachstumsbranchen und der allgemeine industrielle Durchbruch in der langen Konjunkturwelle der 1850er bis Anfang der 1870er Jahre dem RheinMain-Gebiet ab der Jahrhundertmitte eine deutlich erkennbar verstärkte Zuwanderung von Firmengründern. Sie führte laufend zum Absinken des Anteils der rhein-main-gebürtigen Unternehmer und ab 1870 sogar zum Überwiegen der zugewanderten Firmengründer. Dabei hat es auch innerhalb der rhein-main-gebürtigen Gruppe der Firmengründer Ortsveränderungen gegeben. Nur 72 (41,1%) haben am Geburtsort ihre Firma gegründet. 35 (20,0%) sind aus anderen Orten des Rhein-Main-Gebietes zugewandert. Die räumliche Zirkulation setzt bei ihnen mit dem Doppeljahrzehnt 1831-1850 auch früher ein als bei dai von außerhalb in das Rhein-Main-Gebiet Zugewanderten. Die Abwanderung aus dem Geburtsort ist damit ein wesentlicher und typischer Bestandteil der Lebaisgeschichte und der Karriere der Mehrheit der erfaßten Firmengründer des Untersuchungsgebiets. Gegenüber der

116 Für diese und die folgenden Zahlen siehe bitte Tabelle Anlage 4: Die regionale Herkunft der Firmengründer. 117 Friedrich Zunkel, Der rheinisch-westfälische Unternehmer 1834-1879. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert (Dortmunder Schriften zur Sozialforschung Bd. 19), Köln, Opladen 1962, S. 13.

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sozialen Mobilität ist auch die regionale Mobilität erheblich größer gewesen. Aus den unmittelbar an das Rhein-Main-Gebiet anschließenden Nachbarlandschaften von Hessen und Nassau, aus Franken, Nordbaden und der Pfalz stammten 27 (15,4%) der 175 Firmengründer. Unter ihnen bildeten die Hessen und Nassauer - soweit sie nicht ohnehin zum Untersuchungsgebiet zu rechnen waren - mit 17 Herkunftsfallen das stärkste Kontingent, gefolgt von Nordbaden und Franken mit je vier Vertretern. Als weiterer äußerer Ring von Herkunftslandschaften jenseits der Nachbarregionen des Rhein-Main-Gebiets schließt sich die als Fernzuwanderung zu begreifende Herkunft aus dem restlichen In- und Ausland mit 41 (23,4%) von 175 Firmengründern an. Die Zuwanderer aus dem frühindustrialisierten Rheinland und Westfalen mit 15 Personen und die aus dem später industrialisierten Württemberg (ohne Baden) mit elf Firmengründern stellen unter ihnen die beiden größten Einzelherkunftsgruppen mit allerdings dem Gang der Industrialisierung aitsprechender unterschiedlicher zeitlicher Schwerpunktbildung. Erreichen die Firmengründer aus dem Rheinland und Westfalen ihre größte Häufigkeit in den Jahrzehnten gleich nach 1850 mit sinkender Tendenz zum Ende des Untersuchungszeitraums hin, so verhält es sich bei den Württembergern gerade umgekehrt. Bei ihnen bilden dai Schwerpunkt der Zuwanderung die Jahrzehnte unmittelbar vor 1914. Auch im Hinblick darauf, daß das Rhein-Main-Gebiet kein Hauptziel der mit der Industrialisierung einsetzenden und zudem fast ausschließlich die ländliche Arbeiterüberschußbevölkerung erfassenden Ost-West-Binnenwanderung war, ist bemerkenswert, daß einschließlich Berlin das gesamte ostelbische nördliche und östliche Deutschland, aber auch z.B. Altbayern als Herkunftsgebiet der 175 rhein-mainischen Firmengründer ausfallen, wenn sich auch bei einer Verbreiterung der Basiszahl einzelne Herkunftsfalle für diese Gebiete finden lassen11'. Nicht so singulär scheint dagegen die Zuwanderung

118 Aus Potsdam gebürtig war z.B. der Offenbacher Dampfkesselfabrikant Karl Friedrich Rochow (1844-1918), aus Stettin stammte der Offenbacher Maschinenfabrikant Karl Nube (1858-1925), in Neustadt (Krs. Ludwigslust) in Mecklenburg wurde der Offenbacher Maschinenfabrikant Wilhelm Fredenhagen (1843-1924) geboren, der Fabrikant für Filter-und Abfüllapparate in Worms Lorenz Adalbert Enzinger (1849-1897) stammte aus Wasserburg am Inn. Zu Rochow: Einwohnermeldeamt Offenbach/M., Einwohnermeldekartei Rochow; Müller, Entwicklung, S. 100.

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aus dem nordwest- und mitteldeutschen Raum gewesen zu sein. Bei dai vier im Ausland geborenen Unternehmern (Frankreich, USA) handelt es sich um Söhne deutscher Geschäftsleute im Ausland beziehungsweise eines USA-Auswanderers und damit eigentlich um „unechte" Fälle einer ausländischen Herkunft. Insgesamt hat aber das in bezug auf die Rohstoffgrundlage der rhein-mainischen Industrie zutreffende Merkmal ihrer geringen Bodenständigkeit im Hinblick auf die regionale Herkunft der Firmengründer in abgeschwächter Form und in anderem Sinne auch für viele der Gründer seiner Industriebetriebe Gültigkeit. 3.2. Die regionale Mobilität der Firmengründer nach Wirtschaftszweigen Ähnlich den Unterschieden der sozialen Herkunft nach einzelnen Wirtschaftszweigen läßt auch die örtliche Mobilität der Firmengründer in dai einzelnen Wirtschaftszweigen ein unterschiedliches Ausmaß der regionalen Zirkulation erkennen119. Dabei standen die räumliche und die soziale Mobilität in einem gewissen Gegensatzverhältnis zueinander. Entgegen manchen Erwartungen stammten nämlich nach dem vorliegenden Material die Gründer in sozialen Aufstiegsbranchen häufiger aus dem Rhein-Main-Gebiet, sie waren also regional immobiler. Dies gilt schon für die Gründer von Maschinenbaufirmen. Insbesondere stellen aber die in und um Offenbach konzentrierten Lederwarenfabrikanten ein eindrucksvolles Beispiel dar, in welchem Ausmaß spezifisch regional begrenzte Wirtschaftszweige die regionale Immobilität ihrer Firmengründer wie die ihrer Arbeiterschaft gefördert ha-

Zu Nube: Einwohnermeldeamt Offenbach/M., Einwohnermeldekartei Nube; Von der Werkstätte zum Industriewerk. Fünfzigjähriges Bestehen der Maschinenfabrik Kurt Nube, in: Offenbacher Nachrichten 7. Mai 1938. Zu Fredenhagen: DGB 143 (1967), S. 409f. und 461ff; Evgl. Kirchenbuch Offenbach, Heiraten 9.3.1873. Zu Enzinger: Stadtarchiv Worms, Personenstandsregister Heiraten 1874: Enzinger -Rudinger; Auskunft kathol. Stadtpfarramt Wasserburg/Inn; Otto Eberhardt, Die industrielle Entwicklung der Stadt Worms, maschr. phil. Diss. Heidelberg 1922, S. 74f. 119 Auf die Wiedergabe der Tabelle regionale Herkunft und Wirtschaftszweig wurde aus Platzgründen verzichtet.

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bai120. Die Angehörigen dieser sozial aufstiegsfreundlichen Gruppe und Branche haben fast durchwegs am Ort ihrer Geburt oder in dessen unmittelbarer Nachbarschaft ihr Unternehmen gegründet. Demgegenüber haben die geringere Bindung der „Studierten" an ihren Geburtsort, ihre größere Anpassungsfähigkeit und ihre zum Teil auch größere finanzielle Unabhängigkeit sowie rationalere Überlegungen bei der Standortwahl und wohl audi die geringere Abhängigkeit ihrer Produkte von lokalen oder regionalen Absatzmärkten bei Nachkommen von Oberschichtsangehörigerl und theoretisch besser geschulten Mittelschichtsnachkommen deren räumliche Mobilität gefördert. Dies gilt schwächer ausgeprägt für die Herkunft der Chemieindustriellen, besonders aber fur die Gründer der elektrotechnischen und feinmechanischen Industrie, bei denen von 13 erfaßten Firmengründern zehn Femzuwanderer waren, von denen wiederum die Hälfte aus Württemberg stammte. 3 .3. Die HerkunftsVerteilung auf Stadt und Land In bezug auf die Herkunftsverteilung der Firmengründer auf Stadt und Land ergibt sich, wie schon die soziale Herkunft mit ihrem geringen Anteil von bäuerlich-landwirtschaftlichen Abkunftsberufen nahelegt, ein deutliches Übergewicht mit 136 (77,5%) stadtgebürtiger gegen nur 39 (22,5%) aus Markt- oder Landgemeinden gebürtiger Unternehmer. In allen Zeitabschnitten überwiegen dabei, zum Teil beträchtlich, die stadtgebürtigen Unternehmer; nur das letzte Untersuchungsdoppeljahrzehnt 1891-1914 läßt eine Annäherung der Stadt- und der landgebürtigen Unternehmer erkennen121. Der auch in Paralleluntersuchungen erkennbare Chancenvorsprung der Stadtbevölkerung für die unternehmerische Betätigung122 infolge der besseren Bildungsmöglichkeiten und dem Kontakt mit einer höherentwickelten gewerblich-technischen Umwelt sowie teilweise auch einem höheren sozioökonomischen Herkunftshintergrund gewinnt 120

Max Morgenstern, Auslese und Anpassung der industriellen Arbeiterschaft betrachtet bei der Offenbacher Lederwarenindustrie (Schriften des Vereins für Socialpolitik 135. Bd., 3. Teil), Leipzig 1912, S. 39. 121 Auf die Wiedergabe der Tabelle der Herkunftsverteilung der Firmengründer auf Stadt und Land wurde aus Platzgründen verzichtet. 122 Stahl, Elitekreislauf, S. 195ff.; Hartmut Kaelble, Berliner Unternehmer während der frühen Industrialisierung. Herkunft, sozialer Status und politischer Einfluß, Berlin, New York 1972, S. 21.

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nodi an Gewicht vor dem Hintergrund der im Laufe des 19. Jahrhunderts rasch fortschreitenden Landflucht, der Verstädterung und der Industrialisierung, der dai hohen abwandernden ländlichen Bevölkerungsanteil offenkundig in derart untergeordnete gewerblichindustrielle Berufe brachte, daß ihm ein unternehmen scher Aufstieg nicht ohne weiteres möglich war. Zudem umfaßt die Quote der landgebürtigen Unternehmer die Söhne von Pfarrern, Förstern und weiterer wohl am Lande lebender, nicht aber eigentlich ländlicher Berufe.

3.4. Die regionale Herkunft der Firmengründer rhein-mainischer Städte 65 der 175 Firmengründer haben ihre Unternehmung in Frankfurt am Main gegründet123. Diese Zahl unterstreicht dai industriellen Bedeutungsaufstieg Frankfurts nach dem Ende der frei städtischen Zeit neben ihrer traditionellen und gegenüber Berlin absteigenden Börsen- und Bankenplatzfunktion. Mit 38,5% (25 Personal) ortsgebürtiger Firmengründer und 61,5% (40 Personal) Zuwanderer, darunter dem höchsten Anteil von Fernzuwanderem (33,9% oder 22 Personal) unter den Firmengründern aller rhein-mainischai Städte überhaupt, weist Frankfurt eine unter dem Durchschnitt liegende Selbstergänzungsquote aus der Stadt stammaider Untemehmensgründer auf. Angesichts der Wirtschaftsbedeutung und der Wirtschaftskraft der ökonomisch führenden Schichten Frankfurts drücken sich in diesai Zahlai die restriktive reichs- und freistädtische Frankfurter Industrieansiedlungs- und Gewerbepolitik genauso aus wie die bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts andauernden Mentalitätsvorbehalte der Frankfurter Privatbankiers und der Börse gegen das Industrieanlagaigeschäft. Die unterdurchschnittliche Selbstergänzungsquote der Frankfurter Firmaigründer aus ihrer Stadt ist aber auch insofern bemerkaiswert als sie in Widerspruch steht zu einer Reihe häufig geäußerter Meinungen über die Gründer und die Ursachai der Entstehung der Frankfurter Industrie im 19. Jahrhundert. Danach hätten „immer wieder" oder „nur" die Frankfurter Kaufleute und Bankiers die Industrie in Frankfurt und im Frankfurter Raum gegründet, finanziert und entwickelt 123

Für diese und die folgenden Zahlen siehe Tabelle Anlage 5: Die regionale Herkunft der Finnengründer einiger Städte des Rhein-Main-Gebiets 1815-1914.

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und der Frankfurter Handel hätte „sich das industrielle Potential" geschaffen, fur dessen Erzeugnisse er dai Zugang zu dai Märkten besaß oder erschließen konnte124. Diese überörtliche Funktionsaufteilung zwischen der Handelsfunktion Frankfurts und der Produktionsfunktion der Umgebung hatte aber nur solange Gültigkeit, solange die entsprechenden wirtschaftspolitischen Voraussetzungen und Rahmenbedigungen bestanden, die Verkehrsverhältnisse ein kleinräumiges Absatzdenken der Produzenten erzwangen, die Warenmessen als Hauptumschlagplätze und Warenstapel Geltung hatten, die Produzenten keine eigenen Bezugs- und Absatzorganisationen aufbauten und die nach 1815 großräumiger werdenden Einzelstaaten im Rhein-Main-Gebiet eine derartige überstaatliche Verflechtung zuließen, soweit sie sie nicht zur Entwicklung des eigenen Gewerbes förderten123. Davon unabhängig haben sich insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, speziell in einigen konsumnahen Gewerbezweigen (z.B. Lederwarenindustrie, Konfektionskleider- und Wäscheherstellung, Möbelschreinerei) gänzlich, überwiegend oder teilweise organisiert in dai unterschiedlichsten Formen von Verlagssystem und Heimarbeit -, verschiedentlich neue Abhängigkeiten zwischen Frankfurter und sonstigen städtischen Grossisten und Umlandgewerbai ausgebildet126. Geht man aber von der pauschalen Annahme der innigen Verflechtung von Handel und Industrie als industrieinitiierendem Impuls ab und geht man von den Industriegründern der modernen Produktionsund Investitionsgüterindustrien in Frankfurt und seinen später eingemeindeten Vororten ab der Mitte des 19. Jahrhunderts aus, sind diese Betriebe entsprechend der regionalen Herkunft der Gründer in einem hohai Maße von Nicht-Frankfurtern gegründet und audi initiiert worden. Von dieser Erkenntnis bleibt unberührt, daß eine ganze Reihe von 124 Almanach der Frankfurter Wirtschaft, Ausgabe 1975/76, bearb. von Franz Lerner, Frankfurt/M. 1975, S. 21; Almanach der Frankfurter Wirtschaft, Ausgabe 1964/65, bearb. von Franz Lerner, Frankfurt/M. 1964, S. 19; Franz Lerner, Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Nassauer Raumes 1816-1964, Wiesbaden 1965, S. 173; Franz Lerner, Das tätige Frankfurt, Frankfurt 1955, S. 309. 125 Dieter Gessner, Großhandel und Industrialisierung an Mittelrhein und Untermain (1780-1856), in: Scripta Mercaturae 12, 1/2 (1978), S. 21-28. 126 Darüber siehe die umfassende Enquete im Zusammenhang mit der Frankfurter Heimarbeitsausstellung von 1908: Paul Arndt, Die Heimarbeit im rheinmainischen Wirtschaftsgebiet, 3 Bde., Jena 1909, 1911, 1913, insbes. 3. Bd., 1. Teil über die Konfektionsherstellung; J. Schloßmacher, Die Lederwarenindustrie im rhein-mainischen Wirtschaftsgebiet, im 1. Bd., S. 300-326.

Wirtsdiaftsbürgertum des Rhein-Main-Gebiets

181

Frankfurter Industriebetrieben a u f Handelsbetriebe zurückgehen (z.B. Cassella-Farbwerke) oder sie vor oder nach der Produktionsaufnahme noch Handelsgeschäfte betrieben haben (z.B. bei zahlreichen Frankfurter Maschinenbaubetrieben) 1 2 7 . Sie konnten auf diese Weise den Markt und seine Bedürfnisse sowie die Schwächen der Produkte besser kennenlernen und im Handel erworbenes Kapital f ü r investive Zwecke einsetzen und gleichzeitig ihr Maschinenangebot erweitern. Unbestritten ist auch, daß die Konzentration von Handel und Finanzgewerbe in Frankfurt für die Rohstoff- und Kreditbeschaffung sowie für die Einwerbung kurzfristiger Umlaufkapitalien und die Abwicklung des Zahlungsverkehrs der Industrie beste Voraussetzungen geboten haben. Dies gilt auch für die Fremdfinanzierung langfristiger industrieller Investitionen wie auch mancher Industriezweig, wie z.B. die Elektrotechnik, sich von Anfang an der besonderen Förderung von Frankfurter Bankfirmen, Privaten und der Handelskammer erfi-eiite12'. Wie in vielem stellt das in unmittelbarer Nachbarschaft zu Frankfurt gelegene Offenbach a m M a i n wegen der unterschiedlichen historiHandelsgeschäfte haben ursprünglich oder zeitweise betrieben u.a. z.B. die Maschinen- und Armaturenfabrik vorm. Κ Breuer & Co. in Hoechst, Samuel Moser in der Fabrik landwirtschaftlicher und gewerblicher Maschinen Ph. Mayfarth & Co., der Nähmaschinenfabrikant Joseph Wertheim, die Schuhmaschinenfabrik Moenus AG, insbesondere in ihren früheren Stadien, Heinrich Kleyer in den späteren Adlerwerken, die Maschinen- und Armaturenfabrik Alfred Teves (ATE) oder die in den Tabellen nicht erfaßten Inhaber der Mühlenbaufirma Simon, Bühler & Baumann und die Dampfkesselfirma von Simonis & Lanz. Generell zur Verbindung von Maschinenhandel und Maschinenproduktion Voigt, Maschinenindustrie, S. 5. Zu Breuer: Histor.-biograph. Blätter, Reg.-Bez. Wiesbaden, Maschinen- und Armaturenfabrik vorm. H. Breuer & Co., Denkschrift der Maschinen- und Armaturenfabrik vorm. H. Breuer & Co., Höchst/M. o.J. [1921]. Zu Mayfarth, Wertheim und Kleyer: Siehe unten Anm. 170 und oben Anm. 16 und 54. Zu Moenus: Voigt, Maschinenindustrie, S. 5 und 16; Günther Gall, Eugen A. Haberstroh, 100 Jahre Maschinenfabrik Moenus AG 1863-1963, Frankfurt/M. 1963, S. 53ff. Zu Alfred Teves: Dreißig Jahre Werksgeschichte der Firma Alfred Teves GmbH, Frankfurt/M. 1906-1936, S. 17ff. Zu Simon, Bühler & Baumann: Bau automatisierter Walzenmühlen, in: Histor.biograph. Blätter, Reg.-Bez.: Wiesbaden. Zu Simonis & Lanz: Voigt, Maschinenindustrie, S. 5. 121 Wolf-Amo Kropat, Frankfurt. Zwischen Provinzialismus und Nationalismus. Die Eingliederung der Freien Stadt in den preußischen Staat (1866-1871) (Studien zur Frankfurter Geschichte, H. 4), Frankfurt/M. 1971, S. 100, 102f., 105, 111 und 191. 127

182

Franz Fisdier

sehen Entwicklungsbedingungen und der Struktur seiner Industrie auch in der regionalen Herkunft seiner Firmengründer das Kontrastbeispiel zu seiner Nachbarstadt dar. Von immerhin 40 erfaßten Firmengründem dieser hessen-darmstädtischen Landes-Fabrikstadt mit seiner auf die Isenburger Grafen bzw. Fürsten zurückgehenden freiheitlichen Gewerbeverfassung waren überdurchschnittlich viele aus Offenbach (45,0% oder 18 Personal) und dem übrigen Rhein-MainGebiet (25,0% oder zehn Personen) gebürtig. Dagegen sind die Zuwanderer aus dai Nachbarregionai des Rhein-Main-Gebietes (10,0% oder vier Personal) und die Femzuwanderer (20,0% oder acht Personen) untervertreten. Die Zahl der Femzuwanderer unter den erfaßten Offenbacher Unternehmern erklärt sich überdies zum Teil daraus, daß diese an sich ihre Fabrikbetriebe in Frankfurt gründai wollten, sie aber wegen der restriktivai Gewerbeverfassung und Antipathie gegen Fabrikanlagai in Frankfurt, zum Teil auch wegen der hohen Löhne und der schwierigai Ausdehnungsmöglichkeiten oder auch wegen des Fehlais von geeignetem Betriebsgelände im an sich angestrebtai Frankfurt veranlaßt wurden, sich mit ihrer Firma in Offenbach anzusiedeln (z.B. Seifen- und Parfümeriefabrik Carl Naumann, Ernst Seil, Anton Collet und Otto Engelhard, Ludwig Eduard Faber und Adolf Schleicher, Gerhard und Felix Becker)129. Hauptursache der geringeren territorialen Mobilität der Offenbacher Firmaigründer ist aber die Struktur und Arbeitsoriaitierung der Hauptbranchai der Offenbacher Industrie gewesen. Sie hat, wie z.B. in der Lederwarai- und Gürtlerwarenindustrie, die Ausbildung qualifizierter, aber lokal konzentrierter Arbeitskräfte zur Folge gehabt, von denen sich immer wieder welche in richtiger Einschätzung der fortschreitendai Produktionsstufaiteilung (z.B. als Zulieferer) selbständig machten. In ihrer größeren sozialen Mobilität, der dazu sich konträr verhaltendai geringeren horizontalai Mobilität, in der Größaistruktur ihrer häufiger Klein- und Mittelbetriebe bleibaiden Unternehmen, 129 Jean Naumann, Die technische Entwicklung der Seifen-Industrie in Ofifenbach/M., Frankfurt/M. 1879, S. 15; Geschichte Handelskammer Frankfurt, S. 1278; Müller, Entwicklung, S. 77 f.; Hermann Schmidt, Die Entstehung der chemischen Industrie im Maintal und seiner Umgebung. Maschr. wirtschafts- und sozialwiss. Diss., Frankfurt/M. 1919, S. 46; Mahr, Collet & Engelhard, S. 8; Ludwig Kern, Faber & Schleicher, in: Offenbacher Monatsrundschau H. 9 (Sept. 1940), S. 30; Wilhelm H Lange, 75 Jahre Faber & Schleicher AG 1871-1946, Frankfurt/M. 1946, S. 7; Karl Kanka, Von einer Offenbacher Lederfabrik, in: Offenbacher Monatsrundschau H. 9 (Sept. 1940), S. 19; Den Freunden gewidmet von Lederwerke Becker & Co., Offenbach-Bürgel, o.O. o. J. [1923], S. 5.

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aber auch in ihrer sozialen Gesamterscheinung bilden damit die Offenbacher Unternehmer eine höchst eigenständige Facette und dokumentieren, daß Offenbach eben mehr war als nur eine „Industrievorstadt" von Frankfurt130. Die Entwicklung der ehemaligen kurfürstlichen Bischofs- und Residenzstadt Mainz ist im 19. Jahrhundert, in einer Zeit als andere Städte im Zuge der Verstädterung und Industrialisierung rapid wuchsen, entscheidend durch ihre, die städtische Ausdehnung empfindlich hemmende Bundesfestungs- und Reichsfestungsfunktion beeinträchtigt worden. Dazu kam die politische Unterstellung nach 1815 unter die geschichtsärmere Residenzstadt Darmstadt, die tatsächliche oder vermeintliche Vernachlässigung der Mainzer wirtschaftlichen Belange durch die hessische Staatsverwaltung und der Verlust des alten Einzugsgebiets des Rheingaus - auch dank der subtilen preußischen Eisenbahnpolitik, die Wiesbaden zum Umsteigebahnhof der Bahnlinie vom Rheingau nach Mainz machte. Mainz blieb dadurch stärker als vergleichbare Städte eine von einem leistungsfähigen Handel (u.a. Wein-, Landes- und Kolonialproduktenhandel), Gewerbe (z.B. Schifffahrt und Speditionsgewerbe) und einem zum Teil industrialisierten Handwerk (z.B. Möbelherstellung. Ledererzeugung, Schuhfabrikation) bestimmte Stadt131. Wenn nun von den zwanzig erfaßten Mainzer Firmengründern je die Hälfte aus Mainz und dem übrigen Rhein-Main-Gebiet stammte und die andere Hälfte Zuwanderer aus den an das Rhein-Main-Gebiet angrenzenden Landschaften und dem restlichen In- und Ausland warm, so ist zur besseren Erkenntnis zwischen Mainz und den späteren eingemeindeten Rheinufer-Vororten zu unterscheiden. 130

Krenzlin, Werden, S. 336. Über Mainz und Frankfurt im Vergleich: Hermann Aubin, Mainz und Frankfurt. Vergleich zweier Städteschicksale, in: Histor. Vierteljahrsschrift 25 (1931), S. 529fF.; Rosemarie Pott, Die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt Mainz unter dem Großherzogtum Hessen 1815-1914, phil. Diss. Mainz 1966, Mainz 1968, S. 29ff., 94; Paul Meesmann, Die Handelskammer zu Mainz 1798-1898, Mainz 1898, S. 25ff.; Kurt Glück, Rheinhessens Wirtschaftsraum in seinem Werden nach 150 Jahren. Zum 150jährigen Bestehen der Industrie- und Handelskammer Mainz 1948, Mainz 1948, S. 7ff; Paul Georg Custodie, Mainz im Wandel 1850-1900, Saarbrücken 1982, S. 9ffi; Dieter Gessner, Industrialisiertes Handwerk in der Frühindustrialisierung. Ein Beitrag zu den Anfangen der Industrie am Mittelrhein und Untermain 1790 bis 1865, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 117 (1981), S. 255ff ; Richard Hirsch, Die Möbelschreinerei in Mainz, in: Schriften des Vereins fur Socialpolitik 64 (1893) (Untersuchungen über die Lage des Handwerks in Deutschland T. 1), S. 293ffi 131

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Franz Fisdier

Die einmalige Verkehrsgunst am Zusammenfluß von Rhein und Main und die Standortvorteile dieser Rheinufervororte, verbunden mit dem Vorkommen von für die Zementherstellung geeigneten Kalkmergeln, haben auf von auswärts stammende Unternehmer schon gleich nach der Jahrhundertmitte eine erhebliche Anziehungskraft ausgeübt (z.B. Chem. Werke vorm. H. & E. Albert, Portland-Zementfabrik DyckerhofF & Söhne, Verein für Chemische Industrie - Gebr. Dietze, Eisengießerei, Eisenbau- und Maschinenfabrik Julius Römheld, Reederei und Zellstoffabrik Hubert Anton Disch)132. Die mangelnden Ausdehnungsmöglichkeiten in der Stadt Mainz veranlaßten zudem in der Folge eine Reihe Stadt-Mainzer Firmen mit der Ausweitung des Geschäfts in die Vororte abzuwandern (z.B. die Waggonfabrik Gebr. Gastell, die Maschinenfabrik und Kesselschmiede Joh. Schmahl, die Rheinische Maschinen- und ApparatebauAnstalt Peter Dinckels Söhne oder die Lackfabrik Ludwig Marx)133. Die Sektkellerei Henkell wich 1909 überhaupt nach WiesbadenBiebrich aus134. Die einzelnen Fabrikationszweige der Stadt Mainz selbst sind nun „vorwiegend aus aitai Handwerksbetrieben hervorgegangen"135; der Anteil der ortsgebürtigen Unternehmer dürfte daher bei ihnen höher liegen. Da sich allerdings auch für eine Reihe, nicht in die Tabellen einbegriffener Stadt-Mainzer Metallwaren-, Apparatebau132

Hoffinann, Gebundenheit, S. 29ff. Zu Albert: Siehe oben Anm. 10. Zu DyckerhofF: Siehe oben Anm. 107. Zu Dietze: Siehe oben Anm. 20 und Verein für Chem. Industrie AG, in: Histor.biographische Blätter, Reg.Bez. Wiesbaden. Zu Römheld: Siehe oben Anm. 23 und Jürgen Schwab, Eine eiserne Tradition 1859-1959, hg. anläßlich des hundertjährigen Bestehens der Firma Julius Römheld Eisengießerei, Maschinen- und Stahlbau Mainz, Darmstadt 1959, S. 5ff.; Julius Römheld, Eisengießerei, Eisenbau und Maschinenfabrik, in: Histor.-biograph. Blätter, Großherzogtum Hessen. Zu Disch: Franz Lerner, Hubert Anton Disch, in: NDB 3 (1957), S. 743; Johann Jung, Hubert Anton Disch, in: Hessische Biographien 2 (1927), 207f. 133 Zu Gastell: Siehe oben Anm. 5. Zu Schmahl: 75 Jahre Joh. Schmahl, Maschinenfabrik und Kesselschmiede MainzMombach 1876-1951, Mainz 1951. Zu Dinckels: Rheinische Maschinen- und Apparatebau-Anstalt Peter Dinckels & Sohn GmbH, in: Histor.-biogr. Blätter, Großherzogtum Hessen. Zu Marx: Ludwig Marx Lackfabriken, in: Histor.-biogr. Blätter, Großherzogtum Hessen. 134 Henkell & Co., Sektkellerei, Biebrich, in: Histor.-biogr. Blätter, Reg.Bez. Wiesbaden.; 150 Jahre Henkel & Co. 1832-1982, Wiesbaden 1982. 135 Pott, Entwicklung, S. 50.

Wirtschaftsbürgejtum des Rhein-Main-Gebiets

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und Maschinenbaufabrikanten eine Nicht-Mainzer Herkunft nachweisen läßt136, ist es fraglich, ob eine Verbreiterung der Basiszahlen das ungünstige Verhältnis der aus Mainz gebürtigen Unternehmer gegenüber den Zuwanderern erheblich verändern würde. Möglicherweise haben die eingesessenen Mainzer Familial statt in der industriellen Betätigung ihr Auskommen audi bevorzugt in dai hergebrachten Handels- und Gewerbezweigen gefunden, wie auch aus der Mainzer Bevölkerung verhältnismäßig wenig Arbeiter kamen, da die Erwerbstätigen es vorzogen, nicht in einer Fabrik, sondern in einem Handwerksbetrieb, Geschäft, Kontor oder dergleichen zu arbeiten137. Nach der Herkunftsverteilung der in dai Tabellai einbegriffenen Darmstädter Firmaigründer dominierai unter ihnen die ortsgebürtigen oder aus Nachbarorten des unmittelbaren Einzugsbereichs wie Pfungstadt oder Ober-Ramstadt stammaiden Unternehmer mit neun von 12 Firmengründem bei weitem13'. 134

Aus Pegau stammte z.B. der Metallwarenfabrikant Louis Busch (1811-1888), siehe oben Anm. 86; aus Venlo gebürtig war Peter Dinckels (1838-1923), 1869 Gründer der Rheinischen Maschinen- und Apparatebau-Anstalt, in: Histor.-biogr. Blätter, Großherzogtum Hessen; Standesamt Mainz, Familienregister & Nr. 14919 und 28808. Der Galanteriestoflwarenfabrikant Balthasar Karl Hanss (1807-1880) stammte aus Frankenthal. Standesamt Mainz, Familienregister 5974 und 17331; Metallwarenfabrik Wilhelm Hanss Mainz/Rhein 1847-1922, Mainz 1922. Der Fabrikant von Kellerei-Maschinen, Pumpen und Gießerei Peter Hilge (1832-1891) stammte aus Welterode. Standesamt Mainz, Familienregister Nr. 14216 und 29197; Philipp Hilge, Mainz. Gießerei, Pumpen, Kellerei-MaschinenFabrik 1862-1937, Erinnerungsblätter anläßlich des 75jährigen Bestehens der Firma, Mainz 1937; Philipp Hilge, Mainz. Gießerei-Pumpen-Armaturen-Fabrik 1862-1912, Mainz 1912. Aus Mannheim gebürtig war Martin Oberdhan (1860-1942), 1889 Mitgründer der Fabrik von Beleuchtungsgegenständen Oberdhan & Beck. Standesamt Mainz, Familienregister Nr. 13149; Oberdhan & Beck, Fabrik von Beleuchtungsgegenständen, in: Histor.-biogr. Blätter, Großherzogtum Hessen. 137 Pott, Entwicklung, S. 60. 138 Zum Beispiel Theodor Beck (1839-1917): Carl Graf von Klinkowstroem, Theodor Beck, in: NDB 1 (1953), S. 699f.; Voigt, Maschinenindustrie, S. 9; Arthur Uecker, Die Industrialisierung Darmstadts im 19. Jahrhundert, Darmstadt 1928, S. 90f. und oben Anm. 18; Georg Dönges (1843-1924), siehe oben Anm. 50; Johann Peter Gandenberger (1804-1869) und Johann Georg Goebel (1830-1900), siehe oben Anm. 41 und 42; Johann August Jacobi (1811-1891), siehe oben Anm. 60; Wilhelm Kleyer (1822-1879): Stadtarchiv Darmstadt, Einwohnermelderegister Wilhelm Kleyer, und oben Anm. 54; Heinrich Emanuel Merck (1794-1855), siehe oben Anm. 29;

186

Franz Fisdier

Die begrenzte

Anziehungskraft

Darmstadts

auf von

auswärts

stammende Gründer, besonders Fernzuwanderer, ist verständlich. Die Stadt war in erster Linie Residenz- und Beamtenstadt und ihr Gewerbe und Handel blieben im 19. Jahrhundert noch lange unentwickelt, beziehungsweise von der Befriedigung der Bedürfhisse der Einwohner, des Hofes und der Garnison in der Stadt bestimmt. Ihre Wirtschaftsmöglichkeiten

werden

im

Unterschied

zu

dai

übrigen

rhein-

mairusehen Großstädten, mit denen sie die Rohstoffeme gemeinsam hat, durch ihre Flußferne bestimmt 139 . Bei einer Heranziehung weiterer Darmstädter

Unternehmer

scheint

sich

einerseits

die

erhebliche

Selbstergänzung der Firmengründer dieser Stadt aus der eigenen Bevölkerung zu bestätigen 140 . Andererseits hat aber Darmstadt in den letzten Dezennien vor 1 9 1 4 offensichtlich an Anziehungskraft für zuwandernde Gründer, besonders auch für Fernzuwanderer gewonnen. W a r schon der Gründer der Dampfkesselfabrik Arthur Rodberg ( 1 8 6 8 gegr.) aus Belgien gebürtig 141 , so lassai z.B. die Geburtsorte der Gründer

und Teilhaber

der

1902

errichteten

Motorenfabrik

Darmstadt (MODAG) 1 4 2 , des Inhabers der Hessenwerke ElektrotechGeorg Philipp Roeder (1842-1912) und Ludwig Roeder (1846-1914): Stadtarchiv Darmstadt, Einwohnermelderegister Roeder; Denkschrift zum 50jährigen Geschäftsjubiläum der Firma Erste Darmstädter Herdfabrik und Eisengießerei Gebr. Roeder, Darmstadt 1916, S. 3ff.; Herdfabrik und Eisengießerei Gebr. Roeder, in: Histor.-biogr. Blätter, Großherzogtum Hessen. 139 Uecker, Industrialisierung, S. 23ff, 38ff, 78ff.; Werner Zimmer, Darmstadt. Grenzen und Möglichkeiten einer Stadt (Rhein-mainische Forschungen H 41), Frankfurt/M. 1954, S. 18f.; Eckhart G. Franz, Vom Biedermeier in die Katastrophe des Feuersturms, in: Darmstadts Geschichte. Fürstenresidenz und Bürgerstadt im Wandel der Jahrhunderte. Von Friedrich Battenberg u.a., Darmstadt 1980, S. 361, 376. 140 So waren ebenfalls gebürtige Darmstädter z.B. der Maschinenfabrikant Heinrich Blumenthal (1824-1901) und die Möbelfabrikanten Ludwig Alter (18471908), Jakob Glückert (1815-1881) und Joseph Trier (1816-1865). Der Maschinenbauer Gustav Goeckel (1849-1928) stammte aus Darmstadt-Bessungen. Alle Nachweise im Stadtarchiv Darmstadt, Einwohnermelderegister unter diesen Namen. Zu Trier siehe: Juden als Darmstädter Bürger. Hg. von Eckhart G. Franz, Darmstadt 1984, S. 368ff. 141 Stadtarchiv Darmstadt, Einwohnermelderegister Theodor und Arthur Rodberg.; Dampfkesselfabrik vorm. Arthur Rodberg AG Darmstadt, in: Histor.-biogr. Blätter, Großherzogtum Hessen. 142 In der 1902 errichteten MODAG kamen Johann Gräb (1867-1929) aus Birstein/Oberhessen, August Koch (geb. 1867) aus EppendorfTKrs. Gelsenkirchen, Oskar Findeisen (geb. 1876) aus Bremen und Friedrich May (1875-1939) aus Groß-Zimmem: Stadtarchiv Darmstadt, Einwohnermelderegister unter diesen

Wiitsdiañsbürgertum des Rhein-Main-Gebiets

187

nische und Maschinenfabrik143, sowie des Chemiefabrikanten Otto Röhm (1876-1936)144 auf eine weiträumigere r i o n a l e Herkunft der Darmstädter Firmengründer unmittelbar vor 1914 schließen. Die Entwicklung zur Kur- und bevorzugten Rentnerwohnstadt macht Wiesbaden zum bemerkenswerten Sonderfall einer Stadt, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ohne Industrialisierung zur Großstadt wurde145. Insofern verwundert es nicht, daß von dai ohnehin nur sieben erfaßten Wiesbadener Firmengründern sechs von außerhalb stammten146 und diese bevorzugt ihre Unternehmungen in den erst später eingemeindeten Rheinufervororten gründeten. Von ihrer geringen Ortsgebürtigkeit her, ihrer meist vorhandenen Oberschichtsabkunft, ihrem Ausbildungsniveau und ihrer häufigen Hinwendung zu kapital- und bildungsintensiven Industriezweigen wie der rationalen Standortwahl und Größenstruktur ihrer Betriebe bilden diese Unternehmer der Industriezone der Rheinufervororte von Mainz und Wiesbaden am Zusammenfluß von Rhein und Main eine Einheit, die man am besten unter dem Begriff „Mainmündungs Unternehmer" zusammenfassen könnte. Wie schon bei Mainz ausgeführt, heben sie sich in ihrem Erscheinungsbild und der Sozialstruktur erkennbar von den Unternehmern derjenigen Städte ab, in welche diese Rheinufervororte später eingemeindet wurden. Eine zahlenmäßig kleine, wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch aber höchst erfolgreiche und eigenständige Gruppe stellen die erfaßten Wormser Untemehmerfamilien dar. Diese Familial (Heyl, Martenstein, Schoen, Valckenberg, Doerr und Reinhart) haben - beNamen; MODAG Motorenfabrik Darmstadt GmbH. 50 Jahre MODAG 1902-1952, Düsseldorf 1952, S. 4ff. 143 Kurt Hesse (1868-1931) war aus Fronhausen bei Marburg gebürtig: Stadtarchiv Darmstadt, Einwohnermelderegister Kurt Hesse. 144 Auskunft der Firma Röhm & Haas, Darmstadt; Chronik der Firma Röhm & Haas Darmstadt, maschr. Manuskript in Firma Röhm & Haas, o.J., bes. S. 20Iff.; Kasimir Edschmid, In memoriam Dr. Otto Röhm. Zum 50jährigen Bestdien der chemischen Fabrik Röhm & Haas, Darmstadt 1957, S. 5ff. 143 Kren zl in, Werden, S. 342f.; Herbert Müller-Werth, Geschichte und Kommunalpolitik der Stadt Wiesbaden unter besonderer Berücksichtigung der letzten 150 Jahre, Wiesbaden 1963, S. 82ff. 146 Zum Beispiel Ludwig Beck (1841-1918), siehe oben Anm. 18; Jakob Friedrich Kalle (1837-1935) und Paul Wilhelm Kalle (1838-1919), siehe oben Anm. 14; Eugen Dyckerhoff (1844-1924), siehe oben Anm. 107; Carl v. Linde (1842-1934), siehe oben Anm. 34; Johann Jakob Söhnlein (1817-1912), siehe oben Anm. 105.

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sonders auf der Basis weniger der Textilindustrie als vielmehr der Lederindustrie, die vor dem Ersten Weltkrieg die bedeutendste der Welt war147 - in hohem Maße die wirtschaftliche Erneuerung der Stadt aus beinahe dörflicher Rückentwicldung seit Beginn des 19. Jahrhunderts initiiert und vorangetrieben. Angesichts des überragenden wirtschaftlichen Gewichts der von diesai Unternehmern gegründeten Firmen, dem mäzenatischen Kunstsammei- und Stiftungseifer einzelner, dem öffentlichen und politischen Einsatz wie dem grandseigneuralen, zum Teil durch Erwerb umfangreichen Grundbesitzes abgesicherten Lebensstil, der bei den Heyl zu Herrnsheim und den ihnen verwandten Schoen durch Nobilitierung überglänzt war148, läßt sich bei Worms sagai, daß hier wie vielleicht bei keiner anderen Stadt die Industrialisierung das Werk eingesessener oder durch Einheirat mit Worms engstens verbundener Unternehmer war. Diese „Bodenständigkeit" gilt, „wenn man von den Neugründungen der letzten Jahre vor dem Kriege absieht", für weitere Wormser Unternehmer149. Das Wirtschaftsleben des dank einer wirtschaftsliberalen und toleranten Politik der Hanauer Grafen früh gewerbereichen Hanau weist im 19. Jahrhundert insofern eine interessante Variante unter dai untersuchten Städtai auf, als es trotz erheblicher Traditionsbrüche und Neuanfange - besonders am Beginn des vorigai Jahrhunderts - am stärkstai in der Kontinuität einer vorindustriellen handwerldich147 Otto Eberhardt, Die industrielle Entwicklung der Stadt Worms. Maschr. phil. Diss. Heidelberg 1922, S. 15ff., über die Lederindustrie, S. 54ff. 148 Günther Kriegbaum, Die parlamentarische Tätigkeit des Freiherrn C.W. Heyl zu Herrnsheim (Mainzer Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte Bd. 9), Miesenheim/Glan 1962; siehe oboi Anm. 70; Gothaisches Genealogisches Taschenbuch der briefadeligen Hauser 4 (1910), S. 703f.; über einzelne dieser Wormser Persönlichkeiten Carl J.H. Villinger, Wormser Profile, Worms 1966, S. 17ff, 32ff, 56ff; Hans Kühn, Politischer, wirtschaftlicher und sozialer Wandel in Worms 1798-1866 unter besonderer Berücksichtigung der Veränderungen in der Bestellung, den Funktionen und der Zusammensetzung der Gemeindevertretung (Der Wormsgau Beih. 26), Worms, 1975, S. 59ff 149 Eberhardt, Entwicklung, S. 159; aus Worms stammte auch noch Ludwig Melas (geb. 1810), 1859 Gründer einer Lederfabrik: Stadtarchiv Worms, Personenstandsverzeichnis, Heiraten 16. Juli 1840. Dagegen war der Filter- und Abfullapparatefabrikant Lorenz Adalbert Enzinger (1849-1897) aus Wasserburg am Inn gebürtig, siehe oben Anm. 118; gebürtiger Wormser war auch Markus Edinger (1819-1879), auf dessen Firma Edinger Söhne die Einfuhrung der Herrenkonfektionsindustrie 1847 in Worms und Süddeutschland zurückgehen soll, Kühn, Wandel, S. 256 und S. 194f.; Geschichte Handelskammer Frankfurt S. 1308; NDB 4 (1959), S. 313; Eberhardt, Entwicklung, S. 29f.; Arnsberg, Gemeinden 2. Bd., S. 430.

Wiitsdiaftsbürgertum des Rhein-Main-Gebiets

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manufaktureilen Fertigung und einer klein- und mittelbetrieblichen Betriebsgrößenstruktur verblieb. Der Hanauer Unternehmerschaft fehlen zwar auch im 19. Jahrhundert nicht die Zuwanderer, so in der an sich älteren, aber um 1825 durch Bremer, Hamburger und Amsterdamer Zuwanderer gleichsam neubegründeten Tabakindustrie150. Ebenso lassen sich in der Hanauer Schmuck- und Edelmetallwarenindustrie Zuwanderer, besonders aus Städten mit ähnlichen Gewerbeschwerpunkten (z.B. Augsburg - Silberwaren, Idar-Oberstein - Diamantschleifereien) feststellen"1. Das deutliche Übergewicht der Ortsgebürtigkeit und die geringe territoriale Mobilität der Firmengründer, wie diese bei allerdings nur sechs erfaßten Hanauer Unternehmern erkennbar wird, dürfte aber dodi üblich gewesen sein für die Mehrheit der Unternehmerschaft einer Stadt mit ausgeprägt lokal begrenzten Spezialindustrien und einem entsprechenden Facharbeiterstamm (Tabak-, Schmuck-, Edelmetallverarbeitung, auslaufende Textilindustrien wie Seiden-, Wollwaren- und Teppichfabriken), wobei sich um die Stammindustrien eine Reihe aufeinander bezogener Zulieferer-, Neben- und Hilfsindustrien entwickelte (z.B. Zigarrenkisten- und Wickelformenfabriken, lithographische Anstalten)152. Die zunächst ebenfalls im Zusammenhang mit der Edelmetall150

Harm-Hinrich Brandt, Wirtschaft und Wirtschaftspolitik im Raum Hanau 15971962. Die Geschichte der Industrie- und Handelskammer Hanau-GelnhausenSchlüchtem und ihrer Vorläufer, Hanau 1963, S. 59-72, insbes. S. 65 und S. 123132. 151 Die Silberwarenfabrik J.D. Schleißner in Hanau wurde z.B. von Johann Daniel Schleißner aus Augsburg gegründet, siehe: Karl Siebert, Hanauer Biographien aus drei Jahrhunderten, August Schleißner, in: Hanauer Geschichtsblätter, Neue Folge 3/4 (1919), S. 176-178; Dieter Gessner, Wachstumszyklen und staatliche Gewerbepolitik im Zeitalter der Frühindustrialisierung. Konjunkturelle und strukturelle Probleme des Bijouteriegewerbes an Untermain und Mittelrhein 1790-1865. Eine Fallstudie, in: Scripta Mercaturae 15/H. 1 (1981), S. 39, 43; Friedrich Houy, der Begründer der Hanauer Diamantschleiferei stammte aus Idar-Oberstein, siehe: Siebert, Hanauer Biographien, S. 86f.; Die Bijouteriefabrikanten Küstner in Hanau stammten ursprünglich aus Kassel: DGB 121 (1956), S. 385f. 152 Lorenz Caspari, Die Entwicklung des Hanauer Edelmetallgewerbes von seiner Entstehung im Jahre 1597 bis zum Jahre 1873, jur. und staatswiss. Diss. Freiburg/Brsg., Elberfeld 1916, S. 130ff.; Ernst Thieme, Der wirtschaftliche Aufbau der Hanauer Edelmetallindustrie (Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft ErgH. 53), Tübingen 1920, S.12ff., 65, 117f., weist daraufhin, daß 1901 80,5 % der Arbeiter in der Hanauer Edelmetallindustrie in Hanau und 19,5 % in den umliegenden Dörfern wohnten; Dieter Gessner, Lokalisation, Struktur und Entwicklung der Textilindustrie an Mittelrhein und Untermain von 1780 bis 1861/65. Eine quantifizierend-qualifizierende Regionaluntersuchung, in: Nassauische Annalen 93 (1982), S. 35-60; über die Zigarrenkisten- und Zigarrenwickelformenfabrik sowie

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wareiiindustrie entstandenen und von ortsgebürtigen Unternehmern gegründeten Platinschmelzen Heraeus133 und Siebert (heute DEGUSSA)134 trugen aber dann nach dem Geschmackswandel und Wegfall der vermögenden Käuferschichten nach dem Ersten Weltkrieg im Verein mit anderen, teilweise älteren Industriezweigen (z.B. Eisengießereien, Maschinen- und Apparatebau, Reifenherstellung Dunlop 1892) zur Umorientierung und Umstrukturierung der Hanauer Wirtschaft bei155. Für die einzelnen kleineren Städte und Gemeinden des Rhein-MainGebiets werden die Zahlen der erfaßten Unternehmer zu klein, um für diese allgemeine Aussagen zur Unternehmerherkunft machen zu können. Im einzelnen haben aber audi hier die unterschiedlichen Traditionen und Entwicklungsbedingungen, die jeweiligen Wirtschaftsfunktionen und -strukturen, aber auch das verschiedene Ausmaß der Beteiligung der vorhandenen wirtschaftsaktiven Bevölkerung an Industriegründungen zu einem unterschiedlichen Erscheinungsbild des Unternehmertums und der Unternehmerherkunft gefuhrt. So wurde für die Fabrikanten der Stadt Bensheim a.d. Bergstraße für das 19. Jahrhundert einschließlich des ersten Viertels des 20. Jahrhunderts festgestellt, daß „von den besprochenen Unternehmern mit 33 Gründern oder Nachkommen... 26, gleich 80 Prozent, Fremde" waren156. Es ist dies eine bemerkenswert hohe Quote der Zuwanderung für eine Stadt mit einer doch nur begrenzten wirtschaftlichen Ausstrahlungskraft. In Oberursel waren ebenfalls bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Fabrikbesitzer „in der Hauptsache Zugezogene, z.T. Frankfürter". Erst mit der steigenden industriellen Erfahrung haben sich dann in einer zweiten Phase der Oberurseier Industriegründungen häufiger gebürtige Oberurseier an Industriegründungen beteiligt157.

die lithographische Anstalt Brüning, siehe: Siebert, Hanauer Biographien, S. 1921. 1 5 3 Siehe oben Anm. 30. 134 Siehe oben Anm. 12. 135 Brandt, Wirtschaft, S. 131 und 159ff. 136 Aloys Winter, Die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt Bensheim a.d. Bergstraße, wirtschafts- und sozialwiss. Diss. Frankfurt/M., Bensheim 1927, S. 71ff., 80. 137 Josef Kaltenhausen Taunusrandstädte im Frankfurter Raum. Funktion, Struktur und Bild der Städte Bad Homburg, Oberursel, Kronberg und Königstein (Rheinmainische Forschungen 43), Frankfurt/M. 1955, S. 63, 71.

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4. Die Konfessionszugehörigkeit der Firmengründer 4.1. Die Zugehörigkeit der Firmengründer zu dai einzelnen Konfessionen Die relativ leichte Feststellbarkeit der Konfessionsangehörigkeit ermöglicht die Ausweitung der Basiszahl der in die Konfessionsstatistik einbezogenen Unternehmer von 175 auf 250 Personal. Von diesai 250 Industriegründern waren 165 Personen (66,0%) evangelisch, 55 Unternehmer (22,0%) römisch-katholisch, 29 (11,6%) Juden und einer von ihnen war gottgläubig15'. In ihrem zeitlichen Auftreten weisen die einzelnen Konfessionen eine charakteristische Reihenfolge ihres ersten verstärkten Auftretens auf. Am frühesten sind die Protestanten unter den Firmengründern vertreten. Sie stellai von elf Gründern im Zeitraum 1815-1830 zehn. Im zweiten Untersuchungsabschnitt 1831-1850 kamen zu den protestantisdioi Firmoigründern verstärkt die Katholikoi, wobei ein Teil ihrer Gründungoi in diesem Abschnitt bis 1850 vielleicht noch am wenigstoi industrielloi Charakter besaß. Dies gilt allerdings bis zu einem gewissen Grad auch für andere Gründungen dieser frühindustriellen Ära. Immerhin: Sechs der zwölf katholischen Gründer der Zeitspanne 1831-1850 gründeten Sektkellereiai. Nach 1851 beteiligten sich dann die Judoi als Folge der allseitigoi Beseitigung der rechtlichoi Diskriminierung und ihrer Integrierung in die Gesamtwirtschaft verstärkt auch an der Gründung von Industriebetrieben. Wenn auch wegen der Nichtübereinstimmung der Abgrenzung des Untersuchungsgebiets mit dai an politischen Grenzen orientiertai amtlichen Statistikoi nur eine Annäherung der Zahlenwerte möglich ist, scheint der Anteil der Protestanten unter den Firmengründern ihrem konfessionelloi Anteil an der Gesamtbevölkerung des RheinMain-Gebiets zu entsprechen, er dürfte vielleicht sogar etwas darunter liegen. Eindeutig unterrepräsoitiert sind die Katholiken. Dagegen

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Für diese und die folgenden Zahlen siehe bitte Tabelle Anlage 6: Die Konfessionszugehörigkeit von 250 Firmengründem des Rhein-Main-Gebiets 1815-1914 nach Zeitstufen. Für die Zuordnung eines Firmengründers zu einer Konfession war maßgebend dessen ursprüngliches Glaubensbekenntnis, nicht die spätere Religionszugehörigkeit im Falle eines Religionswechsels, sofern der ursprüngliche Glaube ermittelt werden konnte.

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überflügeln die israelitischen Industriegründer bei weitem ihren geringen Bevölkerungsanteil. 4.2. Die Konfessionszugehörigkeit der Firmengründer nach Wirtschaftszweigen In der Verteilung der Konfessionen auf die einzelnen Wirtschaftszweige sind die Protestanten in allen Branchen vertreten. Höchst bemerkenswert ist aber, daß sie in alleai Produktions- und Investitionsgüterindustrien durchwegs einen Anteil erreichen, der über dem Gesamtdurchschnitt der evangelischal Firmengründer liegt und diesen zum Teil sogar erheblich übertrifft139. Es sind dies diejenigen Industriezweige, wie die chemische Industrie, der Maschinen-, Stahl- und Fahrzeugbau, die Metallverarbeitung sowie die elektrotechnische und feinmechanische Industrie, deren frühe und starke Besetzung sowie wirtschaftliche und technische Dynamik dem Aufstieg des rheinmainischen Industriegebiets im deutschen Wirtschaftskörper zugutegekommen ist160. Ihre innovatorischen Fortschritte basierten in erster Linie auf methodisch-experimentell erprobten oder auf theoretischem Wege gewonnenen naturwissenschaftlichen und technischen Erkenntnissen einerseits; andererseits beruhte ihre wirtschaftliche Dynamik auf der konsequenten Anwendung des ökonomischen Rationalismus, der rechenhaften Organisation ihrer Unternehmen, der Verwendung akkumulierten Fremdkapitals zu ihrer Finanzierung und der Produktion in großen Mengen, wenn auch besonders in manchen Zweigen der produktdifferenzierten Maschinen- und Metallwarenindustrie der unternehmerische Erfolg auch aufgrund des fachlichen Geschicks, der Erfahrung und einer gewissen praktischen Experimentier- und Probierfreudigkeit beruhen konnte. Man wird daher für die überdurchschnittliche Hinwendung der Protestanten zu diesai Industriezweigen am ehesten das protestantische Interesse an Erziehung, Bildung, individuellem Erkenntnisdrang und Leistung, an Nützlichkeitsdenken, nüchtern-rationaler Weltbetrachtung und Wissenschaft sowie an methodischer Herrschaftsgewinnung über die Natur verantwortlich ma1,9

Für diese und die folgenden Zahlen siehe bitte Tabelle Anlage 7: Die Konfessionszugehörigkeit von 250 Firmengründem des Rhein-Main-Gebiets 1815-1914 nach Wirtschaftszweigen. 160 Hessen im Wandel der letzten hundert Jahre 1860-1960. Hg. vom Hess. Statistischen Landesamt (Hessenkunde Bd. 3), Wiesbaden 1960, S. 185f.

Wiitscfaaftsbürgotum des Rhein-Main-Gebiets

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chen können, ohne daß hier dai religionsethischen und kultursoziologischen Gründen dieser Erscheinung eigens nachgegangen werden soll161. Die Katholiken sind mit Ausnahmen, wie in der elektrotechnischen und feinmechanischen Industrie, in der sie überhaupt keine Firmengründer stellai, ebenfalls in dai erwähntai Produktions- und Investitionsgüterindustriai mit Anteilen vertreten, welche beim Maschinenbau über, bei der chemischen Industrie unterhalb ihres Anteils an der Gesamtunternehmerschaft liegen. Nur in der Branche der bevorzugt im Umkreis von Weinbaugebietai angesiedelten und mehr kaufmännische als produktionsschöpferische Fähigkeitai verlangaiden Branche der Sektkellereiai und Weinbranderzeugung überflügeln die Katholikai mit 73,7% ihren Gesamtdurchschnitt erheblich. Nachdenklich stimmt auch, daß die Katholikai neben der wegen ihrer geringen Unternehmerzahl nur wenig aussagefahigen Industrie der Steine und Erdai am höchsten noch in der Maschinen- und Metallwaraiindustrie vertretai sind. Es sind dies ja diejenigai Industriezweige, in deren Einzelsparten oft weniger das Wissen als das Können die Wurzel unternehmen sehen Aufstiegs war. Für sie ist auch unabhängig von der Konfession der Firmaigründer ihr sozialer Aufstiegscharakter festgestellt worden. Ahnlich den katholischen Firmaigründern sind auch die jüdischen nicht in allen Industriezweigen vertretai. Bemerkenswert ist, daß in allen denjenigen Branchen, in denen die Protestanten überdurchschnittlich repräsentiert sind, bei ihnoi genau das Gegenteil der Fall ist. Dagegen erreichen die Judoi in der Sparte der Leder-, Lederwaren- und Schuhfabrikation einen weit überdurchschnittlidioi Anteil von 35,3% gegenüber 11,6% in der Gesamtunternehmerschaft. Neboi drei Lederindustriellai und einem Portefeuillefabrikanten haben nun acht der zwölf jüdischen Unternehmer dieser Branche Schuhfabriken gegründet. Es ist dies ein Produktionszweig, der im Rhein-MainGebiet offensichtlich in stärkstem Ausmaße von jüdischoi Unternehmern betrieben wurde und der ausgehend von Mainz in dieser Stadt, in Frankfurt sowie in Offenbach zu einem bedeutoiden Industriezweig 161 Alfred Müller-Armack, Religion und Wirtschaft, Stuttgart 1959, S. lOOff.; David McClelland, Die Leistungsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1966, S. 305; Hugo Ott, Die katholische Wirtschaftsethik und ihr Einfluß auf die wirtschaftliche Aktivität der Katholiken am Beginn des industriellen Zeitalters, in: VSWG 56 (1969), S. 289; vgl. auch die Werte und die Begründungen bei Stahl, Elitekreislauf, S. 21Qff, er weist auf den steigenden Anteil der Protestanten bei steigender Untemehmensgröße hin.

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heranwuchs162. Er gehört damit zu jenen Gewerbezweigen wie die Bekleidungskonfektionsindustrie, das Geldgeschäft und Bankwesen sowie bestimmte Formai des Detail- und Großhandels, die im kaiserlichen Deutschland durch einen relativ hohen Anteil jüdischer Unternehmer gekennzeichnet waren163. Ein wesentlicher Faktor des Unternehmererfolgs in der Schuhfabrikation lag nun neben ausreichenden Betriebsmitteln und der maschinellen Einrichtung in der „Fähigkeit Konjunkturen auszunützen"164. Bei der Entstehung zum Beispiel der Offenbacher Schuhindustrie 162

C. Schreiber, Handbuch der mechanischen Schuhfabrikation, Leipzig 2. Aufl. 1904, S. 9ff; Pott, Entwicklung, S. 53 behandelt die Mainzer Schuhindustrie nur kursorisch; Müller, Entwicklung, S. 76f.; Link, Lederindustrie, S. 56ff, bes. S. 61; Beispiele für Schuhfabrikanten: 1880 gründete Isaak, gen. Julius, Speier (18541923) aufgrund seiner amerikanischen Erfahrungen die Hako-Schuhwerke in Frankfurt. Stadtarchiv Frankfurt, Einwohnermeldekartei: Julius Speier; Staatsarchiv Wiesbaden Judenregister 339; Die Westdeutsche Wirtschaft und ihre führenden Männer. Land Hessen Teil 1 und 2, Frankfurt/M. 1952 und 1956, hier Teil 2, S. 134; Arnsberg, Gemeinden 1, S. 344. Eine Spezialfabrik für Damen- und Babyschuhe errichteten 1900 in Frankfurt die Brüder Alfred (geb. 1869), Richard (geb. 1873) und Wilhelm (geb. 1875) Nathan, die nachmals als Ada-Ada Schuh AG firmierte. Stadtarchiv Frankfurt, Einwohnermeldekartei Hermann Nathan; Stadtarchiv Frankfurt S. 3/R 1049 Bericht von Frau Willy Nathan über die Ada-Ada Schuh AG; Wirtschaft, Hessen 1, S. 205ff. Eine Gründung von Emil Liebmann ist die 1901 aufgerichtete Schuhfabrik Hassia in Offenbach; Wirtschaft, Hessen 1, S. 209ff ; Arnsberg, Gemeinden 2, S. 169. Die Frankfurter Schuhfabrik J. & C. A. Schneider (ICAS) ging drei Jahre nach ihrer Gründung 1908, 1911, in den Besitz der beiden Brüder Lothar (geb. 1887) und Fritz (geb. 1888) Adler über. Stadtarchiv Frankfurt, Einwohnermeldekartei Lothar und Fritz Adler; Wirtschaft, Hessen 1, S. 213f. Offenbacher Schuhfabriken waren neben den bereits 1860 von einem Faktor von Simon Wolf in Mainz, dem Lüneburger Heinrich Behrens (1830-1915) gegründeten Leanderwerken zum Beispiel noch Dreschfeld & Wallerstein, Gebrüder Schönhof und Gebrüder Heilbrunn. Müller, Offenbach, S. 76; Die FrankfurtOffenbacher Lederindustrie, in: Frankfurter Generalanzeiger Nr. 204, 1. Sept. 1927, S. 11; über Heinrich Behrens siehe auch: Heinrich Behrens f in: Offenbacher Zeitung 23.2.1915 und Einwohnermeldeamt Offenbach, Heinrich Behrens. 163 Werner E. Mosse, Jews in the German Economy. The German-Jewish Economic Elite 1820-1935, Oxford 1987, S. 380-405, bes. S. 389-391 und S. 393f.; Werner Sombart, Die Juden und das Wirtschaftsleben, München, Leipzig 1928, S. 132ff; siehe auch Eckhart G. Franz, Fabrikanten, Kaufleute, Bankiers. Die wirtschaftliche Bedeutung der Dannstädter Juden im beginnenden Industriezeitalter, in: Juden als Darmstädter Bürger. Hg. von Eckhart G. Franz, Darmstadt 1984, S. lOOff. 164 Schreiber, Handbuch, S. 3.

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„können die Lederhändler als die treibenden Faktoren angesehen werden", sie haben auch selbst häufig die Produktion aufgenommen165. Die Ursache der Häufung jüdischer Unternehmer in der Schuhfabrikation dürfte daher vordergründig weniger im religiösen Bereich als vielmehr im historischen Gruppenschicksal der Juden begründet liegen mit der ihnen auferlegten traditionellen Verengung ihrer Wirtschaftstätigkeit auf den kommerziell-händlerischen Sektor und der Entwicklung besonderer wirtschaftsorganisatorischer Fähigkeiten. Das amerikanische Vorbild bei der Aufnahme der medianischen Schuhfabrikation durch den Schuhmacher Simon Wolf und den Lederhändler Otto Herz 1854 in Mainz166 oder die Übernahme zuerst vorwiegend französischer, dann wiederum amerikanischer maschineller und gerbereitechnischer Innovationen in der Ledererzeugung (z.B. Übergang von der vegetabilischen zur mineralischen Chromgerbung167) zeigt auch, daß dies - teilweise unabhängig von der Konfession der Firmeninhaber - Branchai waren, die durch den Technologietransfer, neue Produktionsformai und Distributionstechniken zur weltwirtschaftlichen Integration und zur Ausbreitung hochkapitalistischer Wirtschaftsformen beigetragen haben168. Über die Schuhindustrie hinausgehend scheint auch in anderen Industriezweigen für Firmengründer jüdischen Glaubens der Zugang zur Industriegründung häufig vom Handel, verschiedentlich auch die vornehmliche Betätigung im kommerziellen Sektor der Betriebsfiihrung häufiger gewesen zu sein als für Nicht-Juden. Es dürfte sich darin eine sicher nicht ausschließliche, jedoch mehrheitlich anzutreffende Eigenart der Firmengründer jüdischer Konfession abzeichnen169. So betrieben Maschinenhandlungen oder hatten betrieben neben oder vor der Produktionsaufhahme zum Beispiel die Maschinenfabriken Philipp 165

Müller, Offenbach, S. 76f. Über die Firma S. Wolf gibt es eine Denkschrift, die allerdings nicht zu beschaffen war: Denkschrift zum 60jährigen Bestehen der Schuhwarenfabrik S. Wolf, Mainz 1901; Müller, Offenbach, S. 76. 167 Siehe z.B. die Finnenentwicklungen der Lederwerke Cornelius Heyl in Worms, der Lederwerke J. Mayer in Offenbach und der Lederwerke Becker & Co. in Offenbach-Bürgel. Zu Heyl: liiert, Umriß, S. 6, 17, 20ff. Zu Mayer & Sohn: Erinnerungsblätter zur Feier des 50jährigen Bestehens der Lederwerke J. Mayer & Sohn, Offenbach/M. 1857-1907, o.O. o.J. [wohl Offenbach 1907]; J. Mayer & Sohn, in: Histor.-biogr. Blätter, Großherzogtum Hessen. Zu Lederwerken Becker: Siehe oben Anm. 129. 168 Diesen integrativen Aspekt betont besonders Mosse, Jews, S. 399. 169 Vergleiche oben Anm. 163. 166

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Mayfarth in Frankfurt, die der Regsamkeit des Kaufmanns Samuel Moser (1849-1917) ihren Aufschwung verdankt, Heinrich Blumenthal (1824-1901) in Darmstadt oder der Frankfurter Maschinenfabrikant Joseph Wertheim (1834-1899). Die Frankfurter Asbestwerke vorm. Louis Wertheim (1838-1905) gingen aus einem Handelsbetrieb für Asbestprodukte hervor, währaid Julius Pfungst (1834-1899) nach dem Betrieb einer Haarschneidefabrik und dem Handel in Leder, Fellen und Häuten en gros sowie der Sicherung des Absatzmonopols des griechischen Naxos-Schmirgels die Produktion von Schleifmitteln und Schleifmaschinen in der Firma Naxos-Union aufnahm. Für dai ungewöhnlichen Aufstieg des Fuld-Konzerns, der nachmaligen Telefonbau und Normalzeit Lehner & Co. (Telenorma) in Frankfurt wiederum war in erster Linie die kaufmännisch-organisatorische Begabung Harry Fulds (1879-1932) verantwortlich170. Darauf, daß die Ursprünge der verschiedenartigstai Produktionsbetriebe wie der Chemischen Fabrik Cassella in Frankfurt, der renommierten Portefeuillefabrik E. Posen in Offenbach am Main oder der Feist-Belmont'schen Sektkellerei in Frankfurt in einschlägigen Handlungen gelegen hatten, sei in diesem Zusammenhang nochmals hingewiesen171. Wie sdir aber die Zugehörigkeit zu einer kommerziell-elitärai Minorität, wie hier zum 170 Zu Ph. Mayfarth und S. Moser: 50 Jahre Philipp Mayfarth & Co., Fabrik landwirtschaftlicher Maschinen Frankfurt 4. April 1872-1922, Frankfurt 1922, S. 5ff; Geschichte Handelskammer Frankfurt, S. 1259; Stadtarchiv Frankfurt, Einwohnermeldekartei Samuel Moser. Zu Heinrich Blumenthal: Stadtarchiv Darmstadt, Einwohnermelderegister, Vermerk auf dem Halbblatt der Karte Heinrich Blumenthal; Eckhart G. Franz, Heinrich Blumenthal (1824-1901), in: Juden, S. 235-239. Zu Joseph und Louis Wertheim: Siehe oben Anm. 16. Zu Julius Pfungst: Stadtarchiv Frankfurt, Geburtsregister 1834, fol. 624; Stadtarchiv Darmstadt, Einwohnermelderegister Moses Pfungst; Frankfurter Adreßbuch 1870, Eintrag Julius Pfungst; Gesellschaft des ächten Naxos-Schmirgels NaxosUnion, in: Histor.-biogr. Blätter, Reg. Bez. Wiesbaden; Geschichte Handelskammer Frankfurt, S. 1258; Wirtschaft Hessen 1, S. 17Iff; Julius Pfungst f , in: Frankfurter Kleine Presse 2. und 7. 11. 1899. Zu H. Fuld: Franz Lemer, Harry Herz Salomon Fuld, in: NDB 5 (1961), S. 725f.; Leo Parth, Harry Fuld. Eine Lebensskizze, Oldenburg 1933, S. 20ff ; Kurt Möllgaard, 50 Jahre Frankfurter Telefonbau, in: TN-Nachrichten. Hausmitteilungen der Telefonbau und Normalzeit 39 (1949), S. 1680-1709. 171 Zu Cassella: Siehe oben Anm. 13. Zu E. Posen: K. Brockmann, Werdegang der Lederwaren- und Reiseartikelfabrik Eduard Posen & Co. Offenbach a. M. 1811-1923, in: Deutsche Lederwarenindustrie Nr. 22 (1923), S. 3-14; Eduard Posen. Aus Anlaß der 75. Wiederkehr seines Todestages, in: Offenbacher Zeitung 7.12.1928. Zu Feist-Belmont: Siehe oben Anm. 100.

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Judentum, in manchen stark von dieser Minorität besetzten Wirtschaftssparten ein Mittel der Geschäftspolitik und gleichsam „Kapital" sein konnte, ergibt sich aus dai Worten von Liefmann über die internationale Organisation des Frankfurter Metallhandels, nach denen „sich der große Metallhandel ausschließlich, wie vielleicht kein anderer Erwerbszweig, in jüdischen Händen befindet, dergestalt, daß z.B. die beiden größten deutschen Metallhandlungen außer dem Merton-Konzem, die Firma Beer, Sondheimer & Co. in Frankfurt/Main und Aaron Hirsch & Co. in Halberstadt überhaupt keinen nichtjüdischen Teilhaber aufnehmen würden"172. Gleichzeitig hat aber offensichtlich gerade die Lebensführung zumindest eines Teils der jüdischen Unternehmer unter dem Eindruck ethischer Forderungen und eines zum Teil noch ausdrücklich religiös begründeten individuellen Bewährungsglaubens gestanden, die zum Teil anscheinend die wirtschaftliche Aktivität anspornten und denen ein ausgeprägtes Bewußtsein der sittlichen Verantwortlichkeit des Besitzenden gegenüber der Allgemeinheit entsprachen. Dies gilt durch offenkundig zum Verhaltensmuster gewordene herkunfts- und umweltbedingte Einflüsse auch für aus dem Judentum konvertierte Unternehmer173. In dem Zusammenhang ist auch auf die im Verhältnis zum Bevölkerungsanteil ungewöhnlich große Zahl jüdischer Stiftungen insbesondere in Frankfurt, wie auch auf die mit der jüdischen Stiftungstätigkeit wiederholt verbundene Eigentümlichkeit ihrer Zielsetzungen im menschen- und sozialreformerischen Bereich sowie ihrer umfassenderen pädagogisch-philanthropischen und emanzipatorischen Absichten zu verweisen. Sie gehen über die zeitübliche Beschäftigung mit sozialpolitischen Fragen und Unternehmer-Stiftungen für Betriebsangehörige sowie für sonstige soziale, kirchliche, caritative oder kulturelle Zwecke hinaus. Hier wäre unter anderem hinzuweisen auf 172

Liefmann, Organisation, S. 121. Einzelbelege dafür bieten verschiedene Nachrufe und Biographien, z.B. Louis Feist, Was war er uns und was bleibt er uns?, Frankfurt/M. 1914, S. 12f; über einen weiteren Teilhaber der Metallhandelsfirma Beer, Sondheimer & Co.: Isaak Leopold Beer "f, in: Frankfurter Kleine Presse 9. Dez. 1908; Stadtarchiv Frankfurt Firmengschichten S 3/R 2779: Beer, Sondheimer & Co. Zu Ludo Mayer, „Offenbachs größtem Wohltäter": Reinhold Ruhr, Offenbacher Lebensbilder 26. Ludo Mayer, in: Qffenbacher Volkszeitung 23.7.1923 und oben Anm. 167. Zu Leo Ellinger: Siehe oben Anm. 113; über die Stiftungen in Frankfurt insgesamt: Bruno Müller, Stiftungen in Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1958; auf die große Zahl und die religiösen und sozialethischen Wurzeln jüdischer Wohltätigkeit weist hin Arno Lustiger, Einfährung, in: Lustiger (Hg.), Stiftungen, S. 8f. 173

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die „pädagogische Leidenschaft" eines Wilhelm Merton und seinen Einsatz für die Gründung der in Deutschland singulären Erscheinung einer Stiftungsuniversität in Frankfurt, die Umwandlung und Einbringung der Schleifmittel- und Schleifinaschinenfabrik Naxos-Union in die „Dr.-Arthur-Pfiingst-Stiftung" zur Förderung der Volksbildung oder die für Deutschland ebenfalls ungewöhnliche Stiftung einer öffentlichen Bibliothek durch eine Angehörige der Bankiersfamilie Rothschild in Frankfurt174. 4.3. Die Konfessionszugehörigkeit der Firmengründer nach Städten Mit knapp 62% entspricht der Anteil der evangelischen Firmengründer in Frankfurt im wesentlichen dem der Evangelischen an der Gesamtbevölkerung dieser Stadt. Die Katholiken sind mit 16,3% bei den Firmengründern beinahe um die Hälfte unterrepräsentiert, während die Israeliten mit 21,7% bei weitem ihre Quote sowohl an der Gesamtbevölkerung Frankfurts als auch an der der Firmengründer übertreffen175. Soweit jüdische Firmengründer unter dai 250 Unternehmern einbegriffen sind, konzentrieren sie sich daher zu gut zwei Drittel auf Frankfurt, dessen jüdische Gemeinde wiederum erheblich über dem Durchschnitt der umliegenden Städte und des umliegenden Landes lag. Bei Frankfurt wird aber auch bereits eine Erscheinung sichtbar, der in allai Städten mit einer ursprünglich evangelischen Bevölkerungsmehrheit nahezu alle katholischen Firmengründer unterworfen waren: Die Katholiken sind fast durchwegs erst mit dem Firmengründer in 174 Zu den jüdischen Stiftungen in Frankfurt allgemein siehe: Lustiger (Hg.), Stiftungen. Zu Wilhelm Merton: Achinger, Merton, S. 108f., 244f., 286f., 291; Paul Kluke, Die Stiftungsuniversität Frankfurt am Main 1914-1932, Frankfurt am Main 1972, S. 32-35; Siegbert Wölf, Wilhelm Merton, in: Lustiger (Hg.), Stiftungen, S. 555560. Zu Arthur Pfungst: Müller, Stiftungen, S. 152; Lustiger (Hg ), Stiftungen, S. 63ff. Zu Rothschild: Die Rothschild'sehe Bibliothek in Frankfurt am Main. Hg. von der Gesellschaft der Freunde der Stadt- und Universitätsbibliothek in Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1988. 11i Für diese und die folgenden Zahlen siehe bitte Tabelle Anlage 8: Die Konfessionszugehörigkeit von 250 Firmengründern einiger Städte des Rhein-Main-Gebiets 1815-1914; nach Dietrich Andemacht, Eleonore Sperling, Dokumente zur Geschichte der Frankfurter Juden 1953-1945, Frankfurt am Main 1963, S. 179 betrug 1954 der Anteil der Juden in den bedeutendsten Wirtschaftszweigen Frankfurts (also nicht nur in der Industrie) im Durchschnitt 35 Prozent.

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diese Städte zugewandert. Zum Teil gilt dies auch für die Juden, ohne daß es allerdings deren Prozentanteil an der Gesamtunternehmerschaft negativ beeinflußt hat. Einen bedeutenden Uberschuß der protestantischen Firmengründer mit 75,9% gegenüber der Quote der Protestanten an der Gesamtbevölkerung weist Offenbach auf. Die katholischen Firmengründer bleiben mit 14,8% unter der Hälfte ihres Anteils an der Gesamteinwohnerschaft, doch könnte deren Anteil als Folge der Teilverlagerung der Lederwarenindustrie in das gebietsweise mehrheitlich katholische Umland in der Zwischenkriegszeit ansteigen176. Ein Anstieg des Anteils von 7,4% ist auch bei den Juden zu erwarten, für die speziell auf dem Schuh- und Ledersektor nodi Beispiele beigebracht werden könnten. Eine Besonderheit unter den erfaßten Städten des Rhein-MainGebiets stellt in seiner konfessionellen Zusammensetzung Mainz dar. Die alte Bischofsstadt ist die einzige mit einer katholischen Bevölkerungsmehrheit. Dieser katholischen Bevölkerungsmehrheit in Mainz entspricht nach dem vorliegenden Material allerdings keine Mehrheit katholischer Firmengründer. Katholische und evangelische Firmengründer halten sich vielmehr neben den Juden mit je 15 Personen genau die Waage. Der hohe Anteil evangelischer Firmengründer in Mainz geht dabei - wiederum in genauer Umkehrung zu den sonstigen Städten des Rhein-Main-Gebiets - mit einer einzigen Ausnahme auf das Konto zugewanderter Firmengründer. Diese hohe Zuwanderungsquote evangelischer Firmengründer bewirkte, daß selbst in der Stadt, in der nach der Konfessionsstruktur am ehesten ein numerisches Übergewicht katholischer Industrieller zu erwarten gewesen wäre, dies nicht der Fall war. Das gewerbliche, handwerkliche und handeltreibende Wirtschaftsbürgertum der Stadt Mainz selbst ohne die Rheinufervororte dürfte jedoch überwiegend katholisch gewesen sein. Ein klares Übergewicht evangelischer Firmengründer im Verhältnis zu ihrer an sich schon hohen protestantischen Einwohnerzahl ist bei Darmstadt zu konstatieren. Ähnlich hohe Prozentsätze evangelischer Industriegründer weisen Hanau und Wiesbaden auf, wobei diese bei Wiesbaden sogar hundert Prozent erreichen. Es sind dies Städte mit einer evangelischen Bevöl-

176 Klöß, Heimarbeit, S. 14ffi; Ellen Schneider, Die Stadt Offenbach am Main im Frankfurter Raum. Ein Beitrag zum Problem benachbarter Städte (Rheinmainische Forschungen 52), Frankfurt am Main 1962, S. 86ff

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kerungsmehrheit, doch ist bei ihnen wegen der geringen Basiszahl eine Verallgemeinerung kaum statthaft. Diese Vorsicht vor einer Verallgemeinerung gilt in gewissem Sinne audi fur Worms. Die Konfessionstruktur dieser von der Stadtverfassung und Bevölkerungsmehrheit her ehemaligen lutherischen Reichsstadt war bereits am Ende des alten Reiches insofern kompliziert, als sich schon damals ein Drittel der Gesamtbevölkerung zur reformierten, zum katholischen und zum mosaischen Glauben bekannt hat. Dieser Ausgangslage und dem Wandel von Bevölkerungs-, Konfessions- und Sozialstruktur in der französischen und der hessischen Zeit scheint die konfessionelle Spaltung der führenden Wormser IndustrieUnternehmerfamilien im 19. Jahrhundert zu entsprechen. Die (von) Heyl und die (von) Schoen waren wie die Martenstein protestantisch, teilweise ursprünglich reformiert, die Valckenberg, Doerr und Reinhart waren genauso wie der Filter- und Abfüllapparatefabrikant Lorenz Adalbert Enzinger (1849-1897) katholisch. Dazu kamen entsprechend der relativ großen Wormser jüdischen Gemeinde noch israelitische Unternehmer wie z.B. der Konfektionskleiderfabrikant Marcus Edinger (1819-1879) und der Lederfabrikant Ludwig Melas (geb. 1810). Herkunft, Erziehung und wohl auch die durch die örtliche Konfessionsstruktur verfestigten Glaubaisüberzeugungen haben offensichtlich dazu beigetragen, daß bei beiden christlichen Konfessionen durchaus von ihrem Glauben durchdrungene Persönlichkeiten wirkten, so zum Beispiel auf katholischer Seite Wilhelm Joseph Dieudonnée Valckenberg (1844-1914) und auf protestantischer Seite Cornelius Wilhelm Freiherr Heyl zu Hermsheim (1843-1923). Sein Lebensweg und sein sozialpolitisches und politisches Wirken als langjähriges nationalliberales Mitglied des Reichstags sind ohne seine an der Hermhuter Knabenanstalt in Neuwied empfangene Prägung kaum verständlich177.

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Zum Stand und Wandel von Bevölkerungs-, Konfessions- und Sozialstruktur seit Ende des alten Reiches in Worms siehe: Kühn, Wandel, S. 11-18, insbes. S. 14, S. 69-102. Zu Valckenberg: DGB 64 (1929), S. 259; Beerdigung des Geh. Kommerzienrats Valckenberg, in: Wormser Zeitung 1. Okt. 1914. Zu Heyl: Kriegbaum, Tätigkeit, S. 16fiF. Zu Edinger, Enzinger und Melas: Siehe oben Anm. 149.

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4.4. Der Konfessionswechsel Ein Hauptproblem der Erfassung des Glaubensbekenntnisses der Firmengründer stellen die Konversionen und Kirchenaustritte dar. Sie lassen bereits im konfessionsstatistischen Ansatz, der ja an sich nichts aussagt über die Beweggründe dieser Glaubensübertritte, nicht nur das Ausmaß des Konfessionswechsels erkennen, sondern zeigen auch an, welche Religionsgemeinschaften bei diesai Konversionen bevorzugt wurden und von welchen man sich in erster Linie abwandte. Der Entschluß zu diesai Konversionen war bei den erfaßten Personen, soweit er erkennbar ist, beinahe generell ein Akt der Anpassung. Typisch für den Versuch der Assimilierung durch konfessionelle Anpassung an die Religion der Mehrheit der Angehörigen der politischwirtschaftlichen Führungsschicht in Deutschland sind vor allem die Übertritte mancher jüdischer Großindustrieller zum Protestantismus. Dies trifft zu zum Beispiel für die Gebrüder Friedrich von Gans (1833-1920) und Leo Gans (1843-1935) und von Weinberg von der Firma Cassella in Frankfurt oder für Wilhelm Merton von der Metallgesellschaft. Ihre Namen repräsentieren Familial, die nobilitiert oder nichtnobilitiert auch in ihrem zum Teil hochadeligen Konnubium in einem bewußten Assimilierungsvorgang um die gesellschaftliche Amalgamierung bemüht waren178. Milieuanpassungen im engeren Sinne als Folge des unmittelbaren Zusammenlebens mit einer wat überwiegend mehrheitlich evangelischal Bevölkerung in fast allen rhein-mainischai Städten warai besonders auch die katholischen Firmengründer und ihre Nachkommen unterworfen. Gerade bei ihnen kann man nicht selten von einem Hinübergleiten von einer Konfession in die andere, zum Teil im Gefolge von konfessionellen Mischehen sprechen179. Eine ansonst nicht selten festzustellende stärkere Kirchen171

Zu Gans: Vgl. auch oben Anm. 13 und Gothaisches Genealogisches Taschenbuch, Alter und Briefadel 25 (1931), S. 197-199. Zu Weinberg: Reichshandbuch der Gesellschaft, 2. Bd., Berlin 1931, S. 2006; Gotha, Teil Β 24 (1932), S. 659f. und Gotha, Briefadel 4 (1910), S. 882f. Zu Merton: Achinger, Merton, S. 248 und 323f.; Auerbach, Jews, S. 196, Anm. 6. Über allgemeine Gründe der Assimilation: Felix A. Theilhaber, Der Untergang der deutschen Juden, München 1911, S. 88ff. 179 So sind z.B. die ursprünglich katholischen Untemehmerfamilien Neubecker in Offenbach oder Albert in Wiesbaden-Biebrich evangelisch geworden. Der in konfessioneller Mischehe verheiratete und katholisch getaufte Offenbacher Taschenbügel- und Metallwarenfabrikant Adam Philipp Bender (1827-1901) starb als Mitglied des evangelischen Kirchengemeinderates, während der mit einer Pasto-

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treue der Katholiken läßt sich unter dai erfaßten Unternehmern jedenfalls nicht fassen. Ihr Katholizismus mag zudem durch das konfessionell vorwiegend im Protestantismus und wirtschaftsethisch im Individualismus und Fortschrittsglauben verwurzelte Selbstverständnis des liberalen, politisch eher preußenorientierten Bürgertums paralysiert worden sein. Bürgerliches Emanzipationsstreben, Kampf gegen Ultramontanismus, liberales und freigeistiges Gedankengut und nationalkirchliche Reminiszenzen sowie eine allgemeine Oppositionsstimmung mehr politischer Natur waren die Ursachen der 1845 einsetzenden deutschkatholischen Bewegung. Sie fand ihren süddeutschen Schwerpunkt im frühindustrialisierten und wohl auch bereits stärker säkularisierten Offenbach und wurde besonders vom dortigen Wirtschafts- und Bildungsbürgertum getragen. Die Offenbacher katholische Unternehmerfamilie Pirazzi spielte bei der Gründung dieser Gemeinde eine führende Rolle. Zu ihr gingen aber auch evangelische Unternehmer über, wie zum Beispiel der Offenbacher Seifen- und Parfumeriefabrikant Johann Martin Kappus (1820-1905)180. Ahnlich wechselten zu dai zeitlich später aufkommenden Freireligiösen, die einen Teil ihrer Anhänger wiederum unter dai Deutschkatholiken fanden, einzelne, auch evangelische Firmoigründer über, wie zum Beispiel die Gründer der Frankfurter Torpedowerke Heinrich Weil (1863-1929) und Peter Weil (1866-191 l ) m Diese Konversionen weg von den alten christlichen Konfessionen sind allerdings nicht allein typisch für die Unternehmer, sie sind ein Hinweis auf die durch eine erneuerte Pastoraltheologie und Volksseelsorge nur verzögerte, ingesamt aber langfristige Erosion der hergebrachten religiösen Bindungen182. rentochter verheiratete Qffenbacher Lederfabrikant und ehemalige Jesuitenzögling Felix Becker (1866-1921) zu den Freireligiösen überwechselte. 180 Emil Pirazzi, Die Gründung der deutschkatholischen Gemeinde in Offenbach am Main. Eine Festschrift zur ersten Halbjahrhundertfeier ihres Besteheis, Offenbach am Main 1895, S. Iff; G. Marón, Artikel Deutschkatholizismus, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 2. Bd., Tübingen 3. Aufl. 1958, Sp. 112f.; Erich Winckelmann, Beiträge zur evangelischeil Kirchengeschichte der Stadt Offenbach am Main 1. Bd. 1734-1848 (Offenbacher Geschichtsblätter 8), Offenbach am Main 1958, S. 33ff. 181 Stadtarchiv Frankfurt, Einwohnermeldekartei Peter und Heinrich Weil; evangel. Pfarramt Frankfurt-Rödelheim Trauungen 1860: Weil-Engel. 182 Hermann Dechent, Kirchengeschichte von Frankfurt am Main seit der Reformation 2. Bd., Leipzig, Frankfurt 1929, S. 268 und 426, beschreibt diesai Erosionsprozeß.

Wirtschaftsbürgertum des Rhein-Main-Gebiets

203

Es hat allerdings den Anschein, daß sich gegen Ende des Jahrhunderts im Zuge der allgemeinen Retardierung der bürgerlichen Emanzipation in Deutschland, besonders in großbürgerlichen Kreisen ein neuer kirchlicher Geist in dem Sinne entwickelt hat, daß den Kirchen eine wesentliche Funktion als Ordnungsmacht und Faktor der sittlichen Erziehung zukomme. Eine Sonderstellung nehmen die Reformierten ein. Soweit reformierte Kirchengemeinden im Rhein-Main-Gebiet die Unionsbestrebungen im deutschen Protestantismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts überdauerten, hat nämlich die kleine elitäre Gruppe der Französisch-Reformierten mit ihrem hohen Anteil wirtschaftlich und gesellschaftlich arrivierter Mitglieder eine nicht zu übersehende Anziehungskraft auf wirtschaftlich erfolgreiche Personen, besonders Lutheraner ausgeübt. So traten zum Beispiel der offenbar französischreformierten Gemeinde bei: der Metallwarenfabrikant Ludwig Nicolaus Hector Becker (geb. 1841), der durch Einheirat Teilhaber der Seifenfabrik C. Naumann gewordene Heinrich Theodor Mohr (18221901) und Lorenz Lauer (1879-1937), der Schwiegersohn des Maschinenfabrikanten Friedrich Schmaltz (1854-1932)1'3. In der Regel bestätigen aber diese meist im Zusammenhang mit Heiraten erfolgten Übertritte eher das Nachlassen religiös motivierter Konversionen und der prägenden Kraft der Dogmen auf die Lebensgestaltung im 19. Jahrhundert. Gleichzeitig liegt aber die Bedeutung des Ergebnisses dieses Abschnitts darin, daß die Konfessionsstatistik eine eindeutige Gewichtung der Verteilung der protestantischen, katholischen und jüdischen Firmengründer auf die einzelnen Industriezweige ergeben hat. Es läßt auch für die Unternehmer des 19. Jahrhunderts und hier wiederum vornehmlich dessen zweiter „säkularisierteren" Hälfte, die formende Kraft des Elternhauses und religiöser Unterweisung auf die praktische Lebensgestaltung erkennen.

1,3 Französ.-reform. Kirchengemeinde Offenbach Familienbuch 1698-1872, Nr. 88, 634 und 1872ff,Nr. 1310.

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Peter Fassl WIRTSCHAFTLICHE FÜHRUNGSSCHICHTEN IN AUGSBURG

1800-1914

Die Untersuchung wirtschaftlicher Führungsschichten hat seit Beginn der 1970er Jahre eine ganze Reihe von Regional- und Verbandsstudien hervorgebracht, die heute audi im internationalen Vergleich im Bereich der Eliteforschung, der Frage der Modernität, Rückständigkeit der Länder diskutiert werden. Inwieweit kann hier eine Stadtstudie mit begrenzter Reichweite, entsprechender Fluktuation einen Beitrag zur Forschung leisten? Die Stadt bildete, trotz steigender geographischer Mobilität der Bevölkerung im 19. Jahrhundert, für eine Vielzahl von Bürgern den ständigen Lebensraum. Die allgemeine Wirtschafts-, Sozial-, Kirchen(Ortskirche) und die politische Geschichte (Parteien, Vereine) erhalten durch die Erforschung regionaler Unterschiede erst die notwendige Differenzierung. Reichsstädte etwa, deren notorischer Konservatismus bereits im 18. Jahrhundert Ziel aufgeklärter Kritik und Spöttelei war, entwickelten und lebten im gesellschaftlichen und sozialen Miteinander in Traditionen, deren Fortwirken über politische Brüche hinweg vielfach greifbar wird, und die übergreifenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklungen erst ihre Prägung, Konkretisierung vor Ort, gaben. Die Erforschung der wirtschaftlichen Führungsschichten im Rahmen der Stadtgeschichte bietet wegen der Kleinräumigkeit die Möglichkeit, die historische Bedingtheit, Komplexität und das Beziehungsgeflecht von wirtschaftlichem, sozialem, politischem und kirchlichem Leben deutlich zu machen, und damit Bausteine für eine differenzierte Betrachtung der allgemeinen Geschichte zu liefern. Zu den wirtschaftlichen Führungsschichten werden im folgenden Großhändler, seit Ende des 19. Jahrhunderts auch Warenhausbesitzer, Bankiers, Fabrikanten, einschließlich kaufmännischer und technischer Direktoren gezählt. Vereinzelt begegnen uns Bauunternehmer und Juristen in Aufsichtsräten als Vertreter von Banken. Mitberücksichtigt werden die Prokuristen in Fabriken, Banken und in Handelsunternehmen.

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Peler Fass]

1. Politische und wirtschaftliche Entwicklung1 Augsburg, das im 16. Jahrhundert zu dai kulturellen, ρ oliti schei und wirtschaftlichen Zentren des Deutschen Reichs zählte, dessen fuhrende Kaufmannsgeschlechter Handelsverbindungen bis in die Neue Welt besaßen, und dessen Reichtum in dai Fuggem einen, bis in den ungarischen und tirolischen Sprachschatz eingehaiden, fast mystischai Ausdruck fand - im 19. Jahrhundert etwa vergleichbar mit den Rothschilds -, hatte durch den Dreißigjährigen Krieg über die Hälfte der Einwohner, fast die gesamte wirtschaftliche Oberschicht, über 90% der Großvermögen und vor allem, wie die meisten anderen Reichsstädte, an politischer Substanz verloren. Die Wirtschaftspolitik der fürstlichai Territorialstaatai aigte den Handlungsspielraum der Reichsstadt im Laufe des 18. Jahrhunderts immer weiter ein, zumal man als Stadt ohne eigenes Territorium allein schon bei der Lebaismittelversorgung von dem mächtigen Nachbarn Bayern abhängig war. Dennoch gelang im 18. Jahrhundert ein erstaunlicher Wiederaufstieg. Begünstigt durch die zentrale Lage für den Nord-Süd-, aber auch OstWesthandel und eine äußerst liberale Einwanderungspolitik, die 1648 eingeführte Parität, die dai Konfessionen die Gleichberechtigung im öffentlichen Leben garantierte und sich durch ihre konsequente Durchführung, sprich Scheidung des gesamten Lebais in katholisch und protestantisch, zu einer Denk- und Lebensform entwickelte, kam es im späten 17. und im 18. Jahrhundert zu einer kompletten Neuformierung der wirtschaftlichen Oberschicht und einem Bevölkerungsanstieg von knapp 20.000 Einwohnern 1650 und auf etwa 30.000 1800. Katholischerseits kamen die Wohlhabaiden und Reichen aus Oberitalien, Tirol und Österreich, auf protestantischer Seite aus dai Reichsstädten und Norddeutschland. Um 1800 zählte zu der wirtschaftlichen Führungsschicht keine einzige Familie, die bereits vor dem 30jährigen Krieg wirtschaftliche Bedeutung gehabt hätte, und nur sehr waiige, die vor 1700 zugewandert waren. Der Fluktuation in Handel- und Bankwesen stand im gewerblichai Bereich und im Patriziat, der politischen Führungsschicht, trotz zahlreicher Heiratsverbindungai zu den 1

Vgl. Wolfgang Zorn, Handels- und Industriegeschichte Bayerisch Schwabens 1648-1870. Wiitschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte des schwäbischen Unternehmertums, Augsburg 1961 (Veröffentlichungen der schwäbischen Forschungsgemeinschaft bei der Kommission für bayerische Landesgeschichte, Reihe 1: Studien zur Geschichte des bayerischen Schwabens, 6); Peter Fassl, Konfession, Wirtschaft und Politik. Von der Reichsstadt zur Industriestadt, Augsburg 17501850, Sigmaringen 1988 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg, 32).

Wirtschaftliche Führungsschichteo in Augsburg

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Kaufleuten, ein eher stabilisierendes Moment gegenüber. Konfessionell betrachtet hatte die Zuwanderung das Verhältnis der Konfessionen von zwei Drittel Protestanten und einem Drittel Katholiken am Ende des 30jährigen Kriegs bis 1800 zwar umgekehrt, an dem wirtschaftlichen Übergewicht der Protestanten, gerade in dai kapitalintensiven Berufszweigen wie Wechselgeschäften, Gold- und Silberhandel, Goldschmieden, Brauern, Metzgern und Manufakturen aber wenig geändert. Im 19. Jahrhundert sollte sich diese Entwicklung durch die vermehrte Zuwanderung katholischer Fabrikarbeiter aus der ländlichen Umgebung und den bildungspolitischen Kahlschlägen durch die Säkularisation zu Lasten der Katholiken scherenartig noch verstärken. Wirtschaftliche Schwerpunkte lagen im 18. Jahrhundert bei dem Vertrieb von Gold- und Silberschmiedeprodukten, dem Kattundruck und vor allem den Geld- und Wechselgeschäften, die Augsburg, neben Frankfurt, zum Finanzzentrum im süd- und mitteldeutschen Raum aufsteigen ließen. Augsburg „macht Kasse für die benachbarten Länder, besonders Österreich, Schwaben und für einen Teil der Schweiz und Italiens"2 stellte Friedrich Nicolai 1781 fest, eine Behauptung, die durch neuere Untersuchungen bestätigt werden konnte. Augsburger Wechselbriefe wurden an allen Börsen Europas akzeptiert und bildeten für dai Warenhandel nach Italien, der Schweiz und Österreich ein unentbehrliches Zahlungsmittel. Napoleonische Kriege, Säkularisation, ein technologischer Umbruch im Textilsektor und der Übergang Augsburgs an Bayern führten zu einem tiefgreifenden sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel. Nach einer Periode strengen Verwaltungszentralismus' gab die Gemeindeordnung von 1818 dai Kommunal weitgehend die innere Selbstverwaltung zurück und führte in Augsburg zu einem Wiederaufblühen des politischen und gesellschaftlichen Lebens, leitete aber zugleich durch die Bindung des Wahlrechts an das Bürgerrecht, das erst durch eine hohe Gebühr erworbai werden mußte, die Dominanz des gehobenen Bürgertums ein. Bei den Gemeindewahlen, bei daien bis 1851 rein konfessionell abgestimmt wurde, duldeten die Katholiken einen dem Bevölkerungsproporz in etwa entsprechenden Anteil von einem Drittel protestantischer Gemeindebevollmächtigter; 1854 setzten sich dann erstmals die Protestanten durch, die dai Kern der liberalen Partei bildetai und seit dieser Zeit die konservativen 2

Friedrich Nicolai, Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781, Bd. 8, Berlin/Stettin 1787, S. 12.

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Peter Fassl

Katholiken bis zur Einführung des Verhältniswahlrechts 1907 völlig aus der Gemeindepolitik verdrängten. Die Erblast des von den Protestanten getragenen Augsburger Liberalismus blieben traumatische Erinnerungen an eine unfreie Zeit, deren politische Folgen sich schon in dai 50er Jahren in einer kulturkämpferischen, z.T. kirchenfeindlichen Haltung mit dem Ziel der Zurückdrängung der Kirche, konservativer Katholiken auf gleiche Weise wie orthodoxer kirchentreuer Protestanten aus dem politischen öffentlichen Leben zeigte. Die soziale Bandbreite des Augsburger Liberalismus reichte von der Arbeiterschaft bis zu Großindustrie und Banken, eine eindeutige Führung der wirtschaftlichen Oberschicht läßt sich nicht feststellen, zumal die Führer des Augsburger Liberalismus Albrecht Volkhart (1804-1896) und Bürgermeister Fischer, 1. Bürgermeister von 18661900, eher mittelständisch orientiert waren und letzterer deutliche sozialpolitische Akzente, zum Teil mit bewußter Frontstellung gegen die Industrie, in der Stadtpolitik setzte.3 Der politische Widerpart der Liberalen, die Patrioten, dann das Zentrum, setzte sich ausschließlich aus Katholikrai, vorwiegend der Unter- und Mittelschicht, zusammen und erblickte seinen politischen Hauptgegner weniger im Liberalismus, dem man sich gegen Ende des Jahrhunderts unter dem Motto der Erhaltung der bürgerlichen Ordnung durchaus annäherte, als in den Sozialdemokraten, denen man zwar sozial nahe stand, ideologisch aber durch die starke kirchlich-religiöse Prägung der Partei als die eigentliche Gefahr für Glaube, Ordnung und Moral einstufte. Anknüpfungspunkte zwischen beiden Parteien ergaben sich erst seit 1900 durch Ansätze zu gemeinsamer gewerkschaftlicher Arbeit. Im wirtschaftlichen Bereich brachte das 19. Jahrhundert trotz der vorläufigen Behauptung Augsburgs als Bank- und Wechselplatz eine deutliche Verengung der wirtschaftlichen Bandbreite. Die italienischen und österreichischen Märkte wurden durch hohe Zollgrenzen von Bayern abgeschirmt, der ehemals zentrale Italienhandel ging verloren, der Transithandel lief verstärkt über München, da die bayerische Ver3

Vgl. Use Fischer, Industrialisierung, sozialer Konflikt und politische Willensbildung in der Stadtgemeinde, Augsburg 1977 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg, 24); Volker Dotterweich, Die bayerische Ära 1806-1870, in: Gunther Gottlieb u.a. (Hrsg.), Geschichte der Stadt Augsburg von der Römerzeit bis zur Gegenwart, Stuttgart 1984, S. 551-568; Geihard Hetzer, Von der Reichsgründung bis zum Ende der Weimarer Republik 1871-1933, in: ebd., S. 568-592; Peter Fassl, Wirtschaftsgeschichte 1800-1914, in: ebd., S. 592-607; ders., Konfession, S. 327-416, ders., Kirche und Arbeiterschaft in Augsburg vom Beginn der Industrialisierung bis zum 1. Weltkrieg, Magisterarbeit Augsburg 1980.

Wirtschaftliche Fühnmgsschiditm in Augsburg

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kehrspolitik den Bau des Eisenbahnnetzes auf München hin zentrierte. Durch die Säkularisation verlor die Stadt die Wirtschaftskraft der Klöster und Stifte, Buchhandel und Kunsthandwerk einen wichtigen Teil ihres geistigen Nährbodens, die Katholiken ihr gesamtes, mit der klösterlichen Kultur untrennbar verbundenes Bildungssystem. Bayerische Kultur- und Bildungspolitik beschränkte sich auf die Förderung der Residenzstadt. Buchhandel und Verlagswesen mußten ihre führende Stellung an München abgeben, Goldschmiede und Kunstverlage gingen unter, im Textildruck schaffte nur die Firma von Schöppler & Hartmann den Übergang ins Industriezeitalter. „Augsburgs Zukunft" ruhte, wie ein kritischer Beobachter um die Mitte des 19. Jahrhunderts feststellte, „auf seiner industriellen Ausbildung...". „In München sonnt sich alles, klein und groß, im Glänze der dortigen Sonne, das können wir nicht bieten, bei uns heißt's arbeiten, im Schweiße seines Angesichts sein Brot essen."4 Die Initiative zur Errichtung industrieller Unternehmungen ging von Bank- und Handelskreisen aus, die nach dem Rückgang der Börsen- und Handelsgeschäfte seit dem Ende der 20er Jahre und in Folge der Konsolidierung der Textiltechnik und sich abzeichnender Gewinnmöglichkeiten in der Industrialisierung ein neues Spekulationsprodukt sahen. In Anknüpfung an die fortlaufende Textiltradition und des damit verbundenen technischen und merkantilen Knowhow in Handel und Textildruck wurden von 1838 bis 1868 13 Spinnereien und Webereien, drei Zwirnereien und Nähfadenfabriken, drei Bleichereien und drei wollverarbeitende Betriebe errichtet, in denen 1861 5.648 Arbeiter, 40% aller Beschäftigten, ihre Arbeit fanden. Mit zehn Aktiengesellschaften und einem Aktienkapital von 7,25 Mio. fl. stand Augsburg damals an der Spitze der Industrialisierung in Bayern. Führende Kräfte waren hierbei vier mehr oder weniger miteinander verwandte christliche und zwei jüdische Bankhäuser. Seit den 70er Jahren verlangsamte sich die industrielle Entwicklung durch die Beendigung der Geschäftstätigkeit der meisten größeren Banken und das Aufkommen Münchens als führenden Bankplatz Bayerns. Führend blieben bis zum 1. Weltkrieg die alten Industrien, die Textilindustrie mit 11.213 Arbeitern 1907, gefolgt von der seit den 70er Jahren aufholenden Maschinenbauindustrie mit 8.030 Arbeitern, zusammen 45% aller Beschäftigten. Die chemische Industrie, seit 1822 in Augsburg ansässig, mit zwei bis drei Betrieben, und die Elektroindustrie mit insgesamt knapp 4

Augsburger Anzeigeblatt, Nr. 207 v. 30.7.1851.

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Peter Fassl

1.000 Arbeitern hatte keine größere Bedeutung. Hinzu kamen drei Buch- und Zeitungsverlage. Das in der Textil- und Metallindustrie angelegte Aktienkapital stieg von 15, 8 Mio. RM 1872/73 auf 54,2 Mio. RM 1913, wobei die MAN mit Werken in Nürnberg und Gustavsburg allerdings mit 18 Mio. den Löwenanteil hielt. Im Brauereigewerbe zeigte sich seit der Jahrhundertmitte eine Konzentrationsbewegung, der seit Gründung der ersten Aktiengesellschaft die meisten Privatbetriebe zum Opfer fielen. Fünf Brauereien hatten 1860 einen Wert von jeweils über 50.000 fl., ebensoviele Aktienbrauereien bestanden 1907 mit einem Kapital von 8,6 Mio. RM. Damals beschäftigten von dai 148 fabrikmäßigen Betrieben (über 10 Arb.) in Augsburg und näherer Umgebung fünf Textilbetriebe und die MAN über 1.000 Arbeiter, sieben Firmai 500-1000 Arb., weitere 35 Firmen 100-500 Arbeiter. Im Hinblick auf die industrielle Führungsschidit kommen wir damit auf etwa 15 Personen im Jahre 1800, 25 1850, 50 1880 und 110 1910, zu denen dann noch eine etwas geringere Anzahl von Prokuristen zu rechnen wären. Im Bereich des Bankwesens deutet die zahlenmäßige Entwicklung von 24 Häusern 1810, 15 1855, 19 Privatbanken und sechs Filialen von Großbanken 1910, bei einem Bevölkerungswachstum von 30.000 1800, 40.000 1855 und 100.000 1910, nur ungenügend den Niedergang Augsburgs als Handels- und Finanzplatz an. In einer Serie im führenden Augsburger Lokalblatt klagte 1858 ein fachkundiger Beobachter: „Mit Wehmut erinnert sich der strebsame Geschäftsmann der Zeiten unserer Voreltern, wo Handel, Gewerbe und Künste blühten, wo ehrenwerthe hiesige Häuser dai Handel dies- und jenseits des Oceans mittelst eigener Schiffe betrieben und dadurch große Reichthümer erworben, mit welchen sie ihren Mitbürgern Verdienst und lebensfrohes Daseyn bereitetai und dem regen Lebai damaliger Zeit dai Impuls gaben."5 Die meisten bedeutaideren Geschäfte hattai in den 60er, 70er Jahren, dann nach 1900 geschlossen, waren nach München gezogen oder hier übernommen worden. 1913 bestand nur mehr eine Privatbank mit überregionaler Bedeutung. Augsburgs Rolle im internationalen Geld- und Handelsverkehr hatte München übernommen, die Augsburger Börse blieb allerdings der erste Handelsplatz für süddeutsche Textilaktien. Zur wirtschaftlichen Führungsschicht sind 1810 45 Personal, 1855 30 Personen und 1913 50 Personen einschließlich der Prokuristai zu zählen.

5

Augsburger Anzeigeblatt, Nr. 5 v. 5.1.1858.

Wirtschaftliche Fühnmgsschichtai in Augsburg

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Am schwierigsten ist die Einschätzung der Führungsschicht im Handelsgewerbe, da der überregionale Großhandel sich quellenmäßig nicht immer vom Detail-, Lokal- und Regionalhandel trainai läßt und nur lückenhaft Angabai über dai Geschäftsumfang oder die Kapitaleinlagai überliefert sind. Insgesamt kann man nach dai Handels- und Gewerbeverzeichnissen zum Großhandel 1810 etwa 100, 1855 75 und 1910 120 Personen rechnai, wobei sich das Schwergewicht der Geschäfte vom internationalen Waren- und Transithandel zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf dai regional ai Vidi- und Getreidehandel und vor allem dai Textilhandel in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts verlagerte. Insgesamt ergibt sich damit eine wirtschaftliche Führungssdiidit von etwa 150 Personal um 1800, 115 um 1850 und 180 1910. Während die Führung der wirtschaftlichen Entwicklung bis 1870 eindeutig bei Handel und Banken lag, gewann die Großindustrie gegen Ende des Jahrhunderts das Übergewicht, wenn audi das Bankhaus Schmid eine starke Stellung in der Textilindustrie behaupten konnte und der Chef des Hauses 1900 Nachfolger des Kaufmanns Haertel als Präsident der IHK wurde.6 6

Ein Zeitgenosse um die Jahrhundertmitte drückte diesai Wandel folgendermaßen aus. „Der Handel ging für Augsburg nach und nach verloren ... Für die untergegangene Sonne des Handels stieg für Augsburg in der Neuzeit die Sonne der Industrialisierung empor, in deren Morgenröthe zahlreiche Fabriken in der Umgebimg der Stadt Augsburg erglänzen, welche oft schon achtungsgebietenden Rang unter den Fabriken des Continents einnehmen" (Siehe Anm. 5). Vgl. Wolfgang Zorn, Bernhard Hillenbrand, Sechs Jahrhunderte schwäbische Wirtschaft. Beiträge zur Wirtschaft im bayerischen Regierungsbezirk Schwaben, Augsburg 1969; Peter Fassl, Die Bankiersfamilie Schmid - Finanziers der Augsburger Industrie im 19. Jahrhundert, in: Rainer A. Müller (Hrsg.), Unternehmer - Arbeitnehmer. Lebensbilder aus der Frühzeit der Industrialisierung in Bayern, München 1985, S. 123128 (Veröffentlichungen zur bayer. Geschichte und Kultur 7). Nach den Firmenverzeichnissen gab es 1895 184 Fabriken und 454 Handelsgeschäfte, 1900 155 bzw. 502. Einen gewissen Hinweis auf wirschaftliche Macht gibt das Mitgliederverzeichnis des Handelsvereins, der Folgeorganisation der reichstädtischen Kaufleutestube und das Mitgliederverzeichnis der 1896 neuorganisierten Börse, wobei in beiden die Industrie unterrepräsentiert ist.

Jahr 1805 1855 1897 1900 1903 1914

Mitglieder der Kaufleutestube/Handelsvereins und der Börse Kaufleutestube/Handelsverein Börse 177 134 134 55 129 57 123 58 135 62

224

Peter Fassl

2. Die wirtschaftlichen Führungsschichten: Anzahl, Konfession, Herkunft, soziale Mobilität, Vermögen Insgesamt liegen von 1221 Personal nähere Personal- und Wirtschaftsdaten vor, die eine Zuordnung zur wirtschaftlichen Führungsschicht erlauben (Tab. I). 7 Vom Handel müßten damit zwei Drittel, von der Industrie 80-90% und von den Banken über 90% des gesamten in Frage kommenden Personalstandes erfaßt sein (Tab. 1-10). 8 Konfessionell betrachtet dürfte der jüdische Anteil am vollständigsten aufgenommen sein.9 Von allen drei Bereichen stammten über 50% der Führungskräfte aus Augsburg und der näheren Umgebung, am meisten im Handel (59%), dann im Bankwesen (51%) und in der Industrie (43%). Weitere 10% kamen aus Bayerisch-Schwaben, bei den Juden sind diese Werte nodi höher. Die meisten Zuwanderer kamen aus Qu: Fassl, Konfession, S. 222; Ludwig Lieb, Die Entwicklung der Augsburger Effektenbörse 1818-1896, Augsburg 1930 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg, 3); Verzeichnis der im Handelsregister eingetragenen Fabrik-, Handelsfirmen und Agenten in Augsburg nebst Verzeichnis der Mitglieder des Augsburger Handelsvereins, Mitglieder und Bevollmächtigte der Börse in Augsburg, Kursmakler Gewerbetreibende mit Handel, 1879, 1900, 1903; Firmenverzeichnis für Schwaben und Neuburg nebst Verzeichnis der Mitglieder des Augsburger Handelsvereins ... 1914. 1 Die Ermittlung der Daten erfolgte auf Grund der Verzeichnisse der Kaufleutestube, des Handelsstandes, Handbuch der bayerischen Aktiengesellschaft«! (ab 1883), der Firmenfestschriften, der Protokolle der Industrie- und Handelskammer, der Literatur und zahlreicher verstreuter Notizen in zeitgenössischen Zeitschriften. Die Personaldaten wurden aus dai Beständen des Stadtarchivs Augsburg, Familienbögen, Gewerbe- und Zulassungsakten (Bestand: P I ) , des Staatsarchivs Augsburg, Nachlaßakten und Firmenfestschriften ermittelt. 8 Da die großen Augsburger Industriebetriebe Aktiengesellschaften waren, ist hier die wirtschaftliche Entwicklung über die Lokalpresse gut, wenn auch mühselig zu ermitteln. Die Größe der Banken kann man an Wirtschaftliehen Beteiligungen erheben. Aus dai Familienbögen, Konzessions- und Nachlaßakten lassai sich Wirtschaftsdaten über die Betriebsgröße ersehen. Da es in diesem Fragekomplex keinen einheitlichen, geschlossenen und auch nur teilweise vollständigen Bestand gibt, ist das hier vorgelegte Ergebnis eine Annäherung, die sich mosaikartig aus zahlreichen Einzeldaten bis in die Geschichte der Augsburger Stiftungen hinein zusammensetzt. 9 Peter Fassl, Die wirtschaftliche und soziale Stellung der Juden in Augsburg im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, in: Peter Fassl (Hrsg.), Geschichte und Kultur der Juden in Augsburg im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, in: Peter Fassl (Hrsg.), Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben, Bd. 1, Sigmaringen 1994, S. 129-146 (Irseer Schriften, 2).

Wirtschaftliche Fühnmgsschichtai in Augsburg

225

Baden-Württemberg mit über 10%, am stärksten im Bereich der Industrie, gefolgt von Franken. Altbayem hat für die wirtschaftliche Entwicklung Augsburgs genausowenig Bedeutung wie das im 18. Jahrhundert noch eine zentrale Stellung, zumindest für die katholischen Führungsschichten, einnehmende Italien. Die größte Konstanz herrscht im Bankenwesen und im Handel mit knapp 70% Augsburgem und Schwaben. Bei der katholischen Zuwanderung rückten für das im 18. Jahrhundert noch dominierende Italien, nach einer Epoche des wirtschaftlich-sozialen Niedergangs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das katholische Schwaben, Württemberg und später auch Altbayern und Franken nach. Für die Protestanten blieben, wie zu reichsstädtischen Zeiten, Franken und Württemberg die wichtigsten Zuwanderungsgebiete. Die hohe augsburgisch-schwäbische Quote bei der wirtschaftlichen Enwicklung lag vor allem auch daran, daß es den eingesessenen Führungsschichten gelang, die Zuwanderer zu integrieren und seßhaft werden zu lassen, so daß bei dai neuen Familien kaum Abwanderungen festgestellt werden können und sich schnell eine ganze Schicht von industriell-kaufmännischen Neu-Augsburgern bildete (Haindl, Martini, Häßler, Buz, Butz, Frommel, Froelich, Forster, Riedinger, Silbermann, Euringer). Im Unterschied zum kulturellen und wissenschaftlichen Bereich war Augsburg in wirtschaftlicher Beziehung keine Durchgangsstation. Lediglich im industriellen Sektor war die Stadt mangels entsprechender Ausbildungseinrichtungen - die polytechnische Schule wurde trotz heftiger Augsburger Bemühungen 1862 in die neugegründete Technische Hochschule integriert - nicht mehr in der Lage, das entsprechend technisch gebildete Ausbildungspersonal mit internationalem Standard zu stellai. Das Bild der sozialen Mobilität ist heterogen. Der wirtschaftliche Anstieg durch Heirat hatte keine entscheidende Bedeutung, da man in den führenden Familien sdir genau auf Vermögen - Eheverträge waren bei Handel und Banken in der ersten Hälfte des Jahrhunderts üblich - und Können achtete, so daß unstandesgemäße Heiraten selten, und nur bei außerordentlicher Begabung des „Bewerbers" begegneten.

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Ehen, sozialer Aufstieg Sanken iandel Aufst.1 Gleich2 Su Aufst. Gleich Su 23 34 188 46 22 436

Aufst. 38

Irldustrie Gleich 61

Su 306

1

Markanter Aufstieg Heirat in der gleichen Schicht, Berufsgruppe. Bei den meisten Ehen ließ sich eine Zuordnung nicht sicher durchführen oder es bestanden nur geringe soziale Unterschiede. 2

Überraschend ist hierbei, daß bei Handel und Banken zu Beginn des Jahrhunderts eine größere Flexibilität herrschte als gegen Ende des Jahrhunderts. Der Tendenz nach legte man auf Herkunft und Sozialprestige weit weniger Wert als auf Tüchtigkeit und Fleiß. Eine Schranke bildete eher die Konfession, die bis gegen 1850 fast eine unüberwindliche Grenze darstellte und den Katholiken den Zugang zu den führenden protestantischen Kreisen auch danach noch erschwerte. Parallel zu dem hohen Anteil heimischer Wirtschaftskräfte ist die Homogenität in der sozialen Herkunft zu sdirai. Die Selbstrekrutierung lag bei Handel und Banken bei 68,5%, bei der Industrie bei 37,7%. Nimmt man die Industrie zu den Bereichen Handel und Banken hinzu, was wegen der Führungsrolle des kaufmännischen Elements in dm Leistungsstrukturen der Betriebe legitim erscheint, so erhält man 61%. Bestätigt wird auch am Augsburger Beispiel die wichtige Rolle des Handwerks für die Bereitstellung von Führungspersonal und zwar nicht nur im Bereich der Industrie, sondern auch bei Handel und Banken. Das bekannteste Beispiel eines solchen Aufstiegs bietet der Modellschreiner Ludwig August Riedlinger (18091879), der über die technische Leitung der Spinnerei Weberei Augsburg, beargwöhnt von der Augsburger Oberschicht, zum Firmengründer und Multiindustriellen (Gas, Textil, Maschinenbau, Metallindustrie, Hôtellerie) aufstieg und dessen Vermögen bei seinem Tod auf 4,5 Mio. Mark berechnet wurde.10 Die sozusagen amerikanischen Karrieren vom Tellerwäscher zum Millionär begegnen in Augsburg 10

Peter Fassl, Ludwig August Riedinger (1809-1879) - Techniker, Industriegründer und sozialer Unternehmer. Mit einem autobiographischen Anhang, in: Pankraz Fried (Hrsg.), Miscellanea Suevica Augustana, S. 155-174 (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens, 3); Staatsarchiv Augsburg, NA Augsburg Stadtgericht 1879, Nr. 162.

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praktisch nicht, der Aufstieg aus der Unterschicht hat statistisch keine Bedeutung. Konfessionell gesehen setzten sich die Führungsschichten aus 26,2% Katholiken, 48,1% Protestanten und 25,3% Juden zusammen, bei einem Bevölkerungsverhältnis von zwei Drittel Katholiken, einem Drittel Protestanten und 1% Juden (ab 1850), wobei einschränkend darauf hingewiesen werden muß, daß der Erfassungsgrad bei dai Juden wohl etwas höher sein dürfte als bei dai anderen Konfessionen. Doch schmeicheln diese Werte eher dem wirtschaftlichen Gewicht der Katholiken, die erst im letzten Drittel des Jahrhunderts in Industrie und Banken wieder einigermaßen Anschluß an die Protestanten gewannen. Die Frühindustrialisierung und damit die Gründung der dominierenden Großbetriebe in der Textil- und Metallindustrie in Form von Aktiengesellschaften wurde fast ausschließlich von der eingesessenen protestantischen Führungsschicht aus Handel und Banken getragen. Die Ausbildung der Führungskräfte in der Industrie war zunächst ausschließlich eine kaufmännische; die benötigten Techniker wurden von auswärts angeworben, bei der frühen Textilindustrie etwa im Elsaß, der Schweiz und in Württemberg. Eine Ausnahme machte hier die allerdings nur schwach vertretene chemische Industrie. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelangten dann zunehmend Techniker, Ingenieure und wissenschaftlich Ausgebildete in die Führungsspitze der Unternehmen; ausschlaggebend blieb aber überwiegend das kaufmännische Element. Allgemeines technisches Grundwissen vermittelte die Gewerbe- und Polytechnische Schule, das dann auf Fachschulen, z.T. auch Universitäten, vor allem aber durch Berufserfahrung und Bildungsreisen vertieft wurde. Bei der kaufmännischen Ausbildung zeigte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts ein deutlicher Wandel. War bis in die 1820er Jahre auch bei mittleren Kaufleuten eine Ausbildung in Österreich, Italien und der Schweiz die Regel, so beschränkte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts diese Internationalität auf die kaufmännischen Spitzenkräfte, wobei für Italien und Österreich, Frankreich, England und Amerika einrückten. Fragt man nun nach dem eigentlichen Kern der Führungsschicht, die über Gründung, Sanierung, Erweiterung eines Unternehmens, Bestellung und Entlassung von Direktoren, entschied, kurz die unternehmerische Richtung bestimmte, so stößt man auf einen kleinen Kreis von fünf bis sieben Familienclans, die, wie in reichsstädtischer

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Zeit, ein weitverzweigtes patronageartiges Klientelsystem besaßen, mit dessen Unterstützung sie bestimmte Branchai kontrollierten. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zählten hierzu die Bankiers Schaezler, Froelich, Erzberger & Schmid, Stettai, die Kaufmannsindustriellen Forster und Sander, dann die jüdischen Bankiers Obermayer, in der zweiten Hälfte die Industriellen Häßler, Frommel, Buz, Riedinger, die Bankiers Erzberger, Stetten, Schwarz und vor allem Schmid, dann die Juden Landauer, Heymann und Rosenbusch. Die Führung lag bei dai Banken, die der industriellen Entwicklung eine gewisse Einheitlichkeit, Solidität, einen kaufmännisch kalkulatorischen Zug, aber auch das Fehlen von frischem Wagemut gaben. Außenseitern und unangepaßten Emporkömmlingen wurde das Leben schwer gemacht. Eine Sonderstellung nahmen die beiden im 19. Jahrhundert eingewanderten katholischen Untemehmerfamilien Haindl (Papier) und Martini (Färberei/Bleicherei), sowie die fuhrenden jüdischen Familien ein, die ihrerseits wieder bestimmte Wirtschaftsbereiche beherrschten. Über die Vermögensverhältnisse der Führungsschichten besitzen wir nur verstreute Nachrichten. Die ersten Bankiers besaßen in den 1820er Jahren ein Vermögen von 2 Mio. fl., die Bankeinlagen betrugen etwa 500.000 fl., die kleineren über 20-100.000 fl., der Wert der größten Privatfabrik (Schöppler & Hartmann) stieg von 500.000 fl. in den 1830er auf 2 Mio. fi. in dai 1850er Jahren. Um 1870 galten als reichste Augsburger zwei selbständige Fabrikanten (Theodor und Ludwig Sander) mit 2-4 Mio. fl., Riedinger hinterließ 1879 4,5 Mio. Mark, der Industrielle Gustav von Froelich 1864 590.000 fl. Der Direktor eines Großunternehmens (SWA/MAN) konnte bei florierendem Geschäftsgang (20-25% Dividaide) in Folge seiner Gewinnbeteiligung 30-70.000 fl. im Jahr verdiaiai. Direktoren in mittleren Betriebai kamen auf 15-40.000 fl./Jahr und konntai, wie Beispiele zeigai (Fimhaber), bei 20-30jähriger Tätigkeit bis zu 400.000 fl. ersparen. An der Spitze der bei Martin11 aufgeführten 34 Augsburger Millionäre im Jahre 1910 standen die Bankiers Schmid mit 19 Mio. vor dai Industriellen Forster mit 16 Mio., Martini, Stetten (Bankiers) und Haindl mit 11-13 Mio.

11

Rudolf Martin, Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre in Bayern, Berlin 1914.

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3. Konfession und Wirtschaft Um das im 19. Jahrhundert drastisch sich verschärfende wirtschaftliche Ungleichgewicht zwischen Protestanten und Katholiken, das sich bis in die demographische Entwicklung hinein niederschlug, zu verstehen, muß etwas näher auf die historischen Grundlagen eingegangen werden. Fast die gesamte katholische wirtschaftliche Führungsschicht war im 18. Jahrhundert aus Oberitalien, Teilen der Schweiz und Österreichs eingewandert. Teile ihrer Familial blieben in der altar Heimat ansässig, die Beziehungen zu ihnen wurden durch Handel und Heiratsverbindungen lebendig gehalten. Nach den Napoleonischen Kriegen rissen diese Verbindungen ab, um die Jahrhundertmitte waren die „Welschen" aus der Wirtschaft Augsburgs verschwunden. Der zweite schwerwiegende Schlag für die Katholiken kam durch die Aufhebung der Klöster und Stifte, die nicht nur ein Bildungs- und Förderungssystem entwickelt hatten, ein die Wirtschaftsverbindungen ergänzendes weitverzweigtes Kommunikationssystem besaßen, sondern vor allem das geistige Rückgrat und den Identifikationspunkt der Katholiken bildeten. Die katholische Oberschicht legte daher nach der Säkularisation ihr gesamtes Gewicht in die Restituierung der geistlichen Infrastruktur. Während bei dai Protestanten die Träger der wirtschaftlichen Entwicklung aus dai eingesessenen Familien kamen, mit daien die Zuwanderer gesellschaftlich oder durch Heiratsverbindungen integriert wurden, gab es für katholische Zuwanderer keinen wirtschaftlichen Anknüpfungspunkt zu ihren Konfessionsverwandtai und die einseitige Rückwärtsgewandtheit und Vorliebe für Wiedereinführung von Ordai, Bruderschaften und katholischen Vereinen stieß auf waiig Verständnis. Die Spaltung zwischen neuer liberaler katholischer Oberschicht und konservativ-orthodoxer Mittel- und Unterschicht wurde durch den Druck der liberal geprägten öffentlichen Meinung noch verstärkt. Diese konfessionell-ideologischen Unterschiede hatten natürlich Konsequaizen für das tägliche Leben, die durch das enge Nebeneinander von Katholiken und Protestantai dialektisch noch verstärkt wurden. Während die Katholiken ihre Kulturstiftungen dotierten und alle Arten barocker Volksfrömmigkeit hochhielten bzw. wieder zu erneuern suchten, hatten die Protestantai durch ihre reichen Stipendienstiftungen ein gut funktionierendes Ausbildungsförderungssystem. Die Liturgie zeigte reformatorische Nüchternheit; Predigt und Kirchenlieder waren auf den nüchternai, praktischen Lebensvollzug, die

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Bewährung im Berufsleben und die persönliche Verantwortung ausgerichtet. Im Schulbereich hatten in der reichsstädtischen Zeit die Realienfacher eine zentrale Stellung. Ein Augsburger Vorläufer Max Webers beschrieb im 18. Jahrhundert die Situation folgendermaßen: „Da eifert die große Zahl der Einwohner wider die kleinere und beneidet sie, indessen die kleinere sich immer bemüht, reicher zu werden. Sie ist fleißig, währenddem die katholische Anzahl betet und beneidet."12 Im 19. Jahrhundert änderte sich an dieser Lage nichts Wesentliches. Der Protestantismus öffnete sich zum liberalen Kulturprotestantismus mit weitgehend säkularisierter Religiosität, das liberale Bürgertum beschaffte sich die seiner Gesinnung entsprechenden Pfarrer, alles Strenge, orthodox Kirchliche war in der besseren Gesellschaft verpönt - eine ähnliche Entwicklung zeigte sich audi bei der jüdischen Kultusgemeinde in Augsburg. Der Selbstentfaltung des Individuums, dem industriellen, wirtschaftlichen und technischen Fortschritt wurden keine Schranken gestellt, die Sonntagspredigt, die von vielen traditionsgemäß noch besucht wurde, vermittelte ein warmes Herzensgefuhl, ohne lästige Handlungsnormen aufzustellen, und bildete ein intellektuelles Vergnügen; protestantische Pfarrer beklagten seit Beginn des Jahrhunderts die merkliche Abnahme der kirchlichen Bindung des gehobenen Bürgertums. Begegneten Wirtschaftsfuhrer zunächst noch häufig in Kirchenvorstand und Kirchenverwaltung, so suchten sie sich gegen Ende des Jahrhunderts eher dieser lästigen Verpflichtung zu entledigen, die Beteiligung bei den Kirchenverwaltungswahlen sank auf unter 10%. Die konservativen Protestanten standen unter dem Verdacht des Katholisierens und wurden nach regelrechten Wahlkämpfen bei dei Kirchenverwaltungswahlen, auf die Vorstadtkirche St. Jakob, z.T. auch Hl. Ulrich, abgedrängt. Industrielle fanden sich bei ihnen kaum. Die enge Bindung von wirtschaftlicher Oberschicht und Kirche, die Zorn unter dem Gesichtspunkt des Arbeitsethos mit Bibel und Kattun beschrieben hatte, war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr kennzeichnend für die protestantische Führungsschicht. Ganz anders sah es bei der katholischen Kirche aus. Die Kirche kannte noch keinen autonomen weltlichen Bereich, die Kräfte der Laien wurden zur Verteidigung der Kirche, die sich von allai Seiten angegriffen fühlte, mobilisiert. Das gesellschaftliche Leben spielte sich in katholischen Vereinen als einer Art Gegengesellschaft ab. n

Briefe von und über Augsburg, (Hof) 1789, S. 77; vgl. Fassl, Konfession, S. 119-

122.

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Trotz gesellschaftlichem Verkehr der wirtschaftlichen Oberschichten, blieben Hei rats Verbindungen über die Konfessionsgrenzen hinweg bis zur Jahrhundertwaide selten. Insgesamt stehen 796 gleichkonfessionelle Ehen 134 gemischten Ehen gegenüber, von denen wiederum 100 erst in der Zeit nach 1875 geschlossen wurden. Am „liberalsten" waren hierbei die Verhältnisse in der Industrie (358 gleiche Ehen/78 gem. Ehen, davon 62 seit 1875), während in Handel (274/33(20)) und Banken (164/24(18)) die gesellschaftlichen Verhältnisse noch viel stärker von der städtischen Situation geprägt waren. Katholiken mußten sich daher vielfach, wenn sie geldgemäß heiraten wollten, auswärts umsehen. Gelang Katholiken die Heirat in ein protestantisches Haus, so war damit die Möglichkeit wirtschaftlichen Aufstiegs verbunden, die berufliche Ausbildung der Kinder, die in der Regel protestantisch erzogen wurden, war gesichert. Repräsentativ für die Haltung der protestantischen Oberschicht dürfte die Reaktion Schaezlers gewesen sein, der, als er von der Konversion seines Sohnes und seiner Tochter erfuhr, beide auf dai Pflichterbteil unter Abzug der Ausbildungskosten setzte, einen Familienfideicomiß errichtete und dazu in einem Testamentsnachtrag ausführte: „Mein Sohn Constantin ist zur großen Betrübnis der ganzen Familie aus dem Schöße der Evangelischen Kirche getreten und hat dai Glaubai verlassai, welche meine Vorältern unter dai schwerstai Opfern und Kämpfen sich errungen haben, der in meiner Familie seit Jahrhunderten treu bewahrt wurde und dem ich von Herzen zugethan bin ... Aber mein Sohn Constantin hat sich nicht allein der römisch kath. Kirche zugewaidet, sondern er trägt sich auch mit dem Gedanken Priester dieser Kirche zu werden, vielleicht sogar Mitglied eines Ordens, in dessai Mitte er nicht mehr frei über sich und sein Vermögen zu verfügai im Stande ist. Dieses letztere aber in fremde Hände und zwar in solche kommen zu lassen, die es für die besonderen Zwecke der römischai Kurie und zum Nachtheile meiner Kirche verwenden können, wird er wohl selbst nicht von mir verlangai und solches ... zu verhindern, erachte ich für meine Pflicht, und vor meinem Gewissen, vor meiner Kirche und dem Andenken an meine Altern, welche dieses Erbgut zu großem Theile im guten Glauben an Gott, unter vielen Sorgai errungen habai, würde ich es nicht zu verantworten vermögen, w e n n idi eine derartige Verwandlung nicht möglichst verhindern würde."13

13

Stadtarchiv Augsburg, AK 7, Nr. 126.

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Interessanterweise gelang dai protestantischen Unternehmern eine geschickte Instrumentalisierung der kirchlichen Bindung der katholischen Unterschichten im Sinne sozialfriedlichen Verhaltens. Als in den 1850er Jahren sich in kirchlichen Kreisen und der katholischen Presse die Kritik an den sozialen Zuständen in Folge der Industrialisierung und an der Verletzung des Sonn- und Feiertagsgebotes mehrte, man vom „Krebsschaden unserer Zeit",14 „Bekenntnisopfer an den Götzen der gemeinsten Habsucht"1' sprach, die „reichen Aktionäre" bei der Einführung einer „Kaste, die sich von der nordamerikanischen Sklaverei nur wenig" unterscheide,16 am Werke sah, konnten die Unternehmer durch diskrete Zurückhaltung und direkte Intervention beim bischöflichen Ordinariat die Wogen glätten. Die Auseinandersetzung überließ man der liberalen Presse, die der Gegenseite „ächt communistisch (e)" Verhetzung entgegenhielt17 und es verstand, die arbeitsrechtliche und soziale Frage in eine parteipolitische umzufunktionieren und sich geradezu als Wohltäter der Fabrikarbeiter, deren Lebensunterhalt es gegen die Machtansprüche der römischen Kirche zu sichern gelte, darzustellen. Da Kirche wie Unternehmer kein Interesse an einer sozialen Mobilisierung hatten, schlief die Auseinandersetzung bald wieder ein. In der Gemeindepolitik läßt sich seit den 70er Jahren ein mäßigender Einfluß von Industrie und Banken auf die scharf kirchen- und religionsfeindliche liberale Gemeindepolitik unter Bürgermeister Fischer feststellen.1* Theodor Häßler19 formulierte 1898 als Mitglied des 14

Augsburger Stadt- und Landbote, Nr. 91 v. 1.4.1857. Augsburger Postzeitung, Nr. 93 v. 4.4.1857. 16 Zitiert nach Augsburger Anzeigeblatt, Nr. 109 v. 21.4.1857. 17 Bd. Nr. 110 v. 22.4.1857; vgl. Fassl, Konfession, S. 274-275. 18 Ludwig Alexander Fischer (1832-1900), liberaler Landtags- und Reichstagsabgeordneter, wurde 1862 zum 2. Bürgermeister gewählt und war von 1866-1900 erster Bürgermeister von Augsburg mit dominantem Einfluß auf die Gemeindepolitik. Im Zusammenspiel mit dem ebenfalls liberalen Regierungspräsidenten Winfrid von Hermann (1870-1887) konnte er in der Ära Lutz über das königliche Nominationsrecht bei Pfarreien und Domkapitel und das Vereinsrecht einen starken Einiluß auf das kirchliche Leben ausüben. Durch abfallige Bemerkungen über katholische Glaubensvorstellungen war bereits seine Bestätigung als Bürgermeister heftig umstritten. Vgl. Bay. Hauptstaatsarchiv München, Minn, Nr. 55000, 54955; Peter Fassl, Die Errichtung der Arbeiterpfarrei St. Josef in Augsburg, in: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 16 (1982), S. 224-267. 19 Theodor Häßler (1828-1901) kam über die Maschinenfabrik Augsburg, Baumwollspinnerei Kolbermoor zur Baumwollspinnerei am Stadtbach, deren langjähriger Direktor er seit 1868 war. Häßler war einer der führenden deutschen Textilindustriellen, zuletzt als stellvertretender Vorsitzender des Centralvereins deutscher 15

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evangelischen Bundes bei dai Auseinandersetzungen um die Canisiusenzyklika eine Versöhnungsresolution, der SWA-Direktor Groß trat 1895 dem Komitee für innere Mission bei „in der Voraussetzung, daß dem Comité der nötige Einfluß gesichert und ein Hauptaugenmerk auf die Verhältnisse der Arbeiter und ihrer Familien gerichtet" werde.20 Die kirchliche Kapitalismus-Liberalismuskritik verblieb demgegenüber abstrakt und im Theoretischen und trat hinter dai Kampf gegen dai Sozialismus zurück. Der katholische und evangelische Arbeiterverein gaiossen die Unterstützung der Industrie, ihr wirtschaftsfriedlicher Kurs bildete die geistige Grundlage der antigewerkschaftlichen Arbeitervereinigungen der 90er Jahre, die in Augsburg sonst nicht bekannte Bedeutung erlangtai. Religiosität und Wirtschaft, Bibel und Kattun, wie Zorn die Haltung der Unternehmer nannte, bildeten auch in dieser Form noch eine erfolgreiche Einheit.21

4. Die Juden Nach 1803 hatte die Reichsstadt Augsburg, die ihre Juden im 15. Jh. vertrieben hatte, aus finanziellai Gründen drei jüdischen Bankiers gegen eine jährliche Gebühr von 1.350 fl. und zwei Darlehen von 500.000 fl. das Bürgerrecht verliehen. Bei der Aufstellung der Judenmatrikel 1813 lebten in Augsburg 6 Bankiers, 5 Kaufleute, ein Garkoch und ein Privatier. Bis in die 1850er Jahre wuchs die jüdische Gemeinde nur gering (1851: 16 Familien, 72 Personen), danebai dem gesetzlichen Matrikelzwang auch die städtische Bevölkerung aus wirtschaftlichen und religiösen Gründen eine restriktive Niederlassungspolitik einschlug. Erst zu Beginn der 1850er Jahre begann sich vor allem in den führenden Wirtschaftskreisen diese Haltung gegen den Widerstand des gewerblichai Mittelstands zu ändern. Die Haltung des Industrieller. 1893 wurde er zum Reichsrat ernannt, 1897 erhielt er den persönlichen Adel. Vgl. Friedrich Häßler, Theodor Ritter von Häßler 1828-1901, in: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben, Bd. 9, München 1966, S. 325-383; Stadtarchiv Augsburg, Nachlaß Häßler, Kasten 33. 20 Stadtarchiv Augsburg, SWA - Archiv: Aufsichtsratsprotokoll v. 12.7.1895. Ferdinand Groß war von 1893-1907 Direktor der Mechanischen Baumwollspinnerei und Weberei Augsburg, des größten Textilbetriebs in der Stadt. 21 Fischer, Industrialisierung, S. 270-274, 293-299; Fassl, Kirche und Arbeiterschaft, S. 128-167; Stadtarchiv Augsburg, Nachlaß Häßler, Kasten 33; Archiv der Industrie- und Handelskammer Augsburg, Kassenbuch des Industrievereins Augsburg.

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Wirtschaftsliberalismus formulierte 1856 der Großhändler und spätere Bankier Moritz Heymann gegen den zunächst ablehnenden Niederlassungsbescheid: „Was die Regierung unter dem Prinzip der Stetigkeit des gewerblichen Lebais versteht, ist mir nicht Idar, denn idi war bisher immer der Ansicht, daß das Prinzip des Handelslebens (ich bin Kaufmann, nicht Handwerker) nicht die Stetigkeit, sondern vielmehr die Beweglichkeit sei."22 Damit war der Bann gebrochen. Die Zahl der jüdischen Einwohner stieg von 128 1852, 449 1867, 1.156 1895, stagnierte aber dann. 1910 zählt man einschließlich der eingemeindeten Vororte 1.212 jüdische Einwohner, etwa 1% der Bevölkerung. Die kleine Augsburger jüdische Gemeinde war insgesamt wohlhabend, die israelitische Armenkasse wurde „zumeist für Durchreisende" benötigt.23 Am stärksten war die wirtschaftliche Stellung der Juden im Handel, gefolgt vom Bankwesen, am geringsten die der Industrie, da hier die wesentlichen Strukturen bereits in den ersten beiden Dritteln des Jahrhunderts gelegt waren. Von 244 Bankiers im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert waren 70 Juden. Seit 1875 gab es gleich viele jüdische und christliche Bankiers. Die führenden Häuser waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Jakob, Isidor und Johann Jakob Obermayer, nach 1850 Heymann, Rosenbusch, Bühler, Gerstle, Klopfer, Flesch und Schloß. Auf die Industrie hatten diese Banken verhältnismäßig wenig Einfluß, Ausnahmen waren die Neue Augsburger Kattunfabrik (ab 1880), Zwirnerei und Nähfadenfabrik Augsburg, Weberei am Mühlbach und die Brauereien Vogtherr, Prinz Carl und Kronenbräu. 52 jüdische Industrielle sind bekannt, vor allem in der Textilkonfektion, bei Spezialgeweben, der Textilausrüstung, dann der chemischen Industrie. Während der jüdische Anteil bei dai Banken ab den 70er Jahren auf knappe 50% geschätzt werden kann, lag er bei der Industrie höchstens bei 15%. Am größten war die Bedeutung der Juden aber zweifellos im Handel und Großhandel mit mindestens 160 Kaufleuten seit 1870. Schwerpunkte bildeten der Textilhandel mit 47 Firmen, gefolgt von Kolonialwarm, Leder, Vidi- und Hopfenhandel, Manufakturenwaren, wobei hier die gute Verbindung zum flachen Land mit ausschlagge22

BayHStAM, 5130. Siehe Anm. 9. Richard Grünfeld, Ein Gang durch die Geschichte der Juden in Augsburg. Festschrift zur Einweihung der Synagoge in Augsburg am 4. April 1917, Augsburg 1917, S. 72.

23

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bend war. Der jüdische Anteil kann in diesai Branchen auf 75 und mehr Prozent geschätzt werden. Die Juden kamen zum überwiegenden Teil aus Augsburg und Umgebung sowie aus Schwaben und waren damit in der Zusammensetzung homogener als die gesamte Einwohnerschaft, von der im Jahre 1900 nur 37% in Augsburg und Schwaben geboren waren. Der Tendenz nach läßt sich sagen, daß von Augsburg aus eine Sogwirkung auf das wirtschaftlich gehobene Judentum in dai übrigen schwäbischen Gemeinden ausging. 5. Unternehmer, Politik und öffentliche Meinung Die Frage der Einflußnahme der Wirtschaft auf politische Entscheidungen gewann im 19. Jahrhundert durch die Industrialisierung, die effektivere administrative Durchdringung und Erfassung der Bevölkerung, die Gründung des Zollvereins und die Verfeinerung des wirtschaftspolitischen Instrumentariums eine neue Dimension. Die Thematik ist letztlich nur schwer zu begrenzen, sie reicht von der Gutachtertätigkeit und Petitionen der Handelsstände der größeren Städte, der Gewerbevereine, Handelskammern einzelner Unternehmer, der Beeinflussung und Gestaltung der öffentlichen Meinung, der politischen Vertretung in der Kommunalpolitik, im Landtag und Reichstag bis zur persönlichen Einflußnahme und der Interessenkoinzidenz durch verwandtschaftliche Verbindungen und wirtschaftliche Beteiligungen von Beamten an Unternehmen. Noch schwieriger ist es schließlich, im Einzelfall die wirtschaftliche Einflußnahme auf politische Entscheidungen und Verwaltungsmaßnahmen nachzuweisen. Häufig muß man sich dabei als Behelf mit dem Hinweis auf äußere Merkmale, wie politische Vertretung und Kontakte, gesellschaftliche und verwandtschaftliche Beziehungen begnügen, wodurch natürlich die Frage nach der Durchsetzung wirtschaftlicher Interessai im öffentlichen Leben nur unscharf beantwortet ist, da es letztlich unklar bleibt, auf welche Weise die wirtschaftspolitische Meinungsbildung zustande gekommen ist. Da das Gemeindewahlrecht das gehobene Bürgertum begünstigte, waren Handel, Banken und Industrie in der Bürgerschaftsvertretung stark repräsentiert, allerdings mit einem deutlichen Nachlassen gegen Ende des Jahrhunderts; die wirklichen Machtverhältnisse lassen sich daran allerdings noch nicht ablesai. Bei dai Bürgermeisterwahlai setzte sich mit dem Appellationsgerichtsrat Carrón du Val (1835-

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1847) nur einmal ein von der Führungsschicht unterstützter Kandidat durch, der wegen seines ausgleichenden Wesens und seiner juristischen Kenntnisse von allai Bürgern akzeptiert und auch einstimmig gewählt wurde. Barth (1822-1834) und Forndran (1847-1865) waren die Kandidaten der mittelständischen Katholiken, ihre Wahl konnte von der protestantischen Oberschicht trotz diskreditierender Eingaben an das Innenministerium nicht verhindert werden. Mit Bürgermeister Fischer (1866-1900) gelangte der kleindeutsch-kulturkämpferisch orientierte, eher linke Nationalliberalismus an die Macht, der bei der Landtagswahl 1863 scharf gegen dai von der Großfinanz getragenen Wahlkampf der Großdeutschen wetterte und dem es sogar gelang, Teile der Arbeiterschaft zu gewinnen. Unter Fischer wurde Volk gegen dai IHK-Präsidaiten Hertel als Zollparlamaitskandidat der Liberalen aufgestellt, eine bewußte Entscheidung für eine nationale und gegen eine einseitig wirtschaftliche Interessaispolitik. Fischer äußerte sich bereits bei den ersten Streikbewegungen sdir negativ über Teile der Augsburger Industrie und erreichte 1889, durch eine Art Überraschungscoup, die Reduzierung der Arbeitszeit in der Textilindustrie von 12 auf 11 Stunden, was bei einem Teil von Industrie und Banken auf allerhöchste Verärgerung stieß. Die „ganze Haute-finance" glänzte bei seinem 25jährigen Amtsjubiläum 1888 durch Abwesenheit, da man „eben keinen Schutzzoll" mehr benötigte.24 1891 gab er in einem Brief an den ehemaligai Regierungspräsidenten von Schwaben folgende Beschreibung der wirtschaftlichai Führungsschicht, die im wesentlichen repräsaitativ für weite Teile des Bürgertums, vor allem des Bildungsbürgertums, gewesai sein dürfte: „Hier widert mich an, daß ich immer in der Gemeindevertretung auf Individuai stoße, welche ein Gemeindeamt suchen und behaltai, weil es die Möglichkeit gewährt, persönliche Vermögensinteressen zum Schaden der Gesamtheit geltaid zu machen. Diese Clique haßt mich, denn sie kann mir mit gutem Grunde vorwerfen, daß ich ihrer Beutegier entgegentrete, wo ich kann. Vom Volke wird die Clique Bruderschaft zum heiligen Geldsack gaiannt und diese Bruderschaft wird uns hier, wenn man sie nicht rechtzeitig unterkriegt, bald eine sozialdemokratische Bevölkerungsmehrheit großziehen."25 Fischers Nachfolger wurde der Münchner Verwaltungsjurist Wolfram gegen den von Finanzkreisen favorisierten Führer der Liberalen im Landtag Casselmann. Wolfram suchte in sozialpolitischen und arbeitsrechtlichai Fragen eine neutrale 24 25

Privatarchiv von Hörmann, Augsburg: Schreibai v. 22.5.1891. Ebd.

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Haltung einzunehmen und genoß allgemeines Ansehen. Die Komplexität der Beziehungen zwischen Politik und Wirtschaft wird aber weder durch den Hinweis auf die distanzierte Haltung der Kommunalspitze, noch etwa auf hervorragende Industrielle in der Bürgerschaftsvertretung und der Industrie nahestehende Ratsreferenten deutlich, sondern nur durch eine detaillierte Erhebung wirtschafts- und sozialpolitischer Entscheidungsprozesse und des dabei vorhandenen Handlungsspielraums. Am Beispiel der Mechanischen Baumwollspinnerei und Weberei (= SWA) läßt sich nun für die ersten zwei Jahrzehnte ihres Bestehens, von 1840-1860, das facettenreiche Bild einer mit Sorgfalt und Kontinuität betriebenen Pflege der politischen Landschaft und der Öffentlichkeit aufzeigen, deren methodische und organisatorische Modernität überrascht. Ihre Unternehmenspolitik hatte in diesem Bereich insofern eine besondere Bedeutung als die SWA der größte Betrieb in Augsburg war, mit 1,2 Mio. fl. Kapital 1837 die größte industrielle Aktiengesellschaft in Bayern bildete, und ihr damit die Rolle eines politischen Wegbereiters für die Industrialisierung, zumindest im schwäbischen Raum zukam. Zugeständnisse und Freiheiten, die der SWA gewährt wurden, konnten anderen Firmen nicht verweigert werden. Das Gründungsprogramm wurde von dem Initiator, dem Bankier Ferdinand von Schaezler im Innenministerium 1837 mit der Bemerkung eingereicht, daß das Unternehmen „vielen Menschen Beschäftigung und Unterhalt" geben und daher „mit Recht ein gemeinnütziges"26 genannt werden könne - der Hinweis auf die arbeitsmarktpolitische Bedeutung sollte später bei sämtlichen Gesuchen der Industrie als eine Art Standardformulierung begegnen. Grundlage des wirtschaftspolitischen Erfolgs der SWA bildete die private Interessenverquickung zwischen Politik und Wirtschaft durch Beteiligungen von städtischen und Regierungsbeamten an der SWA und die starke Repräsentanz der wirtschaftlichen Führungsschicht der Stadt im Kollegium der Gemeindebevollmächtigten und im Magistrat. Bei der ersten Aktionärsversammlung im Rathaus wurde Bürgermeister Carrón du Val, der einer bayerischen Beamtenfamilie entstammte und mit einer Augsburger Bankierstochter verheiratet war, zum Ausschußvorsitzenden gewählt, Stadtkämmerer Tröltsch gehörte dem Ausschuß von 1837-1854 an. Carrón du Val hatte bereits bei der Errichtung der Eisenbahn von Augsburg nach München eine führende Rolle eingenommen. Ihm kam für die Industrialisierung und den wirt26

BayHStAM, MH 6577. Vgl. Fassl, Konfession, S. 262-275.

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schaftlichen Aufschwung Augsburgs eine ähnliche Bedeutung zu wie dem Nürnberger Bürgermeister Johannes Scharrer. Aus dai Aufsichtsratsprotokollen der SWA geht ein sdir einfühlsames Eingehen auf gesellschaftliche und standesgemäße Befindlichkeit (Militär, Beamtenschaft) hervor, durch das es gelang, die städtische Wirtschaftspolitik im Sinne des Unternehmens zu steuern, etwa bei neuen Konzessionen, der Frage des Handwerkerschutzes (Weber), Arbeitszeit, Kinderarbeit, Sonn- und Feiertagsarbeit. Der Handlungsspielraum der Stadt war letztlich dadurch begrenzt, daß die SWA mit 1.000-1.100 Arbeitern, ca. 10% aller Erwerbstätigen in der Stadt, eine wirtschaftliche Bedeutung hatte, auf deren Gewicht von der Unternehmensleitung bei Auseinandersetzungen natürlich hingewiesen wurde, „wobei es sich", wie der Direktionsvorsitzende Friedrich Schmid mit aller Befriedigung feststellen konnte, „gezeigt habe, daß von Seite des Magistrats merklich billigere Bedingungen erlangt werden konnten, woran wohl auch der Umstand mit Ursache seyn dürfte, daß der Magistrat vermeiden wollte, bei dei jetzigen schwierigen Zeiten zur Schmälerung des Verdienstes unserer Arbeiter augenfällig beizutragen."27 Der Drohung von Arbeiterentlassungen konnte die Stadt nichts entgegensetzen, zumal sie deren Folgen durch die Belastung der Armenkasse allein zu tragen hatte. Seit der zweiten Hälfte der 50er Jahre verloren Stadt, Militär und Regierung für die Untemehmenspolitik an Bedeutung. Städtische Beamte und Regierungsräte verschwinden aus der Unternehmensleitung, die eigene Stellung und ihre Berücksichtigung durch die lokale und regionale Politik wird als gesichert angesehen. Die starke und nahezu unantastbare Stellung der SWA - und mit Abstrichen der übrigen Industriebetriebe - wäre wohl nicht möglich gewesen ohne einen nach und nach von der Industrie erarbeiteten, breiten bürgerlichen Konsens, der von konservativen Katholiken bis zu liberalen Protestanten reichte. Kennzeichnend für die Frühgeschichte der SWA als dem größten Unternehmen in der Stadt war die Öffentlichkeit fast eines jeden Ereignisses innerhalb wie außerhalb der Fabrik. Über Schaezlers Audienz beim König berichtete drei Tage später das Augsburger Tagblatt, die erste Aktionärsversammlung fand im Rathaus statt, zur Eröffnung des Betriebs im August 1840 wurden die Spitzen der Gesellschaft, von der Regierung bis zum Klerus, gela27

Stadtarchiv Augsburg, SWA-Archiv: Ausschußprotokoll v. 30.4.1847.

Wirtsdiaftlidie Fühnmgsschichtai io Augsburg

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dai. Nodi der kleinste Vorfall in der Fabrik war Stunden später Stadtgespräch und stand häufig am folgenden Tag im Lokalblatt. Für die Unternehmensleitung spielte daher von Anfang an die Rücksicht auf die öffentliche Meinung eine wichtige Rolle. So versuchte man in den ersten Jahren die Gründung der SWA als Beispiel und als Ausfluß Augsburgischen Lokalpatriotismus darzustellen und eine Identifikation des Bürgertums mit der Industrialisierung als dem Weg Augsburgs ins 19. Jahrhundert zu erreichen. Die Haltung des bürgerlichen Mittelstands gegenüber der Arbeiterschaft war wie im 18. Jahrhundert eher skeptisch zurückhaltend bis negativ. Die Unterstützung der Arbeiterschaft durch die SWA, die in den ersten 15 Jahren allerdings nur marginalen Charakter hatte, diente einerseits der Heranbildung eines festen Arbeiterstammes, geschah aber andererseits immer auch im Blick auf die Öffentlichkeit, die, wie Bürgermeister und Stadtkämmerer ausführten, ein Interesse an der „Moralität", dem „Geist der Ordnung" und dem „gesetzlichen Verhalten" der Arbeiter hatte.2' Man beobachtete in der Stadt sdir sorgfältig, was die größte Fabrik für ihre Arbeiter tat. So konnte die Direktion zum Bdspiel das Unterstützungsgesuch der städtischen Kindergärten, die überwiegend von Arbeiterkindern besucht wurden, gar nicht ablehnen, da in deren Vorstandschaft ausschließlich Damen der höheren Gesellschaft saßen. Als in den Teuerungsjahren verschiedene Fabrikanten ihre Arbeiter mit verbilligten Lebensmitteln zu unterstützen begannen, mußte auch die SWA etwas für ihre Arbeiter tun, und als 1848 selbst kleine Spinnereibesitzer wie Rugendas ihre einheimischen Arbeiter weiter beschäftigten, konnte auch die SWA ihre Arbeiter nicht ohne weiteres entlassen. Die Unternehmensleitung nahm Rücksicht auf eine gewisse soziale Harmonie und versuchte unnötige und aufsehenerregende Härten zu vermeiden. Erfolg hatten die betrieblichen Sozialmaßnahmen insofern, als sowohl von dai tonangebenden Lokalblättern wie der Stadt und der Regierung die „ruhige und ehrenwerte Haltung der Arbeiterschaft"29 hervorgehoben und ausnahmslos positiv über die SWA berichtet wurde, ja sogar der Eindruck vermittelt werden konnte, daß die Fabrikanten „den Arbeiter und den Gewerbetreibenden unumgänglich

28

Stadtarchiv Augsburg, SWA-Archiv: Generalversammlungsprotokolle 1844, 1846, 1849. 29 Ebd.: Ausschußprotokoll v. 2.2.1855.

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Peter Fassl

notwendig bedürfen" und daher alle Klassen der Bevölkerung „so innig zusammenhängen)".30 Da der SWA bis in die 50er Jahre mit Abstand das meiste Interesse in der Öffentlichkeit entgegengebracht wurde, kam ihr eine Art meinungsbildende Rolle zu. Wirtschaftlich weniger erfolgreiche Unternehmen und sozialpolitisch schwarze Schafe unter den Industriellen traten dagegen kaum ins Bewußtsein der Öffentlichkeit. Ohne die sehr vorsichtige und auf breite Akzeptanz angelegte Unternehmenspolitik der SWA wäre wohl die industrielle Gründungswelle der 50er Jahre, die Augsburg an die Spitze der Industrialisierung in Bayern führte, nicht möglich gewesen. In der Folgezeit wurde das betriebliche Unterstützungssystem ein Kennzeichen der führenden Augsburger Firmen und damit, in der öffentlichen Meinung, der gesamten Augsburger Industrie. Der materielle Vorteil für die Arbeiter war in der Tat erheblich, die Aufwendungen übertrafen zum Teil die gesetzlichen Leistungen und entsprachen einem Verzicht der Aktionäre auf 2-3% Dividende. Der Nutzen für die Industrie lag in einer wohldisziplinierten, ruhigen und hochqualifizierten Arbeiterschaft, die bis 1914 die Basis für eine ungebrochene Prosperität der Unternehmen mit einem Dividendenschnitt von 10-15% bildete. Gerade zeitgenössische Fachleute wiesen auf diesai Zusammenhang immer wieder hin. Weniger finanzstarke Unternehmen, die sich diese Extras nicht lei stai konnten, klagten dagegen über Mangel an guten Arbeitskräften. Die Sozialdemokraten hatten es daher lange Zeit schwer, bei der zum Teil betriebsstolzen Arbeiterschaft Gehör zu finden. Die Ursachen für dai Auf- und Ausbau der betrieblichen Sozialeinrichtungen sind mannigfaltig, betrieblich und branchenmäßig verschieden. Abgesehen von der Kosten-Nutzen-Rechnung begegnet man einem sozialen Verantwortungsgefühl, das zum Teil aus religiöser, verbunden mit patriarchalischer Gesinnung erwuchs, zum Teil aus einem Gemeinsinn als Erbe der reichsstädtisch republikanischen Vergangenheit resultierte. Waren beide Momente verblaßt, so hielt man sich dennoch mit einem gewissen Stolz auf die Vergangenheit an die überkommene Praxis. Vereinzelt treffen wir Aufsteiger aus der Unterschicht, die sich ihrer ursprünglichen Klasse weiterhin verbunden fühlten, gegen Ende des Jahrhunderts begegnen wir humanistisch gesinnten Freimaurern und modernen Industriellen, für die Sozialpolitik einen integrierten Be30

BayHStAM, Minn 54349: Bericht des Regierungspräsidenten von Schwaben, Freiherrn Emst von Lercheilfeld, über den gesellschaftlichen und politischen Charakter der Stadt Augsburg v. 13.2.1864.

Wirtschaftliche Fühnmgsschiditai in Augsburg

241

standteil der Unternehmenspolitik bildete und die sich, wie etwa Ferdinand Groß, 1893-1907 Direktor der S WA, von einer Verweigerungspolitik, wie sie im Centraiverband deutscher Industrieller praktiziert wurde, distanzierten. Am wenigsten sozialpolitisches Engagement zeigten zugereiste Unternehmer aus der Oberschicht. Die Anstöße für betriebliche Unterstützungen gingen vielfach vom technischen Direktor aus, der einerseits die genauesten Personalkenntnisse hatte, andererseits, wie das Beispiel Riedingers, Friedrich Firnhabers (Kammgarnspinnerei) und Feßmanns, 1882-1905 technischer Direktor der SWA, nahelegen, sich nicht nur als Vertreter der Unternehmensseite, sondern auch als erster Arbeiter fühlte. Dem sozialen Engagement der Unternehmen für ihre Arbeiter, das man unter dem Begriff rückstrahlender Wohlfahrt sehen kann, korrespondierte ein auffallendes Nachlassen des Gemeinsinns, das sich in dem gravierenden Rückgang der gemeinnützigen Stiftungen und der freiwilligen Armenunterstützungsbeiträge niederschlug, die beide weit unter das reichsstädtische Niveau sanken. In der Reichsstadt entsprach es guter bürgerlicher Tradition, der sich am Ende des 19. Jahrhunderts die eingesessenen Familial durchaus nodi verpflichtet fühlten, das Andenken an eine bedeutende Persönlichkeit, dai Dank für ein erfolgreiches Leben, durch eine großzügige Stiftung zum Wohle der Allgemeinheit zu manifestieren. Kein einziger seit Beginn der Industrialisierung zugewanderter Bankier oder führender Industrieller hinterließ der Stadt eine nennenswerte Summe, selbst Fabrikstiftungen blieben selten. Unter den von Martin angeführten Millionären befand sich kein einziger Stifter. Die mei stai Stifter kamen aus dem eingesessenen Bürgertum, häufig Gewerbetreibende und auch Leute, die sich aus einfachsten Verhältnissen emporgearbeitet hatten und keine direkten Nachkommen hinterließen.31 Man kann dieses Defizit der wirtschaftlichen Führungsschicht als Verlust an Bürgerlichkeit, sozialer Verantwortung und Solidarität, persönlicher und politischer Bodenständigkeit interpretieren. 6. Gesellschaftliches und privates Leben Für Unternehmer und Fabrikanten, deren Tätigkeit das Leben tausender Menschen bestimmte und deshalb uneingeschränkt das Augenmerk 31

Anton Werner, Die örtlichen Stiftungen für die Zwecke des Unterrichts und der Wohltätigkeit in der Stadt Augsburg, Augsburg 1899.

242

Peter Fassl

der Öffentlichkeit auf sich zog, gab es in der Frühzeit der Industrialisierung nur ansatzweise eine Trennung von öffentlichem, beruflichem und privatem Leben. Die Familie war in dai Arbeitsprozeß in verschiedener Weise integriert, Haus und Betrieb bildeten vielfach eine verlängerte Einheit. Audi bei industriellen Neugründungen wurden Direktoren- und Fabrikantenvillen mitten in das Fabrikgelände gesetzt, gleich Schlössern und Residenzen, die ja audi nicht außerhalb ihres Herrschaftsbereichs lagen. Typischerweise war der erste Unternehmer, der sich von diesem Schema mit einem modernen Stadtpalast löste, der aus einfachen Verhältnissen stammende Riedinger. In der Regel wohnten aber bis zum Ersten Weltkrieg die Fabrikanten in der Nähe ihrer Betriebe. Gerade in der Architektur der Industriebauten läßt sich die starke gesellschaftliche Bindung der Industriellen und Bankiers zu ihrer Stadt ablesen. Bereits in vorindustrieller Zeit errichtete Johann Schüle 1766-1772 eine schloßartige Dreiflügelanlage mit reich gegliedertem Kopfbau vor den Toren der Stadt. Die ersten Spinnerei-Weberei-Hochbauten ab 1836 (bis ca. 1870) waren schlicht, aber doch mit bewußten Zierelementen an Fenster, Traufe und Giebel, durchaus audi baulich der Stolz der Bevölkerung, wie in zeitgenössischen Lithographien dargestellt wurde. Ab den 1870er Jahren bis 1910 entstanden aufwendige Fabrikschlösser in unverputzter Klinkerbauweise mit überbordenden hi stori sti sehen Zierelementen, geplant von renommierten Architekten, stolze Repräsentationsbauten, die heute zu den vorzüglichsten Industriedenkmalen in Deutschland zählen. Mit dem Glaspalast der SWA von Manz wurde 1910 ein moderner Stahlskelettbau errichet, der die Architekturauffassung der Moderne (Behrens) widerspiegelt. Alle diese Bauten wurden mit großer gestalterischer Sorgfalt geplant und ausgeführt und sind als Zeichen der Verbundenheit mit der städtischen Geschichte und Baukultur, die man im Sinne des Fortschritts und der Modernität anspruchsvoll weitergestalten wollte, zu werten.32 Auch die zahlreichen Firmenfestschriften, Chroniken, Firmenfeste und Jubiläen, die selbst bd kleinen Unternehmen regelmäßig auf das feierlichste, mit großzügigen Geschenken an die Arbdter, begangen wurden, können als Zeichen der Firmenverbundenheit gewertet werden. Mit dieser betriebsintemen Traditionspflege und Selbstdarstel32

Wilhelm Rückdeschel, Technische Denkmale in Augsburg, Augsburg 1984; Mechtild Berger/Astrid Debold-Kritter, Das Ortsbild von Augsburg. Historischtopographische Beschreibung einer Großstadt. Bestandsaufnahme von Siedlungsund Baukultur. Grundlagen zur Stadtgestaltungsplanung, Augsburg 1989.

Wirtschaftliche Führungssdiichteii in Augsburg

243

lung war zweifellos audi eine soziale Dimension verbunden. Aus der inneren Verbundenheit mit dem Betrieb, die audi bei Kapitalgebern von Aktiengesell Schäften feststellbar ist, folgte, daß man sich in Krisenzeiten bereit fand, schwachen Unternehmen durch Kapitalschnitt und Neudotation wieder auf die Beine zu helfen, statt sie zu liquidieren. Gesellschaftlich folgte aus dieser Nähe zum Unternehmen eine gewisse Ungezwungenheit im Umgang mit dai Arbeitern. Nach bürgerlich-kaufmännischer Tradition wurden Standesunterschiede in erster Linie auf Grund von Leistung und Geld anerkannt. So bemühte sich Johann Lorenz Schaezler (1762-1826) zwar um seinen Freihermtitel, um der adeligen Gesellschaft gleichgeachtet zu werden, seinem Bürgerstolz mißfiel es aber dann, daß man ihn nur noch als Baron, nicht mehr als Finanzrat anredete, da das eine auf Leistung, das andere aber nur auf Gnadenerweis beruhe.33 Forster, der fuhrende Industrielle in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, lehnte 1848 die Reichsratswürde ab, worauf ihm die Augsburger Presse bescheinigte, „seine hohe Bürgertugend" habe die „Feuerprobe" bestanden.34 Dai ihm später verliehenen persönlichen Adel führte er genausowenig wie Riedinger. Gegen Ende des Jahrhunderts verblaßten diese bürgerlichen Traditionen. Zur Verleihung des Adels an den Bankier Schmid, bemerkte ein Enkel Forsters, sein Vetter sei „damit wieder eine Stufe über das gewöhnliche Volk emporgehoben" worden.35 Das gesellige Leben der wirtschaftlichen Oberschicht spielte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts fast ausschließlich im Familienkreis ab. Privatgesellschaften waren dem eigenen Berufsstand vorbehalten, die Aufnahme geschah durch Empfehlung. Schaezler wehrte sich 1808 gegen dai Zutritt bayerischer Beamter mit dem Argument, „daß der Commis und der Stadtkommissär in gleichem Verhältnis stehe: jeder diene für Sold; der Kaufmann allein sei der selbständige Mann".36 Der anfangliche antibayerische Affekt mit der Hoffnung auf eine Wiederherstellung der Reichsfreiheit legte sich erst mit dem Wiener Kongreß 33

Vgl. Wolfgang Zorn, Johann Lorenz und Ferdinand Benedikt von Schaezler, in: Lebensbilder aus dem bayerischen Schwaben, Bd. 3, München 1954, S. 369-388; ders. Handelsgeschichte, S. 310-342. 34 Augsburger Tagblatt, Nr. 108 v. 17.4.1848. Vgl. Peter Fassl, Karl Ludwig Forster, in: R.A. Müller (Hrsg.), Unternehmer - Arbeitnehmer, S. 177-185. 35 Schreiben von Alfred Forster v. 12.1.1908 im Besitz vom KG., Augsburg. 36 Zit. nach Werner K. Blessing, Staatsintegration als soziale Integration. Zur Entstehung einer bayerischen Gesellschaft im frühen 19. Jahrhundert, in: ZBLG 41 (1978), S. 640.

244

Peter Fassl

und dem Erlaß der Gemeindeordnung, die von allai Schichten mit Jubel begrüßt wurde. Die führenden Häuser begannen nun die Spitzen der Stadtverwaltung, Regierung und des Militärs regelmäßig einzuladen, ohne daß diese gesellschaftliche Anerkennung schon eine Gleichstellung bedeutet hätte. Bürgerliches Gewerbe brachte mehr, konnte vererbt werden und hatte audi am Ende des Jahrhunderts noch einen höheren Stellenwert als der Staatsdienst. Regierungspräsident von Hörmann gab 1889 seiner „hohen Freude" Ausdruck über die Vermählung seines Sohnes, eines Leutnants, mit einem Mitglied aus der „hochgeschätzten Familie" Forster, 50 Jahre früher hatte der alte Forster eine ähnliche Verbindung noch verhindert.37 Außer im privaten Kreise trafen sich das liberale Bürgertum, Kaufleute, Bankiers, Rechtsanwälte, gehobene Gewerbetreibende, seit dai 30er Jahren auch Juden, in Lese- und Geselligkeitsvereinen. Bereits zu dieser Zeit läßt sich allerdings eine Abgrenzung gegenüber konservativen Katholiken feststellen, die zu den Kreisen der protestantischen Oberschicht keinen Zutritt fanden. Seit den 60er Jahren erhalten dann die Ultramontanen, zu denen alle zählten, die sich über den Gottesdienstbesuch hinaus für die Kirche oder den politischen Katholizismus engagierten, den gesellschaftlichen Status von Parias. Katholische Unternehmer wurden nur akzeptiert, wenn sie der liberalen Partei angehörten oder sich ganz vom poltischen Geschehen fernhielten. Im letzten Drittel des Jahrhunderts scheint sich die gesellschaftliche Verbundenheit von Bildungsbürgertum und wirtschaftlicher Führungsschicht im Zuge aufkommender Kapitalismuskritik und divergierender politischer Interessen aufzulösen. Im Gästebuch der Papierindustriellen Haindl von 1896-1902 begegnen neben Politikern und Militärs praktisch nur mehr Wirtschaftsfuhrer.3' So glänzend, kostbar und reich die Bälle, Diners und Soupers gestaltet wurden, so bescheiden war die tägliche Lebensführung. Die Frau besorgte den Haushalt, kochte, und machte für den Winter ein. Persönlicher Luxus wurde beargwöhnt, galt als Zeichen von Leichtsinn und Abkommen vom rechten Weg. Die Sozialistin Lily Braun, geborene von Kretschmann, eine Tochter des ersten Aufsichtsratsvorsitzenden der SWA, sprach

37

Privatarchiv von Hermann, Augsburg: Schreiben des Regierungspräsidenten a.D. Winfried von Hörmann an Frieda Forster v. 22.8.1889. Familienchronik Forster im Besitz von H G . , Augsburg. 3% Im Besitz der Familie Haindl, Augsburg.

Wirtschaftliche Fühnrngsschichten in Augsburg

245

von einer „imponierenden Vereinigung von Fleiß, Einfachheit und Reichtum".3' Das engere Familienleben bot daher vielfach das Bild bewußt gehegter und gepflegter Familienidylle mit einem die nähere Verwandtschaft umfassenden Familiensinn. Der Firmengründer erhielt zum Hochzeitsjubiläum eine Silberschale mit einer ziselierten Ansicht der Fabrik, umrahmt von den Portraits seiner Kinder als Garant der Erhaltung seines Lebaiswerks. Waren Betrieb und Familie zu Beginn des Jahrhunderts eine selbstverständliche Einheit, so wurden sie 100 Jahre später, auf Porzellan, Silber und in Öl abgebildet, zu Objekten bewußter Traditionspflege, die dai Bestand beider sichern helfen sollten.40 Schlußbemerkung: Die bereits von Zeitgenossen bemerkte Homogenität der wirtschaftlichen Führungsschichten in Augsburg war im wesentlichen eine Folge der starken Stellung von Handel und Banken bei Beginn der Industrialisierung, die in einigen wenigen Familienverbänden bis zum Ende des Jahrhunderts bewahrt werden konnte. An den Schlüsselstellungen von Industrie und Banken, wirtschaftlichen Interessenverbänden saßen keine zehn Bankiers und Industrielle. Die reichsstädtische kaufmännische Tradition und ihre Lebensformen, Religiosität, die sich gegen Ende des Jahrhunderts in einer optimistischen Fortschrittsgläubigkeit äußerte, bürgerlich-liberaler Geist waren ihre Kennzeichen. Eine eigentümliche Mischung von Modernität und Traditonsverbundenheit sind festzustellen. Vorherrschend waren die Kaufleute nicht - trotz Rudolf Diesel, Riedinger und dem Orthopäden Friedrich Hessing - die Erfinder und wagemutigen Industriellen. Ein wohl berechnender sozialer Sinn und eine, wein auch schwächer werdende Bindung zur Stadt sind festzustellen. Gegen Ende des Jahrhunderts kamen die wirtschaftlichen Anstöße eher von außen, oder sie kamen gar nicht. Die Selbstrekrutierung der Führungsschichten war hoch, vielleicht zu hoch. Insgesamt zeigt sich das Bild einer ohne große Sprünge sich entwickelnden differenzierten Gruppe, deren Kern einen hohen Integrationsgrad besaß. 39 40

Memoiren einer Sozialistin, München 1909-1911, S. 167-168. Jubiläumsgeschenke im Besitz der Familie Haindl in Augsburg.

246

Peter Fassl

Tabelle 1 : Wirtschaftliche Fuhrungsschiditai in Augsburg 1800-1914 nach Konfessionen Handel Anzahl der Personen kath. prot. isr. abs. abs. abs. % % %

Banken Anzahl der Personen kath. prot. isr. abs. abs. abs. % % %

Industrie Anzahl der Personal kath. prot. isr. abs. abs. abs. % % %

106 25,92

41 16,80

204 35,92

143 34,96

160 39,12

409

133 54,51

70 35,92

244

312 54,93

52 9,15

568

Tabelle 2: Jüdische Fiihrungssdiichtai 1800-1814, Herkunft Ort/Gegend Augsburg Umgebung van Augsburg Schwaben-Süd Schwaben-Nord (Lkr. Donau-Ries) Franken übriges Bayern Baden-Württemberg übriges Deutschland Sonstige Summe

Handel 21 38 60 11 13 2 10 4 1 160

Banken 11 16 15 7 11 1 7 2

Industrie 13 3 15 3 1 2 13 2

-

-

70

52

Tabelle 3: Jüdische Führungsschichten, Banken Zeitraum 1800-1825 1826-1850 1851-1875 1876-1914 Summe

Inhaber (Pas.) 13 15 18 67 113

Direktoren (Pers.) -

1 1

Prokuristen (Pers.) -

2 1 4 7

* Die Summe der Personen unterscheidet sich von Tabelle 1, da mehrere Bankiers über die Zeiträume hinweg tätig waren.

Wirtschaftliche Führimgssdiichtan in Augsburg

247

Tabelle 4: Jüdische Fühnmgsschichten, Handel nach Branchen Brandie Textil Kolonialwaren Leder Vieh Hopfen Manufaktur/Warm/Güter Sonstige Summe

Personen 79 14 16 16 10 12 13 160

Firmen 47 10 8 8 55 8 4 90

Tabelle 5: Banken, katholisch/protestantisch Zeitraum 1800-1825 1826-1850 1851-1875 1876-1914 Summe

Direktoren kath. prot.

Inhaber kath. prot. 9 26 2 35 1 29 18 30 30 120

Prokuristen kath. prot. 10 1 23 2 19 9 17 69 12

-

-

-

-

8 8

17 17

Tabelle 6a: Banken, geographische Herkunft (Inhaber/Prokuristen) Ort/ Region Augsburg u. Umgebung Schwaben Franken übriges Bayern Baden-Württemberg übriges Deutschland Österreich u. Bchmen Italien Frankreich Schweiz Summe

1800-1825 kath. prot. 7/10/-/1/-/1/1/-/-/8/3 2/1

1826-1850 kath. prot. -/19/14 2/1 -/1/1 1/-/-/6/5 -/3/1

1851-1875 kath. prot. 25/15 -/I 3/1 -/-/I 1/-

1876-1914 kath. prot. 10/3 19/12 3/1 3/-/I 3/3

-/-

-/-

-/-

-/-

-/I

-/I 2/-

-/I 2/-

3/1/2 -/-

-/-

-/-

-/-

-/-

-/-

-/-

-/-

-/-

1/-

1/-

1/-

2/-

-/-

1/-

1/-

-/-

-/-

-/-

-/-

-/-

-/-

-/-

-/-

-/-

1/1 24/10

-/-

-/-

-/-

2/-

1/1 34/23

-/-

91-

1/2

31/18

18/9

29/17

-/-

Peter Fassl

248

Tabelle 6b: Banken, soziale Herkunft (Inhaber/Prokuristen) Herkunft der Elton Handel/Banken Industrie freie Berufe Handwerk Beamte/Geistliche Landwirtschaft Summe

1800-1825 kath. 31-/-

-/-/-/-

1 /4/-

1826-1850

prot. 10/2 1/1/1/-/I

kath. -/-/-

-/-

kath.

-/-

-/-

-/-

1/1/-

24/8

-/-

13/3

prot. 21/5 1 /1/2 1/1

-/-

1851-1875

-/-

1876-1914

prot. 23/11

-/-

kath. 2/1 1/2

-/-

-/I -/I 4/1

-/-/-

-/I 1/1/1

prot. 18/7 1/-

-/-

5/4/1 1/2 13/6

-/-

27/14

-/4 2/1 -/-

21/12

Tabelle 7: Handel, katholisch/protestantisch Zeitraum 1800-1825 1826-1850 1851-1875 1876-1914 Summe

Inhaber kath. 21 46 48 48 163

prot. 26 58 77 98 259

Prokuristen kath. prot. 1 1 1 2 1 2 4

Tabelle 8a: Handel, geographische Herkunft (Inhaber) Ort/ Region Augsburg u. Umgebung Schwaben Franken übriges Bayern Baden-Württemberg übriges Deutsdiland Österreidi u. Rohmen Italien Frankreich Schweiz Summe

1800-1825 kath. prot. 7 10 1 3 1 3 -

-

-

6

1 1 6 1

-

-

-

18

22

1826-1850 kath. prot. 19 32 5 6 7 1 2 6 2 3 1 12 1 1 44 54

1851-1875 kath. prot. 30 47 7 6 7 3 2 7 1 4 2 3 -

46

-

1 74

1876-1914 kath. prot. 31 60 5 8 5 2 3 2 3 9 3 7 2 2 2 -

48

-

1 94

Wirtschaftliche Führungsschichtai in Augsburg

249

Tabelle 8b: Handel, soziale Herkunft (Miaba·) Herkunft

1800-1825

der Elton

kath.

Handel/Banken Industrie Handwerk freie Berufe Beamte/Geistliche Landwirtschaft

31-/-

-I-/-/-

1/4/-

Summe

1826-1850

prot. 10/2 1/1/1/-/I

kath. -/-/-/-/-/-

1/1/-

-/-

13/3

1851 -1875

prot. 21/5

kath.

-/-

-/-

-/-

1/1/2 1/1

-/-

-/I -/I 4/1

-/-/-

-/I 1/1/1

-/-

24/8

1876-1914

prot. 23/11

-/-

27/14

kath. 2/1 1/2 V5/4/1 1/2 13/6

prot. 18/7 1/-/-

-/4 2/1 -/-

21/12

Tabelle 9: Industrie, katholisch/protestantisch Zeitraum 1800-1825 1826-1850 1851-1875 1876-1914 Summe

Inhaber kath. prot. 9 13 20 27 34 63 95 105 158 208

Direktoren kath. prot. 1 6 4 15 33 91 37 113

Prokuristen kath. prot. -

-

2 3 28 53

6 13 81 100

Tabelle 10a: Industrie, geographische Herkunft (Inhaber/Dir ektoren/Prokuristm) Ort/ Region Augsburg u. Umgebung Sdiwaben Franken übriges Bayern Baden-Württemberg übriges Deutsdiland Österreich u. Bäumen Italien Frankreich Sdhweiz Summe

1800-1825 kath. prot. 31-13/-/-

1826-1850 kath. prot. 8/-/1 10/2/1

1 /-/-

1/-/2/-/-/l/-

-/-/-

71-1-

-/-/-

31-1-

21-1-/-/-

1851-1875 kath. prot. 15/3/1 36/3/4

3/-/1

-/-/-

H-Π.

31-1-

-/-/-

4/2/3

21-1-

6/2/5

4/-/1 /-/1 /-/-

8/2/3 7/3/2 -/-/-

2/-/-

-/-/-

1/-/-

3/1/1 5/-/1

-/-/-

-/-/-

-/-/-

-/-/-

-1-1-

3/-/1/-/-

-/-/-

4/-/1/1/-

-/-/-

-/-/-

-/-/-

8/-/-

11/1/-

18/-/2

-/-/-

1 /-/1/-/-

1/-/23/5/6

-/-/-

35/4/3

-IV-

1876-1920 kath. prot. 41/11/14 61/26/28 18/4/11 3/4/2 7/4/7 11/3/6 3/4/2 -/1/3

6/5/15 7/7/4 1/3/2 10/22/12 9/22/16 -III-

21-1-

-121-

60/14/13

1 /-/1/1/87/33/45

-1212 2131-

96/91/79

Peter Fassl

250

Tabelle 10b: Industrie, soziale Herkunft (Inhaber/Direktoroi/Prokuristen) Herkunft der Eltern Handel/Banken Industrie freie Berufe Beamte Landwirtschaft Handwerk Summe

1800-1825 kath. prot. 77772/71/77777771/777773/7776/71/7-

1826-1850 kath. prot. 1/3/772/77/71/777771/777774/1/1/713/4/4/7-

1851-1875 kath. prot. 3/1/1 8/5/2 6/724/2/3 1/7771/3/2/73/1/1 1/78/2/1 4/719/2/2 42/12/6

1876-1914 kath. prot. 8/10/9 15/12/20 39/17/11 38/3/3 4/1/1 2/1/2 2/3/3 2/10/10 4/1/6/2/2 11/3/9 13/14/17 69/22/27 75/55/60

Klara van Eyll KÖLNS WIRTSCHAFTSBÜRGERTUM IM 19. JAHRHUNDERT (BIS 1 9 1 4 )

Vorbemerkungen zur Terminologie und zur Quellenlage. Der Begriff „Wirtschaftsbürgertum" wird in der Literatur zwar verwendet, ist wissenschaftlich bisher jedoch nicht exakt definiert. Im wesentlichen wird er gleichgesetzt mit dem „Unternehmer", dem Besitzbürger oder dem Großbürger. Für Hans Hesselmann1 umfaßt er das gesamte Spektrum von ökonomisch einflußreichen Gruppen und Personal, die die Wirtschaft prägen, sie mitgestalten. Zu Hans Jaegers Untemehmerbegriff2 gehören Industrielle, aktiv tätige Fabrikanten und Kapitalisten, Kaufleute in Handel und Gewerbe einschließlich Dienstleistungen mit größerem Geschäftsbetrieb, Barikiers, leitende Angestellte der Großwirtschaft und fuhrende Repräsentanten von Wirtschaftsverbänden. Hans Hesselmann ergänzt diese fünf Kriterien nodi um Aufsichtsratsmitglieder, reine Kapitalisten im Sinne von Passivbeteiligten und um Agrarier mit unternehmerischer Nebenbetätigung. Während er dai angestellten Unternehmer durchaus als Typus mit unternehmerischen Eigenschaften wertet, klammert er als Wirtschaftsbürger die kleinen 1 Hans Hesselmann, Das Wirtschaftsbürgertum in Bayern 1890-1914. Ein Beitrag zur Analyse der Wechselbeziehungen zwischen Wirtschaft und Politik am Beispiel des Wirtschaftsbürgertums im Bayern der Prinzregentenzeit. Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 32, Wiesbaden 1985, S. 21ff. - Vgl. zu den Begriffen „ B ü r g e r t u m " , „Bildungsbürger" u.a. Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Hg. Jürgen Kocka, Göttingen 1987; Ludwig Beutin, Das Bürgertum als Gesellschaftsstand im 19. Jahrhundert, in: Beutin, Gesammelte Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Hg. Hermann Kellenbenz, Köln und Graz 1963, S. 284-319; Michael Gugel, Industrieller Aufstieg und bürgerliche Herrschaft. Sozioökonomische Interessen und politische Ziele des liberalen Bürgertums in Preußen zur Zeit des Verfassungskonflikts 1857-1867, Köln 1975; Hansjoachim Homing, Das westdeutsche Bürgertum in der Epoche der Hochindustrialisierung 1860-1914. Soziales Verhalten und soziale Strukturen. Teil I: Das Bildungsbürgertum in den preußischen Westprovinzen, in: Historische Forschungen, Hg. Otto Brunner u.a., Wiesbaden 1972. 2 Hans Jaeger, Die wirtschaftlichen Führungsschichten in Bayern 1790-1850, in: Führungskräfte der Wirtschaft in Mittelalter und Neuzeit 1350-1850 (Teil 1). Büdinger Vorträge 1968-1969, Hg. Herbert Heibig, Limburg 1973, S. 203-228, hier S. 203f.

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bis mittleren selbständigen Gewerbetreibenden in Handel und Handwerk („Kleinbürger"), die reinen Agrarier und dai Adel ohne dai „Wirtschaftsadel" aus. Hierbei sind nicht ausdrücklich genannt die Rentiers, die ihren Besitz und ihr Vermögen durch wirtschaftliche Tätigkeit erwarben. Die frühindustriellen Unternehmer waren für Fritz Redlich Maischen verschiedensten Charakters, verschiedensten Bildungsgrades und verschiedenster Herkunft. Kein „Typ" hatte einen Vorsprung vor einem anderen. Gehören nun alle „Wirtschaftsbürger" zur Führungsschicht bzw. zur Oberschicht? Werner Conze hat 1978 in Büdingen3 die industriellen Unternehmer, die größeren Kaufleute und leitenden Bankiers als „das obere Wirtschaftsbürgertum" bezeichnet. Denn „Führer"- bzw. „Führungsqualität" wird von allai Unternehmern verlangt. Für Conze ist die Grenze fließend, es ist für ihn letztlich nicht bestimmbar, wann ein Wirtschaftsbürger zur Oberschicht gehört. Theodor Schieder setzte 1978 in Büdingen4 die Führungsschicht identisch mit der „Elite" als einer herausgehobenen Maischengruppe, derai Kennzeichen die Überlegenheit an Intellekt, Geschicklichkeit oder an Fähigkeitoi aller Artist. Fragen der sozialoi, geographischen und konfessionelloi Herkunft sind für Wilhelm Stahl im Rahmen seiner Theorie des Elitekreislaufs3 eminent wichtig. Bei der Bearbeitung des mir gestellten Themas zum „Kölner Wirtschaftsbürgertum" wurde sdir bald klar, daß viel wichtiger als eine exakte Definition des Begriffs „Wirtschaftsbürger" der konkrete Versuch der Zuordnung oder Ausschließung einzelner unternehmerisch handelnder Persönlichkeit«! zu einem bestimmtai Zeitpunkt in einer bestimmtai Region, in einem bestimmtai wirtschaftlichen, sozialen

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Werner Conze, Konstitutionelle Monarchie. Industrialisierung. Deutsche Führungsschichten um 1900, in: Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit. Eine Zwischenbilanz. Büdinger Vorträge 1978, Hg. Hans Hubert Hofmann und Günther Franz, Boppard 1980, S. 173-201. 4 Theodor Schieder, Theorie der Führungsschichten in der Neuzeit, in: Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit. Eine Zwischenbilanz. Büdinger Vortrage 1978, Hg. Hanns Hubert Hofìnann, und Günther Franz, Boppard 1980, S. 13-28. - Vgl. auch Nikolaus von Preradovich, Die Führungsschichten in Österreich und Preußen (1804-1918) mit einem Ausblick bis zum Jahre 1945, Wiesbaden 1955. Wilhelm Stahl, Der Elitekreislauf in der Unternehmerschaft. Eine empirische Untersuchung für den deutschsprachigen Raum, Frankfurt und Zürich 1973.

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und politischen Umfeld ist. Hieraus entstand ein umfassender „Kriterienkatalog" zum Wirtschaftsbürgertum. 6 In seiner „Theorie der Führungsschichten der Neuzeit" kritisiert Theodor Schieder7, daß viele soziologische Studien zu diesem Thema zweifellos nur ein Minimum an konkreten Fakten enthielten, dagegen ein Maximum an Verallgemeinerungen. Historische Analysen dagegen begnügten sich oft mit der breiten Darlegung einzelner Fakten. Diese Aussage gilt auch für den nachfolgenden Beitrag über das „Wirtschaftsbürgertum Kölns im 19. Jahrhundert". Nicht eine einzige konkrete Studie zum Kölner „Wirtschaftsbürger" liegt bisher vor. Man versinkt andererseits in größeren oder kleineren Abhandlungen zu einzelnen Unternehmern, zu Unternehmen, zu Branchen, zur Kölner Wirtschaft mit unendlich vielen Details, gerade was den Zeitraum bis 1850 angeht.8 6

Der Kriterienkatalog ist abgedruckt als Anhang zu diesem Beitrag. Der Katalog wurde erarbeitet innerhalb einer wissenschaftlichen Übung zum Kölner Wirtschaftsbürgertum im Rahmen meines Lehrauftrags zur Unternehmer- und Unternehmensgeschichte an der Universität zu Köln im Wintersemester 1987/88. 7 Schieder, S.15ff. 8 Es sei hier verwiesen auf die grundlegenden Beiträge von Hans Pohl, Klara van Eyll und Friedrich-Wilhelm Henning im 2. Bd. von „Zwei Jahrtausende Kölner Wirtschaft", Hg. Hermann Kellenbenz im Auftrag des Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchivs zu Köln, Köln 1975, und die hierin umfassend aufgeführte Literatur. Die Neue Deutsche Biographie enthält in den bisher vorliegenden 15 Bänden rd. dreißig Lebensbilder von Kölner Wirtschaftsbürgern zwischen 1815 und 1914. In den Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsbiographien (bisher 13 Bde.) sind, insbesondere in Bd. 12 und Bd. 13, insgesamt rd. fünfzig Persönlichkeiten erfaßt. Die Publikationen von Robert Steimel, „Kölner Köpfe", Köln 1958, und „Mit Köln versippt", 2 Bde. Köln 1955/56, sind in vielen Daten und Fakten leider nicht sehr präzise. Immer noch grundlegend auch für Kölner Unternehmer ist die Darstellung von Friedrich Zunkel, Der rheinisch-westfälische Unternehmer 1834-1879. Dortmunder Schriften zur Sozialforschung, Bd. 19, Köln und Opladen 1962. Eine wichtige Ergänzung hierzu ist der als Ausstellungskatalog mit zahlreichen Aufsätzen vom Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchiv 1984 hg. Bd. über „Kölner Unternehmer und die Frühindustrialisierung im Rheinland und in Westfalen (1835-1871)". Für die Zeit zwischen 1850 und 1860 ist besonders wichtig die Dissertation von Beate-Carola Padtberg, Rheinischer Liberalismus in Köln während der politischen Reaktion in Preußen nach 1848/49, in: Schriften zur rheinisch-westfälischen Wirtschaftsgeschichte, Bd. 36, Köln 1985. Sdir inhaltsreich, weit über die Einzelbiographie hinaus, ist die Studie von Hasso von Wedel, Heinrich von Wittgenstein 1797-1869. Unternehmer und Politiker in Köln. Schriften zur rheinisch-westfälischen Wirtschaftsgeschichte, Bd. 33, Köln 1981. Viele wichtige Detailinformationen zum vorliegenden Thema wurden selbstverständlich entnommen dem „Standardwerk" Westdeutsche Ahnentafeln, Bd.l, Hg. Hans Carl Scheibler und Karl Wülfrath, Weimar 1939.

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Gute Ansätze zur Sozialgeschichte Kölns bieten die bisher leider überwiegend in französischer Sprache vorliegenden Studien von Pierre Ayçobeny. Erwähnenswert ist hier audi der Beitrag von Wilfried Feldenkirchen für die Französische Zeit10 sowie die Studie von Jeffry Diefendorf für die Jahre von 1789 bis 1834." Karl Obermann schrieb insbesondere über das Bürgertum der 40er Jahre.12 Im Sammelband über „Bürgerliche Eliten in den Niederlanden und Nordwestdeutschland"13 finden sich ausgezeichnete Aufsätze von Dietrich Ebeling zu dai Kölner Führungsschichten des 18. Jahrhunderts und Clemens von Looz-Corswarem über die politische Elite Kölns im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert.14 Für die wichtigen Aspekte Einkom9

Pierre Ayçôberry, Probleme der Sozialschichtung in Köln im Zeitalter der Frühindustrialisierung, in: Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Probleme der frühen Industrialisierung, Hg. Wolfram Fischer, Berlin 1968, S. 512-528 sowie Pierre Ayçôberry, Cologne altre Napoléon et Bismarck. La croissance d'une ville rhenane, Paris 1981 und Pierre Ayçobeny, Histoire sociale de la ville de Cologne (1815-1875), 2 Bde., Lille 1980. 10 Wilfried Feldenkirchen, Aspekte der Bevölkerungs- und Sozialstruktur der Stadt Köln in der französischen Zeit (1794-1814), in: Rheinische Vierteljahrsblätter, Jg. 44, Bonn 1980, S. 182-227. 11 Jeffry M. Diefendorf, Businessmen and Politics in the Rhineland, 1789-1834, Princeton, New Jersey 1980. 12 Vgl. hierzu im einzelnen Karl Obermann, Die soziale Zusammensetzung der Bürgerwehr in Köln 1848/49, in: Jb. für Wirtschaftsgeschichte 1970/IV, Berlin 1971, S. 141-158; zur Beschallung des Eisenbahn-Kapitals in Deutschland in dai Jahren 1835-1855, in: Revue Internationale d'Histoire de la Banque, Genf 1972, S. 315-352; zur Genesis der bürgerlichen Klasse in Deutschland von der Julirevolution 1830 bis zu Beginn der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts, in: Jb. für Geschichte, Bd. 16, Berlin 1977, S. 33-69; zur Klassenstruktur und zur sozialen Lage der Bevölkerung in Preußen 1846-1849, in: Jb. für Wirtschaftsgeschichte 1973/Π, S. 79-120 und 1973/ΙΠ, S. 143-174; zur politischen Haltung der gemäßigten Liberalen am Vorabend und in der deutschen Märzrevolution 1848, in: Ztschr. für Geschichtswissenschaft, 27. Jg. Heft 3, Berlin 1979; zur Tätigkeit von Ludolf Camphausen als preußischer Bevollmächtigter in Frankfurt a.M. Juli 1848 bis April 1849. Mit unveröffentlichten Briefen, in: Jb. für Geschichte. Die bürgerlichdemokratische Revolution von 1848/49 in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte und Wirkung, Bd. 2, Berlin 1973. 13 Clemens von Looz-Corswarem, Die politische Elite Kölns im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert, S. 421-444; Bürgerliche Eliten in dai Niederlanden und in Nordwestdeutschland. Studiai zur Sozialgeschichte des europäischen Bürgertums im Mittelalter und in der Neuzeit, Hg. Heinz Schilling und Herman Diederiks, Köln und Wien 1985. 14 Clemens von Looz-Corswarem, Die politische Elite Kölns im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert, S. 421-444. Vgl. hierin auch Dietrich Ebeling, Bürgertum und Pöbel: Wirtschaft und Gesellschaft Kölns im 18. Jahrhundert, Städteforschung: Reihe A, Darstellungen; Bd. 26 Köln/Wien 1987. Dietrich Ebeling, Die

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men/Vermögen/Aufstieg/Herkunft gibt es so gut wie keine Arbeiten über Köln. Voraussetzungen für Kölns Wirtschaftsbürgertum des 19. Jahrhunderts Das Ergebnis der Schlacht von Worringen von 1288, der Verbundbrief von 1396 und der Transfixbrief von 1513 garantierten die bürgerliche Freiheit Kölns, das Stapelrecht von 1259 die Wirtschaftsmacht am Rhein. Als „Verkehrskreuz" und Handelsmetropole behielt Köln mit knapp 40.000 Einwohnern, aber nur rd. 400 Hektar Fläche - im Mittelalter die größte Stadt Westdeutschlands - seine hohe wirtschaftliche Bedeutung über Jahrhunderte. Das entscheidende Verwaltungsgremium war auch im 18. Jahrhundert noch der 49köpfige Rat auf der Basis von 22 Gaffeln, über die de facto jeder Bürger Kölns zünftig organisiert war, selbst wenn er kein Handwerk ausübte. Ein kleiner Kreis von Bürgern, darunter auch Angehörige des kaufmännischen Patriziats und Raitiers, wurden häufig wiedergewählt. Die wohlhabende Kaufmannsfamilie de Groote stellte allein 24mal Kölns Bürgermeister. Juden waren seit 1424 in der Stadt nicht zugelassen; Protestanten blieben von dai Zünften ausgeschlossen. Ihr wirtschaftliches Betätigungsfeld waren primär der Großhandel sowie die am Rhein wegen des Stapels bedeutenden Speditions- und Kommissionsgeschäfte; daneben durften sie in nichtzünftigen Gewerben ihr wirtschaftliches Glück versuchen, z.B. in der Baumwollspinnerei oder in der Tabakherstellung. Die Großkaufleute besaßen auch im 18. Jahrhundert noch das höchste Ansehen. Viele von ihnen waren inzwischen Verleger und Manufakturisten geworden, manche Bankiers, wie die Familien Peltzer, Hack, Recklinghausen oder Meinerzhagen. Einige von ihnen saßen in dai politischen Gremien der Stadt als Raitiers, wie z.B. die von Wittgenstein. Etwa 250 Großkaufleute gab es am Ende der Reichsstädtischai Zeit. Sie gehörten zur „Oberschicht". Dem „Mittelstand", kleineren Kaufleutai, Handwerkern und Gewerbetreibenden, wurden etwa 4.300 Personal zugerechnet.

wirtschaftlichen Führungsschichten Kölns im Spektrum der rheinischen Frühindustrialisierung des 18. Jahrhunderts, S. 401-420.

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Am 6. Oktober 1794 besetzten französische Truppen die freie Reichsstadt Köln. Die jetzt folgende 20jährige Fremdherrschaft brachte in allen Bereichen des öffentlichen wie des privaten Lebens Umwälzungen, neue Freiheiten wie neue Bindungen Am 8. November 1797 konstituierte sich der Kölner Handelsvorstand als freie Interessenvertretung der Kaufleute mit vier katholischen und vier protestantischen Unternehmern an seiner Spitze. Seit 1797 konnten die Protestanten das Bürgerrecht erwerben. Die Zünfte wurden 1798 endgültig abgeschafft, die Universität wurde ebenso aufgelöst wie zwei katholische Gymnasial. 1798 wurden die Juden in der Stadt wieder zugelassen. Zu den ersten jüdischen Immigranten zählten Josef Isaac Stern, der spätere Pächter des Leihhauses, und Salomon Oppenheim, der seit 1789 Hoffaktor und Wechselagent in Bonn war.15 Das Vorrücken der Zollgrenze 1798 bis an den Rhein bedeutete eine Verschiebung des Kölner Marktes nach Westen, eine Abschnürung nach Ostai dagegen und eine Akzentverlagerung vieler gewerblicher Tätigkeiten. Neue Gewerbezweige mit neuen unternehmerischen Chancen etablierten sich in der Stadt. Die Säkularisation brachte 1802/03 die wohl folgenschwersten Umwälzungen und Umschichtungen in den privaten Vermögen. 13 Prozent aller innerstädtischen säkularisierten Häuser wurden von den Mietern gekauft. Die meisten Häuser erwarben Kölner Bürger, wobei erwartungsgemäß teure Häuser von Bankiers, Großhandelskaufleuten, Fabrikanten und höheren Beamten gekauft wurden. Büttner16 formuliert es so: „Jeder kaufte wohl das Haus, das seiner sozialen Stellung entsprach." Unter den zehn größten Käufern Kölns waren ein Gastwirt, ein Fabrikant und ein Weinhändler, Elias Mumm. Zu den 50 größten Käufern der Landgüter im Arrondissement Köln gehörten die Kaufleute Bernhard Boisserée, Hermann Josef Engels und Philipp Engels, Friedrich-Carl Heimann, Jakob Molinari, Johann Philipp Riegeler, Heinrich Joseph Weyer, die Hutfabrikanten Esser, die Kölnischwasser-Hersteller Farina sowie die Privatbankiers Friedrich Herstatt und Abraham Schaafhausen. Schaafhausen, Herstatt und Weyer nahmen hierbei die Ränge eins, vier und fünf ein mit Beträgen 13

Vgl. hierzu neuerdings Michael Stürmer, Gabriele Teichmann, Wilhelm Treue, Wägen und Wagen. Sal. Oppenheim jr. & Cie. Geschichte einer Bank und einer Familie, München/Zürich 1989. 16 Richard Büttner, Die Säkularisation der Kölner geistlichen Institutionen. Wirtschaftliche und soziale Bedeutung und Auswirkungen. Schriften zur rheinischwestfälischen Wirtschaftsgeschichte, Bd. 23, Köln 1971, S. 370.

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jeweils zwischen 200.000 und einer Million Francs.17 Diese Aufstellung belegt die besondere Bedeutung des damaligen stadtkölnischen Wirtschaftsbürgertums. Die Verkäufe der erworbenen Grundgüter verzögerten sich zum Teil bis in die 40er Jahre des 19. Jahrhunderts; die Liquiditätskrise des Privatbankhauses A. Schaafhausen von 1848 hat letztendlich audi hierin eine Ursache.18 Die Liste der Kölner Notablen, d.h. der angesehensten Kaufleute, die aus ihrer Mitte die - zwei bis acht - Handelsrichter wählten, enthält für 1810/12 75 Namen, darunter zehn Unternehmen mit einem Kapital von mehr als einer Million Francs. Unter diesai zehn Namen befinden sich bereits sieben protestantische und ein jüdischer Unternehmer (Oppenheim). In einer Aufstellung von 26 Unternehmen mit Manufaktur- oder Fabrikbetrieb finden sich fünf Protestanten. Zum Handelsvorstand, der Keimzelle der Handelskammer, waren 250 Kaufleute wahlberechtigt. Erster Präsident wurde Friedrich Carl Heimann, ein aus Waldbröl zugewanderter protestantischer Speditionskaufmann und Schießpulverfabrikant.19 Heimann war, wie viele Kaufleute damals, Mitglied einer der in dai 70er Jahren in Köln gegründeten Logen. Diese trafen sich regelmäßig im Haus des Kaufmannskollegs auf dem Heumarkt. Die Logen erhielten im 18. Jahrhundert ihre Bedeutung vor allem dadurch, daß sie als erste große Vereinigung Bürgertum, Adel und Geistlichkeit ohne Ansehen der Konfession zusammenbrachten. Viele hohe katholische Würdenträger bis hin zum Kölner Erzbischof Clemens August waren hier Mitglied neben dem Bürgermeister, höheren Beamten, Ärzten und Kaufleuten. Unter den Handelsvorstehern waren Johann Peter Bemberg (Manufakturwaren), Georg Kügelgen (Spedition/Kommission) und Everhard Caspar Schüll (Gewürzhandel) Repräsentanten „alter Kaufmannsfamilien". 1803, als der Handels vorstand durch die französische Handelskammer abgelöst wurde, kamen Tabakfabrikant Heinrich Joseph Foveaux und Bernhard Boisserée - ein Bruder von Sulpiz -, der im Handelshaus von Nicolas de Tongre leitend tätig war, 17

Büttner, S. 372f. Helmuth Croon, Die wirtschaftlichen Führungsschichten im Rheinland und in Westfalen 1790-1850, in: Führungskräfte der Wirtschaft in Mittelalter und Neuzeit 1350-1850 (Teil 1). Büdinger Vortrage 1968-1969, Hg. Herbert Heibig, Limburg 1973, S. 311-336, hier S. 317. 19 Hermann Kellenbeaz und Klara van Eyll, Die Geschichte der unternehmerischen Selbstverwaltung in Köln 1797-1914, Köln 1972, S. 28; Vgl. auch Rheinisch· Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln (RWWA), Abt. 1, Akten des Handelsvorstands und (für das Folgende) der Handelskammer zu Köln. 18

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hinzu. Boisserée steht ebenso wie die 1810 bzw. 1813 erstmals gewählten Mitglieder Peter Heinrich Merkens und Georg Heinrich Koch - Kammerpräsidenten in preußischer Zeit - fur die Kontinuität der Handelskammer und ihrer gewählten Kaufmannsvertreter von der französischen zur preußischen Zeit. Kölns Bevölkerung wuchs in der französischen Zeit von 39.000 auf knapp 47.000 Einwohner. Zahlenmäßige Veränderungen in der „Oberschicht" gab es kaum; viel mehr Protestanten gehörten jetzt allerdings hierzu. Von wiederum 250 für 1810 genannten Namen waren jetzt rund 60 Fabrikanten. Die wenigen sdir reichen Kölner Patrizierfamilien des 18. Jahrhunderts konnten ihre in der französischen Zeit erlittenen Verluste gut verkraften. Von den Zuwanderem des 18. Jahrhunderts - darunter auch katholische Italiener und Nordfranzosen - schafften einige dai Aufstieg in die Führungsschicht: die DuMont und Foveaux im Tabakgewerbe, die Farina in der Kölnisch-Wasser-Herstellung. Erweitert wurde diese Untemehmergruppe in französischer Zeit u.a. noch durch bergische Textilfabrikanten, die wegen der Zollabschließung über den Rhein wechselten. Sie verließen jedoch Köln in früher preußischer Zeit wieder, weil ihnen das Kapital für eine Ausweitung ihrer Betriebe fehlte. Die Händler und Bankiers („merchant banker") des 18. Jahrhunderts machten auch in französischer Zeit Umsätze bis zum Sechsfachen ihres Kapitals (150.000 bis zwei Millionen Francs), wie die Meinerzhagen. Von 75 der im Jahre 1810 dem Unterpräfekten gemeldeten „angesehensten Kaufleute" (Notablen) arbeiteten 21 in Spedition/Kommission, 17 handelten mit Wein, 16 mit Kolonialwaren, zwölf mit Manufakturwaren, sechs mit Landesprodukten, fünf mit Tabak, fünf mit Drogen, fünf mit Metallen, zwei mit Schmuck, zwei mit Baustoffen, einer mit Kohle, und acht waren in bankähnlicher Funktion tätig.20 Kölns Wirtschaftsbürgertum (1815 bis 1914) Die französische Fremdherrschaft endete im Januar 1814. 1821 wurde Köln preußische Provinz- und Festungsstadt, Koblenz wurde 1822 endgültig Provinzhauptstadt, Köln blieb der Appellationsgerichtshof. 20

Hans Pohl, Wirtschaftsgeschichte Kölns im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, in: Zwei Jahrtausende Kölner Wirtschaft, S. 134.

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Bonn erhielt 1818 die Universität. Der Code civil und der Code de commerce galten, weil als fortschrittlich von Preußen anerkannt, weiterhin links des Rheins. Auch die Handelskammer arbeitete bis 1831 noch nach französischem Recht mit dem Bürgermeister als nicht freigewähltem Präsidenten an der Spitze weiter. Die Kammer war für die Kaufleute der Garant einer gewissen Kontinuität im Wirtschaftsleben. Den Vizepräsidenten wählten die Kaufleute, so wie auch alle übrigen Mitglieder, seit 1816 in freier Wahl. Peter Heinrich Merkens, 39 Jahre alt und beteiligt am Unternehmen Seydlitz & Merkens, war seit 1816 der Spitzenrepräsentant der Kaufleutevertretung. 1831 war er der erste frei gewählte Kammerpräsident. Als Reformierter, Zuwanderer aus Mülheim am Rhein, schaffte er den Einstieg in die fuhrende Kölner Kaufmannsschicht und den sozialen Aufstieg. Sein Weg ist beispielhaft für die erste Generation von Wirtschaftsbürgem im Köln des 19. Jahrhunderts. Daher einige Stichworte hierzu: Der Vater war Bäcker; er starb 1780; die Mutter, eine geborene Croon, stammte aus Wald bei Solingen. Peter Heinrich Merkaas besuchte nach der Elementarschule das Protestantische Handelsinstitut von Ising in Mülheim, ging 1792 nada Köln zu Everhard Caspar Schüll in die kaufmännische Lehre und arbeitete anschließend bei Johann Jakob Schüll, der in Gewürzen und Wein handelte, als Kommis. Seinen Lohn besserte Merkens auf durch Unterricht als Hilfslehrer im Kölner TöchterPensionat Aubry. Dort lernte er 1799 Lisette von Coels als Schülerin kamen. Merkens entführte die 16jährige katholische Tochter eines Kurkölnischen Hofkammerrats und Stieftochter des Bürgermeisters Johann Jakob von Wittgenstein im Oktober 1799 ins preußische Altena, wo das Paar heimlich getraut wurde. Eine Versöhnung mit der Familie von Wittgenstein erfolgte erst 1814, nachdem die Preußen Köln übernommen hatten. Jetzt wurde der protestantische Schwiegersohn gern akzeptiert. Die Handelskammer wurde zunächst das wichtigste Aktionsfeld für Merkens. Von hier aus betrieb er 1817/18 die Gründung der Rheinschiffahrts-Assekuranz, einer frühen Transportversicherung und der ersten Aktiengesellschaft des Rheinlands überhaupt. Die Subskriptionslisten zur Aktienübernahme lagen in der Händelskammer aus. 1825 erließ Merkens, wieder von der Handelskammer aus, einen Aufruf zur Aktienbeteiligung an der Preußisch-Rheinischen DampfschifFahrtsgesellschaft; 1838/39 war er Mitgründer der Kölnischen Feuerversicherungsgesellschaft, die sich erst seit dem 1. Juli 1841

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„Colonia" nomai durfte.21 An der Gründung der Kölner Dampfschleppschiffahrtsgesellschaft, an den ersten Initiativen zur Kölnischen RückVersicherungsgesellschaft und an der Köln-Mindener Eisenbahngesellschaft wirkte er Anfang der 40er Jahre mit. 1826 entsandte die Stadt Köln diesai reformierten Unternehmer als ihren Vertreter in den ersten Rheinischen Provinziallandtag. Bis 1845 vertrat er hier Kölns Interessai. „Wegen überhäufter Geschäfte" schied er 1837 aus seinem Amt als Handelskammerpräsident. Ein Ölgemälde zeigt ihn, dekoriert mit dem 1842 vom französischen König verliehenen Ritterkreuz der Ehrenlegion und dem preußischen Rotai Adlerorden mit Schleife, ein Grandseigneur, Kölns überragender Unternehmer der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, ein Wirtschaftsbürger. Im Jahre 1831 fiel in Köln mit dem Umschlagrecht - als Ergebnis der Rheinschiffahrtsakte - gleichsam das letzte Relikt des Mittelalters. So bedeutet dieses Jahr 1831 für Köln dai Wendepunkt in eine neue Zeit wirtschaftlichen Aufbruchs. Die Transportversicherung von 1818 und die DampfschiffahrtsAktiengesellschaft von 1825/26 hatten nodi einai unmittelbaren Bezug zum Rhein; bis 1831 garantierte gerade der Hafen Arbeitsplätze in Köln. Das war nun anders. Aber viele der traditionsreichai Kölner Kaufmannsfamilien, auch einige der jetzt wesaitlich weniger wichtigen Speditionskaufleute und Kommissionäre, sahen immer noch keinen Zwang zu Neuerungen. Wieder war es ein Zuwanderer, der dai Kölner Ratsherren 1831 in einer Denkschrift zur Situation des Hafens die Augen öffnete: Ludolf Camphausen, der seit 1826 mit seinem alterai Bruder August ein Zweiggeschäft ihrer Hünshovaier Ölmühle in Köln unterhielt. 1831 gelangte Ludolf Camphausen in den Kölner Stadtrat, dessen Mitglieder nach der übemommaiai napoleonischai Gemeindeordnung noch bis 1845 berufen wurden aus den Reihen der 100 Höchstbesteuerten.22 Handelskammermitglied wurde Camphausen 1833, als er 30 Jahre alt war. Das war das Mindestalter hierfür. Merkais forderte Camphausai, der 1833 insbesondere mit seiner berühmt gewordaiai Daikschrift für eine Eisenbahn von Köln nach Belgiai, 21

Klara van Eyll, ...genannt Colonia. 150 Jahre Kölnische Feuer-VersicherungsGesellschaft AG 1839-1989, Hg. Colonia Versicherung AG, Köln 1989, S. 30. 22 Helmuth Croon, Die gesellschaftlichen Auswirkungen des Gemeindewahlrechtes in dai Gemeinden und Kreisen des Rheinlandes und Westfalens im 19. Jahrhundert, in: Forschungsberichte des Landes Nordrhein-Westfalen Nr. 564, Hg. Kultusministerium, Köln und Opladen 1960, S. 7.

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den „eisernen Rhein", hohe Aufmerksamkeit erweckte. 1835 trat Camphausen an die Spitze eines Eisenbahnkomitees zur Realisierung dieser ersten grenzüberschreitenden Eisenbahntrasse. Die Handelskammer und die Eisenbahnkomitees bildeten für aufstrebende Kaufleute und Fabrikanten in dai 30er Jahren eine „feste organisatorische Basis für ihr Ziel, in der Stadt ihren Führungsanspruch durchzusetzen".23 Hier lag der Mittelpunkt der Wirtschaft wie der politischen Bestrebungen einer ganzen Reihe von Kölner Wirtschaftsbürgern. Auf der Basis einer Mindestgewerbesteuerzahlung von zwölf Talern gab es 1832 immerhin 1.349 Wahlberechtigte in Köln; hierunter waren jedoch nur 477 Kaufleute mit kaufmännischen Rechten in der Gewerbesteuerklasse A. Merkens selbst gab 1832 die Zahl der „Großkaufleute" in Köln mit 125 an. Es waren die „Meistbefahigten" bzw. Notablen, „die eine Reihe von Jahren hindurch dem Handel mit Ehre und Erfolg oblegen haben". Ihnen wohne vorzugsweise „die Sach- und Personen-Kenntnis bei", und solche Männer, die „solide Kenntnisse mit reinem Eifer für das öffentliche Wohl vereinigen",24 sollten - so Merkais - Mitglied der Handelskammer werden. Im Eisenbahnkomitee von 1835 finden wir unter Camphausais Führung nebai den „älteren" Kölner Wirtschaftsbürgern Merkens, seinem Schwager Heinrich von Wittgenstein und Johann Arnold Boecker, der mit Boisserée verwandt war, vor allem Repräsaitantai der vier älteren Kölner Privatbanken: Für das Bankhaus A. Schaaffhausen war dies Wilhelm Ludwig Deichmann, lutherischer Zuwanderer aus dem Raum Hannover, Schwiegersohn von Abraham Schaaffhausai - der bereits 1824 verstarb - und seit 1830 Teilhaber des Bankhauses; für J. H. Stein war dies der aus Gräfrath zugewanderte reformierte Schwiegersohn Carl-Eduard Schnitzler. Schon bald nach der Konstituierung gehörte auch Simon Oppenheim zu diesem Kreis. Sein Bruder Abraham war seit 1837 der führende Finanzier der Eisenbahngesellschaft. Über ihn flöß ausländisches Kapital, z.B. von den mit Oppaiheim verwandtoi Rothschilds oder Foulds aus Paris nach Köln. Vor allem Oppenheim baute Köln zum führenden Bankenund Finanzierungsplatz aus. Das Gründungskapital der Rheinischen Eisenbahngesellschaft wurde 1837 von 626 Aktionärai gezeichnet. Von ihnen stammten 210 23 24

Obermann, Genesis, S. 53. Kellenbenz/van Eyll, S. 88.

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Aktionäre aus Köln.25 Zu ihnen gehörten Rentiers wie Abels, Cassel, Cassinone, Engels, Essingh, Firmenich, Fürth, Geyr, Herweg, Mumm, Wittgenstein, die früh als Kaufleute ihr Vermögen machten; hierzu zählten die jetzt vor allem in Köln agierenden Privatbanken von Herstatt, Stein, Schaafhausen und Oppenheim; hierzu gehörten Seydlitz & Merkens, die bald aus dem Warenhandel herauswuchsen und zur Bank wurden ebenso wie das Handelshaus der Gebrüder Camphausen. Hier finden wir Namen wie Bel, Boecker, Boisserée, Canetta, DuMont, Farina, Heimann, Heck, Koch, Löhnis, Moll, Nierstras, Peill, Sugg, Urbach oder Zanoli, deren Handlung bzw. Fabrik auf längerer Kölner Tradition beruhte, schließlich Namen, die in Verbindung mit der „neuen" Zeit nach 1815 in Köln Geltung erhielten: Franz Carl Guilleaume, katholischer Zuwanderer aus dem Oberbergischen, der 1812 in die Seilermeisterfamilie Feiten einheiratete; Franz Hagen aus Düren, der in die Kaufmannsfamilie Hahn einheiratete und 1827 eine Metallhandlung gründete, aus der in der zweiten Generation die Bleirohrfabrikation erwuchs; Damian Leiden, der wohlhabende Weinhändler, der um 1820 aus Mainz kam und dessen Töchter sich später mit Wilhelm Joest und Gustav Mevissen verbanden; der vermögende katholische Wollhändler Peter Michels, dessen Sohn Gustav am Ende des 19. Jahrhunderts zu den besonders angesehenen Kölner Wirtschaftsbürgern gehörte; Heinrich Pallenberg, der aus seiner Schreinerei die erste moderne Möbelfabrik schuf und dazu in Paris das Knowhow erwarb; Johann Heinrich Richartz, der Wildhäuteimporteur, dessen Museumsstiftung 1861 die Sammlung Wallraf aufnahm; Johann Theodor Stroof, der auf den rheinischen Dampfschiffen die Bewirtung hatte und in Köln die Gasbeleuchtung einführte. Zu den Aktionären gehörten auch eine Reihe von Zuckerfabrikanten, wie Manderbach & Gosebruch, Schimmelbusch & Joest, die Gebrüder vom Rath sowie Schleußner & Heck, deren Firma 1845 Johann Jakob Langen kaufte. Die Zuckerraffineure, die ihre Fabrikationsstätten seit den 20er Jahren in Köln errichteten,26 standen bald neben den aus dem Handel kommenden Privatbankiers in Köln an der Spitze des Industrialisie23

Joachim Deeters, Die Aktionäre der Rheinischen Eisenbahn-Gesellschaft im Gründungsjahr 1837, in: Kölner Unternehmer und die Frühindustrialisierung im Rheinland und in Westfalen (1835-1871), Köln 1984, S. 116-146. 26 Klara van Eyll, Unternehmer der Kölner Zuckerwirtschaft (1830-1871) - Ihr Engagement im Rahmen der Frühindustrialisierung an Rhein und Ruhr, in: Kölner Unternehmer und die Frühindustrialisierung im Rheinland und in Westfalen (1835-1871), Köln 1984, S. 193-207.

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rungsprozesses. Ihre Betriebe knüpften jedoch nicht an Kölner Versuche der Rübenzuckerherstellung in napoleonischer Zeit an. Ihre Unternehmer bauten vielmehr Raffinerien auf, in denen bis zur Jahrhundertmitte ausschließlich Kolonialzucker verarbeitet wurde. Diese Unternehmer kamen aus dem Handel mit überseeischem Rohzucker, der über Amsterdam importiert wurde. Auch hier spielten Zuwanderer die dominierende Rolle. Sie kamen aus Duisburg, wie die vom Rath oder Carstanjen, die hier bereits im 18. Jahrhundert angesehene Kaufleute waren, und vor allem aus dem Bergischen Land, wie die Bredt, Troost, Langen und die in Köln seit den 30er Jahren führenden Joest. Alle zugewanderten Zuckerindustriellen waren Reformierte. Carl Joest, dessen Vater Johann Peter im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in Solingen für die Stahlwarenfabrikanten Schimmelbusch das Exportgeschäft führte, heiratete in diese Familie ein, wurde Teilhaber und baute seit 1818 das Südamerikageschäft unter eigener Firma „Carlos Joest & Co." aus. Als Rückfracht aus Rio de Janeiro nahmen die Schiffe gern Rohzucker mit nach Amsterdam - Basis für die 1831 schließlich in Köln eröffnete Raffinerie. Im Kölner Geschäft war seither Johann Jakob Langen als Prokurist und Teilhaber verantwortlich. Der gelernte Pädagoge war seit 1816 Privatlehrer im Hause Joest. Erst 1839, als die Kölner Raffinerie von Carl Joest bereits an der Spitze aller preußischen Zuckersiedereien stand, verlegte dieser auch seinen Wohnsitz nach Köln. 1848 starb Carl Joest im Alter von 62 Jahren. Er stand inzwischen in Köln mit einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 60.000 Talern an der Spitze aller Steuerzahler. 1845 schied Johann Jakob Langen aus dem Unternehmen von Joest mit einem erwirtschafteten Vermögen von einhundertfünfzigtausend Talem aus. Er baute die erworbene Zuckerraffinerie von Schleußner & Heck mit seinen Söhnen zu einem leistungsstarken Unternehmen aus. Joest hatte ebenso wie Langen fünf Söhne, die die von dai Vätern initiierten Unternehmen erfolgreich fortsetzten. Langens Sohn Eugen gründete 1870 schließlich gemeinsam mit Emil Pfeifer die Firma Pfeifer & Langen. Das in den entscheidenen Jahrzehnten der Frühindustrialisierung in Kölns großen Zuckerraffinerien erwirtschaftete Kapital investierten die Unternehmer seit dan 30er Jahren in beträchtlichem Umfang in die verschiedensten Unternehmen des Verkehrs- und Versicherungssektors, vor allem aber auch in die neu entstehenden montanindustriellen Aktiengesellschaften des Rheinlands und Westfalens. In ihren Verwal-

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tungsräten finden wir neben den großen Bankiers vor allem Repräsentanten der Kölner Zuckerindustrie. Eine geschickte Heiratspolitik der Söhne und Enkel sicherte die wirtschaftlichen Engagements zusätzlich ab. Einige Beispiele aus der Familie Joest hierzu: Carl Joests ältester Sohn Wilhelm, geboren 1811, heiratete 1842 Tina Leiden, sein Bruder Eduard nahm die jüngere Schwester Maria Leiden zur Frau. Carl Joest jun. heiratete 1843 Mathilde Peill, die Tochter von Robert Peill, August Joest vermählte sich 1856 mit Fanny Camphausen, der Tochter von August Camphausen und Nichte von Ludolf und Otto Camphausen. Mathilde Joest heiratete 1849 Advokatanwalt Eduard Mayer, der entscheidend an dai wichtigsten Industrialisierungsprojekten an Rhein und Ruhr in Verbindung mit Gustav Mevissen beteiligt war. In der dritten Generation Joest verzeichnen wir um 1870 Versippungen zu den Deichmanns, erneut zu dm Camphausais, den Peills, vom Raths, Pfeifers und vor allem zu den Rautenstrauchs und Mallinckrodts. Diese letzteren Familien repräsentieren die seit den 30er Jahren in Köln verstärkt unternehmerisch tätigen Wildhäuteimporteure, zu denen einst auch die Schaafhausens, später Johann Heinrich Richartz sowie die Brüder Daniel und Mathias Hölterhoff gehörten. Der Häutegroßhandel setzte neben der Zuckerindustrie in der ersten Kölner „Gründergeneration" seit der Mitte der 30er Jahre die größten Kapitalien für den Industrialisierungsprozeß frei. Der Vater von Franz Daniel Hölterhoff führte in Lennep die Firma von Matthias Strohn, einem wohlhabenden Siegerländer Gerber. Daniel Hölterhoff bereiste als erster dai La Plata, um Wildhäute zu importieren. Der Lutheraner Hölterhoff war ehrenamtlicher Beigeordneter in Köln und Mtglied des Stadtrats sowie zeitweilig audi Präsident des Handelsgerichts. Er starb 1842, erst 44 Jahre alt. Sein Unternehmen war seinerzeit bereits liquidiert. Gustav Mallinckrodt, verheiratet mit Emilie Strohn, siedelte 1836 von Krombach nach Köln über. Als gebürtiger Dortmunder kannte er das Ruhrgebiet sdir gut. So konnte er wesentliche Neugründungen und Beteiligungen im Rahmen der Industrie an der Ruhr vermitteln. Von besonderer Bedeutung war seine enge Freundschaft zu Gustav Mevissen. Mevissen, als Sohn eines kleineren Zwimfabrikanten 1815 in Dülken geboren, kannte Köln bereits durch den Besuch der Höherai Bürgerschule 1828/29. Er entschloß sich 1840 endgültig zur Übersiedlung

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in die Metropole am Rhein.27 Mevissen plante wie kaum ein anderer Unternehmer seinen Einstieg in die Kölner Gesellschaft sehr präzise. Unternehmerische Plattform war für ihn der mit Christian Fremery im Mai 1841 eröffnete Garngroßhandel für dai Absatz des Düikener Zwirns. Das Entree in die Kölner Gesellschaft suchte der junge Mevissen sofort gezielt über die Musikalische Gesellschaft und die Casino-Gesellschaft. Von Hauskonzerten und dai hierbei gewonnenen Kontakten zu einzelnen führenden Familial schrieb er seiner Mutter begeistert; verärgert reagierte er 1842 auf die Verlobung von Wilhelm Joest und Tina Leidai. Dain auf sie hatte audi er bereits ein Auge geworfen. Er heiratete 1846 schließlich, nachdem er mit Franz Damian Leidai ausgiebig Italiai bereist hatte, die Schwester Elise Leidai und - nach deren frühem Tod 1857 - mit fünf minderjährigai Töchtern 1860 Therese, die jüngste Schwester Leidens.2' Wichtig für dai Einstieg in die Kölner Gesellschaft, die oft mit „Unger uns" apostrophiert wurde, war 1842 auch Mevissais Engagement im Rahmen der kritisch-liberalai Rheinischen Zeitung, an der viele junge Kaufleute „aus gutem Hause" beteiligt waren. Der führende Kopf der Gruppe war der wohlhabende Amsterdamer Jurist Georg Jung, der ebaiso wie seine Schwester in die Bankiersfamilie Stein einheiratete; danebai arbeitetai Franz Leiden, Robert Peill, Wilhelm Joest, Dagobert Oppaiheim und viele andere aigagiert an der Zeitung mit. Gustav Mevissen verfaßte zahlreiche Artikel und wurde dadurch in Köln zusätzlich bekannt. 1844 brachte Abraham Oppenheim, der nach dem Disput zwischai Ludolf Camphausai und David Hansemann um die Trassenführung der Rheinischen Eisaibahn hier dominierte, Mevissen mit 29 Jahren an die Spitze der Gesellschaft. Im gleichen Jahr folgte Mevissais Mitgliedschaft in der Handelskammer. Wichtig wurde 1848 Mevissens Rolle als von der preußischen Regierung amtlich bestellter Sanierer der im Strudel der 48er Revolution konkursreif gewordaiai Privatbank A. Schaafhausen. Nach deren Neuerrichtung als erste preußische Aktienkreditbank im August 1848 wurde Mevissai hier für neun Jahre Direktor. Primär im Bankhaus stand sein Schreibtisch im folgendai Jahrzehnt, und dieser Arbeitsplatz wurde zum „Schreibtisch des Reviers" 27

Joseph Hansen, Gustav von Mevissen. Ein rheinisches Lebensbild 1815-1899, 2 Bde., Berlin 1906. 2 " Historisches Archiv der Stadt Köln (HSTAK), Abt. 1073: Nachlaß Gustav von Mevissen; hierin auch: Briefwechsel Franz Wilhelm Koenigs.

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schlechthin. Von hier aus wurden die entscheidenden Industrialisierungsgründungen der 50er Jahre an Rhein und Ruhr vorangetrieben. Als „geschäftsfuhrende Direktoren" der Bank waren Wilhelm Ludwig Deichmann und Viktor Wendelstadt - ein Schwager von Deichmann tätig. Im ersten Verwaltungsrat saßen die Kölner Gustav Mallinckrodt, Jakob vom Rath, Wilhelm Joest und Johann Jakob Langen: Repräsentanten des Wildhäutegroßhandels und der Zuckerindustrie. Die großen Gründungen, die von hier ausgingen, nur aufzuzählen, würde den Rahmai dieses Beitrags sprengen: der Kölner Bergwerksverein, Phoenix, Hoerder Verein, Bochumer Verein, Neuschottland z.B.; Köln-Müsener und Sieg-Rheinischer Bergwerksverein; Kölnische Baumwollspinnerei und -weberei, Kölnische Maschinenbau-Anstalt; Saturn, Allianz, Metallurgische Gesellschaft in Stolberg, die Eschweiler Gesellschaft; die Darmstädter Bank, die Internationale Bank von Luxemburg. An den großen Gründungen waren alle Kölner Privatbanken, allen voran Oppenheim, umfassend beteiligt. 1858 stieg Wilhelm Ludwig Deichmann endgültig aus beim Schaaffhausenschen Bankverein; gemeinsam mit Adolf vom Rath gründete er seine eigene Bank, die in den folgenden Jahrzehnten entscheidend zur Finanzierung vor allem der Ruhrindustrie - u.a. für Krupp - beitrug. Gustav Mevissen gelang es Ende der 50er Jahre, seinen guten Freund, Vetter und Schwager Franz Wilhelm Koenigs2', der bisher dm linken Niederrhein von Dülken und Gladbach aus für die Familie unternehmerisch betreute und auch Handelskammerpräsident in Gladbach war, zur Übersiedlung nach Köln zu bewegen. Der Nachlaß beider Männer zeigt, daß die Schwester von Gustav und Ehefrau von Franz Wilhelm, Wilhelmine Mevissen, die zehn Jahre älter war als ihr Mann, hierfür eigentlich die Weichen gestellt hat. Sie war zweifelsohne eine der wenigen Frauen des 19. Jahrhunderts mit hohen unternehmerischen Qualitäten, die sich konkret nur sehr selten entfalten konnten. Die Familie Koenigs zog 1856 in das Nebenhaus von Mevissen in der Sternengasse. Sukzessiv rückte Koenigs für Mevissen in die Verwaltungsräte der großen Aktiengesellschaften nach. Seit den 70er Jahren erledigte Koenigs fast alle geschäftlichen Angelegenheiten nach Rücksprache, Beratung oder auch Anweisung für Mevissen. Dieser hatte jetzt dai Kopf frei für „die großen geistigen Fragen der Vergan29

Klara van Eyll, Lebensbilder zu F.W. Koenigs, in: Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsbiographien, Bd. 13 sowie Neue Deutsche Biographie, Bd. 12.

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genheit und Gegenwart", aber audi für viele Rei sai und Badekuren. Koenigs garantierte sozusagen Mevissens „Bewegungsfreiheit" - in familiärer Verbundenheit.30 Die Einheirat erleichterte den Aufstieg.31 Bei der Heiratspolitik achteten die Angehörigen der Oberschicht generell „sorgfältig auf die soziale und finanzielle Gleichrangigkeit".32 Doch scheint dies für Köln nur in begrenztem Umfang zuzutreffen. Zwar gab es auch hier vielfache Versippungen zwischen wenigen Familial.33 Aber es gab hier viele „Ausnahmen": In die alteingesessene katholische Familie Schaaffhausen durfte der protestantische Zuwanderer Deichmann einheiraten; der Katholik Emil Pfeifer34 heiratete in die reformierte Dürener Familie Hoesch ein; der Sohn Valentin wurde protestantisch erzogen. Die Kinder aus Emil Pfeifers zweiter Ehe mit der Katholikin Hedwig Matzerath waren wieder katholisch. Ihre Enkelin Pauline heiratete später in die reformierte Familie Joest ein. Ihre Kinder wurden protestantisch erzogen. Beim Protestanten Merkens und dai katholischen Raitiers Wittgenstein kam es zur Aussöhnung und zur großai Freundschaft zwischen Peter H. Merkens und Schwager Heinrich von Wittgenstein. Die Töchter von Damian Leiden heirateten evangelische wie katholische Männer, reichere oder ärmere. Als Joest 1848 60.000 Taler Einkommen versteuerte, gab Mevissai erst 4.000 Taler an. Da müssen doch andere Dinge mitgespielt haben, sicherlich auch eine gute Portion Vertrauen in die Persönlichkeit des Schwiegersohns, in die Familie der Schwiegertochter; dain Liebesheiraten sollen ja noch selten gewesai sein. Für die „tüchtigen homines novi"35 waren der Aufstieg und die Einheirat auch bei unterschiedlicher Konfession zugelassai. Der Aufstieg bedingte nicht eine entsprechende Schulbildung, vielmehr eine gute Berufsausbildung, d.h. eine Lehre und eine praktische Tätigkeit in der Branche, im Inland oder auch Ausland. 30

van Eyll, F.W. Koenigs, in: Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsbiographien, Bd. 13, S. 168. 31 Croon, Auswirkungen, S. 327; vgl. auch Friedrich Wilhelm Euler, Bankherren und Großbankleiter nach Herkunft und Heiratskreis, in: Bankherren und Bankiers. Büdinger Vorträge, Hg. Hanns Hubert Hofmann, Limburg 1978, S. 85-144; Heinz Doepgen, Erwerbs- und Heiratspolitik rheinischer Geschlechter. Vortrag v. 18.10.1969 zum 50jährigen Bestehen der Bezirksgruppe Bonn der Westdeutschen Gesellschaft für Familienkunde e.V. 32 Zunkel, S. 95. 33 Vgl. hierzu insbesondere die Sippentafeln in: Westdeutsche Ahnentafeln, Bd. 1. 34 Klara van Eyll, Lebaisbild Emil Pfeifer, in: Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsbiographien, Bd. 12. 35 Zunkel, S. 95.

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Das galt auch für die Söhne der bereits „Oberen" bzw. „Notablen". Sie ließen die Eltern dann häufig durch Privatlehrer unterrichten, da die Elementarschule lange unzulänglich war und auch negative Einflüsse aus unterai Schichten nicht ausschloß. Häufig war der Besuch der Höheren Bürgerschule, der eigentlichen Kölner Realschule damals. Auch die Gewerbeschulen des Rheinlands waren gefragt.36 Bis etwa 1860 absolvierten nur sdir wenige Söhne aus Kölner Unternehmerfamilien einen Militärdiaist, dann gab es „EinjährigFreiwillige" vor allem bei dai Deutzer Regimentern, und hier bei der Kavallerie; Heinrich Stein diente z.B. bei dai Hessischen Husaren. Eine Ausnahme macht audi hier die Familie des einstigoi Hauslehrers Johann Jakob Langoi, seine Söhne waroi bei der Infanterie oder bei den Pionieroi. Vielleicht etwas früher als in anderoi Regjonen besuchten Unternehmersöhne aus Köln Universitätoi.37 Eine Reihe von ihnen wählte anschließend nicht primär den Einstieg ins väterliche Unternehmen, sondern den juristischen Beamtendienst, ggf. auch, um als „Assessor jur. a.D." ein akademisches Rentiersdasein zu führoi, so wie Wilhelm Deichmann jun. z.B. Wir finden die Unternehmersöhne sdir oft in den Mitgliederlisten der studentischen Korporationoi, so Leopold Robert Peill in den 60er Jahren bei dai Teutonai und Friesen, andere schon früh bei den Bonner Pfalzern. Eine Durchsicht der Mitgliederliste des Corps Palatia ergibt, daß 1846 hier Gustav Mallinckrodt jun. aktiv wurde, 1861 Wilhelm Deichmann, 1873 z.B. Wilhelm Schnitzler. Bis 1914 verzeichnet das Corps noch 22 weitere Söhne von Kölner Wirtschaftsbürgern. Überwiegend studiertai diese Jura, einige aber auch Naturwissaischaftoi und Ökonomie.3' Vier Söhne vom Rath studierten, zwei Jura und zwei in der Philosophischen Abteilung. Der spätere Zuckerfabrikant Emil Pfeifer studierte 1828/29 in Berlin Eisenhüttenwesen, sein Bruder Valentin zur gleichen Zeit bei Thaer Landwirtschaft; Eugen Langoi besuchte in dai 50er Jahren das Polytechnikum in Karlsruhe. Nodi 1879 beklagte Mevissoi andererseits, daß viele Unternehmer ihre Söhne von den Universitätoi femhielten, weil sie fürchteten, dort zu frei erzogen und zu theoretisch gebildet zu werden.

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Ayçoberry, Cologne, S. 149. Conze, S. 192. 38 Palatia. 150 Jahre Corps Palatia Bonn 1838-1988, Bonn 1988. Hierin: Klara van Eyll, Die Pfalzer: Familien-Profile-Lebenswege, S. 41-62. 37

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Bezüglich der sozialen Herkunft der Kölner Wirtschaftsbürger lassai sich keine pauschalen Feststellungen treffen. Alles war denkbar: die akademische Herkunft, wie bei Franz Carl Guilleaume, der aus einer Juristenfamilie stammte; der Reeder und wohlhabende Rentier, wie bei Emil Pfeifer; der Lehrer, wie bei Eugen Langen und Wilhelm Ludwig Deichmann; der kleine Fabrikant, wie bei Gustav Mevissen; der Landwirt, wie beim Kaufmann Nikolaus August Otto, der mit der Kapitalhilfe des studierten Technikers Eugen Langen schließlich dai Verbrainungsmotor erfand; der biedere Handwerker, wie häufig im Maschinaibau, und natürlich der Handler in jeder denkbaren Form, der Exporteur/Importeur im Bergischen, der Apotheker, wie beim Chemiker Hermann Grüneberg, der 1858 mit Julius Vorster im Kölner Vorort Kalk die Düngemittelproduktion aufnahm. Das Rei sai war ein wichtiges Element des jungen wie des „gestandenen" Unternehmers.39 Man reiste, um zu lernai, zu studieren, um in die Lehre zu gehen, sich praktisch unterweisen zu lassai. Man reiste, um sich kulturell zu bilden, um Innovationen in fortschrittlichen Industriestaaten wie England und Belgiai kennenzulernen; man reiste, um Industriespionage zu betreibai. Bis 1870 hielt sich jeder dritte rheinisch-westfälische Unternehmer mindestais einmal in seinem Lebai eine Zeitlang im Ausland auf. Katholische Unternehmer reistai waiiger als evangelische, sicherlich, weil sie selbst so viel seltaier waren.40 Man reiste zu dai großai Weltausstellungai, man machte seine Hochzeitsreise nach Italiai. So war Mevissen 1860 fast vier Monate mit seiner zweiten Frau Therese Leidai unterwegs, während er in Köln in Abwesaiheit die Wiederwahl als Kammerpräsident verlor. Italiai war das bevorzugte Vergnügungs- wie Bildungsland, England das bevorzugte Erkundungsland, gleich gefolgt von Belgien als „Englands Musterschüler".41 Die Beispiele aus Köln sind zahllos. Italien war Reiseziel z.B. für Mevissai, Mertais, Carstanjai, Joest, Camphausen, Leidai, Peill, Andreae; in Frankreich waren Stollwerck, Camphausen, von Wittgaistein, Schnitzler, Joest, vom Rath, Andreae, Bachem. In Belgiai waren alle Häutehändler, deren Waren über Antwerpen liefen, häufig, danebai die Bachem, Walther, Mevissen, Camphausai, vom Rath; in Rußland war Herstatt; in Eng39

Vgl. hierzu besonders Martin Schumacher, Auslandsreisen deutscher Unternehmer 1750-1851 unter besonderer Berücksichtigung von Rheinland und Westfalen. Schriften zur rheinisch-westfälischen Wirtschaftsgeschichte, Bd. 17, Köln 1968. 40 Schumacher, S. 189. 41 Ebd., S. 295.

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land waren Firman eh, Mevissen, Farina, Lindgens, vom Rath und Schnitzler. Man fuhr allein, mit der Familie, mit Freunden, mit Geschäftspartnern - die Beispiele lassai sich fortsetzen. Aussagen zum Lebensstil der Wirtschaftsbürger sind recht schwierig.42 Christian Eckert sieht für die Teilhaber des Bankhauses Stein im Laufe des 19. Jahrhunderts zwei Typen: solche, die bis zum letzten Augenblick ihres Lebais geschäftlich tätig waren und solche, die einige Jahrzehnte hart arbeiteten und sich hiemach zeitig zurückzogen, um ihren Hobbies nachzugehen. Für Franz Wilhelm Koaiigs galt primär akribisdie Pflichterfüllung und loyale Arbeit an der Seite seines hochgeschätztai Schwagers Mevissen. Mevissen zog sich relativ früh aus dai Tagesgeschäftai zurück, abwickelte seit dai 60er Jahren die Ideen für eine Handelshochschule und begründete hierzu 1879 eine Stiftung. 1881 nach Verstaatlichung der Eisenbahnen und damit Aufgabe eines seiner letztai Präsidentaiämter gründete er die Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde. Ludolf Camphausen zog sich aus dem Bankhaus bereits 1862 ganz zurück, um bis 1890 einai erheblichai Teil seiner Zeit auf seinem Landgut in Godesberg mit astronomischen Studien zu verbringai; das gilt für Eduard Schnitzler jun., der in seinem 1834 bereits gekauften Godesberger Domizil43 die Blumenzucht als Hobby pflegte, oder für Wilhelm Deichmann jun., der Angeln und die Forellaizucht mit erheblichem Zeitaufwand in Mehlem betrieb. Häufiger finden wir diese „Aussteiger" bzw. „Raitiers" natürlich in der zweitai und noch mehr in der dritten Generation. Seit dai 40er Jahren mehren sich die Informationen über Sommervillen Kölner Wirtschaftsbürger am Rhein. Die Familie Bachem wohnte rechtsrheinisch in Honnef, Gustav Mallinckrodt besaß ein Haus auf der Hirschburg bei Königswinter. Die meistai Familial lebten im Sommer jedoch in Godesberg, Rüngsdorf, Mehlem oder Rolandseck. Straßaibezeichnungen wie Camphausenallee, Deichmannaue, Von-Groote-Straße, Rohlffsstraße, Viktor-SchnitzlerStraße, erinnern noch heute daran. Eine Ausnahme bildete das Sommerhaus der Oppenheims am Thürmchen unmittelbar vor den Mauern 42

Christian Eckert, J.H. Stein. Werden und Wachsen eines Kölner Bankhauses in 150 Jahren, Berlin 1940. 43 Eckert, S. 64. Zu Villen neuerdings Wolfgang Brönner, Die bürgerliche Villa in Deutschland 1830-1890 unter besonderer Berücksichtigung des Rheinlandes, Beiträge zu den Bau- und Kunstdenkmälern im Rheinland, Bd. 29, Düsseldorf 1987.

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der Stadt Köln am Rheinufer, kaum einen Kilometer vom Stadtpalais in der Budengasse entfernt. Die Familial lebten in der Regel von Mai/Juni bis Oktober in ihren Sommervillen, die Unternehmer fuhren nur am Wochenende nach hier. Im Zentrum von Godesberg und in enger Nachbarschaft im Bereich Kaiserstraße/Kurfiirstenstraße wohnten die Bankiers Stein, Schmits, Schnitzler, die später in Rolandseck bauten, Mevissen, Joest, Herstatt, Rautenstrauch oder vom Rath. Die Wendelstadts residierten in der Redoute, die Deichmanns kauften 1838 die Mehlemer Aue, ein Landgut, in dessen Nähe später auch die Zuckerfabrikanten Pfeifer unmittelbar am Rhein eine kleine Landwirtschaft betrieben. In Mehlem wohnte auch die jüdische Bankiersfamilie Eitzbacher. Die Zuckerfabrikanten lebten in der zweiten und dritten Generation überwiegend auf größeren Landgütern im Anbaugebiet der Zuckerrüben, so die Langais in Haus Etzweiler und auf der Burg Zieverich bei Zülpich, die Joests im Eichholzhof bei Bornheim/Wesseling, auf dem Sittarderhof bei Buir/Elsdorf. Diese Herrenhäuser waren sdir repräsentativ, Villen mit großen Parkanlagen, teilweise verbunden mit einer Jagd, wie bei den Joests. Vor 1850 führten nur wenige Kölner Unternehmer ein „großes Haus" in der Stadt. Mittelpunkt der Kölner Gesellschaft vor 1850 waren unter anderem die Stadthäuser von Oppenheim, Deichmann und von Philipp Engels, einem sdir wohlhabenden Häutehändler. Er stellte z.B. sein Tafelsilber zur Verfügung, als der preußische König im Rahmai des geplanten Wiederaufbaus des Doms 1842 Köln besuchte. Im Hause Oppenheim „dinierte" der König seinerzeit. Die zweite Generation baute seit dai 60er Jahrai großartige Palais teilweise auch in der Stadt, so das Deichmannhaus unweit des Centraipersonenbahnhofs, die Guilleaume-Villa am Sachsenring, das Palais von Eugen Langen mit eigaier Reitbahn, das Haus Ipperwald von Koaiigs neben dem Sitz des Kölner Regierungspräsidenten. Die Gründergeneration hatte noch bescheidai und recht eng gewohnt, wie z.B. die Langens mit insgesamt bis zu elf Kindern in einem kleinen Haus mit Gemüsegarten in der Severinstraße. Nachdem in Köln zu Beginn der 80er Jahre die mittelalterliche Stadtmauer endlich geschleift war, begann der Bau der Neustadt mit sdir repräsentativen Bürgerhäusern, vor allem im Bereich der Ringe. Diese wurden vor der Erschließung der westlichen und südlichen Wohnvororte zur Spitzenwohnlage. Die Ring-Villai waren groß genug auch für repräsentative Feste. Bd Verlobungen und Hochzdten

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wurde hier gern Theater gespielt. Der Inhalt solcher selbst verfaßten Stücke bietet Aufschluß über Freizeit, Reisen und Hobbies so mancher Mitglieder der Wirtschaftsbürgerfamilien. Trotz hoher Arbeitsdisziplin kam die Geselligkeit nie zu kurz, sei es im familiären Rahmen oder im Freundeskreis, sei es innerhalb der vielen Vereine, die Köln seiner Gesellschaft im 19. Jahrhundert bot. Das Vereinswesen wurde gerade im 19. Jahrhundert zu einer „die sozialen Beziehungen der Menschen organisierende! und prägenden Macht". Patriotische Vereine und Lesegesellschaften machten dai Anfang, gefolgt von Kunst-, Konzert- oder audi Gewerbevereinen, von nur geselligen Vereinen und - viel später erst - von Sportclubs. Die Bürgergesellschaften waren der gesellschaftliche Mittelpunkt der führenden Familial.44 Die Motive für die Organisation der Bürger in Vereinen, die Nipperdey primär in freier Geselligkeit, vernünftiger Unterhaltung oder in Bildung und Humanität, in der Förderung des Gemeinwohls und schließlich im Diaist an Kunst und Kultur im weitestai Sinne sieht, geltai für alle Schichten des Bürgertums. Faktisch aber waren gerade eine Reihe älterer Vereine auf die oberai Schichten begrenzt; ständische Differenzierung wurde durch Bildungsdifferenzierung ersetzt. Die Ball otage beschränkte den Zugang - wie z.B. bei der Kölner Casino-Gesellschaft. Hier wurden über „berufliche" Grenzen hinweg Kontakte gepflegt, so zwischen Wirtschaftsbürgern und Bildungsbürgern. Gemeinsam wurde audi gespielt, z.B. Billard, Schach oder Whist; es wurde gekegelt. So sollai Wahlen zur Kölner Handelskammer einmal vorab auf der Kegelbahn der Gesellschaft „Erholung" aitschieden wordai sein.43 In Köln wurde natürlich audi eifrig Karneval gefeiert. Von zaitraler Bedeutung war die Casino-Gesellschaft in Köln zur „Pflege des gesellschaftlichai Lebais". Gegründet in französischer Zeit als „Sodété" in der Nachbarschaft des Militär-Casinos am Neumarkt und deshalb audi Civil-Casino gaiannt, rekonstruiert 1820, gehörten ihr tolerante Bürger aus allen Berufai und Konfessionai, „aus der gehobenen Bürgerschicht"46 an. Führende Mitglieder der 44

Croon, Führungsschichten, S. 321. Zu Vereinen allgemein Thomas Nipperdey, Verein als soziale Struktur im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Hartmut Boockmann u.a., Geschichtswissenschaft und Vereinswesen im 19. Jahrhundert, Göttingen 1972, S. 1-44. 45 Ζunkel, S. 82. 46 Hanno Gilgenberg, 175 Jahre Casino-Gesellschaft Köln von 1809 bis 1984, S. 13.

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Casino-Gesellschaft reorganisierten z.B. 1823 den städtischen Karneval durch Gründung der Komitee-Gesellschaften, durch Einführung des Sitzungskarnevals und durch erstmalige Umzüge. In dai ersten Jahren nach 1823 stellten Mitglieder der Casino-Gesellschaft, u.a. Johann Maria Farina, „dai Held Karneval" und die „Prinzessin Venetia". Im neuen Palais der Casino-Gesellschaft fanden seit 1833 audi die Konzerte der Musikalischen Gesellschaft statt, deren Geschichte ebenfalls bis in die französische Zeit zurückreicht. Zahlreiche Kaufleute und Fabrikanten, wie Brügelmann, Boecker, Koch, Moll, Weyer oder Schüll gehörten 1812 zu dai Gründern. 1818 sind DuMont, Farina sowie Mathias Hölterhoff oder Louis Mertens, der Schwiegersohn von Abraham Schaafhausen und Ehemann von Sibylle, „Rheingräfin" gaiannt, der großai Kunstförderin, dabei. Fast jeder zugewanderte Unternehmer wurde seit den dreißiger Jahren Mitglied der Musikalischen Gesellschaft: so die Camphausens, Carstanjens, Deichmanns, Guilleaumes, Seydlitz', Mevissais, Oppaiheims, vom Raths, Schnitzlers oder Steins. Die gleichai Namen finden wir unter dai Initiatorai und Förderern des Kölnischen Kunstvereins von 1839. Die Musikalische Gesellschaft blieb, wie fast alle gesellschaftlichen Vereine, fast 100 Jahre lang ein Herrenclub.47 Selbst das 100jährige Stiftungsfest wurde 1912 nur unter Männern gefeiert. Damai konnten auch nach Öffnung der Gesellschaft im späten Kaiserreich nicht Mitglied werdai; sie hattai Zugang lediglich als Familienangehörige von Mitgliedern. In der Direktion der Gesellschaft findai wir stets Unternehmer: so 1823 dai Tabakfabrikantai DuMont, 1830 den Bankier Ignaz Seydlitz, 1833 dai Kölnischwasser-Fabrikanten Peter Josef Mülhais, 1838 dai Kaufmann Franz Heuser, 1846 Farina, 1853 Heimann, 1872 den Bankier Heinrich Seligmann oder 1894 Viktor Schnitzler. Audi die primär katholische „Bürgergesellschaft" von 1863 blieb lange ein geselliger „Männerverein" mit 1864 bereits rd. 300 Mitgliedern, darunter August Reichensperger, Joseph Peter Bachem, Adolf Kolping, Weihbischof Baudri und vielen Lehrern als Gründungsmitgliedern. Die Bürgergesellschaft hat wohl bis 191448 im Vergleich zur 47

Irmgard Scharbeith, Gürzenich-Orchester Köln 1888-1988, Köln 1988, sowie zuvor Karl Wolff, Hundert Jahre Musikalische Gesellschaft, Köln 1912, S. 85. 4 * 90 Jahre Biirgergesellschaft Köln, Köln 1953. - Vgl. auch Max-Leo Schwering, "Die Bürger" in ihren Gründern, Vortrag zum 100jährigen Jubiläum der Bürgergesellschaft Köln, Köln 1963.

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Casino-Gesellschaft und zur Musikalischen Gesellschaft bei dai fuhrenden Wirtschaftsbürgern keine Rolle gespielt. Ganz anders war dies bezüglich des „Cölner Clubs" von 1882, der aus dem exklusiven Kölner Ruderclub von 1872 hervorging mit dai Tabakfabrikanten Ludwig DuMont, Minderop und Foveaux, mit den Boisserée und Wilhelm Deichmann als Gründern und Mitgliedern wie Eugen Pfeifer, Otto Andreae, Theodor Essingh, Wilhelm Nierstras, Leiden und Heimann, Viktor Nacken und Julius Vorster. Die Freunde des Ruderclubs etablierten zum Zweck der geselligen Unterhaltung 1882 den Cölner Club mit Wilhelm Deichmann als seinem ersten Präsidenten. Bald fehlte hierin kaum ein klangvoller Kölner Name.49 Eine ganz andere Intention hatte die Lesegesellschaft von 1872, eine eher nationalliberale Gründung mit dem Ziel der „vorurteilsfreien Unterrichtung". Der Kölner Textilfabrikant Classen-Kappelmann sei hier als einer der Initiatoren genannt. Er vertrat in den 60er Jahren die Kölner Wirtschaft beim Deutschen Handelstag.50 In stärkerem Maße waren Wirtschaftsbürger in dem seit 1874 eng mit der Lesegesellschaft arbeitenden „Volksbildungsverein" engagiert.51 Hier finden wir Franz Wilhelm Koenigs, Franz Leiden, Carl Joest, Wilhelm Deichmann, Eduard Mayer, Dagobert Oppenheim, Arthur und Emil vom Rath sowie Viktor Wendelstadt. Es ging hier z.B. 1874 um die Gründung einer Fortbildungsschule mit mehr als 250 Schülern. Bereits Anfang der 80er Jahre schlief dieser Verein allerdings ein. Die ehrenamtliche Tätigkeit in religiös-kirchlichen und sozial orientierten Gremial spielte insgesamt im 19. Jahrhundert in Köln eine beachtliche Rolle. Das Engagement protestantischer Unternehmer im Rahmen ihrer Kirchengemeinden war für viele selbstverständlich. Man war Presbyter, Ältester, Kirchmeister, Synodaler.52 Barbara Becker-Jákli führt zahlreiche bekannte Namen seit 1820 hierfür auf. In manchen Jahren hatten fast ausschließlich Unternehmer diese kirchlichen Ehrenämter inne. Der „Frauenverein" von 1824, gegründet

49

Hans-Egon Arnolds, Festschrift zum Jubiläum des Cölner Clubs e.V., Köln 1982, S. 4ff. 50 Lese-Gesellschaft Köln, Festschrift zur Feier des 50. Stiftungsfestes, Köln 1922, S. 7. 51 Ebd., S. 54ff. 52 Zunkel, S.72.

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von Unternehmerfrauen wie Mumm und Nierstras, Peill, Joest oder Langen, unterhielt z.B. bis 1846 eine Armenfrei schul e.33 Großzügig gewährte man Spenden, stiftete karitative Einrichtungen oder Kirchenfenster. Die privaten konfessionellen Kölner Krankaihäuser, evangelische ebenso wie etwas seltener katholische, gehen überwiegend auf private Stiftungen engagierter Wirtschaftsbürger zurück. In den Kuratorien dieser Einrichtungen arbeitete man im gesamten 19. Jahrhundert aktiv mit.54 Das Mäzenatentum hatte in Köln im 19. wie im 20. Jahrhundert eine herausragende Bedeutung. Am stärksten war wohl die Liebe zur Musik und ihre Förderung ausgeprägt. Viele Unternehmer und ihre Ehefrauen, ihre Töchter wie ihre Söhne musizierten selbst. Hauskonzerte gehörten damals dazu. Singspiele gehörten zum Repertoire jedes Karnevals, von Unternehmern erdacht und zusammengestellt. Der Kölner Männergesangverein führt diese Tradition der „Divertissementchen" bis heute fort. Einzelne wohlhabende Wirtschaftsbürger, wie die Steins oder die Oppenheims, traten früh mit großen Gemäldesammlungen hervor. Andere stifteten Museen: so Johann Heinrich Richartz 1861 ein Haus für die Sammlung von Ferdinand Franz Wallraf; Otto Andreae ermöglichte 1888 die Errichtung des Kunstgewerbemuseums. Die Familie Rautenstrauch und der Völkerkundler Wilhelm Joest stifteten 1906 das „Rautenstrauch-Joest-Museum". Arnold Guilleaume war im Freundeskreis des Ostasiatischen Museums führend tätig und brachte auch erhebliche Mittel für die Sammlung Schnütgen auf. Über die Beziehung Kölns zu Preußen, zur „Mußheirat" oder „Vernunftehe" gibt es viele bekannte Sprüche, so den von Abraham Schaaffhausen von 1815, man heirate in eine arme Familie. Kölns Wirtschaftsbürger waren stets vernünftig genug, die Gegebenheiten so zu nehmen, wie sie tatsächlich waren, sich zu arrangieren und - oft mit Humor - das Beste daraus zu machen. Spricht man von Camphausens frühem Rückzug aus der Wirtschaft und seinen astronomischen 53

Barbara Becker-Jákli, Die Protestanten in Köln. Die Entwicklung einer religiösen Minderheit von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, Bd. 75, Köln 1983. - Über die Geschichte der Juden informiert die Dissertation von Alwin Müller, Die Geschichte der Juden in Köln von der Wiederzulassung 1798 bis um 1850. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte einer Minderheit. Kölner Schriften zu Geschichte und Kultur, Bd. 6, Köln 1984. 54 Helmuth Croon, Rheinische Städte und ihre Bürger im 19. Jahrhundert, Remscheid 1958, S. 13.

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Studiai in Rüngsdorf, so sollte man seine über Jahrzehnte sdir enge, vertrauensvolle, ja freundschaftliche Beziehung zum Kronprinzen und späteren König Wilhelm I. und zur Prinzessin Augusta nicht vergessen. Beziehungen wie diese haben viel zu einem unverkrampften Verhältnis der Kölner Wirtschaftsbürger zu „Preußen" beigetragen. Ludolf Camphausen und David Hansemann konnten es sich 1848 in Berlin leisten, zu dai Kabinettssitzungen nicht, wie es bisher üblich war, im Frack zu erscheinen. Und in diesem Jahr soll bei Sitzungen sogar geraucht worden sein, was den rheinischen Liberalen wohl als eine gewisse „Hemdsärmeligkeit" ausgelegt wurde.55 Es gelang 1848 jedoch Ludolf Camphausen und seinen rheinischen Freunden nicht, den preußischen Staat nach ihren Vorstellungen umzuformen. Helmuth Croon sprach in diesem Zusammenhang einmal davon, daß ihnen die Kunst des Herrschais nicht gegeben war, daß andererseits die Mehrheit der Bevölkerung damals auch nicht hinter ihnen gestanden habe. Mevissen zog hieraus für sich damals die Folgerung, unternehmen sch aktiver und, wie er seinem Biographen Joseph Hansen gegenüber einmal geäußert hat, Millionär zu werden. Preußische Ehrungen nahmen die Kölner Unternehmer gern entgegen, sei es der Rote Adler-Orden, sei es der seltenere Kronenorden. Durchaus begehrt waren die Titel „Kommerzienrat" und „Geheimer Kommerzienrat" bei den Wirtschaftsbürgem. Die Liste der hiermit ausgezeichneten Kölner ist lang, und es ist reizvoll, in dai Akten des Oberpräsidenten die Begründungen pro und contra einer solchoi Auszeichnung zu lesen. Über die Einstellung der Wirtschaftsbürger zum Adel gibt es widersprüchliche Aussagoi. Gustav Mevissoi und Gustav Michels wurdoi in den 80er Jahroi ins Preußische Herrenhaus berufen. Nobilitierungen nahmen eine Reihe Kölner Unternehmer voller Stolz an. 1868 erhielt Simon Oppoiheim dai erblichoi österreichischen FreiherrnTitel, sein Bruder Abraham wurde vom Preußischai König geadelt, ebenso wie in den 80er Jahren seitois Preußoi dann Carstanjoi, Mevissen und Dachmann oder 1902 Mallinckrodt, 1907 Langen, 1908 Rautenstrauch und Stein, 1912 Joest, 1913 Schnitzler und 1914 Guilleaume. Die rheinischai Liberalai des Vormärz waren, was die Vertretung Kölner Unternehmer in den Parlamoitoi betrifft, sicherlich eine Aus-

55

Ζunkel, S. 92.

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nahmeerscheinung. Zu dai rheinischen Provinziallandtagen56, bei denen die Stadt Köln in der Gruppe der Städte immer zwei von 25 Plätzen hatte, 69 % aller Sitze aber ohnehin dem Adel vorbehalten waren, entsandte Köln 1826 Peter Heinrich Merkais (bis 1845) und Georg Heinrich Koch (bis 1833), 1828 Boisserée, 1830 Hölteriioff und 1843 bis 1845 Ludolf Camphausen. Nach 1848 spielten Kölner Unternehmer hier keine Rolle mehr. Im preußischen Landtag saßen Ludolf Camphausen und Gustav Mevissen, in Frankfurt 1848 auch der Zigarrenfabrikant Franz Raveaux. Nach 1871 waren Mitglieder des Abgeordnetenhauses der nationalliberale Ziegeleibesitzer Theodor Kelders (1891 bis 1898), sodann der Nationalliberale Julius Vorster (1898 bis 1918) sowie der Zentrumsabgeordnete und Buchdruckereibesitzer Ludwig Pleß aus Mülheim am Rhein (1885 bis 1903) und der Jurist Dr. Viktor Schnitzler, ebenfalls Nationalliberaler, von 1898 bis 1903.57 Die Nationalliberalen waren die klassische Partei des deutschen Wirtschaftsbürgertums. Die Liberalen bildeten auch im Kölner Stadtrat über viele Jahrzehnte eine starke Gruppe. 1832 wurden z.B. ausschließlich Wirtschaftsbürger in dai Kölner Rat berufai. Seit 1846, als der Rat erstmals gewählt wurde, gab es Verschiebungai zugunsten des Bildungsbürgertums. Die Wirtschaftsbürger warai hiemach zunächst noch mit 60% vertreten und seit 1850/51 mit 53%. 1860 lag ihr Anteil wieder bei 60%." Bis ins 20. Jahrhundert hinein behielten die Liberalen die Mehrheit im Kölner Rat, aber audi im Zentrum gab es jetzt Wirtschaftsbürger. Es bestätigt sich für Köln bis 1914 nicht, daß Unternehmer seltener ein Mandat übernahmen. So sind 90 Abgeordnete für die Zeit 1850 bis 1914 eindeutig der Gruppe der Wirtschaftsbürger zuzuordnen, ganz überwiegend nodi Liberale. Carl Joest jun. war als Konservativer eine Ausnahme. Fünf Fabrikantai gehörten dem Zentrum an, ebaiso zwei Bauunternehmer, ein Ziegeleibesitzer und ein Versicherungsbeamter. Es ist nicht möglich, das Vermögen von Kölner Wirtschaftsbürgern für bestimmte Zeiträume einigermaßen präzise anzugeben. Nur wenige Mosaiksteine gibt es hier für einzelne Jahre und einzelne Personal. Abraham Schaafhausen hinterließ bei seinem Tod 1824 rd. einein56

Vgl. hierzu Gustav Croon, Der Rheinische Provinziallandtag bis zum Jahre 1874, Düsseldorf 1918. 37 Arnolds, S. 18. - Vgl. hierzu auch Hans Jaeger, Unternehmer in der deutschen Politik, in: Bonner Historische Forschungen, Hg. Max Braubach, Bonn 1967. 58 Padtberg, S. 145ff.

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halb Millionen Taler5'. Die städtische Einschätzungskommission ermittelte 1848 bei seinerzeit rd. 94.000 Einwohnern auf der Basis eines Mindesteinkommens von 80 Talern 22.000 Steuerpflichtige, 1852 waren dies auf der Basis von 100 Talem insgesamt knapp 11.000. Weit mehr als die Hälfte von ihnen verdi aite jedoch weniger als 400 Taler. Köln war andererseits damals nach Berlin und Breslau die wohlhabendste Stadt Preußens; denn sehr wenige Bürger verdienten hier sdir viel. Im Handwerk versteuerte kaum jemand 1000 Taler. Die Zahl der Raitiers stieg in Köln von 1854 mit 162 über 220 im Jahr 1861 auf 594 in 1874.60 Die Dividendenzahlungen vieler Aktiengesellschaften stiegen in dai 50er, 60er und auch noch zu Beginn der 70er Jahre enorm: In fünf Jahren wurden 50 bis 70% des Grundkapitals ausgeschüttet. Köln war bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts hinein primär Handelsstadt, Banken- und Versicherungsplatz. Für die Industrie hatte Köln primär eine Verwaltungsfunktion. Bis 1914 stieg Kölns Bevölkerung von 129.000 ohne Eingemeindungen auf 277.000 und einschließlich der eingemeindeten Vororte auf knapp 600.000 Personal an. Infolge der Hochindustrialisierung und des großen Wachstums veränderte sich auch die soziale Schichtung stark. Für 1912 sind wir über Martins „Jahrbuch der Millionäre in der Rheinprovinz"61 auch bezüglich Köln gut informiert. Max von Guilleaume ist hier mit einem Vermögai von 27 Millionen auf Platz elf aufgeführt; auf den Plätzen 13 und 14 liegen Theodor und Arnold Guilleaume mit jeweils 26 Millionen. Laura Oelbermann, die Witwe von Emil Oelbermann, besaß 16 bis 17 Millionen. Hiemach folgen sukzessiv die Oppenheims, Vorsters, Deichmanns, Nevens DuMonts, Carstanjais, Steins, der Brauereibesitzer Friedrich Winter, Schnitzlers, Rautenstrauchs, Peters, Eitzbachers, vom Raths, van der Zypais, Schmalbeins (vom Rath), Charliers, Seligmanns, Camphausens, Heidemanns, Scheiblers, Langais, Mallinckrodts, Herstatts, Heimanns, Hagens, Peills, Joests, Mäurers, Tietzs, Mevissens, Koaiigs, Osterrieths, Essers, Pfeifers, Stollwercks, Andreaes, Vossens sowie mit „nur" zwei bis drei Millionai die Bachems, Dahmens und Farinas. Das Handbuch listet 141 „einfache" Millionäre auf, hierunter die Stühlens, Bredts, Clouths, DuMonts (die Tabakfabrikanten), Bürgers, 59

Ayçoberry, Probleme, S. 515. Ayçoberry, Probleme, S. 515 und Zunkel, S. 61. 61 Rudolf Martin, Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre in der Rheinprovinz, Berlin 1913. 60

Kölns Wirtscfaañsbürgertum

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Michels und Sünners. Insgesamt gab es 1912 mindestens 264 Millionäre in Köln; darunter waren auch einzelne Juristen, ganz überwiegend resultierten die Vermögen jedoch aus wirtschaftlicher Tätigkeit. Sagt das etwas aus über die Zugehörigkeit einzelner Unternehmer, einzelner Familial zum Wirtschaftsbürgertum? Hat dies überhaupt etwas mit Geld, Reichtum zu tun? Gehört ein gescheiterter Unternehmer weiterhin zum Wirtschaftsbürgertum? Ist dies eine Frage des Ansehais durch Dritte, eine Frage von Anstand und guter „Kaufmannssitte"? Die Bürgergesellschaften und geselligen Vereinigungen der Stadt geben wohl wichtige Anhaltspunkte hierfür. Diente die Ballotage der „Elitefindung", der Abgeschlossenheit? Wann öffiiete sich der Kölner Clan „Unger uns"? Wann erhielten Aufsteiger, Zuwanderer eine Chance? Hatten sie diese nur bei unternehmenschem Erfolg? War nicht zusätzlich ein entsprechendes Engagement in der städtischen Gesellschaft erforderlich? Vieles dürfte hier zusammenkommen, und vieler weiterer Detailforschungen bedarf es, um zu präziseren Aussagen in diesem Feld zu kommen. Nur wenige, auch biographisch vorgestellte Beispiele konnten dai Komplex des Wirtschaftsbürgertums in diesem Beitrag erhellen. Dies ist ein erster Ansatz, um zu einem klareren Bild für Köln zu kommen. Noch so viele typische Einzelpersönlichkeiten genügen keinesfalls, um ein Bild von der gesamtai Gruppe zu gewinnai. In der bisher vorliegenden Literatur werden immer wieder die gleichen Namen von Unternehmern im Sinne von „Großbürgern" genannt. Das ist zu wenig. Herauszufinden, wer konkret zum Kreis der „Besitzenden und Gebildeten" im Sinne einer „meinungsbildenden Elite" in Köln gehörte, ist anhand der bisher vorliegenden Einzelstudiai nicht möglich.62

62

Ayçoberry, Probleme, S. 515.

Rainer Gömmel D A S NÜRNBERGER WIRTSCHAFTSBÜRGERTUM IM 19. JAHRHUNDERT

1. Einfuhrung Der relativ junge Begriff „Wirtschaftsbürgertum" ist in der wissenschaftlichen Literatur bislang nodi nicht eindeutig definiert worden, so daß der Leser oft nur erahnen kann, um welchen Teil der erwerbsfähigen Bevölkerung es sich dabei vermutlich handelt.1 Demgegenüber scheint der wesentlich ältere Begriff „Großbürgertum" präziser, insbesondere, wenn er mit dem Adjektiv „industriell" verbunden wird.2 Die ebenfalls gebräuchliche Bezeichnung „Besitzbürgertum" zielt einseitig auf Einkommen und Vermögen ab, spricht also letztlich bestimmte Statussymbole an und trifft überwiegend die gesellschaftliche „Oberschicht". Diese hat sich bis zum Ersten Weltkrieg vor allem aus den größerei (oft adligen) Grundbesitzern und Unternehmern, dai hohen Beamten und Offizierei, Ärzten, Künstlern und Rentiers zusammengesetzt.3 Damit wiederum wird ein teilweise anderer Personenkreis umfaßt im Vergleich zu dem, dei die Soziologie vielfach als „Bürgertum" bezeichnet. So verstand Max Weber darunter im ökonomischen und standi schei Sinn die Unternehmer aus dem Bereich Handwerk, Handel und Industrie, Raitiers, „schließlich und überhaupt alle Persönlichkeiten, die akademische Bildung und damit einai gewissen ständischai Standard, ein soziales Prestige besitzen".4 Warn man diesen Personaikreis nach seiner Einkommensquelle unterscheidet, dann steht nebai der Gruppe der Gehaltsempfänger aus Kassen 1

So z.B. bei Wolfgang Zorn, Die Hochindustrialisierung, in: Gerhard Pfeiffer (Hg.), Nürnberg - Geschichte einer europäischen Stadt, München 1971, S. 402. 2 Vgl. z.B. Karl Erich Boni, Von der Reichsgründung bis zum Ersten Weltkrieg. (Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, 9. neu bearb. Auflage, hrsg. von Herbert Grundmann, Band 16), München 1979, S. 44. 3 Eine so umrissene Oberschicht versuchte 1897 Gustav Schmoller zu erfassen. Vgl. Werner Conze, Sozialgeschichte 1850-1918, in: Hermann Aubin und Wolfgang Zorn (Hg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Band 2, Stuttgart 1976, S. 628. 4 Max Weber, Wirtschaftsgeschichte. Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 3. durchgesehene und ergänzte Aufl., besorgt von Johannes F. Winckelmann, Berlin 1958, S. 271.

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der Hoheitsträger eine Gruppe, für die die Bezeichnung „Wirtschaftsbürger" zutreffend wäre, nämlich die Gruppe der unternehmerisch Tätigen: Unternehmer im Bereich von Handel und Gewerbe, Handwerker, Rentiers als Besitzer von Produktionsmitteln und die selbständigen Akademiker, wie freipraktizierende Ärzte, Rechtsanwälte, Notare usw.5 Da die folgende Untersuchung das 19. Jahrhundert erfaßt, eine Zeit also, in der sich in Deutschland eine bis dahin ungeahnte industrielle Entwicklung vollzog, überhaupt der rasche und nachhaltige Übergang zum Industrieland gelang, soll hier der Begriff „Wirtschaftsbürgertum" auf einen bestimmten Teil der unternehmen sch Tätigen bezogen werden: solche Unternehmer, deren Wirtschaftsbetriebe6 für sich allein betrachtet die Wirtschaftsentwicklung einer Region (hier also Nürnberg) spürbar beeinflußt haben. Im übrigen werden hier auch leitende Angestellte (Generaldirektoren oder Manager), deren Funktional bzw. Entscheidungen „taktischer" Art sind, als Unternehmer bezeichnet, im Vergleich zu dem Unternehmer im engeren Sinn, der „strategische" Entscheidungen trifft.7 Der so eingegrenzte „Wirtschaftsbürger" ist ein „economic man" (Adam Smith), also ein „Geschäftsmann", der zumindest zeitweise aktiv unternehmerisch tätig war und in dieser Zeit das Unternehmen entweder gegründet und/oder entscheidend geleitet hat. Diese Definition ist, bezogen auf die damaligen Nürnberger Verhältnisse, nur theoretisch enger als diejenige, die unter „Wirtschaftsbürger" bzw. „Unternehmer" auch reine „Kapitalisten", also passiv Beteiligte bedeutender Unternehmungen, Aufsichtsratsmitglieder und fuhrende Repräsentanten von Wirtschaftsverbänden versteht.8 Soweit sich feststellen ließ, war nämlich kein wich5

Eine solche Gruppierung findet sich bei Hansjoachim Henning, Das westdeutsche Bürgertum in der Epoche der Hochindustrialisierung 1860-1914. Soziales Verhalten und soziale Strukturen. Teil I: Das Bildungsbürgertum in den preußischen Westprovinzen, Wiesbaden 1972, S. 35, 36. 6 Von diesen wiederum die Produktiv-Betriebe aus dem Bereich des konkreten Leistungsprozesses (einschließlich der Dienstleistungsbetriebe) sowie aus dem (abstrakten) finanziellen Bereich (Banken, Versicherungen). - Vgl. Erich Schäfer, Die Unternehmung, 5. Aufl., Köln/Opladen 1963, S. 15. 7 Vgl. hierzu Fritz Redlich, Der Unternehmer. Wirtschafts- und Sozialgeschichtliche Studien, Göttingen 1964, S. 97, 361, der zwischen Unternehmer und Manager trennt, ebenso Jürgen Kocka, Unternehmer in der deutschen Industrialisierung, Göttingen 1975, S. 14. 8 So neuerdings bei Hans Hesselmann, Das Wirtschaftsbürgertum in Bayern 18901914. Ein Beitrag zur Analyse der Wechselbeziehungen zwischen Wirtschaft und Politik am Beispiel des Wirtschaftsbürgertums im Bayern der Prinzregentenzeit.

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tiger „Kapitalist", Aufsichtsrat oder Verbandsrepräsentant, nicht vorher oder gleichzeitig auch aktiv unternehmerisch tätig. Die an anderer Stelle bereits erwähnte Einschränkung, daß nur solche Wirtschaftsbürger eifaßt wurden, die auf die regionale Wirtschaftsentwicklung einen merklichen Einfluß ausübten, läßt natürlich alle Handwerker ausscheiden, soweit sich deren Betriebe nicht zu Fabriken entwickelt haben. Entsprechendes gilt für die mei stai Dienstleistungsbetriebe. Allerdings ist die Betriebsgröße, gemessen an der Beschäftigtenzahl und dem Umsatz, nicht immer das alleinige Kriterium und ist auch nicht absolut festgelegt. Ein „Großbetrieb" des frühen 19. Jahrhunderts ist in aller Regel wesentlich kleiner als gegen Ausgang jenes Jahrhunderts. Gleichwohl konnte der frühe Unternehmer ebenso dynamisch und innovativ sein wie der spätere Großindustrielle. Anhaltspunkte lieferten dafür z.B. internationale Marktbeziehungen und Marktstellungen sowie die Schaffung neuer Produkte und Märkte. Nach diesai teils quantitativen, teils qualitativen Merkmalen wurden dreißig Persönlichkeiten erfaßt, deren Karrierebeginn sich ziemlich gleichmäßig auf das 19. Jahrhundert vertali und die insgesamt als die „erfolgreichsten" und bekanntesten Unternehmer jener Zeit angesehen werden können. Zweifellos mag in dieser Hinsicht die Grenze zu weiteren zehn oder gar zwanzig Unternehmern fließend sein, was aber beweist, daß in statistischem Sinn die erfaßte Teilmenge repräsentativ für eine mögliche größere Grundgesamtheit ist.9 Soweit erforderlich oder hilfreich, werden jedoch Daten aus diesem erweiterten Kreis herangezogen. Um es noch einmal zu betonai: Es geht in der folgenden Untersuchung um die Charakterisierung einer bestimmten Art von Wirtschaftsbürgertum, das sich in seiner Gestaltungskraft auf das regionale, teilweise auch überregionale Wirtschafte- und Sozialleben von anderen, im Durchschnitt kleineren, unauffälligen Wirtschaftsbürgem deutlich abgehoben hat. Anders formuliert: Welche Personen waren dafür verantwortlich, daß in Nürnberg im Vergleich zum übrigen Deutschland ein erster großgewerblicher Aufschwung sowie der (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, hrsg. von Hermann Kellenbenz, Eberhard Schmitt und Jürgen Schneider, Band 32), Stuttgart 1985, S. 21. - Entsprechend zählt auch Hans Jäger, Unternehmer in der deutschen Politik (18901918), Bonn 1967, S. 17, diese Personal zu den Unternehmern. 9 Nebenbei sei erwähnt, daß in der Stichprobentheorie eine Stichprobe im Umfang größer als dreißig bereits als "groß" gilt. - Vgl. Rolf Wagenfiihr, Manfred Tiede und Werner Voß, Statistik leicht gemacht. Band 11: Einführung in die induktive Statistik, Köln 1971, S. 252.

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endgültige Durchbruch auf dem Weg zur überwiegend industriellen Produktionsweise früher eingesetzt haben, daß sich Nürnberg seit dai 1890er Jahren zu einem der größten Wachstumspole in Deutschland entwickelt hat? 2. Der Personenkreis und seine wirtschaftliche Bedeutung Unter den dreißig erfaßten Wirtschaftsbürgern sind zwei, die als Angehörige des früheren Nürnberger Patriziats nicht zum „Bürgertum" im engeren Sinn zählen: Friedrich von Grundherr und Siegmund Freiherr von Tucher. Da aber ihre Vorfahren über Jahrhunderte den „bürgerlichen" Beruf des Kaufmanns ausübten, wurden sie aufgrund ihrer eigenen wirtschaftlichen Betätigung in die Untersuchung miteinbezogen. Bei den dreißig Wirtschaftsbürgern handelte es sich um neunzehn große und mittlere Industrielle, sieben Großkaufleute und vier leitende Angestellte, d.h. Manager. Zu beachten ist allerdings, daß die einzelnen Personal nicht immer eindeutig einer der drei Gruppen zugeordnet werden konnten, sei es, weil ein Fabrikant vorher oder gleichzeitig ebenso erfolgreich als Großkaufmann tätig war (z.B. Johannes Zeltner) oder sich Johannes Scharrer als Großkaufmann und leitender Angestellter auszeichnete, ebenso wie Georg Zacharias Plainer, der außerdem noch eine Tabakfabrik gründete, und Alexander von Wakker schließlich den universalen Unternehmer verkörperte: Jahrelang betrieb er ein Handelsgeschäft für Maschinen, übernahm dann die kaufmännische Leitung der Firma Sigmund Schuckert & Co., später die Generaldirektion der „Elektrizitäts AG (E.A.G.) vormals Schukkert & Co.", um dann schließlich noch als Unternehmensgründer u.a. der „Dr. Alexander Wacker Gesellschaft für elektrotechnische Industrie" hervorzutreten. Wenn Wacker hier als Industrieller geführt wird, dann deshalb, weil er audi in seiner Zeit bei Schuckert eindeutig Untemehmerfunktionen strategischer Art erfüllte. Spätestais 1885 war er in der in eine offaie Handelsgesellschaft umgewandelten Firma Sigmund Schuckert & Co. immerhin Komplementär, also voll haftender Gesellschafter, ebenso in der 1888 neuen Form der Kommanditgesellschaft bei gleichhoher Kapitalbeteiligung wie Schuckert.10 Als 10

Vgl. Georg Eibeit, Unternehmenspolitik Nürnberger Maschinenbauer (18351914). (Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte, hrsg. von Hermann Kellenbenz und Jürgen Schneider, Band 3), Stuttgart 1979, S. 214, 215, 325.

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Schuckert 1892 krankheitshalber aus der Geschäftsleitung schied, gründete Wacker die Elektrizitäts AG, wobei seine Position des Generaldirektors eher der eines Eigentümer-Unternehmers entsprach. Unter Berücksichtigung dieser zum Teil sich überlappenden Berufe bzw. Funktionen wurden die dreißig Personen wie folgt eingeteilt (jeweils alphabetisch geordnet). Industrielle: Ignaz Bing (1840-1918), Fabrik für Metallwaren Conrad Conradty (1827-1901), Fabrikation von Bronze, Bleistiften, elektrischen Bogenlampen Theodor von Cramer-Klett (1817-1884), Maschinenbau- (Bank- und Versicherungs-) Unternehmen Johann Lothar von Faber (1817-1896), Bleistiftfabrikation Johann Froescheis (1784-1869), Bleistiftfabrikation Carl Peter Ernst Heinrichsen (1806-1888), Fabrikation von Zinnfiguren Friedrich Heller (1836-1911), elektrotechnischer Apparatebau Heinrich Philipp Lobenhofer (1792-1854), Tuchfabrikant Fritz Neumeyer (1875-1935), Fabrikation von Metallwaren, Halbzeugen, Apparatebau Ernst Plank (1844-1914), Spielwarenfabrikant Emst Georg Christoph Schmidmer (1792-1868), Fabrikation von Drahtwaren Johann Sigmund Schuckert (1846-1895), elektrotechnischer Apparatebau

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Gustav Schwanhäußer (1840-1908), Bleistiftfabrikation Johann von Schwarz (1802-1885), Fabrikation von Tabak, Specksteingasbrenner und Fayencen Johann Wilhelm Späth (1786-1854), Maschinenbau Julius Tafel (1827-1893), Eisenwerk Siegmund Freiherr von Tucher (1794-1871), Brauerei Alexander von Wacker (1846-1922), elektrotechnischer Apparatebau, Chemie Johannes Zeltner (1805-1882), Chemie Großkaufleute: Ludwig von Gerngros (1839-1916), Hopfenhandel Friedrich von Grundherr (1818-1908), Drogen, Farbwaren Johann Philipp Lobenhofer (1750-1824), Tuchhandel Paul Wolfgang Merkel (1756-1820), Manufakturwaren Georg Zacharias Plainer (1781-1862), Manufakturwaren Johannes Scharrer (1785-1844), Hopfenhandel, Gewürze Theodor Wieseler (1859-1924), Glaswarenhandlung Manager: Oskar von Petri (1860-1944) Vorstandsmitglied, Generaldirektor der Siemens-Schuckert-Werke GmbH Anton von Rieppel (1852-1926), Generaldirektor der M.A.N. Karl Schwemmer (1870-1938), Generaldirektor der Triumph-AG

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Johann Ludwig Werder (1808-1885), Technischer Leiter der Maschinenfabrik und Eisengießerei Klett & Co. Das Ausmaß der wirtschaftlichen Bedeutung dieses Wirtschaftsbürgertums für die Region Nürnberg soll an einem Beispiel gezeigt werden. Um 1900 beschäftigten die drei größten Unternehmer, Alexander von Wacker (Elektrizitäts-AG), Anton von Rieppel (Maschinenbau-AG Nürnberg) und Ignaz Bing (Bingwerke), zusammen etwa 17.000 Arbeitskräfte. Bezogen auf sämtliche Arbeitnehmer in Nürnberg waren das immerhin 17%." Eine solche Konzentration hat allerdings erst im letzten Quartal des 19. Jahrhunderts stattgefunden. Gegen die Jahrhundertmitte hatten die drei größten Unternehmen nicht einmal 5% aller Arbeitnehmer. Die wirtschaftliche Stellung der führenden Unternehmer wurde jedoch nicht nur während der Zeit ihrer direkten Unternehmensleitung spürbar. Schieden sie aus dem Vorstand einer Aktiengesellschaft aus, wechselten sie normalerweise in den Aufsichtsrat. Dieser war durch die Aktienrechtsnovelle von 1884 noch gestärkt worden und hatte große Einflußmöglichkeiten auf die Unternehmenspolitik. Außerdem waren die Aufsichtsratsmitglieder durchweg maßgebliche Kapitaleigner. Als z.B. Theodor von Cramer-Klett 1873 seine Maschinenfabrik von der Rechtsform der offenen Handelsgesellschaft in eine Aktiengesellschaft umwandelte, bestellte er drei Direktoren als Vorstand, während er selbst gewissermaßen dai personifizierten Aufsichtsrat darstellte. Er blieb weiterhin der Eigentümer dieser Unternehmung, konnte sich jetzt aber anderen wirtschaftlichen Aktivitäten zuwenden. Hatte er allein zwischen 1868 und 1873 mindestens zwölf Kapitalgesellschaften gegründet, teilweise im Banken- und Versicherungsbereich und jeweils mit „namhaften" Kapitalanteilen, so kamen bald weitere hinzu, 1880 schließlich die Münchner RückversicherungsGesellschaft AG, von deren Grundkapital (drei Millionen Mark) eine Million Mark auf Cramer-Klett entfiel. Über seine „Bank- und Holdinggesellschaft Klett & Co." und dai damit verbundenen Aufsichts-

11 Berechnet aus Rainer Gömmel, Wachstum und Konjunktur der Nürnberger Wirtschaft (1815-1914). Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte, hrsg. von Hermann Kellenbenz und Jürgen Schneider, Band 1, Stuttgart 1978, S. 198; Eibert, S. 358; Rudolf Endres, Artikel "Ignaz Bing", in: Christoph von Imhoff (Hg.), Berühmte Nürnberger aus neun Jahrhunderten, Nürnberg 1984, S. 309.

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ratsposten war sein Einfluß auf die süddeutsche Wirtschaft für einen Außenstehenden nicht mehr überschaubar geworden. Auch Alexander von Wacker wechselte nach seinem Ausscheiden als Generaldirektor der „Elektrizitäts-AG vormals S. Schuckert & Co." 1902 in dai Aufsichtsrat. Hauptberuflich widmete er sich danach seinen elektrotechnischen Interessen in Österreich und Norwegen, insbesondere dann in Gestalt seiner Gesellschaft für elektrotechnische Industrie in Burghausen. Als 1895 die Firma Bing in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wurde, übernahm ihr Eigentümer, der 55jährige Ignaz Bing, auch dai Aufsichtsratsvorsitz. Eine ähnliche Doppelfunktion hatte ab 1908 Oskar von Petri inne, als er Generaldirektor und gleichzeitig Mitglied des Aufsichtsrates bei dai SiemaisSchuckert-Werken wurde. Weitere Aufsichtsratspostai bei anderen Firmai kamen hinzu, so 1921 bei der Bayerischen Vereinsbank und der M.A.N. (hier Vorsitzaider). Spätestais seit dieser Zeit galt Petri als „anerkannter Mittelpunkt und Repräsentant der nordbayerischai Industrie".12 Im Grunde kann davon ausgegangen werden, daß Vorstandsmitglieder von Aktiaigesellschaftai gleichzeitig Inhaber von ein oder mehreren Aufsichtsratsmandatai waren, ihre Bedeutung als Wirtschaftsbürger also wesentlich über ihre Stellung als Unternehmer hinausging. Möglicherweise galt die Regel, daß man zwischen dem 50. und 60. Lebaisjahr aus dem Vorstand des selbst aufgebautai Unternehmens ausgeschiedai ist, damit aber keineswegs an wirtschaftlicher Macht verloren hat, im Gegenteil: Als Aufsichtsratsvorsitzender mit mehrheitlichem Kapitalbesitz beherrschte man das Unternehmen weiterhin, überließ die Geschäftsführung seinen Managern und traf nur noch große strategische Entscheidungen, insbesondere im Kontext mit anderai wirtschaftlichen Funktionen. Nicht nur das Vermögen, auch das Betätigungsfeld des Wirtschaftsbürgers ist mit steigendem Alter größer gewordai.

3. Die wesentlichen Ausgangsbedingungen des führenden Wirtschaftsbürgertums Im Folgenden wird versucht, dai Lebensweg der dreißig besonders erfolgreichai Unternehmerpersönlichkeiten bis zum Beginn ihrer 12

Albeit Bartelmeß, Artikel "Oskar von Petri", in: von Imhoff, S. 337.

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selbständigen Berufsarbeit zu charakterisieren. Die dafür ausgewählten Daten aus dem sozialökonomischen Bereich gliedern sich in drei Gruppen, wobei vor allem das Kriterium der Beeinflußbarkeit durch den späteren Unternehmer entscheidend ist. Die Datai der ersten Gruppe konnte der Unternehmer überhaupt nicht beeinflussen, sie wurden ihm mit der Geburt gegeben: soziale Herkunft, das heißt Beruf des Vaters, Geburtsort und Konfession. Die Daten der zweiten Gruppe waren vom Betroffenen zumindest teilweise zu gestalten, nämlich Schulbildung und Berufsausbildung. Dagegen unterlagen in der dritten Gruppe die berufliche Weiterbildung in Form von Auslandsaufenthalten und des Erlernens von Fremdsprachen sowie der Zeitpunkt des Beginns der Unternehmerkarriere, also das Lebensalter bei der Unternehmensgründung bzw. dem Eintritt in ein bestehendes Unternehmen vollkommen dem Willen des Betroffenen.

3 .1. Die Herkunft 3.1.1. Die soziale Herkunft Üblicherweise wird in der Soziologie unter „sozialer Herkunft" eines Menschen die soziale Stellung der Herkunftsfamilie verstanden, wobei die soziale Stellung von vielfaltigen Indikatoren charakterisiert ist, die zu „sozialen Schichten" zusammengefaßt werden können.13 Im Folgenden wird die Schichtung nach Wolfgang Köllmann verwendet. Demnach gliederte sich die Gesellschaftsordnung während der Hochindustrialisierungsphase in Oberschichten (insbesondere Industrielle, Großkaufleute, freie Berufe, leitende Beamte, Offiziere, Geistliche und Großgrundbesitzer), Mittelschichten (vom mittleren Unternehmer über den Handwerker bis zum Heimgewerbetreibenden, von mittleren und unteren Beamten, großen, mittleren und kleinen Bauern), sowie Unterschichten (vor allem Facharbeiter, Land-, Hilfsund angelernte Arbeiter).14 Die einzelnen Schichten sind also in erster Linie bestimmten Berufen und Berufsgruppen zugeordnet.

13 Vgl. Wilhelm Stahl, Der Elitekreislauf in der Unternehmerschaft. Eine empirische Untersuchung für dai deutschsprachigen Raum, Frankiurt/Main/Zürich 1973, S. 88£, 124 und die dort genannte Literatur. 14 Wolfgang Köllmann, Bevölkerungsgeschichte 1800-1970, in: Aubin und Zorn, S. 19.

Rainer Gömmel

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Von den dreißig Wirtschaftsbürgem konnte bis auf drei Ausnahmai der Beruf des Vaters bzw. dessen soziale Stellung eindeutig ermittelt werden. Um das Ergebnis mit dem der umfangreichen Untersuchung (370 Unternehmer aus dem deutschsprachigen Raum) von Wilhelm Stahl vergleichen zu können, wurden Handwerksmeister, kleinere Händler und Gastwirte einer „unteren Mittelschicht" zugeordnet: Oberschicht Untere Oberschicht Obere Mittelschicht Mittlere Mittelschicht Untere Mittelschicht Obere Unterschicht Untere Unterschicht

9 1 2 3

(darunter 5 Großkaufleute) (Gymnasial-Oberlehrer) (Revierförster, Privatgelehrter) (Hammerwerksbes., Oberlehrer, Kaufmann) 10 (Handwerksmeister, Händler, Gastwirt) 1 (Goldspinner) 1_ (Waisenhaus) 27

Trotz der mit Stahl nicht ganz identischen Schichtung ist die Verteilung ähnlich: Der hier errechnete Anteil der mittleren Mittelschicht bis Oberschicht von 55,5% (absolut 15) entspricht bei Stahl einem Anteil von 44,8%.15 Die untere Mittelschicht ist mit 37% (absolut 10) und bei Stahl mit 38% besetzt. Warn man, wie Stahl, in Besitz- und Bildungsbürgertum unterscheidet, ist ein Vergleich schwierig, da die Adeligen von Tucher und von Grundherr sowohl der einen wie der anderen Gruppe zugerechnet werden können. Zählen sie als Besitzbürger, dann ist diese Schicht mit 37,0% (absolut 10) vertreten, bei Stahl mit 25,9%, während das Bildungsbürgertum 18,5% (absolut 5) umfassen würde, gegenüber 18,9% bei Stahl.16 Rechnet man von Tucher und von Grundherr jedoch zu den Bildungsbürgem, dann beträgt deren Anteil 25,9%, derjenige der Besitzbürger 29,6%. Die Unterschicht ist mit 7,4% noch unbedeutender als bei Stahl (17,2%). Dieser Vergleich könnte folgende These nahelegen: Je enger das Wirtschaftsbürgertum hinsichtlich seiner herausragenden Stellung eingegrenzt wird, um so deutlicher kommt eine sozial höhere Abstammung zum Vorschein. Gleichzeitig scheint sich ein stärkerer intellektueller Trend bemerkbar zu machen. In dieser Hinsicht bedeutet das eine gewisse Relativierung der Ansicht Jürgen Kockas, wonach sich 15 16

Stahl, S. 126. Ebda., S. 126, 127.

Nürnberger Wirtsdiaftsbürgertum

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das deutsche Bildungsbürgertum eher mit abschätziger Herablassung gegenüber den Gewerbetreibenden trug und damit seine Söhne nicht ermutigte, gewerblich-kaufmännische Berufe zu wählen.17 Bei besonders erfolgreichen Unternehmern könnte vielmehr der hohe Anspruch ihrer Väter in bezug auf Bildung und Kultur prägend gewesen sein, so daß hier die Aussage Fritz Redlichs stärker zum Tragen kommt: „Es waren die Intellektuellen innerfialb des Bürgertums, die als erste aufstiegen: Söhne von Pfarrern, Juristen, Staatsbeamten, Güterverwaltem..."1»

3.1.2. Die geographische Herkunft Üblicherweise gilt der Geburtsort als Merkmal der geographischen Herkunft. Er ist dann von Bedeutung, wenn der betreffende Maisch dort aufwächst und von der dortigen Umgebung geprägt wird. Im vorliegenden Fall sind alle Unternehmer zumindest bis in ihre Jugendzeit an ihrem Geburtsort aufgewachsen, das heißt die Verteilung der Geburtsorte signalisiert zweierlei: Zum einen verweist sie auf Gebiete mit einem günstigen Klima für Unternehmertalente und zum anderen verweist sie auf die unternehmerische Entfaltungsmöglichkeit in Nürnberg. Genau die Hälfte der dreißig großen Nürnberger Wirtschaftsbürger wurde in dieser Stadt geboren, weitere sechs stammten aus Mittelfranken, je einer aus Ober- und Unterfranken, während sieben aus ganz unterschiedlichen Regionen zuwanderten (Oberpfalz, Thüringen, Schlesien, St. Petersburg/Rußland, Heidelberg, Stuttgart und Elberfeld). Hier liegt die Vermutung nahe, daß in Mittelfranken wie auch immer bedingte günstigere Umstände für die Entwicklung von Unternehmertalenten vorlagen, als im übrigen Franken und in der Oberpfalz. Daß von den herausragenden Unternehmern die Hälfte zugewandert war, ist weiterhin ein Indiz für die damalige relative Attraktivität dieser Stadt als wirtschaftlicher Standort. Zum Vergleich kann für jene Zeit Berlin herangezogen werden, wo von 65 bedeutenden Eigentümer-Unternehmern nur 21 aus Berlin stammten.1' Der allgemein zu beobachtende Umstand, wonach die leitenden Angestellten im 19. Jahrhundert räumlich sdir mobil waren, ist auch 17

Kocka, S. 39. Redüch, S. 336. 19 Ebd., S. 188. 18

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bei den Nürnberger Managern festzustellen: Nur einer von insgesamt vier herausragenden Persönlichkeiten war nicht zugezogen. Auch dieser Trend stimmt im übrigen mit den damaligen Berliner Verhältnissen überein.20 Wenn ein Umkreis von etwa 30 km nodi zum engeren wirtschaftlichen und kulturellen Einzugsbereich einer Stadt gerechnet wird, dann kommt das bodenständige Element des Nürnberger Wirtschaftsbürgertums zum Ausdruck, dam genau zwei Drittel (absolut 20) stammten aus dieser Region. Von den übrigen zehn Unternehmern wanderten lediglich zwei aus einer Entfernung von etwa 50 km zu. Dies ist vor allem der Raum Frankens sowie der Oberpfalz, der auch zu anderen städtischen Zentren (Würzburg, Schweinfurt, Regaisburg, im weiteren Sinne auch Frankfurt/Main, Stuttgart und München) keine sonderlich engen Beziehungen hat. Die an anderer Stelle geäußerte Vermutung, daß dieser Raum überhaupt relativ wenige Unternehmer hervorgebracht hat, wird durch Stahl zumindest für die Oberpfalz bestätigt.21 Insofern ist die Wahrscheinlichkeit gering, daß Unternehmer aus einer Region, die außerhalb des Nürnberger und noch nicht innerhalb eines anderen großstädtischen Einflußbereiches lag (40 bis 80 km), nicht nach Nürnberg gewandert sind. Das Nürnberger Wirtschaftsbürgertum setzte sich also zu zwei Dritteln aus Einheimischen und zu einem Drittel aus Personen zusammen, die ganz anderen Landsmannschaften angehörten. 3 .2. Konfession und Wirtschaftsethik Im allgemeinen ist der augenscheinliche Zusammenhang von modernem Industriekapitalismus und Protestantismus anerkannt. Teilweise konträre Ansichten bestehen bezüglich der Kausalität. Die Skala der diesbezüglichen Einwände reicht von einer geringen Bedeutung des Protestantismus, über eine wechselseitige Beeinflussung bei stärkerer Dominanz der kapitalistischen Wirtschaftsgesinnung bis hin zu einem

20

Im deutschsprachigen Raum hat fast jeder dritte leitende Angestellte außerhalb seines Geburtslandes gewirkt. In Berlin stammten von 26 solcher Persönlichkeiten nur 4 (= 15,4%) aus Berlin. - Vgl. Stahl, S. 191, 192. 21 Nach der Untersuchung von Stahl (Datai aus der "Neuen Deutschen Biographie") sind in ganz Altbayern (also einschließlich der Obeipfalz) 7, in Franken dagegen 23 Eigentümer-Unternehmer geboren worden. - Vgl. Stahl, S. 188.

Nürnberger Wirtschaftsbürgertum

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nur scheinbaren Zusammenhang.22 Die Frage der Kausalität soll zunächst zurückgestellt werden. Von dai dreißig Personen konnte in 28 Fällen die Konfessionszugehörigkeit ermittelt werden. Demnach waren: 25 evangelisch (fast ausschließlich ev.-lutherisch) 2 jüdisch, 1 römisch-katholisch. Der Anteil der Protestanten betrug also 89,3% und lag damit etwas über dem Durchschnitt der gesamten Nürnberger Bevölkerung, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Mittel zu 78% der protestantischen Konfession angehörte. Mit der starken katholischen Zuwanderung vor allem aus der Oberpfalz (um die Mitte des 19. Jahrhunderts lebten im Stadtteil Steinbühl mehr Katholiken als Protestanten23) war jedoch nur ein herausragener Unternehmer bzw. Manager, nämlich Anton von Rieppel gekommen. Die nicht besonders starke Überrepräsentierung der protestantischen Unternehmer ist jedoch unter dem Gesichtspunkt der zugewanderten Unternehmer zu betrachten, von denen zwei jüdischen und der eben genannte Rieppel römischkatholischen Glaubens waren, das heißt von den 20 Unternehmern aus Nürnberg und der näheren Umgebung waren 19 (95%) protestantisch und ein Unternehmer jüdisch (Ludwig von Gerngros). Daß dieser Zusammenhang nicht zufallig ist, zeigen die auf ganz Franken bezogenen Verhältnisse. Die von Stahl erfaßten 22 EigentümerUnternehmer waren zu 68% protestantisch (absolut 15), was bei einem Bevölkerungsanteil von 50% einem Repräsentierungsquotienten von 1,36 entsprach. Demgegenüber waren 5 Unternehmer römischkatholisch (23%), das heißt, daß der Repräsentierungsquotient bei 48% Bevölkerungsanteil nur 0,47 betrug.24 Zu beachten ist, daß die von Stahl betrachtete! Unternehmer überwiegend nicht identisch sind mit dai hier untersuchten dreißig Wirtschaftsbürgern, von denen nur vier in der „Neuen" bzw. „Allgemeinen Deutschen Biographie" aufgeführt sind. 22

Vgl. dazu neuerdings Rainer Gömmel, Religion und Ideologie als Leistungsmotivation in Wirtschaft und Sport, in: Angewandte Sozialforschung 15 (1988/89), Heft 1/2, S. 63-73. 23 Julia Lehner, Nürnberger Stadtteilgeschichte "Rund um den Aufseßplatz", Nürnberg 1988, S. 23. 24 Vgl. Stahl, S. 220, 221f.

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Da die Konfessionszugehörigkeit allein wenig über Religiosität und Stärke der Kirchenbindung aussagt, soll diese zumindest beispielhaft skizziert werden, um daraus auf eine mögliche spezifische Wirtschaftsethik zu schließen. Eine enge Beziehung zur evangelischen Kirche ist bei mehreren Unternehmern insofern anzunehmen, als in deren Familial teilweise mehrere Pfarrer nachzuweisen sind. So waren Theodor von Cramer-Kletts Großeltern Pfarrerskinder, Julius Tafel war der Enkel eines Pfarrers im schwäbischen Wüstenrot, ein Nachfahre Paul Wolfgang Merkels wurde ein „hochgeschätzter Prediger" an der Nürnberger Heilig-Geist-Kirche.25 Die Familie Heinrichsen brachte zwei Pfarrer hervor, ein Sohn von Ernst Peter Heinrichsen fungierte als Kirchenvorsteher im Stadtteil St. Johannis. Die religiöse Lebenshaltung Johannes Zeltners ist bekannt. Er bedachte nicht nur kirchliche und soziale Einrichtungen mit Stiftungen, sondern forderte auch dai Bau von Kirchen. Schließlich wurde er Ehraibürger der Stadt Wittenberg.26 Ähnliches gilt für Lothar von Faber, dessen Lebens· und Glaubensauffassung calvinistisch anmutet, der frühzeitig den Vorsatz hatte, eine Million Gulden zu verdienen, die Autobiographie Benjamin Franklins „immer und immer wieder" gelesen hat, und der maßgeblich den Kirchenbau in Stein bei Nürnberg 1860/61 finanzierte. Zur selben Zeit wurde dort ein Pfarramtskandidat zum erstai Vikar ernannt, der seit zwei Jahren als Erzieher im Hause Lothar Fabers tätig gewesen war.27 Möglicherweise repräsaitiert Georg Zacharias Platner dai protestantischen Unternehmertyp, der als Vertreter „eines rationalistischen Christentums"2' keine sichtbar enge Kirchenbindung hatte. In diesem Fall dürfte das dynamisch-unternehmerische Wirken in der Verbindung aus Protestantismus und naturwissenschaftlicher Weltanschauung begründet sein.29 25

Gerhard Hirschmann, Artikel "Paul Wolfgang Merkel", in: von Imhoff, S. 236. Ausführlich dazu Max Beckh, Zeltner, Johannes, Gründer der Nürnberger Ultramarinfabrik, Vorkämpfer gemeinnütziger Gesinnung 1805-1882, in: Sigmund Freiherr von Pölnitz (Hg ), Lebensläufe aus Franken, 6. Band, Würzburg 1960, S. 616-625. 27 Gerhard Hirschmann, Stein bei Nürnberg. Geschichte eines Industrieortes, Nürnberg 1962, S. 138, 142. 28 German Killinger, Georg Zacharias Platner in Nürnberg und die Freiherrn Theodor von Cramer-Klett. Familiengeschichtliche Studie, Privatdruck, Maschinenschrift, Augsburg 1949, S. 36. 29 Näheres dazu bei Allen Guttmann, Vom Ritual zum Rekord. Das Wesen des modernen Sports, Schorndorf 1979, S. 88f. und Gömmel, Religion, S. 70, 71. 26

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3 .3. Schulbildung und Berufsausbildung Bildung gehört zu den wichtigsten Stufai des Karriereweges eines Unternehmers und zählt als wesentlicher Faktor der sozialen Mobilität.30 Im Folgenden wird bei der Schulbildung in einfache, mittlere und höhere unterschieden. Eine einfache Schulbildung endete mit der im Regelfall siebenjährigen Volksschule. Weniger scharf kann die mittlere Schulbildung eingegrenzt werden. Sie reichte von der einjährigen Handelsschule bis zur mehrjährigen Gewerbe- und Realschule. Die höhere Schulbildung bedeutete dai Besuch eines Gymnasiums, in einem Fall die altsprechende Bildung durch einen Privatlehrer. Nach dieser Einteilung hatten 11 eine einfache, 8 eine mittlere und 11 eine höhere Schulbildung. Dieses Ergebnis kann nur bedingt mit dem einer Auswahlgruppe von 400 rheinisch-westfälischen Unternehmern der Jahre 1790 bis 1870 verglichen werden. Insbesondere sind dort auch sehr kleine, handwerksähnliche Unternehmer berücksichtigt. Demnach hatten 43,5% dieser Unternehmer eine einfache Schulbildung, gegenüber 36,7% der Nürnberger Persönlichkeiten. Das Ergebnis nähert sich noch weiter an, wenn man berücksichtigt, daß im rheinischwestfälischen Fall die einfache Schulbildung im Zeitablauf eindeutig zu Gunsten der höheren abgenommen hat.31 Zunächst kann festgehalten werden, daß die Schulbildung des Nürnberger Wirtschaftsbürgertums offenbar kein entscheidendes Kriterium für die spätere Untemehmerkarriere darstellte. Von den 19 Industriellen hatten nur 5 (= 26,3%) eine höhere Schulbildung, wobei nur Theodor von Cramer-Klett und Alexander von Wacker zu dai ganz großen Fabrikanten zählten. Dagegen wiesen von dai 7 Großkaufleuten immerhin 5 eine höhere Schulbildung auf. Dies hing aber vermutlich nicht mit der künftigen beruflidioi Tätigkeit zusammen, sondern mit der sozialoi Stellung des Vaters, doin die 5 Kaufleute mit höherer Schulbildung hatten in 3 Fällen Väter aus der Oberschicht (von Grundherr, Merkel, Platner) und bei Wieseler zählte der Vater (Oberlehrer) zur mittleroi Mittelschicht. Dieser Zusammenhang gilt offensichtlich ganz allgemein. Von dai 12 Vätern, die der oberai Mittel- bis Oberschicht angehörten, hatten 9 Söhne eine höhere Schulbildung, wobei Fritz Neumeyer mit Handels- und Realschule ein 30

Karl M. Bolte, Vertikale Mobilität, in: René König (Hg.), Handbuch der Empirischen Sozialforschung, 2. Band, Stuttgart 1969, S. 2. 31 Vgl. Kocka, S. 63.

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Grenzfall ist bzw. zur Stellung seines Vaters (Revierförster) eine durchaus adäquate Schulbildung genoß, Johann Ludwig Werder mit neun Jahren seine Eltern verlor und die Schulbildung fraglich ist. Insofern kann die These vertreten werden, daß die höhere, in erster Linie humanistische Gymnasialbildung vorwiegend von der sozialen Stellung des Vaters abhing, wobei in keinem einzigen Fall der Vater Fabrikant war. Bei der Berufsausbildung wurde in eine kaufmännische und eine handwerldich-technische Richtung unterschieden. Mit 17 gegenüber 13 Fällen überwog die kaufmännische Ausbildung, wobei in einem Fall (Fritz Neumeyer) ein kaufmännisch-technischer Ausbildungsgang als Doppelzählung erscheint, dafür aber in einem anderen Fall die Ausbildung zum Offizier (S. von Tucher) nicht berücksichtigt wird. Bemerkenswert ist, daß alle vier leitenden Angestellten (von Petri, von Rieppel, Schwemmer und Werder) eine technische Ausbildung genossen, so daß bei dai verbleibenden 25 Eigentümer-Unternehmern (ohne von Tucher) die kaufmännische Ausbildung mit 17 zu 9 (Doppelzählung Neumeyer) klar dominierte. Dabei muß jedoch differenziert werden. Die sieben Großkaufleute hatten verständlicherweise eine kaufmännische Ausbildung, so daß bei dai 18 Fabrikanten (ohne von Tucher) dieser Ausbildungsgang mit 10 zu 9 (Doppelzählung Neumeyer) nur noch ein unbedeutendes Übergewicht aufwies. Wird allerdings die Unternehmensgröße berücksichtigt, dann ist die Verteilung eindeutig: Mit Ausnahme Schuckerts und des kaufmännisch wie technisch gleichermaßen ausgebildeten Neumeyer hatten alle führenden Großindustriellen eine kaufmännische Ausbildung. Ein überregionaler Vergleich ist möglich, wenn die sieben Großkaufleute sowie Tucher unberücksichtigt bleiben. Demnach hatten die führenden Nürnberger Eigentümer- und Angestellten-Unternehmer zu 56,5% eine technische und zu 43,5% eine kaufmännische Fachbildung. Bei dai von Kocka untersuchtai 400 rheinisch-westfälischen Unternehmern war das Verhältnis zwischai 1790 und 1870 mit 53% (technisch) und 47% (kaufmännisch) etwas ausgeglichener. Dort hatten jedoch 16,7% der Unternehmer ein akademisches Studium, von den 30 Nürnberger Unternehmern dagegen nur zwei (= 6,7%), nämlich Julius Tafel und Oskar von Petri.32 Weitere zwei besuchten ein Polytechnikum (Anton von Rieppel) und eine Handelsakademie (Theodor von Cramer-Klett), so daß auch diese Fachbildung bei den 32

Die Zahlen für Rheinland-Westfalen bei Kocka, S. 63, 64.

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rheinisch-westfälischen Unternehmern stärker gefragt war (9,3%). Das dort also deutlich höhere Niveau der Fachbildung liegt mit ziemlicher Sichertieit darin begründet, daß vor allem die Unternehmer der Grundstoffindustrie, insbesondere des Montanbereiches, eine hohe Fachbildung hatten. Ähnliches galt für die chemische Industrie mit ihrer komplizierten Technologie. Auch in Rheinland-Westfalen spielte „in der Metallverarbeitung ... der akademisch gebildete Unternehmer ... noch keine Rolle".33 Gerade diese Branche dominierte aber in Nürnberg. 3.4.Weiterbildung und Alter bei Beginn der Untemehmerkarriere Die berufliche Weiterbildung wird zunächst mit Hilfe von Auslandsaufenthalten gemessen, weil diese aufgrund des damaligen Kommunikations-, Informations- und Transportsystems sowie der in verschiedenen Bereichen noch rückständige! deutschen Industrie (vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts) von besonders großem Nutzen waren. Als Auslandsaufenthalt im engeren Sinn wird eine Reise außerhalb Deutschlands (in den Grenzen von 1871), im weiteren Sinn auch ein Aufenthalt außerhalb Bayerns betrachtet. Demnach reisten vor dem Beginn ihrer eigentlichen Unternehmerlaufbahn dreizehn Personen in das Ausland, sechs in Territorien oder Städte außerhalb der bayerischen Grenzen, während elf Unternehmer offensichtlich keine nennenswerten weiterbildenden Reisen unternommen haben. Es versuchten also fast zwei Drittel der großen Wirtschaftsbürger durch Auslandsreisen im weiteren Sinn ihren Kenntnisstand frühzeitig zu erweitern. Besonders hervorzuheben sind die mehrjährigen Auslandsaufenthalte von Schuckert (vier Jahre USA), Faber (drei Jahre Paris und London), Cramer-Klett (mehrere Jahre in verschiedenen europäischen Ländern), Petri (jahrelang technischer Attaché der deutschen Gesandtschaft in Washington), Zeltner (Österreich, Preußen, Sachsen), Tafel (Schweiz) und Schwarz (Genf, Bordeaux). Von Scharrer ist bekannt, daß er im Selbststudium vier Fremdsprachen (Englisch, Französisch,

33

Kocka, S. 63.

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Italienisch, Spanisch) erlernte, da er weite Auslandsreisen plante, diese wegen seiner Heirat 1808 aber nicht durchführte.34 Das Lebensalter beim Eintritt in die erste unternehmerische Stellung ist in verschiedener Hinsicht bedeutsam. Insbesondere wird damit die Führungsdauer des Unternehmers mitbestimmt, somit auch der personelle Kreislauf in der Untemehmensspitze und damit verbunden die Dauer des jeweiligen unternehmerischen Konzeptes und Führungsstils. Der Beginn der Unternehmerlaufbahn war in 29 Fällen ziemlich exakt zu ermitteln. Wann Johann Philipp Lobenhofer (1750-1824) seine Karriere als Tuchhändler begann, ist unbekannt. Dodi gründete er im Alter von 72 Jahren mit Hilfe seiner beiden Söhne eine Tuchfabrik. Bemerkenswert ist auch, daß Siegmund von Tucher mit 61 Jahren ein Unternehmen gründete. Julius Tafel machte sich mit 48 Jahren und als Vater von acht Kindern selbständig. Unternehmensch tätig, als leitender Angestellter, war er allerdings schon mit 29 Jahren. Dieses Alter findet in der folgenden Durchschnittsberechnung Berücksichtigung. Aus den 29 bekannten Fällen errechnet sich ein durchschnittliches Alter zu Beginn der Unternehmerkarriere von 27,8 Jahren. Ohne den 61jährigen von Tucher würde es sich auf 26,6 Jahre senken. Bei einem durchschnittlichen Alter von 26,0 bzw. 26,1 Jahren bestand in dieser Hinsicht zwischen Großkaufleuten und Industriellen (ohne von Tucher) kein Unterschied. Die vier leitenden Angestellten wiesen demgegenüber mit fast 30 Jahren ein deutlich höheres Eintrittsalter auf. Möglicherweise bestand auch ein gewisser Zusammenhang zwischen relativ niedrigem Alter und besonderer unternehmen scher Dynamik. Die zehn als am erfolgreichsten einzustufenden Unternehmer waren am Beginn ihrer Laufbahn im Durchschnitt nur 24,7 Jahre alt, wobei hier besonders Faber (22 Jahre) und Zeltner (18 Jahre) herausragen. Zumindest trendmäßig finden sich die Ergebnisse für das Eintrittsalter bei Eigentümer- und Angestellten-Unternehmern in der Stahlschen Untersuchung bestätigt. Dort wurde fiir erstere ein durchschnittliches Eintrittsalter von 29,8 und für letztere von 39,1 Jahren ermittelt.35 Daß die Nürnberger Werte mit 27,8 bzw. 30 Jahren niedri-

34

Ausführlich dazu Emst Mummenhoff, Scharret, Johannes, Finanzpolitiker und Π. Bürgermeister von Nürnberg (1785-1844), in: Anton Chroust (Hg.), Lebensläufe aus Franken, Band 1, München und Leipzig 1919, S. 410-427. 35 Stahl, S. 239 und 245.

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ger liegen, könnte an dem hier besonders betonten Merkmal „Erfolg" liegen. 4. Das Leben als Unternehmer 4.1. Heirat und familiäre Verbindungen Daß die Wirtschaftsbürger einer Region miteinander wirtschaftlich mehr oder weniger stark verflochten sind, ist wegen der Gesellschaftsform der Aktiengesellschaft und deren Organ Aufsichtsrat im Grunde selbstverständlich. Eindrucksvolle Beispiele dafür liefert der Raum Augsburg, wo allein durch die Anwesenheit leistungsfähiger Bankhäuser diesbezügliche Verbindungen zwangsläufig entstanden.36 Keineswegs selbstverständlich sind auffallige familiäre Verbindungen durch Heirat, insbesondere wenn der angehende Unternehmer (als Unternehmensgründer) nicht einer höheren sozialen Schicht angehörte. Andererseits ist damit nicht ausgeschlossen, daß Verheiratungen zwischen noch nicht sonderlich bedeutenden Unternehmerfamilien für den weiteren Aufstieg durchaus wichtig sein konnten. Für dai zuletzt genannten Fall ist die Verbindung zwischen den Familien Zeltner und Scharrer geradezu ein Musterbeispiel. Als der Vater von Johannes Zeltner die Tante von Johannes Scharrer heiratete, gehörten beide Familial der mittleren bäuerlichen Schicht aus dem engeren Raum des kleinen Städtchens Hersbruck an. Eine sicher wenig Aufsehen erregende Heirat. Anders lagen die Verhältnisse, als der 1830 seine Untemehmerkarriere beginnende junge Johannes Zeltner ebenfalls in die Familie Scharrer einheiratete; denn inzwischen war sein Cousin, Johannes Scharrer, längst zu einem überaus erfolgreichen Großkaufmann aufgestiegen und gehörte audi aufgrund seines Amtes als zweiter Bürgermeister Nürnbergs zur Oberschicht.37 Ein anderes Beispiel eines Familienkreises, zustande gekommen durch ein vielfaches Konnubium, betrifft die Familial Plainer, Cramer und Klett.38 Hier haben sich familiäre und wirtschaftliche Interessen schon frühzeitig auf einer hohen gesellschaftlichen Ebene getroffen, womit der wirtschaftliche Erfolg zweifellos gefördert wurde. So arbei36

Zahlreiche Beispiele bei Hesselmann, S. 100-114. Zur ausführlichen und übersichtlichen Beschreibung dieses Konnubiums siehe den Artikel von Gerhard Hirschmann in diesem Sammelband. 31 Vgl. auch hierzu die Ausführungen Gerhard Hirschmanns. 37

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tete z.B. der erfolgreiche Kaufmann Johann Friedrich Klett mit dem Vetter seiner Frau, Georg Zacharias Platner, eng zusammen. Diese Verbindung war für Platner bei der Errichtung der ersten deutschen Eisenbahn sdir hilfreich. Platner wiederum war mit der Familie Cramer eng verwandt, so daß es wie selbstverständlich anmutet, daß Theodor Cramer die Tochter von Johann Friedrich Klett, also eine Verwandte heiratete und künftig als Theodor Cramer-Klett die Fabrik seines Schwiegervaters leitete. Es ist sicher unbestritten, daß durch eine Heirat die eigene Unternehmerkarriere und der Aufstieg in das Wirtschaftsbürgertum gefördert werden konnte, was in dai beiden angeführten Beispielen für Zeltner und Cramer-Klett offenbar zutraf. Auf der anderen Seite dürfen familiäre Verbindungen bezüglich des unternehmerischen Erfolges nicht überschätzt werden. Als der Vater von Johann von Schwarz, Benedict Schwarz, 1797 in Nürnberg das Bürgerrecht erhielt, wurde ihm zunächst die Gründung eines eigenen Geschäftes untersagt. Als er außerdem 1798 die geschiedene Frau eines trunksüchtigen Gastwirtes heiratete, durfte er sich fast zur gleichen Zeit zwar selbständig mâchai, hatte aber außer Tatkraft und einer umfassenden Ausbildung, vor allem auch in Gestalt mehij ähriger Auslandsaufenthalte, nichts Aufregendes vorzuweisen. Doch bereits 1804 wurde Benedict Schwarz zum Gesandten des Größeren Rats der Stadt Nürnberg gewählt, offensichtlich aufgrund seines rasch erworbenen Wohlstandes. Und 1816 beantragte Schwarz wegen seines großen Vermögens und vor allem wegen des Erwerbs eines Landgutes sogar die Nobilitierung, worauf ihn König Maximilian I. Joseph auch tatsächlich in dai Adelsstand erhob.39 In diesem Fall hatte die Heirat, die eher als nicht standesgemäß zu bezeichnen ist, dai wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg sicher nicht erleichtert, sondern nicht verhindert. Etwas anders liegen die Verhältnisse der Familie Faber. Der Bleistiftmacher und Firmengründer, Georg Leonhard Faber, heiratete die Tochter eines Bierbrauers, Gastwirts und Gemeinderats in Stein bei Nürnberg. Die kleine Bleistiftfabrik entwickelte sich allerdings schlecht, so daß die vielköpfige Familie in sehr einfachen Verhältnissen lebte.40 Gut zehn Jahre, nachdem Lothar Faber, gerade zweiund39 Dazu ausführlich Kurt Pilz, Die Familie von Schwarz auf Artelshofen und Hirschbach. Ein Beitrag zur Firmengeschichte Nürnbergs im 19. und 20. Jahrhundert, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 66 (1979), S. 248-253. 40 Hirschmann, Stein bei Nürnberg, S. 128.

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zwangzigjährig, die Firma übernommen hatte, wurden Fabersche Produkte auf Weltausstellungen prämiert. Lothar Fabers Ehe mit der Tochter eines Appellationsgerichtsrats war für die Entwicklung des Unternehmens vermutlich nicht entscheidend, sondern Ausdruck des bereits erlangten höheren wirtschaftlichen und sozialen Niveaus, das schließlich darin gipfelte, daß sich die Enkelin Lothar von Fabers mit Alexander Graf zu Castell-Rüdenhausen verheiratete. Als letztes Beispiel zur Bedeutung familiärer Verbindungen sei Sigmund Schuckert erwähnt. Er heiratete 1885 mit 39 Jahren die Tochter eines Glasermeisters aus Emmaidingen.41 In diesem Jahre wurde die bisherige Einzelunternehmung in eine offene Handelsgesellschaft umgewandelt, und es trat Alexander Wacker als Komplementär in die Gesellschaft ein. Diese war zu jener Zeit bereits in einem raschen Aufschwung begriffen, der durch die Heirat ihres Gründers und maßgeblichen Teilhabers in keiner Weise beeinflußt wurde, auch warn Schuckerts Frau eine Verwandte des damaligen Direktors der Cramer-Klettschen Maschinenfabrik, Kommerzienrat Hensolt, war. Hinsichtlich der wirtschaftlichen Bedeutung von Heiraten des Nürnberger Wirtschaftsbürgertums ist keine eindeutige Aussage möglich. Es gibt für die denkbaren Fälle „positiv" und „neutral" in gleicher Weise Beispiele. Insgesamt dürfte die Heirat Ausdruck des Sozialprestiges gewesen sein. 4.2. Lebensstil und Auszeichnungen Im Folgenden soll der Lebensstil des Wirtschaftsbürgertums im wesentlichen anhand der Kriterien Wohnung, Lebensumfeld, Urlaub und Mäzenatentum charakterisiert werden. Zusammen mit dem herausragenden wirtschaftlichen Erfolg war das Mäzenatentum entscheidend für die verschiedenen Auszeichnungen, die von der Verleihung des Kommerzienratstitels über die Ehrendoktorwürde bis zur Nobilitierung reichten. Im allgemeinen neigte der aufgestiegene Wirtschaftsbürger zur herrschaftlichen Villa als Wohnsitz, so z.B. auch Lothar von Faber, der sein 1845 errichtetes Wohnhaus 1874 zum Schloß umbauen ließ 41

Evelyn Lacina, Johann Sigmund Schuckert, Leben und Werk eines Nürnberger Handwerkers, Erfinders und Unternehmers (1846-1895). Freie wissenschaftliche Arbeit an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nümberg, Sommersemester 1973, S. 268.

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und im übrigen einen umfangreichen Familienbesitz schuf. Neben einzelnen Bauerngütern kaufte er ganze Ortschaften, insbesondere das große Forstgut Dürrenhembach.42 Theodor von Cramer-Klett kaufte sich 1877 in München das Palais Schönborn. In beiden Fällen erfolgte die Erhebung in dai erblichen Freiherrenstand erst danach, nämlich 1881.43 Ganz im Gegensatz dazu wohnte Sigmund Schuckert. Bis 1885 wohnte er im zweiten Stock des Verwaltungsgebäudes seiner Fabrik, um dann in eine größere Wohnung am Stadtpark zu ziehen. Dai beträchtlichen Weg von dort in die Fabrik legte er im übrigen zu Fuß zurück,44 während die mei stai der Großbürger allein aus Prestigegründen mit der Kutsche fuhren. Ganz ungewöhnlich war sicher der Umstand, daß Schuckert auch in seiner neuen Wohnung auf eine elektrische Beleuchtung verzichtete und mit Petroleum und Gas vorlieb nahm. Erst in seinem neuen Haus in Wiesbaden, bereits unheilbar erkrankt, leistete er sich elektrisches Licht.43 Diese Sparsamkeit dürfte für das übrige Wirtschaftsbürgertum nicht repräsentativ gewesen sein. Selbst Zeltner, eher zu Bescheidenheit neigend, leistete sich den Herrensitz Gleißhammer und 1866 das Rittergut Obersteinbach bei Neuhaus. Auch bezüglich des Lebensumfeldes konnten Unterschiede bestehen. Während z.B. Cramer-Klett vorzugsweise mit einem Gymnasialdirektor, Bankbesitzer, mit bekannten Malern und Historikern Umgang pflegte,46 blieb Schuckert gerne zu Hause, um sich beim BillardSpiel mit seinen Gästen zu unterhalten. Allerdings gehörten diese auch den höheren Schichten an, so z.B. der bekannte Münchner Baurat Flemming. Mit diesem unternahm er in den ersten Jahren nach seiner Heirat im übrigen regelmäßige Reisen nach Tirol und in die Schweiz. Die Alpenländer scheinen überhaupt das bevorzugte Urlaubsziel des Wirtschaftsbürgertums gewesen zu sein. So fuhr Cramer-Klett, außer nach Italien, gerne ins sommerliche Engadin und nach Bad Ischl. Ein ausgeprägtes Mäzenatentum war das einheitliche Merkmal aller erfolgreichen Unternehmer. Herausragend und stellvertretend für viele 42

Hirschmann, Stein bei Nürnberg, S. 150, 152. Vgl. Karen Kuehl, Das Faber-Castell'sche Schloß in Stein bei Nürnberg. Wohnsitz, Wahrzeichen, Werbesymbol, in: Leben und Arbeiten im Industriezeitalter, Stuttgart 1985, S. 676. - Hirschmann, Stein bei Nürnberg, S. 150. - Norbert Neudecker, Artikel "Theodor von Cramer-Klett", in: von Imhoff, S. 285. 44 Lacina, S. 269. 45 Ebd., S. 274. 46 Wolfgang Ruppert, Artikel "Fabrikanten", in: Hermann Glaser u.a. (Hg.), Industriekultur in Nürnberg, München 1983, S. 83. 43

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andere sind die Stiftungen Zeltners und Fabers für Kirchenbauten, Cramer-Kletts Gründung der Albrecht-Dürer-Haus-Stiftung oder Peins Stiftung der Kunstausstellungshalle am Marientor. Diese und ähnliche Verdienste im sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben wurden meistens mit Ehrentiteln und im Höchstfall mit der Nobilitierung belohnt. Von dai 30 Wirtschaftsbürgern hatten zu Beginn ihrer Unternehmerkarriere 27 dai Adelstitel noch nicht. Diesai erhielten dann immerhin sechs, wobei nodi Zeltner hinzuzurechnen wäre, der den Titel jedoch ablehnte, insofern ein erstaunlicher Umstand, als Zeltner bereits seit dai 1850er Jahren in ausgezeichneten Beziehungen zum bayeiischai Königshaus stand. Der damalige König Max Π. hatte die für ihn eindrucksvolle Zeltnersche Farbenfabrik zweimal, zuletzt 1855 sogar zusammoi mit der Königin besichtigt.47 Besuche von Staatsoberhäuptern oder Mitgliedern des Herrscherhauses waren im allgemeinai hochwillkommai. So war es für Lothar von Faber der äußere Höhepunkt seines erfolgreichen Wirkais, daß am 12. Mai 1895 Prinz Ludwig von Bayern, der spätere König Ludwig DI., als Gast des Freiherm nach Stein kam und sechs Tage lang im Schloß wohnte.41 Zuvor, 1889, war dem Gastgeber die erbliche Würde eines Reichsrates verliehen worden. Neben den sechs Adelstiteln häufte das Nürnberger Wirtschaftsbürgertum eine Fülle anderer Auszeichnungen an. In erster Linie bekam man den Titel eines Kommerzienrates, manche auch den eines Geheimai Kommerziairates (Bing, von Petri). Wacker und Petri erhielten je zwei Ehrendoktorwürdai, Rieppel sogar drei. Letzterer wurde auch Reichsrat der Krone Bayerns. Ein Ehrendoktorat hatte Neumeyer, der außerdem zum Geheimen Landesbaurat ernannt wurde. Von Cramer-Klett, der persönlich geadelt wurde, die erbliche Freihermwürde und ein Ehraidoktorat der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Münchai erwarb, heißt es, daß sich sein „personenbezogaier Ehrgeiz in Grenzen hielt".49 Verliehai wurdai noch das Ritterkreuz des Bayerischai Kronenordens (Gerngros), der Bayerische Kronaiorden und der Preußische Rote Adlerordai (Grundherr). Da nur Zeltner die Nobilitierung als höchste Auszeichnung abgelehnt hat, darf angenommen werden, daß die übrigai geehrten Unter47

Ruppert, S. 80. Hirschmann, Stein bei Nürnberg, S. 152. 49 Neudecker, S. 285. 41

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Rainer Gômmel

nehmer ihre Auszeichnungen als durchaus erstrebenswert angesehen haben. 4.3. Politische und andere Ämter Als mit dem Übergang der Reichsstadt Nürnberg an das Königreich Bayern 1806 die über fünf Jahrhunderte andauernde Herrschaft des patrizischen Rates endete, erhielt aufgrund der bayerischen Gemeindeordnung von 1818 die Stadt eine neue Gemeindevertretung: das Kollegium der Magistratsräte und das der Gemeindebevollmächtigten. Damit war für Kaufleute, Unternehmer und Finanziers nun die Möglichkeit gegeben, auch kommunalpolitisch aktiv zu werden. Tatsächlich war deren Anteil in dai beiden Kollegial bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hoch.50 Von dai hier behandelten Wirtschaftsbürgern saßen nachweislich sechs im Kollegium der Gemeindebevollmächtigtal. Mit Heller, Plank, Schmidmer, Schwanhäußer, Plainer und Zeltner waren es überwiegend die nicht ganz großen Unternehmer. Magistratsräte waren Scharrer, dieser auch zweiter Bürgermeister, und Plank. Neben diesen kommunalpolitischen Ämtern machte sich Paul Wolfgang Merkel als Landtagsabgeordneter verdient. Berühmter ist in diesem Amt ein anderer, bislang hier noch nicht genannter Wirtschaftsbürger geworden: Karl Craemer. Dieser aus bescheidenen Verhältnissen stammende mittelgroße Fabrikant gehörte dem Landtag von 18481887 an. Er war 1859 maßgeblich am Sturz der Regierung Reigersberg beteiligt und war Mitbegründer der „Bayerischen Fortschrittspartei", die eine liberale und gesamtdeutsche Richtung vertrat.51 Nicht einheitlich liberal war die politische Haltung des Nürnberger Bürgertums, wenngleich die Stadt lange Zeit eine Hochburg der Liberalen in Bayern darstellte. Das große Wirtschaftsbürgertum war in der Mehrheit nationalliberal, wie z.B. Cramer-Klett, aber auch weniger bedeutende wie der Sohn von Ernst Peter Heinrichsen, Wilhelm Heinrichsen (1834-1908). Fast jeder der Wirtschaftsbürger hatte ein oder mehrere Ämter, die für ihn beruflich oder auch gesellschaftlich wichtig oder interessant waren. Die großen Kaufleute bekleideten durchweg das Amt eines 50

Ausführlich bei Gerhard Hirschmann, Stadtgesellschaft und Politik, in: Glaser, S. 325-341. 31 Neue Deutsche Biographie, 3, S. 386, 387.

Nürnberger Wirtschaftsbürgertum

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Marktvorstehers, Marktadjunkten oder Handelsvorstandes. Die Vielzahl der übrigen Ämter oder Mitgliedschaften ist kaum zu übersehen. Sie reichte vom Direktor der Aktiengesellschaft zur Unterstützung des Germanischen Nationalmuseums (Zeltner) bis zum Vorstandsmitglied des Turnvereins 1846 (Wilhelm Heinrichsen).

Gerhard Hirschmann D M BEDEUTUNG DES KONNUBIUMS, AUFGEZEIGT AN BEISPIELEN AUS DEM NÜRNBERGER WIRTSCHAFTSBÜRGERTUM IM 19. JAHRHUNDERT

Rainer Gömmel hat in seiner Studie1 das Nürnberger Wirtschaftsbürgertum des 19. Jahrhunderts an 30 besonders erfolgreichen Unternehmern aufgrund verschiedener Kriterien umfassend dargestellt. In dai folgenden knappen Ausführungen2 soll an zwei Beispiel αϊ aufgezeigt werden, welche bedeutsame Rolle eheliche Verbindungen zwischen Angehöngen des Wirtschaftsbüigertums im Nürnberg des 19. Jahrhunderts gespielt haben. Da die vorzustellenden Männer nicht nur in der Wirtschaft, sondern häufig auch in der Kommunalpolitik eine einflußreiche Stellung einnahmen, erscheint es gerechtfertigt, zuerst wenigstens ganz knapp die Art und Weise der Bürgervertretung in den bayerischen Städten des 19. Jahrhunderts zu skizzieren. Die Grundlage dafür war die bayerische Gemeindeordnung von 18183. Mit ihr erhielten alle Städte erstmals eine aus Wahlen durch die Bürger hervorgehende Gemeindevertretung. Diese setzte sich aus zwei Kollegien, dem der Magistratsräte und dem der Gemeindebevollmächtigten4, zusammen. Im indirekten Wahlverfahren hatten die von dai wahlberechtigten Bürgern gewählten Wahlmänner unter Bezug auf die Einwohnerzahl in 1

S. 281-305 dieses Bandes. Ihnen liegt das Kurzreferat „Die Bedeutung des Konnubiums beim Aufstieg Nürnberger Bürgelfamilien zu einer wirtschaftlichen Führungsschicht im 18. und 19. Jahrhundert" vom 12. Internationalen Kongreß für genealogische Wissenschaften, München 1974, zugrunde. Druck als Kongreßbericht im Auftrage der Deutschen Arbeitsgemeinschaft genealogischer Verbände, Band G, Stuttgart 1978, S. G 339 - S. G 352. Unveränderter Nachdruck in: Nürnberger Forschungen Band 25, 1988, S. 143-154. Für die Tagung in Büdingen 1987 wurde der Text umgearbeitet, mit Anmerkungen versdien und der einem Familienkreis des 18. Jahrhunderts gewidmete Teil weggelassen. Spindler, Handbuch der bayerischen Geschichte IV, 1, München 1974, Nachdruck 1979, S. 69-71. 4 Ernst Deuerlein, 150 Jahre kommunale Selbstverwaltung in Nürnberg, in: Mitt. d. Ver. f. Gesch. d. Stadt Nbg. (künftig: MVGN) Bd. 57 (1970), S. 307-343. Gerhard Pfeiffer, Das Nürnberger Gemeindebevollmächtigtenkolleg 1818-1919, in: MVGN Bd. 65 (1978) S. 350-396. 2

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Gediard Hirsdunami

Nürnberg 36 Gemeindebevollmächtigte und diese wiederum 12 bürgerliche, vier rechtskundige Magistratsräte und zwei Bürgermeister zu wählen. Die Bürgermeister und die rechtskundigen Magistratsräte erhielten nach einer ersten Wiederwahl ihr Amt auf Dauer übertragen. Dagegen hatten von dai bürgerlichen Magistratsräten und den Gemeindebevollmächtigten nach je drei Jahren von dai ersteren die Hälfte, von den letzteren ein Drittel auszuscheiden. Bei den turnusmäßig falligen Ersatzwahlen war eine Wiederwahl der Ausgeschiedenen möglich. Die Mitglieder des Magistrats durften weder in der aufsteigenden oder absteigenden Linie untereinander verwandt oder verschwägert sein (§ 49 GO). Weiter war gefordert, daß die Magistratsräte „vorzüglich von der Gewerbe treibenden Classe" aufgestellt werden sollten (§ 47 GO). Das hatte zur Folge, daß von dai 1818 in Nürnberg gewählten zwölf bürgerliche! Magistratsräten sechs Kaufleute und vier Gewerbetreibaide waren. Hinzu kamen zwei Räte aus Familien des ehemaligen Patriziats. Der Magistrat war als Vorsteher der Stadtgemeinde verantwortlich für alle Gemeindeangelegenheiten, über das Gemeinde- und Stiftungsvermögen und über die Lokalpolizei. Nach dieser kurzai Vorbemerkung über die Zusammensetzung der beiden städtischai Kollegien sollai aus der Gruppe der Magistratsräte zwei Männer näher betrachtet werden, da sie - miteinander befreundet - in der Kommunalpolitik und im Wirtschaftsleben der Stadt eine hervorragaide Rolle spieltai. Sie kann erst richtig beurteilt werden, wenn man berücksichtigt, daß ihr Wirken in einem engen Zusammenhang steht mit den zwei Familiengruppen, denen sie angehörten. Es handelt sich um Johannes Scharrer (1785-1844) und um Georg Zacharias Platner (1781-1862). Beide haben einai über Nürnberg hinausreichenden Ruf durch ihrai Anteil an der Errichtung der ersten deutschen Eisenbahn, die am 7. Dezember 1835 ihren Betrieb zwischai Nürnberg und Fürth5 aufnahm. Während in Platner der Initiator des Unternehmens zu sehen ist, war Scharrer der Mann, der jahrelang der Ludwigs-Eisaibahn-Gesellschaft erfolgreich vorstand. An dieser Stelle kann ihr Wirkai nur knapp skizziert werdai, da der Schwerpunkt darin liegt, die genealogischai Zusammenhänge ins Licht zu rücken, die beide Männer mit anderen Familial des Wirtschaftsbürgertums verbandai. Wenden wir uns zuerst Johannes 5

Wolfgang Mück, Deutschlands erste Eisenbahn mit Dampfkraft, Fürth 21985.

Bedeutung des Konnubiums

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Scharrer6 zu! Er wurde am 30. Mai 1785 als ältestes Kind des Metzgermeisters und Bierbrauers Johann Georg Scharrer und der Anna Sibylla Sörgel in Hersbruck geboren. Schon mit 14 Jahren kam er nach Nürnberg in eine kaufmännische Lehre. Im Jahre 1809 heiratete Scharrer Katharina Barbara Weiß (1786-1847), die Tochter eines Nürnberger Lederhändlers. Seine Schwester Maria Katharina (17891870) heiratete ein Jahr später, 1810 ebenfalls in Nürnberg, den Kaufmannssohn Johann Sigmund Amberger. Mit diesem Schwager gründete Johannes Scharrer 1809 die Hopfenhandlung „Scharrer und Amberger", die bald zu großer Blüte gelangte. 1818 wurde Scharrer zum bürgerlichen Magistratsrat, fünf Jahre später zum zweiten Bürgermeister Nürnbergs gewählt. Er machte sich in der Kommunalpolitik sdir verdient. So war er der Initiator der Errichtung einer Sparkasse (1821), der ersten in Bayern, ebenso wirkte er daran mit, eine polytechnische Schule ins Leben zu rufen. Die Schwester von Johannes Scharrers Vater mit Namen Kunigunde Scharrer (1775-1816) heiratete dai in Eschenbach bei Hersbruck ansässigen Bauern und Hopfenhändler Johann Zeltner (17731847). Der aus dieser Ehe hervorgegangene Sohn Johannes Zeltner (1805-1882)7 eröffnete 1830 in Nürnberg ebenfalls - wie sein Vetter Scharrer - eine Hopfenhandlung, die von Anfang an stark florierte und großen Gewinn abwarf. Gleichzeitig mit seiner Niederlassung in Nürnberg heiratete Zeltner am 1. August 1830 Johanna Sibylle Amberger, die Tochter seiner Cousine Maria Katharina Amberger, geb. Scharrer. Ein tragisches Schicksal wollte es, daß er diese Frau schon nach kaum sechswöchiger Ehe durch einen plötzlichen Tod verlor. Drei Jahre später, am 20. November 1833, schloß er die zweite Ehe, nun mit der erst 18 Jahre aitai Katharina Scharrer (1815-1857); damit hatten sich die beiden erfolgreichai Unternehmerfamilien drei6

Siehe zum folgenden Text die Verwandtschaftstafel Abb. 1. - Nachdem die genealogischen Zusammenhänge im Mittelpunkt stehen, werden die beruflichen Leistungen nur knapp in Erinnerung gebracht. SpeziaLliteratur: Ernst Mummenhoff, Johannes Scharrer, Kaufmann, Finanzpolitiker und Π. Bürgermeister von Nürnberg (1785-1844), in: Lebensläufe aus Franken, 1. Bd. 1919, S. 410-427. August Jegel, Johannes Scharrer, in: Nürnberger Gestalten aus neun Jahrhunderten, Nürnberg 1950, S. 171-175. - Hermann Beckh, Vorfahren und Nachkommen des Nürnberger Bürgermeisters Johannes Scharrer, in: Deutsches Familienarchiv Bd. 55, 1972, S. 77-126. 7 Max Beckh, Zeltner, Johannes, Gründer der Nürnberger Ultramarinfabrik, Vorkämpfer gemeinnütziger Gesinnung, 1805-1882, in: Lebaisläufe aus Franken 6. Bd. 1960, S. 616-625. - Hermann Beckh, Johannes Zeltner (1805-1882), ein Nürnberger Unternehmer, in: MVGN Bd. 58 (1971), S. 304-336.

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Gafaard Hiisdimann

mal nacheinander ehelich verbunden'. Zweifellos beeinflußten diese engen verwandtschaftlichen Beziehungen auch ihre wirtschaftlichen Unternehmungen, die in beiden Fallai auf dem Hopfenhandel basierten. Ebenso wie Scharrer füllte auch Zeltner die Beschäftigung mit diesem Handelszweig nicht aus. Sein weiterer Lebaisweg wurde von der Errichtung einer Ultramarinfabrik bestimmt. Dazu unterstützte er Ende der 30er Jahre finanziell sehr großzügig die beiden Nürnberger Chemiker Thomas Leykauf (1815-1871) und Friedrich Wilhelm Heyne (1804-1885) bei ihren Erfolg versprechenden Laborversuchen zur Herstellung dieser künstlichen Farbe. Nachdem die Erfindung geglückt war, ermöglichte Zeltner die Erbauung einer Fabrikanlage zur Ultramarinherstellung, die er letztendlich völlig in eigene Hand übernahm9. Und nochmals ist hier eine Eheverbindung zustandegekommen Zeltners 1812 geborene Schwester Margarethe heiratete den bereits genannten Chemiker Heyne10. Aus dieser Ehe gingen allerdings keine Kinder hervor. Wenden wir uns dem zweiten Beispiel eines Familienkreises zu, der durch vielfaches Konnubium zustande kam. Es handelt sich um die Familien Plainer, Cramer und Klett. Wir sind hier in der glücklichen Lage, uns auf eine vorzügliche familiengeschichtliche Studie stützen zu können, die - 1949 als Privatdruck erschienen - leider zu wenig bekannt geworden ist11. Im Gegensatz zu den Familien Scharrer und Zeltner, die erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach Nürnberg zuwanderten, handelt es sich bei den Platners um eine Kaufmannsfamilie, die - aus Chemnitz kommend - sich schon im 18. Jahrhundert in Nürnberg niedergelassen hat. Der bedeutendste aus ihr hervorgegangene Mann war Georg Zacharias Plainer (1781-1862)12. Sein Leben verlief sdir erfolgreich. Das väterliche Handelshaus, das Handel mit Kolonialwaren betrieb, * Die einzelnen Datai siehe bei Beckh (wie Anm. 6), S. 96. 9 Hermann Beckh (wie Anm. 7) S. 319. 10 Ebd., S. 308. Am 8. Juni 1841 in Nümberg-St. Leonhard. Frdl. Auskunft des landeskirchlichen Archivs Nürnberg. 11 German Killiger, Georg Zacharias Platner in Nürnberg und die Freiherrn Theodor von Cramer-Klett. Familiengeschichtliche Studie, maschinenschriftl. Privatdruck 1949, 45 S. Aus dieser Arbeit ist die Verwandtschaftstafel Abb. 2, entnommen. 12 Carl Wölfel, Georg Zacharias Platner, 1935. - Gerhard Pfeiffer, Georg Zacharias Platner, in: Nürnberger Gestalten aus neun Jahrhunderten, Nürnberg 1950, S. 166170.

Bedeutung des Konnubiums

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führte er zu großem Ansehen. Seit 1818 gehörte Plainer dem Kollegium der Gemeindebevollmächtigtai an, 1827 wurde er zum Marktvorsteher gewählt, ein Amt, das er bis 1842 innehatte. Maßgebend war der Kaufmann an der Planung der ersten Eisenbahn beteiligt, deren erster Direktor er wurde. 1828 wählte man ihn zum Abgeordneten in die bayerische Ständekammer in München. Am 27. August 1808 heiratete Platner Elisabeth Cramer (17901862), die Tochter des Tuchhändlers Arnold Friedrich Cramer (geb. 1753 Werden/Ruhr, gest. Nürnberg 1815). Ihr Bruder Albert Johann Cramer (1784-1844) betrieb in Nürnberg einen Großhandel mit englischen und holländischen Tuchen. Seine etwas zu kühnen wirtschaftlichen Unternehmungen brachten ihn in ernste finanzielle Schwierigkeiten, die 1834 mit einem Konkurs und dem Wegzug von Nürnberg nach Wien endeten. Mit geringen Mitteln baute er sich dort erneut eine Existenz für seine Familie auf. Sein fünfter Sohn Theodor (geb. 27. September 1817) kehrte 1843 nach Nürnberg zurück und betrieb dort zuerst mit schmalen Ersparnissen eine Verlagsbuchhandlung, die er erworben hatte. Von ihm wird gleich noch ausführlicher zu sprechen sein. Doch zuerst nochmals zurück zu Georg Zacharias Plainer! Seine Tante Maria Helene (1745-1785) hatte 1770 dai aus der Reichsstadt Weißenburg stammenden Kaufmann Johann Zacharias Lotzbeck (1741-1789) geheiratet. Die Familie Lotzbeck13 war dort ratsfahig und wurde deshalb nach 1806 in die bayerische Adelsmatrikel aufgenommen. Johann Zacharias Lotzbeck erwarb am 2. März 1770 in Nürnberg das Bürgerrecht und war hier als Manufakturhändler erfolgreich tätig. Die Tochter aus seiner Ehe mit Maria Helene Platner, die am 28. Oktober 1774 geborene Dorothea, heiratete 1805 Johann Friedrich Klett (1778-1847)14. Dieser war 1798 aus Zelle St. Blasii in Thüringen, wo seine Vorfahren als Crewdirmacher gearbeitet hatten, nach Nürnberg zugewandert und in die Lotzbecksche Handlung eingetreten; er lernte die Tochter seines Prinzipals kennen und gewann sie 1805 zur Ehefrau. Im gleichen Jahr erwarb er das Nürnberger Bürgerrecht und eröffnete ein eigenes Geschäft, das hauptsächlich dem Handel mit Spielwaren gewidmet war. Mit außergewöhnlichem kaufmännischen Geschick 13

Genealogisches Handbuch des in Bayern immatrikulierten Adels, Bd. ΧΠΙ, 1980, S. 486-489. 14 Friedrich Gresbeck, Johann Friedrich Klett, in: Nürnberger Gestalten aus neun Jahrhunderten, Nürnberg 1950, S. 163-166.

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Gerhard Hirsdimann

leitete Klett seine Firma. Als Zeichen seines wirtschaftlichen Erfolges ließ er sich von dem damals angesehensten Nürnberger Architekten Karl Alexander von Heideloff am Theresienplatz ein stattliches Haus im neugotischen Stil erbauen. 1823 wurde er in das Kollegium der Gemeindebevollmächtigten gewählt. Mit Platner, dem Vetter seiner Frau, arbeitete er eng zusammen und unterstützte ihn vor allem bei der Errichtung der ersten Eisenbahn. Nodi im fortgeschrittenen Alter plante und errichtete er 1841 in einem ihm gehörigen Garten bei der Vorstadt Wöhrd eine kleine Maschinenfabrik mit Eisengießerei. Als er am 21. April 1847 starb, konnte er nicht ahnen, daß diese Fabrik die Keimzelle eines Weitunternehmais bildete. Seine einzige Tochter Emilie (1814-1866) heiratete im Todesjahr des Vaters dai weiter oben schon genannten Theodor Cramer, der in der verwandten Familie bereits wie ein Sohn aus- und eingegangen war und der nun auch die Nachfolge in der Fabrik des Schwiegervaters antrat. Dessen einzige Bedingung war dabei gewesen, daß er seinen Verlag aufgab. Innerhalb weniger Jahre gelang es ihm, die Klettsche Fabrik zur führenden Maschinenbaufinna Süddeutschlands emporzufuhren. Weitschauend erkannte der neue Firmeninhaber, welche Auswirkungen das rasch wachsende Eisenbahnnetz für die Eisenindustrie mit sich brachte. So stellte die Fabrik hauptsächlich Dampfkessel, Maschinen und Waggons her, außerdem befaßte sie sich mit dem Eisenhochbau und mit Brückenbauten. Nach seiner Heirat nahm Theo Cramer den Doppelnamen CramerKlett15 an, dai dann auch die Firma erhielt. Seine glückliche Ehe mit Emilie blieb kinderlos. Die Frau war lange Jahre leidatd und starb am 16. April 1866. Ein halbes Jahr später heiratete Cramer-Klett eine jüngere Freundin der Verstorbenai: Elisabeth Curtze, die Tochter des Apothekers Dr. Heinrich Curtze in Mainz. Nach acht Jahren ging aus dieser Ehe ein Kind hervor, der am 18. August 1874 geborene Sohn mit dem gleichai Taufnamen wie der Vater Theodor16. Die Freude über den Spätgeboraien war für den Vater der Anlaß, die in 15

Johann Biensfeldt, Freiherr Theodor von Cramer-Klett. Sein Leben und sein Werk, Leipzig-Erlangen 1922. Fritz Büchner, Hundert Jahre Geschichte der Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg 1840-1940, Augsburg 1940. Wilhelm Hotzelt, Theodor Freiherr von Cramer-Klett (f 1884), in: Lebensläufe aus Franken 3. Bd. 1927, S. 36-46. Neue Deutsche Biographie, Band 3, 1957, S. 394. 16 Ludwig-Benedikt Frhr. von Cramer-Klett, Theodor Frhr. von Cramer-Klett (f 1937), in: Lebaisläufe aus Franken 6. Bd. 1960, S. 82-97. Die Biographie, die der Autor seinem Vater gewidmet hat, trägt einen sehr persönlichen Charakter; sie bezieht auch noch den Großvater mit ein.

Bedeutung des Konnubiums

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Oberbayern gelegene Herrschaft Hohenaschau zu kaufen. Die Nürnberger Fabrik, bis dahin Familienunternehmen, wurde 1873 in eine Aktiengesellschaft ungewandelt, die seit dem Zusammenschluß mit der Maschinenfabrik Augsburg als MAN firmiert. Damit konnte ich ein zweites Beispiel aufzeigen, bei dem vier Familial - Plainer, Lotzbeck, Cramer und Klett -, die durch das Konnubium mehrfach verbunden waren, eine Teilgruppe innerhalb des Nürnberger Wirtschaftsbürgertums bildeten. Im Vorwort zu dem 1973 erschienenen Band „Führungskäfte der Wirtschaft in Mittelalter und Neuzeit 1350-1850"17 sprach der Herausgeber Herbert Heibig von der Erkenntnismöglichkeit der genealogischen Forschung für die wirtschaftliche Verflechtung führender Geschlechter. Er sprach weiter von der Ergiebigkeit dieser Forschung bei der Lösung des Problems von Mobilität und Kontinuität der wirtschaftlichen Führungsschicht in der Zeit des politischen Umbruchs vom 18. zum 19. Jahrhundert sowie in der Zeit der Frühindustrialisierung. Meine kurzen Ausführungen sollten einen Beitrag liefern, der diese Thesen am Beispiel einer einzelnen Stadt bestätigt. Im folgenden darf ich das Ergebnis meiner Untersuchung kurz zusammenfassen: Mit dem Patriziat bestand in Nürnberg bis 1806 eine homogene politische Führungsschicht, die - bestimmt von der Voraussetzung der Ratsfahigkeit - einen völlig abgeschlossenen Stand bildete. Nach seiner völligen Entmachtung ging 1818 die politische Führung in der Stadt Nürnberg an Manner aus der Kaufmannschaft und dem Gewerbe über. Diese bildeten im kommunalpolitischen Bereich eine offene Gruppe. Die Abgeschlossenheit des Patriziats war verschwunden, da die im dreijährigen Turnus stattfindenden Wahlen zu ständigen Veränderung«! in den städtischen Kollegial führten. Männer aus dieser politischen Führungsgruppe verbanden sich durch zahlreiche Eheschließungen mit Töchtern oder Schwestern wirtschaftlich potenter Unternehmerpersönlichkeiten. Auf diese Weise bildete sich in dai ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in Nürnberg eine neue Führungsschicht heraus, die wirtschaftlich und politisch eine einflußreiche Stellung erlangte, welche sie bis in die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts inne behielt. Diese Zusammenhänge nachzuweisen und damit eine bessere Kenntnis von der Sozialstruktur 17

Band 6 der von der Rankegesellschaft herausgegebenen Reihe „Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit", Limburg/Lahn 1973.

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Gerhard Hirschmann

- hier im speziellen Fall des Wirtschaftsbürgertums der Stadt Nürnberg - zu erhalten, dazu kann die genealogische Forschung einen wichtigen Beitrag leisten.

Bedeutung des Konnubiums

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Scharrer-Zeltner

Abb. 1: Der erstmals neuentworfenen Tafel liegen die genealogischen Daten aus den Arbeiten von Herrmann Beckh (siehe Anmerkungen 6 und 7) zugrunde.

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Gerhard Hirsdimami

Plainer - Lotzbeck - Cramer - Klett

Abb. 2: Die Tafel ist - mit einigen Veränderungen - übernommen aus der Arbeit von German Killinger, Georg Zacharias Platner in Nürnberg und die Freiherren von Cramer-Klett.

Dirk Schumann WIRTSCHAFTSBÜRGER UND WKTSCHAFTSBÜRGERTUM IN REGENSBURG IM 19. JAHRHUNDERT

Auf dai ersten Blick mag es verwundern, Regaisburg in eine Untersuchung des deutschen Wirtschaftsbürgertums im 19. Jahrhundert einbezogen zu finden. Die wirtschaftliche Blütezeit der Stadt hatte im hohen Mittelalter gelegen, ein Aufschwung des Handels im späten 18. Jahrhundert war nur von kurzer Dauer. Anders als in Augsburg, Nürnberg und München siedelten sich in Regensburg keine Fabriken oder Banken an, die der bayerischen Industrialisierung ihren Stempel aufgedrückt hätten. Eine Fixierung auf die Metropolen des Landes und ihre Pionierunternehmen verdeckt freilich, welche Fortschritte die industrielle Entwicklung auch an der Peripherie Bayerns machte. Die Zollvereinszählung von 1847 ermittelte für Regensburg 184 „Fabriken und vorwiegend für den Großhandel beschäftigte Gewerbeanstalten" mit 943 Arbeitern, bei der folgenden Zählung von 1861 waren es 152 „Fabriken" mit jetzt 1.290 Arbeitern (einschließlich des Direktionspersonals). Bei dai meisten dieser „Fabriken" handelte es sich freilich noch um kleine, wenig mechanisierte Produktionsstätten. Das Wachstum war jedoch unverkennbar, warn es auch geringer ausfiel als etwa in Augsburg oder audi in Münchai.1 1907 beschäftigten 438 Mittelbetriebe aller Gewerbezweige 5.597 und immerhin 36 Großbetriebe 4.142 Personen. Das nach der Einwohnerzahl doppelt so große Augsburg hatte 89 Großbetriebe mit allerdings 24.027 Beschäftigtai.2 Aus den dürren Zahlen der Statistik ergibt sich, daß auch in Regaisburg die Basis für die Ausbildung eines Wirtschaftsbürgertums bestand, waingleich sie erheblich schmaler war als in dai industriellen Zentren. 1

Eigene Berechnungen nach: Beiträge zur Statistik des Königreichs Bayern Heft 10, München 1862, Tafel XV, XVI, S. 62ff. (ohne Weber, aber einschließlich der Buchdrucker). Die Werte von 1847 und 1861 lassen sich aufgrund teilweise anderer Zählungskriterien nicht direkt miteinander vergleichen, sie vermitteln aber ein grobes Bild der Entwicklung. Beiträge zur Statistik des Königreichs Bayern Heft 82, Mönchen 1911, Tabelle I., S. 78f, 183. „Mittelbetriebe" beschäftigen zwischen 6 und 50 Personen, „Großbetriebe" mehr als 50.

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Dirk Schumann

Der Begriff „Wirtschaftsbürgertum" hat mehrere Aspekte. Er zielt auf einen Kreis von Personen mit herausgehobener ökonomischer Position, auf deren Verflechtungen untereinander und mit anderen Gruppen des Bürgertums sowie auf ihre Teilhabe an bürgerlicher Kultur. In der Forschung fehlt jedoch eine trennscharfe Begriffsdefinition. Die meisten neueren Untersuchungen fassen das Wirtschaftsbürgertum als relativ schmale Schicht einflußreicher Unternehmer und kapitalbesitzender Familien mit tendenziell überlokalen Beziehungen und Tätigkeitsfeldern, betonen aber zugleich deren im europäischen Vergleich große Abgeschlossenheit gegenüber Adel und Bildungsbürgertum.3 Forschungsdefizite bestdien vor allem hinsichtlich der räumlichen Abgrenzungen und Verflechtungen der „Wirtschaftsbürgertümer" in den deutschen Regional. Für Bayern kann jedenfalls konstatiert werden, daß sich das Wirtschaftsbürgertum in erster Linie als jeweils lokale und nur ansatzweise als gesamtbayerische soziale Formation herausbildete.4 In den großen Wirtschaftszentren stößt man ohne Mühe auf eine beträchtliche Zahl von Unternehmern und kapitalbesitzenden Familien, die zumindest ihrem ökonomischen Einfluß, wenn auch nicht unbedingt ihren sozialen Verflechtungen nach von überregionaler Bedeutung waren. In Regensburg fehlte hingegen eine derart segregierte Schicht. Die ganz wenigen prominenten Gestalten seiner Wirtschaft stehen für sich. Nur für sie sind Karriere und Lebensumstände gut 3

Vgl. etwa Dolores L. Augustine-Perez, Very wealthy businessmen in imperial Germany, in: Journal of Social History 22 (1988), S. 299-321; Hartmut BergfaoflTRoland Möller, Wirtschaftsbürger in Bremen und Bristol 1870-1914. Ein Beitrag zur komparativen Unternehmerforschung, in: Hans-Jürgen Puhle (Hg.), Bürger in der Gesellschaft der Neuzeit. Wirtschaft - Politik - Kultur, Göttingen 1991, S. 156-177; als Synthesen: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Band 2, München 1987, S. 185ff.; Jürgen Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Band 1, München 1988 (darin die Aufsätze von Kocka und Kaelble). Neuester Forschungsüberblick: Dirk Schumann, Wirtschaftsbürgertum in Deutschland: segmentiert und staatsnah. Bemerkungen zu den Erträgen, Problemen und Perspektiven der neueren deutschen Unternehmergeschichte, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 3 (1992), S. 375-384. 4 Ausführlicher dazu und zu allen in diesem Aufsatz angeschnittenen Fragen unter Einbeziehung auch Regensburgs: Dirk Schumann, Bayerns Unternehmer in Gesellschaft und Staat 1834-1914. Fallstudien zu Herkunft und Familie, politischer Partizipation und staatlichen Auszeichnungen, Göttingen 1992; vgl. Hans Hesselmann, Das bayerische Wirtschaftsbürgertum der Prinzregentenzeit, Stuttgart 1985, der den Kreis der zum Wirtschaftsbürgertum gehörenden Unternehmer und Familien deutlich enger zieht.

Wirtschaftsbürger in Regensburg

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dokumentiert. Audi deshalb bietet sich ein quantifizierendes Vorgehen an, wenn man nach Existenz und Merkmalen eines Regensburger Wirtschaftsbürgertums über jene prominenten Figurai hinaus fragt, ohne daß auf die Schilderung einzelner Fälle verzichtet werden soll und kann. Potentielle Wirtschaftsbürger waren zunächst und vor allem die Unternehmer. Darunter wurden hier im Einklang mit der neueren Forschung die aktiv ihre Firma leitenden Eigentümer und die angestellten Vorstände einer Kapitalgesellschaft verstanden.' Zur Abgrenzung gegenüber den Handwerkern und Kleinhändlern di aitai großzügig gefaßte Kriterien, von denen mindestens eines erfüllt sein mußte: die Mitgliedschaft in der Handelskammer, der Einsatz von Maschinen, mehr als zehn Beschäftigte, über Regensburg und dessen unmittelbare Umgebung hinausreichende Handelsbeziehungen. Hinzugenommen wurden die sonst nicht unternehmerisch tätigen Aufsichtsratsvorsitzenden der wenigen Regensburger Aktiengesellschaften (soweit sie in der Stadt ansässig waren) und die Direktoren der lokalen Großbankfilialen. Audi wenn sie einer strengen Unternehmerdefinition nicht genügen, wird man ihnen dodi gewichtigen Einfluß auf die Regensburger Wirtschaft zuschreiben und enge soziale Kontakte mit den Unternehmern vermuten können. Diese Unternehmer, Aufsichtsratsvorsitzenden und Bankdirektoren werden im folgenden aus pragmatischen Gründen als „Wirtschaftsbürger" bezeichnet, ohne daß damit schon a priori ihre „Bürgerlichkeit" und Geschlossenheit als Schicht behauptet werden soll. In der Regensburger Bevölkerung stellten andere Gruppen des Bürgertums einen beträchtlichen Anteil. Mit dem Ende des Alten Reiches hörte die Stadt zwar auf, Tagungsort des Immerwährenden Reichtags zu sein, und konnte auch nach dem Übergang an Bayern 1810 keine vergleichbaren Institutionen mehr anziehen, sank jedoch keineswegs zur bedeutungslosen Provinzstadt herab. Regensburg wurde Sitz einer der acht Bezirksregierungen des Königreichs, weiterer Behörden und Gerichte, vor allem des großen Oberbahnamts, und erhielt mit dem 11. bayerischen Infanterieregiment, zuletzt auch dem Stab der 6. Division, eine Garnison. Hinzu kam, daß das Haus Thum und Taxis audi nach dem Ende des Immerwährenden Reichstags, auf dem der Fürst den Kaiser als Prinzipalkommissar vertreten 5

Jürgen Kocka, Unternehmer in der deutschen Industrialisierung, Gott ingoi 1975, S. 13-18; vgl. Toni Pierenkemper, Die westfälischen Schwerindustriellen 18521913. Soziale Struktur und unternehmerischer Erfolg, Göttingen 1979, S. 12-27; Schumann, Bayerns Unternehmer, S. 18f.

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hatte, in Regensburg blieb. Damit beherbergte die Stadt neben weiteren Ämtern - der Verwaltung des stetig wachsenden fürstlichen Grundbesitzes - eine Residenz. Beamtete Juristen, ein wesentlicher Teil des traditionellen Bildungsbürgertums, prägten Regaisburg ebenso mit wie ein Hocharistokrat und sein Hof. Aber Regensburg war eben auch keine nur von Verwaltung und Militär bestimmte Stadt. Die Verbindung des starken bildungsbürgerlichen und des hocharistokratischen Elements mit dem keineswegs unbedeutenden wirtschaftsbürgerlichen machen die Beschäftigung mit Regaisburg lohnend. Die folgenden Überlegungen beschreiben zunächst knapp die wirtschaftliche Entwicklung Regensburgs im 19. Jahrhundert (I). Thematisiert werden dann die regionale, soziale und berufliche Herkunft der Wirtschaftsbürger, ihr Konnubium, die Berufswahl der Söhne und das Konnubium der Töchter (Π). Es folgt ein Blick auf die Rolle der Wirtschaftsbürger in der Politik (ΙΠ). Die abschließende Wertung nimmt noch einmal die Frage nach Homogenität und Verflechtungen der Regensburger Wirtschaftsbürger auf (IV). I. Für Regensburgs Bevölkerung und Wirtschaft begann das 19. Jahrhundert mit einer Serie von Katastrophal. Durch die Aufhebung des Immerwährenden Reichstags 1806 fielen für seine Handwerker, die sich auf Arbeiten für dessen Gesandte spezialisiert hatten, die Auftraggeber weg. 1809 richteten österreichische und französische Truppen schwere Verwüstungen in Teilen der Stadt an. Ein Jahr später verlor Regaisburg - seit 1803 unter der Herrschaft des reformorientierten Fürstprimas des Rheinbundes, Karl Theodor von Dalberg, endgültig seine Eigenständigkeit und fiel an das Königreich Bayern. Der österreichische Staatsbankrott von 1811 schließlich brachte den großen Handelsfirmen empfindliche Verluste, nicht zuletzt dem fuhrenden Haus des Georg Friedrich Dittmer. Die Regensburger Großhändler hatten es, anders als die Augsburgs oder Nürnbergs, während des 18. Jahrhunderts versäumt, für einen größeren Markt produzierende Handwerkszweige zu fördern und die Verwertung ihrer Produkte zu übernehmen. Ihre Position war aber auch durch die aggressive Zollpolitik der bayerischen Kurfürsten beeinträchtigt worden, deren Territorium die Reichsstadt von allen Sei-

Wiitsdiaftsbürger in Regensburg

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ten umschloß.6 So gingen von ihnen nur bescheidene Impulse für dai Aufbau industrieller Betriebe aus. Audi in Regaisburg zeigten sich aber die ersten Industrialisierungsansätze schon in den 1830er Jahren.7 Großhändler der Stadt, Gutsbesitzer aus der Umgebung und audi der Domänendirektor des Fürsten von Thum und Taxis zeichneten 1837 das Kapital für eine Zuckerfabrik, für deren Gründung die ersten Zollvereinsjahre günstige Bedingungen boten. Im gldchen Jahr etablierte die BayerischWürttembergische Donaudampfschiffahrtsgesellschaft eine Maschinenfabrik und eine Schiffswerft am Regensburger Donauufer. Daneben wurden mehrere schon bestehende Manufakturen, die jetzt zum Tal in neue Hände übergingen, zu Fabriken oder mindestens größeren Betrieben ausgebaut. Um 1830 kamen auch die Verlagsgründer Pustet und Manz nach Regaisburg. Manz, der seinen ersten großen Erfolg 1838 mit Görres' „Athanasius" erzielte, konzentrierte sich auf religiöse Literatur und politische Schriften der Wortführer des konservativ«! Katholizismus. Daneben baute er eine Großdruckerei auf. Das Unternehmen Pustets, zu dem neben Verlag und Druckerei bald auch eine Papierfabrik gehörte, machte sich durch die Herstellung von Meßbüchern und anderen Werken für dai liturgischen Gebrauch einen Namai in der gesamtai katholisdiai Welt.' Dauerhaften, bis über die Wende zum 20. Jahrhundert hinausreichaidai Erfolg hatten neben den Verlagsuntemehmen aber nur die Schnupftabakfabrik der Gebrüder Bernard, ein Zweigbetrieb des Offaibacher Stammhauses, und die 6 Roland Schönfeld, Studiai zur Wirtschaftsgeschichte der Reichsstadt Regaisburg im 18. Jahrhundert, in: Verhandlungen des Historischen Vereins fur die Oberpfalz und Regensburg 100 (1959), S. 5-147, besonders S. 56ff., S. 92. 7 Der Überblick über die industrielle Entwicklung Regensburgs folgt im wesentlichen Werner Chrobak, Politische Parteien, Verbände und Vereine in Regensburg 1869-1914, Teil I, in: Verhandlungen des Historischal Vereins für die Oberpfalz und Regaisburg 119 (1979), S. 137-223, hier S. 184ff. Vgl. Emma Mages, Eisenbahnbau, Siedlung, Wirtschaft und Gesellschaft in der südlichen Oberpfalz (18501920), Kallmünz 1984, S. 120ff.; Heinrich Huber, Bilder aus der Regensburger Industrie, Borna-Leipzig 1906; Joseph Zimmermann, Die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt Regensburg im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Kallmünz 1934. Zur Geschichte der einzelnen Betriebe: Die Industrie der Oberpfalz in Wort und Bild. Hg. von der Handelskammer Regensburg, Regensburg 1914, S. 76ffi; Walter Gerlach (Hg.), Das Buch der alten Firmen der Stadt und des Industriebezirks Regensburg im Jahre 1931, Leipzig o.J. 8 Zu Manz: Annemarie Meiner, G. J. Manz. Person und Werk. 1830-1955, München-Dillingen 1957; zu Pustet: Otto Denk, Friedrich Pustet, Vater und Sohn, Regensburg etc. 1904.

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Rehbachsche Bleistiftfabrik, um 1869 mit 300 Beschäftigten hinter der Lothar (von) Fabers in Stein die größte Deutschlands. Welche Ursachen hinter dai Mißerfolgen der anderen Unternehmen seit den 1870er Jahren standen, läßt sich nicht klar erkennen. Kapitalarmut und mangelnde Innovationsbereitschaft scheinen die Hauptgründe für das Scheitern gewesen zu sein. Relativ spät, erst 1859, erhielt Regensburg Eisenbahnanschluß. König Ludwig I. hatte dai Donau-Main-Kanal als Mittel zur Erschließung des Raumes favorisiert und alle Pläne zum Bau einer Eisenbahn nach Regensburg blockiert. Deren Errichtung überließ der Staat einer privatai Aktiaigesellschaft, die 1856 unter erheblicher finanzieller Beteiligung des Fürstai von Thum und Taxis gegründet wurde. 1876 ging sie in das Eigentum des Staates über. Regensburg entwickelte sich schnell zu einem Eisaibahnknotenpunkt, durch dai Linien nach Berlin, Prag und Wien liefen. Seit dai 1850er Jahren siedeltai sich, angezogai audi durch die jetzt verbesserte Verkehrslage, weitere Unternehmen des Maschinaibaus und der Metallverarbeitung in Regaisburg an. Bereits 1846 hatte der Münchener Industrielle Joseph Anton von Maffei eine Schiffswerft an der Donau errichtet. Die Produktpalette der anderen Fabrikai war hauptsächlich auf dai Bedarf der Landwirtschaft des Regensburger Umlandes mit ihren Nebenindustrien und dai der Brauereien zugeschnitten. Zu ihnen gehörte auch ein Zweigwerk des Mannheimer Landmaschinaiherstellers Heinrich Lanz. Spezialisiert und exportoriaitiert war die Metallwarenfabrik Johann L. L. Brandners, die kunstgewerbliche Gegenstände für den kirchlichen Bedarf herstellte und bis nach Amerika und Rußland verkaufte. Unter den Brauereiai entstanden seit dem Ende der 1880er Jahre zwei Großbetriebe, die Jesuitaibrauerei und das Brauhaus Regensburg, beide als Aktiaigesellschaft. Hinzu kamai am Rand der Stadt mehrere Ton- und Kalkwerke und 1899 eine neue, mit modernsten technischai Mitteln arbeitaide Zuckerfabrik. Kräftige Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt gingai vom 1910 fertiggestellten Luitpoldhafai aus. Erst jetzt konnte die günstige Lage der Stadt an einem großen Wasserweg adäquat gaiutzt werden. Eine Reihe von Raffineriebetrieben siedelte sich an, die das aus Rumänien importierte Petroleum verarbeitetai; 1913 wurde Regaisburg Sitz der neugegründeten Schiffahrtsgesellschaft „Bayerischer Lloyd". Insgesamt gesehen wurde Regensburg durchaus von der Industrialisierung erfaßt, es entwickelte sich jedoch nicht zu einer Industriemetropole. Der neue Donauhafen wurde zu spät fertiggestellt, um die

WiitsdiaftsbüTger in Regensburg

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Wirtschaftsstruktur noch vor dem Ersten Weltkrieg nachhaltig zu verändern. Die meisten Beschäftigtal zählten noch 1907 solche Branchai, in denen das Gewicht der mittleren und kleineren Dienstleistungs- und Versorgungsbetriebe besonders groß war: der Handel (18,1%), das Nahrungs- und Genußmittelgewerbe (13,9%), das Bau(13,7%) und das Bekleidungsgewerbe (10,2%).' Demgegenüber blieb der Anteil des Maschinen- und Apparatebaus und der chemischen Industrie, die um die Jahrhundertwende das Wachstum der fortgeschrittenen Industriestädte bestimmten, gering. Regensburg fehlten auch die für die industriellen Zentren charakteristischen Riesenbetriebe. Mehr als 100 Arbeiter beschäftigten von den Privatunternehmen 1907 nur die Druckerei und Papierfabrik Pustets, die Bleistiftfabrik Rehbachs, die Schnupftabakfabrik Gebr. Bernard, die Zuckerfabrik und drei Baugeschäfte.10 Der einzige Betrieb, der 1914 mehr als 500 Beschäftigte zählte, war die staatliche Ostbahnwerkstätte mit 670 Arbeitern und Angestellten.11 Ein Problem für Regensburgs Wirtschaftsaitwicklung war die Kapitalversorgung. Im frühen 19. Jahrhundert fehlten leistungsfähige Privatbankhäuser, später hatte keine der großai bayerischai Aktienbankai ihren Hauptsitz in der Stadt. 1850 eröffnete die relativ kleine Bayerische Staatsbank eine Filiale, 1876 die Reichsbank eine Nebaistelle. Erst 1899 folgte die Bayerische Vereinsbank, 1906 die Bayerische Hypothekai- und Wechselbank. In beiden Niederlassungen gingai einige der privatai Bankhäuser auf, die sich seit dai 1870er Jahren in Regensburg angesiedelt hatten.12 Von dai übrigai aigagierte sich offaibar nur die Firma Hugo Thalmessinger & Co. an der Finanzierung der wenigen Regensburger Aktiengesellschaften in größerem Ausmaß.13 Das Haus Thum und Taxis scheint sich, abgesehen vom Eisenbahnbau, nur in landwirtschaftsnahen Bereichen an der Industriefinanzierung beteiligt zu haben, zunächst in bescheidenem Rahmen. Erst 1899 setzte die fürstliche Verwaltung massiv finanzielle Mittel beim zweitai Versuch ein, eine Zuckerfabrik in Regensburg zu 9

Berechnet nach: Beiträge Heft 82, Tabelle I, S. 78f. Erschlossen aus den Angaben im Verwaltungsbericht des Stadtmagistrats Regensburg für die Jahre 1906-1908, Regensburg 1910, S. 304. 11 Die Industrie der Oberpfalz, S. 167f. 12 Chrobak Teil I, S. 196f.; Zimmermann S. 81-86. 13 Hugo Thalmessinger führte 1914 den Vorsitz im Aufsichtsrat des Regensburger Brauhauses und war stellvertretender Vorsitzender im Aufsichtsrat der „Deutschen Industriegesellschaft" (Handbuch der Süddeutschen Aktien-Gesellschaften, Jahrgang 31, Leipzig 1914, S. 216, S. 630). 10

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etablieren. Die mit modernsten technischen Mitteln arbeitende Fabrik florierte und ging 1914 in dai Alleinbesitz des Fürsten über.14 Daneben scheint das Haus Thum und Taxis an der Jesuitenbrauerei beteiligt gewesen zu sein; eines der Aufsichtsratsmitglieder war 1914 der fürstliche Rentkammerdirektor Ludwig Ritter von Hilger.15

Π. Wie viele Wirtschaftsbürger mag es nun während des 19. Jahrhunderts in Regensburg gegeben haben, zwischen 1810, als die Stadt an Bayern fiel, und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914? Schätzungen sind schwierig, zumal die Zahlen über Betriebe noch nichts über die Zahl ihrer Eigentümer und Leiter besagen. Zu Beginn des Industrialisierungsprozesses in dai 1840er Jahren wird man wohl von nur einigen Dutzend Personen ausgehen können, am Vorabend des Ersten Weltkriegs dürften es im Sinn der hier verwendeten weitgefaßten Definition sicher mehr als hundert gewesen sein. Gewiß waren es wesentlich mehr als die 76 der im folgenden untersuchten Stichprobe. Insofern sind die Ergebnisse dieser Studie im strengen Sinn nicht repräsentativ. Relativ vollständig sind wohl die frühen Industriellen erfaßt, in geringerem Ausmaß die frühen Großhändler und auch die Wirtschaftsbürger gegen Ende des Kaiserreichs.16 Wie die Tabelle 1 zeigt, stammten Regensburgs Wirtschaftsbürger keineswegs nur aus der Stadt selbst; die Mehrheit waren Zuwanderer, sowohl in den Anfängen der Industrialisierung als auch in ihren späteren Phasen. Wenn auch die meisten von ihnen aus Bayern kamen, zog Regensburg doch auch Zuwanderer aus weiter entfernten deutschen Gebieten an. „Bodenständig" waren die Regensburger Wirtschaftsbürger nicht. Zuwanderer fanden sich in vielen Branchen. Die Großhändler Wilhelm Anns (1766-1842) und Wilhelm (von) Neuffer (1810-1893), beide auch politisch aktiv, stammten aus Württemberg; der Bankier Hugo Thalmessinger (*1875) war in Ulm, sein Kompagnon August 14

Chrobak Teil I, S. 200-203; Die Industrie der Oberpfalz, S. 91-94. Handbuch S. 215. 16 Die 76 Wirtschaftsbürger verteilen sich so auf die einzelnen Branchen: Steine und Erden 9, Metallverarbeitung und Maschinenbau 6, Chemische Industrie (Bleistiftherstellung) 5, Nahrungs- und Genußmittel 11, Verlage 9, Großhandel 11, Banken 18, Sonstige 7. 13

Wirtschaftsbürger in Regensburg

325

Strauss (*1863) in Karlsruhe geboren. Friedrich Joseph Fikentscher (1810-1879), der bald nach ihrer Gründung die erste Zuckerfabrik übernahm, kam aus Marktredwitz in Oberfranken. Zugewandert waren auch alle drei Verlagsgründer: Friedrich Pustet (I) (1798-1882) aus Hals bei Passau, Georg Josef Manz (1808-1894) aus Würzburg, Josef Habbel (1846-1916) aus Soest/Westfalen. Kaum überraschend ist, daß die meisten der angestellten Unternehmer nicht aus Regensburg stammten. Aber auch in Branchai, in denen sich Fabriken allmählich aus Handwerksbetrieben entwickelten, fanden sich neben bodenständigen Unternehmern Zuwanderer, etwa der in München geborene Turmuhrenbauer Eduard Strobl (1865-1929). Tabelle l17 Die regionale Herkunft der Regensburger Wirtschaftsbürger Geburtsort IS

Geburtsjahr

Regensburg nähere Umgebung (20 km) weitere Umgebung (100 km) übriges Bayern Süddeutschland Westdeutschland Mitteldeutschland Österreich Zahl der Fälle keine Information 17

bis 1840

nach 1840

12

19 2 10 6 2 1 5 2 47

-

4 4 2 2 2 -

26 3

-

Die Berechnungen dieser und aller folgenden Tabellen fußen auf verschiedenen archivalischen und gedruckten Quellen. Ausgewertet wurden zunächst die in Anmerkung 7 und 8 genannte Literatur und Nekrologe in den Verhandlungen des Historischen Vereins für die Oberpfalz und Regensburg. Herangezogen wurden dann die sogenannten Familienbogen im Stadtarchiv Regensburg, die Vorläufer der heutigen Meldebogen, und einzelne Nachlaßakten des Amtsgerichts Regensburg, die aus dem Staatsarchiv Amberg in das Staatsarchiv München ausgelagert sind. Für die in allai Archivai erfahrene wertvolle Unterstützung möchte ich mich herzlich bedanken. 18 Die „nähere Umgebung" umfaßt die angrenzenden Bezirksämter, die „weitere Umgebung" den Regierungsbezirk Obelpfalz und andere bayerische Gebiete gleicher Entfernung von Regensburg. „Süddeutschland": Baden, Württemberg; „Mitteldeutschland": Hessen, Kgr. Sachsen, Prov. Sachsen; „Westdeutschland": Prov. Rheinland, Westfalen. Andere Regionen kamen nicht vor.

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Gebürtiger Regensburger hingegen war Johann Jakob Rehbach (17711849), der eine vom bayerischen Staat gegründete Bleistiftmanufaktur aufkaufte, von Passau nach Regensburg verlegte und zu einem bedeutenden Unternehmen ausbaute.19 Ein Hauptfaktor bei der Zuwanderung in der zweiten Jahrhunderthälfte war wohl die nun günstige Verkehrslage Regensburgs. Familiäre Beziehungen spielten im Fall Neuffers eine Rolle. Pustet hatte als Buchbinderlehrling Regensburg kennengelernt. Für die Bankdirektoren war Regensburg Durchgangsstation oder Schlußpunkt ihrer Karriere, der Entschluß zur Zuwanderung von der Unternehmensspitze mitbestimmt. Hingegen fehlte Regensburg die Sogwirkung einer Ausbildungsstätte oder eines industriellen Pionierbetriebs. Allenfalls könnte man hier auf den Verlag Pustets und die Karriere Habbels verweisen.20 Ein zentraler Aspekt der Herkunft der Wirtschaftsbürger ist ihre über den väterlichen Beruf erfaßte soziale Herkunft (Tabelle 2). Drei Viertel der Regensburger Wirtschaftsbürger hatten Väter, die schon in der Wirtschaft selbständig tätig gewesen waren. Unternehmer standen darunter an der Spitze, gefolgt von Handwerkern. Dabei scheint sich für einen Handwerkerssohn die Chance, dai Sprung in eine Unternehmerposition zu schaffen, nicht verringert zu haben. Nur ein kleiner Teil der Wirtschaftsbürger, vor allem der Unternehmer im engeren Sinn, stammte aus wirtschaftsfernen Elternhäusern. Große Anziehungskraft scheint die Regensburger Wirtschaft auf die Söhne der dortigen Beamten nicht ausgeübt zu haben. Von den am Ort geborenen Wirtschaftsbürgern war Pius Pausch (1844-1895), seit 1890 Vorstand der königlichen Filialbank, der einzige, dessen Vater als Regierungsrat dieser Kategorie zuzurechnen ist.21 Auch die anderen Beamten- und Akademikersöhne finden sich vorwiegend unter den Bankdirektoren; hinzu kommen die beiden Aufsichtsratsvorsitzenden, 19 Stadtarchiv Regensburg, Familienbogen Wilhelm Anns (*12.IV.1766), Wilhelm (von) Neuffer (*12.Π.1810), Hugo Thalmessinger (*18.1.1875), August Strauss (•30.1.1863), Friedrich Joseph Fikentscher (*19.X.1810), Friedrich Pustet (*25.Π.1798), Georg Josef Manz (*1.Π.1808), Josef Habbel (*?.1.1846), Eduard Strobl (»16.IV. 1865), Johann Jakob Rehbach (*1.L1771). 20 Habbel trat 1868 nach einer Buchhändlerlehre in den Verlag Pustets ein und wurde ein Jahr später dessen Filialleiter in Amberg. 1889 machte er sich als Verleger in Regaisburg selbständig. Auch der bedeutende Augsburger Papierfabrikant Georg Ha indi begann seine Laufbahn bei Pustet, zunächst als Buchhändlerlehrling und dann als Leiter von dessen Papierfabrik; der Münchener Verleger Friedrich Schneider (Braun & Schneider, „Fliegende Blätter") hatte seine Ausbildung als Buchhändler bei Pustet abgeschlossen. 21 Stadtarchiv Regensburg, Familienbogen Pius Pausch (*2.Π. 1844).

327

Wirtschaftsbürger in Regensburg

die sonst nicht als Unternehmer tätig waren. Eine wichtige Ausnahme war allerdings der Bleistiftfabrikant Friedrich Hendschel (1832-1887), Sohn eines Thum und Taxisschen Generalpostdirektionssekretärs.22 Die fürstliche Familie trat offenbar nur als Kapitalgeber auf; keines ihrer Mitglieder betätigte sich direkt als Unternehmer. Tabelle 2 Die soziale Herkunft der Regensburger Wirtschaftsbürger Geburtsjahr

bis 1840

nach 1840

Beruf des Vaters Großhändler/Bankier Industrieller Verleger „Kaufmann" Handwerksmeister Sonst. Gewerbetreibender Privatier Gutsbesitzer Höherer Beamter Pfarrer Freie Berufe (Akademiker) Sonst. Beamter Zahl der Fälle keine Informationen

1 3 4 1 4 -

1 3 1 -

18 11

7 5 3 6 11 2 2 -

2 -

2 5 45 2

Zwischen der reichsstädtischen Oberschicht und den Wirtschaftsbürgern des 19. Jahrhunderts gab es kaum Kontinuität. Bereits im 17. und 18. Jahrhundert war die Fluktuation unter dai Mitgliedern des „Inneren Rats" der Stadt groß gewesen, auch bei dai dort vertretenen Kaufmannsfamilien. Die Leiter der um 1800 wichtigsten Handelshäuser waren „homines novi", einige von ihnen hatten sich erst kurz zuvor in Regensburg niedergelassen.23 Auch die meisten von ihnen begründeten keine wirtschaftsbürgerlichen Dynastien; um 1850 waren 22

Stadtarchiv Regaisburg, Familienbogen Friedrich Hendschel (*25.12.1832). Walter Fümrohr, Das Patriziat der Freien Reichsstadt Regensburg zur Zeit des Immerwährenden Reichstags, in: Verhandlungen des Historischen Vereins für die Oberpfalz und Regaisburg 93 (1952), S. 198, S. 216ff; Schönfeld, S. 56ff.

23

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Dirk Scfaumann

mehrere dieser Häuser bereits verschwunden, andere in fremde Hände übergegangen.24 So blieb auch die Zahl der Familien gering, die von den Anfängen der Industrialisierung bis über die Wende zum 20. Jahrhundert hinaus die Wirtschaft der Stadt mitdirigierten und audi sonst im öffentlichen Leben einen prominenten Platz einnahmen. Nur drei Namen können hier genannt werden: Neuffer, Pustet und Rehbach. Vergleicht man die soziale Herkunft mit der beruflichen Qualifikation der Wirtschaftsbürger, über die allerdings erheblich weniger Informationen vorliegen, so verengt sich das Herkunftspektrum nodi weiter. „Außenseiter", die aus einem völlig fachfremden Beruf heraus Unternehmer wurden, scheint es nicht gegeben zu haben, weder unter dai Gründern noch unter den später in ein Unternehmen eintretenden Wirtschaftsbürgern. Die meisten Fabrikanten hatten entweder eine kaufmännische oder eine rein handwerkliche Ausbildung durchlaufen. Regensburgs Industrielle entsprachen damit weitgehend dem deutschen Muster.25 Bezeichnend für die Industrialisierung der Stadt ist freilich, daß sich unter den Fabrikgründern, sieht man von dem Kalkwerksbesitzer und Hütteningenieur Micheler ab, keine höherqualifizierten Techniker finden. Erst die Erbai und Nachfolger erwarbai eine deutlich bessere berufliche Qualifikation. Gut belegt ist die allmähliche Erhöhung des Bildungsniveaus für die Verlegerfamilie Pustet. Friedrich Pustet (I) hatte nach einer einfachen Schulbildung eine Buchbinderlehre absolviert. San Sohn Friedrich Pustet (Π) (1831-1902) konnte das Gymnasium besuchai und zwei Jahre in der Fehrschen Buchhandlung in St. Gallai konditionierai. Dessen Sohn Friedrich Pustet (ΠΙ) (1867-1947) vervollständigte nach der Gymnasialzeit in Regensburg und der Buchhändlerlehre bei seinem Vater seine Ausbildung durch Aufenthalte in Rom und Paris und Reisen nach England, Spaniai und in die USA. Sein Sohn Friedrich (IV) schließlich (*1897) absolvierte ein staatswissaischaftliches Studium.26 Im Erwerb höherer Bildung manifestierte sich auch sozialer Aufstieg. Spektakuläre Karrierai wie die eines Riedinger in Augsburg 24

Vgl. die Regensburger Adreßbücher von 1847, 1865 und 1872. Wolfgang Zorn, Typen und Entwicklungskräfte deutschen Unternehmertums im 19. Jahrhundert, in: VSWG 44 (1957), S. 57-77; vgl. Kocka, Unternehmer, S. 4254; Schumann, Bayerns Unternehmer, S. 72ff., S. 156ff. 26 Denk, S. 3ff., 79ff; Stadtarchiv Regensburg, Familienbogen Friedrich Pustet (»21.IV. 1867).

25

Wirtschaftsbürger in Regaisburg

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oder Schuckert in Nürnberg finden sich in Regaisburg jedoch nicht. Audi stammte keiner der Regensburger Wirtschaftsbürger aus der städtischen oder ländlichen Unterschicht, soweit es die Berufsbezeichnungen der Väter erkennen lassen. Sozialen Aufstieg wird man aber denjenigen Wirtsdiaftsbürgem zuschreiben können, die dai Sprung vom Handwerker zum Fabrikanten schafften. Das waren nicht wenige, gerade in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Wie die Zahlen über die Größe der Regensburger Betriebe freilich schon angedeutet haben, blieb die Dimension dieses Aufstiegs bescheiden. Das zeigen audi die Vermögensangaben in den gerichtlichen Nachlaßakten. Die obere Grenze markiert mit 214.500 M der Maschinenfabrikant Heinrich Sinz (1837-1901), Bierbrauersohn und gelernter Kupferschmied, der 1872 seine Fabrik gegründet hatte und 1889 60 Arbeiter beschäftigte. Max Tenscherz (1849-1914), Sohn eines Wagnermeisters, der 1880 eine Fabrik für künstliche Blumen gründete, hinterließ bei seinem Tod ein Gesamtvermögen von 80.000 M.27 Weitere Fälle ließen sich nennen, auch für die angestellten Unternehmer. Deutlich hoben sich davon die Unternehmaiserben ab. Dai Aufstieg der Familie Pustet dokumaitieren die Nachlässe der beiden Söhne des Gründers: Friedrichs (Π) Vermögai betrug (1902) 1,8 Millionen, das seines Bruders Karl (1910) 2,1 Millionai Mark.2" Mehrfache Millionäre waren 1913 die Großhändler(söhne) Wilhelm (von) NeufFer und Carl Brauser mit jeweils 3 Millionai M.2' Ahnlicher Reichtum läßt sich in der dritten Generation für die Inhaber der Rehbachschen Bleistiftfabrik nachweisen.30 Ein anderer wichtiger Indikator für die gesellschaftliche Position der Wirtschaftsbürger ist ihr Konnubium (Tabelle 3). Vergleicht man die Herkunft der Ehefrauen der Regensburger Wirtschaftsbürger mit der ihrer Männer, so fallai die Parallelen ins Auge. Auch die meistai ihrer Väter waren als Selbständige in der Wirtschaft tätig gewesai, und auch hier ragten die Unternehmer heraus. Heiratsverbindungen mit dem traditionellen Bildungsbürgertum in der Regensburger Stadtgesellschaft, der höheren Beamtaischaft und den 27

Staatsarchiv München, AG Regensburg I NR 1901/145; NR 1914/305. Ebd., I NR 1902/118; NR 1910/15. 29 Rudolf Martin, Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre in Bayern, Berlin 1914, S. 47, S. 51. 30 Staatsarchiv München, AG Regaisburg I NR 1887/104 (Friedrich Hendschel). Hendschel, der eine Enkelin des Unternehmensgründers heiratete und Mitinhaber wurde, hinterließ 1887(!) 569.213 M. 2i

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freiberuflich tätigen Akademikern kamen offenbar nur in begrenztem Ausmaß zustande. Vielmehr scheinen das eigene Herkunftsmilieu und Geschäftsrücksichten die Hauptfaktoren bei der Wahl der Ehefrau gewesen zu sein, die ja meist zu einem frühen Zeitpunkt der eigenen Karriere getroffen wurde. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, warn man die Geburtsorte der Ehefrauen untersucht. Auch die Mehrhat von ihnen war außerhalb Regensburgs geboren. Von dai 40 bekannten Ehefrauen der nach 1840 geborenen Wirtschaftsbürger stammten nur acht aus Regensburg und nur fünf aus der näheren Umgebung. Es läßt sich auch nicht erkennen, daß zuwandernde Wirtschaftsbürger auffallend häufig das Konnubium mit Regensburger Familial gesucht hätten. Tabelle 3 Das Konnubium der Regensburger Wirtschaftsbürger Geburtsjahr

bis 1848

nach 1848

Beruf des Schwiegervaters31 Großhändler/Bankier Industrieller Verleger „Kaufmann" Handwerksmeister Sonst. Gewerbetreibender Privatier Landwirt Höherer Beamter Offizier Pfarrer Freie Berufe (Akademiker) Sonst. Beamter Beamter allg. Angestellter Zahl der Fälle keine Informationen

1 3 3 5 2 1 -

1 1 1 1

7 5 -

5 6 3 2 2 4 1 -

1 1

2 1 1 1

21 8

40 7

Daß die kleineren Unternehmer, vor allem wenn sie als Handwerker begonnen hatten, keine Hei rats Verbindungen zu den höheren Rängen 31

Aufgenommen sind die Schwiegerväter aus der erstαϊ Ehe; über eine zweite Ehe liegen nur in wenigen Fällen Informationen vor.

Wirtschaftsbürger in Regensburg

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der Regensburger Stadtgesellschaft knüpften, wird nicht überraschen. Wie stand es aber mit den reicheren Unternehmenserben? Carl Brauser (*1845), der nach 1900 Erster Direktor der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank in München wurde, heiratete eine Nürnberger Kaufmannstochter. Die Schwiegerväter beider Söhne des Verlagsgründers Friedrich Pustet waren Buchhändler; Karl heiratete dann in zweiter Ehe die Tochter eines Hauptmanns der bayerischen Armee, der Enkel Friedrich Pustet (ΙΠ) die Tochter eines in Regensburg tätigen Rentamtmanns. Ein „Instrumentenmacher" und ein Kaufmann, beide in Regensburg ansässig, waren die Schwiegerväter von Sohn und Enkel des Bleistiftfabrikanten Rehbach. Georg Neuffers erste Ehefrau war die Tochter eines Hamburger Hauptpastors, seine zweite die Tochter eines Landrats aus Wiesbaden.32 So begrenzt die Aussagekraft dieser Einzelfalle sein mag - ein einheitliches Heiratsmuster ist hier nicht zu erkennen, wenn auch die Tendenz zum Konnubium mit anderen Teilen des Bürgertums wohl größer war als bei den Handwerker-Unternehmern. Auffallend ist, daß keine Verbindungen zu dai „großen Familien" in München, Augsburg oder Nürnberg bestanden. Auch für die ja zum Teil aus der Beamtenschaft stammenden Bankdirektoren zeigen sich bei der Wahl des Ehepartners keine eindeutigen Konturen. Weitere Hinweise auf den Kontakt zu anderen sozialen Gruppen liefert der Blick auf die Söhne und Töchter der Wirtschaftsbürger. Zweifellos werfen die Werte der Tabelle 4 größere methodische Probleme auf als die der bisher interpretierten. Die Quellen geben vielfach nur ein frühes Stadium der Berufslaufbahn des Sohnes wieder; mancher „Angestellte" oder „Kaufmann" mag noch eine Unternehmerposition erreicht haben. Über die seit den 1890er Jahren geborenen Söhne fließen die Informationen nur sehr spärlich.33 Trotzdem vermitteln die Zahlen ein aussagekräftiges Bild. Zwar wurde die überwiegende Mehrheit der Söhne wiederum unternehmerisch tätig, in dai meisten Fällen in der Firma oder Fabrik des Vaters. Ein Drittel von ihnen suchte sich jedoch andere Berufe, zum großen Teil solche, die ein akademisches Studium voraussetzten; nicht wenige traten in den Staatsdiaist. Offenbar waren unter den Söhnen der Wirtschafts32 Stadtarchiv Regensburg, Familienbogen Carl Brauser (*17.IV.1845), Georg Neuffer (»23.VH.1819), Friedrich Pustet Π (*24.VII. 1831), Friedrich Pustet ΙΠ (*21.IV.1867), Karl Pustet (*10.Π.1839), Fritz Rehbach (*16.ΧΠ.1839), Johann Christoph Rehbach (*23.XI.1805). 33 Deshalb wurden hier nur die bis 1895 geborenen Söhne berücksichtigt.

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bürger die Beziehungen zu anderen Teilen des Bürgertums ausgeprägter als unter dai Vätern, ohne daß sich eine Intensivierung des Verhältnisses bei dai schon im Kaiserreich aufgewachsenen erkennen läßt. Demgegenüber scheinen andere Existenzweisen keine besondere Anziehungskraft auf die Söhne der Wirtschaftsbürger ausgeübt zu haben. Der Rückzug auf ein Landgut oder in das geruhsame Leben des Privatiers kam nicht vor oder blieb die seltene Ausnahme. Allerdings hätte auch nur der kleinere Teil der Regensburger Wirtschaftsbürger die Möglichkeiten dazu besessen. Audi zog es nur wenige zu künstlerischen Berufen. Tabelle 4 Die Berufe der Söhne Geburtsjahr

bis 1870

nach 1870

2 7 8 4 3

3 7 2

Beruf Großhändler/Bankier Industrieller Verleger Unternehmer allg. „Kaufmann" Sonst. Gewerbetreibender Privatier Landwirt Höherer Beamter Offizier Pfarrer Freie Berufe (Akademiker) Sonst. Beamter Beamter allg. Angestellter Kunstmaler Zahl der Fälle keine Informationen

-

1 1 3 3 1 5 -

1 3 42 9

-

4 1 -

1 1 1 1 2 1 4 -

28 21

Noch weiter reichte die Öffnung zu anderen Gruppen des Bürgertums bei dai Töchtern (Tabelle 5); die Zahlen deuten an, daß sie im Kaiserreich vielleicht nodi ausgeprägter war als zuvor. Nur ein gutes Drittel heiratete Unternehmer oder andere in der Wirtschaft tätige Männer. Auch hier stellai sich die schon angesprochaiai methodi-

Wirtschaftsbürger in Regensburg

333

sehen Probleme: Wie hoch der Anteil der späteren Unternehmer oder anderen Wirtschaftsbürger unter den „Kaufleuten" und Angestellten war, läßt sich nur schwer bestimmen, nicht zuletzt deshalb, weil etwa zwei Drittel der Ehemänner keine Regensburger waren. Dies wiederum deutet darauf hin, daß die Familien der Wirtschaftsbürger kaum oder nur schwach untereinander verbunden waren. Ein geschlossenes Wirtschaftsbürgertum bildete sich über das Konnubium nicht aus, weder bei den mittleren und kleineren Unternehmern noch bei den führenden Familien. Dagegen heiratete ein Viertel der Töchter höhere, akademisch gebildete Beamte, ein Sechstel Offiziere. Bemerkaiswert ist, daß sich nur zwei Ehen mit Adeligen feststellen lassen; beide nicht in einer der drei Unternehmerdynastien. Am engsten war die Verflechtung mit Beamten- und Offiziersfamilien bei den Bankdirektoren, was angesichts ihrer sozialen und beruflichen Herkunft kaum überrascht. Charakteristisch für die Familial der meisten Wirtschaftsbürger, auch für die noch handwerksnahen, ist aber ein breites Spektrum der Berufe von Söhnen und Schwiegersöhnen. Ein Beispiel sind die Familial der Seil- und Schlauchfabrikanten Friedrich (1849-1927) und Leonhard Seyboth (1850-1920).

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Tabelle 5 Das Konnubium der Töchter Geburtsjahr

bis 1870

nach 1870

Beruf des Ehemanns Großhändler/Bankier Industrieller Verleger „Kaufmann" Handwerksmeister Höherer Beamter Universitätsprofessor Gymnasiallehrer Offizier Freie Berufe (Akademiker) Sonst. Beamter Beamter allg. Angestellter (Klosterschwester)

_ 3 2 13

Zahl der Fälle keine Informationen

-

8 -

7 -

1 1

_ 1 1 6 1 4 1 4 5 3 4 -

-

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Friedrichs Tochter heiratete einen Forstamtsassessor, der eine Sohn wurde Arzt, der andere Kaufmann. Leonhards ältester Sohn studierte Jura, der jüngste Medizin, während der mittlere eine Lehre als Seiler durchlief; Ehemann seiner Tochter wurde ein Oberinspektor.34 Ein ähnliches Bild vermitteln die Familien der angestellten Unternehmer in der Industrie, etwa die des Brauereidirektors Fritz Schricker (18631944); seine Schwiegersöhne waren ein Volkschullehrer und ein Obersteuersekretär, sein Sohn studierte an der Technischen Hochschule München und wurde Brauingenieur.35 Die Söhne wuchsen jetzt, im Kaiserreich, in ein neues Bildungsbürgertum hinein, das nicht mehr nur aus Hochschulabsolventen der klassischen Fakultäten bestand. Für die Töchter waren mittlere Beamte attraktive Heiratspartner, ohne daß sich sagen läßt, von welcher Seite dabei die Initiative ausging.

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Stadtarchiv Regensburg, Familienbogen Fritz (*23.1.1849) und Leonhard Seyboth (*24.V.1850). 35 Stadtarchiv Regensburg, Familienbogen Fritz Schricker (*22.m. 1863).

WirtschaftsbilrgCT in Regensburg

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Kein klares Muster zeigen die sozialen Verflechtungen der Regaisburger Untemehmerdynastien. Am engsten gezogen waren Heiratskreis und Tätigkeitsfelder bei der katholischen Verlegerfamilie Pustet. Die drei Söhne des Verlagsgründers blieben im Unternehmen: Friedrich (Π) übernahm die verlegerische Leitung, Clemens die der Papierfabrik, Karl die der Druckerei. Zwei Töchter heirateten Buchhändler aus Tölz und Wien, die dritte einen bei der Bezirksregierung tätigen Assessor. In der folgenden Generation führte Friedrich (ΙΠ) den Verlag, Ludwig die amerikanischen Filialen; ein weiterer Sohn Karls wurde Ordenspriester, Clemens' Sohn starb 1904 als Privatier in München. Kaufleute und Buchhändler, ein österreichischer Ministerialrat und ein Hauptmann der bayerischen Armee waren die Ehepartner der Töchter. Friedrich (IV) war dann der nächste Verlagsleiter, seine Schwester heiratete den Syndikus der fürstlichen Domänenkammer.36 Eng war die Bindung ans Unternehmen auch in der protestantischen Fabrikantenfamilie Rehbach, ausgeprägter aber die Kontakte zum Bildungsbürgertum. Johann und Christoph Rehbach, die beiden Söhne des Gründers, führten das Unternehmen weiter, danach ein Sohn Christophs; zwei weitere Söhne ließen sich als Kaufleute in Hamburg nieder, eine Tochter heiratete dai bereits erwähnten Friedrich Hendschel. Neben seinem Schwager übernahm Hendschel als Teilhaber die Unternehmensleitung; zwei seiner Söhne wurden Kunstmaler, die Tochter Auguste ging mit dem späteren bayerischen Staatsminister Friedrich (von) Brettreich die Ehe ein.37 Der ebenfalls protestantischen Familie Neuffer läßt sich wohl als einziger der Regensburger Unternehmerdynastien eine über die Regensburger Stadtgesellschaft weit hinausragende soziale Stellung zuschreiben. Der Pfarrerssohn Wilhelm NeufFer (1810-1893), Schwiegersohn und Teilhaber in der Großhandlung seines Onkels, Guts- und Fabrikbesitzer, wurde, nachdem er Regensburg lange als Abgeordneter in der bayerischen Ständekammer vertreten hatte, vom König 1873 in die erste Kammer des bayerischen Parlaments, den Reichsrat, berufen und erhielt dai persönlichen Adel. Zwei seiner Neffen wurden wieder Unternehmer, einer davon in New York, zwei weitere hohe bayerische Beamte; Adolph (von) Neuffer, 1901 mit dem persönlichen Adel ausgezeichnet, 36

Denk; Stadtarchiv Regensburg, Familienbogen Friedrich Pustet (I, Π, ΙΠ), Karl und Clemens Pustet. 37 Stadtarchiv Regansburg, Familienbogen Christoph Rehbach (*23.XI.1805), Friedrich Hendschel (*25.ΧΠ. 1832).

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Dirk Schumann

brachte es 1902 zum Regierungspräsidenten der Pfalz.3* Von einer „Feudalisierung" wird man hier sicher nur bedingt sprechen können, eher von einer besonderen Staatsnähe der bedeutenderen Wirtschaftsbürger.39

m. Mit den Hinweisen auf Konfession und Politik sind zwei Themen angesprochen, die für Regensburgs Geschichte im 19. Jahrhundert und damit auch für seine Wirtschaftsbürger von besonderer Bedeutung waren. Die Erbschaft, die Regensburg aus seiner Vergangenheit als Freie Reichs- und als Bischofsstadt beim Übergang an Bayern mitnahm, war der Gegensatz zwischen Katholiken und Protestanten. Seit 1651 war das Bürgerrecht nur noch an Protestanten verliehen worden und erst unter der Herrschaft Dalbergs gelang es 1803 einem Katholiken wieder, Bürger zu werden.40 Ziel des katholischen Bevölkerungsteils, der im Lauf des Jahrhunderts durch die Zuwanderung wesentlich stärker wuchs als der protestantische, mußte es sein, in der Zahl der Bür38

Stadtarchiv Regaisburg, Familienbogen Wilhelm (von) Neuffer (*12.Π.1810), Georg Neuffer (*23. VII. 1819); Cornelius A. Will, Georg Neuffer und Wilhelm v. Neuffer, in: Verhandlungen des Historischen Vereins für die Oberpfalz und Regensburg 49 (1897), S. 281-284. Dies ließe sich auch am Titel des Kommerzienrats zeigen, der einer Reihe von Regensbuiger Wirtschaftsbürgem verliehen wurde (ohne daß in Bayern die ökonomischen Kriterien so scharf definiert waren wie in Preußen). Bei der Titelvergabe spielte die politische Haltung des Kandidaten durchaus eine Rolle, etwa im Fall von Karl und Friedrich Pustet (Π). Karl, der politisch weniger exponierte, erhielt den Titel 1887, während sein älterer und dem Unternehmen länger vorstehender Bruder „schon als Vorstand des katholischen Kasinos und als hervorragender Führer der klerikalen Partei" zunächst übergangen wurde und den Titel erst verliehen bekam, als er dieses Amt nicht mehr ausübte. (Staatsarchiv Amberg, Reg. Kdl 1949, 14121: Schreibai Regierungspräsident an Innenministerium vom 29.11.1885; Chrobak Π, S. 273f.). Eingehend zum Feudalisierungsbegriff und zum Kommerzienratstitel in Bayern: Schumann, Bayerns Unternehmer, S. 134ff, S. 25Off; vgl. Hartmut Kaelble, Wie feudal waren die Unternehmer im Kaiserreich? Ein Zwischenbericht, in: Richard Tilly (Hg.), Beiträge zur quantitativen vergleichenden Unternehmensgeschichte, Stuttgart 1985, S. 148-174. 40 Heinrich Huber, Das Bürgerrecht der Reichsstadt Regensburg, in: Verhandlungen des Historischen Vereins für die Oberpfalz und Regaisburg 79 (1929), S. 99113.

Wirtsdiaftsbürger in Regensburg

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gerrechtsinhaber gegenüber dai Protestanten aufzuholen, um eine angemessene Vertretung in den Gemeindegremien erreichen zu können. Ein zweiter Konfliktherd war die Verwaltung der Wohltätigkeitsstiftungen. Das Repräsentations- und das Stiftungsproblem bestimmten die politischen Auseinandersetzungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.41 Von den 76 Wirtschaftsbürgem waren 33 Protestanten, 35 Katholiken und 7 jüdischen Glaubens. Die Protestanten waren damit - neben den Juden - im Vergleich zu ihrem Anteil an der Bevölkerung der Stadt klar überrepräsentiert,42 eine kleine Minderheit waren die katholischen Wirtsdiaftsbürger aber keineswegs. Ihre Kerngruppe waren die Verleger, zu denen später aber auch andere Unternehmer wie die Spiritusfabrikanten Alois und Karl Mayer oder der Großhändler Joseph Paul Laux stießen.43 Wichtige protestantische Wirtschaftsbürger waren neben dai schon genannten Familial NeufFer und Rehbach die meisten Großhändler und ersten Fabrikantai.44 Zu den jüdischen Wirtschaftsbürgern gehörten die Bankiers Thalmessinger und Strauss und die Großhändlersfamilie Loewi; die Familie des Großhändlers Gustav Wilhelm Henle (1786-1863) trat zum katholischen Glauben über.45 Regensburger Wirtschaftsbürger waren schon im Vormärz politisch aktiv und blieben es auch nach der Revolution von 1848/49. Gerade die prominenten unter ihnen besetzten bis zum I. Weltkrieg einflußreiche Positional in den gegensätzlichen politischen Lagern. Nebai Christoph Rehbach zählte auch Wilhelm (von) NeufFer zum gemäßigtai Teil der liberalai Oppositionsbewegung des Vormärz, dessen Führungsfigur in Regensburg der Großhändlerssohn und 1848 kurze Zeit als bayerischer Ministerpräsident amtieraide Gottlieb von Thon-Dittmer war. NeufFer saß von 1845 bis 1848, dann wieder von 1849 bis zum Ende der 1860er Jahre als Abgeordneter Regensburgs im bayerischen Landtag und war Mitbegründer des „Deutschen Reformvereins". Rehbach wurde bei der Landtagswahl 1863 von der 41

Zu den Auseinandersetzungen im einzelnen: Dieter Albrecht, Regensburg im Wandel, Regensburg 1984, S. 73ff. 42 Genaue Angaben bei: Albrecht S. 73, 92f; Chrobak Teil I, S. 180f. 43 Stadtarchiv Regensburg, Famiiienbogen Alois (*4.V.1844) und Karl Mayer (•24.1.1851), Joseph Paul Laux (*28.Π.1834); Cornelius A. Will, Joseph Paul Laux, in: Verhandlungen des Historischen Vereins für die Obeipfalz und Regensburg 49 (1897), S. 285-287. 44 Albrecht, S. 76. 45 Zu Loewi und Henle und zur Entwicklung der jüdischen Gemeinde in Regensburg allgemein: Albrecht, S. 89-107.

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kleindeutschen Richtung der Liberalen als - erfolgloser - Gegenkandidat Neuffers aufgestellt.46 Auch im Kaiserreich hielten Wirtschaftsbürger wichtige Positional bei dai Liberalen besetzt, die bis kurz vor dem I. Weltkrieg eine Honoratiorenpartei blieb. Noch 1906 stellte das Wirtschaftsbürgertum mit dem Kommerzienrat und Großhändler Laux und dem Fabrikbesitzer Seyboth die Vorstände des Liberalen Vereins, zu dessen Führungszirkel auch Wilhelm (von) Neuffer (1847-1917) zählte.47 Auf katholischer Seite leitete der schon seit seiner Zuwanderung 1830 politisch aktive Verleger Manz 1848/49 den katholischen Wahlverein, Friedrich Pustet (I) den Piusverein. Der Gegaisatz der Konfessionai trat für Pustet im Herbst 1848 allerdings zurück, als es darum ging, eine Radikalisierung der Revolution zu verhindern. Mit Rehbach, Neuffer und anderen protestantischai Wirtschaftsbürgern rief er zur Gründung eines „Vereins für deutsche Einheit und gesetzliche Freiheit" auf, der dem „Volksverein" der Demokratai entgegentreten sollte. Unter den Führern der Radikalai befanden sich keine Wirtschaftsbürger, audi keine der jüngeren Generation.48 In den 1860er Jahren eröffneten Reichsgründung und Kulturkampf neue Felder der politischen Auseinandersetzung. Zugleich veränderten sich die politischen Fronten in der Stadt. Die Identifikation von Konfessionszugehörigkeit und politischer Haltung schwand; es gab jetzt eine beachtliche Zahl katholischer Bürger, wohl auch manche Wirtschaftsbürger, die liberal wählten. Gegen diese Tendaiz stemmten sich die konservativen Katholikai, angeführt von den Verlegern.49 Friedrich Pustet (Π) gehörte 1869 zu den Gründern des Katholischai Kasinos, des Rückgrats der Regensburger Zentrumsorganisation, dessen Vorsitz er für fast 25 Jahre inne hatte. Friedrich Pustet (ΠΓ) gründete dai parallel zum Kasino agierenden Emmeramsverein 1905 und leitete ihn bis 1918. Weitere katholische Wirtschaftsbürger vertraten seit dai 1880er Jahren als Zaitrumsabgeordnete Regensburg im Landtag, von 1905 bis 1918 der Spiritusfabrikant und Kommerzienrat 46

Zur Politik im Vormärz und zu den Landtagswahlen: Albrecht, S. 109flF., hier S. 121 und S. 123ff., hier S. 127; vgl. Chrobak Teil Π, in: Verhandlungen des Historischen Vereins für die Oberpfalz und Regensburg 120 (1980), S. 211-384, hier S. 214ff. 47 Zu den Liberalen im Kaiserreich: Chrobak Teil Π, S. 306ff., hier S. 324. 48 Zur Revolution: Albrecht, S. 13 Off, hier S. 139; Ludwig Mayer, Regensburg und die Revolution 1848, in: Verhandlungen des Historischen Vereins fur die Oberpfalz und Regensburg 102 (1962), S. 21-99. 49 Albrecht, S. 84f.

Wirtschaftsbürger in Regensburg

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Karl Mayer, Nachfolger Pustets als Vorstand des „Kasinos" und Vorsitzender der oberpfálzischen Zentrumsorganisation. Der Verleger Habbel organisierte 1904 dai Katholikentag in Regensburg; sein Schwiegersohn war Heinrich Held, der spätere bayerische Ministerpräsident.50 Der Einfluß prominenter Wirtschaftsbürger beschränkte sich nicht auf Führungsposten in den jeweiligen Parteiorganisationen und einige Landtagsmandate. Sie hatten bis 1918 Sitze in den Gremien der Gemeindebevollmächtigten und im Magistrat inne und verstärkten ihren Einfluß noch nach 1869, dem Jahr der Gemeindereform. Charakteristisch waren lange Amtszeiten einzelner Wirtschaftsbürger, aber audi verschiedener Familial, so daß sich mehrere „kommunalpolitische Dynastien" bilden konnten. Audi hier trifft man auf die Familial Neuffer und Rehbach.51 Von dai 208 zwischen 1818 und 1869 gewählten Gemeindebevollmächtigten läßt sich gerade ein Dutzend dem Bildungsbürgertum zurechnen, hingegen waren 85 von ihnen, die stärkste Gruppe, Handwerker, 74 waren Kaufleute, 9 Großhändler, 7 Fabrikanten und 4 Buchhändler. Nach 1869 änderte sich die Zusammensetzung der Gemeindebevollmächtigten nicht grundlegend, wenn auch insgesamt das Gewicht der Selbständigen aus Handel und Gewerbe abnahm. Von dai 168 Gemeindebevollmächtigten der Zeit zwischen 1869 und 1918 waren immer noch 43 Handwerker, schon 21 aber bezeichnetai sich jetzt als Fabrikanten, 19 waren Kaufleute und 12 Großhändler.52 Noch 1910 standen dem Gremium vier Wirtschaftsbürger vor, die Kommerzienräte Neuffer, Laux, Christlieb und Friedrich Pustet (ΙΠ).53 Noch größer und ebaifalls weiter zunehmaid war die Bedeutung der Wirtschaftsbürger im Magistrat, dem eigaitlich entscheidaiden politischen Gremium der Stadt. Unter den 68 Magistratsrätai 1818 bis 1869 waren 28 Handwerker und 12 Kaufleute, gefolgt von 6 Großhändlern und 4 Fabrikanten, von den 51 Magistratsräten 1869 bis 1918 als jetzt stärkste Gruppe 10 Großhändler und nur noch 7 Handwerker, 6 Fabrikantai, 6 Kaufleute und 4 Buchhändler.54 Noch 1910 ließen sich von den 12 bürgerlichai Magistratsräten 7 dai Wirt50

Zur Zentramspaitei: Chrobak Teil Π, S. 226ff., hier S. 236, S. 251, S. 269. Albrecht, S. 33. 52 Zur Zusammensetzung der Gemeindegremien: Albrecht, S. 29ff, hier S. 31f. 53 Adreßbuch fur Regaisburg 1910, Teil ΙΠ, S. 15. 54 Albrecht, S. 31f. 51

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schaftsbürgem zurechnen, darunter die Kommerzienräte Pauer, Zoellner und Ludwig Pustet: Ersatzmann war Habbel.35 Wenn bis kurz vor dem I. Weltkrieg die Auseinandersetzung zwischen Zentrum und Liberalen die Regensburger Politik bestimmte und sich prominente Wirtschaftsbürger als Protagonista! der gegnerischen Lager gegenüberstanden, so lag das auch an der Schwäche der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Die Wirtschaftsstruktur der Stadt bot ihr ungünstige Voraussetzungen; vor allem fehlten Riesenbetriebe wie in Augsburg und Nürnberg. Konfliktdämpfend scheinen auch die zahlreichen Unterstützungskassen - bei Rehbach seit 1829 - und die Lohnpolitik der Unternehmer gewirkt zu haben.56 Das die Zentrumspartei tragende Vereinsnetz erfaßte zudem gerade auch die Arbeiter, um die sich mit geringerem Erfolg aber audi liberale Vereine bemühten. Initiativen des Zentrums ließen audi die Liberalen aktiv werden. So etwa um die Jahrhundertwende, als Habbel und Pustet dai Wolfgangsbauverein ins Leben riefen, da der liberale Magistrat sich nur zögernd dem Bau preiswerter Wohnungen für die wachsende Arbeiterbevölkerung zuwandte. 1912 zogen die Liberalen mit dem „Gemeinnützigen Wohnungsbauverein" nach, als dessen Mitinitiator der Kommerzienrat Christlieb auftrat.57 IV. Gab es ein Regensburger Wirtschaftsbürgertum? War es Teil eines bayerischen Wirtschaftsbürgertums? Ein Zirkel ökonomisch und politisch einflußreicher Familien, die untereinander und mit dai „großen Familien" der bayerischen Wirtschaftsmetropolen verflochten waren, bildete sich in Regaisburg nicht. Nach Herkunft und wirtschaftlichem Erfolg lassen sich zwar die frühen Kaufmann-Unternehmer - sowohl die Großhändler wie auch die frühen Fabrikanten - und die reich gewordenen Erben von den später startenden Handwerker-Unternehmern abgrenzen und unter dai zuerst Genannten drei wirtschaftsbürgerliche Dynastien ausmachen. Doch blieben die familiären Verbindungen untereinander in allai drei Gruppen schwach. Daß die ökonomisch potentesten Familien nicht zu einer homogenen Führungsschicht zu55

Adreßbuch Regensburg 1910, Teil m , S. 15. Chrobak Teil ΙΠ, in: Verhandlungen des Historischen Vereins für die Oberpfalz und Regensburg 121 (1981), S. 183-284, hier S. 184ff, S. 227ff. 57 Chrobak Teil Π, S. 279ff, S. 359ff; Albrecht, S. 208f. 56

WirtsdiaftsbürgCT in Regensburg

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sammenwuchsen, hatte vor allem audi politische, in einem Punkt fur Regensburg spezifische Gründe: Zu den größten Unternehmen der Stadt gehörte das der Familie Pustet, dessen Inhaber nicht nur gewinnorientierte Geschäftsleute waren, sondern als Verleger eben auch eine gewichtige Rolle bei der Bildung der öffentlichen Meinung und in der politischen Auseinandersetzung spielten. Die Politik in der Stadt wiederum war einerseits, stärker als anderswo, vom Gegensatz der Konfessionen bestimmt, andererseits, aufgrund ihrer Wirtschaftsstruktur, weniger als in den Industriezentral von sozialen Spannungen geprägt. Warn so auf der einen Seite ein geschlossenes Wirtschaftsbürgertum sich nicht ausbildete, kamen auf der anderen nur begrenzte Kontakte mit anderen Teilen des Bürgertums zustande. Dennoch ist der Begriff Wirtschafts„bürger" sicher nicht falsch gewählt: Die Erhöhung des Bildungsniveaus, vor allem im Kaiserreich, die Berufswahl nicht weniger Söhne und die Heirats Verbindungen recht vieler Töchter, bei den Handwerker-Unternehmern eher mit unteren Beamten, bei den anderen Gruppen mit Akademikern und Offizieren, deuten das an. Dabei liegt der Akzent auf den staatsnahen Berufen und Ehepartnern. Dagegen übte die in Regensburg in einer Facette ja unmittelbar präsente Welt des (Hoch-)Adels fast keine Wirkungen aus; freilich waren die meisten Wirtschaftsbürger nicht bedeutend genug, um Zugang zu ihr finden zu können. Aber auch für die drei Unternehmerdynastien scheint sie nicht das Existenzmodell gewesen zu sein.

Ernst Bruckmüller - Wolfgang Meixner WIENER WIRTSCHAFTSBÜRGERTUM UM 1 9 0 0 . METHODISCHE VORÜBERLEGUNGEN ZUR ERFORSCHUNG UND DARSTELLUNG EINER SOZIALEN GRUPPIERUNG

Zunächst stellt sich die Frage, wie der vorliegende Beitrag in das Thema des Bandes „Deutsches Wirtschaftsbürgertum" einzuordnen sei. Nun hat sich zweifellos ein beträchtlicher Teil des im folgenden zu besprechenden Personenkreises der deutschen Nation im Sinne des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in irgendeiner Form zugehörig gefühlt. Bei einigen (typischerweise aus dai böhmischen Ländern stammenden) Herren wurde sogar im Nobilitierungsakt ihr Einsatz für das deutsche Vereinswesen usw. betont (etwa bei Rohrer, Brünn). Dennoch dürfen wir nicht übersehen, daß diese „deutsche" Zugehörigkeit während unseres Untersuchungszeitraumes doch niemals eine primär „österreichische" Orientierung behindert hat: Gegenstand des Patriotismus blieb stets die Habsburgermonarchie. Eine staatliche Einheit der Deutsch-Österreicher mit dai „Reichsdeutschen" wünschten zwar einige radikale Alldeutsche im Gefolge Georg v. Schönerers. Das waren aber fast ausschließlich Studaiten, Jungakademiker, überhaupt junge Leute1, kaum je Wirtschaftstreibaide, praktisch nie aus Wiai stammend. Für die „nationale" Ideologie der Wiener Unternehmer scheint eher die Haltung des Parkettfabrikantai Engel-Janosi typisch gewesen zu sein, der einmal verkündet hatte, falls die Regierung das Tragen schwarz-gelber Strümpfe anordne, werde er noch am selben Tag mit solchen Strümpfen auf die Straße gehen.2 Einen „Anschlußwunsch" dürfen wir bei unserai Wirtschaftsbürgern kaum je erwarten - noch nach 1918 kritisierte der sozialdemokratische Parteiführer Otto Bauer das „Österreichertum" dieser Kreise.3 Wir habai dabei von tschechisch-, polnisch- oder slowaiisch-nationalbewußten Wirtschaftsbürgern ganz abgesehen, die ja auch zur „öster1

August Fournier, Erinnerungen. München 1925, S. 79-82. Der Autor schildert hier das Alldeutschtum seiner Studentenjahre um 1870, mit dem Schluß: „Dann sind wir alle ganz gute österreichische Staatsbürger geworden..." 2 Friedrich Engel-Janosi, ...aber ein stolzer Bettler. Erinnerungen aus einer verlorenen Generation. Graz - Wien - Köln 1974, S. 22. 3 Otto Bauer, Die österreichische Revolution, 1924 (jetzt Bauer, Werkausgabe, Bd. 2, Wien 1976, S. 682f.).

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Emst Bruckmüller/Wolf gang Meixner

reichischen" Wirtschaftsbourgeoisie zählten, auch wenn sich bestimmte Regionär und Branchen zunehmend nach sprachnationalen Kriterien voneinander abzugrenzen begannen. Für unsere Darstellung mögen im Hinblick auf die Zugehörigkeit zu einem „deutschen" Wirtschaftsbürgertum die Beobachtungen genügen, daß der Bewegungsraum unserer Wirtschaftsbürger praktisch ausschließlich die Habsburgermonarchie war, daß eine eigentliche Bourgeoisie innerhalb der Monarchie zuerst bei den DeutschÖsterreichern entstanden war, daß viele Wirtschaftsbürger aus dem Judentum stammten und daß die Beziehungen dieser Wirtschaftsbourgeoisie mit jener des Deutschen Reiches um 1900 weniger intensiv waren als in den Generationen davor. Als „Wirtschaftsbürger" sollen Unternehmer in Industrie, Handel und Bankwesen gelten, wobei es freilich zahlreiche Unschärfen in den Abgrenzungen gibt, vorab zwischen dem selbständigen Unternehmer und dem angestellten Manager (nicht wenige „Generaldirektoren" waren selbst vor der Umwandlung in Aktiengesell Schäften Eigentümer- Unternehmer gewesen oder stammten aus der Familie der früheren Eigentümer-Unternehmer), sowie zwischen Unternehmern und „Handwerkern" (ein bedeutender Möbelfabrikant verstand sich selbst durchaus als „Tischler") und zwischen Unternehmern und Rentiers auch diese stammten häufig aus Familien, die davor Kapital unternehmerisch akkumuliert hatten. I. Forschungsstand Sieht man von der in vieler Hinsicht nach wie vor unentbehrlichen älteren Literatur ab4, dann existieren aus der jüngeren Vergangenheit eigentlich nur wenige Überblicksdarstellungen zum Unternehmertum der späteren F ranz-Josephs-Zeit. Neben zwei redit instruktiven Katalog-Beiträgen von Alois Mosser3 gibt es einen sdir materialreichen 4

Für den Vormärz noch immer Johann Slokar, Geschichte der österreichischen Industrie und ihrer Förderung unter Kaiser Franz I., Wien 1914; fur die FranzJosephs-Zeit die "Großindustrie" in den beiden Ausgaben von 1898 und 1909 (Leopold Weiss, Hg., Die Großindustrie Österreichs, Festausgabe zum glorreichen 60-jährigen Regierungs-Jubiläum Sr. Majestät des Kaiser Franz Joseph I. Erg. Bd. Wien 1908). 5 Alois Mosser, Industrielles Unternehmertum, in: Das Zeitalter Kaiser Franz Josephs. 1. Teil. Von der Revolution zur Gründerzeit. 1. Bd. Beiträge, Wien 1984, S. 187-196; ders., Genie und Geschäft. Die Kulturleistungen des Unternehmers

Wiener Wirtsdiaftsbürgertum um 1900

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Überblicksartikel von Josef Mentschl im ersten Band der von Peter Urbanitsch und Adam Wandruszka herausgegeben«! „Habsburgermonarchie"6, der auf umfänglicheren lexikalisch-biographischen Vorarbeiten des Verfassers, die er zum Teil gemeinsam mit Gustav Otruba und Rudolf Granichstaedten-Cerva verfaßt hatte, fußt.7 Danebai ist auf einen Essay von Herbert Matis zu verweisen. 8 Für jüdische Unternehmer sind die Untersuchungen von Marsha Rozenblit, William 0 . McCagg, Steven Beller und Robert Wistrich heranzuziehen.9 Natürlich enthält die eigentlich wirtschaftshistorische Literatur ebenfalls zahlreiche Hinweise. 10 Das gilt auch für Unternehmensgeschichten.11 und die Gesellschaft, in: Roman Sandgruber (u.a.), Hg., Magie der Industrie. Leben und Arbeiten im Fabrikszeitalter (Katalog der Nö. Landesausstellung 1989), München 1989, S. 226-237. 6 J. Mentschl, Das österreichische Unternehmertum, in: A. Brusatti, Hg., Die wirtschaftliche Entwicklung = A. Wandruszka - P. Urbanitsch, Hg., Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. 1, Wien 1973, S. 250-277. 7 J. Mentschl, Österreichisches Industrieunternehmertum im 19. Jahrhundert, in: Österreich in Geschichte und Literatur 13, 1969, S. 289-294; R. GranichstaedtenCerva/J. Mentschl/G. Otruba, Altösterreichische Unternehmer, Wien 1969; J. Mentschl, Österreichische Wirtschaftspioniere, Wien 1959; J. Mentschl/G. Otruba, Österreichische Industrielle und Bankiers, Wien 1965. Hier anzuschließen wären ferner die Sammlung von Gustav Holzmann, Unternehmer aus Niederösterreich, Wien 1967 und Ferdinand Tremel (Hg.), Steirische Unternehmer des 19. und 20. Jahrhunderts (= Zs. d. Hist. Ver. f. Stmk., Sonderband 9), Graz 1965. 8 Herbert Matis, Der österreichische Unternehmer. Erscheinungsbild und Repräsentation, in: Fs. Wilhelm Treue (Hg. v. Karl-Heinz Manegold), München 1969, 2861f. In den zentralen Bibliotheken nicht erreichbar: Edith Naderer, Versuch einer historischen Unternehmertypologie für Österreich (1848-1914). Phil. Diss. Wien 1976. 9 Marsha L. Rozenblit, Die Juden Wiens 1867-1914. Assimilation und Identität. Wien-Köln-Graz 1989; William O. McCagg, Austria's Jewish Nobles 1741-1918, Yearbook of the Leo Baeck Institute, Vol. XXXIV, 1989; ders., A History of Habsburg Jews, 1670-1918, Bloomington 1989; Stephan Beller, Wien und die Juden 1867-1938. Wien - Köln - Weimar 1993 (engl. 1989); Robert S. Wistrich, The Jews of Vienna in the Age of Franz Joseph, Oxford 1989. 10 Herbert Matis, Österreichs Wirtschaft 1848-1913. Konjunkturelle Dynamik und gesellschaftlicher Wandel im Zeitalter Franz Josephs I. Berlin 1972; Heinrich Benedikt, Die wirtschaftliche Entwicklung in der Franz-Joseph-Zeit, Wien 1958; Nachum T. Gross, Die Stellung der Habsburgermonarchie in der Weltwirtschaft, in: Brusatti, Wirtschaftliche Entwicklung (wie Anm. 6), S. 1-28; Eduard März, Österreichische Industrie- und Bankpolitik in der Zeit Franz Josephs I. Am Beispiel der k.k. privilegierten Österreichischen Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe. Frankfurt-Zürich 1968. 11 Eine gute Übersicht (Stand 1990) bietet der Bestandskatalog der Unternehmensgeschichtlichen Sammlung der Bundeskammer (Festschriften-Archiv), hg.v.d. Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft, Wien 1990.

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Emst Bruckmüller/Wolf gang Meixner

Da das Wiener Wirtschaftsbürgertum die zentrale bürgerliche Gruppe der gesamten Habsburgermonarchie war, existierten zahlreiche Querverbindungen, vor allem zum böhmischen Raum. Freilich bietet die neuere Forschung eher ein Bild wachsender sozialer und ökonomischer Desintegration (bzw. wachsender Integration im neuen sprachnationalen Rahmen), aber das ist möglicherweise auch ein Reflex der Forschungsinteressen, die eben auf allen Seiten die je eigenen nationalen „Urahnen" suchen. Zur Frage der „nationalen" Zuordnung der Unternehmer ist, neben dem Werk von K. Brousek über die Industrie Böhmens, auch ein Aufsatz von G. Otruba erschienen.12 Zur ungarischen Bourgeoisie existieren zahlreiche informative Detailartikel in dem von Vera Bácskai herausgegebenen zweibändigen Werk „Bürgertum und bürgerliche Entwicklung in Mittel- und Osteuropa"; ferner von Peter Hanák einige Aufsätze in seinem Buch „Ungarn in der Donaumonarchie", daneben eine gute Zusammenfassung von Györgi Ránki.13 Über tschechische Verhältnisse informieren Werke von Otto Urban, Pavía Horská, Jan Havránek, Amost Klima und Jiri Koralka.14 Zum Unternehmertum in dai Gebieten des ehemaligen Ju12 Karl M. Brousek, Die Großindustrie Böhmais. 1848-1918. München 1987; Gustav Otruba, Das Kapital. Zusammenarbeit aus Sachzwang anstelle sachfremder Integration?, in: Ferdinand Seibt, Hg., Die Chance der Verständigung. Absichten und Ansätze zu übernationaler Zusammenarbeit in den böhmischen Ländern 18481918. München 1987, S. 63-86. 13 Vera Bácskai, Hg., Bürgertum und bürgerliche Entwicklung in Mittel- und Osteuropa. 2 Bde., Budapest 1986; Péter Hanák, Ungarn in der Donaumonarchie. Probleme der bürgerlichen Umgestaltung eines Vielvölkerstaates. MünchenBudapest-Wien, 1984; Györgi Ránki, Die Entwicklung des ungarischen Bürgertums vom späten 18. zum frühen 20. Jahrhundert, in: Jürgen Kocka, Hg., Bürgertum im 19. Jahrhundert, München 1988, Bd. 1, S. 247-265. 14 Eine gute bibliographische Übersicht bietet Jiri Koralka, Die tschechische Bürgertumsforschung (Univ. Bielefeld, SFB 177, Arbeitspapier Nr. 5), Bielefeld 1989; ferner Pavía Horská, Stadt und Land in der Entstehung und Abgrenzung bürgerlicher Schichten im 18. und 19. Jahrhundert in dai böhmischen Ländern, in: E. Bruckmüller - H. Stekl - P. Urbanitsch, Hg., Bürgertum in der Habsburgermonarchie. Wien 1990 (mit Literatur); Pavía Horská, Kategorie „samostatny" ν rakouské statistice povolání. Priklad ceskych zemi (Die Kategorie „Selbständige" in der österreichischen Berufsstatistik. Das Beispiel der böhmischen Länder), in: Ceskoslovensky casopis historicky 30, 1982, S. 547-579; Otto Urban, Kapitalismus a ceská spolecnost. Kotázkám formování ceské spolecnosti ν 19. stoleti (Der Kapitalismus und die tschechische Gesellschaft. Zu Fragen der Formierung der tschechischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert), Praha 1978; ders., Ceská spolecnost 1848-1918 (Die tschechische Gesellschaft 1848-1918), Praha 1982; Jan Havránek, Social Classes, Nationality Ratios and Demographic Trends in Praque 1880-1900, in: Histórica 13, 1966, S. 171-208; ders., Soziale Struktur und politisches Veihal-

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goslawien wäre ein Aufsatz von Sibylle Schneider zu vergi ei chai.13 Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur der Spitzengruppe des österreichischen Bürgertums ist in dem von Roíate Wagner-Rieger herausgegebenen Prachtwerk über die Wiener Ringstraße mehrfach angesprochen worden.16 Wiener Bürgertum allgemein wurde in den beiden Sammelbänden über das „Bürgertum in der Habsburgermonarchie" unter verschiedenen Aspekten beleuchtet, es erhielt freilich noch keine monographische, zusammenfassende Darstellung.17 Will man die bisherigen Forschungen zu unserem Thema zusammenfassen, so gerät man zweifellos in Gefahr, unzulässig zu vereinfachen. Immerhin läßt sich als eine Art „common sense" soviel feststellen, daß das österreichische Unternehmertum - im frühen 19. Jahrhundert durch Zuwanderer aus allen Teilen Europas, aus Deutschland (Thonet, Reinighaus, Habig, Schoeller, Krupp, Bleckmann, im Beräch des Bankwesens Rothschild, Springer usw.), aber auch aus England (Rosthorn, Thornton, Whitehead, Haswell) und der Schweiz (die Bankiers Geymüller, Fries, Steiner, Pestalozzi und Hippenmayer, die Fabrikanten Bouvard, Badenthal, Vaucher du Pasquier) geprägt gewesen sei, während im 18. Jahrhundert Zuwanderer aus den damals österreichischen Niederlanden, aus Frankreich und Italien eine bedeutendere Rolle gespielt hätten, sofern nicht noch die Aristokratie die wichtigsten Betriebe besessen hätte; - nur zu einem kleinen Teil aus alteingesessenen Handels- und Gewerbefamilien sich rekrutiert habe, die vielmehr im 18. und frühen 19. ten der großstädtischen Wählerschaft im Mai 1907 - Wien und Prag im Vergleich, in: Isabella Ackerl - Walter Hummelberger - Hans Mommsen, Hg., Politik und Gesellschaft im alten Österreich (Festschrift Neck), Wien-München 1981, S. 150166; Amost Klima, Verhandlungen über den Beitritt Böhmens zum deutschen Zollverein 1848, in: Herbert Knittler, Hg., Wirtschafts- und sozialhistorische Beiträge (Festschrift Hoffinann), Wien 1979, S. 308-320. 15 Sibylle Schneider, Das Aufkommen eines nationalen industriellen Unternehmertums im Gebiet des heutigen Jugoslawien im Zeitraum 1800-1850, in: KlausDetlev Grothusen, Hg., Ethnogenese und Staatsbildung in Südosteuropa. Göttingen 1974, S. 93-103. 16 Renate Wagner-Rieger, Hg., Die Wiener Ringstraße, bes. Bd. V: Franz Baltzarek - Alfred Hoffinann - Hannes Stekl, Wirtschaft und Gesellschaft der Wiener Stadterweitenmg, Wiesbaden 1975. 17 Ernst Bruckmüller, Ulrike Docker, Hannes Stekl, Peter Urbanitsch, Hg., Bürgertum in der Habsburgermonarchie. Wien - Köln 1990; Hannes Stekl, Peter Urbanitsch, Ernst Bruckmüller, Hans Heiss, Hg., „Durch Arbeit, Besitz, Wissen und Gerechtigkeit". Bürgertum in der Habsburgermonarchie Π. Wien - Köln - Weimar 1992.

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Jahrhundert relativ wenig Interesse an der industriellen Entwicklung gezeigt hätten und einem Prozeß der „Verbeamtung" unterlegen seien; die wenigen Ausnahmai wie Schicht, Liebieg und Leitenberger kamen aus dem Verlagswesen zur Industrie oder wie Töpper, Werndl und Skoda aus dem traditionellen Eisengewerbe, einige wenige wie Reithoffer oder Johann Puch waren Bauern- oder sogar Keuschlersöhne; - insgesamt in einem Klima zu agieren gehabt hätte, das der Entfaltung eines kapitalistischen Unternehmertums nicht sdir günstig gewesen sei. Daher sei denn auch die Neigung vieler österreichischer Unternehmer erklärbar, nach Adelstiteln zu streben und das prunkliebende und verschwenderische Treiben der Hocharistokratie nachzuahmen. Das habe dann auch die relativ geringe Neigung zu einer industrieoder bankenbürgerlichen Dynastiebildung begünstigt, die man (etwa) im raschen Wechsel von unternehmen sehen auf künstlerische freie Berufe bei diversen Unternehmerfamilien beobachten könne (Schindler, Hornbostel, Doderer, Wittgenstein, Hofmannsthal, Broch); Ausnahme von dieser Regel wären die Vorarlberger Textilindustriellen (Rhomberg, Hämmerle, Getzner, Ganahl, Herburger, Mutter, Fussenegger) ebenso gewesen wie die steinschen Eisen- bzw. Papierindustriellen Mayr-Melnhof, Pengg und Schaffer oder die Bierbrauerdynastien Mautner-Markhof und Reininghaus bzw. etwa das Handelshaus Julius Meinl. Ferner wird auf einige Faktoren verwiesen, die die Wirtschaftsaitwicklung Österreichs im 19. Jahrhundert geprägt hätten und einige Besonderheiten der bürgerlichen Entwicklung erklären könnten. So auf dai enormen Finanzbedarf des Staates im Vormärz und im Neoabsolutismus, der nicht nur ein gutes Geschäft für die großen Bankhäuser bedeutete, sondern möglicherweise auch einen geringen Anreiz, sein Geld nicht in sicher verzinste Staatspapiere, sondern in Industrieunternehmungen zu stecken. Zudem wird die sdir rigide Aktiengesetzgebung angeführt, um zu erklären, warum die Zahl der Aktiengesellschaften so abnorm gering blieb (geringer als in Ungarn) - Fernfolge des Schocks von 1873 und der darauffolgenden „konservativen Wende". Und nicht zuletzt wird dne gewisse unternehmerische Konservativität auch mit einer hochentwickelten und ebenfalls konservative Haltungen begünstigenden Loyalität zur Monarchie und zum Kaiserhaus erklärt. Dieser scheinbare Widerspruch zu dai kapitalistischen Grundsätzen von weitrdchender Liberalität (wenigstens im Wirtschaftsbereich)

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löst sich freilich dann auf, wenn man bedenkt, daß die privilegierte Situation des (deutsch-)österreichischen Wirtschaftsbürgertums ja tatsächlich auf der eigentümlichen Struktur dieses Staatswesens beruhte, und daß gerade der jüdische Anteil an diesem Wirtschaftsbürgertum gar nicht anders konnte, als dynastisch und „österreichisch" zu denken (was eine oft übersteigerte Identifikation mit der deutschen Kulturnation nicht behinderte), schon deshalb, weil praktisch jeder der neuen Nationalismen antisemitisch orientiert war und daher der übernationale Staat als sinnvolle Heimat (und Schutzmacht vor dai überbordenden Nationalismen) empfunden werden konnte. Zugleich bot er gerade für die überregional tätigen Unternehmer den Vorteil eines großen Marktes. Viele dieser Verhaltensweisen tragen dazu bei, das österreichische Wirtschaftsbürgertum mit Vorliebe unter dem Aspekt der „Feudalisierungsthese" zu untersuchen.1' Seit einigen Jahren wird in Innsbruck - über Initiative von Klaus Tenfelde und Franz Mathis - an einem Forschungsprojekt über das österreichische Unternehmertum gearbeitet, das mit Hilfe quantitativer Methoden Fragen nach sozialer und regionaler Rekrutierung der Unternehmerschaft, nach Aufstiegs- und Bildungswegen, nach Branchenschwerpunkten usw. zu beantworten sucht. Die Auswahl des hier erforschten Samples erfolgte nach folgenden Kriterien: Die Ausgewählten sollten Träger des unternehmerischen Risikos sein sowie einen gewerblich-industriellen bzw. Handelsbetrieb mit mehr als 20 Beschäftigten leiten - diese letztere Grenze mag willkürlich erscheinen, sie wurde aber auch von dai Zeitgenossen immer wieder zur Abgrenzung von „Kleingewerbe" und „Großindustrie" gewählt. Wir werden im folgenden auch auf Teilergebnisse dieses Projektes zurückgreifen können.19 18

So u.a. Mentschl, Unternehmertum („Feudalisierung" als eigenes Unterkapitel seiner Darstellung, S. 264fF.). 19 Das Projekt gliederte sich in zwei Teile: I. Quantitative Sozialgeschichte der österreichischen Unternehmer von der Wende des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, Π. Geschichte der zentralen Unternehmerverbände 1875 bis 1914. Vgl. Klaus Tenfelde, Unternehmer in Deutschland und Österreich während des 19. Jahrhunderts: Forschungsprobleme, in: Helmut Rumpier, Hg., Innere Staatsbildung und gesellschaftliche Modernisierung in Österreich und Deutschland 1867/71-1914 (1. Historikergespräch Österreich - Bundesrepublik Deutschland 1989), Wien - München 1991, S. 125-138. Als Vorausstudie: Franz Mathis, Big Business in Österreich, Bd. 1: Österreichische Großunternehmer in Kurzdarstellungen, Wien 1987 Bd.2: Wachstum und Eigentumsstruktur der österreichischen Großunternehmen im 19. und 20. Jahrhundert. Analyse und Interpretation, Wien 1990. - Bisher publizierte Teilergebnisse: Bettina Kessler/Wolfgang

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Π. Zur Prominenz des Wirtschaftsbürgertums 1. Auswahlfragen Natürlich ist es sdir schwierig, die „Prominenz" des Wirtschaftsbürgertums aus der großen Zahl von unternehmerisch oder sonstwie wirtschaftlich tätigen Bürgerlichen herauszufiltem. In einem aufschlußreichen Artikel hat György Lengyel20 dai methodischen Zugang gewählt, aus einem modernen biographischen Lexikon die Budapester „Wirtschaftselite" herauszufiltem und dann, mit Hilfe zahlreicher zusätzlicher Informational, in ihren sozialen Positional, ihren Aufstiegsmustem usw. zu beschreibai. Diese Zugangsweise könnte theoretisch auch für Österreich anhand des österreichischen Biographischen Lexikons (ÖBL) gewählt werden. Bedauerlicherweise steht diese Publikation aber erst beim Buchstabai „S", so daß ein abgeschlossaies Material noch nicht zur Verfügung steht. Ein noch größeres Problem besteht aber darin, daß die ersten Bände dieses verdienstvollen Lexikons das Wirtschaftsbürgertum zum Teil noch sehr unzureichend berücksichtigt habai. Deutlich ist erkennbar, daß (etwa) ab Buchstabe „G" das Wirtschaftsbürgertum stärker verzeichnet wurde.21 Meixner/ Rupert Pichler, Quantitative Sozialgeschichte österreichischer Unternehmer. Zwischenbilanz eines Forschungsprojektes, in: Österr. Zs .f. Geschichtswiss., Heft 1 (1991). S. 113-118. Femer Rupert Pichler, Zum Sozialprofil der Vorarlberger Unternehmer im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: H. Stekl u.a. (Hg ), „Durch Arbeit, Besitz..." Wien - Köln - Weimar 1992, S. 254-276 ; Wolfgang Meixner, Zum Sozialprofil Tiroler Unternehmer im 19. Jahrhundert, in: Bericht zum 19. österreichischen Historikertag 1992 in Graz, Wien 1994, S. 523536; ders., Österreichische Unternehmer im 19. Jahrhundert als Teil des Besitzbürgertums (Erscheint in: Tagungsband der Historischen Kommission „Österreich und Ungarn" der Österreichischen und der Ungarischen Akademie der Wissenschaften: Die Entwicklung des Besitzbürgertums in der Habsburgermonarchie im 19. Jahrhundert). Gerald Sturmayr, Industrielle Interessenpolitik in der Donaumonarchie. Entfaltung, Zentralisierung und politische Effizienz der Fach- und Spitzenverbände 1848-1914 , phil. Diss. (Ms.) Innsbruck 1991. Zum gleichfalls vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung finanzierten Nachfolgeprojekt (1991-1993) unter der Leitung von Franz Mathis vgl. Wolfgang Meixner, Sozialprofil österreichischer Unternehmer im 19. Jahrhundert, in: Newsletter. Geschichte des Bürgertums in der Habsburgermonarchie 1/1992, S. 4f 20 Die ungarische Wirtschaftselite im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts: Lebensbahnen der Generationen. Versuch zu soziologischen Untersuchungen einer lexikalischen Quelle, in: V. Bacskai, Hg., Bürgertum und bürgerliche Entwicklung in Mittel- und Osteuropa, Budapest 1986, Bd. 2, S. 591-694. 21 Österreichisches Biographisches Lexikon 1815-1950. Hg. v. d. Österr. Akademie der Wissenschaften, 1. Bd. Wien 1957AF.

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Andere biographische Erscheinungen, wie etwa die „Neue österreichische Biographie" sind ob ihres eher zufälligen und essayistischen Charakters wohl noch weniger für eine derartige methodische Zugangsweise geeignet.22 Ein neueres populäreres Nachschlagewerk liegt im „Großen Buch der Österreicher", herausgegeben von Walter Kleindel, vor23. Unter 4500 Namen vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart wurden 293 (also etwa 6,5%) mit einer stärker wirtschaftlichen Konnotierung beobachtet. Davon sind 157 unserem Beobachtungszeitraum zuzurechnen. Daß „Prominenz" dieser Art eben „herausragen" bedeutet, zeigt sich in der relativ geringen Präponderanz der Textil- und Nahrungsmittelindustriellen und in einer großen Zahl von Namen, die eher als Techniker und Erfinder, denn als Unternehmer bekannt wurden; bei dai Industrieunternehmen! zeigt sich eine relativ häufige Nennung von Branchen, die quantitativ ansonsten nicht so stark hervortreten.24 Im Vergleich zu statistisch valideren Quellen muß also hinsichtlich soldier Lexika zur Vorsicht geraten werden: Der hier gebotene Eindruck deckt sich vor allem im Hinblick auf die quantitative Bedeutung gewisser Wirtschaftszweige nicht mit jenem, der bei der Auswertung anderer Quellengattungen entsteht. An zeitgenössischen Lexika wäre vor allem der „High-Life-Almanach" auszuwerten, der offensichtlich darauf zielte, die Creme der Wiener Gesellschaft zu enthalten.2' Franz Mathis hat in seinem Werk über das „Big Business" in Österreich eine Betriebsgröße von 1000 Beschäftigten und darüber als Maßstab für die Aufnahme in sein Buch gewählt. Dabei kommt er (freilich über einen sdir langen Zeitraum, vom 19. bis ins späte 20. Jahrhundert) auf etwa 190 Unternehmen. Bei 110 von Inländern gegründeten Unternehmen stammten 46 aus Wien, wo sich auch 32 von den genannten 110 befanden (bzw. noch befinden). Wien war auch der bevorzugte Gründungsstandort für Unternehmen dieser Art.26 22

Neue österreichische Biographie 1815-1915, geleitet von Anton Bettelheim, Bd. I, Wien 1923 (zuletzt Bd. XVm, 1972). 23 Walter Kleindel, Das große Buch der Österreicher, Wien 1987. 24 Eine Auflistung aller einschlägigen Namen ließ die nach allai anderen Indikatoren so wichtigen Textilindustriellen (zu erwähnen wäre noch, daß es im Wiener Stadterweiterungsbereich ein „Textilviertel" gibt, während keine andere Industriebranche einer Ringstraßenregion ihren Namen gab!) stark unterrepräsentiert erscheinen. 23 Wiener High Life. Almanach der Wiener Gesellschaft, hg. von Birkenstaedt, Wien 1905-1915; wurde noch nicht systematisch ausgewertet. 26 Mathis, Big Business, Bd. 2, S. 50, 53f. und 55.

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Nimmt man an, daß die Nennung in diversen Lexika, daß die Existenz eigener Firmendarstellungen (Festschriften o.ä.) oder die Verleihung eines Adelstitels einen Hinweis auf eine gewisse Bedeutung gibt, dann lassen sich auf diese Weise mehrere hundert Mitglieder des Wiener Wirtschaftsbürgertums - genauer: Unternehmertums - um 1900 identifizieren. Die Herkunft von 556 solcher Unternehmer mit Firmensitz in Wien zeigt die bedeutende Stellung, die Wien damals schon bei der Rekrutierung des Wirtschaftsbürgertums einnahm: in fast 46% der bekannten Fälle (etwa 30% sind nicht eruierbar) war Wien der Geburtsort dieser Unternehmer. Es folgten Norddeutschland (9,5%) vor Böhmen (9%), Mährai (7,7%), Ungarn (6,7 %) als Herkunftsländer, vor Niederösterreich (4,4%) und Süddeutschland (4,1%). Alle anderen Herkunftsorte liegen im Streubereich von 2% und darunter. Die meisten Unternehmer dieser Generation(en) stammten also aus Wien, gefolgt von den Sudetenländern (gemeinsam 17,7%), Norddeutschland und Ungarn. Die heutigen österreichischen Bundesländer spielen nur eine unbedeutende Rolle bei der Rekrutierung der Wiener Unternehmerschaft. Soweit das Alter bekannt ist, waren 38% vor 1830 geboren, 45% zwischen 1831 und 1860 und 16% nach 1861 (bei 28% ist das Geburtsjahr unbekannt). Unternehmer entsprachen daher häufig dem Bild, das Stefan Zweig von der Generation seiner Väter und Großväter zeichnete: Sie wurden offenkundig relativ alt und es erscheint verständlich, wenn sie sich gerne als würdige Herren präsentierten, die auf ihre Reputation bedacht und auf das Erworbene stolz waren, ohne das allzu sehr zu betonai und herauszukehren.27 Vergleicht man den Geburtsort (oder das Geburtsland) mit der Generation, so zeigt sich bei den vor 1830 Geborenen ein deutlicher Vorsprung von Wien (40,5%) vor Norddeutschland (11,8%), Ungarn (7,2%), Mähren und Böhmen, während bei den zwischen 1830 und 1860 Geborenen nur 34,8 % Wiener waren, vor den in Böhmen (11,6%), Mähren (9,4%) und Norddeutschland (8,3%) Geborenen. Bei dai nach 1861 geborenen Wiener Unternehmern dominierten aber die hier Geborenen schon sehr deutlich (fast 62%), vor Böhmen (7,7%), Niederösterreich, Mähren und Norddeutschland (je 4,6%). Sofern also trotz abnehmender Tendenz immer noch Unternehmer aus Deutschland kamen, so rekrutierten sie sich eher aus dem Norden (oder Nordwesten) als aus dem 27

Stefan Zweig, Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers, Taschenbuchausgabe Frankfurt/M. 1970, hier S. 31.

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Süden. Im allgemeinen gewann aber die Binnenrekrutierung an Gewicht, wobei die Sudetenländer ständig am zweiten Platz blieben, bei zuletzt wieder etwas abnehmender Bedeutung. Erwartungsgemäß waren die alterai Unternehmer eher „Gründer" (48% der vor 1830 geborenen), währaid späterhin die „Erben" oder Käufer stärker hervortraten. Eine gewisse Kontinuität der Unternehmerschaft scheint sich also auch in Wien entwickelt zu haben, auch wenn sich hier nur wenige ausgeprägte Unternehmerdynastien wie etwa das Haus Julius Meinl oder das Haus Schoeller28 entwickelten. Nach Branchen dominieren in unserem Sample Unternehmer im Bereich der Metallverarbeitung (13,3%), vor Textil (9,4%), Maschinen (9,2%) , Handel (5,9%) , Graphische Gewerbe (5,2%), Geld- und Kreditwesen (4,9%), Nahrungsmittel (3,8%), Chemie (3,6%), Bauwesen (3,2%) usw. Gliedert man nach Generationen, so hatten bei den vor 1830 Geborenen die Textilunternehmer (mit 15,7%) dominiert, vor Maschinenbauern und Unternehmern aus dem Handel und Kreditwesen. In der nächsten Generation dominierte bereits die Metallverarbeitung, vor Maschinenbau und graphischen Gewerben, dem Bauwesen und der Nahrungsmittelindustrie. Erst an sechster Stelle folgt jetzt die Textilindustrie - wohl ein Reflex des raschen Bedeutungsverlustes der Wiener Textilindustrie, deren goldene Zeit um 1860 bereits zu Ende gegangen war. Bei dai jüngerai, nach 1860 geboraiai Unternehmern blieb die Metallverarbeitung dominierend, nun aber schon gefolgt vom Nahrungssektor, der den Maschinaibau auf dai dritten Platz verdrängt hat. - Diese Streuung der Unternehmer entspricht in etwa den diversai Branchai, die in Wiai zu verschiedenen Zeitai Bedeutung erlangt hattai: Um und nach 1900 expandierte der Maschinaibau (Landmaschinen, Automobile usw.), die Metallverarbeitung (Lampen, Munition, Schmiedewarai, Eisaikonstruktionai usw.), die Nahrungsmittelerzeugung (Bierbrauereien, Tabak, Brot, Zucker bzw. Schokolade). Nicht erkainbar ist aus diesen Zahlen freilich die Bedeutung Wiens als Standort der Elektroindustrie - das war aber nicht auf mehrere mittlere einheimische Unternehmer zurückzuführen, sondern auf die großen Betriebsstätten der Firma Siemens.29 Wie auch 28

Heinrich Benedikt, Alexander Schoeller, 1805-1886. Ein Lebensbild, Wien 1958. 29 Raíate Banik-Schweitzer/ Gerhard Meißl, Industriestadt Wien. Die Durchsetzung der industriellen Marktproduktion in der Habsburgerresidenz (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte, hg.v. F. Czeike, Bd. 11), Wien 1983, insbes. S. 27 (Elektroindustrie).

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immer: Wien war um 1910 die große Industriestadt der ÖsterreichUngarischen Monarchie, blieb daneben freilich das bedeutendste Handels- und Finanzzentrum, sowie, als Sitz der Zentralbehörden, der wichtigsten wissenschaftlichen Einrichtungen usw. auch der wichtigste Standort des tertiären Sektors. 2. Der Wirtschaftsadel Schon vor mehr als zwei Jahrzehnten hat Alfred Hoffmann die Erforschung der Nobilitierungen aus wirtschaftlichen Gründen im Rahmen einer Dissertationsreihe angeregt. Für die letzte Phase des Bestandes der Habsburgermonarchie können wir auf eine Arbeit von Alfred Fessen über die Nobilitierungen von 1909 bis 1918 zurückgreifen. Für die Phase davor sind einige Angaben in der Hausarbeit von Alfred Megner am Institut für Österreichische Geschichtsforschung über cisleithanische Adels- und Ritterstandswerber benützbar.30 Aber auch für das Innsbrucker Projekt wurde von Wolfgang Meixner eine systematische Aufnahme von 83 Wirtschaftsadeligen durchgeführt. Dieses Sample überschneidet sich in 34 Personen mit dem von Fessai. Waiden wir uns zunächst dai 83 von Meixner erfaßten nobilitierten Unternehmern zu. Sie zeigen eine ganz andere Branchenverteilung als das breitere Sample. 18% von ihnen waren im Kreditwesen tätig, fast 16% im Handel. 13% waren Textilindustrielle, fast 11% kamen aus der Nahrungsmittelindustrie. Es folgten mit kleineren Zahlen Erden und Ton, Metallverarbeitung, Metallerzeugung, Baugewerbe usw. Die Wahrscheinlichkeit, zu einem Adelstitel zu gelangen, war also bei einem Bankdirektor oder Großhändler größer als bei einem Unternehmer der Metallverarbeitung, ganz abgesehen von der größeren Wahrscheinlichkeit, in jenen Wirtschaftszweigen bereits mit einem Adelstitel zur Welt gekommen zu sein. 30

Die Reihe der ungedruckten Dissertationen über die Nobilitierungen Wirtschaftstreibender reicht vom frühen 18. Jahrhundert bis 1859; die letzte der hier zu nennenden Arbeiten ist auch die beste: Franz Putz, Die österreichische Wirtschaftsaristokratie von 1815-1859, phil. Diss. (Ms.) Wien 1975; femer hier zitiert Karl Megner, Zisleitanische Adels- und Ritterstandserwerber 1868-1884, (Ms.) Hausarbeit am Inst. f. österr. Geschichtsforschung, Wien 1974; Alfred Fessen, Der österreichische Wirtschaftsadel von 1909-1918. Ms. phil. Diss. Wien 1974. - Für das Innsbrucker Forschungsprojekt hat Wolfgang Meixner eine Gruppe von nobilitierten Wiener Unternehmern (83) gesondert erhoben. Diese Gruppe überschneidet sich teilweise (in 34 Personen) mit der von Fessen untersuchten.

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Fesseos Studie umfaßt 84 Personal. Daß das Wiener Wirtschaftsbürgertum im wesentlichen mit jenem des aitai Österreich weithin gleichzusetzen war, zeigt sich im starken Vorwiegen des Wohnortes Wien (49 Fälle), vor Böhmen-Mahren (16), der übrigen Monarchie bzw. dem Ausland (16) und dem heutigen Österreich (vier). Innerhalb Wiens lassen sich deutlich bevorzugte Gebiete des Hausbesitzes ablesen: Das Ringstraßenviertel (sieben Fälle), der als aristokratisch geltende 3. Bezirk (sieben Fälle) sowie die „noblen" Gegenden des Cottage im 18 /19. Bezirk (sieben Fälle). Dodi nach der räumlichen Herkunft des österreichischen Wirtschaftsadels dominierten die Sudetenländer: 39 Nobilitierte stammten aus Böhmen und Mähren, 21 aus Wien, nur fünf aus dem (übrigen) heutigen Österreich, dagegen 18 aus den übrigen Teilen der Monarchie bzw. einige wenige aus dem damaligen Ausland. Auch bei den bekannten Geburtsorten der Väter der Nobilitierten überwogen die Sudetenländer (18 von 36 bekannten Fällen, dann folgte Wien mit acht, das heutige Ausland mit sieben und das heutige Österreich mit drei Fällen). Die Ehefrauen kamen mehrheitlich aus Wien: 17 (von 45 bekannten) stammten aus Wien, vier aus Brünn, drei aus Prag, je zwei aus Budapest, Reichenberg und Klagenfurt. Die restlichen 15 kamen aus verschiedenen Städten der Monarchie, drei aus dem Deutschen Reich. Das nobilitierte „Wiener" Wirtschaftsbürgertum war also nur zum Teil ein altansässiges, zum größeren Teil war es als Folge der Standortvorteile der Metropole vor allem aus den böhmischen Ländern hierher zugezogen. 39 Nobilitierte gehörten der jüdischen Religionsgemeinschaft an, 28 waren Katholiken, immerhin sieben Protestanten, bei neun war die Religionszugehörigkeit unbekannt. Einige der Nobilitierten (etwa der Präsident der Anglo-Österreichischen Bank, Karl Morawitz, oder Maxime Krassny) waren aus dem Judentum ausgetreten. Gliedert man die Vertreter der Industrie nach Branchai (was nur mit gewissen Unschärfen möglich ist), so dominieren eindeutig Textilund Zuckerindustrielle mit zusammen 52% aller Industriellen. Die anderen Branchai sind nur mit einem bis drei geadelten Unternehmern vertreten (Bauindustrie, Glas, Berg- und Hüttenwerke, Maschinen und Metallverarbeitung, Getränke, Chemie, Holz,'Papier und Druck sowie diverse). Es stimmt auffällig mit der später zu behandelnden Einkommensteuerstatistik zusammen, daß die moderneren und auch technologisch zukunftsweisenden Branchen wie Maschinenbau, Elektroindustrie und Chemie gegenüber den eigentlich „alten" Industriebereichen Textil und Zucker stark unterrepräsentiert erscheinen.

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Diese Familien bildeten im großen und ganzen eine durchaus eigene, durch zahlreiche Querverbindungen abgesicherte, jedoch nie ganz geschlossene Schicht. Verbindungen zur „alten" Aristokratie ergaben sich praktisch nie - das änderte sich erst nach dem Ende der Monarchie (heute existiera! zahlreiche Ehe- und andere Verbindungen zwischen dai traditionsreichen Familial des Wiener Bürgertums und der Aristokratie). Nicht wenige der nobilitierten Bankiers oder Großunternehmer standen mit Familial in Beziehung, die einen Adelstitel vielleicht eine oder maximal zwei Generationen früher erhaltai hatten. Über zahlreiche Verwaltungsrats-, Direktions- usw. Positionen besetzten Bankvertreter bzw. Fachleute für bestimmte Branchai in einem engen Netzwerk die wichtigstai Entscheidungspositionen in Finanz und Industrie. Die eingangs zitierte Vermutung, das österreichische Wirtschaftsbürgertum sei durch geringe intergenerationelle Konstanz gekennzeichnet, ist auf das frühe 20. Jahrhundert kaum mehr anzuwenden: Von 47 bekannten Fällen war in 20 der Vater Industrieller, in 17 Kaufmann, in drei Fällen Gutsbesitzer, in zwei Handwerker, in je einem Bankier, Verwalter, Notar, Offizier oder Privatier. (Dabei dürften auch die Gutsbesitzer und Privatiers durchaus der wirtschaftsbürgerlichen Gruppierung zugehören.) Der Eintritt in dai väterlichai Betrieb ist, als wichtige Position im Aufstiegsmuster, in 20 Fällai bekannt. - Es läßt sich jedenfalls die Vermutung aufstellen, daß nach 1900 niemand (mehr) in die Spitzenbereiche der Wirtschaft kam, der nicht schon enge Beziehungen dorthin, sozusagen von Geburt an, hatte. Und Stefan Zweigs Hinweis auf das Bestreben, unter dai Nachkommen mindestens einen Akademiker zu sehen31, wird durchaus bestätigt: Die Akademiker unter den Nobilitierten waren schon viel zahlreicher, als in der Generation ihrer Väter (in der dritten Generation wurden es noch mehr) - was sie aber in der Regel nicht hinderte, ebenfalls unternehmerische Berufe zu ergreifen. Von den 19 Nobilitierten, über deren Schulbildung Genaueres bekannt ist, hatten sieben ein Doktorat (also Universitätsstudium), sechs bis sieben hatten eine technische Hochschule oder ein Polytechnikum besucht oder absolviert, je zwei eine Handelsschule oder eine Handelsakademie, zweimal mit Realschule davor, einer hatte eine Matura eines Gymnasiums.

31

Stefan Zweig, Die Welt von gestern, S. 21.

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Von den Herren Söhnen (45 sind bekannt), wurden fünfzehn als Militärs genannt, freilich entweder als solche, die dai Militärdiaist gerade ableistetai, oder mit einem Reserveoffiziersgrad (den zu erreichai offenbar schon als wichtig galt). Elf warai Industrielle, acht Kaufleute, drei Bankiers, je drei Beamte und Wissenschaftler und zwei Großgrundbesitzer. Einen starken Traid weg von der Wirtschaft wird man darin dann nicht ablesen können, wenn man annimmt, daß von den Herrai Söhnen Reserveoffizierai dodi die meisten wieder irgaidwo in die Wirtschaft einstiegen. Politiseli tätig warai einige der Herrai - es erscheint typisch, daß mit Ausnahme des deutschnational-liberalen Brünner Druckereibesitzers Rudolf Rohrer und des christlichsozialai Wiaiers Leopold Steiner alle anderen Politiker Mitglieder des Herrenhauses warai - also vom Kaiser über Vorschlag der Regierung ernannt. Das ist ein Reflex der Tatsache, daß mit dem allgemeinen Wahlrecht (1907) die liberalai Haltungen kaum mehr Chancen hatten, im Abgeordnetenhaus Vertretung zu finden, wie das bis dahin durch das Kurien- und Zensuswahlrecht selbstverständlich war. Daß diese Nobilitierten in „ihren" Gemeinden etwas galten, war ebaifalls bei einigen von ihnen durch Ehrenbürgerschaftai aktenkundig (Czerwaiy in Deutschlandsberg und Stainz, C.M. Frank in Liliaifeld, Adolf Landsberger (Textilindustrieller) in Friedek/Schlesien, Rudolf Mayr-Melnhof in St. PeterFreienstein, Rudolf Rohrer in mehreren Gemeinden Mährais und Otto Seybel in Liesing b. Wiai).

Kommerzial- und Kaiserliche Räte, Hoflieferantai, Ordensträger Der Titel eines „Kaiserlichen Rates" war ursprünglich für die Laienrichter am Handelsgericht in Triest und Wiai vorgesehen; späterhin wurde er aber doch öfter verliehen, wobei der unternehmerische Erfolg nicht unbedingt im Vordergrund stand. Eine solche Ernennung erfolgte über Vorschlag der jeweiligen Handelskammer.32 „Kommerzialrat" war ebaifalls ein Funktionstitel und blieb es auch - er war jenen Herren vorbehaltai, die Mitglied einer der beiden handelsstatistischen Kommissionen (je einer für den Außenhandel bzw. für den österreichisch-ungarischai Zwischaihandel) warai. Er wurde 32

Hofdekret vom 3.8.1789, ZI. 2413, Hofdekret vom 24.8.1840; ferner § 11 der Min.Vdg. vom 1.7.1897, RGBl. Nr. 129.

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nicht „als Anerkennung der commerciellen Bedeutung oder als Belohnung fur Verdi oíste... verliehen".33 Hoflieferanten erhielten die Berechtigung, den entsprechenden Titel sowie den kaiserlichen Adler im Firmenschild zu fuhren (was man ja bei einigen Geschäften in Wien noch immer beobachten kann). Daneben wurden an erfolgreiche Unternehmer auch diverse Orden verliehen, doch ging man damit sparsam um, da mit einigen Orden (FranzJosephs-Orden und Orden der Eisernen Krone ΠΙ. Klasse) auch das Recht verbunden war, um dai erblichen Ritterstand anzusuchen.34

3. Spitzenfunktionäre der Handelskammern und freien Vereinigungen der Bourgeoisie Eine andere Zugangsweise bietet sich über eine genauere Untersuchung der Handelskammern bzw. über die Vereine des Unternehmertums. Die Entstehung einiger dieser Vereine hat vor Jahren Walter Sieghartsleitner im Rahmen einer Hausarbeit für das Lehramt an höheren Schulen behandelt.35 Nun sind diese Ergebnisse durch eine Innsbrucker Dissertation von Gerald Sturmayr erweitert und ergänzt worden, die derzeit für den Druck überarbeitet wird.36 Über die seit 1848 existierende Handelskammer-Organisation liegen detailreiche Studien vor, vorab von Franz Geißler.37 Sie behandeln freilich nicht die 33

AH.Entschließung vom 18.12.1883; ferner Allg.Verwaltungsarchiv Wien, Handelsministerium, 1686 und 1687 ex 1896. 34 Da sich dennoch die Ansuchen um Erhebung in den Ritterstand nach Verleihung der 3. Klasse dieser Orden zu häufen begannen, verfügte ein kaiserliches Handschreiben von 1884, daß mit der Verleihung dieser Orden kein Anrecht auf einen Adelsstand mehr verbunden sein sollte. Vgl. Peter Frank-Döfering, Adelslexikon des österreichischen Kaisertums 1804-1918, Wien-Freiburg-Basel 1989, S. 610. 35 Walter Sieghartsleitner, Industrielles Bürgertum und seine Organisationsformen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Verbandsbildung als Indikator für industrielles Gruppenbewußtsein. Ms. Hausarbeit f.d. Lehramt an höheren Schulen, Wien 1979. 36 Gerald Sturmayr, Industrielle Interessenpolitik in der Donaumonarchie. Entfaltung, Zentralisierung und politische Effizienz der Fach- und Spitzenverbände 1848-1914, phil. Diss (Ms.) Innsbruck 1991. Die Arbeit wird in der Reihe „Sozialund wirtschaftshistorische Studien", hg.v. E. Bruckmüller, H. Stekl, F. Mathis u.a. erscheinen. 37 Franz Geißler, Die Entstehung und der Entwicklungsgang der Handelskammern in Österreich, in: 100 Jahre österreichische Wirtschaftsentwicklung 1848-1948, hg. v. Hans Mayer, Wien 1949.

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Struktur der zu den Kammern Wahlberechtigten bzw. die genauere Zusammensetzung der gewählten Kammer-Mitglieder, die uns vermutlich einigen Aufschluß über die Bedeutung verschiedener Wirtschaftssparten in bestimmten Regionen gewähren könnte. Eine neuerliche Befassung mit den Archivai der einzelnen Kammern wäre dringend vonnöten. In der Ära der Konstitution entstanden neue freie Vereinigungen von Industriellen. Während die altehrwürdigen Gewerbevereine des Vormärz (deren bedeutendster der Niederösterreichische Gewerbeverein in Wien war, gegründet 1839) nach wie vor noble und repräsentative, dem aktuellen Tagesgeschehen etwas entrückte Organisational darstellten, mußten sich für Zwecke der konkreten Interessenvertretung von Wirtschaftsbranchen neue, speziellere Vereinigungen bilden. Das begann (noch im Neoabsolutismus) mit dem „Zentralverein der Zuckerindustrie" (1854), dem einige weitere Branchenverbände folgten (Papier 1872, Eisen, Baumwolle). Ein 1874 gegründeter „Verein der Montan- und Eisenindustriellen in Österreich" wurde 1880 zum „Verein der Montan-, Eisen- und Maschinenindustriellen" erweitert. Die Eisenindustriellen, unter der Führung mächtiger Gewerken, traten in der Krise für Schutzzölle vorab gegenüber der übermächtigen deutschen Schwerindustrie ein. Gegen Ende der Monarchie repräsentierte der Verein faktisch den gesamten schwerindustriellen Bereich.38 Ahnlich wie die Eisenvereinigung hat auch die 1872 gegründete Vereinigung der Baumwollspinner, 1891 zum „Verband der Baumwollindustriellen Österreichs" erweitert, Zollschutzforderungen aufgestellt. Allerdings existierte hier ein grundlegender Interessenkonflikt: Die Spinner forderten Zollschutz für Garne, die hinwiederum die Weber am liebsten zollfrei gesehen hätten. Daher konstituierten sich die Spinner als eigene Sektion, die sich 1904 in einen selbständigen Verein umwandelte. Über die handelspolitische Zielsetzung hinaus, wie sie bislang dominierte (und auch für einige andere Vereine, wie jene der Malzfabrikanten und Bierbrauer, typisch war), strebten in den 1880er Jahren neue Verbände weiterreichende Kartellierungen an. Die 1890er Jahre sahen eine weitere Welle solcher Verbandsgründungen. Dazu stießen nun regionale oder lokale Arbeitgebervereine, sozusagen

38

Zu diesen Branchenverbänden vgl. Sturmayr, Industrielle Interessenpolitik, S.

127-176.

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als Antwort auf die seit der Einigung der Sozialdemokratie von 1889 beobachtbare Stärkung der Gewerkschaftsbewegung.3' Bereits 1864 entstand ein kurzlebiger „Verein der Industriellen", dem als neue Zentral organi sation der Industriellen 1875 der „Industriellen Club" folgte. Der „Club" stand in engem Zusammenhang mit dai ersten protektionistisch orientierten Fachverbänden und vertrat klar schutzzöllnerische Anschauungen. Allerdings gelang es ihm niemals, alle oder auch nur die mei stai Branchai zu organisieren. Er blieb bei (1909) ca. 220 Mitgliedern, ein Exldusiwerein finanzstarker und einflußreicher Großindustrieller. Mitglieder konnten sowohl Unternehmungen wie Banken und Einzelindustrielle (nicht aber, beispielsweise, Branchenverbände) werden. Der „Industrielle Club" vereinigte sich 1904 mit den 28 Mitgliedern der „freien industriellen Vereinigung", einer informellen Vereinigung der im Parlament als Abgeordnete vertretenen Industriellen.40 Kurz zur Struktur der Führungsgremien des „Clubs": 1883 standen zwei Textilindustrielle an der Spitze, als Präsident der Tuchfabrikant Alfred v. Skene, als Vizepräsident der Baumwollspinner Friedrich Frhr. v. Leitenberger. Unter den 23 Aussdiußmitgliedern dominierten elf Textilindustrielle, acht Vertreter der Ei sai- und Hüttenindustrie, währaid Papier, Zucker und Chemie mit je einem Vertreter stark abfielen (der 23. war Rechtsanwalt). 1908 wurden die beiden Präsidenten von der Eisai- bzw. Hüttaiindustrie gestellt (Präsident Arthur Krupp, Berndorf, bzw. Max Ritter v. Gutmann für die Witkowitzer Werke), der erste und zweite Vize waren Leinen- (Karl Chiari) bzw. Chemieproduzenten (Otto Seybel). Der jetzt 27-köpfige Ausschuß war immer noch von Eisen bzw. Textil dominiert (je neun Vertreter, freilich aufgefächert), die Chemie entsandte drei Vertreter, Papier zwei, Zucker, Holz, Brauereiai und Zement je einen. Die Verflechtung mit dem Verein der Montan-, Eisen- und Maschinenindustriellen war äußerst eng. Die Enttäuschung über die Handelsverträge von 1891 mit ihrer geringai Berücksichtigung industrieller Wünsche führte dann zu einer neuen Verbandsgründung, zum „Zaitralverband der Industriellen 39

Peter G. Fischer, Freie und genossenschaftliche Interessenvertretungen der gewerblichen Wirtschaft in Österreich von 1918, in: Veröffentlichungen des Vereines der wissenschaftlichen Forschung auf dem Gebiete der Unternehmerbiographie und Firmengeschichte, Heft 9, 1981, 14-37, insbes. S. 20; Sturmayr, Industrielle Interessenpolitik, passim. 40 Sturmayr, Industrielle Interessenpolitik, S. 176-197.

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Österreichs" (1893), in dem wiederum der Verein der Baumwollindustriellen und die schon genannte Organisation der Schwerindustrie am stärksten vertreten war. Präsident wurde Friedrich Frhr. v. Leitenberger, die faktische Führung übernahm, ganz modern, bereits ein hauptberuflicher Funktionär, Hermann Hallwich gemeinsam mit Dr. Josef Grunzel (Sekretär des VBÖ); beide sind mit handelspolitisches! bzw. wirtschaftshistorischen Arbeiten hervorgetreten.41 1896 wurden die Satzungen so umgestaltet, daß es nun dem „Industriellen Club" ermöglicht wurde, beizutreten. Präsident und Vizepräsident (Dr. Alexander Peez und Arthur Krupp) wurden ins Präsidium kooptiert. Auch Karl Wittgenstein (Prager Eisenindustriegesellschaft) und Julius Ritter v. Kink (Papier) kamen ins Präsidium. Im Zentralverband waren alle wichtigen Branchenverbände (1912: 63) vertreten. Der ZV konnte sich auch im 1898 ins Leben getretenen „Industrie- und Landwirtschaftsrat", einem Beirat der Regierung für Wirtschafte- und Sozialfragen, eine starke Position sichern. Eine bestimmte Organisationslücke verblieb jedoch, vorab für Einzelindustrielle, die einem Zentral verband entweder nicht beitreten konnten oder wollten. In diese Lücke stieß der „Bund österreichischer Industrieller", der im übrigen weniger das handelspolitische Feld beackerte, sondern, als Reaktion auf die stark erhöhte Streiktätigkeit zwischen 1890 und 1895, sich 1896 unter dai Wiener Metallwarenfabrikanten Julius Pastree und Heinrich Vetter als Arbeitgeberverband bildete. Solidarisch organisierte Aussperrungen, Aufstellung schwarzer Listen, Streikklausel und Streikversicherung, Zentralisation aller Arbeitgebervereinigungen waren die angestrebten Mittel zur Zielerreichung. Als Organisation der Arbeitgebervertretung war der BÖI stark auf die industriellen Kernzonen fixiert. Er hatte (etwa) in Wien 509, in Prag 211, in Brünn 175, in Graz 134 Mitglieder, die jeweils in lokalen Sektionen organisiert waren (insgesamt 22). Ab 1903 versuchte ein „Ständiger Ausschuß" die drei industriellen Zentralorganisationen zu koordinieren. Erst 1918 bildete sich, nach Selbstauflösung des ZV, ein neuer „Reichsverband der österreichischen Industrie".

41

Sturmayr, Industrielle Interessenpolitik, S. 198-249. Hermann Hallwich, Die Anfange der Großindustrie in Österreich, Wien 1898; Joseph Grunzel, Handbuch der internationalen Handelspolitik, Wien 1898; ders., Die österreichische Baumwollwaren-Industrie, in: Die Großindustrie Österreichs, Bd. 4, Wien 1898; ders., Handelspolitik und Ausgleich in Österreich-Ungarn, Wien-Leipzig 1912.

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4. Vertreter der Wirtschaft im Reichsrat und in Landtagen, in Gemeinderäten, in staatlichen Kommissionen und Beiräten Im Hinblick auf die Frage der Vertretung von Unternehmern bzw. Wirtschaftsbürgern in parlamentarischen Körperschaften bieten lexikalische Verzeichnisse42 einen ersten Überblick. Ferner hat Gerald Stourzh in einer ausfuhrlichen Studie über die Mitgliedschaft im österreichischen Herrenhaus (dem Oberhaus des Reichsrates) die Namen aller Mitglieder publiziert.43 In die Landtage, deren Mitgliedschaft bis 1873 die unumgängliche Voraussetzung für Mtgliedschaft im Abgeordnetenhaus des Reichsrates war, konnten Unternehmer über die Kurie des Großgrundbesitzes (so der Bierbrauer Anton Dreher und der Textilfabrikant Johann Ritter von Liebieg), über die Kurie der Stadtgemeinden (so Josef Pfeiffer aus Böhmen), über die Kurie der Handelskammern (so Matthias Gschnitzer aus Salzburg, Emanuel Ritter v. Proskowetz aus Mahren), ja sogar auch über die Kurie der Landgemeinden gelangen (so Josef Machacek aus Böhmen und Eduard von Oberleithner aus Mahren). Zur Vertretung des Wirtschaftsbürgertums in einigen Landtagen existieren neuere Untersuchungen von Jiri Koralka, Jiri Malir und Edith Marko-Stöckl.44 Obgleich das Interesse der Unternehmer an den Landtagen schwankte, zeigt sich jedenfalls eine deutliche Anteilnahme dieser Gruppen an der Finanzkontrolle. - Bis zum Ende der Monarchie traten nicht wenige Unternehmer im österreichischen Abgeordnetenhaus hervor, so Rudolf Auspitz und Alfred Skene d. Ä., aber auch andere Unternehmernamen tauchen auf, wie Dierzer, Offermann, Pacher-Theinburg, Portheim, Stölzle, Schaup, u.a.45 Ins Herrenhaus, das neben erblichen Mitgliedern ernannte Mitglieder auf Lebensdauer umfaßte (die Mitgliedschaft konnte ab 1907 einen gewissen Ersatz für die verminderten Wahlchancen im Abge42

Oswald Knauer, Das österreichische Parlament 1848-1966, Wien 1969; Fritz Freund, Das österreichische Abgeordnetenhaus. Ein biographisch-statistisches Handbuch (fur mehrere Wahlperioden), Wien (u.a.) 1907. 43 Gerald Stourzh, Die Mitgliedschaft auf Lebensdauer im österreichischen Herrenhause, 1861-1918, in: MIÖG 73, 1965, S. 63-117. 44 Jiri Koralka, Tschechische bürgerliche Landtagsabgeordnete in Böhmen 18611913; Jiri Malir, Zur Problematik der tschechischen bürgerlichen Vertretung im mährischen Landtag in den Jahren 1861-1913; Edith Marko-Stöckl, Die politische Repräsentation des Bürgertums in der Steiermark 1861-1914; alle in: Bruckmüller u.a., Hg., Bürgertum in der Habsburgermonarchie, S. 211-222, 223-242, 243-256. 45 Menischi, Österr. Unternehmertum, in: Habsburgermonarchie 1, 1973, S. 256.

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ordnetenhaus für Industrielle, Großgrundbesitzer und andere Vertreter der Oberschichten bieten), waren schon 1861 Konstantin Frhr. v. Rayer und Anselm Frhr. v. Rothschild berufen worden. Später wurden an prominenteren Vertretern des Wirtschaftsbürgertums Mitglieder der Familial Chiari, Dumba, Gomperz, Gutmann, Haber, Isbary, Kink, Königswarter, Krupp, Lanna, Leitenberger, Liebieg, Lobmeyr, Mayr-Melnhof, Miller-Aichholz, Perger, Rhomberg, Ringhoffer, Schoeller, Sina und Skoda ernannt.46 Das (Wiener) Unternehmer-Großbürgertum nahm nach 1906 weiterhin Einfluß auf den politischen Prozeß: über die Medien (vorab über die nach wie vor wichtigste Tageszeitung, die „Neue Freie Presse"), über die (ernannte) Mitgliedschaft im Herrenhaus, über zahlreiche informelle Kanäle und über neue Formai der Interessenvertretungen (Industriellenverbände), die auch in neuen Beratungsgremien der Regierung, wie dem 1898 gegründeten „Industrie- und Landwirtschaftsrat" ihren Platz fanden.47 Eine genaue Analyse der Mitglieder des Industrierates würde den Rahmen sprengen. Hinzuweisen ist wieder, einigermaßen analog zu den freien Vereinigungen der Industriellen, auf die starke Position, die die Textilindustrie hier einnahm, nach der Jahrhundertwende in Frage gestellt von der Eisenverarbeitung. Neben dan Delegierten der Kammern gab es wahlberechtigte Vereine, von denen (1903) zehn der Textilindustrie angehörten, drei der Eisenbearbeitung und je einer der Papier-, Holz-, Chemie-, Zucker-, Leder-, Spiritus-, Brau-, Zement-, Petroleum-, Glas- und Porzellanindustrie. An Namen begegnen neben bekannten „Multifunktionären" wie Schoeller (Paul und Richard), Seybel, Samassa, Pollak v. Parnegg, Noot, Miller-Aichholz usw. auch ansonsten weniger hervortretende, jedoch wichtige, etwa der hervorragende Wiener Möbelfabrikant Bernhard Ludwig.4"

46

Stourzh, Mitgliedschaft, Anhang. Elisabeth Pultar, Die Tätigkeit des österreichischen Industrierates (1898-1914), phil. Diss. (Ms.) Wien 1973. 48 Pultar, Tätigkeit, S. 9ffi und 19. 47

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ΙΠ. Möglichkeiten zur Erfassung breiterer wirtschaftsbürgerlicher Kreise 1. Die Einkommensteuerstatistik Einkommensstatistiken sind für die Phase der provisorischen Einkommensteuer (ab 1849) wenig brauchbar.49 Wesentlich detaillierter sind Angaben, die nach Inkrafttreten der Einkommensteuerreform 1896 in gedruckter Form vorliegen. Diese Angaben gestatten uns erstmals, regionale Streuung der Steuerleistung, aber audi die Berufsstruktur von einkommenssteuerpflichtigen Staatsbürgern zu erheben.50 Auf die Frage, ob das Wiener Wirtschaftsbürgertum in dieser Einkommensstatistik erfaßbar wird, läßt sich eine wenigstens teilweise bejahende Antwort geben. Von der gesamten über die Personaleinkommensteuer zu versteuernden Einkommenssumme von staatsweit (Österreich - „Zisleithanien") etwa 3,9 Milliarden Kronen, entfielen 1,3 Milliarden auf Wien. Noch deutlicher tritt die Dominanz Wiens bei den höheren Einkommensklassen hervor: Während Wien nur ein Viertel der Steuerträger in den unterai Klassen stellte, stieg dieser Anteil bei den „Reichen" (über Κ 12.000,-) auf 45% (1906) bzw. fast 52% bei den sdir Wohlhabenden (über Κ 40.000,- Jahreseinkommen). In absoluta! Zahlai ausgedrückt heißt das, es gab staatsweit (1907) etwa 33.000 Einkommaisbezieher zwischen Κ 7.200 und Κ 12.000, von denai mehr als 12.000 in Wiai lebten. Mehr als Κ 12.000 Einkommen hattai staatsweit 25.500 Maischai, davon lebten fast 12.000 in Wien. Über Κ 40.000 verdiaitai staatsweit 4.233 Maischen, davon lebten 2.185 in Wien. Insgesamt waren in Wiai 291.000 Menschen einkommensteuerpflichtig, staatsweit etwas mehr als eine Million. Vergleicht man diese Zahlen mit anderen Indikatorai, etwa mit Wohnungsgrößen, so zeigen sich keine glatten Übereinstimmungen: 1917 wurden in Wiai etwa 555.000 Wohnungen gezählt, davon waren etwa 70.000 größere Mittelwohnungen (mit drei bis vier Wohnräumen) und 49

Ε. v. Fürth, Die Einkommensteuer in Österreich und ihre Reform, in: Statistische Monatsschrift XVIII, 1892, S. 475ff Danach war die provisorische Einkommenssteuer von 1849 nicht nur in der Berücksichtigung unterschiedlicher Steuerkraft zu grobschlächtig und linear, sondern gestattete auch eine verbreitete Unterversteuerung, vorab im Bereich der Kapitalerträge. 50 Beiträge zur Statistik der Personaleinkommensteuer in den Jahren 1903 bis 1907. Wien 1908.

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nur 27.000 Großwohnungen (vier Zimmer und mehr). Approximativ könnten diese 27.000 Wohnungen den ca. 25.000 Bestverdienem zugeschrieben werden. Diese Zahl entspricht in etwa auch dai im ersten Wahlkörper (nach der Gemeindewahlordnung von 1900) Wahlberechtigten. Die 41.000 Einkommensbezieher von 3.600 bis 7.200 Kronen repräsentieren den zweiten Wahlkörper, während der dritte Wahlkörper ungefähr der Einkommenskategorie von 2.400 bis 3.600 Kronen gleichkommt. Diese Kategorie könnte in dai größeren Mittelwohnungen gewohnt haben.51 Daß aber die etwa 291.000 Steuerpflichtigen von etwa 1,1 Millionen Berufstätigen nicht automatisch dem Bereich der Selbständigen zuzurechnen sind, zeigt sich am hohen Anteil von Diaistbezügen an den besteuerten Einkünften (509 Millionen von 1,325 Millionen Kronen) - Ausdruck der Konzentration der Führungspositionen von Hof, Staat, Konzernen, Aktiengesellschaften, Transportgesellschaften usw. in Wien. Staatsweit gesehen traten nach der durchschnittlichen Einkommenshöhe insbesondere Bergbauunternehmer, Bankiers, Textilindustrielle und Advokaten hervor, noch vor Chemieuntemehmern und Bankiers, was hinsichtlich der Industrie in eigentümlicher Weise auch anderen Quellen (Nobilitierungen, Vertretung in industriellen Vereinen) entspricht. 2. Auswertung von Verlassenschaftsakten Ein ebenfalls bereits von Alfred Hoffmann angeregter Zugang zu verschiedenen Fragen sozialer Stratifikation ergibt sich über die Quelle der Verlassenschaften. Wurde diese bisher vorab für dai Vormärz, im Hinblick auf die Frage allgemeiner Pauperisierung ausgewertet, so versuchte Roman Sandgruber, nach stichprobenartigen Vorarbeiten von Hannes Stekl, systematisch gerade die Wirtschaftstreibaidai über ihre Verlassaischaftai aufzuarbeiten. Einen relativ günstigen Ansatzpunkt dafür bietet die Tatsache, daß die Verlassaischaften nach Wirtschaftstreibenden beim Handelsgericht abgehandelt wurden, so daß hier, sofeme sie existieren, teilweise recht schöne geschlossene Be51

Die Ergehnisse der Wohnungszählung in Wien vom Jahre 1917, Wien 1918, insbes. S. 12£; Maren Seligar - Karl Ucakar, Wahlrecht und Wählerverhalten in Wien 1848-1932. Privilegien, Partizipationsdruck und Sozialstruktur. Wien München 1984, S. 112-117.

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stände zur Verfugung stehen. Über erste Teilstudien zu diesem Projekt, das seit 1989 läuft, kann berichtet werden.32 Im Jahre 1906 fanden beim Wiener Handelsgericht 169 Abhandlungen statt, von denen 154 aktenmäßig noch nachvollziehbar sind. Von diesen 154 Fällen sind in 139 Verlassenschaften ausgewiesen. Etwa ein Viertel der verstorbenen Unternehmer hatte sehr wenig Vermögen oder gar Schulden hinterlassen. 51 Verlassenschaften lagen zwischen 1.000 und 100.000 Kronen, 47 zwischen 100.000 und 33 Millionen (immerhin waren elf Vermögensmillionäre zu beobachten). Die konfessionelle Aufteilung in den insgesamt 154 vorhandenen Fällen sah folgendermaßen aus: Davon mit Vermögensaufstellung: katholisch 75 71 59 54 mosaisch 17 11 evangelisch 2 2 griechisch-orthodox 1 1 armaiisch-orient. Unter den Katholiken befanden sich die relativ meisten kleineren Unternehmer. Bei Evangelischal gab es keinen überschuldeten Nachlaß. Dafür wiederum waren Millionäre nur bei Juden und Katholiken zu beobachten (von denen wiederum die reicheren eher Juden als Katholiken waren). Beruflich waren diese Millionäre, sofern sie nicht im Bankgeschäft tätig waren, wie Sigmund Reitzes und Saly Jakob Schloss, auffallig stark (wiederum) im Textilsektor tätig (4 von 15 Millionären), außerdem treten nodi Zucker, Glas, Papier, Maschinen und ein nicht näher genannter Industrieller auf, vier Millionäre sind überwiegend dem Handel zuzuordnen. Das Durchschnittsalter der Reichsten betrug zum Zeitpunkt ihres Absterbais 66,4 Jahre, das ihrer ärmeren Berufskollegen nur 53,3 Jahre. Stellt man die Frage nach den Anlagegewohnheiten, so steht der eigene Betrieb natürlich an erster Stelle. Darüber hinaus wurdai, als Sicherung für das Alter (aber auch für die Witwen bzw. unmündigai 52

Vera Maria Streller, „Verschwender und Geizkrägen". Eine strukturelle Untersuchung des Wirtschaftsbürgertums in Wien um 1900 auf Grund von Verlassenschaftsakten. Diplomarbeit a.d. Geisteswiss. Fak. Wien 1988 (Ms.). Hauptergebnisse publiziert in dies., Fleiß und Leichtsinn. Österreichische Unternehmer: Ein Querschnitt für das Jahr 1906, in: R. Sandgruber, Hg., Magie der Industrie, 1989, S. 239-245.

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Kinder), Anlagen in Wertpapieren, in Realitäten und in Lebensversicherungen (in dieser Reihenfolge) betätigt. Der Wertpapieranteil selbst ist nach keiner ersichtlichen Regelmäßigkeit gestreut. Mehr als die Hälfte der 57 Anleger hatten aber weniger als ein Drittel ihres Vermögais in Wertpapiere gesteckt. Selbst bei den Millionären war dieser Anteil nicht deutlich höher: Nur bei sechs von ihnen machten Wertpapiere mehr als ein Drittel des Vermögais aus. An der Spitze stand hier Sigmund Reitzes, der ja das größte Vermögen hinterlassen hatte: von seinai 33 Millionen warai 24 in Wertpapieren verschiedener Art angelegt, bei ihm sind auch ausländische Papiere in größerem Ausmaß vorhanden gewesen. Ein erster Vergleich eröffiiet sich über die von Hannes Stekl untersuchtai Nachlässe von sechs der prominaitesten Ringstraßenbarone. Bei dai großai Ringstraßenbankiers Ignaz Ephrussi (+ 1899), Michael Dumba (+ 1895), Moriz Königswarter (+ 1893), Viktor Ofenheim (+ 1886), Max Springer (+ 1885) und Gustav Leon (+ 1898) sank der Anteil an Realitäten am Gesamtbesitz nicht unter 23%, wobei Ofenheim mit einem 70% Anteil an Realitäten eine bemerkaiswerte Spitzenposition einnimmt. Seltai warai diese Groß-Bankiers auch im erheblichai Maße im Besitze industrieller Werte: Nur Gustav Leon hatte die Hälfte seines Vermögais in Industriebeteiligungen angelegt, Max Springer 34% und V. Ofaiheim 14%, bei den anderen dreiai spielai sie überhaupt keine Rolle. Andere Wertpapiere, überwiegend wohl Staatstitres, nahmen aber einen breitai Raum etwa im Portefeuille von Ignaz Ephrussi oder Michael Dumba ein (75 und 70%).53 3. Andere Zugangsweisen Da in diesem Rahmen nicht realisierbar, sä nur auf die mögliche Auswertung von autobiographischen Quellen verwiesen.54 Noch auf53 Hannes Stekl, in: Baltzarek - Hoffmann - Stekl, Wirtschaft und Gesellschaft der Wiener Stadterweiterung (= Die Wiener Ringstraße, hg. v. R. Wagner-Rieger, Bd. V), Wiesbaden 1975, S. 301. 54 Rudolf Sieghait, Die letzten Jahrzehnte einer Großmacht, Berlin 1932; Alexander Spitzmüller, ... und hat auch Ursach' es zu lieben, Wien 1955; Karl Wittgenstein, Zeitungsartikel und Vortrage, Wien 1913 (jetzt als Reprint: Karl Wittgenstein, Politico-Economic Writings, an annotated reprint of „Zeitungsartikel und Vorträge", ed. by J.C. Nyíri = Viennese Heritage/Wiener Erbe, ed. Achim Eschenbach and Walter Schmitz, Bd. 1, Amsterdam/Philadelphia 1984); Karl Morawitz, Aus der Werkstatt eines Bankmannes, Wien 1913; Sigmund Mayer, Ein jüdischer

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wendiger, und in Verknüpfung von lexikalischer mit memoiraiauswertender Zugangsweise bzw. in zahlreichen mühevollen Detailrecherchen zu bewältigen, erscheint der eigentlich genealogische Zugang. Auch hier stünden teilweise noch unbearbeitete Nachschlagewerke zur Verfügung33, abgesehen von jenen Werken, die die nobilitierten Familial betreffen. In der Tat hat ja das ökonomisch erfolgreiche Bürgertum, hierin dem Adel nicht unähnlich, vorab in gewissen weiblichen Vertretern recht bald die Neigung zu umfangreichem Stammbaumkraxeln entwickelt. Es gibt praktisch kein Gespräch mit (meist weiblichen) Abkömmlingen aus solchen Familial, in dem sich nicht in kürzester Zeit ein weitverzweigtes System von Verwandtschaften herauskristallisiert, das sich - möglicherweise - durch die Zusammenbrüche von 1918, 1938 und 1945, sofeme es nicht jüdische Verwandte traf, infolge der zwischen 1918 und 1945 stark geminderten ökonomischen Dynamik geradezu konserviert hat. Ein Beispiel für solches Bemühen soll hier in aller Kürze vorgestellt werden.56 Das Ureltempaar ist prominent. Heinrich von Pereira (17741835), verheiratet mit Henriette Freiin von Arnstein (1780-1859), Tochter der berühmten Fanny von Arnstein.37 Da die Arnstein im Mannesstamm ausgestorben waren, verblieben Wappen, Namen und Vermögen bei der Familie Pereira(-Arnstein). In der nächsten Generation gelang es Louis (Ludwig) freilich, zu fallieren, was seine Kinder aber nicht daran hinderte, in durchaus adelige Familien zu heiraten. Die Familie setzte August (1811-1847) fort, der eine Gräfin Varkony geheiratet hatte. Dessen Kinder blieben im hochadeligen Umfeld: der Kaufmann 1831-1911. Lebenserinnerungen, Leipzig 1911. Daneben sind natürlich auch Autobiographien interessant, die im Nahbereich des Wirtschaftsbürgertums entstanden, z.B. Josefine Winter, Fünfzig Jahre eines Wiener Hauses. Wien 1927; Wilhelm Exner, Erlebnisse. Wien 1929; ferner Memoirenliteratur von Schriftstellern und Historikern, die aus der Welt der Ringstraße stammen: Arthur Schnitzler, Jugend in Wien. Autobiographie, Wien-München-Zürich 1968; Stefan Zweig, Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt/M. 1970; Friedrich Engel-Janosi,... aber ein stolzer Bettler. Erinnerungen aus einer verlorenen Generation. Graz-Wien-Köln 1974. Zur Auswertung von ungedruckten Autobiographien vgl. vorab die Einleitung zu Andrea Schneller - Hannes Stekl, Hg., „Es war eine Welt der Geborgenheit...", Bürgerliche Kindheit in Monarchie und Republik. Wien 1987. 33 Franz Planer, Jahrbuch der Wiener Gesellschaft. Wien 1928 und 1929. 56 Der Verf. ist Frau G. Sotriffer, geb. Zacherl, für die Erlaubnis, diese Abstammungstafel benützen zu dürfen, sehr zu Dank verpflichtet. 57 Hilde Spiel, Fanny von Arnstein oder Die Emanzipation. Ein Frauenleben an der Zeitenwende 1758-1818. Frankfurt/M., 1962.

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älteste Sohn heiratete eine Gräfin Szèchènyi, der zweite eine Gräfin Fries, von den drei Töchtern eine einen Grafen Arz, eine (nur) einen Freiherrn v. Skrbensky und eine Peter Frhr. v. Pirquet (eine Tochter aus dieser Ehe heiratete Anton Frhr. v. Eiseisberg, womit der familiale Anschluß an berühmte Vertreter der Medizin unterstrichen wurde). Der Ehe Viktors v. Pereira-Arnstein mit Victoire Gräfin Fries entsproß Adolf, von dessen Kindern Ignatius Kitty von Böhler (Schwerindustrie) heiratete, Maria aber Gregor Zacherl - in beiden Fällen sind wir damit wieder beim Wirtschaftsbürgertum gelandet: Die Böhler (Edelstahl) wurden hier schon mehrmals erwähnt, Gregor Zacherl stammt von dem Insektenpulverfabrikanten Zacherl ab, der im 19. Bezirk einen der schönsten Industriebauten Wiens errichtet hatte". Eine Schwester von August Pereira-Arnstein, Flora (1814-1882) heiratete Moritz Graf Fries und brachte ihm das Gut Vöslau mit in die Ehe; eine Urenkelin der Flora war übrigens mit Hans K. ZessnerSpitzenberg verheiratet, einem bekannten österreichischen Legitimisten, der deshalb auch 1938 in Dachau umgebracht wurde - ein Opfer des „Umsturzes" bzw. „Anschlusses", wie gar nicht wenige andere Mitglieder der hier zu beschreibenden (meist jüdischen) Familien auch. Ein zweites Beispiel - der Umkreis des Großunternehmers Karl Wittgenstein. Der Vater des Philosophen Ludwig und des Pianisten Paul Wittgenstein begann eine abenteuerliche Karriere bei den Teplitzer Walzwerken. Um 1897 war er die beherrschende Erscheinung der Schwerindustrie in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Die böhmische Eisen- und Stahlindustrie und die auf Steiermark und Kärnten konzentrierte Österreichisch-Alpine Montan-Gesellschaft war unter seinem beherrschenden Einfluß vollkommen umgestaltet worden. Geschäftliche und eheliche Verbindungen existierten zwischen den Familial Wittgenstein und Kupelwieser - die Söhne des bekannten Malers Leopold Kupelwieser arbeiteten auf vielen Gebieten mit Wittgenstein zusammen; Paul Kupelwieser war Generaldirektor der Witkowitzer Werke, bekannt wurde er durch den Erwerb und die Umgestaltung der Insel Brioni (die später Tito als Feriensitz diente). Karl, juristischer Beirat der Wittgensteins, war mit einer Schwester Wittgensteins verheiratet; er erlangte durch seine großherzige Förderung sozialer und wissenschaftlicher Einrichtungen Berühmtheit. Ein Ver58 Christina Kokkinakis, Die Familien Köchert, Wild und Zacherl. Heiratsverhalten des Wiener Bürgertums im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Geistesw. Diplomarbeit (Ms.) Wien 1993.

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trauter Wittgensteins war Wilhelm Kestranek, der im frühen 20. Jahrhundert zahlreiche bedeutende Positionen in der Ei sai- und Stahlindustrie, aber auch im Versicherungs- und Bankwesen bekleidete. Eine Schwester Wilhelms heiratete Max Kupelwieser, den jüngsten Sohn des Malers, eine zweite dai Industriellen Hans Blaschczik, der ebenfalls mit Wittgenstein engstens verbunden war und der später auch Eigentümer der von Wittgenstein gegründeten Zementfabrik in Königshof (Králuv Dvur) war. Eine dritte ehelichte Eugen Herz, der später leitender Direktor der Österreichisch-Alpinen Montangesellschaft wurde. Dessen Sohn Stephan wurde später von dem Maler Hans Kestranek (einem Bruder Wilhelms) adoptiert, seine Nachkommen tragen den Namen Herz-Kestranek.39 Eine Untersuchung der Heiratskreise ergibt dabei insgesamt etwa folgendes Bild: Während man im gesamten Bürgertum im frühen 19. Jahrhundert noch ganz konventionell geheiratet hatte (d.h. die Braut stammte nicht nur aus demselben gesellschaftlichen Umkreis, sondern häufig geradezu aus derselben Berufssparte wie der Bräutigam), wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts die Wahlmöglichkeiten breiter. Freilich bemühte man sich um die Vermeidung von Mesalliancen. Nobilitierte Wirtschaftsbürger blieben bei der Partnerwahl unter sich oder im etwa gleichgestellten Bildungsbürgertum, welche begriffliche Trennung in der Realität oft genug nur verschiedene Berufe in derselben Familie bezeichnet. In Wirklichkeit sind in Wien „Besitz"- und „Bildungs"-Bürgertum nicht zu tramen gewesen - man vergleiche nur die oben genanntai Beispiele Kupelwieser, Wittgaistein, Hofmannsthal, denen man noch zahlreiche andere wie Gomperz, Zweig, Doderer, Engel-Janosi, Broch, Chiari usw. zur Seite stellai könnte. Im 20. Jahrhundert wird die Partnerwahl freier: Martin von Kink, Präsident der Wiener Handelskammer und bedeutender Papierindustrieller, heiratete in erster Ehe Marie Nagl, die Schwester der bekanntai „Volkssängerin" (Heurigensängerin) Maly Nagl. Nach 1918 begannen schließlich auch Eheschließungai zwischai nobilitierten Angehörigen der Bourgeoisie und Angehörigai des alten Adels häufiger zu werdai.

39 Marie-Therese Ambom, Bürgerlichkeit nach dem Ende des bürgerlichen Zeitalters. Eine Wiener Familienkonfiguration zwischen 1900 und 1930, in: SteklAJrbanitsch/Bruckmüller/Heiss, Hg., „Durch Arbeit...", S. 378-391. Zu Karl Wittgenstein vgl. Georg Günther, Karl Wittgenstein und seine Bedeutung für den Aufbau und die Entwicklung der österreichischen Volkswirtschaft, in: Neue Österr. Biographie, hg.v. Anton Bettelheim, Bd. IV, Wien 1927, S. 156-163.

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So heiratete die Tochter des genannten Martin v. Kink zuerst einen Grafen Auersperg, in zweiter Ehe einen Grafen Schönfei dt.60 IV. Erste Ergebnisse 1. Alle von uns herangezogenen Indikatoren stimmen darin überein, daß im Gegensatz zum Vormärz und im Gegensatz zu gewissen traditionellen Vorannahmen für die Zeit der Hochindustrialisierung in der zweiten Jahrhunderthälfte die Zuwanderung für die Ergänzung des Wiener Wirtschaftsbürgertums deutlich an Gewicht verloren hat. Neben einigen in den 40er Jahren zugewanderten Bankiersfamilien sind noch die Brüder Böhler zu nennen, die 1870 aus Frankfurt nach Österreich kamen61, im Handelsbereich ist auf das Haus Gerngroß zu verweisen. Betriebsgründungen ausländischer Unternehmungen, wie die von Siemens oder Clayton & Shuttleworth in Wien sind schon etwas anderes - hier entstehen übernationale Konzerne, nicht völlig neue und eigenständige Unternehmungen von zugewanderten und bald einheimisch gewordenen Wirtschaftstreibenden. Wir müssen daher annehmen, daß die starke Fluktuation, die das Wirtschaftsbürgertum des Vormärz auszeichnete, in der zweiten Jahrhunderthälfte abgenommen hat. Um die Jahrhundertwende war Wien zweifellos das wichtigste kommerzielle und industrielle Zentrum der Monarchie. Hier hat sich bis zu diesem Zeitpunkt bereits ein stabiles und aktives Wirtschaftsbürgertum ausgebildet, das selbst wieder in Wien und anderswo als Gründer von Unternehmen aktiv wurde. Eine Untersuchung über die Wiener Oberschichten des Jahres 1928 verweist darauf, daß Wiens Kaufleute, Maler und Architekten mit 6068% als besonders „bodenständig" erscheinen. Das entspricht recht gut auch den Beobachtungen der nobilitierten Wirtschaftsbürger, die

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Nikolaus Pongracz, Die Familie Kink. Aufstieg einer Wiener Großbürgerfamilie. Geisteswiss. Diplomarbeit (Ms.) Wien 1994, passim. Ebenfalls zum Heiratsverhalten. Christina Kokkinakis, Die Familien Köchert, Wild und Zacherl (wie Anm. 57). 61 Alois Mosser, Die Entwicklung des Böhler-Konzems von seinen Anfangen bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, in: 1870-1970. 100 Jahre Böhler Edelstahl, O.O., O.J., S. 8-47.

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ganz offenkundig um 1900 nur mehr zu ganz geringen Anteilen aus „homines novi" bestanden.62 2. Wien wurde noch deutlicher als früher das Zentrum des Wirtschaftsbürgertums der Habsburgermonarchie - das ändert nichts an der Präponderanz der Sudetenländer hinsichtlich der Produktionsstätten. Aber Wien wurde zum „Hauptkontor" des Reiches; es war der Sitz der Aktiengesellschaften, der Großbanken, der Versicherungsgesellschaften, der Eisenbahn- und Schiffahrtsgesellschaften, und es war natürlich das Zentrum des politischen Prozesses, wo alle wichtigen Entscheidungen bezüglich Gesetzgebung und zahlreicher Verwaltungsakte fielen. Auch nach dem ungarischen Ausgleich von 1867 blieb der österreichische Reichsteil im wesentlichen zentralistisch regiert. Und in Wien verblieb auch der Standort der gemeinsamen Ministerien (Außen-, Kriegs-, gemeinsames Finanzministerium). Mehrere Reichsratsabgeordnete, die Wahlkreise außerhalb von Wien vertraten, gaben Wien als Wohnsitz an.63 3. Konnte sich auch die Schwerindustrie ein beträchtliches Maß an gesellschaftlicher Geltung und politischem Gewicht sichern (Rüstung!), so fallt doch auf, daß ihr Anteil an Nobilitierten bzw. an Beziehern hoher Einkommen oder Besitzern großer Vermögen relativ gering blieb. Neben Bankiers und wenigen Großhändlern treten einerseits die Textilindustriellen stark hervor, andererseits die Vertreter der Nahrungsmittelindustrie (Zucker), was sowohl mit der Bedeutung der letzteren innerhalb der österreichischen Wirtschaft zusammenhängen dürfte, wie auch mit der hervorragenden Konjunktur des Textilbereiches in der letzten konjunkturellen Aufschwungsphase vor dem Ersten Weltkrieg.64 4. Der oft zitierten Angleichung an das Vorbild der hoffähigen Hocharistokratie stand verschiedentlich eine Ablehnung der Nobilitie62

Friedrich Keiter, Das Einzugsgebiet der Wiener Oberschicht von 1928, in: Archiv f. Bevölkerungswissenschaft (Volkskunde) und Bevölkerungspolitik 6, 1936, S. 153ff. 63 Menischi, Unternehmertum, in: Habsburgermonarchie Bd. 1, S. 256f. 64 „Während sich die Gesamtzahl der in Industrie und Gewerbe in diesem Zeitraum (erg. 1900-1910) um rund 55 % erhöhte, wuchs die Zahl der Arbeiter und Angestellten in der Maschinenindustrie um fast 75 %, in der Nahrungs- und Genußmittelindustrie um 62,5 % und in der Textilindustrie um 77 %. Der relative Anteil dieser Industrien an der Gesamtzahl der Beschäftigten im Jahre 1910 betrug 4,5 % bzw. 9,8 % und 17,7 %. Die Textilindustrie war demnach der bei weitem bedeutendste Sektor der Industrie..." Vgl. Eduard März, Österreichische Bankpolitik in der Zeit der großen Wende 1913-1923. Am Beispiel der Creditanstalt für Handel und Gewerbe. Wien 1981, S. 38.

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rung und die Betonung pflicht- und leistungsorientierter bürgerlicher Qualitäten gegenüber (überliefert etwa von Karl Wittgenstein, von dem Klavierbauer Ludwig Bösendorfer, von dem Glasindustriellen Josef Lobmayer u.a.).65 5. „Bürgerlichkeit" entfaltete sich in zahlreichen verschiedenen gesellschaftlichen Interaktionsbereichen. Besonders in Wien bestand dabei eine enge Verbindung von „Besitz und Bildung", die das Wirtschaftsbürgertum mit anderen bürgerlichen Klassen verband und deren kulturellen Imperativen man sich mindestens genauso verpflichtet fühlte wie der überkommenen ostentativen aristokratischen Kultur. Natürlich wird es keine vollkommen befriedigende Antwort auf die Frage geben, warum dieses Wirtschaftsbürgertum so außerordentlich wichtige Philosophai, Wissenschaftler, Schriftsteller usw. hervorbrachte. Man sollte aber darauf verweisen, daß es etwa im Hause Doderer (der Vater war ein sdir erfolgreicher Bahnbauunternehmer) geradezu verboten war, bei Tisch fachzusimpeln. Solche Leitvorstellungen waren der Entfaltung anderer als im engeren Sinne unternehmerischer Leitvorstellungen zweifellos günstig.66 Man hat es den österreichischen Unternehmerfamilien häufig zum Vorwurf gemacht, daß sie nicht ewig in ihrem Gleis geblieben wären, sozusagen ihrer ökonomischen Berufung untreu wurden. Abgesehen davon, daß das im großen und ganzai so gar nicht stimmt, muß man sich doch die Frage stellen: Was wäre wichtiger, auch unter dem Aspekt kultureller Bereicherung nicht nur Wiens und Österreichs, sondern ganz Europas - daß die Söhne Wittgensteins den Erfolgsprozeß ihres Vaters fortgesetzt hätten und vielleicht wirklich die Totalherrscher über die Montan-, Eisen- und Stahlindustrie der Habsburgermonarchie geworden wären, daß sie vielleicht das Wirtschaftswachstum dieser Regionen bei äußerster Tüchtigkeit vielleicht um einen halben Prozentpunkt beschleunigt hätten - oder daß sie als Pianisten oder Philosophen höchst Bedeutendes leisteten, Werke schufen oder anregten, die heute noch von Belang sind, während die ganze Eisenherrlichkeit des alten Wittgenstein längst den Weg alles Irdi65

Robert A. Kann, Theodor Gomperz, Ein Gelehrtenleben im Bürgertum der Franz-Josefs-Zeit. Wien 1974 (mit Lit.), über Lobmeyr und Bösendorfer, die ihre „Bürgerlichkeit" demonstrativ betonten, vgl. u.a. das kleine Tratsch-Büchlein von Alfred Deutsch-German, Wiener Porträts, Wien 1903, S. 115 und 150ff. 66 Ernst Bruckmüller, Forschungen zur Geschichte des österreichischen Bürgertums - Person und Werk Doderers in sozialhistorischen Konnotationen, in: Internationales Symposion Heimito von Doderer. Ergebnisse. 4., 5. Oktober 1986, Wien (1988), S. 28-41.

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sehen gegangen ist? Oder hätten wir mehr davon, wenn Hugo von Hofmannsthal ein großartiger Bankier, Hermann Brodi ein tüchtiger Fabrikant, Heimito von Doderer ein exzellenter Bauunternehmer geworden wäre? Natürlich kann man sagen, daß alle diese Karrieren der österreichischen Wirtschaft Leistungsfähigkeit gekostet haben - aber ist das wirklich das Um und Auf des menschlichen Lebens?67 Wenn man aber über diese so häufig jüdischen Unternehmer und ihre ebenso materiellen wie kulturellen Leistungen einen nicht unbeträchtlichen Teil von „Wien um 1900" erklären kann, so soll dies nicht bedeuten, daß „Wien" das stets geschätzt hätte. Bei der Arbeit für diesen Aufsatz am meisten erschüttert hat den Verfasser das Todesdatum des Textilindustriellenehepaares Felix und Charlotte (geb. Elias) Stiassny von Elzhaim, die beide am 28.8.1938 gestorben sind; sie hatten dai Gashahn aufgedreht. Der Sohn des Industriellen und wissenschaftlichen Schriftstellers Siegfried Strakosch hingegen hat sich am 7.7.1938 erschossen. Nobilitiert unter Franz Joseph, zum Opfer gefallen dem Österreicher Adolf Hitler, der als deutscher Führer und Reichskanzler die Büchse der Pandora öffnete und dai österreichischen Antisemitismus durch dai „Anschluß" Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland zum vollen und entsetzlichen Ausbruch brachte. Sicher hat auch dabei wieder ein Teil (der Nachkommen) unserer Wirtschaftsbürger profitiert, der andere aber wurde vertrieben, enteignet, vernichtet. Das Ende des Wiener Wirtschaftsbürgertums der Jahrhundertwende als Klasse ist daher mit 1938 anzusetzen.6'

67

Zu diesem Problemkreis Carl E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de siècle. Frankfurt/M., 1982; feiner Allan Janik - Stephen Toulmin, Wittgensteins Wien, München-Zürich 1987, insbes. S. 229-235. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht Hubert Lengauer, Industriellenväter und Literatensöhne. Die konfliktreiche Beziehimg von Literatur und Industrie in Österreich, in: R. Sandgruber, Hg., Magie der Industrie, 1989, S. 86-95. Zu Hofmannsthal: Kat. 1000 Jahre österreichisches Judentum, Eisenstadt 1982, S. 339; Putz, Wirtschaftsaristokratie Bd. 2, S. 396ff. ; Granichstaedten-Cerva/Mentschl/Otruba, Altösterr. Unternehmer, S. 56f.; Eduard März, Österreichische Bankpolitik in der Zeit der großen Wende 1913-1923. Wien 1981, S. 102. 68 Zum Problem Kontinuität und Niedergang des Wiener Bürgertums vgl. Ernst Bruckmüller/Christina Kokkinakis/Elisabeth Ulsperger/ Marie-Tlieres SchwandaAmbom, Bürgertum = Zeitgeschichte 20,1993, Heft 3/4.

Jürgen Schneider WIRTSCHAFTSBÜRGER UND UNTERNEHMER. DIE BEDEUTUNG VON PRODUKT UND AUSBILDUNG AM BEISPIEL DER CHEMISCHEN INDUSTRIE DEUTSCHLANDS UM 1 9 0 0

Vorbemerkung Die Entwicklung der chemischen Industrie und der Hochschulchemie bis 1930 ist von Fritz Haber grundlegend behandelt worden1. Zur schulischen und wissenschaftlichen Ausbildung der Chemiker im Kaiserreich liegen die Studiai von Lothar Burchardt vor2. Dem Unternehmer in der chemischen Industrie des 19. Jahrhunderts ist bisher wenig Aufmerksamkeit zuteil geworden3. Auch die Leitungsstruktur deutscher Großunternehmen ist noch kaum untersucht worden und „eine zeitlich, regional und nach Branchen weit gestreute empirische Untersuchung der tatsächlich vorhandenen Leitungsstile existiert (...) nicht"4.

1

Fritz Haber, The Chemical Industry in the 19th Century, 2nd Ed., Oxford 1969; ders., The Chemical Industry 1900-1930, Oxford 1971; Arthur Binz, Ursprung und Entwicklung der chemischen Industrie, Berlin 1910; HB. Schulze, Die Entwicklung der chemischen Industrie in Deutschland seit 1875,1908. 2 Lothar Burchardt, Die Zusammenarbeit zwischen chemischer Industrie, Hochschulchemie und chemischen Verbänden im Wilhelminischen Deutschland, in: Technikgeschichte 46, 1979, S. 192-211; ders., Die Ausbildung des Chemikers im Kaiserreich, in: Zeitschrift für Untemehmensgeschichte, 23 Jg., Heft 1, 1978, S. 3Iff; ders., Die Förderung schulischer Ausbildung und wissenschaftlicher Forschung durch deutsche Unternehmen bis 1918, in: Wirtschaft, Schule, Universität, hrsg. von Hans Pohl, Wiesbaden 1983, S. 9. 3 1969/70 befaßte sich Wilhelm Treue anläßlich der Büdinger Vorträge mit dem Thema „Unternehmer und Finanziers, Chemiker und Ingenieure in der Chemischen Industrie im 19. Jahrhundert", in: Führungskräfte der Wirtschaft im neunzehnten Jahrhundert 1790-1914, Teil Π, hrsg. von Herbert Heibig, Limburg/Lahn 1977, S. 235ff. ; 1983 widmeten Hans Pohl, Ralf Schaumann und Frauke SchönertRöhlk den Unternehmern der Farbindustrie in ihrer Publikation über „Die chemische Industrie in den Rheinlanden während der industriellen Revolution" ein eigenes Kapitel (S. 160ff). 4 Wolfram Fischer, Dezentralisation oder Zentralisation, kollegiale oder autoritäre Führung? Die Auseinandersetzung um die Leitungsstruktur bei der Entstehung des I.G. Farben-Konzern, in: Rechte und Entwicklung der Großunternehmen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, hrsg. von Norbert Horn, Jürgen Kocka, Göttingen 1979, S. 476.

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Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder in der chemischen Industrie Deutschlands um 1900 sind bisher nodi nicht nach Herkunft, Ausbildung und gesellschaftlicher Position zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Analyse gemacht worden5. I. Der gesamtwirtschaftliche Rahmen Die Studie von Walther G. Hoffmann, Franz Grumbach und Helmut Hesse über das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts (1965) zeigt die langfristigen Tendenzen in der Entwicklung der Gesamtwirtschaft auf6. Die Aufbringungsrechnung geht von dai zwei Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital aus und endet in der Darstellung der Produktion. Die chemische Industrie ist dabei der Gruppe ΠΙ „Industrie und Handwerk" zugeordnet. Industrie und Handwerk konnten ihren Anteil von 20,46% 1850/54 auf 40,90% 1910/13 bei der Aufbringung des Sozialproduktes vergrößern. Im gl ei chai Zeitraum halbierte sich der Anteil des Wirtschaftsbereiches Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei. Die Produktionsaitwicklung innerhalb des Wirtschaftsbereiches Industrie und Handwerk verläuft sdir unterschiedlich (vgl. Tab. 2). Insgesamt kann festgestellt werden, daß die Kapitalgutindustrien im Industrialisierungsprozeß rascher wachsoi als die Konsumgutindustrien. Der Anteil der Konsumgutindustrien am industriellen Gesamtprodukt nimmt laufend ab (Tab. 1). Das deutsche Sozialprodukt lag 1913 weltweit an zweiter Stelle hinter den USA. „Das französische Sozialprodukt wurde Ende der 1870er Jahre, das britische nach der Jahrhundertwende übertreffen."7 Neboi die schon sdt der Take-off-Phase führenden Sektoren Eisoi, Stahl und Maschinenbau trat im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine neue, sich rasch ent5

Aus diesem Grund wurde am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Bamberg an Frau Martina Paul eine Diplomarbeit im Studiengang Geschichte unter dem Titel „Die Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder in der chemischen Industrie Deutschlands um 1900" vergeben. Diese Arbeit wurde 1989 fertiggestellt. 6 Walther G. Hoffmann, Franz Grumbach, Helmut Hesse, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart-New York 1965. 7 Wilfried Feldenkirchen, Wirtschaftswachstum, Technologie und Arbeitszeit von der Friihindustrialisienmg bis zum Ersten Weltkrieg, in: Wirtschaftswachstum, Technologie und Arbeitszeit im internationalen Vergleich, hrsg. v. Hans Pohl, Wiesbaden 1983, S. 91.

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faltende und international gewinnende Investitionsgüterindustrie. „Noch rascher wuchs die chemische Industrie und andere, auf wissenschaftlich - technischer Basis beruhende Industrien, da es Deutschland hier gelang, eine starke Stellung auf dem Weltmarkt zu erreichen, die bei einigen Produkten sogar beherrschend wurde."* Π. Die Chemische Industrie9 Bis etwa 1870 wurde der Handel mit chemischen Erzeugnissen im wesentlichen durch England und in geringerem Maße durch Frankreich bestritten. Die Entwicklung der Teerfarbstoffe, die eine besondere wissenschaftliche Vorbildung erforderte, gab der Industrie nach 1870 einen eigenen Aufschwung. Gleichzeitig verlagerte sich das Schwergewicht nach Deutschland, wo Liebig und Bunsen, dann Hoffmann, Kekulé und Bayer die beste chemische Schulung geschaffen hatten. „Dem Siegeslauf dieser Farbstoffe, die vom Alizarin bis zum Indigo Farben jeden Glanzes und dazu einfache Färbverfahren botai, schlossen sich nicht nur die mit Liebreichs Chloral und Knorrs Antipyrin begonnenen synthetischen Heilmittel an, sondern auch eine vorher unbekannte Durcharbeitung und Ausdehnung der Apparaturen."10 Weitere Etappen waren: (1) Chlorfabrikation mittels elektrolytischer Zerlegung einer Salzlösung durch Griesheim-Elektroden. (2) In den 1890er Jahren Knietschs vollendete Apparatur zur Erzeugung wasserfreier Schwefelsäure mittels Verbrennung der Schwefelgase über Platinkontakten. (3) Die Bindung des Luftstickstoffes zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch den Norweger Birkeland in der elektrischen Flamme, durch Frank und Caro im Kalkstickstoff, durch Haber und Bosch in der Vereinigung von Stickstoff und Wasserstoff zu Ammoniak. In anderen Ländern erfolgte eine Ausdehnung der aitai chemischen Verfahren und die Begründung neuer Fabrikationen. 8

Feldenkirchen, S. 91. Die Ausführungen dazu basieren auf Quincke, Chemische Industrie, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl., 3. Band, Jena 1926; Fritz Haber, Hie Chemical Industry 1900-1930, Oxford 1971. 10 Quincke, S. 168. 9

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Zu nennen sind hier: (1) Der Nordamerikaner Wilson schuf 1892 mittels des elektrischen Ofens die Karbidfabrikation. (2) Heroult in der Schweiz und Hall in dai Vereinigten Staaten lösten die Herstellung des Aluminiums durch elektrolytische Zerlegung der Tonerdeschmelze. Diese Erfindungen wurden für die Länder wichtig, die mit Hilfe von Wasserkräften billig elektrischen Strom erzeugen konnten (Alpenländer, Skandinavien, USA). (3) Chardonnet gelang in Besançon erstmals die Fabrikation künstlicher Seide. Die internationale Lage der chemischen Industrie am Vorabend des Ersten Weltkrieges wird so charakterisiert: „Die intensivste Ausdehnung nach allen Richtungen hat die chemische Industrie in Deutschland erreicht. Aber England hatte immerhin seine aitai, anorganischen Fabrikationen voll behalten, und die Vereinigten Staaten waren in Großproduktion und Metallurgie stark entwickelt. Frankreich war trotz der alten Riechstoffindustrie und den neuen Elektrobetrieben nicht nur in Teerfarben zurückgeblieben, während Italien und Österreich von jeher eine verhältnismäßig schwache chemische Industrie besaßen."11 Die deutsche Chemie stellte 1913 mit ihren Auslandsfilialen 88% der Teerfarbenproduktion der Welt her. Prof. Dr. Carl Bosch (geb. 27.8.1874 in Köln a.Rh.), der 1899 als Chemiker bei den Badischen Anilin- und Sodafabriken, Ludwigshafen, in die Indigoabteilung von Rud. Knietsch eintrat und mit Haber die synthetische Darstellung von Ammoniak (Haber-Bosch-Verfahren) ausarbeitete, zeigte die Eigenart der deutschen chemischen Industrie in einem Vortrag, den er auf der Hauptversammlung des Vereins deutscher Chemiker zu Stuttgart 1921 hielt, auf: „Fernerstehende, wohl auch ein Teil unserer Arbeiter selbst, sehen zwischen der chemischen Industrie und allen anderen Industrien keinen Unterschied. Und doch zeichnet die deutsche chemische Industrie eines besonders aus, und zwar nicht absolut genommen, sondern qualitativ, das ist der Geist der Wissenschaft, der bei uns herrscht, bei uns herrschen muß (...) Jede neue Erfindung ist heute mehr denn je die Frucht angestrengtester wissenschaftlicher Untersuchungen, die sich oft über lange Jahre erstrecken und die letzten Endes nur zum allerkleinsten Teil wirklich zum Ziele führen. Rechnete man doch bei uns damit, daß von je hundert Patentai, die genommen werden, nur etwa 11

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eines verwertbar ist, und von diesai verwertbaren sind nur die wenigsten wirkliche Schlager. Um aber eine intensive wissenschaftliche Forschung zweckmäßig und mit Aussicht auf Erfolg zu betreiben, muß man unbedingt von vornherein mit der notwendigen Kritik einsetzen. Gewiß, zum Erfinden gehört Phantasie, und viele sind nicht berufen, weil es ihnen daran fehlt. Dafür sind bei anderen die Ideen um so reichlicher vorhanden, während es ihnen an der kritischen Anlage der richtigen Einschätzung und Abwägung fehlt. Da heißt es, die Spreu vom Weizen sondern und, ohne die Schaffensfreudigkeit einzudämmen, die Arbeit in richtige Bahnen lenken. Ist nun ein neues, brauchbares Verfahren im Laboratorium entstanden, dann soll es auch in den Betrieb überführt werden. Bei Produkten, die nur in kleinerem Umfange kiloweise hergestellt werden, unterscheidet sich die Arbeit des Betriebes nicht wesentlich von der des Laboratoriums. Ganz anders werden die Verhältnisse aber, wenn Produkte der Großindustrie in Frage stehen. Dann häufen sich die Schwierigkeiten, dann tauchen Fragen aus allen technischen Gebieten auf. Die Chemie tritt zeitweise scheinbar ganz in den Hintergrund. Es gilt zunächst, in immer größerem Maßstab zu arbeiten. Bei jedem Versuch gibt es neue Fragen und neue Schwierigkeiten. Ein Apparat nach dem anderen wandert auf den Eisenplatz, die Begräbnisstelle, die in jeder Fabrik Zeugnis ablegt von fehlgegangenen Hoffhungen und den Anstrengungen und Opfern, die gebracht wurden, um Fortschritte zu erzielen. Ist nun auch diese Epoche überwunden, sind noch Aussichten auf einen kommerziellen Erfolg vorhanden und soll endlich eine definitive Anlage gebaut werden, dann beginnt erst recht eine Periode neuer Überlegungen und neuer Schwierigkeiten. Finanzierung, Rohmaterialbeschaffung, Energieerzeugung, Transport, Arbeiterfragen, Wasser- und Abwasserdispositionen der ganzen Anlage stellen Fragen, die gut oder schlecht gelöst werden können; doch hängt so unendlich viel von der mehr oder weniger guten Lösung ab. Dabei geht nebenher die Auswahl für die Zusammensetzung der Menschenorganisa- tion, wohl die schwierigste Aufgabe, die gelöst werden muß. Ist dann alles glücklich vollendet und allen Schwierigkeiten zum Trotz eine Anlage in Gang gekommen, dann kommen wiederum neue Aufgaben. Verbesserungen müssen gesucht und durchgeführt werden, Fehler, die gemacht wurden, mit großen Opfern beseitigt, unablässig und weiter gearbeitet werden; denn die Konkurrenz ruht nicht. Neue Kon-

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stellationen zwingen, die ganze Disposition umzustoßen und sich neuen Verhältnissen anzupassen. Von einem Ausruhen auf dai Lorbeeren ist nie und nimmer die Rede. Je mehr die Anlagen wachsen, umso größer werden die Aufgaben, die immer neu entstehen. Mit größter Schnelligkeit müssen alltäglich Entschlüsse von größter Tragweite technischer, finanzieller und kaufmännischer Natur gefaßt werden. Damit dann aber auf dem Urgrund der wissenschaftlichen Forschung neue Grundsteine aufgebaut und alte Gewerbe modernisiert werden können, bedarf es der Wirksamkeit von Männern, die die in den Ergebnissen der Forschung verborgenen Möglichkeiten erkennen können, die die technische und wirtschaftliche Durchführbarkeit der betreffenden chemischen Prozesse nachweisen, ja die in vielen Fällen erst im Publikum das Bedürfnis für die neuen Erzeugnisse hervorzurufen vermögen. Denn die Seele jeder Unternehmung liegt immer bei einzelnen Persönlichkeiten, und wehe ihnen und den Unternehmern, wenn sie von ihrer eigenen Organisation unterdrückt werden."12 ΙΠ. Theoretische und empirische Grundlegung In der Betriebswirtschaftslehre sind seit den 60er Jahren Konzepte über die Produktlebenszyklen erarbeitet worden. W. Pfeiffer und P. Bischof entwickelten ein integriertes Produktlebenszyklus-Konzept.13 Der Begriff „Lebenszyklus" wird von Wissenschaft und Praxis zum Teil zur Kennzeichnung der marktlichen Entwicklung eines Produktes aber auch zur Beschreibung seiner Entstehung im Unternehmen und der Marktentwicklung verwendet.14 Im Entstehungszyklus eines Produktes kommt der technologischen Voraussage eine entscheidende Rolle zu. „Technologische Voraussage ist nur möglich im Zusammenwirken von Prognosen bzw. Projektwissen deduktiven Charakters mit schöpferischen bzw. kreativen Prozessen."15 Unter technologischer Voraussage wird dabei eine „Aussage über die zukünftige Entwicklung der Technik" verstanden. „Die Bedeutung 12 Berthold Rassow, Die chemische Industrie. Die deutsche Wirtschaft und ihre Führer. Erster Band, Gotha 1925, S. 77-79. 13 Werner Pfeiffer, P. Bischof, Einflußgrößen von Produkt-Marktzyklen, Nürnberg 1974. 14 Ebd., S. 36. 15 Werner Pfeifler, Erich Staudt, Das kreative Element in der technologischen Voraussage. Methodische Ansätze zu seiner Bewältigung, in: ZfB, 42.Jg., 1972, S. 853ff.

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technologischer Voraussagen für das einzelne Unternehmen liegt insbesondere in der Fixierung von Produktzielen bzw. in der Eingrenzung möglicher zukünftiger Tätigkeitsgebiete im Rahmen der langfristigen Unternehmensplanung. Daraus ergibt sich dann im Vergleich mit der derzeitigen Unternehmensstruktur das Forschungsprogramm des Unternehmens und damit letztlich auch sein künftiges Produktionsprogramm."16 Wie revolutionierend die naturwissenschaftlich-technische Entwicklung auf die Stahlerzeugung in Rheinland-Westfalen im Zeitraum 1830-1940 wirkte, sei hier als Beispiel angeführt. Um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts wurde das bis dahin ausschließlich bekannte Rainfeuerverfahren durch das Frischeisenverfahren ersetzt. Um 1830/40 wird in Rheinland-Westfalen das Puddeleisenverfahren eingeführt, dessen Jahresproduktionen so schnell ansteigen, daß sie den Abfall der Frischeisenerzeugung weit überdecken. „Und wiederum 20 Jahre bevor das Puddeleisen mit fast 1 Million Jahrestonnen seine höchste Jahreserzeugung erreicht hat, wird die Flußstahlerzeugung eingeführt, die ebenfalls so steil ansteigt, daß die Gesamtproduktion an allai drei Verfahren, wie sie um 1860 gemeinsam betrieben werden, das Absinken der Puddeleisenerzeugung überdeckt."17 Bei der technologischen Voraussage spielt der kreative Prozeß, das schöpferische Denken eine zentrale Rolle1'. „Kreative Leistung wird häufig mit schöpferisch hochbegabten Persönlichkeiten verbunden, aber es ist nicht nur das seltene Genie Motor der Entwicklung, sondern die zahlreichen kleinen Verbesserungen und Erfinder sorgen für eine gewisse Kontinuität. Dennoch ist kreative Produktivität eine relativ seltene Erscheinung."19 Eine schöpferische, hochbegabte Persönlichkeit in der chemischen Industrie war Carl Friedrich Dulsberg (1861-1935). Nach dem Abitur als 16jähriger an der Oberrealschule in Elberfeld, mit 21 Jahren dem Doktorgrad in Chemie an der Universität Jena, Eintritt 1883 als Chemiker bei den Farbenfabriken Bayer in Elberfeld, nach mehreren Farbstofferfindungen Prokura, Leitung der wissenschaftlichen Versuche, dem Ausbau des Erfindungsschutzes durch Patente, wurde er richtungsgebend für die gesamte chemische Großtechnik. Als Vorstandsmitglied der Farbenfabriken Bayer regte er im September 1903 auf Grund von Beobachtungen und Erfahrun16

Pfeiffer/Staudt, S. 853ff. Karl Daeves, Vorausbestimmungen im Wirtschaftsleben, Essen 1951, S. 67. 18 Vgl. Hermann Schüller, Forscher zwischen Traum und Tat, Berlin-Ulm 1943. 19 Pfeiffer/Staudt, S. 853ff. 17

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gen einer Amerikareise den Zusammensehluß der deutschen Farbenfabriken an. Nach einer Denkschrift darüber vom Januar 1904, beschleunigte er später in zwei Etappen 1916 und 1925 den Zusammenschluß zur Interessengemeinschaft Farbenindustrie, nach 1918 übernahm Dulsberg immer mehr Aufgaben im öffentlichen Leben (Deutsches Museum in München, Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft, Hilfe für Studenten, Sozialpolitik). Er erhielt Ehrendoktorwürden von Dresden, München, Bonn, Tübingen, Heidelberg, Köln, Berlin und Marburg. Waren die deutschen Chemiker zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch nach Paris und London gereist, um sich fachlich weiterzubilden, so reiste Dulsberg in die USA20. 1908 sah Dulsberg den Höhepunkt auf dem Gebiet der Farbstoffe erreicht. Er suchte nach dem „Neuen, das sich seit einigen Jahren anbahnte und vielleicht geeignet war, die Lage der chemischen Industrie wesentlich umzustellen und zu ändern. Zwei dieser Probleme erschienen ihm besonders wichtig: der Stickstoff aus der Luft und der synthetische Kautschuk."21 Damit antizipierte Dulsberg die zukünftige technische Entwicklung. Diese Früherkenntnis konnte nun in die zukunftsbezogene Unternehmensstrategie umgesetzt werden, d.h. Forschung (Laborversuche) und Entwicklung mußten in den beiden Zukunftsbereichen intensiviert werden. Das langfristige Unternehmenswachstum wird nur durch permanente Produktinnovation gesichert. Klaus Brankamp unterscheidet bei den Ertragsentwicklungen eines Unternehmens zwischen dem Ertrag aus heutigen Märkten und Produkten und dem Ertragsziel. Zwischen beiden liegt die Zukunftslücke, die aus der „Leistungslücke" und der strategischen Lücke" besteht. Die Leistungslücke ist im wesentlichen ein Betriebs- und Marketingproblem, die strategische Lücke dagegen ein Problem neuer Produkte und neuer Markte22. Die Analyse der Unternehmenspolitik der chemischen Fabrik Griesheim in der Großen Depression zeigt, daß die Unternehmensfüh-

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Die Bedeutung von Auslandsreisen deutscher Unternehmer kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Vgl. Martin Schumacher, Auslandsreisen deutscher Unternehmer 1750-1851 unter besonderer Berücksichtigung von Rheinland und Westfalen, Köln 1968. 21 Hans-Joachim Flechtner, Carl Dulsberg. Eine Biographie, Düsseldorf 1981, S. 223; Carl Dulsberg, Die Wissenschaft und Technik in der chemischen Industrie mit besonderer Berücksichtigung der Teerfarben-Industrie, in: Zeitschrift für angewandte Chemie, 25, 1912, Heft 1, S. 3ff. Klaus Brankamp, Planung und Entwicklung neuer Produkte, Berlin 1971, S. 20.

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rung die strategische Lücke erkannte und entsprechend handelte23. In dem analysierten Zeitraum 1873-1891 bestanden in hohem Maße ältere wachstumsschwächere und neuere wachstumsorientierte Industriezweige nebeneinander. Die Unternehmensleitung erkannte die Schwäche und suchte „engagiert und unermüdlich ihre eigene Position wieder zu verbessern"24. Dazu gehörte das Abstellen von kaufmännischen und technischen Mangeln und eine Qualitätsverbesserung der eigenen Produkte. „Die konjunkturellen Schwierigkeiten (...) bedeuteten noch lange keine „Große Depression" oder „Große Stagnation". Im Gegenteil, das Unternehmen zeichnete sich durch Wachstumsbereitschaft und -fahigkeit aus. Sein Optimismus blieb ungebrochen, zumal die Chance genutzt werden konnte, vor geschäftlichen Mißerfolgen in einem Produkt auf andere Produkte auszuweichen"25. Die Produktinnovation hatte für die chemische Industrie eine zentrale Bedeutung. Ein neues Produkt brachte zunächst hohe Gewinne, die jedoch im Strudel der Konkurrenz zurückgingen. Die Preise für Teerfarben sanken enorm: 1 kg 100%iges Alizarin kostete 1869 270 Mark, 1902 6,3 Mark.26 Mit Hilfe der Patentgesetzgebung wurde das Herstellungsverfahren geschützt. Eine deutsche Patentstatistik gibt es erst nach der Gründung des Reichspatentamtes im Jahre 1877.27 Walter G. Hoffmann hat ermittelt, daß zwischen 1878 und 1913 jede Steigerung der Patenterteilungen pro Jahr um 1% eine Steigerung der Arbeitsproduktivität um 0,35% erbrachte.28 Der Anteil der in der Chemischen Industrie gehaltenen Patente stieg im Betrachtungszeitraum von 3,95% (1878) auf 11,05% (1913). Vergleicht man das Wachstum des gesamten Zeitraums nach Stückzahlen, so betrug die 23

Zum Problem Managementwissenschaften und Geschichte grundsätzlich Dieter Schneider, Managementfehler durch mangelndes Geschichtsbewußtsein in der Betriebswirtschaftslehre, in: Zeitschrift fur Untemehmensgeschichte, 29. Jg., 1/1984, S. 114-130; Wolfram Fischer, Unternehmensgeschichte und Wirtschaftsgeschichte. Über die Schwierigkeiten, mikro- und makroökonomische Ansätze zu vereinen, in: Histórica socialis et oeconomica. Festschrift für Wolfgang Zorn zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Hermann Kellenbenz und Hans Pohl, VSWG Beiheft 84, Wiesbaden-Stuttgart 1987, S. 61 flf. 24 Wilfried Forstmann, Die Chemische Fabrik Griesheim in der „Großen Depression", in: Zeitschrift für Untemehmensgeschichte, 26. Jg., Heft 1, 1981, S. 48. 25 Ebd. 26 Alfred Weber, Über den Standort von Industrien, Π. Teil, Die deutsche Industrie seit 1860, Heft 2. Chemische und Farben - Industrie. Von Carl Christiansen, Tübingen 1914, S. 24. 27 Hoffmann, S. 264. 28 Ebd.S. 29.

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Steigerung bei Handwerk und Industrie 212%, in der Chemie jedoch 773% (vgl. die Stückzahlen in Tab. 1 und die Graphik: Erteilte Patente). Man kann daraus schließen, daß die Arbeitsproduktivität in der Chemie überdurchschnittlich hoch anstieg. Im Jahre 1882 waren in der Chemie 86.000 Maischen beschäftigt. Bis zum Jahre 1913 stieg die Beschäftigtenzahl auf 290.000 an, sie wuchs also um 237%. Im gesamten Handwerk und der Industrie waren die entsprechenden Vergleichszahlen: 5.580.000, 10.857.000, 95%.29 Geht man von einer überproportional hohen Arbeitsproduktivität und dem starken Wachstum der Beschäftigtenzahl in der Chemie aus, so erklären sich dadurch die Daten der Produktionsindices (siehe Tab. 1 und Graphik: Produktionsindices).30 Die erteilten Patente pro Jahr stiegen nach 1892 auf ein höheres Niveau, d.h. die Forschungsintensität hat sich offenbar erhöht. Die gleiche Feststellung kann man für den Zeitraum nach 1900 treffen. Jeweils etwa drei Jahre danach stieg auch das Produktionsniveau, wobei die Verweilzeiten je Niveaulage kürzer werden. Der Exportabsatz stieg in gleichem Maße wie die Produktion (vgl. Tab. 1). Folglich dürfte auch der Inlandsabsatz in diesem Trend liegen. Das Kennzeichen einer dynamischen und hochinnovativen Branche ist die steigende Konkurrenz bei freiem Marktzugang. Die hohen Gewinne, realisiert durch hohe Preise, stellai einen starken Anreiz für potentielle Konkurraiten dar. Im Wettbewerb zwischen Innovator und Imitatoren werden höhere Mengen produziert, dadurch kommt es zum Preisverfall (vgl. Tab. 1 und Graphik: Exportvolumen/-preis-Index). Wertmäßig bleibt dadurch der Exportanteil der Chemie am Export von Handwerk und Industrie relativ stabil (vgl. Tab. 1 und Graphik: Exportwerte). Mit diesen Daten und Graphiken kann somit der typische Schumpeter-Fall des dynamischen Unternehmers illustriert werden31. Auch die Kapitaleinlagen bei Aktiengesellschaften passai in das geschilderte Muster. Sie steigen in der Chemie l,5fach schneller als in der Vergleichsgruppe; ein Vorgang, der durch die Notwendigkeiten großtechnischer Fertigung erklärt werden kann. Vergleicht man die wichtigsten Indikatoren der Tabelle miteinander, so erhärtet sich das oben Ausgeführte über die hohe Produktivität der chemischen Industrie in diesem Zeitraum. Relativ zum Kapitalanteil 29

Hoffmann, Tab. 15, S. 196ff. Eine Nettoproduktionswertstatistik gibt es in Deutschland erst ab 1936. Hoffmann, S. 389. 31 Joseph A. Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 5. Auflage, Berlin 1952, S. lOOff. 30

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der Chemie an der Summe des Aktienkapitals der Gesellschaften der Vergleichsgruppe ist sowohl der Exportanteil als auch der Patentanteil deutlich höher (vgl. Graphik: Produktivitätsindikatoren). Die Komplexität in der chemischen Industrie war schon seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts so groß, daß sie von einem NichtChemiker, von einem Nur-Praktiker nicht mehr überblickt werden konnte. Die chemische Industrie stellte deshalb für Führungsaufgaben immer mehr akademisch ausgebildete Chemiker ein, die dann auch teilweise in dai Vorstand und Aufsichtsrat der Aktiengesellschaften aufrückten. „Die Novelle (des Aktiengesetzes) von 1884 betonte die Pflicht und Befugnis des Aufsichtsrates zur Überwachung der Geschäftsführung (Art. 225), ebenso das HGB von 1900 (§ 246). Die Rechtssprechung entschied, daß der Aufsichtsrat nicht befugt sei, in die Geschäftsführung des Vorstandes durch Weisungen einzugreifen."32 Das Recht der Abberufung des Vorstands stand dem Aufsichtsrat aufgrund der Statuten in zahlreichen Fällen zu. Rathenau bezeichnete 1917 folgende, trotz aller berechtigten Kritik verbleibenden positiven Funktionen des Aufsichtsrats: „Ein gewisses Gegengewicht gegen die Geschäftsleitung als potentielle Kontrollinstanz, Beratungstätigkeit, Krisenmanagment und Selektion des Führungsnachwuchses."33 Das Geschäftsführungsorgan der Aktiengesellschaft war der Vorstand. Er hatte die Aufgabe, die Unternehmenspolitik auf nahe und weite Sicht festzulegen. Die Unternehmensstrategie, die große Linie der in die Zukunft gerichteten Aufgaben, wurde vom Vorstand festgelegt. „Nur der Vorstand als Einheit vertritt und regiert die Aktiengesellschaft."34 In Salings Börsen-Jahrbüchern der Jahre 1898/99, 1902/03, 1906/07, 1909/10 und 1912/13 sind unter der Rubrik „Chemische Fabriken, Farbwerke, Salinen" insgesamt 48 Aktiengesellschaften und zwei Gesellschaften mit beschränkter Haftung für das Deutsche Reich aufgeführt. Martina Paul hat in ihrer Bamberger Diplomarbeit (1989) die Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder nach geographischer Herkunft, Ausbildung, bekenntnismäßiger Herkunft und sozialem Werdegang untersucht. 32

Norbert Horn, Aktienrechtliche Unternehmensorganisation in der Hochindustrialisierung (1860-1920). Deutschland, England, Frankreich und die USA im Vergleich, in: Horn / Kocka, S. 145. 33 Ebd., S. 153. 34 Ring, durchgesehen von J. Schwandt, 'Aktiengesellschaften', in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4., gänzlich umgearbeitete Auflage, 1. Band, Jena 1923, S. 105.

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Von 1898/99 bis 1912/13 stieg der Anteil der promovierten Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder in der chemischen Industrie von 23,6% auf 32,5%. Der Anteil der Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder, deren Ausbildung bekannt war, lag zwischen 19,1% (1898/99) und 29,1% (1912/13). 1898/99 hatten 64,71% der Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder, bei denari die Berufsausbildung bekannt ist, ein Studium absolviert; 1912/13 waren es 73,11%. Zweidrittel bis Dreiviertel der akademisch ausgebildeten Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder hatten promoviert. Wein man die Verteilung der Promovierten auf die einzelnen Fächer näher ansieht, so fallt auf, daß bei den Naturwissenschaften der Anteil weit höher lag als z.B. bei den Rechtswissenschaften. Als repräsentatives Beispiel sei der Anteil der promovierten Chemiker an den Chemikern insgesamt aufgeführt: 1898/99 1902/03 1906/07 1909/10 1912/13

75,00% 84,62% 92,00% 97,14% 92,11%

Max Weber hat bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf die wachsende Bedeutung des Fachwissens und das Vordringen des spezifisch geschulten Fachmenschen hingewiesen. Die Tendenz ging sehr stark zur fachlichen Ausbildung hin, und zwar vor allem zum Studium. Für den Zeitraum von 1800 bis 1875 konnten H. Pohl, R. Schaumann und F. Schönert-Röhlk die berufliche Herkunft von 98 Unternehmern der chemischen Industrie in den Rheinlanden feststellen35. Von diesen Unternehmern hatten nur 18% ein Studium absolviert, 1912/13 waren es 74%. Der Anteil der Unternehmer mit einem Studium hatte sich also vervierfacht. Der Anteil der Apotheker und Chemiker betrug bei Pohl/Schaumann/Schönert-Röhlk 12%, von 1898/99 bis 1912/13 verfünffachte sich der Anteil der Chemiker, Naturwissenschaftler und Apotheker an den Vorständen.

35

Hans Pohl, Ralf Schaumann, Frauke Schönert-Röhlk, Die chemische Industrie in den Rheinlanden während der industriellen Revolution, Bd. 1 : Die Farbenindustrie, Wiesbaden 1983, S. 167.

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IV. Resümee Das Umsatzwachstum bei stark expandierenden Industriai wird in erheblichem Maße von neuen Produkten bestimmt, da Teile des Produktionsprogramms veralten und abgelöst werden. Langfristiges Untemehmenswachstum wird nur durch permanente Produktinnovation gesichert. Die Betriebswirtschaftslehre versucht diese Problematik von zwei Seiten aus anzugdien, vom Produktlebenszyklus, der Planung und Entwicklung neuer Produkte, und von dai Unternehmensgrundsätzen. Eduard Gabele und Helmut Kretschmer unterscheiden drei typische Funktionen von Unternehmensgrundsätzen :36 - Unternehmensgrundsätze als unternehmenspolitische Leitbilder, - Unternehmensgrundsätze als Instrument der organisationsstrukturellen Transformation, und - Unternehmensgrundsätze als Input der strategischen Planung. In dai Forschungsleitlinien der BASF heißt es: „Innovation, Substitution und Verfahrensfortschritte sind die Voraussetzung für den Erfolg eines Unternehmens der chemischen Industrie. Die BASF hat durch hohe wissenschaftlich-technische Leistungai in der Vergangenheit auf vielai Gebieten Neuland betreten und dadurch wirtschaftlichen Erfolg errungai."37 Die Analyse der Unternehmenspolitik von Aktiengesellschaften der chemischen Industrie um 1900 zeigt, daß die chemische Großindustrie bereits vor rund 100 Jahrai nach diesen Leitliniai handelte.

Eduard Gabele, Helmut Kretschmer, Unternehmensgrundsätze. Empirische Erhebungen und praktische Erfahrungsberichte zur Konzeption, Einrichtung und Wirkungsweise eines modernen Führungsinstrumentes, Frankfurt/Main 1986, S. 13. 37 Ebd., S. 263.

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Anhang Die chemische Industrie in Relation zu Industrie und Handwerk Tab. 1

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