Wie viele Arten braucht der Mensch?: Eine Spurensuche 9783205790709, 9783205785163


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Wie viele Arten braucht der Mensch?: Eine Spurensuche
 9783205790709, 9783205785163

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Grüne Reihe des Lebensministeriums Herausgegeben vom Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft, Wien

Band 22

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Wie viele Arten braucht der Mensch? Eine Spurensuche Mit Beiträgen von Michaela Arndorfer Peter Blauensteiner Beate Berger Gabriele Falschlunger Franz Fischerleitner Waltraud Froihofer Roland Gaber Wolfgang Holzner Bernd Kajtna Beate Koller Monika Kriechbaum Michael Machatschek Marta Neunteufel Friederike Spitzenberger Michael Stachowitsch Erich Stekovics Christian Vogl Brigitte Vogl-Lukasser Ruth Maria Wallner Alois Wilfing Peter Zipser

Böhlau Verlag Wien . Köln . Weimar

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Unter Mitarbeit von: Siegfried Bernkopf, Paul Freudenthaler, Helmut Götz, Wilhelm Graiss, Christian Holler, Wolfgang Kainz, Bernhard Krautzer, Doris Lengauer, Günter Linecker, Peter Modl, Wolfgang Palme, Christian Partl, Siegfried Quendler, Thomas Rühmer, Andreas Spornberger, Michael Suanjak, Karl Vogl, Johann Vollmann, Lothar Wurm

Coverabbildung: R. M. Wallner Gesamtredaktion der Grünen Reihe: Dr. Ruth M. Wallner, Lebensministerium

www.lebensministerium.at Gedruckt mit Unterstützung durch das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung

Der Inhalt des vorliegenden Buches gibt die Meinung der Autoren wieder und muss nicht mit der der Herausgeber übereinstimmen. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek. Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78516-3 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2010 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H. & Co. KG, Wien · Köln · Weimar http://www.boehlau.at http://www.boehlau.de Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck: General Druckerei, Ungarn

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Inhalt

Vorwort · Umweltminister Nikolaus Berlakovich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Zum Einstieg · Ruth M. Wallner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

1. Wozu Artenschutz? · Friederike Spitzenberger



Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Art Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Reich der anderen Arten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichte der Mensch-Natur-Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichte des Naturschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wozu Artenschutz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Warum greift der Artenschutz nicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Bedrohte Tiere als Nahrungsquelle: Fallbeispiel Wale ·



Michael Stachowitsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

3. Wildkräuter als Nahrung: eine allgemeine Übersicht europäischer Wildkräuter für Nahrungszwecke · Michael Machatschek

1. 2. 3.

Die Artenvielfalt ist die Basis hinkünftiger Lebensmittelsicherstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Vorläufige Übersicht ehemaliger oder nach wie vor im Gebrauch stehender Nutzpflanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 2.1. Blattnutzung für Rohkost und Salate . . . . . . . . . . . . . . . 73 2.2. Sprossgemüse, Blütensprosse, junge Stängel und Blattstiele . . . . 79 2.3. Nutzung der Blütenknospen, Blütenböden und Blüten . . . . . . 83 2.4. Grüngemüse für die Kochnutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 2.5. Unmittelbare und Ölnutzung aus Samen und Fruchtbildungen . . 96 2.6. Gräser und Grassämereien als Spätsommernutzungen . . . . . . 100 2.7. Die Nutzung der Wurzel und Wurzelspeicherorgane . . . . . . . 103 2.8. Die Nutzung der Wurzeln von Gräsern und Gräserblütigen . . . 113 2.9. Pflanzen zum Erhalt von Süßungsmitteln und Stärke . . . . . . . 114 2.10. Nutzungshinweise über die Wasserpflanzen . . . . . . . . . . . . 115 Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116

4. Über die Vielfalt der Wildobst- und Gehölznutzungen: Beispiele des Nahrungserwerbs im mitteleuropäischen Raum · Michael Machatschek



1. Nutzung der Wildfrüchte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 2. Die Nutzung der Nussfrüchte und Baumsamen . . . . . . . . . . . . . . 139 1. Wenn Alleen ins Alter wachsen

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3. Die Gehölznutzungen Laub, Knospen und Rinde als Nahrungsmittel . . . 143 4. Baumwasser zur Gewinnung von Süßstoffen . . . . . . . . . . . . . . . 146

5. Gegen jedes Leiden ist ein Kraut gewachsen … – ein Argument für die Erhaltung der Biodiversität? · Monika Kriechbaum . 151 6. Kulturpflanzenerhaltung mit ARCHE NOAH

1. Entstehung, Gefährdung und Erhaltung der Kulturpflanzenvielfalt · Bernd Kajtna . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mensch und Kulturpflanze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturpflanzen im österreichischen Rechtssystem . . . . . . . . . . . . . Kulturpflanzenvielfalt in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vielfalt an Sorten 176 Wie kann die Kulturpflanzenvielfalt erhalten werden? . . . . . . . . . . . On-Farm-Erhaltung in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ex-situ-Erhaltung 181 Das ARCHE-NOAH-Erhalternetzwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rollenverteilung im Netzwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Generierung von Erfahrungswissen und Weitergabe im Netzwerk · Peter Zipser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Auf der Suche nach dem verloren gegangenen Geschmack · Erich Stekovics 188 4. „Grubenkraut“ und die Verwendung samenfester regionaler Krautsorten · Waltraud Froihofer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Genbanken (Ex-Situ-Erhaltung) in Österreich · ARCHE NOAH . . . . .

169 169 170 173 176 178 180 181 185

187 191

6. Gentechnik und pflanzengenetische Ressourcen · Beate Koller . . . . . . . 203

7. Ackerbohne und Herbstrübe – Feldstudie zu Lokalsorten in Tirol · Brigitte Vogl-Lukasser, Christian Vogl, Peter Blauensteiner, Gabriele Falschlunger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 8. Kraut-Landsorten in Österreich. Eine Spurensuche im Tullnerfeld · Michaela Arndorfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221



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9. Obstsortenvielfalt in Niederösterreich · Roland Gaber . . . . . . . . . . . 225

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10. Die Pöllauer Hirschbirne – EU-Herkunftsschutz zur Erhaltung einer alten Streuobstsorte · Alois Wilfling . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 7. Domestikation und alte Haustierrassen · Beate Berger



Vom Wildtier zum Haustier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haussäugetiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hausgeflügel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Insekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neu domestizierte Tiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gezähmte Wildtiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einige Unterschiede zwischen Wildtier und Haustier . . . . . . . . . . . . . Haustiere in Kunst und Mythologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entstehung von Rassen und Schlägen bei Haus- und Nutztieren . . . . . . . Rassebegriff in der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die bedrohte Vielfalt der Haustiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neue Aufgaben für alte Rassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seltene und erhaltungswürdige Nutztierrassen Österreichs . . . . . . . . . . .

235 236 239 241 241 242 243 243 247 251 252 253 254 255

8. Agrodiversität – ein Konzept, sich auf das Unvorhersehbare vorzubereiten



· Marta Neunteufel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

9. Von Arten und Unarten: Taxonomie und Naturschutzpraxis



· Wolfgang Holzner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307



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Vorwort

Mit der provokanten, aber rhetorisch gestellten Frage, wie viele Arten der Mensch für sein Wohlergehen brauche, möchte ich einen weiteren Baustein in meine steten Bemühungen um nachhaltige Artenvielfalt setzen. Das Erscheinen dieses 22. Bandes der Grünen Reihe des Lebensministeriums fällt nicht zufällig mit der bisher größten Artenschutzkampagne Österreichs „vielfaltleben“ im Jahr 2010 zusammen. Ein fachlich breit fundiertes Autorenteam zeigt zahlreiche Möglichkeiten für einen verantwortungsvollen Umgang mit unserer Umwelt und den Lebewesen auf und erläutert neue, selten bedachte, umweltschonende Verwertungsbereiche. Um biologische Vielfalt zu erhalten und zu fördern, unterstütze ich ländliche Regionalentwicklung ebenso wie etwa das Einrichten von Schutzgebieten, Biosphären-, Natur- und Nationalparks: Da regionale Wertschöpfung, Lebensqualität und Artenreichtum unmittelbar miteinander verknüpft sind, trägt ökologisch nachhaltiges Wirtschaften zugleich zur biologischen Vielfalt bei und ist umgekehrt jeder Einsatz für den Artenschutz auch ein Beitrag zur Sicherung unserer Lebensgrundlagen. Das Internationale Biodiversitätsabkommen, dem Österreich verpflichtet ist, schließt daher den Schutz von wild lebenden Pflanzen und Tieren ebenso mit ein wie das kulturelle Erbe, das alte Kulturpflanzensorten und Haustierrassen darstellen. Diesem Themenspektrum entspricht auch die Breite dieses Buches. Es bietet Beiträge für praktische Entscheidungshilfen beim täglichen Einkauf ebenso wie die Einsicht, warum der biologischen Art Homo sapiens in einer ökologisch vernetzten Welt die Ausgrenzung scheinbar nutzloser Arten grundsätzlich nicht möglich ist. Umweltminister Nikolaus Berlakovich

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Zum Einstieg Ruth M. Wallner

Gemessen an der Anzahl von Wildpflanzen- und -tierarten ist diejenige, die vom Menschen heute genutzt wird, insbesondere die seiner Haustiere und Kulturpflanzen, verschwindend gering. Selbst die Futterarten der Haustiere dazugerechnet, vermögen dieses Ungleichgewicht nicht nennenswert abzuschwächen. Kann man daraus schließen, dass die menschliche Spezies gar nicht so viele Arten um sich herum benötigt, wie Naturschützer uns gerne wissen lassen? Oder zielt die Frage, wie viele Arten der Mensch braucht, am Eigentlichen vorbei? Spiegelt sich darin doch eine unsympathisch anthropozentrische Position – Arroganz, wie Friederike Spitzenberger meint. In ihrem Beitrag skizziert sie die Hintergründe, die zu genau dieser Haltung in unserer Zivilisation geführt haben, zugleich aber zu den Ursachen für deren vermeintlichen Erfolg gehören. Die Begrenztheit der Dinge eröffnet sich erst an deren Grenze. Wiewohl uns die Endlichkeit naturgegebener Ressourcen inzwischen global bekannt ist, scheint die Spezies Mensch – evolutionär betrachtet – die geeignete Anpassung immer noch nicht erworben zu haben. Anstatt aber weiterhin nur auf das Beklagenswerte zu starren, wollen hier Streiflichter den einzigartigen Reichtum unserer natürlich und kulturell gestalteten Lebensumgebung betasten. Es wäre nicht Bescheidenheit, sich innerhalb dieses weiter zu entfalten und die Grenzen des Verträglichen zu akzeptieren; ist andernfalls doch die Funktionsfähigkeit natürlicher Ökosysteme gefährdet, wie Michael Stachowitsch am Beispiel der Wale zeigt, ebenso wie die sichere Versorgung mit Nahrungs- und Heilmitteln. Michael Machatschek verdanken wir umfangreiche Nutzungshinweise zum Verzehr der verschiedensten Pflanzenorgane von Wildkräutern und Laubbäumen: von Rohkost über Wildgemüse aus Blüte, Blatt oder Wurzel bis zur Gewinnung von Baumsamen und Süßstoff – der Tisch ist überreich gedeckt. Monika Kriechbaum begleitet in die Welt der Pflanzenheilkunde am Beispiel asiatischer, vor allem tibetischer Traditionen. Sie zeigt zugleich, dass der Artbegriff unseres westlichen Denkens nur einer von weiteren möglichen ist. Gerade die alten östlichen Überlieferungen verschmeißen kein Naturprodukt als unbrauchbar; dessen Menge und die Art der Verwendung bestimmen seine Wirkung. Unermesslich viel Gebrauchswissen steckt auch in unseren heimischen alten Kulturpflanzen, wie die nachfolgenden Beiträge aus der Arche Noah (Gesellschaft für die Erhaltung der Kulturpflanzenvielfalt und ihre Entwicklung) aufzeigen. Ob Ackerfrucht oder Bauerngarten, Genussobst oder Edelbrand: hier vereinen sich reiche, genetische Vielfalt mit kulturellem Erbe. Dasselbe gilt für alte Haustierrassen, über die Beate Berger einen ausführlichen Überblick mit Österreichbezug bietet. Ein besonderer Abschnitt darin gilt der Geschichte und der heutigen landwirtschaftlichen Nutzung heimischer Zum Einstieg

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Haussäugerarten, eine aktuelle Hilfestellung für alle, die erst ihre Tierrasse finden möchten. Die Vielfalt der genutzten Arten und ihrer Lebensräume, also der Biodiversität, ­allein ist aber noch kein Garant für die optimale Anpassungs- und Innovationsfähigkeit komplexer Systeme. Einen gleichwertigen Anteil daran trägt die Vielseitigkeit von Bewirtschaftungs-, Vertriebs- und Managementmethoden, basierend auf der Symbiose von lokal-traditionellem Wissen und modernen Forschungserkenntnissen. Agrodiversität heißt der wissenschaftliche Begriff zu diesen sozioökologischen Wechselwirkungen, den Marta Neunteufel in ihrem Beitrag erläutert. Auf die verschiedenen Artkonzepte, die sich alle aus geeigneter Perspektive auch wieder auflösen lassen, kommt schließlich Wolfgang Holzner zurück in seinem Plädoyer für die Begegnung mit individuellen Persönlichkeiten, egal, welcher Art sie angehören. Nur im Erleben von Individuen lernt man lieben, was beschützt werden muss: das Lebendige als Wert an sich.

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Wozu Artenschutz? Friederike Spitzenberger

Einleitung Über das Verhältnis zwischen Mensch und Natur liegt eine unübersehbare Flut von Literatur vor. Das Thema wurde aus allen erdenklichen Gesichtspunkten betrachtet, die von Philosophie über Natur- und Gesellschaftswissenschaften, Ökonomie bis zu Religion und Esoterik reichen. In den letzten Jahrzehnten befasst sich die Naturschutzbiologie zunehmend mit der Frage, wie sich gesellschaftliche Strukturen und Entwicklungen auf Biodiversität, Funktionsfähigkeit von Ökosystemen und die Bewohnbarkeit des Planeten auswirken werden. Mein Beitrag ist aus der Perspektive einer praktizierenden zoologischen Systematikerin geschrieben. Dem anthropozentrischen, von Ökonomie und Gesellschaftswissenschaften bestimmten Blick auf die gegenwärtige ökologische Krise wird eine naturzentrierte Betrachtung gegenübergestellt, die untersucht, wie es kam, dass eine von Millionen anderen Tierarten, Homo sapiens, das ökologische Gefüge der gesamten Erde ins Wanken gebracht hat. Als einziges Lebewesen zu bewusster Reflexion seines Handelns fähig, erkennt der Mensch zwar die Gefährdung seines eigenen Überlebens auf der Erde durch Übernutzung der natürlichen Ressourcen, ist aber dennoch nicht in der Lage, sein ökonomisches Verhalten zu ändern. Bisherige Erfahrungen und vor allem die Erfahrungen der jüngsten Gegenwart, die im Zeichen der Bewältigung einer globalen Finanz- und Wirtschaftskrise steht, beweisen uns leider, dass weder die ethische Kraft der Menschheit, die Daseinsrechte anderer Arten zu respektieren, noch die intellektuelle Kraft, sie zum eigenen Wohl zu erhalten, ausreichen. Im Verlauf der Industrialisierung hat der Mensch in großen Teilen des Erdballs Aneignung und Transformation der Natur zu seiner „Umwelt“ perfektioniert. Ohne zu realisieren, dass die Stoffe und Kräfte, mit denen er Wirtschaft und Technik betreibt, ausschließlich aus der Natur stammen und begrenzt sind, setzte und setzt er mit offenbar unbeirrbarer Sicherheit auf unendliches Wachstum und unendlichen Fortschritt. Diese Vorstellung stellt sich aber als Illusion heraus. Die degradierten, ihrer ursprünglichen Artenvielfalt und Funktionsfähigkeit beraubten Ökosysteme spenden der auf 6,9 Milliarden Menschen angewachsenen Weltbevölkerung nicht länger die als selbstverständliche Gratisleistungen der Natur entgegengenommenen Lebensgrundlagen wie Nahrung, Trinkwasser, Bodenfruchtbarkeit, Hochwasserschutz, pflanzliche und tierische Rohstoffe und Arzneien in der nötigen Menge und Qualität. Diese ökologische Krise könnte das Ende der Erfolgsstory von Homo sapiens auf der Erde bedeuten. Auch die Annahme der Existenz eines systemimmanenten immerwährenden Fortschritts zum Besseren ist Illusion. Die biologische Evolution, der der Mensch aufgrund seiner genetischen Ausstattung auch 1. Wozu Artenschutz?

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weiterhin unterliegt, kennt keine Entwicklungsziele. Sie besteht lediglich in fortwährender Anpassung auf sich verändernde Umwelten mittels Genmutationen. Die wesentlich schneller als die biologische Evolution ablaufende sozioökonomische Entwicklung des Menschen kann zwar Werte, Ziele und Normen einer nachhaltigen Nutzung des Planeten definieren, scheitert aber aufgrund fehlender Rückkopplung mit der Evolution an der Erreichung des Ziels. Manche Zukunftsforscher meinen, dass der gegenwärtige globale Zusammenbruch der Finanz- und Realwirtschaft bereits ein Vorbote des Endes der Verfügbarkeit von natürlichen Produktionskräften ist. Tatsächlich hat der Run auf die letzten landwirtschaftlichen Produktionsflächen der Erde längst eingesetzt. Die Weltbank drängt auf weitere räumliche Konzentration der Märkte und Siedlungsgebiete und empfiehlt die Einstellung öffentlicher Förderung für strukturschwache Gebiete. Nach Ansicht der Weltbank geht es der Milliarde Menschen, die derzeit in den Slums der Mega-Metropolen leben, immer noch besser als jenen, die in strukturschwachen Regionen leben. Was mit den entvölkerten Regionen geschehen soll, ist leicht auszumachen. Seit dem Ansteigen der Nahrungsmittelpreise als Folge schlechter Ernten und des Anbaus von Energiepflanzen kaufen derzeit global agierende agro-industrielle Konzerne Ackerland z. B. in ostasiatischen Staaten auf, das bisher in Form von Subsistenzwirtschaft von indigenen Bevölkerungen genutzt wurde. Der TEEB-(„The Economics of Ecosystems and Biodiversity“-)Report (2008) gibt an, dass fast 40 % von jetzt noch extensiv genutztem Land in Intensivlandwirtschaft umgewandelt werden wird. Viehhaltung beansprucht den größten Teil der vom Menschen genutzten Fläche: Weide bedeckt 26 % der agrarisch genutzten Fläche, Futterpflanzen für Vieh ein Drittel aller Feldflächen. Die Rodung des amazonischen Regenwalds ist zu 70% durch Gewinnung von Viehweideflächen begründet. Der Ersatz natürlich erzeugter Milch- und Fleischprodukte durch synthetisch hergestellte ist voll im Gang. In Kenntnis der Tragfähigkeit der globalen Ökosysteme und ihrer Erneuerbarkeit nach Zerstörung sowie der materiellen und geistigen Abhängigkeit des Menschen von funktionierenden ökologischen Prozessen und im Licht eines bewundernden Interesses an der nicht-menschlichen Natur sind die Fragen „Wie viele Arten braucht der Mensch?“ und „Wozu Artenschutz?“ arrogant, erkundigen sie sich doch in sehr unverblümter Weise, mit wie vielen anderen, für uns möglicherweise nicht einmal nützlichen Arten wir die immer kleiner werdende Welt und die immer spärlicher werdenden Ressourcen teilen sollen und welches Minimum an Arten wir tolerieren müssen, um den Fortbestand der Menschheit zu ermöglichen. Bevor die Frage „Wozu Artenschutz?“ im Detail beantwortet und im darauffolgenden Kapitel erklärt wird, warum Artenschutz nicht funktioniert, werden die physischen und psychischen Anlagen des Menschen, die ihn zum Zerstörer der Biodiversität und der ökologischen Prozesse prädestinieren, beschrieben. Einer naturwissenschaftlichen Darstellung der außermenschlichen Biodiversität und ihrer Gefährdung folgen zwei historische Kapitel, die sich mit der Mensch-Natur-Beziehung beschäftigen. Darin wird dargestellt, dass eine pur anthropozentrisch ausgerichtete Ökonomie den Anteil der Produktionskraft der Natur an der Wertschöpfung niemals ausreichend berücksichtigt hat und dass es dem zeit-

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gleich mit der Industrialisierung auftretenden Naturschutz nicht gelingt, die unheilvolle Naturzerstörung aufzuhalten.

Die Art Mensch Vor 200 000 Jahren, vor geologisch kurzer Zeit also, brachte die seit ca. 4000 Jahrmillionen wirkende Evolution des Lebens unter den Milliarden Arten, die den Planeten Erde je bevölkerten, eine sehr spezielle Art, den modernen Menschen, hervor. Im Zeitalter der Aufklärung reihte Carl von Linné (1707–1778) im Inventar aller ihm bekannten Organismen den Menschen neben Orang-Utan und Schimpansen in die Ordnung der Herrentiere oder Primaten und nannte ihn Homo sapiens, den weisen oder wissenden Menschen. Linné war 1758 zwar noch der Ansicht, dass alle auf der Erde vorhandenen Lebewesen Produkte eines einmaligen Schöpfungsaktes seien, dennoch war seine Einordnung eine wesentliche wissenschaftliche Festlegung, dass der Mensch eine Spezies unter vielen anderen sei. Hundert Jahre später revolutionierte Charles Darwin (1809–1882) das Wissen über das Leben auf der Erde, indem er dokumentierte, dass ständig neue aus vorhandenen Arten entstanden seien und unaufhörlich entstehen. Zum Entsetzen seiner Zeitgenossen stellte er Homo sapiens in die Entwicklungslinie der Affen. Erstaunlicherweise ist die Vulgärformel dieser Erkenntnis („Der Mensch stammt vom Affen ab“) noch immer ein gesellschaftliches Diskussionsthema. In einer Eigenschaft, nämlich der Selbstsucht (in der modernen Ökonomie „animal spirit“ genannt), gleicht der Mensch all den anderen Arten: Er will seinesgleichen in alle Ewigkeit fort und fort fortpflanzen und nimmt dafür so viel Platz und Ressourcen der Erde in Anspruch, wie er nur raffen kann. Die Besitzergreifung der gesamten Erde und ihrer Reichtümer wird von den einzelnen Menschenindividuen vorangetrieben, die Selbsterhaltung, Wohlstand und das Weiterleben in ihren Nachkommen als ihr gutes Recht handhaben. Die Fähigkeiten, mit denen Homo sapiens diesen Daseinszweck erreicht, übertreffen allerdings die aller anderen Arten bei Weitem. Der Mensch ist sozusagen ein Glückskind der Evolution, denn viele besondere Gaben sind ihm von Natur in den Schoß gelegt worden. Dazu gehört die geringe Spezialisierung des Körperbaus, der Zähne und Sinne. Sie bildet die wesentliche Grundlage seiner Anpassungsfähigkeit an alle Lebensräume dieser Erde. Sehen, Hören, Schmecken und Riechen sind gut ausgebildet und ermöglichen Orientierung in unterschiedlichsten Räumen und Erkennen unterschiedlichster Objekte. Dass die Augen nach vorne blicken und so ein gutes räumliches Sehen ermöglichen, ist ein Erbstück seiner Primatenvorfahren. Das Gebiss und auch der Magen-Darm-Trakt sind typisch für einen Allesfresser. Die Zahl der Zehen und Finger beträgt wie bei urtümlichen Säugern auf jeder Körperseite fünf. Das macht den Menschen auch zu einem Allrounder der Fortbewegung: Mithilfe der Greifhand – auch sie eine Errungenschaft der Affen – kann der Mensch in Bäumen und Felsen ausgezeichnet klettern, er ist ein guter Schwimmer, springt weit und hoch. Seine wichtigste Fortbewegungsart ist jedoch Gehen 1. Wozu Artenschutz?

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und Laufen. Den aufrechten Gang auf Hinterbeinen haben schon frühere Hominidenarten perfektioniert, als sie sich infolge tief greifenden Klimawandels an das Leben in Savannen anpassten. Homo sapiens ist sowohl ein guter Sprinter (schafft selbst nach 5000 Jahren Zivilisation noch 100 m in 9,58 Sekunden), aber auch ein ausdauernder Langläufer (42,2 Kilometer in 2 Stunden und 3 Minuten). Durch das aufrechte Gehen ist seine Greifhand von den Aufgaben der Fortbewegung befreit. Mit ihr kann der Mensch der Umwelt große und kleine Bestandteile entnehmen, diese geschickt be-„handeln“, Werkzeuge erschaffen und benutzen. Auch die Körpergröße und die aus ihr resultierende, für physische Leistungen benötigte Nahrungsmenge sind ideal für die Eroberung des gesamten Planeten. Der Mensch ist gerade richtig groß, um – bezogen auf den Erdumfang – nennenswerte Distanzen in relativ kurzer Zeit zurücklegen zu können. Der Bedarf an Nahrung zur Aufrechterhaltung des Lebens und der Fortpflanzung steht in einem günstigen Verhältnis zum natürlichen Angebot. Was denkbar ist, ist machbar. Aufschrift auf einer LKW-Plane

Den spektakulären Erfolg auf der Erde verdankt die Spezies Mensch jedoch in erster Linie der rasanten Entwicklung des Großhirns. Sie befähigt den Menschen nicht nur zu einzigartigen Denkleistungen, sondern verleiht ihm auch Imaginationskraft und Phantasie. Viel mehr als Erkenntnis und Wissen verschafften ihm imaginierte Vorstellungen über die Welt, seine Rolle in ihr und seine Fähigkeiten und die Kraft, Utopien zu entwickeln, alle Widrigkeiten zu überwinden und unbeirrbar seine Ziele zu verfolgen. Diese bestanden immer darin, der Natur noch mehr Ressourcen und Leistungen abzuringen, um das menschliche Leben immer mehr zu verbessern. Von seinen Anfängen an bediente sich der Mensch der Gaben der Natur, ganz so, als wären sie nur für ihn da. Er verwendete natürliche Ressourcen und Kräfte, um sich innerhalb der Natur eine eigene „Um-Welt“ zu gestalten. Aus ökologischer Sicht verschaffte er sich so eine eigene transportable ökologische Nische, die ihn dazu befähigte, sich von seinem Entstehungskontinent Afrika in alle Klimazonen und Biome der Erde auszubreiten. Ein Schlüsselfaktor bei dieser Entwicklung war sicherlich der Gebrauch des Feuers zur Erzeugung von Wärme und zur besseren Aufschließung der aufgenommenen Nahrung. Von einem Vorläufer des modernen Menschen, Homo erectus, der in Afrika vor 1,6 Millionen Jahren auftrat, ist der Gebrauch des Feuers schon seit ca. einer halben Million Jahre bekannt. Schon er breitete sich als Jäger über große Teile Europas und Asiens aus. In seiner Umwelt und seiner Zivilisation entfremdete sich der Mensch immer weiter von der von ihm (noch) nicht genutzten Restnatur. Das für diese Entwicklung wesentlichste Ereignis waren die Agrarevolutionen der Jungsteinzeit vor ca. 8000 Jahren. An mehreren Stellen der Erde begannen die Menschen, mit domestizierten Wildpflanzen und Wildtieren Ackerbau und Viehzucht zu treiben. Sie ernährten sich nicht mehr länger als Jäger und Sammler von direkt aus der Natur entnommenen Produkten, sondern

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produzierten als Bauern selbst Nahrungsmittel auch auf Vorrat, wurden ansässig, vermehrten sich rapide, begründeten Städte, erfanden das Privateigentum an der Natur und die Ökonomie. Im Lauf dieses Prozesses ging das Wissen, dass der Mensch selbst und alle seine Erzeugnisse, Erfindungen und Errungenschaften ein Teil der Natur sind, mehr und mehr verloren. Die heute weltweit bestehende Rechtspraxis, in der es getrennte Umweltschutz- und Naturschutzgesetze gibt, zeugt von diesem Unverständnis. Im Europa des 20. Jahrhunderts konnten wir erleben, dass der Umweltschutz vielfach erfolgreich war (ein Beispiel unter vielen ist die Entgiftung der Abgase), während der Naturschutz immer schwächer wurde und zu seiner Durchsetzung immer mehr der Argumentation des Menschenschutzes bedarf. Bei der Bestimmung des Handelswertes von Agrar- und anderen menschlichen Erzeugnissen wurde und wird weder der Anteil der natürlichen Produktivitätskräfte beim Zustandekommen des Produkts noch deren Endlichkeit berücksichtigt. Daher waren und sind bis heute Unterwerfung, Aneignung und Ausbeutung der Natur wirtschaftliche und gesellschaftliche Praxis und führen offenbar ausweglos zu einer Zerstörung der Natur, begleitet von einem immer schneller fortschreitenden weltweiten Artensterben. Wenn man der Ansicht zustimmt, dass der Lebenszweck einer Art in ihrer Existenz liegt, muss auch Homo sapiens zugestanden werden, seine Art-Interessen zu verfolgen, auch wenn er dabei Gefahr läuft, sich selbst der Lebensgrundlage zu berauben. Bei Fortwähren des Bevölkerungswachstums und des Raubbaus an Ressourcen könnte er ebenso schnell, wie er auf der Erde erschienen ist, auch wieder verschwinden. Zweifelsohne würde er dann einen sehr großen Teil der heute lebenden Arten und Ökosysteme für immer mit sich reißen.

Das Reich der anderen Arten Die Erforschung der Artenvielfalt

Tiefes menschliches Interesse an der Vielfalt des Lebens hat es wohl immer gegeben. Als im ausgehenden 20. Jahrhundert bekannt wurde, dass die tropischen Regenwälder mitsamt ihrem ungeheuren, der Wissenschaft großteils unbekannten Artenreichtum einem katastrophalen Raubbau zum Opfer fielen, konnte beim Versuch, die dem Untergang geweihte Biodiversität noch schnell zu erfassen, auf die unfassbar genaue Kenntnis der heimischen Tier- und Pflanzenarten der indigenen Bewohner zurückgegriffen werden. Die Renaissance und die Epoche der Aufklärung waren bereits erste Hochzeiten des wissenschaftlichen Sammelns und Beschreibens von Naturobjekten. Die Schätze, die im 18. und 19. Jahrhundert bei Expeditionen und Erkundungsreisen in exotischen Ländern aufgesammelt wurden, fanden in Europa und Nordamerika eine Heimstatt in prachtvoll ausgestatteten naturhistorischen Museen. Mit genauen Herkunftsdaten und Schilderungen der Fundumstände ausgestattet, stellen die ungeheuer reichhaltigen Sammlungen bis heute Beweismaterial für die Entwicklung des Lebens auf der Erde zur Verfügung. Die 1. Wozu Artenschutz?

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Paläontologie gewährt uns Einblick in den Formenschatz der im Lauf der verflossenen Jahrmillionen verschwundenen Arten. Die Befassung mit der Geschichte der Natur wäre ohne Museumssammlungen nicht möglich. Es waren Museumsbiologen, die den Artbegriff entwickelten, Licht in die Phänomene der körperlichen Anpassung an Umwelt und Lebensweise brachten und das wissenschaftliche Fundament für die Biogeografie schufen. Selbstverständlich ergänzen Museumsbiologen ihre Studien an konservierten Organismen mit Beobachtung lebender Pflanzen und Tiere in der Natur. Waren für Carl von Linné die lebenden Arten noch unveränderliche Zeugnisse eines einmaligen Schöpfungsaktes, so erkannte Charles Darwin in ihnen die wandelbaren Baustoffe der Jahrmillionen währenden Evolution, in deren Verlauf sich nach geologischen und klimatischen Veränderungen immer neue Arten entfalteten. Zum Verständnis der menschlichen Unfähigkeit, die Rolle der Arten bei der Gestaltung der physischen Bedingungen auf der Erde zu begreifen, muss hier darauf hingewiesen werden, dass die Wissenschaften, die sich im weitesten Sinne mit der Evolution befassen, sehr jung sind. Die Begründer der Paläontologie, Georges Cuvier (1769–1832) und Charles Lyell (1797–1875), arbeiteten ebenso im 19. Jahrhundert wie Charles Darwin (1809– 1882), der sich als einer der ersten Systematiker und Evolutionsbiologen mit der Erfassung und Erklärung der Vielfalt des Lebens befasste. Auch die Ökologie wurde erst in diesem Jahrhundert begründet. Ernst Haeckel (1834–1919), Arzt und Zoologe, Philosoph, stand unter dem Einfluss Darwins. Er definierte 1866: „Unter Oecologie verstehen wir die gesamte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Außenwelt, wohin wir im weiteren Sinne alle ‚Existenz-Bedingungen‘ rechnen können.“ Taxonomische und systematische Studien erfassen die Vielfalt der Arten und rekonstruieren deren Verwandtschaften und Abstammung. Waren die Ergebnisse bis vor kurzer Zeit noch ausschließlich auf dem Vergleich äußerer und innerer Körpermerkmale begründet, so verbessern heute moderne Techniken die Rekonstruktion der Evolution dramatisch. Genetische Analysen geben Aufschluss über Abstammung und Verwandtschaft von Arten, Ort und Zeit ihrer Entstehung, Ausbreitung und Schicksal im Lauf der geologischen und klimatischen Vorgänge auf unserem Planeten.

Was ist eine Art?

Das Leben ist ein für den Planeten Erde charakteristisches Prinzip. Es macht ihn in unserem Sonnensystem einzigartig. Es hat sich im Lauf der fast 5 Milliarden währenden Geschichte dieses Himmelskörpers selbst die Grundlagen dafür geschaffen, buchstäblich alle irdischen Räume zu erobern und sich von einfachen und wenigen zu immer mehr und komplizierteren Formen zu entwickeln. Es waren im Meer lebende Bakterien, die vor ca. 3,6 Milliarden Jahren das Kohlenstoffdioxid in der die Erde umgebenden Gashülle abbauten und mithilfe der Photosynthese (Umwandlung von energiearmen anorganischen Stoffen [CO₂ und Wasser] zu energiereichen organischen Kohlenhydraten unter Verwendung der Lichtenergie) mit der Erzeugung von Sauerstoff begannen. Die Sauerstoffabgabe der

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vor ca. 400 Millionen Jahren massenhaft auftretenden Landpflanzen in die Atmosphäre schuf die chemischen Voraussetzungen für die Entfaltung der Tierwelt. Bakterien, Pilze und Tiere beteiligen sich am Zersetzen toter organischer Substanzen, indem sie diese wieder in anorganische energiearme Stoffe wie CO₂ und Wasser umwandeln. Das Leben gestaltete und gestaltet unaufhörlich den Planeten. Organismen tragen bis heute zur globalen Klimabildung bei, sind ursächlich an der chemischen Zusammensetzung der Luft und der Meere beteiligt, erzeugen aus anorganischen Gesteinen fruchtbare Böden, säubern verschmutztes Wasser. Das Leben überzieht den Planeten nicht mit einem einzigen Organismus, sondern es tritt in durch Fortpflanzungsschranken voneinander getrennten Einheiten, den Arten, die durch eigenständige Genome gekennzeichnet sind, in Erscheinung. Dem Leben wohnt die Fähigkeit inne, sich im Zuge seiner Entwicklung – Evolution – an alle erdenklichen Umwelten und auch an deren Veränderungen in Raum und Zeit anzupassen. Die genetischen Zellstrukturen lassen auf einen gemeinsamen Ursprung fast aller Organismen schließen. Diese Strukturen haben seit dem Beginn des Lebens auf der Erde existiert und sich seither immer weiter entwickelt. Die Träger des genetischen Programms sind die Individuen. Sie leben in Gemeinschaften, den Populationen. Zufällige Genmutationen, die einzelnen Individuen einer Population Anpassungsvorteile an eine geänderte Umwelt verschaffen, sind die Grundlage für die Entstehung neuer aus vorhandenen Arten. Bis heute gibt es wissenschaftliche Debatten darüber, wie der Begriff der Art zu definieren ist. Für den Phylogenetiker sind Arten evolutive Einheiten, die sich in Raum und Zeit verändern. Für den Ökologen bestehen Arten aus Populationen von Individuen, die sich nicht mit Individuen anderer Arten paaren. In diesem „biologischen Artkonzept“ besiedelt jede Art eine eigene ökologische Nische innerhalb des Ökosystems, dem sie angehört, und verfügt über eine „artspezifische“ Überlebensstrategie. Jede Art lebt in Gemeinschaft mit anderen Arten (Biozönosen). Konkurrenz zwischen den Arten einer Biozönose wird durch Nutzung verschiedener Nischen vermindert.

Was ist Biodiversität?

Der moderne Begriff Biodiversität bezeichnet die Vielfalt des Lebens auf der Erde. Damit sind keineswegs nur Tier- und Pflanzenarten gemeint, sondern auch deren Gene und die ökologischen Systeme, in denen sie leben. Wenn man von Homo sapiens absieht, der sich aus allen geografischen und ökologischen Naturzusammenhängen gelöst hat, sind Tierund Pflanzenarten nicht willkürlich über die Erde verteilt, sondern bilden Bestandteile der unterschiedlichen, über die gesamte Erde verteilten Ökosysteme. Dabei handelt es sich um hoch komplizierte Wirkungsgefüge zwischen Gemeinschaften von Organismen und deren unbelebter Umwelt.

1. Wozu Artenschutz?

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Wie viele Arten gibt es?

Die Zahl der nach den internationalen Nomenklaturregeln taxonomisch benannten lebenden Arten wurde vor Einsatz genetischer Untersuchungsmethoden und vor Beginn der Befassung mit der Artenvielfalt tropischer Regenwälder mit ein bis zwei Millionen angegeben. Seither wächst ihre Zahl steil an, weil genetische Vergleiche von geografischen Populationen einer vermeintlich einzigen Art häufig ergeben, dass es sich in Wahrheit um Gruppen von Arten handelt. Der Grund, warum bei morphologischen Vergleichen der äußeren Merkmale alle untersuchten Populationen einer einzigen Art zugeordnet wurden, besteht meist darin, dass sich infolge optimaler Anpassung an die gleiche ökologische Nische die äußere Erscheinung der einzelnen Arten in fast allen Details gleicht. Während die Erfassung der Pflanzen und einzelner Tiergruppen weit fortgeschritten ist, sind viele Arthropodengruppen, Pilze und vor allem Bakterien kaum bekannt. Auch sind die Organismen der gemäßigten und arktischen Zonen der Erde wesentlich besser bekannt als die der Tropen, wo aber bei fast allen Gruppen die größte artliche Vielfalt zu finden ist. Daher ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass die Zahl der existierenden, aber noch nicht wissenschaftlich beschriebenen Arten um ein Vielfaches größer ist als die wissenschaftlich erfassten Arten. Sie wird auf bis zu 100 Millionen geschätzt. Auch in Österreich ist die Diversität aller Organismengruppen nicht bekannt. Eine erste Zusammenstellung der beschriebenen Arten von Algen, Moosen, Farn- und Blütenpflanzen, Flechten, Pilzen, Schnecken, Spinnentieren, Insekten und Wirbeltieren (Rabitsch & Essl 2009) ergibt 66 500 Arten. Die artenreichste Gruppe sind mit 37 000 Arten die Insekten. Im Vergleich mit anderen, sogar weitaus größeren Ländern ist Österreich ein sehr artenreiches Land. Dies kommt durch die Vielgestaltigkeit seiner Landschaften, vom Hochgebirge bis ins pannonische Tiefland, zustande.

Verteilung der Arten auf der Erde

Die Artenvielfalt ist nicht gleichmäßig über die Erde verteilt. Die Zahl der Arten in einer Organismengruppe hängt von der geografischen Breite, der Seehöhe, der vorhandenen Energie, der ökologischen Vielgestaltigkeit, vom Vorhandensein von Regenwäldern und von historischen Faktoren ab. Die Artenzahl wächst mit abnehmender geografischer Breite rapide an. Das heißt, dass in den Tropen viel mehr Arten einer bestimmten Organismengruppe leben als in den gemäßigten Zonen und hier wieder mehr Arten als in den arktischen Zonen. Beispielsweise leben von den mehr als 6000 Amphibienarten ca. 80 % in den Tropen. Warum das so ist, ist bis heute nicht ganz klar. Unter den vielen Hypothesen sind folgende weithin akzeptiert: – In den Tropen ist die Landfläche größer als weiter nördlich und südlich. Da eine Abhängigkeit zwischen Flächengröße und Artenzahl wissenschaftlich erwiesen ist (Arten/

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Areal-Kurve) kann angenommen werden, dass die größere Landfläche das Vorkommen einer großen Artenzahl ermöglichte. – Infolge der Gleichmäßigkeit des tropischen Klimas gibt es keine Populationsverluste oder Existenzengpässe durch winterliche Bedingungen. Die Arten hatten mehr Zeit, sich enger einzunischen. – Die verfügbare Energie (ausgedrückt in Primärproduktion) ist in den Tropen höher. – Das geologische Alter der tropischen Regenwälder ist hoch. Die Arten hatten mehr Evolutionszeit zur Verfügung. Mit zunehmender Seehöhe sinkt ähnlich wie in hohen Breiten die Zahl der Arten ab. Je höher die „Reliefrauigkeit“ ist – d. h., je verschiedenartiger Exposition, Landoberfläche, Bewuchs etc. sind –, desto mehr Arten finden eigene Nischen. Deshalb gibt es im Gebirge mehr Arten als in der Ebene. Einer der wesentlichsten Gründe für besonderen Artenreichtum ist die geologische und klimatische Geschichte eines Erdteils. Durch die Trennung der Kontinente im Lauf der Erdgeschichte entwickelten sich auf isolierten Landmassen, wie z. B. in Australien und Südamerika, aus den zufällig dort vorhandenen Arten durch Radiationen große Mengen neuer Arten. Arten, die aus historischen Gründen auf sehr kleine Verbreitungsgebiete beschränkt sind, werden Endemiten genannt. Inseln sind – wenn ihre ursprüngliche Lebewelt nicht vom Menschen ausgerottet oder verändert wurde – Endemiten-Hotspots. Das beste Beispiel ist die Insel Madagaskar, die infolge plattentektonischer Veränderungen seit ca. 160 Millionen Jahren isoliert und von einer eigenen Flora und Fauna besiedelt ist. Zum Beispiel sind 90 % der Reptilien Madagaskars Endemiten. In den gemäßigten Zonen hatten die seit dem Beginn des Quartärs vor 1,8 Millionen Jahren regelmäßig auftretenden Eiszeiten großen Einfluss auf die Artenzahlen. Während der Glaziale, die 80 000 bis 100 000 Jahre dauerten, begruben in den Polregionen und den Gebirgen Tausende Meter hohe Eismassen alles Leben unter sich. Viele Arten konnten nur in z. T. sehr kleinen Gebieten (Refugien), die sich oft in mittleren Gebirgslagen außerhalb der Eisdecke befanden, überleben. Von hier breiteten sich viele Arten in den Zwischeneiszeiten, die in der Regel nur 10 000 bis 25 000 Jahre dauerten, wieder in die eisfrei werdenden Gebiete aus. Nicht selten machten Arten in ihrem jeweiligen Refugium evolutive Veränderungen durch, die – wie z. B. bei den europäischen Igeln – so groß sein konnten, dass sich die aus verschiedenen Refugien zurückwandernden Populationen schon zu biologischen Arten umgewandelt hatten. Anderen Arten gelang die Rückwanderung nicht, sie blieben in meist sehr kleinen Populationen in den Refugien. In den während der letzten Eiszeit unvergletschert gebliebenen Regionen der Ostalpen überlebten 150 Gefäßpflanzen und 575 Tiere als reliktäre Endemiten in z. T. winzigen Arealen (Rabitsch & Essl 2009).

Das sechste Massen-Artensterben?

Weitaus schneller, als die Zahl beschriebener Arten durch Verwendung neuer Techniken und Aufsammlungen in den besonders artenreichen Tropen ansteigt, steigt derzeit 1. Wozu Artenschutz?

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die Zahl der aussterbenden und vom Aussterben bedrohten Arten an. Seriöse Zahlen für tägliche oder jährliche Aussterberaten können natürlich nicht angegeben werden. Seriöse Schätzungen belaufen sich aber auf 15 000 bis 30 000 Arten jährlich. Allein der jährliche Verlust an tropischen Insekten wird auf 20 000 Arten jährlich geschätzt. In den nächsten 50 Jahren könnte eine weitere Million Arten für immer verschwinden. Die von der Welt Naturschutz Union (IUCN) ins Internet gestellten „Roten Listen“ weltweit gefährdeter Arten geben Auskunft über den katastrophalen Verfall. Als Beispiel für Ausmaß und Geschwindigkeit der Zunahme von Gefährdung seien die wissenschaftlich sehr gut bekannten Amphibien herangezogen. Alle 6347 weltweit beschriebenen Arten konnten einer Gefährdungsanalyse unterzogen werden. Während die Zahl der ausgestorbenen und gefährdeten Arten im Zeitraum 1996 bis 2003 von 124 „nur“ auf 157 anstieg, musste im Jahr 2004 eine rapide und plötzliche Zunahme auf 1770 Arten festgestellt werden. Von diesem hohen Niveau wuchs die Zahl der bedrohten Arten bis zum Jahr 2008 nochmals auf 1905. Das heißt, dass 30 % der weltweit bekannten Amphibienarten ausgestorben oder vom Aussterben bedroht sind. Die Ursache für dieses Verschwinden bzw. die rapide Abnahme in so kurzer Zeit, und zwar nicht nur in Kulturlandschaften, sondern auch in unberührten und Schutzgebieten, wird im Auftreten eines Hautpilzes vermutet, der sich von einer in Versuchslaboratorien gehaltenen gegen diesen Pilz immunen Froschart weltweit ausgebreitet hat. Von den 910 (der insgesamt 980 bekannten) einer Gefährdungseinschätzung unterzogenen nacktsamigen Pflanzen (Gymnospermen) waren im Jahr 2008 33 % ausgestorben oder gefährdet. Noch schlimmer steht es um die riffbildenden Korallen, bei welchen 35 % der globalen Arten gefährdet sind. Von den Säugetieren sind 21 %, den Süßwasserkrabben 18 %, den Haien und Rochen 17 % und den Vögeln „nur“12 % vom Aussterben bedroht. Das jähe Ansteigen der Aussterbe- und Gefährdungsrate bei vielen taxonomischen Gruppen birgt wesentliche Merkmale eines Massenartensterbens in sich. Bisher hat es fünf solcher Ereignisse gegeben, die als „Big Five“ bekannt sind. Das erste fand vor 488 Millionen Jahren an der Grenze zwischen Kambrium und Ordivizium statt. Das nächste Ereignis löschte vor ca. 440 Millionen Jahren an der Grenze zwischen Ordovizium und Silur 57 % aller aus dieser Zeit bekannten Gattungen aus. Vor 251 Millionen Jahren markierte ein gewaltiges Massensterben die Grenze zwischen Perm und Trias und somit zwischen Paläo- und Mesozoikum. Damals starben sowohl in den Ozeanen als auch an Land 70 % aller Arten aus. Das vorletzte Ereignis, das vor 205 Millionen Jahren die Wende zwischen Trias und Jura herbeiführte, kostete fast die Hälfte aller Gattungen das Leben. Schließlich führte der Einschlag eines Asteroiden vor 65 Millionen Jahren zum Ende der Dinosaurier und beendete auch die Kreide und somit das Mesozoikum. Der gegenwärtige weltweite Artenschwund ist erstmals in der Geschichte der Erde durch eine einzige Art verursacht. Der Ausgang dieser menschlichen Artenvernichtung ist ungewiss. Am Beispiel der Big Five ist jedoch zu sehen, dass selbst nach katastrophalen Zusammenbrüchen des Lebens auf der Erde die Evolution weitergeht und neue Formen hervorbringt.

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Das Aussterben einer Art, die das Produkt einer Jahrmillionen währenden Entwicklung ist, kann nicht rückgängig gemacht werden. Theoretisch kann eine andere Art die Funktionen der ausgestorbenen Art übernehmen, doch würde eine solche Anpassung eine große Zahl von Menschengenerationen brauchen. Schon die Entfernung einer oder weniger Arten kann die Stabilität, Belastbarkeit und Widerstandskraft eines Ökosystems dramatisch gefährden. Weil kein Ökosystem der Welt und seine Artengarnituren einem anderen gleichen, und weil der Mensch die gesamte Erde bewohnt, ist die Biodiversität der ganzen Welt für ihn wichtig. Das Funktionieren einfacher, artenarmer Ökosysteme (z. B. in den arktischen Zonen oder im Hochgebirge) kann vom Vorhandensein der Gesamtheit der darin lebenden Arten abhängen. Auch in komplizierteren Ökosystemen kann das Entfernen einer einzigen Art („Schlüsselart“) zu Veränderungen führen. Auch wenn heute vielfach damit argumentiert wird, dass sich Verluste gewisser Arten bisher auf das Wohlergehen der Menschheit nicht nachteilig ausgewirkt haben, so bleibt doch immer die Gefahr bestehen, dass wir das überaus komplizierte Wirkungsgefüge und die Rolle der einzelnen Arten darin nicht kennen. So tappen wir bei der Einschätzung der Bedeutung der Millionen verschiedener Bakterien für die menschliche Existenz völlig im Dunkeln. E. O. Wilson sagte dazu treffend: Wir brauchen sie, aber sie brauchen uns nicht. Forschungsergebnisse beweisen, dass Verluste von Arten ungeahnte Katastrophen auslösen können. Die Reduzierung der Kabeljaubestände hat z. B. zu Zunahme von giftiger Algenblüte in der Ostsee geführt. Die Ursache liegt darin, dass über die Nahrungskette Kabeljau–Sprotte–Zooplankton–Phytoplankton ein Zusammenhang besteht. Ein ähnliches Beispiel liefert der Seeotter in den Küstenhabitaten Kaliforniens. Seeotter fressen Seeigel und diese fressen Tang (Kelp). Die Dezimierung von Seeottern hat zum Überhandnehmen von Seeigeln und in weiterer Folge zum Verschwinden des Tangs geführt. Eine Verödung der Küstenhabitate war die Folge. Die Ausrottung der Wandertaube könnte zum Auftreten der Lyme-Borreliose am Ende des 20. Jahrhunderts in den USA geführt haben. Bei Eintreffen der Europäer in Nordamerika war die Wandertaube einer der häufigsten Vögel, die Zahlen gingen in die Milliarden. Sie wanderte in riesigen Scharen von einem Wald, in dem Eichen und Buchen in großen Mengen fruchteten, zum nächsten. Der Verfolgungsfeldzug gegen die Wandertaube durch Jagd und Lebensraumzerstörung war äußerst erfolgreich, 1914 war die Art ausgestorben. Als Erklärung für Auftritt und Ausbreitung der Lyme-Borreliose in der menschlichen Bevölkerung nehmen Wissenschaftler nun an, dass sich Mäusepopulationen, die ein Reservoir für den Erreger der Borreliose sind, infolge der durch den Ausfall der Wandertaube überreichlichen Nahrung massiv ausgebreitet haben, was zuerst zur Übertragung der Borreliose-Bakterien auf Schalenwild und später auf den Menschen führte. Auch die Einführung eines fremden Organismus in ein Ökosystem kann verheerende Auswirkungen haben. Nachdem um 1890 das Rinderpestvirus nach Ostafrika eingeführt wurde, befiel es zuerst das Hausrind, sprang aber rasch auf wilde Huftiere über. 1892 waren ihm bereits 95 % der Gnu-Population der Serengeti zum Opfer gefallen. Weil Gnus die häufigsten Huftiere dieser Region und die wichtigste Beute großer Prädatoren wie 1. Wozu Artenschutz?

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Löwe, Leopard und Hyäne sind, waren die Auswirkungen auf das Ökosystem katastrophal. Erst um 1930 konnte durch Impfungen sein Funktionieren allmählich wiederhergestellt werden.

Geschichte der Mensch-Natur-Beziehung Die Wurzel der gegenwärtigen ökologischen Krise liegt im historischen Unverständnis der Bedeutung der Natur für die menschliche Wirtschaft und Gesellschaft, für die Existenz des Menschen schlechthin. Solange er als Jäger und Sammler lebte, fühlte er sich wohl noch als ein Teil der Natur, die ihn mit allem, das er zum Leben und zur Reproduktion brauchte, versorgte. Beginnend mit der produzierenden Wirtschaftsweise begann die Trennung des Menschen von der Natur. Er verlernte allmählich zu verstehen, dass er selbst, seine Arbeit, alle seine Erzeugnisse und Erfindungen Teil der Natur sind. Im grundsätzlichen Desinteresse an den Leistungen der Natur verkannte er auch deren Endlichkeit. Die Entwicklung der Vorstellung, dass der Mensch als Herrscher über die Natur Recht und sogar die Pflicht hat, sich diese durch Arbeit anzueignen, sie rechtlich als menschliches Eigentum und somit als tauschbare Ware zu behandeln, deren Wert in erster Linie durch das Ausmaß der investierten Arbeit bestimmt wird, wird im Folgenden anhand von einschlägigen Zitaten aus der philosophischen Literatur belegt. Dieser Abschnitt folgt weitgehend Immler (1985). Schon Zeugnisse der Antike belegen ein als selbstverständlich empfundenes Herrschaftsrecht des Menschen über die Natur. Aristoteles (384–322 v. Chr.) schreibt in „Politik“, dass „die Pflanzen der Tiere wegen da sind und die Tiere des Menschen wegen […]. Wenn nun die Natur nichts unvollkommen und nichts zwecklos macht, so muss die Natur all dies um des Menschen willen gemacht haben.“ Auch im christlichen Mittelalter wird das Recht auf Aneignung der Naturgüter bekräftigt und mit der Erkenntnisfähigkeit des Menschen begründet. Thomas von Aquin (1224–1275) in „Summa Theologica“: In Bezug auf den Gebrauch der „Sache“ „hat der Mensch eine natürliche Herrschaft über die äußeren Dinge, denn durch Vernunft und Wille kann er die äußeren Dinge zu seinem Nutzen gebrauchen, als solche, die für ihn geschaffen sind […]. Daraus beweist der Philosoph, dass der Besitz der äußeren Dinge dem Menschen zusteht.“ In der frühen Neuzeit wird die gottgewollte Herrscherrolle des Menschen, die ihn berechtigt, die Natur als sein Gratisgebrauchsobjekt zu behandeln, weiter ausgefeilt und bekräftigt: Der Theologe, Philosoph und Rechtsgelehrte Hugo Grotius (1583–1645) in „De iure belli ac pacis“: „Der Mensch ist nicht bloß ein Lebewesen, sondern das höchste Lebewesen, und der Unterschied von allen anderen lebenden Wesen ist weit größer als die Unterschiede zwischen den übrigen Gattungen. [...] Gott hat dem menschlichen Geschlechte gleich mit der Erschaffung der Welt das Recht auf alle Dinge niederer Art gegeben.“ Nach Thomas Hobbes (1588–1679), Philosoph und Staatstheoretiker (Hauptwerk: Leviathan), entsteht menschlicher Reichtum aus Natur und Arbeit. Durch Überführung der Natur in Eigentum kann eine friedliche Gesellschaftsform erreicht werden. Dadurch wird

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das Eigentum an der Natur auch zu Ware und erhält einen Handelswert. „Die Menge der Nahrungsmittel bestimmt die Natur selbst und besteht aus dem, was Erde und Wasser als nährende Brüste dieser unserer gemeinschaftlichen Mutter hervorbringen und uns Menschen von Gott entweder als freies Geschenk oder Lohn unserer Arbeit zugeteilt wird. Es gehören dahin, Tiere, Pflanzen und alles, was die Erde in sich enthält. Welches sämtlich uns so nahe liegt, dass wir es gleichsam nur in Empfang nehmen brauchen. […] Die Verteilung dieser Naturgüter ist die Festsetzung dessen, was Mein, Dein, Sein genannt wird und heißt Eigentum.“ Dem als Vorreiter der klassischen Ökonomie betrachteten William Petty (1623–1687) gelten als Basis seiner Werttheorie zwar noch Arbeit und Natur als Wert schöpfend („Die Arbeit ist der Vater und der Boden ist die Mutter des Reichtums.“). In der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung wird aber der Beitrag der menschlichen Arbeit zur Entstehung von Reichtum im Vergleich zum Beitrag der Natur immer höher eingeschätzt. Mit dem Zusammenbruch der feudalistischen Produktionsverhältnisse und der schrittweisen Einführung bürgerlicher Arbeitsverhältnisse entstanden in England die Grundlagen der Arbeitswertlehre, nach der allein die menschliche Arbeit eine Kraft ist, die Produkte und Produktionsmittel und somit Wert erzeugt. Der Philosoph John ­Locke (1632–1704) in „Zwei Abhandlungen über die Regierung“: „Gott hat die Welt den Menschen gemeinsam übertragen und Vernunft verliehen, sie zum Vorteil und Annehmlichkeit des Lebens zu nutzen. Die Erde und alles was auf ihr ist, ist dem Menschen zum Genuss ihres Daseins gegeben. Alle Früchte, die sie natürlich hervorbringt, und alle Tiere, die sie ernährt, gehören den Menschen gemeinsam. Da die Früchte den Menschen zu ihrem Gebrauch verliehen wurden, muss es notwendigerweise Mittel und Wege geben, sie sich irgendwie anzueignen […]“ … „Das Gesetz, unter dem der Mensch stand, wies ihn geradezu auf Aneignung hin. Gottes Gebot und seine Bedürfnisse zwangen ihn, zu arbeiten. Worauf er seine Arbeit richtete, war sein Eigentum, das ihm nicht genommen werden konnte […]. Gott gab also durch das Gebot, sich die Erde zu unterwerfen, die Vollmacht, sie sich anzueignen.“ […] „Obwohl die Erde und alle niederen Lebewesen allen Menschen gemeinsam gehören, so hat doch jeder Mensch ein Eigentum an seiner Person. Auf dieses hat niemand ein Recht als nur er allein. Die Arbeit seines Körpers und das Werk seiner Hände sind, … sein Eigentum. Was immer er dem Zustand entrückt, den die Natur vorgesehen und in dem sie es belassen hat, hat er mit seiner Arbeit gemischt und ihm etwas eigenes hinzugefügt. Er hat es somit zu seinem Eigentum gemacht.“ Seit Locke hat der Mensch nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, sich die Natur durch Arbeit privat als Eigentum anzueignen. Eigentum an der Natur entsteht durch das Eigentum des die Arbeit Verrichtenden an seinem eigenen Körper. Ökonomischer Wert entsteht nur durch Arbeit, mit der die Natur, von der Locke nur Boden und Stoff (z. B. Erz) zur Kenntnis nimmt, transformiert wird. Die unbearbeitete Natur ist hingegen wertlos, sie ist nur Objekt der materiellen Transformation im Arbeitsprozess. Unbegründet vorausgesetzt wird das Vorhandensein einer unerschöpflichen Natur, die grenzenlos, nach Belieben und gratis nutzbar ist und ewig bleibt. Eine weitere Folge der Theorien ­Lockes ist die Vertiefung der Spaltung zwischen Natur und Gesellschaft. Kultur gilt als eine menschliche Daseinsform außerhalb der Natur, weil ja die Natur durch Bearbeitung 1. Wozu Artenschutz?

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und Aneignung ihre Eigenschaft als solche verloren hat. Tatsächlich scheinen uns auch gegenwärtig Stoffe und Kräfte, die auf technischem Weg erzeugt wurden, Maschinen, Fabriken, Häuser, Siedlungen „künstlich“, also nicht natürlich zu sein, obwohl sie nichts anderes als verformte Natur sind. Adam Smith (1723–1790), Moralphilosoph und Ökonom, begründete die klassische Volkswirtschaftslehre in der Frühzeit der industriellen Revolution in England. Kern seines 1776 erschienenen Hauptwerks „Wohlstand der Nationen“ ist ein sich selbst ordnender Markt, in dem die Menschen ihren natürlichen Interessen wie Selbsterhaltung und Wunsch nach Wohlstand frei nachgehen. Arbeitsteilung und Tauschwirtschaft von Waren sind die bestimmenden Merkmale dieser Gesellschaftsform, der Tauschgesellschaft. Der Tauschwert von Waren wird bei Adam Smith abstrakt bestimmt durch das Ausmaß der Arbeit, die ein Individuum leisten muss, um sich eine gewünschte Ware anzueignen. Neben Arbeitslohn bestimmen auch Gewinn aus Kapitaleinsatz und Bodenrente den Tauschwert einer Ware. Die Natur spielt selbst in der Bodenrente keine Rolle bei der Werterzeugung, weil sich die Bodenrente ausschließlich aus Arbeit und Eigentumsbildung errechnet. Da sich der Boden für den Erwerb als Eigentum eignet und er und seine Produkte deshalb auch getauscht werden können, kann er, obwohl Natur, Warenform annehmen und Tauschwert haben. Die Teilung der Naturbestandteile in solche, die als Waren innerhalb der menschlichen Gesellschaft einen Tauschwert besitzen können, und andere, die sich nicht als Eigentum abgrenzen, aneignen, teilen, abstrakt quantifizieren und tauschen lassen, legte vor 230 Jahren den Grundstein zu jenem Wirtschaftsgebäude, in dem alle nicht warenförmigen Bestandteile und Eigenschaften der Natur als Wert nicht existieren, obwohl sie als Produktivkräfte (z. B. Bodenorganismen, Luft, Wasser) eine große Rolle spielen. Da sie in der Tauschwertrationalität nicht existieren, ist es möglich, sie kostenlos auszubeuten, zu zerstören. David Ricardo (1772–1823), Börsenmakler und Ökonom, vollendete schließlich die Entfernung der Natur aus der Werttheorie. Er setzte eine unendlich verfügbare und sich unendlich reproduzierende, unzerstörbare Natur als unveränderliche Konstante einfach voraus, die als solche nicht in die Wertberechnung Eingang finden musste. Dass die Natur nicht zur Gänze der Tauschwertrationalität unterworfen werden kann, wurde selbst in der neokonservativen US-amerikanischen Gesellschaft als ernstes Problem des Biodiversitätschutzes erkannt (Heal 2001). Voraussetzung für das segensreiche Wirken der Marktkräfte („die unsichtbare Hand“), die jedes Individuum durch Verfolgung der eigenen Interessen die Interessen der Gesellschaft fördern lässt, sei, dass alle Güter privates Eigentum sind. Allerdings ließen sich nur Teile der Biodiversität privatisieren und folglich müsse Biodiversitätsschutz mit Maßnahmen außerhalb des Markts wie z. B. Gesetzen umgesetzt werden. Als wichtigsten Grund für das Versagen des Markts bei der Bewertung der Biodiversität nennt Heal den Umstand, dass der Marktwert die Bedeutung der Biodiversität für die menschliche Gesellschaft nicht richtig widerspiegeln könne. So wären z. B. Diamanten teurer als Wasser. Grundsätzlich wären aber Gesetze wesentlich unwirksamer als Marktinstrumente, und man sollte wegen ihrer vielen Nachteile für Gesellschaft und

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Wirtschaft möglichst auf sie verzichten, indem man die Privatisierung der Biodiversität und ihrer Leistungen für den Menschen so weit wie irgend möglich vorantreibt. So könnten z. B. einige Ökosystemleistungen privatisiert und verkauft werden, um Geld für ihren Schutz zu lukrieren. Agrarische und pharmazeutische Werte der Biodiversität sollen als intellektuelles Eigentum patentiert werden und insgesamt soll Biodiversitätsschutz möglichst so ausgeführt werden, dass durch Schaffung von Märkten für Natur und ökonomischer Anreize, Natur zu kaufen, auf Gesetze verzichtet werden kann. Staatliche Ausgaben für Biodiversitätsschutz sollen so knapp wie möglich gehalten werden, weil sie aus Steuergeldern bestehen und dies die Wirtschaft anderswo schwächen könne.

Geschichte des Naturschutzes Naturschutz in Gesetzgebung, Politik, Gesellschaft und öffentlichem Leben trat erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts mit der zunehmenden Industrialisierung auf den Plan. Früher gab es vom Gesetzgeber erlassene Schutzbestimmungen nur für die jagdliche Nutzung von Haar- und Federwild und den Wald, der vor Erfindung der Elektrizität und Nutzung fossiler Brennstoffe als Hauptenergieträger in hohem Maß übernutzt und degradiert war. Der menschlichen Wirtschaft als schädlich verurteilte Tiere wie Wildschwein, Wolf, Bär und Luchs, aber auch begehrte Jagdobjekte wie der Steinbock waren in großen Teilen Europas schon vor oder kurz nach der Mitte des 19. Jahrhunderts ausgerottet. Vorläufer in der Wertschätzung der Natur waren die Physiokraten François Quesnay (1694–1774) und Jean-Jacques Rousseau (1712–1778). Quesnay vertrat in der Zeit der landwirtschaftlichen Produktionskrise in Frankreich die Ansicht, dass nur die Natur in der Lage sei, neue Werte zu produzieren („Die Erde ist die einzige Quelle des Reichtums“). In der Zeit der Aufklärung und Klassik wurden erstmals Gedanken zu Natur- und Artenschutz formuliert. So forderte Johann Matthäus Bechstein (1757 bis 1822), Forstwissenschaftler und Zoologe, 1802 mit einer erstaunlich modernen Begründung den Schutz wild lebender Tierarten, besonders der Vögel, als Teil des „Haushaltes der Natur“. Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) verfasste 1803 ein bemerkenswertes Plädoyer für das Existenzrecht der Natur um ihrer selbst willen und die Rolle des Naturforschers in diesem Zusammenhang: „Wenn der Naturforscher sein Recht einer freien Beschauung und Betrachtung behaupten will, so mache er sich zur Pflicht, die Rechte der Natur zu sichern; nur da, wo sie frei ist, wird er frei sein, da, wo man sie mit Menschensatzungen bindet, wird auch er gefesselt werden.“ In der Romantik wurde die Natur und das Zerrissensein von Mensch und Natur ein wichtiges gesellschaftliches Thema in Europa. Friedrich Hölderlin (1770–1843), Begründer der romantischen Dichtung im deutschen Sprachraum, drückte dieses Gefühl mit den Worten „O gebt euch der Natur eh sie euch nimmt“ (Tod des Empedokles) meisterlich aus. Caspar David Friedrich (1774–1840) stellte in vielen eindrucksvollen Bildern den Menschen in der übermächtigen Natur dar (Abb. 1.1). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand in Europa und Nordamerika eine breite gesellschaftliche Strömung gegen die brutale Ausbeutung der Arbeiterschaft und die 1. Wozu Artenschutz?

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Industrialisierung der Landwirtschaft auf Kosten der Natur. Die Industrialisierung hatte zu großen gesellschaftlichen Umbrüchen geführt. Um die Industriearbeiter zu ernähren, musste der landwirtschaftliche Ertrag auf gleicher Fläche durch vermehrten Arbeitseinsatz gesteigert werden. Der 1781 von der Leibeigenschaft befreite österreichische Bauer hatte z. B. in der Regel nur kleinen Besitz, war arm und konnte sich wegen in der Nähe von Ballungsräumen hoher Lohnkosten die Aufnahme von Lohnarbeitern nicht leisten. Dazu kam, dass um 1800 viele Kleinhäusler ihr Nebeneinkommen aus gewerblicher Tätigkeit durch Konkurrenz von Maschinen, neuen Verkehrsmitteln etc. verloren. Dies alles führte zu Landflucht der ehemals bäuerlichen Landbevölkerung in die Städte, wo sie als Fabrikarbeiter Arbeit und Brot fand. Schon um 1870 gab es Ansätze, die Landwirtschaft in die globale Entwicklung der Industriegesellschaft einzubauen, indem mittels technischer, chemischer und wissenschaftlicher Innovationen die Nahrungsmittelproduktion gesteigert wurde. Zu dieser Zeit hatte sich bereits ein Weltmarkt für Grundnahrungsmittel mit Wettbewerb zwischen Produktionsstandorten in Europa und Übersee formiert. Um 1930 perfektionierten Traktor und Mineraldünger die Industrialisierung der Landwirtschaft. All dies führte zu einer bisher unbekannten Beschleunigung der Zerstörung von Natur und Biodiversität auf der landwirtschaftlich genutzten Fläche (Abb. 1.2). Der US-Amerikaner Henry David Thoreau (1817–1862) war eine Leitfigur der Reaktion gegen die Auswirkungen der Industrialisierung auf Natur und Gesellschaft und hatte großen Einfluss auf Entstehung und Entwicklung der Naturschutzbewegung. In den Wäldern von Massachusetts schrieb er in einer selbst gebauten Blockhütte das Buch „Walden“ über das einfache Leben in Zurückgezogenheit von der urbanen Massengesellschaft. Ab 1850 wurde der Naturschutz in Forstgesetze aufgenommen, Artenschutzgesetze erlassen (z. B. Robbenschutz in Kanada), erstmals Naturschutzgebiete rechtlich ausgewiesen (Naturdenkmäler und kleinere Schutzgebiete, aber – 1872 – auch der Yellowstone-Park als erster Nationalpark der Welt). Der Naturschutz wurde zu einer breiten gesellschaftlichen Bewegung: Es gab land- und forstwirtschaftliche Initiativen im Vogelschutz, Alpinvereine starteten erstmals Kampagnen gegen technische Wasserkraftnutzung, Naturschutzvereine wurden gegründet und sollten einen ungeahnten Aufschwung erleben. Naturschutzorganisationen waren anfangs größere oder kleinere Verbände von ehrenamtlich arbeitenden Gleichgesinnten, die entweder Naturliebhaber und/oder Naturwissenschafter waren. Ihr Motiv war der Schutz der Natur um ihrer selbst willen. Zunächst stand der Schutz seltener Arten im Vordergrund. Slogans wie „Rettet den Tiger“, „Rettet den Panda“ begleiten uns noch heute (Abb. 1.3). Später kamen Ankäufe von repräsentativen Flächen mit „schöner“, noch „unberührter“ Natur dazu. Als sich herausstellte, dass Arten nur erfolgreich geschützt werden können, wenn man auch ihre Lebensräume schützt, wurden zuerst Habitatschutz einzelner Arten und dann der Schutz ganzer Ökosysteme wie z. B. in Nationalparks zum Schwerpunkt der Aktivitäten. Alle diese Bemühungen schlossen in der Regel den Menschen nicht nur aus der Problemlösung, sondern auch aus den Schutzgebieten aus. Sozioökonomische Gründe für die Gefährdung einzelner Arten oder Lebensräume wurden bei der Konzeption und

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Durchführung von Artenschutzprogrammen lange Zeit nicht ausreichend oder gar nicht berücksichtigt. Der weltweit prekäre Zustand der natürlichen Ressourcen und Ökosysteme hatte sich seit den 1960er-Jahren abgezeichnet. 1963 erschien ein Buch, das das 20. Jahrhundert prägen sollte, „Der stumme Frühling“ von Rachel Carson. Es stellte vor allem den Biodiversitätsverlust als Folge der Anwendung giftiger Agrarchemikalien dar. 1968 wurde der Club of Rome gegründet, 1973 sah Dennis Meadows in seinem Buch „Grenzen des Wachstums“ bereits die Ressourcenerschöpfung, den Klimawandel und die zunehmenden Konflikte zwischen armen und reichen Nationen heraufdämmern.

Die World Conservation Strategy

Die Verabschiedung der World Conservation Strategy um 1980 änderte Vorgangsweise und Charakter des Naturschutzes radikal. Um dem globalen Charakter der Probleme Rechnung zu tragen, formulierten 1980 drei international tätige Naturschutzorganisation die neue Welt-Naturschutzstrategie. Die drei Partner waren die Welt-Naturschutzunion – IUCN (gegründet 1948) mit ihrer globalen wissenschaftlichen Kompetenz, der Worldwide Fund for Nature – WWF (gegründet 1961) mit starken Verbindungen zur Wirtschaft und UNEP, das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (gegründet 1972), dessen Mitglieder Regierungen von Staaten sind. In der World Conservation Strategy sind bereits alle Themen- und Tätigkeitsfelder sowie Lösungsansätze im Bereich des Schutzes der lebenden Ressourcen und der nachhaltigen Entwicklung, die uns bis heute beschäftigen, enthalten. Die fundamentale Zäsur gegenüber dem traditionellen Naturschutz lag darin, dass dem Menschen eine wichtige Rolle bei der Lösung von Naturschutzproblemen zugewiesen wurde, dass sich Naturschutzorganisationen nicht an die eigene Klientel, sondern ein viel größeres Publikum und vor allem an Entscheidungsträger wenden und dazu eine Sprache und Argumentation verwenden sollten, die auch von Politikern und Ökonomen verstanden wird. Die World Conservation Strategy begnügte sich nicht mehr damit, die Rettung einzelner Arten und den Schutz bestimmter Habitate zu fordern, sondern verlangte weitaus mehr. Schutz der Biodiversität, Erhaltung der Ökosystemleistungen, Nachhaltigkeit bei Ressourcenverbrauch müssen zu einem Teil der Planung und wirtschaftlichen Entwicklung werden. Schließlich entschloss sich die World Conservation Strategy, Notwendigkeit und Vorteile des Naturschutzes mit ökonomischen Ziffern zu argumentieren. Für einen Naturschutz, dessen Vorteile sich in Kosten-Nutzen-Rechnungen ausdrücken ließen, wurde größere Akzeptanz erwartet als von Appellen an das Gewissen und von Forderungen, die wirtschaftliche Entwicklung aufzuhalten. Als typisches Beispiel für Entwicklung eines Naturschutzvereins sei die amerikanische Nature Conservancy herangezogen. Sie hat sich aus der 1915 gegründeten Ecological Society of America entwickelt, einer Gesellschaft, die sowohl wissenschaftliche als auch naturschützerische Zielsetzungen hatte. Nach dem Krieg gründet eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern eine Nachfolgeorganisation, die „Ecologists Union“: Im Jahr 1950 1. Wozu Artenschutz?

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wurde sie zu einem gemeinnützigen Verein mit dem Namen „Nature Conservancy“. In dem Ausmaß, in dem sich der ökologische Zustand der Erde verschlechterte, wuchs die Bedeutung der Nature Conservancy. Heute ist sie in fast allen Staaten der USA und in 30 Ländern der Welt tätig, hat eine Million Mitglieder, schützt 119 Millionen Hektar Land und 5000 Flussmeilen. In ihren Gremien arbeiten gut bezahlte Wissenschaftler und Ökonomen. So wechselte z. B. im Jahr 2008 Mark Tercek, der frühere Chef des GoldmanSachs-Zentrums für Environmental Markets, als Präsident and Chief Executive Officer in die Nature Conservancy. Kritische Stimmen warnten davor, dass sich der neue Naturschutz der ökonomischen Logik beugen und Ehrfurcht und Respekt vor dem Leben verlieren könnte. Das wichtigste Argument der Kritik war, dass es ohne Verminderung des unkontrollierten Bevölkerungswachstums eine Versöhnung zwischen Mensch und Natur gar nicht geben könne. So sehr die Ziele „Versöhnung von Natur und Mensch“ und „Naturschutz zum gegenseitigen Vorteil“ in die richtige Richtung wiesen, so verhängnisvoll scheint die zur Durchsetzung gewählte Methode der ökonomischen Rechtfertigung (Naturschutz macht sich bezahlt) und der utilitaristischen Begründung (Naturschutz sichert die Fortdauer der ökonomischen Entwicklung) der World Conservation Strategy. An wenigen Beispielen (Öko- und Jagdtourismus) zeigte sich zwar, dass die Vermarktung von gefährdeter Natur tatsächlich eine verlässliche und bestens akzeptierte Methode des Artenschutzes sein kann. Der Wunsch, das profitable Geschäft weiter betreiben zu können, bildet den Anreiz, die Lebensräume der touristisch vermarkteten frei lebenden Gorillas in Regenwaldgebieten und des zum Abschuss angebotenen Wilds in privaten „gamefarms“ im optimalen Zustand zu erhalten (Abb. 1.4). Dieser garantiert wiederum den Fortbestand von Ökosystemleistungen wie sauberes Wasser und Schutz vor Bodenerosion für die gesamte Bevölkerung. Andere in der World Conservation Strategy formulierte Ziele sind jedoch bis heute nicht nur nicht erreicht, sondern erweisen sich als von Tag zu Tag unerreichbarer. Statt z. B. die genetische Vielfalt der Pflanzen und Tiere in situ als langfristige Versicherung zur Aufrechterhaltung und Verbesserung der land- und forstwirtschaftlichen sowie fischereilichen Produktion zu erhalten, machen global agierende agroindustrielle Konzerne weltweit landwirtschaftliche Betriebe von genmanipuliertem Saatgut abhängig. Die Patentierung und somit private Aneignung von Genen und genveränderten Organismen wurde mit dem ökonomischen Anreiz, deren nützliche Eigenschaften zu erhalten, argumentiert. In der Praxis rentiert sich erwartungsgemäß der monopolistische Besitz, vorteilhafte Auswirkungen auf die Biodiversität und auf die Nahrungsmittelsicherheit sind jedoch fraglich. In die Erbsubstanz vieler genveränderter Nahrungspflanzen eingebaute sogenannte Terminator-Gene verhindern, dass die Eigenschaften der Elternpflanzen an die Nachkommen weitergegeben werden. Dadurch sind Bauern gezwungen, alljährlich neues Saatgut vom Produzenten zu kaufen und es in Form von Monokulturen auf ihren Flächen anzubauen. Der Vorteil des Patenteigentümers liegt auf der Hand: Er verdient mehr und kann Nichtzahler vom Konsum ausschließen. Ob er, wie vielfach behauptet wird, große Teile des Gewinns in Biodiversitätsschutz investiert, ist nicht nachvollziehbar.

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Die Patentierung eines transgenen Getreides mit eingebauten Genen des Bacillus thuringiensis durch Monsanto und Novartis stellt eine Gefährdung der Biolandwirtschaft und deren umfassende Leistungen für die Biodiversität dar. Der Bacillus thuringiensis produziert ein Toxin gegen viele landwirtschaftliche Schädlinge. Da es biologisch abbaubar ist. wird es von Biofarmern als Pestizid benutzt. Da das transgene Getreide sehr weit verbreitet ist, ist zu erwarten, dass sich bei den Schädlingen rasch Immunität gegenüber dem Toxin entwickeln wird. Deshalb werden die Patenteigentümer neue transgene Pflanzen züchten, den Biofarmern wird jedoch kein unschädliches Pestizid mehr zur Verfügung stehen.

Internationale Konferenzen formulieren unverbindliche Ratschläge

Seit der Verabschiedung der World Conservation Strategy (CBD) fordern internationale Verträge und Konventionen in immer kürzeren Abständen die Umsetzung nationaler und internationaler Aktionspläne und anderer Natur- und Artenschutzmaßnahmen mit messbaren Zielen. 1992 wurden Ressourcenerhaltung und Nachhaltigkeit in einem internationalen Vertragswerk, der Biodiversitätskonvention (Übereinkommen über die biologische Vielfalt) festgehalten. Die CBD hat 191 Vertragspartner und wurde von 168 Staaten, darunter Österreich, sowie der EU unterzeichnet. Die Mitgliedstaaten sind völkerrechtlich zur Umsetzung der CBD verpflichtet, jedoch nicht gezwungen. „Wieso wollen Sie die Biodiversitätskonvention im Nationalpark angewendet wissen? In welchem Gesetz soll das stehen?“. Frage des Leiters einer österreichischen Naturschutzbehörde im Jahr 2009.

Im Jahr 2000 rief UN-Generalsekretär Kofi Annan das Millennium Ecosystem Assessment „MA“ ins Leben. 2002 beschlossen die Mitgliedstaaten der Biodiversitätskonvention, die gegenwärtige Verlustrate an biologischer Vielfalt auf globaler, regionaler und nationaler Ebene bis zum Jahr 2010 signifikant zu reduzieren, um so einen weltweiten Beitrag zu Armutsbekämpfung und menschlicher Wohlfahrt zu leisten. Heute, im Herbst 2009, ist absehbar, dass das „2010-Ziel zur biologischen Vielfalt“ nicht erreicht werden konnte. Bei einer hochrangigen EU-Konferenz Ende April dieses Jahres in Athen beschloss die Kommission daher eine neue Strategie „Schutz der Biodiversität“ nach 2010. Aus der Erkenntnis, dass funktionierende Ökosysteme eine Grundvoraussetzung für das Überleben der Menschheit auf diesem Planeten darstellen, wurden 2007 der Chef des Londoner „Global Market Centre“ der Deutschen Bank und das deutsche Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung vom deutschen Bundesumweltminister und vom EU-Umweltkommissar Dimas mit einer umfangreichen Studie „TEEB – The Economics of Ecosystems and Biodiversity“ beauftragt. Das Ziel der Studie ist die monetäre Bewertung der Ökosystemleistungen wie Nahrung, sauberes Wasser, Schutz vor Naturkatastrophen und Erosion, Holz, Arzneistoffe und Erholung für die Menschheit. 1. Wozu Artenschutz?

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Die Rolle der Naturschutzorganisationen

Einer eingehenden Betrachtung bedarf die als Folge der World Conservation Strategy eingetretene Änderung der Rolle der Naturschutzorganisationen. Viele von ihnen sind heute als Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) national und international tätig und als wirtschaftliche Unternehmen organisiert. Ihre Aufgabe wäre es, die Interessen der Natur, die selbst weder Recht noch Stimme hat, gegenüber den ökonomischen und sozialen Interessen des Menschen in den Regierungen zu vertreten. Um dies mit Erfolg tun zu können, wäre erstklassiges naturschutzfachliches, ökonomisches und oft auch technisches Know-how vonnöten, das in ehrenamtlicher Tätigkeit weder erworben noch fortgebildet werden kann. Da NGOs in den seltensten Fällen in der Lage sind, Spitzenkräfte aus Mitgliedsbeiträgen zu finanzieren, sind sie finanziell von Kooperationen mit Politik und Wirtschaft abhängig. Diese finanzielle Abhängigkeit konterkariert ihre Rolle als gleichwertiger Verhandlungspartner, führt zu Verlust des Einflusses bei der Vertretung von Naturschutzanliegen und ist ein Grund dafür, dass „Fundraising“ so große Teile der Kapazität in Anspruch nimmt, dass die eigentlichen Ziele allmählich in den Hintergrund treten. Ein ernster Versuch, den Naturschutz neben Wirtschafts- und Kammer für Arbeiter und Angestellte als gleichberechtigte und gleichartig finanzierte Organisation in Österreich zu etablieren, schlug fehl. Angesichts der Tatsache, dass die bisherigen Bemühungen der NGOs zwar die Aufmerksamkeit großer Teile der Bevölkerung geweckt, aber kaum zu überzeugenden Erfolgen geführt haben, wird nun Naturschutz von Ökonomen in Zusammenarbeit mit Ökologen konzipiert (TEEB-Report 2008). Die Studie erkennt Fehler der Weltwirtschaft („perverse ökonomische Akteure und Versagen der Märkte, Politik und Information“) als Hauptursache der gegenwärtigen ökologischen Krise und nimmt an, dass der „defekte ökonomische Kompass“ durch Ausrichtung der Ökonomie entlang der richtigen Informationen wieder repariert werden könnte. Erfolgversprechende Pläne sind: Überdenken umweltschädlicher Subventionen, konsequente Anwendung des Verursacherprinzips, richtige Preisgestaltung für die für Menschen vorteilhaften Ökosystemleistungen durch Schaffung privater Tauschmärkte, Zahlung der öffentlichen Hand an private Eigentümer von Ökosystemleistungen für entgangene Gewinne, Aufteilung des ökonomischen Werts von Schutzgebieten (z. B. durch Tourismus) auf die Gemeinden, in denen sich die Schutzgebiete befinden, Einbeziehung bisher nicht erfasster ökologischer Messgrößen in ökonomische Kennzahlen und letztlich die Schaffung eines Idealbilds einer neuen, sicheren, stabilen Welt mit universellem Zugang zu sauberem Wasser und gesunder Nahrung, in der die mit Rücksicht auf die dahinter liegenden ethischen Entscheidungen behutsam genutzte Biodiversität als Infrastruktur menschliches Wohlergehen garantiert.

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Wozu Artenschutz? Wie aus den bisherigen Ausführungen hervorgeht, fand seit den letzten 200 Jahren ein riesiger und sich immer mehr beschleunigender, globaler Artenverlust statt. Setzt sich das Artensterben in diesem Ausmaß fort, wird es die Funktionsfähigkeit von vielen Ökosystemen, deren unverzichtbare Funktionselemente Arten sind, unwiederbringlich zerstören. Weltweit sind bereits jetzt mehr als 60 % der Ökosysteme beeinträchtigt. Global betrachtet, hat die Erde in den letzten 300 Jahren 40 % der ursprünglichen Waldfläche eingebüßt, seit 1900 die Hälfte der Feuchtgebiete verloren, und in den letzten Jahrzehnten sind 30 % der Korallenriffe und 35 % der Mangrovenwälder verschwunden (TEEB-Report 2008). In naher Zukunft wird sich entscheiden, ob die bisher noch nicht ausgerotteten Arten und noch nicht zerstörten Ökosysteme als Garantie für die zukünftige menschliche Existenzfähigkeit durch Unterlassung des bisherigen Missbrauchs und Raubbaus erhalten werden oder ob sich die Menschheit weiterhin auf die Illusion einlässt, von der Natur ganz unabhängig werden zu können, indem sie mithilfe der Sonnenenergie die gesamte Natur zum alleinigen Gebrauch des Menschen technisch transformiert. Die Menschheit hat auf dieses Problem bisher noch keine Antwort gefunden. Dies beruht vermutlich darauf, dass es ohne zwingende Gründe keine Möglichkeit gibt, sich aus den Zwängen der globalen Märkte und des Wachstumsglaubens zu befreien. Es mag aber auch auf dem tief sitzenden Glauben an die schier unbegrenzten Fähigkeiten von Homo faber und Homo oeconomicus beruhen, der Natur alle Geheimnisse entreißen und in egoistischer Manier alleine nutzen zu können. Dabei wird zweierlei nicht ausreichend beachtet: Erstens, dass die Erdfläche für die Ernährung und Behausung der rasch zunehmenden Bevölkerung bald zu klein sein wird. Zwischen 1800 und 2000 ist die Nahrungsmittelproduktion um das Zehnfache, die Weltbevölkerung um das Sechs- bis Siebenfache gestiegen. Die UNO geht davon aus, dass am Ende des 21. Jahrhunderts 9 bis 10 Milliarden Menschen auf der Erde leben werden. Agrarökonomen sehen keine Schwierigkeit, diese Menschenmassen nachhaltig zu ernähren. In Drittweltländern, in denen noch immer Subsistenzwirtschaft betrieben wird, müsste mittels Technologietransfer die Agrarproduktion von bisher einer auf zwei Ernten gesteigert werden. Auch müssten die Weltmärkte offener sein und die Verteilung der Lebensmittel durch den Weltagrarhandel müsste verbessert werden. Hoffnung wird ferner in die Agrarforschung gesetzt, neben Biotechnologie müsste die Düngerproblematik in den Griff bekommen werden. Der jetzt verwendete Stickstoffdünger überdüngt die Böden und Meere und trägt zum Treibhauseffekt bei. Derzeit erleben wir, dass die flächen- und energieintensive Viehzucht durch synthetische Nahrungsmittelproduktion ersetzt werden soll. Zur Erzeugung der als Ersatzstoffe in Anwendung kommenden Produkte Sojamehl und Palmöl werden die Regenwälder gerodet, was, wie weiter oben besprochen, einen riesigen Impakt auf die Biodiversität hat. Die traditionelle Milchwirtschaft wird dem Untergang preisgegeben.

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Alternativen zur Viehzucht gesucht und gefunden Analoger Käse enthält oft sehr wohl Kasein, also aus Milch gewonnenes Protein, aber kein Milchfett, sondern pflanzliches Fett. Für die Nahrungsmittelindustrie ist er von Vorteil, weil er schneller und billiger herzustellen ist; dazu kommt, dass sein Schmelzverhalten gut regulierbar ist. Fleisch, das nicht im Körper lebender Tiere gewachsen ist, sondern in Zellkulturen: Weltweit befassen sich Wissenschaftler mit dieser energetisch weit günstigeren Alternative zur Viehzucht, vor zwei Jahren fand ein „In-vitro Symposion“ statt, skurrilerweise in einem norwegischen Ort namens Aas. Die Presse, 17. 6. 2009

Der zweite fatale Irrtum ist, nicht zu erkennen, dass die immer raffinierter werdenden Transformationen der Natur die menschlichen Gesellschaften negativ verändern und in ihrer Existenz bedrohen. Waren es anfangs Kraft- und Arbeitsmaschinen, neue Arbeitsund Betriebsorganisationen, Globalisierung der Märkte, nach dem Zweiten Weltkrieg neue Industriezweige wie Elektro-, Chemie-, Automobil- und Flugzeugindustrie, Massenproduktion und Massenkonsum, so kamen später Automatentechnologie, synthetische Chemie, Elektronik und Computerisierung dazu, was schließlich das Hantieren mit den winzigen Bausteinen (Nanotechnologie, Atomtechnologie, Biochemie, Gentechnologie) ermöglichte. Der Mensch verfügt jetzt über potenziell lebensbedrohliche Naturkräfte und steht sozialen Herausforderungen gegenüber: Die monströs angewachsene Weltbevölkerung als Folge massiv verbesserter Nahrungsmittelproduktion und medizinischen Fortschritts; Migration durch ungleiche Wohlstandsverteilung aufgrund von Lebensraumzerstörungen; Arbeitslosigkeit durch Automatisierung und hohe Arbeitsgeschwindigkeit; globale Verschmutzung mit Industrieabfall; Verödung der Umwelt durch Nachlassen und Versiegen vieler natürlicher Produktionskräfte (Abb. 1.5). Langsam verliert die Natur ihre Eigenschaft als Lebensraum, Lebensmittel und Lebensinhalt des Menschen (Immler 1990). Weitere Transformationen der Natur werden das Antlitz der Erde und der Menschheit verändern. Milliarden Menschen werden in grenzen- und geschichtelosen, den gesamten Erdball umspannenden urbanen Landschaften leben, sich von synthetisch hergestellten Lebensmitteln und aufbereitetem Meerwasser ernähren und ihre emotionalen und spirituellen Bedürfnisse aus dem Cyberspace befriedigen (Abb. 1.6). Der Mensch als Schöpfer der Evolution: Die Evolution im Computer. Aus einem selbst gebastelten Einzeller muss der Spieler konkurrenzfähige intelligente Lebensformen heranzüchten, um am Ende möglichst den Weltraum zu erobern. Ob ökonomisch, diplomatisch oder kriegerisch, bleibt ihm selbst überlassen. (Spore (PC, Nintendo DS) Aus: „Leitfaden für Erziehungsberechtigte: Empfehlenswerte Computer- und Videospiele“. profil vom 24. Nov. 2008.

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Die folgende Auflistung der Gründe, wozu Artenschutz nötig ist, ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass es neben utilitaristischen Zielsetzungen, deren Erreichung auch sozioökonomisch erwünscht ist und deshalb in der Theorie realisierbar scheint, eine Reihe von Motiven gibt, die moralischer, ästhetischer, spiritueller Natur sind. 1. Fortdauer des Evolutionsprozesses Sinkt die Zahl der Arten einer Organismengruppe an vielen Stellen der Erde dramatisch ab oder sterben ganze Familien oder gar Ordnungen aus, erlischt die Möglichkeit, dass sich aus solchen Artenpools neue Arten entwickeln. Die Evolution muss einen neuen Anlauf nehmen, dessen Dauer allerdings in erdgeschichtlichen Dimensionen zu messen sein wird. 2. Funktionieren der ökosystemaren Prozesse Ökosystemare Prozesse laufen zwischen der unbelebten Umwelt und den Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen ab. Sie erzeugen auch die basalen biochemischen Prozesse im Wasser, an Land und in der Luft, die auch für Überleben und Wohlbefinden des Menschen wichtig sind. Artenschutz ist wichtig zur Stärkung der Resilienz und Anpassungsfähigkeit der Ökosysteme an jegliche Umweltveränderung, z. B. Klimawandel. Unsere Nahrungsmittel kommen aus dem Boden, dessen Fruchtbarkeit von den in ihm lebenden Bodenorganismen bestimmt wird. Wenn auch bisher nicht nachgewiesen werden konnte, dass höhere Biodiversität die Produktivität des Bodens erhöht, so wurde doch festgestellt, dass sich mit zunehmender Zahl der Pflanzenarten und Bodenorganismen die Fähigkeit des Bodens, auf geänderte Bedingungen robuster zu reagieren, verbesserte. Die Erhaltung natürlicher Pflanzenbestäuber garantiert die sexuelle Fortpflanzung von Obstbäumen und somit die Erhaltung deren genetischer Diversität. Eine artenreiche Vogelwelt sorgt für natürliche, gift- und rückstandsfreie Bekämpfung von Schädlingen in der Land- und Forstwirtschaft. Der Luftsauerstoff, den alle Tiere und auch die meisten Pflanzen der Luft entnehmen, wird zu 75 % aus pflanzlichem Plankton im Meer, der Rest von den Wäldern dieser Erde erzeugt. Das Klima der Erde wird außer von den Meeren von den Regenwäldern gesteuert. Ohne Wasser kein Leben! Sauberes Grund- und Oberflächenwasser mit Trinkwasserqualität kann es nur in funktionsfähigen Ökosystemen geben. Mit Industrieabfällen kontaminiertes Wasser, das in betonierten Kanälen durch naturferne Stadtlandschaften fließt, kann sich nicht selbst reinigen. Bereits jetzt hat mehr als eine Milliarde Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. 3. Versorgungssicherheit/Nahrung Arten- und genetische Diversität sichert die zukünftige Nahrungsgrundlage der Menschheit. Während sich Gefährdung der künftigen Versorgung mit Fleisch von Haustieren infolge zunehmenden Mangels an Weide- und Futteranbauflächen erst allmählich abzeichnet, ist der Raubbau an wild lebenden Tieren für menschliche Nahrungszwecke schon sehr weit fortgeschritten.

1. Wozu Artenschutz?

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Die trotz Warnungen anhaltende, mit gigantischen Subventionen am Leben gehaltene industrielle Ausbeutung der Meere mit riesigen Fangflotten, die mit Hightech und kilometerlangen Netzen ausgerüstet sind, macht eine Regeneration der Fischbestände unmöglich. Obwohl die Bestände früherer Massenfischarten wie Kabeljau, Makrele und Thunfisch heute bis auf 10 % des ursprünglichen Werts geschrumpft oder ganz zusammengebrochen sind, bleiben sowohl Fangquoten als auch die Menge der ungenützt getöteten Beifänge (Schildkröten, Robben, Haie, Wale, Delfine und Seevögel) viel zu hoch. So werden z. B. für eine Tonne Seezungen 11 Tonnen Beifang getötet. Um Grundfische und Muscheln zu fangen, werden die Meeresböden regelrecht abgebaggert, was wichtigen Lebensraum vieler Meeresorganismen zerstört. Verlust und völliger Ausfall von Fischarten, die an der Spitze der marinen Nahrungskette stehen, können die Balance im gesamten Ökosystem auf katastrophale Weise verändern. Kleine Plankton fressende Fische und Quallen werden sich stark vermehren, was weitere heute nicht absehbare Veränderungen zur Folge haben wird. Die Züchtung von Fischen und Garnelen in Meeresfarmen hat dieselben negativen Folgen wie jede andere Massentierhaltung: Überdüngung, Einsatz von Chemikalien, Ausbreitung von Krankheiten, Konkurrenz um Platz mit dem natürlichen Ökosystemen. Wild lebende Tiere werden als Bushmeat in den Tropen von der indigenen Bevölkerung für den eigenen Verzehr, aber auch für den Handel gejagt. Allein in Afrika wird alljährlich eine Million Tonnen Bushmeat verzehrt. Im Gefolge des Straßenbaus für Fällungen teurer Regenwaldbäume hat der Handel mit Menschenaffen, die als Bushmeat gefangen wurden, gefährliche Dimensionen angenommen. Das Gleiche gilt für massenweisen Fang und Tötung von Tieren aus naturmedizinischen Gründen. Der Handel mit Nashornpulver und Tigerextrakten als Potenzmittel ist ein wichtiger Gefährdungsfaktor für diese bereits äußerst seltenen Arten. Befremdend ist, dass das Wissen um die Seltenheit einer Art, den Wunsch, sie zu konsumieren, sie sich einzuverleiben, steigert. Ein in einem Supermarkt durchgeführtes Experiment hat gezeigt, dass Konsumenten, die vor die Wahl gestellt wurden, ob sie den billigeren Kaviar einer häufigeren Störart oder den teuren Kaviar einer vom Aussterben bedrohten Art kaufen wollen, sich mehrheitlich für das teurere Produkt entschieden haben. Die Grundnahrungsmittel der Menschheit bestehen aus nur wenigen Pflanzenarten wie Getreide, Reis, Mais, Soja, Kartoffeln, Obst und Gemüse etc. Umso wichtiger ist es, die genetische Vielfalt dieser Arten zu schützen. Zum Beispiel hängen von nur einem Grundnahrungsmittel, dem Reis, Milliarden Menschen ab. Die Erhaltung einer großen Zahl verschiedener Arten und Ökotypen der Nahrungspflanzen ermöglicht die Züchtung ertragreicherer Sorten. So konnte in den letzten 50 Jahren eine Verdoppelung des Ernteertrags bei Reis, Gerste, Sojabohnen und Zuckerrohr, eine Vervierfachung bei Mais, Sorghumhirse und Kartoffeln erzielt werden. Ein großer Pool genetischer Vielfalt ist auch Voraussetzung für die Züchtung krankheitsresistenter Nahrungspflanzen. Landwirtschaftlich genutzte Pflanzen und Tiere werden ständig von neuen Krankheiten befallen, weil sich die Krankheitserreger mittels Genmutation ständig verändern. Sind einzelne Individuen der Erreger zufällig gegen natürliche

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oder künstliche Abwehrstoffe wie z. B. Arzneien, Insektizide und Impfungen resistent, überleben sie und pflanzen sich fort. Krankheiten und Insekteninvasionen können zu katastrophalen Ernteausfällen und Hungersnöten führen. Das bekannteste Beispiel ist die große Hungersnot in Irland in den 1850er-Jahren, als durch mehrere Kartoffelmissernten infolge des Auftretens der Kartoffelkrankheit 500 000 bis eine Million Iren verhungerten und eine weitere Million nach Kanada, Australien und in die USA auswanderte. Erst vor Kurzem konnte ein Abwehr-Gen gegen die Kartoffelkrankheit gefunden werden. In den 1970er-Jahren bedrohte ein neuer, aggressiver Virus die asiatischen Reisfelder. Die Zucht eines gegenüber diesem Virus resistenten Reises gelang mithilfe einer internationalen Reis-Samenbank. Der Reis, der das resistent machende Gen enthielt, stammte aus einem kleinen Gebiet, das infolge eines Kraftwerkbaus unter Wasser gesetzt worden war! Organischer Abbau Die Fähigkeit von Organismen, Materie zu zersetzen und chemische Stoffe zu entsorgen, wird in der Abfallwirtschaft genutzt. Klär- und Recyclinganlagen nutzen die Leistungen der destruenten Organismen. Giftresistente Pflanzen setzt man zur Entgiftung vergifteter Böden ein. Energieversorgung Während der Motor der weltweiten Industrialisierung bisher hauptsächlich mit Energie aus fossilen Brennstoffen betrieben wurde, wendet sich der Mensch jetzt allmählich nachwachsenden Energieträgern zu. Da natürliche Wälder nicht im für die Versorgung der fast sieben Milliarden Menschen erforderlichen Tempo nachwachsen, wird an deren Stelle und auch auf früher bäuerlich genutztem Land rascher wachsende Biomasse angebaut. Diese Praxis zerstört ebenso wie der Anbau von Soja und Palmöl in ehemaligen Regenwäldern großräumig wertvolle Ökosysteme. Besonders in den Tropen führt dies zu einem gigantischen Biodiversitätsverlust. Um Energieversorgung zu sichern, sollte sich der Mensch ausschließlich der Sonnenenergie, die ein Vielfaches des Weltprimärenergiebedarfs kostenlos liefert, bedienen. Arzneien Fast die Hälfte aller pharmazeutischen Wirkstoffe wird direkt aus Organismen gewonnen. So werden ca. 40 % des Gewinns, der beim Verkauf von Pharmazeutika in den USA gemacht wird, aus Pflanzen oder anderen Organismen erlöst. Das „Wunder“mittel Aspirin stammt z. B. aus Weidenrinde. Drei Viertel der Weltbevölkerung hängt von naturmedizinischen Mitteln ab (Abb. 1.7). 4. Wissenschaftlicher Wert Die Erforschung der Biodiversität lässt uns das Wirken der Natur und die körperlichen Eigenschaften des Menschen besser verstehen. Biochemische und biotechnische Analysen der Biodiversität sind nicht nur für Medizin, Pharmazie und Pflanzenschutz wichtig, son1. Wozu Artenschutz?

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dern spielen auch eine zentrale Rolle in der Entwicklung neuer Werkstoffe und Verfahren. Ein Beispiel ist die Polymerase-Kettenreaktion zur Herstellung von DNA-Abschnitten. Sie funktioniert mit Enzymen, die hohe Temperaturen aushalten. Solche wurden in Bakterien gefunden, die in den heißen Quellen des Yellowstone-Nationalparks leben. Derzeit erforscht eine Projektgruppe „Bioressourcen“ der Uni Gießen die biochemisch und biotechnisch brauchbaren Eigenschaften der Insekten, die die arten- und erfolgreichste Organismengruppe der Erde sind. Aus dem Speichel von Schmeißfliegen, der antibakteriell wirkt, versucht man diejenigen Moleküle zu definieren, die man für den medizinischen Einsatz später künstlich herstellen will. Die Wachsmotte ist ein möglicher Lieferant für neue „grüne“ Antibiotika, die im landwirtschaftlichen Pflanzenschutz gegen schädliche Pilze eingesetzt werden sollen. Man hofft, dadurch den Gebrauch von Fungiziden weitgehend zu reduzieren. Statt auf die begrenzt verfügbaren fossilen Rohstoffe setzt die Industrie immer öfter auf nachwachsende Biomaterialien aus Nahrungspflanzen. Der Weltmarkt für nachwachsende Biomaterialien, wie Milchsäure, Bernsteinsäure, Glycerin etc., zur Herstellung von Biokunststoffen und Bioverbundstoffen wird bis zum Jahr 2050 auf einen Marktwert von 5 Mrd. USD ansteigen, und sich damit gegenüber 2008 verdreifachen. Vorteile sind geringere Preisschwankungen, geringere Treibhausgasemissionen und Nachhaltigkeit aufgrund besserer Abbaubarkeit. Biopolymere werden auch in der Automobil- und Bautechnik eingesetzt. 5. Nachahmungswert In der „Bionik“ werden den Lebewesen Konstruktionen und Verfahren „abgeschaut“, diese werden analysiert und innovativ technisch weiterverwendet. Bekannte Beispiele sind Anregungen aus der Natur für die Entwicklung eines stromlinienförmigen Körpers für den Schiffs- und Flugzeugbau, für die Minimierung des Reibungswiderstands durch Gestaltung von Oberflächenstrukturen (z. B. Haihaut) und für die Selbstreinigung von Oberflächen (Lotuseffekt). Gewisse Eigenschaften von Naturprodukten, wie z. B. die Reißfestigkeit und Elastizität des Spinnenfadens konnten technisch noch nicht erreicht werden. Derzeit arbeiten weltweit mehrere Forschungslabors an „fliegenden Augen, hüpfenden Nasen, krabbelnden Ohren“, die als kleine, insektenförmige Sensoren, Motoren und Akkus in der militärischen und zivilen Überwachungstechnik eingesetzt werden sollen (VDI Nachrichten, 9. Okt. 2009). Die menschliche Technik kann niemals die Perfektion von Form und Funktion und somit vollendete Schönheit erreichen, zu der die Evolution Jahrmillionen gebraucht hat: O Mensch, du wirst nie nebenbei der Möwe Flug erreichen. Wofern du Emma heißest, sei zufrieden, ihr zu gleichen. Christian Morgenstern: Alle Galgenlieder (1905)

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Auch in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften werden von Pflanzen und Tieren praktizierte Problemlösungen abgeschaut (Sozial-Bionik) und für den menschlichen Gebrauch adaptiert. Ökonomen arbeiten an der „evolutionären Ökonomie“, in der biologische Gedanken wieder in die Welt der Wirtschaft einfließen. „Uns erscheint eine Synthese von Darwin und Smith als besonders fruchtbarer Weg“ (Kurt Dopfer, St. Gallen, in Die Presse vom 7. 3. 2009). 6. Erholung durch direkten Kontakt mit wild lebenden Arten in der Natur Physische und psychische Gesundheit eines Menschen wird durch den Aufenthalt in der Natur gefördert. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass die erschreckende Zunahme psychischer Erkrankungen nicht nur mit dem von der Technik vorgegebenen schnellen Arbeitstempo, sondern auch mit dem Verlust der Beziehung zwischen Mensch und Natur zu tun hat. Den Aufenthalt in der Natur empfinden wir als gesund, er „härtet ab“, schärft die in der Zivilisation abgestumpften Sinne. Wir werden der stupenden Fülle von Pflanzen und Tieren, Gerüchen und Geräuschen gewahr und vergessen die eigenen Probleme. Auch in einer Zeit, in der weder die Stadt- noch die Landjugend mehr als drei Vogelsorten kennt (Taube, Krähe, Vogel), jemals ein lebendes Rind gesehen hat und die Äpfel vom Baum pflückt, statt sie im Supermarkt zu kaufen, gibt es noch immer viele Menschen, die in der „freien“ Natur Trost und Seelenfrieden, Vergnügen und Erholung finden. Der Naturund Ökotourismus – Wanderungen, Vogelbeobachten, Reisen zu Naturphänomenen wie Lachswanderung und Kranichzug und in Schutzgebiete – ist in der Regel nachhaltig und hat einen immer größer werdenden Stellenwert. Wenn man den Angaben trauen darf, besteht die Freude an Fischen und Jagen nicht im Töten, sondern im Beobachten und Überlisten. Viele menschliche Aktivitäten finden in noch weitgehend unerschlossenen Orten mit „Restnatur“ statt, ohne dass das Erleben von Biodiversität als Motiv dient. Das Motiv liegt vielmehr in der Notwendigkeit, psychische Leiden zu kurieren. Das absichtliche Ausharren in unerschlossener Natur bei allen, auch schlechten, Bedingungen, Kampieren und Selbstversorgen aus der Natur sind als Beweise der Kraft eines Menschen, die Natur zu besiegen, zu verstehen und dienen der Selbstfindung und Erziehung. Auch Einsiedler und Eremiten begannen ein einsames Leben in der Natur, hungernd und in tiefer Meditation, meist nach persönlichen Krisen (Abb. 1.8). Aus Langeweile und vielleicht auch aus fehlgeleiteter Naturliebe (oder schlechtem Gewissen?) verbringen Menschen in der Schweiz viele Stunden mit ehrenamtlichen Felsenputzen, wozu sie Wasser und Bürste verwenden. Bei der Ausübung von Sport spielt die Natur die Rolle eines Sportgeräts. Der Sport macht sich Höhenunterschiede (Skifahren, Berglaufen, Mountainbiking, Klettern, Kajakfahren, Rafting) und Aufwinde (alle Gleitsportarten) zunutze (Abb. 1.9). Viele dieser Sportarten sind wegen ihrer Gefährlichkeit beliebt, vermittelt diese doch dem gelangweilten Bürger den vermissten Nervenkitzel.

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7. Moralischer und spiritueller Wert Die Fülle von Formen und Farben, Stimmen und Bewegungen der lebendigen Welt, die oft bizarren und geheimnisvollen Lebensweisen von Pflanzen und Tieren, die unerklärlichen Phänomene von Mimikry und Koevolution, die erstaunlichen Leistungen mancher Zugvögel und vieles andere mehr bleiben uns letztlich unbegreifliche Wunder. Genauso staunend steht der Mensch vor der Tatsache, dass sich diese Vielfalt aus einem gemeinsamen Ursprung entwickelt hat. Vielen Menschen flößt die hinter der Vielfalt offensichtlich herrschende Ordnung Respekt und Ehrfurcht ein. Sie schöpfen aus dem Wissen, mit allen Tieren und Pflanzen eins zu sein, spirituelle Kraft und empfinden moralische Verpflichtung gegenüber den Mitgeschöpfen. Viele Naturvölker haben sich bis heute diese Haltung gegenüber der Natur bewahrt. Heilige Orte und die Umgebung von Heiligtümern sind die ältesten Schutzgebiete der Welt. In den Zaubermärchen der ganzen Welt gibt es keine unüberwindlichen Schranken und Grenzen zwischen Tier und Mensch. Alle Tiere sprechen miteinander und in besonderen Fällen kann sich auch der Mensch mit ihnen unterhalten. Tiere sind dem Menschen gleich und ihm oft sogar überlegen. Ständig geschehen Verwandlungen von Menschen in Tiere und wieder zurück. Zur Rettung aus unverschuldeter Not, als Lohn für Mitleid mit einem Tier und in Erfüllung geheimnisvoller Wünsche verleihen Tiere ihre übermenschlichen Kräfte für kurze Zeit einem Menschen oder lassen ihn ihrer Weisheit und ihres Wissens teilhaftig werden. Frauen, denen ein Kinderwunsch lange Zeit versagt geblieben war, gebären ein Tierkind mit menschlichen Fähigkeiten. 8. Ästhetischer Wert Oft sind es nur wenige Augenblicke einer Tierbeobachtung, die uns in geradezu archaisches Entzücken versetzen. Ein Fischadler, der am frühen Morgen einen schweren Fisch fängt und vom See zum Horst trägt, eine Goldkatze, die geschmeidig ins Unterholz verschwindet – bis an das Lebensende sind diese Bilder in das Gedächtnis eingegraben und jederzeit abrufbar. Demoskopische Untersuchungen haben gezeigt, dass die Empfindung der Schönheit einer Landschaft, einer Pflanze und eines Tiers von fast allen Menschen ungeachtet ihrer geografischen und kulturellen Herkunft geteilt wird. Pittoreske Gebirge, blühende Wiesen, ein fliegender Vogelschwarm sind aus der Werbung nicht wegzudenken, weil sie für jeden potenziellen Adressaten gleich attraktiv sind. Autos werden zum Beispiel mit Bildern von wilden Großkatzen beworben, weil sich deren Eleganz und Stärke auf das Objekt übertragen soll. Viele Naturfilme betonen bewusst oder unbewusst die Schönheit von Landschaft und Tieren und leisten damit einen wertvollen Beitrag dafür, dass weite Kreise der Bevölkerung Biodiversitätsverluste ablehnen. Auch dass Menschen lieber in „natürlicher“ Umgebung als in urbanen Stadtlandschaften leben wollen, hat vermutlich ästhetische Gründe und ist nicht vom Wunsch, ein naturverbundenes Leben zu führen, geleitet. Die Frage, warum der Mensch bestimmte Landschaften und Tiere als „schön“ empfindet, ist nicht geklärt. Mit Sicherheit ist die Eigenschaft, sich von ursprünglicher Natur

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angezogen zu fühlen, ein sehr altes Erbe des Menschen. So wie uns viele Meeresfische, Vögel und Insekten mit allen erdenklichen Farben und Mustern, die sie lange vor Entstehung des Menschen erworben haben, begeistern, obwohl deren Wirkung sicher nicht auf uns abzielt, können wir vermutlich im Vorhandensein bestimmter imposanter Arten das undurchschaubare Wirken und Weben der Natur erahnen und uns im „Schoß der Mutter Natur“ gut aufgehoben fühlen. Auch die Ablehnung von als hässlich und eklig empfundenen Tieren ist offenbar seit jeher in allen Menschen verankert, wie die äußerst treffliche Schöpfungsgeschichte eines Irokesenmärchens zeigt. In einem Weltschöpfungsmärchen der Irokesen vertraute der Gute Geist einem Mann und einer Frau, die er erschaffen hatte, die Welt mit all ihren Gütern an bis zum Tag der Rechenschaft über den Zustand „seiner Berge, Wälder und Flüsse, seine Pflanzen und Tiere“. Sein Zwillingsbruder Böser Geist erschuf „Schlangen und Kröten und anderes Ungeziefer“ und schließlich mithilfe seines Bruders Guter Geist auch zwei böse Menschen. Er sperrte alle Tiere in eine tiefe Schlucht und ließ auch nicht ein Wesen auf der Erde zurück, das den Menschen hätte nützlich sein können. Gut und Böse. Aus: Zaubermärchen für Kinder und Erwachsene. Insel Verlag 2008.

Bis heute sind Motive, ausgewählte Arten zu schützen, keineswegs von deren ökologischer Bedeutung, sondern von ihrem ästhetischen Wert bestimmt. Für Schlangen, Kröten und „anderes Ungeziefer“ ist es viel schwieriger, Unterstützung für ein Artenschutzprojekt zu bekommen, als für „schöne“ Tiere. Viele Gruppen der Arthropoden, die übrigens den größten Teil der tierischen Biodiversität ausmachen und schon deshalb für das Funktionieren von Ökosystemen von größter Bedeutung sind, gelten als Schädlinge, die es vorbeugend, umfassend, generell und professionell zu bekämpfen gilt. Für die Firma KILLTEC z. B. ist der Ausdruck Schädling eine „Kollektivbezeichnung für Organismen, die den wirtschaftlichen Erfolg des Menschen schmälern“ (Abb. 1.10). Zu den Schädlingen zählen Wespen, Fliegen, Mücken, Motten, Milben, Flöhe, Läuse, Zecken, Wanzen „und andere Winzlinge“, Käfer, Ameisen, Schaben und natürlich auch „Sonstige“. Die auch Kammerjäger genannten Schädlingsbekämpfer schicken geeignete Mittel „versandkostenfrei“ an jeder Mann und jede Frau, der/die sich von einer der Millionen Gliederfüßlerarten bedroht fühlt. Die „Winzlinge“, die man auf Verdacht sanktionsfrei und in beliebiger Menge killen kann, können unser Mitgefühl viel schwerer erringen als große, bunte, bewegliche, bei Tag aktive Tiere, besonders Vögel und Säugetiere. Unter ihnen sind es wieder die „charismatischen“ Arten wie Braunbär, Tiger, Steinadler und Bartgeier, für die die Spendengelder fließen (Abb. 1.11). Zum Charisma einer Art gehört jedenfalls, dass sie dem Menschen darin gleichen, dass sie nicht an kleine ökologische Nischen angepasst sind, sondern sich in großen Revieren frei bewegen, an der Spitze der Nahrungskette stehen und dass ihnen 1. Wozu Artenschutz?

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menschliche Eigenschaften wie Stolz und Kühnheit, Schläue und Listigkeit nachgesagt werden. Viele dieser Arten lösen in uns nicht nur Bewunderung, sondern auch Ehr-Furcht aus, weil ihnen häufig bis vor kurzer Zeit Aberglaube und Schauermärchen das (Über-) Leben schwer gemacht haben. Wenn auch viele Leute bereit sind, für die Erhaltung einer charismatischen Art einen finanziellen Beitrag zu leisten, so muss doch klar gesagt werden, dass deren Erhaltung wenig zur Lösung der globalen ökologischen Krise beiträgt. 9. Kultureller, symbolischer, historischer Wert Aus der Natur stammt der gesamte Erfahrungsschatz der Menschheit. Zum Erkennen des Prinzips eines Dings (Abstraktion) braucht man das reale Ding, von dem man abstrahieren kann. Selbst wenn es dem Menschen je gelänge, die gesamte Natur durch Fragmentierung und Zusammenbau der Einzelteile neu zu erschaffen, würden die in den Tieren und Pflanzen verwirklichten Ergebnisse Jahrmillionen währender Anpassungen und die multikausalen Wirkungsgefüge des Lebens nicht herstellbar sein. In seiner individuellen und gesellschaftlichen Entwicklung würde der Mensch nur mehr auf Menschenwerk stoßen. Liebe zu wilden Pflanzen und Tieren könnte weder das heranwachsende Kind erleben, noch könnte sich ein festes Band zu dem Ort, an dem man aufgewachsen ist, entwickeln, wenn es überall gleich aussieht. Der menschliche Sprachschatz, der bis heute aus Beschreibungen von und Vergleichen mit der Natur schöpft, würde weiter verarmen. Mittels einer technologischen Weltsprache und einer primitiven, wortarmen Alltagssprache würden sich die Völker verständigen. KARAWANE jolifanto bambla ô falli bambla grossiga m’pfa habla horem égiga goramen higo bloiko russula huju hollaka hollala anlogo bung blago bung blago bung bosso fataka ü üü ü schampa wulla wussa ólobo hej tatta gôrem eschige zunbada wulebu ssubudu uluw ssubudu tumba ba- umf kusagauma ba- umf. Hugo Ball (1886–1927), Begründer des Dadaismus, der die im 20. Jahrhundert beginnende Abstraktion in der Kunst kritisierte.

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In vielen Wappen und Fahnen finden sich heroische Tiergestalten. Sie erinnern an schicksalhafte Ereignisse im Leben eines Stammes oder Volks und dienen als Symbol für die Zusammengehörigkeit und den Zusammenhalt. Damit erfüllen sie eine tiefe menschliche Sehnsucht nach Geborgenheit in Gesellschaft und Gemeinsamkeit. 10. Biophilie Der berühmte US-amerikanische Ameisenforscher Edward Osborne Wilson, geboren 1929, der bahnbrechende Beiträge zur Evolutionstheorie und Soziobiologie geliefert hat, schöpfte den Ausdruck „Biophilie“ für die biologische Notwendigkeit des Menschen, mit dem Leben und der Natur verbunden zu sein. Er bekräftigte damit Theodosius Dobzhansky (1900–1975), der aus der Einheitlichkeit des genetischen Codes für alles Leben auf die Abhängigkeit des Menschen von der ganzen Evolution schloss. Nach Wilson ist der Mensch aus Gründen der organischen, emotionalen und intellektuellen Ausprägungen der Biophilie gezwungen, die Verbundenheit mit der Natur zu suchen. Biophilie ist zwar keine Selbstverständlichkeit wie Atmen und Essen, wenn sie aber bewusst gemacht und kultiviert wird, formt sie menschlichen Charakter und menschliche Kultur. Voraussetzung ist, dass die Werte der Biodiversität gelernt und erfahren werden. Bei von der Natur entfremdeten Menschen werden die der Biophilie zugrunde liegenden Werte nicht durch andere ersetzt, sondern trotzdem in verkümmerter und mühsam an die transformierte Natur angepasster Form von Generation zu Generation weitergegeben. Der Grund dafür liegt vermutlich in der Tatsache, dass diese Werte im Lauf der menschlichen Evolution entstanden sind, weil sie sich als vorteilhaft erwiesen haben. Der Mensch ist so beschaffen, dass er nur in Verbindung zur Natur und ihren Geschöpfen materiellen Wohlstand und emotionale, intellektuelle und spirituelle Zufriedenheit erlangen kann. Der Verlust der Wurzeln in der Natur und der mannigfachen Beziehungen zur Natur verarmt unsere Existenz sowohl materiell als auch geistig. Biodiversität und ökologische Prozesse haben den Menschen geformt. Die Einsicht, dass der Mensch weder materiell noch geistig und emotional ohne Verbindung zu ökologischen Prozessen und Biodiversität weiterleben kann, ist heute kein öffentliches Thema. Zeitgenössische Künstler, Seismographen der gesellschaftlichen Befindlichkeit, beschäftigt der Artenverlust allerdings sehr. Die Zurschaustellung einer zwei Meter hohen Skulptur eines gekreuzigten Frosches des verstorbenen deutschen Künstlers Martin Kippenberger im Museum für moderne und zeitgenössische Kunst in Bozen erregte 2008 einen veritablen Skandal (Abb. 1.12). Der Landeshauptmann Südtirols und der örtliche Bischof verlangten die Entfernung des „blasphemischen“ Frosches, ein Landtagsabgeordneter trat deshalb sogar in den Hungerstreik. Die beiden italienischen Keramiker Giampaolo Bertozzi und Stefano Dal Monte Casoni bringen die ökologische Krise mit höchster handwerklicher Qualität auf den Punkt (Abb. 1.13). Ein Papagei und ein Raubwürger auf einem mit Abfall gefüllten, dreckigen Ölfass („Texaco“, „Esso“), ein albinotischer Gorilla inmitten von schmutzigem Kaffeegeschirr und Aschenbechern auf einem Kaffeehaustischchen aus Marmor, ein Waran zwischen schmutzigen Tellern und Besteck, ein Eisbär, der den Müll einer Polarexpedition mit 1. Wozu Artenschutz?

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sich schleppt und in einen mit Eis verkrusteten Fernseher starrt, zeigen mit bestürzender Realistik, deren Eindrücklichkeit an Kitsch gemahnt, die Verdrängung allen Lebens von der Erde durch menschlichen Müll.

Warum greift der Artenschutz nicht? Was man nicht kennt, kann und will man nicht schützen

Die Hochblüte des Interesses an der Artenvielfalt im 19. Jahrhundert welkte sehr rasch wieder ab. War es bis zum Zweiten Weltkrieg noch schick und weit verbreitet, auch privat wissenschaftliche Schmetterlings- und Käfersammlungen anzulegen und wurden zu dieser Zeit von wohlhabenden Leuten und Abenteurern Sammelexpeditionen in alle Länder der weiten Welt ausgerüstet und durchgeführt, so ist es heute wegen des Mangels an Berufssystematikern nicht einmal mehr möglich, bei der Erfassung des Artenreichtums mit dem Tempo der Vernichtung mitzuhalten. Die Industriegesellschaften leisten sich heute schon die Nonchalance, weder Zahl noch Namen der von ihnen vernichteten und bedrängten „anderen“ Arten zu kennen. Die Amerikaner Richard Archbold (1907–1976) und John Sterling Rockefeller (1904– 1988), jeweils Enkel sagenhafter reicher Unternehmer, finanzierten Museumsexpeditionen nach Neuguinea und Australien bzw. zu den Sundainseln. Der britische Bankier Lionel Walter Rothschild (1868–1937) interessierte sich zeitlebens für die Taxonomie von Vögeln und Schmetterlingen. Das bei zahlreichen Expeditionen zusammengetragene Material bewahrte er in einem von ihm gegründeten Privatmuseum auf und bearbeitete es gemeinsam mit den besten Systematikern der Welt. An taxonomischer Zoologie sehr interessiert war bereits der österreichische Kronprinz Rudolf von Habsburg (1858–1889) und in dem Industriellen Philipp v. Oberländer (1875–1911) hatte auch Österreich einen Mäzen der kaiserlichen naturhistorischen Sammlungen, indem er Rudolf Grauers zoologische Expedition nach Zentralafrika (1909–1911) finanzierte. Artenkenntnis wird heute weder Kindern noch angehenden Biologen vermittelt. Fehlende Artenkenntnis ist gesellschaftlich „schick“ und ein verlässliches Knock-out-Instrument bei Quizveranstaltungen. Im Volksschulunterricht kommen die heimischen Pflanzen und Tiere nicht mehr vor, die „organismische Biologie“ hat als Grundgerüst der Biologie an vielen Universitäten längst ausgedient. Die naturwissenschaftlichen Sammlungen und Museen spielen im Kontext mit dem Arbeitsschwerpunkt „taxonomische Forschung“ im Rahmen der Biodiversitätskonvention zumindest in Österreich keine Rolle.

Auswahl „nützlicher“ Arten für Schutzzwecke ist unmöglich

Pflanzen- und Tierarten sind Teile von äußerst komplizierten Ökosystemen. Sämtliche Versuche, Aktionen und Reaktionen der Akteure eines Ökosystems im Computer zu

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simulieren sind gescheitert. Aus diesem Grund ist es nicht möglich, für den Menschen „nützliche“ von unnützen Arten zu unterscheiden oder einzelne Arten ohne deren Ökosystem auf Dauer zu erhalten. Fördert man eine Art mit allen erdenklichen Hilfsmitteln (Zurverfügungstellung von Fortpflanzungsstätten, Nahrung, Ausschaltung von Konkurrenz und Räuberdruck), errichtet man – meist auf Kosten anderer Arten – einen Freilandzoo, der auf Dauer von menschlicher Einflussnahme abhängig bleibt. Die Gefangenschaftshaltung einzelner Arten und die Lagerung ihres tiefgefrorenen Genmaterials in Genbanken („ex situ-Erhaltung) mögen uns Objekte des Studiums, der Bildung, der Nostalgie bereitstellen, als Träger des Prinzips Leben können diese aber weder im genetischen, noch im ökologischen Sinn eine Rolle mehr spielen. Der heute praktizierte Raubbau an Biodiversität betrifft nicht einzelne Arten, sondern vernichtet riesige Flächen von Ökosystemen mit all ihren Arten. Die Hoffnung, von diesem Overkill einzelne Arten, die man gesetzlich geschützt hat oder als schützenswert deklariert hat, auszunehmen, ist blanke Theorie.

Artenschutz ist teuer

Bei der heute allgegenwärtigen monetären Bewertung hat die Frage „Was kostet Artenschutz?“ große Bedeutung. Zwar haben Ökonomen Methoden entwickelt, wie man die gesellschaftliche Zahlungsbereitschaft für den Erhalt einer Art oder eines Ökosystems ermitteln kann, doch sind solche Abfragen bisher nicht verpflichtend in Artenschutzverfahren aufgenommen worden. Das ist auch gut so, denn die Institutionalisierung eines Schiedsgerichts über das Schicksal einer Art wäre wohl der Gipfel der menschlichen Hyb­ ris. Wie alle seltenen und knappen Güter sind Arten jedenfalls teuer. Dieses Faktum stellte vor Kurzem der britische Künstler Damien Hirst elegant unter Beweis. Wie sein auf eine Milliarde Dollar geschätztes Privatvermögen beweist, besitzt er einen klaren Blick auf Märkte und Preise. Er verkaufte einen in Formaldehyd eingelegten Tigerhai zu einem Preis von 6,5 Millionen Pfund, obwohl diese Art nur mehr als Präparat konserviert war (Abb. 1.14). Lässt sich diese erstaunliche Transaktion auch mit einem ökonomisch überhitzten Kunstmarkt interpretieren, so wirft der Erlös von Tausenden Euros für stark gefährdete Schildkröten, die unter Umgehung der CITES-Bestimmungen nach Österreich geschmuggelt und hier an Liebhaber verkauft werden, einen Blick auf den realen Handelswert für seltene Arten (Wiener Zeitung, 12. 3. 2009). Teuer ist auch der Erhalt einer lokal ausgestorbenen Art, wie uns das Beispiel des Bartgeierprojekts zeigt. Die markante Flugsilhouette, die ausgefallene Fähigkeit, Knochen zu zerbrechen, die scheue Lebensweise und die ungerechte Verfolgung als vermeintlicher Lämmer- und Kindermörder machen den vor etwa 200 Jahren im Alpenraum durch direkte Verfolgung ausgerotteten Bartgeier zu einer charismatischen Art. Ein seit 30 Jahren laufendes Wiederansiedlungsprojekt war erfolgreich. In vier Nachzuchtzentren erbrütete und in diversen Schutzgebieten freigelassene Geier schritten im Freiland zur Brut und pro1. Wozu Artenschutz?

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duzierten Nachwuchs. Insgesamt stellen die 150 jetzt im Alpenraum frei fliegenden Geier einen Wert von 10 Millionen Euro dar. In diese Summe sind die zahllosen ehrenamtlich geleisteten Arbeitsstunden nicht eingerechnet (Fremuth et al. 2008).

Artenschutz im föderalistischen Rechtssystem – der Sonderfall Österreich

Aus ökologischer und wirtschaftlicher Sicht effektiver Schutz von seltenen und bedrohten Arten setzt voraus, dass das gesamte Verbreitungsgebiet einer Art Gegenstand der Beurteilung der Gefährdung und des Schutzes ist. Die Verbreitungsgebiete der Arten sind jedoch höchst unterschiedlich groß – sie reichen von winzigen Flecken (im Fall von Endemiten) bis zu mehrere Kontinente umfassenden riesigen Flächen. Je kleiner die hoheitliche Einflusssphäre auf den Artenschutz ist, desto größer ist die Gefahr, dass lokale sozioökonomische Interessen weitgehende und irreversible Entscheidungen bewirken. Ein auf Bundesländer fragmentierter Naturschutz ist per se nicht in der Lage, die Schutz- und Nutzungsinteressen im erforderlichen Kontext abzuhandeln. Die beiden EU-Naturschutzrichtlinien, die Wasserrahmenrichtlinie und die Gemeinschaftliche Politik der Ländlichen Entwicklung, böten in ihrem integrativen Ansatz Handhaben, über den Topfrand des Bundeslandnaturschutzes hinauszublicken. Infolge des Fehlens eines Bundesrahmengesetzes liegt die gesamte rechtliche Kompetenz für Naturschutz bei den Bundesländern. In internen Papieren gelten die Naturschutzgesetze als „rechtsunwirksam“, weil realpolitisch zwischen der 1. Instanz (Bezirkshauptmannschaft) und der 2. Instanz (Landesnaturschutzbehörde) in der Regel inhaltliches Einvernehmen hergestellt wird. Angesichts der dramatischen ökologischen Krise völlig unverantwortliche rechtliche Entscheidungen wie Ausnahmegenehmigungen für massive Eingriffe in Schutzgebieten bis hin zu deren Aufhebung sind seit einiger Zeit auf der Tagesordnung. Es gibt kein rechtlich verankertes Inter-Bundesländer-Gremium, das fachlich und rechtlich die nationalen Naturschutzverpflichtungen, die Österreich aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsen (FFH- und Vogelschutzrichtlinie), behandeln könnte. Eine effektive Umsetzung der FFH-Richtlinie wurde in Österreich mit simplen Mitteln verhindert: Ihre Existenz und ihr Inhalt wurden auf eine Weise der Bevölkerung kommuniziert, dass vehemente Ablehnung aller potenziell Betroffenen die (gewünschte) Folge war. Anstatt dem Ziel der Richtlinie zu folgen, ein Netz von Schutzgebieten für ausgewählte Lebensräume und Arten zu errichten, wurde vielfach auf schon mehrfach geschützte Gebiete (Natur- oder Landschaftsschutzgebiet, Nationalpark, Ramsarschutzgebiet etc.) der Europaschutz gedoppelt, ohne dass bekannt war, welche relevanten Schutzgüter in welchem Erhaltungszustand dort vorkommen. Vorhandene Informationen über Verbreitung und Bestandsgröße von einzelnen Schutzgütern wurden absichtlich und im ausnahmsweisen Schulterschluss aller Bundesländer ignoriert. Allfällige Ergebnisse von allfällig durchgeführten nachträglichen Studien zur Ermittlung der Schutzgüter bleiben unpubliziert. Spätere Entnahme von bei der Nominierung

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für ein Europaschutzgebiet aufgelisteten Schutzgütern im Wege von Verordnungen erfolgt ebenfalls aufgrund nicht öffentlich gemachter Informationen. Auf diese Weise sind potenzielle Beeinträchtigungen von Schutzgütern durch ein Vorhaben nicht einmal von der Behörde beurteilbar, weil der nationale Erhaltungswert eines Vorkommens nicht bekannt ist. Aufgrund des offensichtlichen Unwillens, wirtschaftliche Projekte mit Arbeitsplatzpotenzial durch Artenschutz zu gefährden, ist die Annahme, dass die klandestine Vorgangsweise der Abwehr außerbehördlicher Schutzinteressen (Bürgerinitiativen, Naturschutzorganisationen) dient, wohl berechtigt.

Die Ökonomisierung des Artenschutzes

Die Wurzel der allmählichen Zerstörung der naturalen Produktions- und Lebensgrundlagen liegt in dem von Anfang an nicht erkannten Anteil der Natur an der Wirtschaftsleistung des Menschen und der daraus entstehenden Unkenntnis der Erschöpfbarkeit der natürlichen Ressourcen. Obwohl die Industrialisierung etwa zeitgleich mit den Erkenntnissen der Evolutionstheorie und Ökologie stattfand, blieb die Tatsache, dass die Gesamtheit aller ökologischen Prozesse die einzige Quelle und Grundlage der Produktionskraft der Natur einschließlich der des Menschen ist, bisher außerhalb der ökonomischen Betrachtung. Als zentraler Produktionsfaktor galt und gilt neben dem Kapital die menschliche Arbeit, sie soll alleinige Ursache für Wertvermehrung, Steigerung der Produktion und Wohlstand sein, während die Natur nur ein beliebig verfügbares, unbegrenzt erneuerbares, zu formendes Objekt ist. Außer Produkten, die als Waren einen gesellschaftlichen Tauschwert haben, schafft die Natur auch basale Produktions- und Lebensvoraussetzungen und -bedingungen, die sich rechtlicher und dinglicher Fixierung weitgehend entziehen und deshalb bisher als öffentliches Gut selbstverständlich und kostenlos hingenommen wurden. Die Eigenschaften dieser system- und prozesshaften Naturqualitäten sind nicht quantifizierbar und können daher nicht einer Tauschwertbestimmung unterzogen werden. Sie können aus diesem Grund keine Ware sein. Die Wirtschaft kennt die Pflanze nur als Rohstoff, Extrakt, Ballaststoff, Biomasse, das Tier nur als Kraft, Verkehrsmittel, Nahrungslieferant, Nahrungsmittel etc., nicht aber in ihrer Rolle, die sie innerhalb der ökologischen Prozesse spielen. Weil sie sich nicht in Quanten zerlegen, aneignen und tauschen lassen, können ökosystemare Prozesse im gegenwärtigen Wertesystem nicht abgebildet werden. Abgesehen vom Verkennen des Beitrags der Natur zur menschlichen Produktion, liefert der individuelle Charakter der Tauschentscheidungen, die in der Regel von Selbstsucht (animal spirit) bestimmt werden, die Erklärung der derzeitigen ökologischen Krise. Der innere Zusammenhalt in den Gesellschaften wird durch den Warentausch zwischen einzelnen Individuen hergestellt. Um dies zu ermöglichen, sind wesentliche Gesellschaftsprozesse, die ja im Lauf der Industrialisierung globalen Charakter bekommen haben, auf marktfähige individuelle Interessenwahrnehmungen reduziert. Es ist daher kaum vorstellbar, dass die globale marktbestimmte Individualgesellschaft in Demokratien Ordnungs1. Wozu Artenschutz?

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und Steuerungssysteme zur Erhaltung öffentlichen Guts entwickeln kann. Für intelligente Lösungsansätze dieser Problematik hat Elinor Ostrom heuer den Wirtschaftsnobelpreis erhalten. Sie sieht keine Möglichkeit, den Raubbau öffentlicher Güter durch Gesetze oder mittels des Marktes zu regeln, sondern verfolgt einen „verhaltensökonomischen Ansatz“. Die Nutzer dieser Ressourcen sollen sich selbst organisieren, indem sie sich Regeln geben, deren Einhaltung sie selbst überwachen. Ein Versuch, sich aus diesen ökonomischen Zwängen zu lösen, stellt der seit geraumer Zeit diskutierte Plan dar, „Ökosystemleistungen für das Wohlergehen der Menschheit“ zu bewerten und zu bezahlen. Die Zweckbestimmung „für das Wohlergehen der Menschheit“ schließt bereits die einzige wirklich Erfolg versprechende Lösung der ökologischen Krise, nämlich die Bewahrung ganzer, intakter Ökosysteme, aus und trägt auf diese Weise bereits den Keim des Scheiterns in sich. Die Bewertung der Ökosystemleistungen erfolgt einerseits auf Grundlage der Berechnung von wirtschaftlichen Verlusten durch ökologische Schäden und andererseits der wirtschaftlichen von intakten Ökosystemen erbrachten Vorteile. „Preise und Werte der Natur müssen in die Kalkulation von Volkswirtschaften einfließen“, forderte der ehemalige deutsche Bundesumweltminister, der gemeinsam mit der EU-Umweltkommission die umfangreiche Studie „TEEB – The Economics of Ecosystems and Biodiversity“ in Auftrag gegeben hat. Die Studie beweise, so der Umweltminister, dass Schutz und Wiederherstellung der ökologischen Infrastruktur die kostengünstigsten und wirksamsten Mittel sind, um die globalen Klimaänderungen und ihre Folgen zu bremsen. Nach Pavan Sukhdev, dem Leiter der Studie, einem früheren Volkswirt der Deutschen Bank, würde ein Kapitalertrag von jährlich rund drei Billionen Euro entstehen, also weit mehr, als mächtige Industrien wie die Auto- und Stahlbranche umsetzen, wenn man der Natur einen Marktwert oder eine Dividende gäbe. Allein die Korallenriffe – unverzichtbar als Laichplätze und für den Küstenschutz – hätten einen Wert von 170 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Ein unbezweifelbarer Wert der TEEB-Studie ist, dass durch die monetäre Erfassung ökologischen Nutzens und Schadens erstmals deren wirtschaftliche Dimension für jedermann erkennbar wird. Dadurch werden grundsätzlich Motive für nachhaltiges Wirtschaften und Förderung sparsamer Technologien geschaffen. Die monetäre Bewertung ermöglicht auch die Einführung neuer Kennzahlen in volkswirtschaftliche Messgrößen wie BIP und BSP (Bruttosozialprodukt), mit denen bisher nur die Tätigkeit der Marktwirtschaft und des öffentlichen Sektors, nicht aber Umweltzerstörung, Wohlergehen und Lebensqualität der Gesellschaft erfasst wurden. Aussagekräftige neue Kennzahlen bilden nicht nur die Nachhaltigkeit der Wirtschaft, sondern auch die Qualität der Umwelt ab. Aber welchen Beitrag zum Stopp der weltweiten Naturzerstörung kann die Ökonomisierung der Ökosystemleistungen für das Wohlergehen der Menschheit noch leisten? Der Naturschutz hat schon immer große Hoffnungen in neue Ideen und Ansätze, die scheinbar ideale Lösungen für das Problem der chronischen Naturverachtung des Menschen bieten (z. B. nachhaltige Nutzung), gesetzt und wurde immer einige Jahre später bitter enttäuscht. Die Monetarisierung von Ökosystemleistungen als Vehikel für den Biodiver-

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sitätsschutz könnte ein neues Beispiel werden, denn viele Fragen sind noch offen. Die wichtigsten sind wohl: – Wie können naturale Prozesse, deren Eigenschaften nicht quantifizierbar sind, zu auf Märkten tauschbaren Waren werden? Wie können die überaus komplexen Ökosystemleistungen korrekt bewertet werden, wenn ihr Zustandekommen nicht genau bekannt ist? Dazu der TEEB-Report: Märkte für Ökosystemleistungen können fehlerhaft, seicht und ausgetrocknet sein und an fehlender Konkurrenz leiden. Das Finden von Preisen ist schwierig, denn die meisten Ökosystemleistungen sind öffentliche Leistungen, die großzügig und unscheinbar verteilt werden. Ihre Verteilung könnte potenzielle Gewinne schmälern. Die vom TEEB-Report vorgeschlagene Ertüchtigung dieser „Märkte“: Regierungen sollen passende Rahmenbedingungen schaffen. Grundsätzlich ist gegen die Ver-Marktung der Ökosystemleistungen einzuwenden, dass sich der Wert der Natur nicht im Nutzen und Zweck für den Menschen erfüllt, sich nicht nach Angebot und Nachfrage richten kann, sich Marktinteressen sehr schnell verändern, was zu Kollision mit dem hohen Entwicklungs-Zeitwert der Biodiversität führen wird. Es ist auch ernsthaft zu prüfen, ob nicht die üblichen ökonomischen Verhaltensweisen der Individuen in bewährter Weise die ökologischen Argumente aushebeln werden, speziell dann, wenn Steuergelder an Eigentümer und Besitzer für früher kostenlose Ökosystemleistungen für Unterlassungen von Aktivitäten fließen werden. – Wie können Geldflüsse die Erhaltung von Ökosystemleistungen gewährleisten? Nach der TEEB-Studie sind es einerseits die politischen Entscheidungsträger, die Gesetze zur Förderung nachhaltigen Wirtschaftens auf den Weg bringen müssen, und andererseits die Unternehmer, die nicht weiterhin die Natur zum Nulltarif ausbeuten sollen. Private Eigentümer haben ein „natürliches“ (animal spirit!) Interesse an der Bewahrung ihrer Unternehmensgrundlage und es darf daher erwartet werden, dass sie Teile der Einnahmen in die Erhaltung von Ökosystemleistungen investieren werden. Der Staat als Eigentümer hat solche Anreize nicht, dafür hätte er aber theoretisch tatsächlich die Macht, durch Erlassung von Gesetzen die flächige und qualitative Integrität von Ökosystemen zu garantieren. Wie aber die Realität innerhalb der Europäischen Union zeigt, verfolgen Regierungen, die ja in der nächsten Legislaturperiode wiedergewählt werden wollen, ausnahmslos Wachstumsziele zur Erhaltung des individuellen Wohlstands und der Arbeitsplätze. Die in vielen Ländern bereits praktizierte Zahlung von Abgaben an die öffentliche Hand, die industrielle Nutzer naturaler Produktionskräfte zur Herstellung marktfähiger Waren und Leistungen erbringen müssen, wäre nur dann Erfolg für die Naturerhaltung, wenn der Unternehmer diese Kosten an den Konsumenten weitergäbe. Nur so würden höhere Kosten z. B. für Strom aus Wasserkraft das Verbraucherverhalten in positiver Weise beeinflussen. In der jetzt geübten Praxis wird nur der Betriebsgewinn der Unternehmer geschmälert, ohne dass die staatlichen Einnahmen die ökologischen Funktionen der verbrauchten Naturalkräfte wiederherstellen können. 1. Wozu Artenschutz?

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– Wie kann die Erhaltung nach menschlichen Gesichtspunkten ausgewählter Ökosystemleistungen die Biodiversität schützen? Es ist zu erwarten, dass nicht alle ökologischen Prozesse, die das Funktionieren von Ökosystemen aufrechthalten, dem Menschen am Herzen liegen werden. Nicht alle Ökosystemleistungen sind definitionsgemäß „Zustände und Prozesse, die menschliches Leben erhalten und verbessern“. Auch Feuer, Krankheiten und Überschwemmungen sind Prozesse, die das Funktionieren der Ökosysteme gewährleisten, die aber nicht dem Wohlergehen des Menschen dienlich sind. Ferner muss darauf hingewiesen werden, dass die für den Menschen nützlichen Ökosystemleistungen nicht die gesamte Biodiversität der Erde abbilden und daher weiterhin große Teile der Vielfalt des Lebens der Vernichtung anheimfallen werden. Es ist zu befürchten, dass der Weg in die angeblich „sichere, stabile, neue Welt“ eine Fortsetzung des alten Wegs ist. Rasch könnte der Ruf nach Regulierung der „unnützen“ ökologischen Prozesse erschallen. Rasch würde der Mensch auch erkennen, dass zur Erbringung der gewünschten Ökosystemleistungen keineswegs immer komplette Ökosysteme vonnöten sind und dass derartige Leistungen auch von ausgewählten Organismen, die nicht einmal autochthon sein müssen, oder durch Bio-Engineering erbracht werden können. Rasch würde die Logik der Märkte erzwingen, dass zur Erbringung der gewünschten Leistungen natürliche Systeme durch technisch veränderte ersetzt werden (z. B. Holzplantagen als Kohlenstoffspeicher, künstliche Feuchtgebiete als Kläranlagen) und dass die natürlichen Produzenten gewisser Ökosystemleistungen als Rohmaterial für industrielle Erfindungen herangezogen werden, die dieselben Leistungen gleich gut oder besser erbringen. Ehe eine euphorische Umsetzungsphase beginnt, muss dieser neoliberale Ansatz, wie das Leben auf der Erde zu retten ist, noch eingehend geprüft und diskutiert werden. Was geschieht z. B., wenn trotz adäquater Bezahlung die erwünschten Ökosystemleistungen weiterhin immer schwächer werden und letztlich ganz versiegen? Wie kann verhindert werden, dass ab dem Zeitpunkt, ab dem Ökosystemleistungen schwächer und noch wertvoller werden, ein Konkurrenzkampf über die Kontrollmacht dieser Kräfte entbrennt und die Besitzer versuchen, maximalen Gewinn aus den Ökosystemleistungen zu lukrieren? Weiteres Bevölkerungswachstum und rasches Anwachsen von Hunger und Not verhindern auf alle Fälle, dass Biodiversitätsschutz effektiv in die Tat umgesetzt werden kann. Lokale Erfolge des Biodiversitätsschutzes können die weitere Zerstörung des Lebens auf der Erde nicht verhindern. Nur globale Maßnahmen können erfolgreich sein.

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Friederike Spitzenberger

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Verwendete Literatur

Heal, G. (2001): Biodiversity as a commodity. S. 351–376. In: Asher Levin, S. (ed.) Encyclopedia of Biodiversity. Vol 1–5. Ac. Press, Sand Diego. European Communities (2009): The economics of ecosystems and biodiversity. (TEEB Report). 164 Seiten. Fremuth, W., Frey, H. & Walter, W: (2008): Der Bartgeier in den Alpen zurück. Naturschutz und Landschaftsplanung 40, 121–127. Immler, H. (1985): Natur in der ökonomischen Theorie. Teil. 1. Westdeutscher Verlag, Opladen, 444 Seiten. Immler, H. (1990): Vom Wert der Natur. Natur in der ökonomischen Theorie. 2. Aufl. Teil 3. Westdeutscher Verlag, Opladen, 346 Seiten. Kellert, S. (1996): The value of life. Island Press, Washington D. C., 263 Seiten. Rabitsch, W. & Essl, F. (2009): Kostbarkeiten aus Österreichs Pflanzen- und Tierwelt. Naturwissenschaftlicher Verein f. Kärnten, Klagenfurt, 832 Seiten.

1. Wozu Artenschutz?

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2. Bedrohte Tiere als Nahrungsquelle: Fallbeispiel Wale Michael Stachowitsch

Globalisierung an allen Fronten? Ein kurzer Blick in die Medien zeigt, dass überall auf der Welt einzelne Länder, Völker und ethnische Gruppen versuchen, sich von der Masse abzuheben, sich voneinander abzugrenzen. Es geht um den Erhalt von lang Bewährtem, von dem, was diese Menschen historisch geprägt und ihr Überleben ermöglicht hat – kurz, was sie definiert. So wird darum gekämpft, die eigene Sprache als Amtssprache festzulegen oder sich gegen die Flut von Fremdwörtern zu schützen. Traditionelle, volkstypische Musik, Tänze und Rituale werden hochgehalten oder wiederentdeckt – auch aus touristischen Gründen, kurzum: Die nationale Kulturszene wird gefördert bis hin zum heimischen Film und Fernsehen. Zu diesen Traditionen zählt neben Sprache, Bekleidung und Kultur auch die Küche. Ess- und Trinkgewohnheiten prägen die gesamte Lebensweise. Wir assoziieren spontan mit vielen Ländern und Regionen bestimmte Speisen und Getränke. Da die Küche sogar unsere Reiseziele bestimmen kann, gilt es natürlich Produktnamen und Verfahren hervorzuheben und zu verteidigen. Nicht alle Schaumweine können Champagner sein, nicht jeder würzige Käse darf sich Appenzeller nennen und die im Supermarkt erhältliche Pizza napoletana wird in Neapel sicherlich argwöhnisch belächelt. Exakte Herkunft, Ingredienzen und Zubereitungsverfahren werden vorgeschrieben, gerichtlich eingefordert und Abweichungen bestraft. Ab wann muss aber das Beibehalten von Traditionen und Altbewährtem mit höheren Maßstäben beurteilt oder gegen grundlegendere Wahrheiten abgewogen werden? Kurzum: Wie weit darf beim Verzehr von Fisch und Fleisch gegangen werden? Wann muss Althergebrachtes weichen, weil bestimmte Tiere vom Aussterben bedroht sind oder es ethisch bedenklich geworden ist, bestimmte Tiere zu essen? Dies ist in Tier- und Naturschutzkreisen ein heiß diskutiertes Thema. Die bisherigen Aktivitäten der Menschen haben die Natur grundlegend verändert. In Österreich, in Europa und in vielen anderen Ländern kann die Fläche der unberührten Naturlandschaften in bloßen Hektarmaßen angegeben werden. Diese wenigen Flächen bestehen zum Teil auch nur mehr deshalb, weil sie unter Schutz gestellt wurden. Es wird heftig darum gerungen, in letzter Minute die letzten naturbelassenen Ecken als Schutzgebiete vor dem endgültigen Verlust zu bewahren. Es geht natürlich auch darum, wie wir diese relativ unberührten Gebiete nachhaltig nützen können, z. B. als Nahrungsquelle. Im terrestrischen Bereich ist der Verzehr von „bushmeat“ problematisch. Wild lebende Tiere – die seit jeher der indigenen Bevölkerung als Nahrung dienten – werden nun als Nahrungsmittel und zur Einkommensaufbesserung gejagt und verkauft. Dies trägt zur Ausrottung von Tierarten bei und überdies besteht die Gefahr der Übertragung von Krankheiten auf den Menschen durch den Kontakt mit frisch geschlachtetem Bushmeat. Verstärkt wird die Dringlichkeit dieses 2. Bedrohte Tiere als Nahrungsquelle

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Themas außerdem durch schrumpfende Habitate, Bevölkerungswachstum, Straßenbau in bislang unzugängliche Bereiche sowie erheblich effizientere Jagdmethoden. Die Lösung ist meist ein Verbot des Tötens von Wildtierarten – ob Papageien oder Affen –, oft nach entsprechender Öffentlichkeitsarbeit auch mit Einsicht der indigenen und lokalen Bevölkerung. In Bezug auf Meeresressourcen ist das Thema Übernutzung leider ebenfalls aktuell geworden. Lange galten die Weltmeere als unerschöpflicher Proteinlieferant, der die Welternährungsprobleme lösen würde. Längst jedoch ist der Einflussbereich des Menschen auf die Weltmeere so weit ausgedehnt, dass es auch hier nur mehr wenige Bereiche gibt, die als unberührt bezeichnet werden können. Wissenschaftler suchen z. B. nach den letzten intakten Korallenriffen, um ein „Leitbild“ und eine Vergleichsmöglichkeit für die zunehmend zerstörten Riffe zu haben. Unsere flachen Küstengewässer sind mit Bodenschleppnetzen und Dredgen wie landwirtschaftliche Flächen durchgepflügt, die reiche Bodentierwelt (Schwämme, Seesterne, Moostierchen usw.) dadurch flachgewalzt oder entwurzelt und hochgezogen. Die darüber stehenden Wassermassen sind mit überdimensionierten, erschreckend effizienten und alles fangenden Driftnetzen, Langleinen und anderen Fangmethoden – unterstützt durch modernste Satelliten- und Echolottechnologie – leergefischt. Die Liste der Fischarten, die aufgrund der zusammengebrochenen Bestände (Schlagwort: Überfischung) spürbar teurer werden oder überhaupt aus unseren Kaufregalen verschwinden, steigt stetig. Im Jänner 2009 wurden in Japan bereits umgerechnet 75.000 Euro für einen einzigen 128 kg schweren Blauflossenthunfisch bezahlt. Riesige Unterwassergebiete sind von der Öl- und Gasindustrie in Beschlag genommen worden, andere wiederum werden als Mülldeponien (Atommüll bis altes Kriegsmaterial) benützt. Die seichten Küstengewässer werden zunehmend als Aqua-/Marikulturflächen, z.B. für die Muschelzucht, ausgewiesen oder für sogenannte „marine renewable energy“ (Windmühlenparks, Gezeitenkraftwerke) vorgesehen. Von Menschen erzeugte Schadstoffe und Lärm durchdringen alle Weltmeere bis hin zu den entlegensten Gewässern. Durch unbeabsichtigten Beifang verenden Abermillionen Meeresorganismen pro Jahr, darunter Hundertausende Delfine. Kollisionen mit Schiffen verletzen und töten luftatmende Tiere wie Meeresschildkröten und Wale. Die Probleme der Meere werden vielen Menschen erst anhand von repräsentativen Tieren oder Tiergruppen bewusst. Es sind oft die größeren, auffälligeren Tiere (flagship species), oder jene, die eine wichtige oder sichtbare Rolle im Ökosystem spielen (keystone species) wo die Natur-, Art- und Umweltschutzbemühungen ansetzen. Wale, Delfine und Robben zählen eindeutig zu solchen Schlüsselarten. Nun hat der Mensch große Teile der Meere so grundlegend geändert, dass man die Frage stellen muss, ob gewisse Aktivitäten in marinen Gewässern noch gerechtfertigt sind. Eine der ursprünglichsten und natürlichsten Aktivitäten der Menschen ist die Jagd. Die zentrale Frage ist nun, ob wir in einem Lebensraum, der rasant zunehmend seine Natürlichkeit verliert, weiterhin eine ursprüngliche und „natürliche“ Tätigkeit wie die Waljagd ausüben dürfen. Viele Walarten und Walpopulationen wurden durch den intensiven Walfang an den Rand der Ausrottung gebracht bzw. ausgerottet – auch wenn der ursprüngli-

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che Zweck nicht die Fleischbeschaffung, sondern der Gewinn von Öl und Fett war. Diese lieferten den Grundstoff für Seifen, Salben und Speisefette und ermöglichten die künstliche Beleuchtung ganzer Städte. Der Walrat im Kopf der Pottwale wurde beispielsweise zur Herstellung von Kosmetika und als Schmiermittel verwendet, die Barten der Bartenwale als Fischbein (für Regenschirmgestelle sowie Miedereinsätze: das Fleisch überlies man jeweils den Möwen und Fischen). Trotz Ersatz aller diese Produkte durch neue, künstliche Werkstoffe war die Ausbeute so hoch, dass heute vom kleinsten Delfin (1,5 m: Vaquita; endemisch in der nördlichsten Spitze des Golfes von Kalifornien) bis zum größten Wal (25 m: Blauwal) mehrere Arten zu den am meisten gefährdeten Meeressäugerarten auf unserem Planeten zählen (IUCN-Kategorie: „critically endangered“). Und das Sterben geht weiter – auch wenn jetzt die Lebensraumzerstörung und Verschmutzung die Hauptursachen sind. Der neueste Fall: der Baji-Flussdelfin (China) gilt seit 2008 als ausgerottet. Die Erkenntnis, dass die Walpopulationen gefährlich dezimiert werden, wurde erst in den 1930er-Jahren gewonnen. Vor allem europäische Walfänger bejagten damals beispielsweise im Südpolarmeer wegen der schnelleren und besseren Boote und Waffen nur mehr die größten Tiere – den Blauwal z. B. – der die meisten Rohstoffe liefern konnte. Als die Bestandsgröße der Blauwale so abnahm, dass sich die kommerzielle Ausbeutung nicht mehr lohnte, wurde auf die nächstkleinere Art – den Finnwal – „umgestiegen“. Dieser Vorgang wiederholte sich mehrfach. Nach den Finnwalen waren die Seiwale an der Reihe. Heute bleiben nur mehr Zwergwale (Englisch: minke whale) – wie der Name sagt die kleinsten der Großwale – in kommerziell interessanter Anzahl im Südpolarmeer übrig (Abbildung 1). Für die Jagd bis an den Rand der Ausrottung sind allerdings vorrangig einige europäische Nationen verantwortlich, deren Walfangstationen in der Antarktis bis in die 1960er-Jahre betrieben wurden, zum ausschließlichen Zweck der industriellen Rohstoffgewinnung. Diese Entwicklung führte 1930 zur Gründung des „Bureau of International Whaling Statistics“. Der Völkerbund beschloss 1931 ein Abkommen zur Begrenzung des Walfangs, das 1935 in Kraft trat, mit mäßigem Erfolg. 1946 wurde das „Internationale Übereinkommen zur Regelung des Walfangs“ verabschiedet, das 1948 in Kraft trat. Durch dieses wurde die Internationale Walfangkommission (International Whaling Commission – IWC) ins Leben gerufen (www.iwcoffice.org). Sie ist die für die Erhaltung und Bewirtschaftung der weltweiten Walbestände zuständige internationale Organisation. Statt der ungehemmten Jagd wurden Quoten nach verschiedenen Schlüsseln berechnet, zuerst noch nach den 1932 eingeführten „blue whale units“ (1 Blauwal = 2 Finnwale = 2,5 Buckelwale = 5 Seiwale), dann, als diese Verfahrensweise die Bestandsabnahmen nicht stoppte, ab 1974 nach der New Management Procedure (NMP). Auch dieses Verfahren erwies sich als vollends unzureichend: Die Großwale steuerten ungebremst der Ausrottung entgegen. Im gesamten 20. Jahrhundert wurden circa drei Millionen Wale bejagt. Da half nur mehr die Notbremse. Ein weltweites Moratorium für den kommerziellen Walfang wurde erstmals 1972 in der UNO diskutiert – und abgelehnt; dann wiederum 1974 von den USA und Mexiko vorgeschlagen und abgelehnt, dann endlich 1982 in der IWC vorgebracht und 1984 angenommen. 1986 trat es offiziell in Kraft. Japan, Norwegen, die UdSSR und Peru haben 2. Bedrohte Tiere als Nahrungsquelle

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dagegen Einspruch erhoben und waren daher, laut IWC-Statuten, nicht daran gebunden. Japan und Peru haben kurz darauf den Einspruch widerrufen. So blieben unter den IWCMitgliedstaaten, nur mehr Norwegen und die UdSSR als Walfänger übrig – heute macht Russland als UdSSR-Nachfolgestaat keinen Gebrauch von seinem Recht. Fänge 30.000 Finnwal

Blauwal

25.000

Seiwal

20.000 15.000

Zwergwal

10.000 5.000 1910/11

20/21

30/31

40/41

50/51

60/61

70/71

80/81

90/91 Jahr

Abb. 2.1: Walfänge im Südpolarmeer im 20. Jahrhundert. Nach der kommerziellen Ausrottung der größten Art (Blauwal) wurden sukzessiv die nächst kleineren Wale dezimiert. Ein Bilderbuchbeispiel für den unvernünftigen Umgang mit unseren natürlichen Ressourcen. Während des Zweiten Weltkrieges ist die Jagd kurzfristig unterbrochen worden, ab 1986 trat das Moratorium in Kraft (modifiziert nach Horwood, 1990, in Young, 1993).

Trotz Moratorium werden Wale weiterhin gejagt, im Jahr 2008 nach offiziellen Angaben 1931 Großwale. Wie ist das möglich? Es gibt drei anerkannte Kategorien des Walfangs (Tabelle 1 listet die Fänge nach Kategorie und Region auf ): 1. der kommerzielle Walfang: Kommerziell gefangen werden derzeit nur Zwergwale im Nordatlantik durch Norwegen (Einspruch gegen das Moratorium). In einer interessanten Entwicklung jedoch ist Island aus der IWC ausgetreten und einige Jahre später wieder – mit Einspruch gegen das Moratorium – eingetreten, eine durch internationales Recht gedeckte Vorgangsweise. Nun steht es Island frei, mit der kommerziellen Jagd zu beginnen. Auf der Abschussliste stehen 100 Zwergwale und 150 Finnwale pro Jahr. Geplant ist, das Fleisch auch nach Japan zu exportieren. Ob dies geschieht, wird demnächst auf höchster politischer Ebene entschieden, beeinflusst durch die Bestrebungen Islands, der EU beizutreten, die sich für Walschutz einsetzt, vor allem wegen der Fauna-Flora-Habitat-(FFH-)Richtlinie. 2. der wissenschaftliche Walfang, offiziell „special permit whaling“ oder „whaling under Article VIII of the Convention“ genannt, wurde ursprünglich eingeführt, um den Fang einzelner Wale zwecks Beantwortung dringlicher wissenschaftlicher Fragen zu ermöglichen. Derzeit betreiben vor allem Japan im großen Stil, aber auch Island wissenschaftlichen Walfang. Im Gegensatz zur oft kolportierten Meinung ist der wissenschaftliche

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Michael Stachowitsch

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Walfang nicht illegal, sondern eine anerkannte Walfangkategorie der IWC. Wenn jedoch in kommerziellen Ausmaßen betrieben, überschreitet der wissenschaftliche Walfang den Geist, wenn auch nicht den Buchstaben der Konvention. Das Problem dabei: Die einzelnen Länder können die Fangmengen innerhalb dieser Kategorie selbst bestimmen, d. h. die selbst zuerkannte Quote muss zwar der IWC gemeldet werden, kann von dieser aber nicht reguliert oder verboten werden. 3. der Walfang der Indigenen (Englisch: aboriginal subsistence whaling). Einige Völker, die an den Meeresküsten leben, jagen seit historischen Zeiten Wale. Manche dieser Völker, zum Beispiel die Inuit, müssen von Meeresressourcen leben. Diesen Völkern und der karibischen Insel St. Vincent gesteht die IWC das Recht zu, unter bestimmten Voraussetzungen und unter strenger IWC-Kontrolle die Waljagd auch heute noch zu betreiben. Tabelle 2.1: Direktfänge Saison 2008/2009 (inkl. „getroffen, aber nicht gelandet“) 536 Zwergwale Nordatlantik Norwegen kommerziell 680 Zwergwale Südpolarmeer Japan wissenschaftlich 1 Finnwal Südpolarmeer Japan wissenschaftlich 171 Zwergwale Nordpazifik Japan wissenschaftlich 50 Brydewale Nordpazifik Japan wissenschaftlich 2 Pottwale Nordpazifik Japan wissenschaftlich 100 Seiwale Nordpazifik Japan wissenschaftlich 130 Grauwale Nordpazifik Russland indigen 2 Grönlandwale Nordpazifik Russland indigen 152 Zwergwale Nordatlantik Dänemark indigen 14 Finnwale Nordatlantik Dänemark indigen 38 Zwergwale Nordatlantik Island kommerziell 3 Grönlandwale Nordatlantik Kanada indigen (außerhalb der IWC) 50 Grönlandwale Nordpazifik USA indigen 2 Buckelwal Karibik St. Vincent indigen Gesamtzahl: 1931 (+ 290 gemeldete Beifänge und Schiffskollisionen = 2221)

Als oberstes Gebot sollen keine der drei Walfangkategorien eine Bedrohung für die jeweilig bejagten Walpopulationen darstellen. Daher wird schon während des derzeitigen Moratoriums für den kommerziellen Walfang intensiv in Richtung neuer Quotenregelung gearbeitet. Diese Bemühungen laufen auf zwei Schienen. Im Rahmen des kommerziellen Walfangs erhielt das neue Verfahren den Namen „Revised Management Procedure (RMP)“. Im Rahmen des Indigenenwalfangs werden Quoten im Rahmen des „management of aboriginal subsistence whaling (AWMP)“ ausgearbeitet. Nach dem Scheitern aller bisherigen Quotenregelungen wurden die „besten Köpfe“ – darunter Fischereibiologen, Mathematiker, Statistiker, Ökologen – engagiert, um neue, robuste und sichere Systeme zu erarbeiten. Angenommen, es kommt zu einer neuen, akzeptierten Quotenvergabe bei gleichzeitigem Beenden des Moratoriums. Ist dann zu erwarten, dass Walfleisch verstärkt wieder auf unsere Speisekarten gesetzt wird? Anders gefragt, sind durch die möglichen neuen 2. Bedrohte Tiere als Nahrungsquelle

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Fänge 2500 2000 1500 1000 500 0 1990

1995

2000

2005

2010 Jahr

Abbildung 2.2: Anzahl der in den letzten 15 Jahren getöteten Wale. Der Trend zeigt stetig nach oben. Die Kurve wäre in den letzten Jahren noch steiler, hätten die Walfänger ihre jeweiligen Quoten maximal ausgenützt.

Fangquotenregelungen die Bestände der verschiedenen Walarten in einer weiteren Walfang-Ära ausreichend geschützt und damit als Nahrung auf unseren Tischen vertretbar? Die Antwort ist „ja“ oder „nein“, je nachdem ob man sich im Lager der Walfangbefürworter oder im Lager der Walfanggegner befindet. Beginnen wir mit einer einfacheren Einstiegsfrage. Was soll mit dem Fleisch der im Rahmen des wissenschaftlichen Walfangs erlegten Tiere passieren? Dürfen sie von Menschen gegessen werden? Nun behaupten manche, dass diese Wale nicht auf dem Markt kommen sollten, um jede Überschneidung mit dem kommerziellen Walfang zu unterbinden. Dies würde jedoch bedeuten, dass Tausende Tonnen Fleisch und Fett nach Entnahme der wissenschaftlichen Proben entsorgt werden müssten, am besten gleich draußen im Meer, damit diese Biomasse im marinen Ökosystem bliebe – das Fleisch als Nahrung für Meerestiere, die Skelette als wichtige feste „Inseln“ (whalefalls) für Aufwuchs auf den strukturlosen Tiefseeböden. Angesichts der Welternährungssituation jedoch wäre ein derartiger Verlust an Nahrung für die Menschen kaum vertretbar. Die herrschende Meinung in diesem Fall (vgl. Beifang, der zurück ins Meer geworfen wird!) ist, dass das Fleisch solcher Wale, die ohnehin getötet werden, nicht verschwendet werden soll. Die Frage, ob es den wissenschaftlichen Walfang im heutigen Ausmaß gäbe, wenn das Fleisch nicht vermarktet werden dürfte, bleibt freilich unbeantwortet. Die mehr als 80 Mitgliedstaaten der IWC sind in zwei fast gleich große Lager gespalten, wobei die Walfanggegner derzeit etwas in der Überzahl sind. Da wichtige IWC-Entscheidungen aber eine Dreiviertelmehrheit erfordern, kann die heutige Situation als Pattstellung bezeichnet werden, bei der keine wesentlichen Entscheidungen getroffen werden können. Dabei droht die Lage außer Kontrolle zu geraten: Die Anzahl der getöteten Wale zeigt einen steigenden Trend (Abbildung 2). Kurzum: Den Walen wird nicht geholfen und die IWC verliert an Glaubwürdigkeit.

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Michael Stachowitsch

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Die Frage „Wale essen – ja oder nein?“ ist somit, von der internationalen politischen Lage aus gesehen, nicht klar zu beantworten.

Die Konfliktlinien Der Kampf um die Wale spielt sich an mehreren Fronten ab. Auf jeder Ebene stehen die Walfangbefürworter und -gegner mit klug ausgearbeiteten und (für die jeweilige Seite) überzeugenden Argumenten parat. Betitelt werden diese z. T. thematisch verwobenen Arenen mit den Rubriken „Quotenregelung“, „humanes Töten“, „Ökosystem-Überlegungen“, „menschliche Gesundheit“, „wirtschaftliche Nutzung“ und „Traditionen“. Jede Seite schickt ihre Experten ins Gefecht. In Kurzform: Pro Walfang

Contra Walfang Quotenregelung Das RMP ist das am besten durchdachte, si- Das RMP, wenn es zum Einsatz kommt, sollte cherste („konservativste“) Management-Ver- in der derzeitigen Form eingesetzt werden, d.h. fahren das für lebende Meeresressourcen je ohne die jetzt in Angriff genommenen weiteentwickelt wurde (nach RMP-Kriterien müsste ren Modifikationen, die höhere Fänge erlauben der kommerzielle Fisch(!)fang für viele Arten würden. Die Bestandschätzungen der Wale sofort eingestellt werden). Einige Walarten sind aber mit so vielen Unsicherheiten behafbzw. Populationen sind in Mengen vorhanden, tet, dass ein wichtiger Grundstein des RMP ins die einen Walfang wieder ermöglichen wür- Wanken gerät, nämlich weder historische noch den. Das neue Verfahren sollte umgehend für heutige Bestände können mit genügender Sidie infrage kommenden Walarten/Populatio- cherheit geschätzt werden. Ein Beispiel sind die nen (d.h. die Anzahl der Tiere heute entspricht Zwergwale im Südpolarmeer, die als potenziel54% der historischen Bestandsgröße) ange- les Hauptziel zukünftiger kommerzieller Fänge wendet werden. Das derzeit noch nicht ausge- gelten: Hier haben mehrere Schätzungen eine arbeitete, übergeordnete Rahmen- und Inspek- bisher unerklärliche Bestandsabnahme um die tionssystem (Revised Management Scheme: Hälfte gezeigt. Die übergeordnete KontrollinsRMS), soll schleunigst fertiggestellt werden tanz RMS müsste sehr streng ausgelegt werden, und keine Hürde (weder technisch noch finan- da die bisherigen Erfahrungen (groß angelegte ziell) für die Walfänger selbst darstellen. Datenfälschungen bei den historischen FänDie Errichtung von Schutzgebieten ist eine gen) zeigen, dass jedes potenzielle Schlupfloch unnötige Vorgangsweise, da die Tiere ohne- ausgenützt wird. Erst dann könnte über einen hin durch das Moratorium geschützt sind. Fang verhandelt werden. Außerdem ist ihre Wirksamkeit durch wis- Schutzgebiete im Meer sind Teil einer effektiven senschaftliche Studien nicht belegt. Das Doppelstrategie (Schutzgebiete + Moratorium), Moratorium muss fallen, manche Schutzge- um Wale zu schützen. Solche Schutzgebiete solbiete (whale sanctuaries, z.B. im Südpolar- len umfassend sein, d.h. sowohl Nahrungsgrünmeer – „Southern Ocean Sanctuary“) einer de wie Fortpflanzungsgebiete beinhalten (Hoyt, strengen Neubewertung unterworfen bzw. 2005). Das Moratorium muss erhalten bleiben widerrufen werden. und zusätzliche Schutzgebiete eingerichtet werden.

2. Bedrohte Tiere als Nahrungsquelle

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Pro Walfang

Contra Walfang Humanes Töten Die Tötung von Walen als wild lebende Tie- Die Tötung der Wale soll mit Schlachthausmore soll mit den Modalitäten der Großwild- dalitäten („instantaneous death“) durchgeführt jagd verglichen werden. Bei den Walen ist werden. Diese Vorgaben können nicht eingeein Hauptkriterium, die „time to death“, die halten werden, denn es gibt keine Möglichkeit, Zeit zwischen erstem Harpunenschuss und solch große Tiere „sauber“ zu erlegen, schon aldem Tod des Tieres. Sie kann von Minuten leine deshalb, weil von einem sich bewegenden bis Stunden dauern, wie eben auch bei der Schiff aus geschossen wird und der Wal ebenJagd. Es werden alle modernen Techno- falls in Bewegung ist. Ein Todeskampf, der Milogien (inklusive sogenannter sekundärer nuten bis Stunden dauert, ist inakzeptabel. DaTötungsmethoden, z.B. der Einsatz von her muss der Walfang allein deshalb abgelehnt großkalibrigen Gewehren nach dem Har- werden, weil kein humanes Töten möglich ist. punenabschuss) eingesetzt, um ein schnelles Ein Vergleich mit der Fleischproduktion aus der Massentierhaltung ist unzulässig. Oft – z.B. Töten zu ermöglichen. Weiters müsste eine große Anzahl von Tie- bei indigenen Völkern – können die riesigen ren getötet werden, um denselben Fleischer- Fleischmengen eines Wals als Nahrung für die trag eines Wals mit Rindern oder anderen Bevölkerung nicht komplett verwertet werden. Vieh auszugleichen. Immerhin liefert z. B. Weiters kommt es vor, dass Walfleisch auch als ein Pilotwal (eine vergleichsweise kleine Art) Tierfutter verwendet wird. so viel Fleisch wie jeweils 7 Kühe oder 85 Lämmer, 39 Schweine oder 1000 Hühner (Happynook, 2005). Ökosystem Es ist inakzeptabel, Teile eines marinen Öko- Wale sind keine Fische, sondern aufgrund ihsystems auszubeuten (Meeresfische), andere rer Größe, Intelligenz und Rolle im Ökosystem Teile des Ökosystems (Wale) jedoch zu schüt- sogenannte flagship species oder keystone species. zen. Dies führt zu einem Ungleichgewicht Sie sind zum Großteil dezimiert worden und und stellt damit eine Bedrohung für die sollten daher vollkommen geschützt werden. ökologische Funktionsfähigkeit dar. Weiters Durch die starke Abnahme der Individuenzahbedeutet totaler Walschutz, dass sie sich stark len ist die Rolle der Wale im Meer schwer komvermehren und immer mehr Fische bzw. promittiert – diese Rolle muss wiederhergestellt "Fischfutter" – Krill – fressen. Somit wären werden. immer weniger Fische für die Fischereiflot- Der Rückgang des weltweiten Fischfangs ist ten übrig und eine schwere Konkurrenz für vielmehr auf Überfischung als auf die verdie Fischerei geschaffen. Wale müssten wie ringerten Walpopulationen zurückzuführen, eine Fischressource betrachtet und genützt brauchen diese doch jetzt wesentlich weniger werden. Letztendlich bedeutet das Jagen von Beutetiere. Walen als wilde Tiere auch eine Gegenstrategie zur Massentierhaltung mit allen seiner negativen Umweltauswirkungen.

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Michael Stachowitsch

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Pro Walfang

Contra Walfang Menschliche Gesundheit Wale als wild lebende Tiere im natürlichen Die Weltmeere sind längst nicht mehr unbeLebensraum, stellen ein hochwertiges Nah- rührt und Schadstoffbelastungen sind in den rungsmittel dar. Die Tiere werden weder mit entlegensten Gewässern nachzuweisen. Somit Kraftfutter hochgepäppelt noch mit Hor- sind auch Wale belastet, vor allem weil sie lange monen behandelt. In den Weiten der Meere leben und teilweise am Ende der Nahrungssind sie auch wesentlich geringeren Schad- kette stehen (Stichwort „Bioakkumulation“). stoffmengen ausgesetzt als Tiere in der land- Dies gilt vor allem für Arten, die entlang der wirtschaftlichen Viehhaltung. Somit stellt Küsten der Industriestaaten migrieren oder leWalfleisch eine gesunde und unverfälschte ben. Manche Wale sind so stark belastet, dass die lokalen Gesundheitsbehörden schwangeren Protein- und Fettquelle dar. Frauen, Kindern und geschwächten Personen ausdrücklich vom Verzehr von Walfleisch abraten (Beispiel: Pilotwal auf den Färöer Inseln, Dänemark)(Altherr & Lüber, 2009). Die noch heute bejagten Belugas (Weißwale) z. B., zählen zu den am stärksten mit Schwermetallen und PCBs verseuchten Wirbeltieren. Wirtschaftliche Nutzung Unter dem Schlagwort „nachhaltige Nut- Der Begriff „nachhaltige Nutzung“ beinhaltet zung“ (sustainable use), dürfen und sollen nicht automatisch, dass jede vorhandene Resalle natürlichen Ressourcen so genützt wer- source wirtschaftlich genutzt werden muss. Das den, dass sie auch künftigen Generationen Töten der Wale wird niemals eine bedeutende zur Verfügung stehen. Wale stellen hier Rolle in der Nahrungsversorgung der Bevölkeine Ausnahme dar. Somit sollen auch kerung spielen. Vielmehr ist es ein Luxusnahdie Wale nach modernsten Erkenntnissen rungsmittel für wohlhabende Kunden. Wenn und Verfahren bejagt werden. Nur so kann Wale genutzt werden sollen, dann nur auf eine die sichere Versorgung mit Nahrung (food nicht-letale Art und Weise wie durch Walbeobsecurity) für alle gewährleistet werden. An- achtungsexkursionen. Whalewatching ist weltdere Nutzungsvarianten (whalewatching) weit ein rasant wachsender Wirtschaftszweig, könnten parallel zu der Waljagd stattfinden, der wesentlich höhere Einnahmen als der Walstellen aber ihrerseits bereits eine Bedrohung fang mit sich bringt, der die Einkünfte unter für die Meeressäuger dar: Kollisionen mit einer breiteren Bevölkerungsschicht aufteilt Walbeobachtungsbooten, Vertreibung aus und die Ressourcen nicht verkleinert. Whaleden natürlichen Aufenthaltsorten, Störung watching kann nicht parallel zum Walfang betrieben werden. der natürlichen Verhaltensmuster.

2. Bedrohte Tiere als Nahrungsquelle

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Pro Walfang

Contra Walfang Traditionen Jedes Land hat das Recht, seine Traditionen Traditionen müssen den modernen Zeiten und zu erhalten und auszuüben. Hier dürfen an- Anforderungen angepasst werden. Zudem geht dere Staaten nicht deren Wertvorstellungen der Walfang bei vielen Küstenstädten nicht den anderen aufzwingen. In manchen Län- auf „historischen Zeiten“ zurück. Hier müssen dern stehen Hunde, Schlangen und Schild- zeitgemäße, international ausgearbeitete Wertkröten auf der Speisekarte, in anderen eben vorstellungen eingeführt werden. Im Falle der indigenen Völker – wie bei nichtWale und Delfine. Die indigenen Völker haben seit histori- westlichen oder präkolonialen Kulturen im schen Zeiten den Walfang nachhaltig und Allgemeinen – gibt es nur wenige Anzeichen ohne Schädigung der Umwelt betrieben. dafür, dass sie ein tieferes Verständnis für Das Aufrechterhalten oder die Wiederein- ökologische Zusammenhänge hatten oder im führung des Walfanges liefert entscheidende besonderen Einklang oder Harmonie mit der Vorteile für das jeweilige Volk, nämlich eine Natur gelebt haben (Rick & Erlandson, 2008). gesunde Ernährung und ein Bollwerk ge- Dies gilt umso mehr heute, wo moderne Mittel gen eine Reihe von Zivilisationskrankheiten (Ortungsgeräte, Boote, Waffen) zur Verfügung wie Übergewicht, Diabetes, Krebs, Allergi- stehen. Der Walfang liefert weder gesunde en und Herzkreislaufstörungen. Außerdem Nahrung, noch kann er als Mittel gegen die kann das Ausüben bzw. die Wiederaufnah- unaufhaltsamen sozialen Veränderungen im me von Traditionen helfen, den Alkoho- modernen Zeitalter dienen. lismus und Drogenkonsum zu bekämpfen sowie einer Abwanderung der Jugend entgegenzuwirken.

Die Aussichten Die starren Fronten ähneln einem Grabenkrieg: Die Verluste erleiden jedoch nicht die Kontrahenten, sondern die Wale. Wie bereits erwähnt, steigt die Zahl der getöteten Tiere jährlich. Was ist die Prognose? Mit einer weiteren Zunahme der Waltötungen ist zu rechnen. Das Forschungsprogramm des japanischen wissenschaftlichen Walfangs im Südpolarmeer (sogenanntes JARPA-II-Programm) sieht vor, wesentlich mehr Wale zu fangen als derzeit. Die Gesamtquote konnte in den letzten Jahren aus verschiedensten Gründen nicht erfüllt werden (z. B. Brand eines Fangschiffs, schlechte Wetterverhältnisse, Behinderungen durch radikale Walschützer [Sea Shepard], und die angekündigte Quote von 50 Buckelwalen wird derzeit aus Rücksicht auf Australien und als „Olivenzweig“ und Zeichen der Kompromissbereitschaft bei den derzeitigen Verhandlungen in der IWC nicht ausgeschöpft. Norwegen hat angekündigt, seine Zwergwalquote erheblich erhöhen zu wollen. Island steht kurz vor der Entscheidung, mit einem groß angelegten kommerziellen Walfang zu beginnen. Grönland hat bereits vor zwei Jahren eine zusätzliche Quote von zehn Buckelwalen beantragt, die nach zwei Ablehnungen jedoch möglicherweise vor der Genehmigung steht. Zudem könnte die

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seit einigen Jahren von der IWC genehmigte, aber von der USA-Umweltschutzbehörde derzeit blockierte Quote von fünf Grauwalen pro Jahr für die Makah-Indianer (Bundesstaat Washington, USA) bald in Kraft treten. Angesichts des Widerstandes gegen den wissenschaftlichen Walfang versuchen die Walfangnationen eine neue, vierte Kategorie des Walfangs einzuführen. Dieser sogenannte „small-type coastal whaling“ soll traditionellen Walfang-Küstenstädten den Walfang wieder ermöglichen und sie wirtschaftlich und kulturell wiederbeleben. Alle dieser Wale kommen auf dem Markt.

Gefährdet: ja oder nein? Letztendlich muss die Entscheidung, ob Wale als Nahrung für den Menschen dienen dürfen, vom Grad ihrer Gefährdung abhängen. Die Wissenschaftler der IWC sind zur Einsicht gekommen, dass der Walfang heute nur eine von vielen potenziellen Bedrohungen darstellt. Die „environmental concerns“-Arbeitsgruppe hat sieben Hauptgefahren definiert: Lärm, physische und biologische Habitatzerstörung, Krankheiten und Massensterben, chemische Verschmutzung, Ozon und UV-B-Einstrahlung, direkte und indirekte Auswirkungen der Fischerei sowie die Klimaänderungen. Allein durch den Beifang im japanischen und koreanischen Küstengebiet werden mehr Wale getötet als im Rahmen des wissenschaftlichen Walfangs in diesen nordpazifischen Gewässern. Der Schiffsverkehr stellt nicht nur eine erhebliche Lärmquelle dar (Wale kommunizieren fast ausschließlich akustisch!), sondern führt zu einer hohen Zahl direkter Kollisionen. Die im Jahre 2009 der IWC gemeldeten Beifänge und Schiffskollisionen machten 221 Großwale aus. Dies entspricht bereits 15% der direkten Fänge. Der Grad der Gefährdung muss nach den umweltbezogenen Überlegungen für fast alle Walarten als hoch eingeschätzt werden. Eine differenzierte Betrachtungsweise, basierend z.B. auf der Anzahl der Individuen der jeweiligen Art oder Population, ist nötig. Bei manchen Arten bzw. Populationen sind die Bestandszahlen so niedrig, dass auch die härtesten Walfangbefürworter diese nicht als potenzielle Nahrungsquelle ansehen. Die Anzahl der Blauwale ist zum Beispiel auf ca. 2300 Individuen weltweit gesunken (ein Bruchteil der historischen Werte). Niemand argumentiert, dass Blauwalfleisch auf unsere Teller kommen soll. Der westpazifische Grauwal zählt nur mehr ca. 120 Individuen, der atlantische Nordkaper weniger als 300 Tiere, beim pazifischen Nordkaper ist die Anzahl zu gering, um eine Schätzung zu ermöglichen. Das Überleben der letzteren Walpopulationen hängt vom Überleben der wenigen geschlechtsreifen Weibchen ab. Andere Arten wiederum dürften heute die historischen Populationszahlen erreicht haben. Als Beispiel wird oft der ostpazifische Grauwal – von Mexiko bis Russland migrierend – zitiert (26.000 Tiere). Diese Population wird im Rahmen des russischen indigenen (Chukotka) Walfanges bejagt (Quote 620 Tiere für die Jahre 2008 bis 2012, davon höchstens 140 pro Jahr) und soll Jagdziel der Makah-Indianer werden (Quote: fünf Tiere jährlich). Das Geld und daher das Augenmerk der japanischen Walfänger hingegen liegt woanders – bei den Zwergwalen im Südpolarmeer. Die geschätzten Zahlen lagen in den 2. Bedrohte Tiere als Nahrungsquelle

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1980er-Jahren bei ca. 761.000 Tieren, eine Größenordnung höher als bei allen anderen Arten. Könnte nicht ein bescheidener kommerzieller Walfang hier stattfinden? Könnten nicht hier die Bedürfnisse der Walfleischliebhaber ohne Gefahr befriedigt werden? Auch die gemäßigten Walfanggegner, die vor wenigen Jahren vielleicht geneigt waren, hier eine Kompromisslösung zu finden, sind aber durch die neuesten Ereignisse tief verunsichert worden. Die neueste Zählung ergab nämlich nur mehr halb so viele Tiere. Sind 50% des Bestands in einem Massensterben relativ rasch zugrunde gegangen? Lieferte die Zählung in den 1980er-Jahren eine Überschätzung? Sind die Tiere jetzt woanders, zum Beispiel im schwer zugänglichen Packeis, und können mit herkömmlichen Methoden daher nicht gezählt werden? Trotz jahrelanger Bemühungen, das Rätsel zu lösen, kann noch niemand eine Antwort geben. Derzeit verfügt daher die IWC über keinen gültigen Schätzwert, womit eine potenzielle Quote in weite Ferne rückt. Angesichts der Probleme und Ungenauigkeiten, die mit dem Zählen der Wale verbunden sind, gepaart mit den durch den industrialisierten Walfang drastisch reduzierten Individuenzahlen und den vielseitigen umweltrelevanten Bedrohungen, neigen viele Fachleute dazu, das Vorsorgeprinzip (precautionary principle) anzuwenden: Ist nicht genügend Information vorhanden, muss im Zweifelsfall für die Wale (und in diesem Falle gegen die Jagd) entschieden werden. Letztendlich ist es im Allgemeinen unzumutbar, dass die (Jagd-)Aktivitäten einiger weniger Priorität über die ökologische Funktionsfähigkeit der Weltmeere hat, sei das Thema nun Meeresschildkröten, Thunfische, Haie oder eben Wale. Der Erhalt des ökologischen Gleichgewichtes darf nicht kurzfristigem Gewinnstreben oder „Messer und Gabel“ geopfert werden – das wäre ein sicheres Rezept in die Selbstzerstörung.

Literatur Altherr, S., Lüber, S. 2009. Toxic Menu. Contamination of whale meat and impact on consumers’ health. Pro Wildlife/OceanCare. 31 S. Happynook, K. (ed.). 2005. Whaling for food. World Council of Whalers. 101 S. Horwood, J.W. 1990. Biology and exploitation of the minke whale. CRC Press. 248 S. Hoyt, E. 2005. Marine protected areas for whales, dolphins and porpoises. Earthscan. 492 S. Rick, T.C., Erlandson, J.M. (eds). 2008. Human impacts on ancient marine ecosystems. University of California Press. 319 S. Young, N.M. (ed.). 1993. Examining the components of a Revised Management Scheme. Center for Marine Conservation, Washington, D.C. 84 S. www.iwcoffice.org

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Wildkräuter als Nahrung Eine allgemeine Übersicht europäischer Wildkräuter für Nahrungszwecke Michael Machatschek1

Der Schwärmerei einer Restkultur verwertbarer Wildpflanzen nicht Genüge getan, wollen wir einem viel allgemeineren Gebrauch frönen, wie er ursprünglich wichtig war. Denn nichts entging der Beachtung der Sammler zur Sicherstellung von Nahrung. Die Naturbeobachtung, über viele Generationen erprobter Gebrauch und vor allem die Zeit schwieriger Lebensverhältnisse machte die Menschen bei der Be- und Verarbeitung erfinderisch. Und bedenken wir, dass es im Vergleich zu den angebauten Kulturpflanzen vielfach mehr wild wachsende Kulturpflanzen gibt. Wenn sie in einer Region nicht von Natur aus vorhanden waren, so wurden mit Absicht „beiläufig Kräuter“ auf künstlich gestörten Standorten aus anderen Gegenden eingeführt und zur Nutzung angebaut oder gefördert. Diese äußerst widerständigen Nutzkräuter stellen in weiterer Entwicklung unseres geldorientierten Verständnisses Konkurrenzpflanzen dar – sind Unkräuter geworden. Doch mit der Beisaat und „Nebenher-Kultivierung“ der Beikräuter reagierte man auf Faktoren, welche Missernten bei den Kulturarten bewirken konnten. Fiel z. B. das Getreide aus, so konnte man in einer mehrschichtig aufgebauten Mischkultur auf verschiedene Beikräuter nutzvoll zurückgreifen und war vor Hunger gefeit (vgl. Auerswald, B. 1996). Durch Kultivierungsmaßnahmen erfuhr auch das mitwachsende Wildkraut einen Impuls, wodurch es im Wuchs und in der Ausbeute „erträglicher“ wurde, da ein gutes Fortkommen an die ackerbaulichen Standortsstörungen angepasst war.

1. Die Artenvielfalt ist die Basis hinkünftiger Lebensmittelsicherstellung Unsere Landschaften bieten einen reichhaltigen Fundus an wild wachsenden Nutzpflanzen, wie Heil- und Würzkräuter oder Wildgemüse- und Wildobstarten, die nicht in den Gärten und Äckern gezogen oder in die Kultur genommen werden. Bei unserer heutigen 1

Michael Machatschek, lebt dzt. als Bauer und Wanderforscher in einem Kärntner Bergdorf und beschäftigt sich mit alten Landnutzungsweisen, Landschafts- und Nutzpflanzenkunde, Tierhaltung und -ernährung, Subsistenz etc. Er ist Autor der Bücher „Nahrhafte Landschaft“ (2 Bände), „Laubgeschichten“, Mitautor von „Hecken“ und „Alleen“. Er führt verschiedene Forschungen und freiberufliche Lehrtätigkeiten durch und bietet Praxis-Seminare und Vorträge über Wildgemüse, Wildobst, Nutzpflanzen, Baumbewirtschaftung, Almwirtschaft, Landschafts- und Vegetationskunde an, damit das Wissen nicht verloren geht. 3. Wildkräuter als Nahrung

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Sicht der Lebensmittelsicherheit würden wir in Notzeiten, die uns aufgrund der Eintönigkeit des Genmaterials sogenannter „Weltwirtschaftspflanzen“ ins Haus stehen, mit einem vollen Unkrautacker verhungern, da uns das Wissen um die Nutzbarkeiten der beschenkten Natur fehlt. Aber erzählt man heute einem Landwirt etwas von der Nutzung der Ackerquecke (Elymus repens) als Getreide oder vom Gebrauch des Dorn-Hohlzahns (Galeopsis tetrahit) im Hackfruchtacker als neue stärkereiche Nutz- und Faserpflanze mit höchsten Erträgen? Und wo findet man heute die Versuchsanstalten, um mit den Sämereien Brotbackversuche anzustellen, und wo die Gastronomie, die aus ursprünglichen Speiselaubarten wieder Salate auf den Tischen feilbieten? Lieber sitzen wir vor der Television und betrachten den neuesten Flug auf den Mond und merken nicht, dass wir weit hinter dem Mond leben. Heute können wir auf den Mond fliegen, aber von den wichtigsten Wildpflanzen können wir nicht mehr leben. Alle Kulturpflanzen wurden aus Wildpflanzen entwickelt und es braucht nicht zwingend bewiesen zu werden, dass auch in den frei wachsenden Arten ein berechtigtes gesamtgesellschaftliches Gemeingut vorliegt. Heute angebaute Gebrauchspflanzen gehörten früher dem Spektrum gesammelter Wildpflanzen an, ohne dass sie sich wesentlich von den ursprünglichen Pflanzen unterscheiden. Die Kultur-Linse (Lens culinaris) weicht nur bei einigen Züchtungen von der Wildform (Lens orientalis bzw. L. nigricans) ab und ähnlich ist es bei der Wildform der Erbsen (Pisum syriacum bzw. P. elatius). Von vielen Gattungen ist nur mehr vage eine Ahnung von Kulturmomenten da, auch weil von Wissenschaftlern die Namen uneindeutig zugeordnet wurden und viele Umbenennungen vom Gebrauchsnamen zu Bezeichnungen mit floristischen Merkmalen führten. Damit sind auch die Gebrauchsgeschichten zwischen Unkraut, Halbwild- bzw. verwilderter Art und Kulturpflanze verloren gegangen und in Ermangelung an Inkulturationskenntnissen viele der alten wilden Nutzpflanzen dem Verschwinden ausgesetzt.

1.1. Modifikation und Transformation

In Frankreich bestehen heute noch großwüchsige und mild schmeckende Löwenzahn- und Sauerampfer-Züchtungen (Taraxacum officinale subsp., Rumex acetosa subsp.), welche auf den Märkten als Gemüse gehandelt werden. Manchmal gelangen davon Lieferungen im Frühjahr auch auf europäische Stadtmärkte. Als Reaktion des entsprechenden Modetrends der Freude an Wildpflanzen entstammt der Bärlauch (Allium ursinum) in den Supermärkten großteils den Wildsammlungen, wobei wenige, lasche Blättchen in viel Plastikmaterial abgepackt sind. Nur mehr bei wenigen Versuchsarten werden Selektionsmaßnahmen durchgeführt, vielmehr geht die Entwicklung in Richtung Kreuzungszüchtung und gentechnischer Manipulation. Aus der linearen Entwicklung vom Sammler, zum Anbauer und Bauer hin zum Landwirt fehlt das letzte Glied, welches in Zukunft in Fragen primärer Nahrungserzeugung von den Naturzusammenhängen völlig entkoppelt sein wird. Altes Wissen um die Nutzung der Pflanzenarten kann schon morgen für die Menschen von Bedeutung sein, wenn andere Möglichkeiten helfen, sie für die Nutzung zu erschlie-

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ßen. Ein Beispiel: Bis vor 100 Jahren konnte man aus der Faser der Brennnesselstängel (Urtica dioica) lediglich grobe Stoffsortimente wie das Nesseltuch („Nettle“) weben. Vor ca. 15 Jahren griffen fündige Leute aus dem Wendtland diese Idee der Stoffnutzung auf und entwickelten mittels besserer Aufschließungsverfahren Stoffqualitäten, die jenen der Baumwolle und der Seide nicht nachstehen. Oder Mädesüß-Erzeugnisse (Filipendula ulmaria) als einfache Mittel bei energielosen und grippalen Zuständen sind heute sehr gefragt, da ein Trend zur Phytomedizin besteht und da sie wie Würzmittel anderen Speisen beigemischt werden können. Das alte Wissen um die Nutzung einer vielfältigen Natur stellt die Basis dar, um daraus für heutige und zukünftige Verhältnisse über Transformation und Modifikation neue Nutzpflanzen zu erhalten.

1.2. Von der Sammelnutzung zum Anbau

Die vorzeitliche Nutzung der Wildpflanzen als Nahrung ist eine ungeschriebene Kulturgeschichte und wir haben nur mehr einen schwachen Begriff davon, welche Kräuter nutzbar wären. Die Menschen kannten einst viele Gebräuche der Aufbereitung der Pflanzenarten und im positiven Sinne lastet diese Vergangenheit der Wildsammlung auf uns. An den Orten von Ansiedlungen konnten auf den gedüngten Böden mitgetragene Pflanzen z. T. besser und ertragreicher gedeihen als die in der Natur frei wachsenden. Durch geringfügige und primitive Maßnahmen und zum Schutz vor Tieren schufen die Menschen in späterer Folge erste abgegrenzte Bereiche zur stationären Pflanzenkultivierung. Im Grunde genommen nutzten sie fortan die durch Bodenstörung aufgehenden und großwüchsigen „Unkrautarten“ als Kulturpflanzen, welche unter ruderalen Bedingungen kräftiger und massenreicher aufwuchsen. Die kultivierten Nutzpflanzen waren geschaffen worden und die heute als Unkraut geltenden Arten schmückten nebenher die Anbauflächen mit. Neben dem unmittelbaren Sättigungsaspekt benötigte der Mensch die Arten für seine und im Verlauf der Geschichte auch jene für die Gesunderhaltung der gehaltenen Tiere. Die formale Annahme urzeitlicher Nahrungsgeschichte von der Theorie vom „Jäger und Sammler“ müsste sachlich richtig lauten „Sammler und zeitweiliger Jäger“, denn Fleischnahrung größerer Tiere erschloss sich der Mensch nur in Sondersituationen und in der historischen Entwicklung später. Verschiedene Bevorratungsformen schaute sich der Mensch von den Tieren (z. B. verschiedene [Wühl-]Mäuse, Eichkätzchen, Wasserratten, Vögel, uvm.) ab und griff auf deren Vorräte in Zeiten der Not zurück. Vorbilder der Standortbeeinflussung entstammen den beobachteten Folgen aus Naturereignissen, wie Sturmschäden, Erosionen, Vermurungen, Lawinen, Hochwässern etc.

1.3. „Kostzwang“ und „nützliches Mundvoll“ zur Lebenserhaltung

Die Wildsammlungen schufen die Basis für das Leben, da die erntbaren Kräuter nicht unmittelbar kultiviert werden mussten. Das Sammeln ist im Vergleich zu allen Anbau- und 3. Wildkräuter als Nahrung

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Pflegearbeiten eine hoch rentable Tätigkeit. Die Wiesen, Weiden, Böschungen, Bäche und Wegränder bieten unzählige Möglichkeiten der Nutzung von Salaten, Gemüse und Heilpflanzen. Hecken und Waldränder wie auch Kahlschläge und Auen lieferten im Herbst einen Reichtum an Wildobst und Nussfrüchten. Süßstoffe gewann man aus eigenen Dörrobstarten, indem man sie gut ausreifen ließ und dann durch Einweichen und anschließendes Eindicken die Süße gewann. Dörrobstpulver als Süßungsmittel wäre heute wieder von Interesse. Durch die Einmischung von Baumlaub und Wildkräutern, aber auch veraschte Kräuter und Pilze erwirkte man Salz ersetzende Mittel und Aromastoffe. Viele Pflanzen dienten als Streckmittel zur Überbrückung von Nahrungsengpässen. Noch bei den Großeltern bekannte Arten gehen heute nicht nur wegen der aufgelassenen Nutzung verloren, sondern vielmehr durch die Veränderung der Flächenbewirtschaftung infolge der Maximierungsabsichten in den Erträgen. Das bleibt vielfach auch beim theoretisch agierenden Naturschutz unberücksichtigt, der in Ermangelung praktisch-produktiver Überlegungen die Verbrachung fördert und somit der Ausrottung selten gewordener Arten Vorschub leistet. Intensivierung und Naturschutz bzw. Verbrachung stellen die zwei Seiten einer Medaille dar. Mit der Einführung von Kulturarten und der Intensivierung ihres Anbaus war man den Wildpflanzen nicht mehr hold. Viele Arten kamen in den Ruf der „Armenkost“. Sie wurden nicht mehr gesammelt, teils als wichtige Nahrungsquellen aus der freien Landschaft verdrängt und ihre Nutzung geriet in Vergessenheit. Heute ist die Menschennatur so weit entfernt von der wild wachsenden Nahrung und den Lebenserhaltungswerten, dass sich der Mensch davor scheut, Gleiches zu essen und zu genießen, was das Vieh frisst, auch wenn wir die Nahrung äußerst delikat zubereiten könnten. Ab dem Wechsel der Urnahrung zum ausschließlichen Viehfutter „verschwindet dann die Erinnerung an die ehemalige Verwendung in der Küche“ (Brockmann-Jerosch, H. 1914). Mit der Zivilisation und aufeinanderfolgenden Landbauweisen änderte sich die Urküche der „Halbkulturpflanzen“. Aus vielen Hauptspeisen mit Wildpflanzen wurden Neben- und Hilfsspeisen. Es entwickelten sich neue Geschmacksvorlieben zugunsten der Kulturpflanzen und Anforderungen der Bewirtschaftung waren für das Abkommen von der Wildpflanzen-Sammelkultur bestimmend. Ehemalige Nutzpflanzen waren zu Unkräutern und absonderlichen Gemüsearten formuliert worden und erwiesen sich nicht mehr oder nur mehr in Notzeiten als ein nützliches Mundvoll notwendiger Nahrung und entschwanden mit der Zeit aus unserem Gesichtskreis. Viele aufbereitbare Nahrungspflanzen kamen als Heilkräuter in Notfällen zur Anwendung oder wurden in Kriegs- bzw. Notjahren selten genutzt. Einher mit dieser Entwicklung ging auch die Grundhaltung zur „wilden Natur“, denn der durch Wissenschaft untermauerte Gefährlichkeitsgrad verschiedener Pflanzen veranlasste die Denunziation der Sammelwirtschaft. Wären die Wildbeuter ebenfalls von der heutigen Übervorsicht und via Medien unreflektiert geäußerten Feststellungen zu „Giftpflanzen und Pflanzengifte“ (s. Roth, L., Daunderer, M. u. K. Kormann, 1994) ausgegangen, so wären sie schlicht verhungert. Die Menschen wussten genau, in welchem Stadium eine Pflanze am besten nutzbar war bzw. am wenigsten bedenkliche Inhaltsstoffe enthielt und wie man sie in anderen, fortgeschrittenen Stadien zu behandeln hatte, damit

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sie als Nahrungsmittel verwendbar waren. Je nach Vegetationsentwicklung und Kostnot wurden halb Nahrungs- und Heilpflanzen gesammelt. Der Kostzwang führte zur aufwendigeren Aufbereitungsverfahren, um unliebsame Inhaltsstoffe zu reduzieren oder umzuwandeln. Durch die hohe Erfindungsgabe konnte z.T. mit primitiven Verfahren und Mitteln aus den Rohstoffen eine vielfältige Nahrungskost bereitet werden.

1.4. Nutzpflanzenverbreitung in Fragen der Inkulturation, Verbrachung und Verdrängung

Bei einigen heute nur mehr auf europäischen Rest- und Ruderalstandorten vorkommenden und selten gewordenen Arten ist zu vermuten, dass es sich um vorzeitig eingeführte Arten zur Inkulturation handelt. Diese Arten unterstanden in anderen Kontinenten zumindest seit einigen Generationen der Sammelnutzung und sie kamen – in unsere Breiten eingeführt oder eingeschleppt – verstärkt auf Nutzflächen nebenbei vor. Aus der Betrachtung der Nutzaspekte in der Ur- und der neuen Heimat und unter Berücksichtigung der Verbreitungsdichte im Herkunftsland lassen sich eindeutig bei den meisten selten gewordenen Arten diese Gedanken schlussfolgern. Ausnahmen sind z. B. Eiszeitrelikte, beiläufig eingeschleppte Arten neuerdings entlang der Straßen, Bahn und Flüsse etc. Neben der unmittelbaren Nutzungsaufgabe der eingeführten Arten in der neuen Heimat erwirken die Einführung neuer verdrängender Arten (Neophyten) bzw. Nutzpflanzen und die Bewirtschaftungsänderungen auf den Kulturländern, Nutzungsauflassung bzw. Verbrachung und Standortsüberformungen der unmittelbaren Standorte eine Ablösung und somit das Verschwinden der vormaligen Nutzarten. Und umgekehrt können sich heute z. T. invasionsartig Neophyten und andere Arten so stark verdrängend ausbreiten, da verschiedene Standorte keiner Nutzung (wie z. B. Ernteformen durch Schnitt oder Weide, hohe Nährstoffeinträge vor allem durch die Brachevegetation, Streuabfall und Lufteinträge …) mehr unterzogen werden. Es handelt sich dabei um Landschaftsbrachen mit langfristigen Vergrasungs-, Verbuschungs- und Verwaldungstendenzen im Gefolge der Bewirtschaftungsintensivierung guter Standortsund wirtschaftlicher Gunstlagen. Goldruten, Springkraut, Brennnessel, Riesen-Bärenklau, Berufskraut u.v.m. stellen dafür typische Beispiele dar (s. zur Thematik Versaumung und Verbrachung bei Kurz & Machatschek, 2001).

1.5. Über die Wichtigkeit der alten Gebrauchsbezeichnungen

Die ältere lateinische Nomenklatur beinhaltet zwar viele Fehler, allerdings enthält sie neben der Beschreibung der einzelnen Arten wie z. B. ovatus (steht für eiförmig) oder gracilis (für schlank) und rubra (für eine rötliche Färbung) wesentliche Geschichten des Gebrauchs. Mit der Abänderung der lateinischen, länderweiten und regional-spezifischen Namen gehen in grob fahrlässiger Weise viele Nutzungsaspekte verloren. Die Umände3. Wildkräuter als Nahrung

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rung der Artbezeichnungen entspricht sowohl dem postmodernen Verständnis unserer Gesellschaft und dem Mangel an Kenntnissen des Gebrauchs, der ruralen Primärproduktion bzw. der gärtnerischen und bäuerlich-agrikulturellen Bewirtschaftungsweisen. Die Ignoration älterer Namensbezeichnungen kommt einem großen Wissensverlust gleich, wenn sie nicht mehr in den Neuauflagen der Florenwerke angeführt werden. Faktum dürfte sein, dass mit bestimmten Artbezeichnungen die Bereiche des anthropogen beeinflussten Vorkommens der Nutzpflanzen umschrieben sind. Allein das Vorkommen garantierte nicht das Überwintern des sesshaft gewordenen Menschen. Wesentlich für das stationäre Überleben war wohl die Standortsbeeinflussung zur Vermehrung der Arten. Alte Nutzungsandeutungen des Auffindens der Pflanzen wie im Sumpf, auf dem Feld, auf dem Acker oder auf der Wiese deuten nicht nur auf die typische Verbreitung dieser Nutzpflanzen hin, sondern viel mehr auf die durch die übliche und kontinuierliche Nutzung dieser Wirtschaftsflächen erfolgende Förderung dieser Arten. Kommen sie durch die Ackernutzung (Impuls bzw. Standortsstörung) gefördert auf Anbauflächen vor, so gedeihen sie vielfach auch auf Ruderalstandorten, wo sie sich deshalb halten, da diese weiterhin unter einem Störungseinfluss stehen. Die Art der Landbewirtschaftung, die die Vegetation als Nahrungs- und Futtermittel zum Arbeitsgegenstand hat, ist entscheidend für das Vorhandensein von Pflanzenarten. Mit folgenden Benennungen der Wildkräuter sind die intendierten Landnutzungsweisen der Flächennutzungen und der Sammlung definiert und begrifflich umschrieben: silvestris, sylvestris und silvestre, silvester bedeutet außerhalb des Gartens genutzt, wild wachsend, aber nicht unbedingt im Wald vorkommend; sylvatica umschreibt hingegen das Vorkommen im Wald, evt. in Hecken oder auf Brachen; palustris und palustre bedeutet im Sumpf und auf nassen Standorten bzw. an Gewässern vorkommende Nutzart; bei diesen Standorten kann auch künstliche Vernässung und starke Bewässerung bzw. die ständige Überstauung zur Förderung nutzbarer Wild- bzw. Sumpfpflanzen gemeint sein; pratensis und pratense umschreibt das Vorkommen in den ein- bis zweischürigen Mähwiesen, welche unter dem Einfluss bestimmter Bewirtschaftungsbedingungen stehen, wobei die heutigen sehr artenarmen Grün- und Grasländer sogenannter „Vielschnittwiesen“ davon zu unterscheiden sind; campestris und campestre umschreibt Arten, die im Feld vorkommen, also Standorte, die der heute abgekommenen Egartwirtschaft – dem mehrjährigen Wechsel zwischen Wiesen- und Ackernutzung – unterliegen; arvensis und arvense umschreibt Arten, die auf gestörten Standorten wie z. B. auf Acker, Gärten und auf Ruderalflächen vorkommen; alpestris und alpestre bedeutet auf Alpen im Sinne von Allmend-, heute Alm- oder Alpweiden vorkommend, hingegen meint alpinum das Vorkommen im Gebiet der alpinen Zone; agrestis und agreste könnte die bevorzugten Standorte im Acker und Feld meinen; oleraceus, oleracea, oleraceum bedeutet im Gemüse- oder Küchengarten evt. Feldacker aus den Anbaueinflüssen geförderte Beikräuter oder zielgerichtet angebaute und geförderte wilde Nutzpflanzen zum Erhalt von Nahrung;

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rupestris und rupestre umschreibt Arten, die in Felsen- oder Steinbereichen vorkommen; und sativus, sativa und sativum bedeutet eigens zur gezielten Ernte und Nutzung gesät, angebaut oder angepflanzt und unter Kultureinfluss im Besonderen der Züchtung unterstehend. Die Artbezeichnung officinalis und officinale beschreibt die gebräuchlichere Art innerhalb der heilwirksamen Gattung, hingegen vulgaris und vulgare die am meisten von der Allgemeinheit genutzte, weil häufig vorkommende Gebrauchsart für allgemeine z. B. für den Ernährungs- oder Futterzweck dienliche Art. Darüber hinaus wären noch viele andere Gebrauchsgeschichten aus der Namensgebung zu erörtern und zu erweitern. Demzufolge waren früher auch die nährstoffreichen Sumpfgebiete wesentliche Nutzungsbereiche des Menschen zum Nahrungserwerb, wie bei den Hauptkapiteln der konkreten Pflanzenbeispiele ausgeführt wird. Die Wildpflanzen als die wesentliche Ernährungsbasis halfen nicht nur der Sättigung, sie waren in gesamthafter Betrachtung „nahrhaft“, denn die meisten davon hatten heilwirksame Bedeutung. Die Kräuter dienten nicht einfach der Hungerstillung, wie vermeintlich unseren Vorgenerationen immer unterstellt wurde, sondern vielmehr der kulinarischen Bereicherung. Freilich ist mit der Benennung der Pflanzenarten mit Vorsicht zu begegnen, doch man nennt sie deshalb „Kräuter“ (z. B. Lungenkraut, Labkraut, Fettkraut, Kerbelkraut, Habichtskraut, Heidekraut, Hainsalat etc.) und „Wurzpflanzen“ (z. B. Meisterwurz, Blutwurz, Eberwurz, Enzianwurz, Nelkenwurz, Kerbelrübe usf.), weil in diesen Begriffen zumeist die Nutzungsaspekte enthalten sind. Die meisten Kräuter dienten verschiedenen Kuren und gelten als sehr mineralstoff-, spurenelement- und vitaminreich und einige beinhalten Bitter- oder entgiftende und die Ausscheidung anregende Inhaltsstoffe. Die Leute waren früher reicher an Kenntnissen, was für die Bewältigung des Lebens wesentlich war. Im Vergleich dazu sind wir heute sehr arm.

1.6. Welche Teile verwendeten die Menschen?

Die Frage der Ernährung steht in erster Linie im Zusammenhang mit der Bedürftigkeit nach Sättigung und in Abwägung der Genießbarmachung durch verschiedene Maßnahmen. Heilwirksame Aspekte spielen erst in zweiter Linie eine Rolle. Bei der Nutzung war wesentlich, die in Blatt und Spross aus den Speicherorganen veranlagten Inhalts- und Nährstoffe zu konsumieren. Oder man nützte vor dem Austreiben oder nach dem Einziehen die gehaltvollen Speicherorgane der Kräuter. Die Natur wurde dahingehend nach allen nützlichen Pflanzenteilen durchsucht. Im Frühjahr begann das Sammeln von Knospen und von den jungen Auswüchsen nutzten die Menschen Blätter und Sprosse, Blütentriebe und -knospen, Blüten, junge unreife und reife Samen. Im Spätsommer nutzten sie Wurzeln und lagerten diese ein. Aus der Naturbeobachtung ergab sich auch die Nutzung weiterer Aufwüchse innerhalb eines Jahres. Über die ganze Vegetationsperiode stand die 3. Wildkräuter als Nahrung

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Blattnutzung im Vordergrund und mit dem neuerlichen Austreiben der Blätter waren sie zusätzlich vom Hochsommer bis in den Herbst als Nahrung bekömmlich, wiewohl sie mit zunehmender Jahreszeit anders aufbereitet werden mussten. In den meisten Nutzkräuterbüchern steht absurderweise geschrieben, Wildkräuter seien nur im jungen Zustand zu nutzen. In einigen Fällen griffen die Leute auf die Rinde der Gehölze zurück, zerkleinerten sie, vermischten sie mit anderer Nahrung, um sich damit zu sättigen. Die Fülle an Wildobst verlangte nach ihrer Bevorratung für die Winterzeit. Auch mit den getrockneten und gemahlenen Wildfrüchten wurde vielfach andere Nahrung gestreckt. Die Nutzung der Pflanzenarten war eine Gratwanderung und Frage der Anpassung und Art der Kultivierungsmaßnahmen auf den Standorten.

1.7. Zur Frage der Zubereitung und der Umgang mit Pflanzengiften

Für die Zubereitung ist erstens die Überwindung, ungewöhnte Pflanzen in Nahrung zu verwandeln, und zweitens die Einschätzung, die geerntete Ware richtig zu verarbeiten, wesentlich. Wenn Kräuter frisch geschoben sind, dann eignen sie sich am besten für Nahrungszwecke. Mit zunehmendem Alter, ab dem Zeitpunkt, wo sie ein festes Blatt bekommen, eine stärkere Kutikula und Rohfaser ansetzen, sind sie nur mehr bedingt einsetzbar. Rund um die Blühphase enthalten die Pflanzen einen höheren Gehalt an sekundären Inhaltsstoffen – sprich Wirk- und Giftstoffen. Lediglich junge Aufwüchse wurden direkt als Rohkost und Salat genutzt. Ältere Blätter wurden als Brei oder Spinat, für Fladen, blanchiert als Beilage oder als suppen- oder teeartiger Aufguss aufbereitet. Bei der unmittelbaren Verwendung der meisten Wildpflanzen für die Ernährung sind Vorgänge des Erhitzens notwendig, um Bitterstoffe, Säuren und Giftstoffe zu reduzieren. Dies gelingt durch Kochen in Wasser, Dämpfen, Braten in Öl oder Fett, Rösten … Durch Auslaugen, Wässern und Keimen wird ebenfalls Nahrung erschlossen. In der Wildgemüseküche war eine vollständige Entbitterung der Speisen nicht vorgesehen. Gerade die Bitterstoffe gehen uns heute in der Ernährung ab, woraus sehr viele gesundheitliche Probleme resultieren. So wurden z. B. Blätter und Gemüseteile geschnitten und die Hälfte davon zur Entbitterung blanchiert, wodurch bekömmlichere Speisen entstanden. Wieder mit der rohen Schnittware vermischt, kann damit ein Auflauf oder eine Speisenbeilage gemacht werden. Die wichtigsten Formen der Haltbarmachung waren: Trocknen und Zerstoßen oder Pulverisieren durch Mahlvorgänge, Dörren und Räuchern, Einsäuern junger Pflanzen mit Salz, milchsaure Vergärung, Einlagern in Essig u.a. Trocknen war die Hauptbevorratungsform, erst später entwickelte sich das Einlagern mit Salz und Essig oder die milchsaure Lagerung, ähnlich dem Sauerkraut.

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2. Vorläufige Übersicht ehemaliger oder nach wie vor im Gebrauch stehender Nutzpflanzen Im Folgenden sei ausschließlich auf die Nahrungszusammenhänge der Wildkräuter eingegangen, ohne ihre ganzheitliche Sicht als Heilkräuter in Misskredit zu stellen, denn wie bereits in verschiedenen Veröffentlichungen erwähnt wurde, bestand früher auch bei uns eine Traditionelle Einheimische oder Europäische Medizin (TEM). Die systematische Zusammenstellung nach der Verwendungsweise begann Anfang der 1990er-Jahre und konnte im Rahmen dieses Projektes in einer vorläufigen Übersicht ausgeführt werden. Ausdrücklich festgehalten wird, dass bei dieser Zusammenschau die Verwandtschaftsbezüge der Familien nicht unbedingt berücksichtigt wurden, ebenso wie die heute üblichen Kulturarten und die Verwendung der Pilze, Flechten, Moose oder Algen. Bei der Verfassung der folgenden Übersicht habe ich mich grundsätzlich an die überarbeitete Nomenklatur der „Exkursionsflora für Österreich, Liechtenstein und Südtirol“ (Stand 2005) gehalten. Aus der mehrjährigen Beforschung des Themenbereiches rund um ehemalige Nutzpflanzen kann gefolgert werden, dass von den einstigen Nahrungsmöglichkeiten in unseren Breiten lediglich einige Kenntnisse an Blatt- und Fruchtnutzungen im aktuellen Gebrauch erhalten geblieben sind. Bei der Betrachtung der einzelnen Pflanzen und Pflanzengruppen gilt die Grundüberlegung der Blatt- und Triebnutzung vor der Blüte, da diese bis zur Blühphase weniger Wirk- bzw. Giftstoffe enthalten. Während und nach der Blüte sind die meisten Pflanzenarten hauptsächlich als Kochgemüse verwendet worden, um durch verschiedene Maßnahmen sekundäre Inhaltsstoffe zu reduzieren. Ähnliches gilt für die Wildobst-, Nussfrucht- und Wurzelnutzung im Herbst. Folgende Pflanzenteile und -gruppen sollen dabei betrachtet werden: Blattrohkost und -salat, Sprossgemüse, Blütensprosse, junge Stängel und Blattstiele, Knospen und Böden von Blüten, Grüngemüse zum Kochen, Öl aus Samen und Früchten, Gräser und Grassämereien, Wurzel und Wurzelspeicherorgane, Süßungsmittel und Stärke aus Pflanzen und Wasserpflanzen.

2.1. Blattnutzung für Rohkost und Salate

In geringen Mengen mischte man Salaten vielfach würzende und heilende Kräuter bei, um über die Nahrung die Heilkräfte aufzunehmen. Eigens haben die Leute nicht mehr nach Heilmitteln gesucht, sondern die Vielzahl verwendbarer Nahrungspflanzen war die Basis der Gesundheit. Nur mehr bei akuten Fällen griff man auf speziell wirksame Heilkräuter zurück. Viele eigentliche Wildsalatpflanzen, in großen Mengen und regelmäßig genossen, besitzen ein hohes Maß an Heilwirkung. Löwenzahn und Wegwarte für Leber, Galle und Bauchspeichel, Sauerampfer (Rumex acetosa) und Wald-Sauerklee (Oxalis acetocella) zur Abführung; Eigentliche, Wiesen-, Blassrot- und z. B. Hügel-Echt-Schafgarbe (Achillea millefolium agg., A. pratensis, A. roseoalba, A. collina) zur Blutreinhaltung und als „Allheilpflanzen“;Spitzwegerich (Plantago lanceolata) zur Erhaltung der Fruchtbarkeit; Bit3. Wildkräuter als Nahrung

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teres Schaumkraut (Cardamine amara) und Bärlauch (Allium ursinum) zur Entwurmung und Körperreinigung; Brennnessel (Urtica dioica) für die Haut und Kräftigung; Gundelrebe (Glechoma hederacea) als Bier- und Suppenwürze; Vogelmiere (Stellaria media) für die Mineralstoff- und Vitaminversorgung; Gänseblümchen (Bellis perennis) vorbeugend gegen Verkühlungen etc. Die genannten Arten sind am längsten überliefert und bis heute noch als die gebräuchlichsten Blattgemüsearten bekannt. Aber schon bei Wiesen-Kerbel (Anthriscus sylvestris) wegen der Verwechslung mit den „Schierlingen“) und beim „Hasen- und Ziegenfutter“ Wiesen-Bärenklau (Heracleum sphondylium, auch im Volksmund Scharling oder Schierling genannt) bestehen Vorbehalte oder Wissensdefizite bei der Erkennung. Sowohl Wiesen- wie auch Glanz-, Hunds- und Echt-Kerbel (Anthriscus sylvestris, A. nitidus, A. caucalis, A. cerefolium) und z. B. Acker- und Wald-Borstendolde (Torilis arvensis, T. japonica) wurden frisch in größeren Mengen als Würzmittel eingesetzt. Den früher häufig gesammelten Feldsalat (= Rapunzel-, Vogerlsalat, Rapünzchen, Nüsslisalat, Valerianella spec.) kennt heute kaum jemand, auch weil er wegen seiner Gestalt eher unscheinbar oder nicht mehr häufig anzutreffen ist. Bei dieser Gattung sind alle Arten für die Salatnutzung anzuführen, wie Echter, Zähnchen-, Furchen-, Krönchen- und Kiel-Feldsalat (V. locusta, V. dentata, V. rimosa, V. coronata, V. carinata). Wenn der Feldsalat nutzbar ist, so sind auch im Frühjahr die Rosettenblätter (also vor dem Schieben des Blütensprosses) des Arznei- oder Echt-Baldrians (Valeriana officinalis, incl. aller Unterarten) für Salat, aber auch Suppe, Eintopf und Spinat nutzbar, wie wir in Südtirol in einem Projekt bereits bewiesen haben. Hier seien auch die im Wald- und Berggebiet hauptsächlich genutzten Arten angeführt, wie Felsen-, Berg-, Dreischnittig- (V. saxatilis, V. montana, V. tripteris) und Sumpf-Baldrian (Valeriana dioica). In Europa bestehen innerhalb der Sippe Baldrian kultivierte Arten bzw. Übergangsarten, wobei hier systematischer Forschungsbedarf vor allem in Fragen der Nahrungs- und Heilverwendung besteht. Eine alte und in den Gärten als Zierpflanze erhalten gebliebene Art ist die Rot-Spornblume (Centranthus ruber), von der die Blätter und jungen Sprosse verwendet wurden. In gleicher Weise nutzte man in Norditalien die Schmalblatt-Spornblume (Centranthus angustifolius). Auch Vogelmiere (Stellaria media) nutzte man aus dem Garten und Acker, aber von den verwandten und vielleicht verwechselbaren Unterarten der Gattung Hornkraut lässt man heute ab, obwohl sie gerade von den gut gedüngten Standorten nutzbar wären, wie z. B. Cerastium glomeratum, C. holosteoides, C. glutinosum, C. sylvaticum, C. fontanum. Früher nutzte man auch die kleinwüchsigen Mastkraut- (Sagina spec.), Knäuel- (Scleranthus spec.), Spörgel- (Spergula spec.), Schuppenmiere- (Spergularia spec.), Spurre- (Holosteum spec.), Wassermiere- (Myosoton spec.) und Nabelmiere-Arten (Moehringia spec.) und in Slowenien z. B. Knollenmiere (Pseudostellaria europaea), solange sie ertragreich und frisch im Aufwuchs waren. Vor allem die Wald-, Groß- und Berg-Sternmiere (Stellaria nemorum, S. holostea, S. montana) und im ganz jungen Zustand die Gras-Sternmiere (S. graminea) sind als Gemüsepflanzen betonenswert. Ergiebig können auch Wasserdarm oder Wasser-Sternmiere, Sumpf-, Bach- und Langblatt-Sternmiere (Stellaria aquatica, S. palustris, S. alsine, S. longifolia) sein. Und die Vergissmeinnicht-Arten (Myosotis spec.) findet man z. B. häufig in den Bauerngärten der Alpenvorländer, aber man nutzt kaum mehr die Blätter vor der Blüte für Salat

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oder Breigerichte, so wie dies früher üblich war. Von den warmen Ruderalstandorten und Weinbergen sammelte man die Blätter des Gewöhnlichen-, Groß- und Moschus-Reiherschnabels (Erodium cicutarium, E. ciconium, E. moschatum) für Salate und Kochgemüse. Und die sehr bekömmlichen Blätter der Purpur-, Flecken-, Weiß-, Stengelumfassenden und Riesen-Taubnessel (Lamium purpureum, L. maculatum, L. album, L. amplexicaule, L. orvala) werden kaum mehr verwendet, obwohl sie vor, während und nach der Blüte roh äußerst bekömmlich und für Salate und alle Kochspeisen zu verwerten sind. Selbst die gekochten Wurzeln davon dienten der Ernährung. Hinweise auf Nutzung der jungen Blatt- und Blütentriebe der Goldnessel (Galeobdolon spec.) für Salat, Gemüsegerichte und Spinat bestehen, wiewohl diese Artengruppe gewöhnungsbedürftig ist. Die blutreinigende Art Gundelrebe oder Gundermann (Glechoma hederacea) diente zum Würzen von Salat und in Topfencreme, wiewohl sie eine ausgezeichnete Suppenwürze (für Fisch-, Schaf- und Ziegenfleischsuppen) abgibt. Obwohl die saftig-dicken Blätter und rohen Sprosse der Bachbunge, Quell- oder BachEhrenpreis (Veronica beccabunga), kratzig und etwas bitter schmecken, sammelte man diese hauptsächlich im Winter an den schneefreien Bachläufen, wo anderes Wildgemüse Mangelware war, aber auch unter dem Jahr, da sie mit der Blühphase stark an Bitterstoffen zusetzt. Als gehackter Salat in Mischung mit Apfel oder Gemüse ergibt die Bachbunge eine ausgezeichnete Speise und kann auch als Spinat mit Süßrahm zubereitet werden. Von den alten Steinmauern sammelte man die jungen Blätter des in den Mauernspalten wurzelnden Zimbelkrauts (Cymbalaria muralis) für die Salatnutzung ca. bis zur Sommersonnenwende. Gut geeignet für Salatgemüse ist auch das Schmalblatt-Weidenröschen (Epilobium angustifolium). Von den Lauchgewächsen sammelte man auch selten vorkommende Arten für den häuslichen Gebrauch in der Küche, zum Zwecke von Heil- und Entschlackungskuren und zur Entwurmung. Man bezog davon Zwiebel, Blätter, Blütenknospen und Blüten. Am bekanntesten sind der Bärlauch (Allium ursinum) in nährstoffreichen, frischen (Au-)Wäldern, der an Mauern und in Felsbereichen vorkommende Glocken- oder „Gemüse-Lauch“ (A. oleraceum), die an Gebüsch- und Waldrändern und in Weingärten gedeihenden Arten Weinberg- und Schlangen-Lauch (A. vineale, A. scorodoprasum) und der in Magerwiesen und Eichen- bzw. Kiefernwäldern vorkommende Kiel-Lauch (A. carinatum). In den Berggebieten nutzte man neben diesen Arten den Allermannsharnisch oder Siegwurz-Lauch (A. victorialis) und Berg-Lauch (A. lusitanicum) und den in Quellfluren, Ried- und Sumpfbereichen vorkommenden Alpen-Schnittlauch (A. schoenoprasum var. alpinum). In den Pyrenäen, Apenninen und Karpaten greift man zusätzlich auf den Gelbweißen und Steif-Lauch (A. orchroleucum, A. strictum) zurück. Ebenso nutzt man den aus dem Kaukasus eingeführten und sich über Parks, Auen und Siedlungsränder verbreitenden Wunder-Lauch (A. paradoxum). In bescheidenen Mengen oder in Mischungen sammelte man die frischen Blätter von Weiß- oder Kriech- und Rot-Klee (Trifolium repens, T. pratense, Hinweise auf Todesfälle infolge großer Roh- und Kochmengen bestehen aus der Schweiz und Irland). In Mischungen zu anderen Speisen verwendete man in geringen Mengen die Blätter von Schweden-, 3. Wildkräuter als Nahrung

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Berg-, Mittel- oder Zickzack-, Fuchs-, Inkarnat-, Blassgelb-, Faden-, Braun-, Westalpen-, Hasen-, Hügel-, Gold-, Streifen-, Erdbeer- oder Himbeer-, Spreiz-, Moor-, Feld-, Ungarischer Hasen- und Steif-Klee (T. hybridum, T. montanum, T. medium, T. rubens, T. incarnatum, T. ochroleucon, T. dubium, T. badium, T. alpinum, T. arvense, T. alpestre, T. aureum, T. striatum, T. fragiferum, T. patens, T. spadiceum, T. campestre, T. pannonicum und T. ­retusum). Als Salat- und Kochgemüse kamen auch in geringen Mengen die Blätter von der Echt-Geißraute (Galega officinalis) sowie Hufeisenklee (Hippocrepis comosa) und Wiesen-, Sumpf- sowie Salz-Hornklee, Gelb-Spargelklee (Lotus corniculatus, L. pendunculatus, L. tenuis, L. maritimus) und einige Schneckenklee- bzw. Luzerne-Arten (Medicago lupulina, M. minima, M. carstiensis, M. orbicularis, M. falcata, M. arabica, M. sativa) zum Einsatz. Wegen des Kopfschmerzen bereitenden Cumarins kamen die Blätter von den Arten Hoch-, Echt-, Salz-, Weiß-, Furchen- und Kleinblüten-Steinklee (Melilotus altissimus, M. officinalis, M. dentatus, M. albus, M. sulcatus, M. indicus) vor der Blüte als Koch- und Salatgemüse und zum Aromatisieren zur Verwendung. Von der Serradella und Mäusewicke (Ornithopus sativus, O. perpusillus), welche auf trockenen Sand- und Felsstandorten vorkommen, sammelte man vor dem Blühen die Blätter für Salat. Von vielen dieser Arten, vornehmlich der Gattung Trifolium, sammelte man die Blätter, Blüten oder jungen Triebe, um sie nach dem Trocknen zu einem Speisen- und Brotteigstreckmehl zu pulverisieren. Besenginster (Cytisus bzw. Sarothamnus scoparius) war in der Hauptsache zur Gewinnung von Besenmaterial angepflanzt worden. Er diente allerdings auch als Heilpflanze und ob seiner schwachen Giftigkeit die ganz jungen Blätter auch für Salatnutzungen. Auch in geringen Blattmengen verwendete man jene von der Echt-Geißraute (Galega officinalis). Die Blätter des Süß-Tragants (Astragalus glycyphyllos) wurden wegen ihrer Nierenheilwirkung, oder der blutreinigende und harntreibende Wasserdost (Eupatorium cannabinum) den Speisen in kleinen Mengen beigemischt. Für Blattsalat wurden in der Hauptsache Wegwarte (Cichorium intybus) und WiesenLöwenzahn (Taraxacum officinale agg., und ausnahmslos alle anderen Taraxacum-Arten) genutzt. Vom Stink-Hainsalat oder Stinkkohl (Aposeris foetida), Ruten- und Alpen-Knorpellattich oder „Knorpelsalat“ (Chondrilla juncea, Ch. chondrilloides) sammelte man die Blätter für Salat. Fein geschnitten und durch Wässerung etwas entbittert, sind auch Waldoder Mauer- und Purpur- oder Hasenlattich (Mycelis muralis, Prenanthes purpurea) für Salate genutzt worden. Junge oder durch Wässerung und Knetung entbitterte Blätter von Ruten-, Eichen-, Weiden-, Tataren-, Blau- wie auch des Wild- oder Kompass-Lattichs (Lactuca viminea, L. quercina, L. saligna, L. tatarica, L. perennis, L. serriola) fanden für Salate ebenso Verwendung. Die ausgestochenen Blattrosetten von Gewöhnlichen Flecken- und Sand-Ferkelkraut (Hypochaeris radicata, H. maculata, H. glabra) sowie ihre geschlossenen Blütenknospen und die Wurzeln erschloss man sich durch leichtes Abbraten in Butter oder Schweineschmalz als Nahrungsmittel unter Beigabe von wenig Wasser. Deshalb nennt das gemeine Volk diese Pflanzen auch „Butter- oder Schmalzkraut“. Durch die Erhitzung werden die Bitterstoffe umgewandelt. Ähnlich bereitete man auch die Herbstlöwenzahn-Arten, neuerdings Leuenzahn genannt (Leontodon spec. bzw. Scorzoneroides spec.), und meiner Vermutung nach auch

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alle Pippau-Arten (Crepis spec., die bitteren Blätter im jungen Zustand) auf, wie Versuche ergeben haben. Auch aus durch Einwässern und Durchkneten entbitterten Blättern vom Einkorb-Ferkelkraut (Hypochaeris uniflora) bereitete man Salate oder Gemüsegerichte. Von diesen genannten Korbblütlerarten schuf man durch Wurzelröstung Kaffee. Zum Blutreinhalten, Abtreiben von Darmparasiten und Kurieren unliebsamer Bakterieninfektionen mischte man fein geschnittene Blätter des Echt-Beifuss (Artemisia vulgaris) den Salaten bei oder kochte auch größere Mengen mit anderen Wildgemüse-Arten mit. Die jungen Blätter und Sprosse von Sauerampfer und beinahe aller Ampferarten (rund um Rumex acetosa, R. acetosella, R. arifolius, R. nivalis, R. scutatus, R. alpestris, R. palustris, R. sanguineus, R. conglomeratus, R. crispus, R. maritimus, R. stenophyllus, R. obtusifolius, R. kerneri, R. cristatus, R. alpinus, R. thyrsiflorus, R. aquaticus, R. pseudonatronatus, R. longifolius, R. patientia, R. pulcher, R. confertus, R. hydrolapathum, R. thyrsiflorus …) wie auch der Säuerling (Oxyria digyna) dienten als Salat oder, zumeist als Suppe gekocht, mit Fett oder eingerollt in Glut gebraten, als Speise. Die sich entfaltenden Blätter der großblättrigen Arten sind wegen der Bitterstoffe nicht genießbar. Wegen ihres Gehalts größerer Mengen Oxalsäure war der Verzehr der Ampferarten allerdings begrenzt. In sehr großen Mengen nutzte man den Wiesen-Knöterich (Polygonum bistorta) der Feucht- und Nasswiesen und den auf Tritt beeinflussten Flächen (Weiden, Wege) vorkommenden Vogelknöterich (P. aviculare). Ebenfalls wegen der Oxalsäure verwendete man nur in geringen Mengen Wald-Sauerklee (Oxalis acetosella), wiewohl auch die eingeführten Arten Aufrechter, Horn- und Dillenius-Sauerklee (O. stricta, O. corniculata, O. dillenii) nutzbar sind, wenn sie mit geringen Kalkbeigaben aufbereitet werden, wodurch die Säure gebunden wird. Von den Dickfleischgewächsen sammelte man die Sedumarten Weiß-, Mild- und Scharf-Mauerpfeffer (Sedum album, S. sexangulare, S. thartii; S. acre, der scharfe Mauerpfeffer bedingt oder richtig aufbereitet) den Tripmadam (Sedum reflexum) oder FelsenMauerpfeffer (S. rupestre) sowie den Westlichen Felsen-, Alpen-, Einjahrs-, Blaugrün-, Dickblatt- oder Buckel- und Drüsen-Mauerpfeffer (S. montanum, S. alpestre, S. annuum, S. glaucum, S. dasyphyllum, S. villosum) für Salate, Suppeneinlagen und Breie. Auch trocknete man die Blätter und Triebe zur Anlage von Vorräten. Von den Waldfetthennen die Quirl- und Purpur-Waldfetthenne (Sedum bzw. Hylotelephium maximum, H. purpurea) sowie die hoch geschätzte Allheilpflanze Rosenwurz (Rhodiola rosea) bereitete man Salate und Suppen. Die Blätter der Rhodiola lagerte man im Alpenraum wie Sauerkraut ein. In den Cottischen Alpen griff man häufig auf den Spinnweb-Hauswurz (Sempervivum arachnoideum) zurück und grundsätzlich, sofern sie vorkamen, auf Dach- („Dachbohne“) und Berg-Hauswurz (S. tectorum, S. montanum) für Salat. Es erscheint als ziemlich wahrscheinlich (ähnlich wie bei den Ornithogalum-Arten), dass aus Gründen ihrer Kultivierung zu Nahrungszwecken die Gattungen Sedum, Hylotelephium, Kugel-Fransenhauswurz (Jovibarba globifera) und Sempervivum ehemals eine weitere Verbreitung erfuhren als heute. Von den Steinbrechgewächsen wurden die Blätter bzw. beblätterten Sprosse von Bach-, Pracht-, Punktierten, Kies-, Knöllchen-, Zwiebel-, Rispen-, Rundblatt-, Finger- und PrachtSteinbrech (Saxifraga aizoides, S. cotyledon, S. punctata, S. mutata, S. granulata, S. bulbifera, S. paniculata, S. rotundifolia, S. tridactylites, S. cotyledon) genutzt. 3. Wildkräuter als Nahrung

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Die Blätter von Wechselblatt- und Gegenblatt-Milzkraut (Chrysosplenium alternifolium, Ch. oppositifolium) und verschiedene Mohnarten (hauptsächlich Klatsch-, Schlaf-, Sandund Schmalkopf-Mohn, Papaver rhoeas, P. somniferum, P. argemone, P. dubium) wurden mit Bitterem Schaumkraut oder Brunnenkresse als Salat oder als Brei angerichtet. Vor allem die tiefe Temperaturen ertragende Brunnenkresse (Nasturtium officinale) diente während der kalten Jahreszeiten als wichtiges Vitamin C spendendes Nahrungsmittel. Deshalb unterlagen in Vorzeiten die Bachläufe mit Brunnenkresse-Vorkommen besonderem Schutz. Und im Frühjahr holte man sich von den Ufern und feuchten Ruderalstellen und Böschungen das heilwirksame Echte Barbarakraut (Barbarea vulgaris), das deshalb in manchen Gegenden auch als „Winterkresse“ bezeichnet wurde, und die Frühlings-Barbarakresse (Barbarea verna, ehemals B. praecox), um sich mit den Blättern und Sprossen gleichzeitig gesund zu halten und zu sättigen. Ausgewachsene und Rosettenblätter auch von anderen Arten wie Steif- und Mittel-Barbarakresse (B. stricta, B. intermedia) unterzog man der Verkochung, um die Bitterstoffe zu entfernen und die Pflanzenteile für Speisen bekömmlicher zu machen. In ähnlicher Weise kamen mit dem Beginn der Vegetationsaufwüchse so nach und nach Schaumkräuter (Cardamine spec.), alle Löffelkräuter (Cochlearia spec.; im Besonderen C. officinalis gärtnerisch kultiviert, ebenso wie Dänisches und Englisches Löffelkraut der Küstenregionen, C. danica, C. anglica), Kugelschötchen (Kernera saxatilis), Gamskresse (Hornungia bzw. Hutchinsia alpina, H. pauciflora, H. petraea, H. procumbens), AckerHellerkraut (Thlaspi arvense), u.v.a. zum Einsatz in der Küche. Weitere Nutzungsmöglichkeiten und Aufzählung weiterer Kreuzblütler werden in folgenden Großkapiteln genauer besprochen. Sofern die Blatternte ergiebig erschien, griff man auch auf alle Arten der Felsenblümchen (Draba spec., vor allem auf die höher wüchsigen Arten) zurück. In Südwest-Europa beheimatete Stumpfkanten- und Französische Hundsrauke (Erucastrum nasturtiifolium, E. gallicum) und die im mediterranen Raum stärker verbreiteten Arten Gartenrauke – auch Rucola genannt – (Eruca sativa) und Grausenf oder Grau-Rempe (Hirschfeldia incana) sind nach wie vor bekannte Salat(würz)- und Gemüsepflanzen. Die Blütenknospen der Grau-Rempe verwendete man wie Broccoli. Von Trauer-, Matronen- und Wild-Nachtviole (Hesperis tristis, H. matronalis, H. sylvestris) nutzte man die Blätter für (Misch-)Salat, Suppe und Gemüsegerichte. Im Frühling nutzte man vielfach vor der Blüte die Knoblauchsrauke (Alliaria petiolata) für Salat oder Kochspeisen. Ja, und die Floristen merken bei der Schleifblume (Iberis) an, sie sei eine Zierblume – weit verfehlt: Die schönen Arten Bitter-, Dolden-, Fieder-, Mittel- und Immergrün-Schleifblume (I. amara, I. umbellata, I. pinnata, I. linifolia, I. sempervierens; vermutlich auch I. pinnata) sind alte Salatpflanzen der Nutzgärten. Die jungen Blätter von Weg- oder Echte, Glanz-, Pannonien-, Wolga- oder Russische, Steif-, Niederliegende, Stadt- und Österreich-Rauke (Sisymbrium officinale, S. irio, S. altissimum, S. orientale, S. volgense, S. strictissimum, S. supinum, S. loeselii, S. austriacum) sowie von Nacktstängel-Rahle oder Bauernsenf (Teesdalia nudicaulis) nutzte man für Salate, zum Würzen der Speisen und ältere Blätter für Kochgerichte.

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Mit den Blättern von Erd-, Arznei-, Wald- oder Hoher Schlüsselblume, Clusius-Primel und Aurikel (Primula vulgaris, P. veris, P. elatior, P. clusiana, P. auricula) genauso wie von jenen des Gänse- und Silber-Fingerkrauts (Potentilla anserina, P. argentea) stellte man Püree, Salate und Suppen her. Grundsätzlich verwendete man von allen Fingerkraut-Arten (Potentilla spec.) die jungen Blätter für Salate. Vom Groß- und Klein-Wiesenknopf (Sanguisorba officinalis, S. minor), vom Echt-Nelkwurz (Geum urbanum) und annähernd allen Erdbeer- und Frauenmantel-Arten (Fragaria spec., Alchemilla spec., auch Ohmkraut oder Ackerfrauenmantel, Aphanes arvensis) verwendet man heute noch frische Blätter als Salatund Suppenwürze oder in Topfenaufstrichen oder verkocht sie zu Püree. Die Blätter der als heilwirksam geltenden Weiden-Arten (Salix spec.) verwendete man fein gehackt in Salat- und Kochspeisen eingemischt. Auch die weichen Kätzchen sammelte man, zerrieb sie oder trocknete und pulverisierte sie, um sie als Nahrungsstreckmittel einzusetzen. Deshalb steht das „Palmkätzchen“ in unseren Bräuchen so hoch im Wert, weil es einst für Nahrungszwecke Einsatz fand. Die herb schmeckenden Blätter und zarten Schösslinge von Immenblatt (Melittis melissophyllum) wie auch jene der Wasser-Minze (Mentha aquatica) und Pannonien- und Echt-Katzenminze (Nepeta nuda, N. cataria) wurden für Mischsalate in geringen Mengen als leichte Würze genutzt. Sowohl als frisches als auch als gekochtes Gemüse nutzte man die Blätter vom Pastinak, vom Wiesen-Kümmel, der Wilden Karotte, vom Geißfuß oder Giersch und den Mutterwurz-Arten (Pastinaca sativa, Carum carvi, Daucus carota, Aegopodium podagraria, Ligusticum spec.). In Gerichte mit Gemüseallerlei mischte man die Blätter der Witwenblumen (Knautia arvensis, K. dipsacifolia bzw. K. maxima, K. drymea, K. longifolia, K. norica) unter.

2.2. Sprossgemüse, Blütensprosse, junge Stängel und Blattstiele

Die ersten Keime und Sprosse im Jahr wurden bei vielen Pflanzen vor dem Blattaustreiben genutzt, da diese Teile noch keine bzw. wenige bedenkliche Inhalts- oder Faserstoffe enthalten. Grundsätzlich sind alle der Speisennutzung unterzogenen Spargel einer zumindest kurzfristigen Abkochung zu unterziehen. In Italien werden heute noch die wild wachsenden Urarten des Asparagus für Spargel-, Koch- und Suppengemüse oder zur Salatbereitung gesammelt. Glockenblumen (Campanula spec.), Teufelskrallen (Phyteuma spec.) und Sandknöpfchen oder Sandrapunzel (Jasione spec.) waren wegen ihres milden Geschmacks das Spargelgemüse guthin. Ebenso sind von diesen Gattungen die Blätter und Wurzeln auch roh genossen worden. Von Kindern wurden die Sprosse gerne roh verzehrt und manche Glockenblumen waren für den Nahrungserhalt auch in die Gärten gepflanzt worden. Bis heute blieb die Nutzung bekannt von: Acker-, Rapunzel-, Nessel-, Wald-, Wiesen-, Breitblatt-, Bart-, Strauß-, Ähren-, Knäuel-, Karnisch-, Steppen-, Mähren- und Rundblatt- (Campanula rapunculoides, C. rapunculus, C. trachelium, C. persicifolia, C. patula, C. latifolia, C. barbarta, C. thyrsoides, C. spicata, C. glomerata, C. carnica, C. sibirica, C. moravica, C. rotundifolia) sowie Ähren-, Schwarz-, Betonien-, Pfirsichblatt-, Eikopf-, Rundkopf- und Scheuchzer-Teufelskralle (Phyteuma spicatum, Ph. nigrum, Ph. betonicifolium (im Westen), Ph. persicifolium 3. Wildkräuter als Nahrung

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(im Osten), Ph. ovatum, Ph. orbiculare, Ph. scheuchzeri). Es bestehen auch Hinweise auf die Sammlung von Berg-Sandknöpfchen (= Schafrapunzel oder Sandrapunzel, Jasione montana), Ausdauerndem Sandknöpfchen (J. laevis) und von Schopfteufelskralle (Physoplexis comosa) in den südlichen Alpen sowie von Lilien-Becherglocke (Adenophora liliifolia). Gesichert sind verschiedene Nachweise der Nutzung junger Triebe, Blütensprosse und Blätter von Roswurz (Rhodiola rosea), Ähren-, Wechselblüten- und Quirl-Tausendblatt (Myriophyllum spicatum, M. alterniflorum, M. verticillatum), vielen Weidenröschen-Arten (Epilobium spec., hauptsächlich E. angustifolium, E. lanceolatum, E. hirsutum, E. montanum, E. alpestre, E. ciliatum, E. dodonaei, E. roseum, E. obscurum, E. palustre, E. parviflorum, E. tetragonum), Läusekrautarten (Pedicularis julica, P. foliosa, P. verticillata, P. recutita, P. elongata, P. sceptrum-carolinum, P. oederi, P. hacquetii, P. palustris, P. rostrato-spicata), Aschenkraut (Tephroseris-Arten tendenziell frischer und feuchter Standorte), Pyramidenund Kleinblüten-Kuhnelke (Vaccaria hispanica, V. parviflora) sowie von Büschel-, Busch-, Wild-, Heide-, Sand-, Eigentliche Karthäuser- und Bart-, Montpellier-, Pfingst- und Eigentlicher Feder-Nelke (Dianthus armeria, D. seguieri, D. sylvestris, D. deltoides, D. arenarius, D. carthusianorum und D. barbatus, D. hyssopifolius, D. gratianopolitanus und D. plumarius), aber auch junge Blütensprosse und Blätter von Huflattich (Tussilago farfara), der Gewöhnlichen Jungfernrebe (Parthenocissus inserta) wie auch von Wein (Vitis vinifera subsp.) und der Gewöhnlichen Waldrebe (Clematis vitalba). Die aus Südamerika eingeführten Portulak-Arten (Portulaca spec., neuerdings auch Zierarten wie P. grandiflora) verbreiteten sich auf Sandböden der Gärten, Äckern, Weinbergen, Ruderal- und Pflasterstandorten der Siedlungsräume. Unsere Vorfahren unterschieden zwischen P. oleracea ssp. sativa und P. o. ssp. silvestris, wobei innerhalb dieser beiden Gruppen viele verschiedene Einzelarten oder raschwüchsige Sorten beobachtbar sind. Von ihnen sammelte man die beblätterten Triebe, wobei durch die fleischigen Stängel und Blätter rasch eine große Menge, vornehmlich für Salat, Suppeneinlage oder Spinat, erntbar war. Wie Portulak nutzt man auch Tellerkraut (Claytonia perfoliata) und Quellkraut (Montia fontana agg.). Von den Lippenblütlern sammelte man alle Ziest-Arten (Stachys sylvatica, S. alpina, S. labiosa, S. recta, S. germanica, S. palustris) in geringen Mengen zum Untermischen ins Kochgemüse und die Betonien-Arten (Betonica officinalis, B. alopecuros) für Spargel- und Spinatgerichte. Vom Sumpf-Ziest (Stachys palustris) nutzte man die jungen, bekömmlichen Sprosse für Spargelgemüse und die Blätter für Salat. Von den anderen genannten Arten verwendete man die jungen Blätter in Mischung mit anderen Wildpflanzen. Von den Grasnelken (Fam. Beilwurzgewächse Plumbaginaceae) nutzte man die Blätter von Wegerich-, Gemeine, Sand- und Alpen-Grasnelke (Armeria arenaria, A. maritima, A. elongata, A. alpina) und die kandierten Blüten als Speisendekoration. Von der nah verwandten Strandnelke (Limonium vulgare) sammelte man Blätter und Sprosse zur Verwendung als Kochgemüse. Auf die Nutzung der Sprosse mit noch eingerollten Blättern der Salomonssiegel- oder Weißwurz-Arten (Polygonatum latifolium, P. multiflorum, P. verticillatum, P. odoratum, vermutlich eingeführt auch P. japonicum) sowie von Europa-Knotenfuß (Streptopus amplexifo-

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lius) weisen heute noch Berichte hin. Sie mussten wegen den „Giftstoffen“ kurz in heißem Wasser gekocht werden. Vom Liliengewächs Spargel nutzte man folgende wild vorkommende Arten in Südeuropa: Asparagus officinalis, A. tenuifolius, A. acutifolius, A. aphyllus und A. horridus. Wegen ihrer Beliebtheit wurden diese Arten in den Gärten Europas kultiviert. Auch die Sprosse und unterirdischen Triebe des Stech-Mäusedorns (Ruscus aculeatus) fanden im mediterranen Raum Verwendung. Der Spargel vom wilden Hopfen (Humulus lupulus) ist in unseren Breiten nach wie vor bekannt. Im mediterranen Raum suchte man auch nach den Trieben der Kletterpflanze Schmerwurz (vmtl. Tamus communis). Die aus Nordamerika eingeführte Seidenpflanze (Asclepia syriaca) hält sich auch bei uns auf verschiedenen Standorten. Die Indianer nutzten diese wie auch A. tuberosa als Spargelgemüse und Zuckerlieferant. Aus dem Mittelmeerraum und der Provence ist die Spargelnutzung des Nachtschattengewächses Bocksdorn (Lycium europaeum) bekannt. Früher waren auch die wasserreichen Frühjahrstriebe der Gewöhnlichen, Aufrecht- und der Alpen-Waldrebe (Clematis vitalba, C. recta, C. alpina) als Kochspeise dienlich. Aus der Gruppe der Hyazinthengewächse nutzte man alle Arten der Gattungen Milchstern, Honoriusmilchstern und Schaftmilchstern (Ornithogalum, gesichert z. B. O. pannonicum, O. vulgare, O. umbellatum, Honorius bzw. O. boucheanum; Loncomelos pyrenaicus, L. brevistylus), in den Balkanstaaten auch die Traubenhyazinthe-Arten (Muscari tenuiflorum, M. comosum, M. neglectum, M armeniacum) sowie in Südeuropa Klein-Traubenhyazinthe (M. botryoides) – auch davon aufbereitet die giftverdächtigen Arten. Von den Sommerwurzgewächsen (Orobanchaceae) verwendete man als Spargelgemüse vor allem Blutrot-, Heilwurz-, Gamander-, Haarstrang-, Distel- und Groß-Sommerwurz (Orobanche gracilis, O. bartlingii, O. teucrii, O. alsatica, O. reticulata, O. elatior) sowie einige an den Kulturpflanzen schmarotzende Arten. Diesbezüglich nutzte man auch vom Knollen-Läusekraut (Pedicularis tuberosa) die Speicherorgane. Wie schon der Name anspricht, kamen Behaart- und Kahl-Fichtenspargel bzw. Buchenspargel (Monotropa hypopitys, M. hypophegea) als gekochtes Gemüse auf die Speiseteller. Äußerst bekömmlich sind die Blütensprosse während des Schiebens vom Wiesen-Bärenklau und Wiesen-Kerbel sowie Echt- und Wild-Engelwurz (Heracleum sphondylium, Anthriscus sylvestris, Angelica archangelica, A. sylvestris) und die jungen Blüten und weißlichen Bodentriebe vom Geißfuß oder Giersch (Aegopodium podagraria). Blattstiele und Sprosse vom Meisterwurz (Peucedanum ostruthium) und nah verwandter Arten wie z. B. Sumpf-Haarstrang (P. palustre) waren ehedem als Gemüse verwendet worden. Von diesen genannten Doldenblütlern trocknete man zur Lagerung die Blattstiele und Blätter vor der Verfaserung oder marinierte sie über Kochvorgänge zur Lagerung oder salzte oder zuckerte sie ein. Nach wie vor nutzen die Menschen der Mittelmeerländer vom in der freien Natur vorkommenden Echt-Fenchel (Foeniculum vulgare) die Blätter, Stängel, Blüten und verdickten Laubblattscheiden oder Stängelbasen und die Samen für die Tee-(früher auch Fenchel-Öl-)Herstellung. Gedünstet kamen auch bis Juni die Blätter und jungen Triebe der Rippendolde (Pleurospermum austriacum), Heilwurz sowie Österreich-, Bunt-, Pferde-, Steppen- und Ost-Sesel oder -Bergfenchel (Seseli libanotis, S. austriacum, S. pallasii, S. hippomarathrum, S. annuum, S. campestre) auf die Speiseteller. 3. Wildkräuter als Nahrung

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Bemerkenswert ist bis heute die Nutzung der zu den Doldenblütlern zählenden Manns­ treu-Arten (vor allem von Feld- und Amethyst-Mannstreu, Eryngium campestre, E. amethystinum, die jungen Blätter und Triebe wie auch die Wurzel als Gemüse) sowie des Riesen- und des Alpen-Mannstreus und in den Küstengegenden der „Stranddistel“ (Eryngium giganteum, E. alpinum, E. maritimum). Früher sammelte man in Ungarn den FlachblattMannstreu (E. planum). Aus allen Regionen finden sich Nachweise der Spross- und Blattnutzung von Kreuzblütlern wie Rauken (Sisymbrium spec.), Sophien- oder Besenrauke (Descurainia sophia), Lauchkraut oder Knoblauchsrauke (Alliaria petiolata), Wild-Nachtviole (Hesperis sylvestris), Barbarakresse (Barbarea spec.), Wild-, Ufer-, Österreich-, Gewöhnliche, Zweischneidige, Island-, Pyrenäen- und Karst-Sumpfkresse (Rorippa sylvestris, R. amphibia, R. austriaca, R. palustris, R. anceps, R. islandica, R. pyrenaica, R. lippizensis) sowie ihren Hybriden, von Acker-Schmalwand (Arabidopsis thaliana), Auen-, Alpen-, Bogenfrucht-, Pfeil-, Sudeten-Gänsekresse (Arabis nemorensis, A. alpina, A. turrita, A. sagittata, A. sudetica), Kohl- und Turmkresse (Fourraea alpina, Turritis glabra), Mondviole oder Silberblatt (Lunaria annua, L. rediviva), in der Not auch von Steinkresse-Arten (Alyssum spec.), Graukresse (Berteroa incana), Karparten-Felsenblümchen (Draba lasiocarpa), von allen Arten des Leindotters (Camelina spec.), von Hirtentäschel (Capsella bursa-pastoris), Finkensame oder Ackernüsschen (Neslia paniculata), Herz- oder Pfeilkresse und Warzen-Krähenfuß (Lepidium draba, L. squamatum), Kandelaber-, Breitblatt-Kresse oder Pfefferkraut (L. campestre, L. latifolium), Ackerkohl (Conringia austriaca, C. orientalis), Schmalblatt- und Acker-Doppelrauke (Diplotaxis tenuifolia, D. muralis), von sämtlichen wilden und verwilderten Kohl- und Senfarten der Gattungen Brassica und Sinapis, von Garten- und Hundsrauke (Eruca, Erucastrum) und Rapsdotter (Rapistrum spec.). Seit Langem nutzte man in Polen vom Orientalischen Zackenschötchen (Bunias orientalis) und vom Hohldotter (Myagrum perfoliatum) die jungen Sprosse und Blätter als Gemüsebeilage. Erwähnenswert ist die Nutzung der als Zierpflanze geltenden Levkoje (Matthiola incana) im Mittelmeerraum wie auch in den Balkanländern und Ungarn das Scheibenkraut oder Lauch-Scheibenschötchen (Peltaria alliacea). Alles von den Disteln ist nutzbar. Von allen Distelartigen (Gattungen Cirsium, Carduus, Silybum, …) sammelte man bald nach dem Aufschießen die nahrhaften Blätter, Stängel und Blütensprosse bzw. die verdickten Blattadern. Man war sich ihrer Heilkräfte für die Leber bewusst. Selbst Wurzeln, verholzte Stängel und ausgereifte Blütenköpfe kochte man in Suppen aus und siebte sie ab. Wenn man bedenkt, dass manche Distelarten bis zu 30 % Öl in den Samen und Speicherstoffe in den Wurzeln enthalten, so lohnt sich deren Aufschließung in Form von Suppen. Von den Goldruten nutzte man die jungen Sprosse mitsamt den Blättern, solange die Triebe noch keine Fasern angesetzt hatten. Folgende Arten sind zu nennen: Echt-, Kanada-, Riesen-Goldrute (Solidago virgaurea, S. canadensis, S. gigantea) und Grasblatt-Goldschirm (Euthamia graminifolia). Frühlingsblätter und Sprosse von Wurmlattich (Helminthotheca echioides) und Habichtskraut-Bitterkraut (Picris hieracioides) wurden ausschließlich gekocht verarbeitet. Früher nutzte man von der Ringelblume (Calendula arvensis) die Blätter zumindest als Mischgemüse im Spinat.

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Ebenso kamen die jungen Sprosse und Blätter von den Franzosenkraut- und Berufskraut-Arten (Galinsoga spec., Erigeron bzw. Conyza spec.) für Püree, Suppe, Eintopf- und Spinatgerichte in den Gebrauch. Die beiden Arten des Franzosen- oder Knopfkrauts (Galinsoga parviflora, G. ciliata) gelten als sehr eisenreich und bringen eigene Geschmacksrichtungen auf den Küchentisch. Erigeron und Galinsoga haben sich auf den Gärten, Hackfruchtäckern und in den Weingärten sowie deren Brachen in Massen angesiedelt und wiewohl es sich um junge Neubürger handelt, griffen bald die Europäer auf sie in Form der Wildgemüsenutzung zurück. Heute vielfach als Zierpflanzen angesehen, sind die Astern (Aster spec.), von denen eben die eingebürgerten Arten Raublatt- oder Neuengland- und Glattblatt- oder Neubelgien-Aster sowie Kahl-Aster (Aster novae-angeliae, A. novi-belgii agg., A. laevis) zumeist in den Bauerngärten erhalten blieben. Es ist als gesichert anzunehmen, dass je nach Rauigkeit die Blätter und die zarten Blüten aller Astern-Arten dem Speisezwecke – roh und gekocht – zugeführt wurden. Vom Bach-Ehrenpreis (Veronica beccabunga) und von der an den Küsten befindlichen Art Strandmilchkraut oder Strandbunge (Glaux maritima) nutzte man die jungen Sprosse für Salate und bei Entfernung des Kochwassers für Spinat und Gemüsebeilagen. In den langsam fließenden Gewässern an Kalk- und Nährstoff führenden Standorten findet sich der heute selten gewordene Tannenwedel (Hippuris vulgaris), von dem man die jungen Schösslinge im Frühjahr für Kochzwecke nutzte. Die selten vorkommenden Arten Großes, Kleines und Biegsames Nixkraut (Najas marina, N. minor, N. flexilis) dienten zur Triebnutzung für Salate und Kochgerichte. Neben den Blättern und Stielen gebraucht man von Echt-, Klein- und Knollen-Beinwell (Symphytum officinale, S. bulbosum, S. tuberosum) auch die jungen Sprosse für Spargelgerichte. In England existieren etliche Züchtungen, die heute als Zierpflanzen gelten, früher allerdings mit dem Ziel des Nahrungs- und Schweinefuttererwerbes (Varietäten von S. asperum) kultiviert wurden. In Vergessenheit geriet die Nutzung der Geißbartbestände (Aruncus dioicus) in ganz Europa (bis auf Südtirol, wo er als „Wildspargel“ mittlerweile wieder auf den Märkten gehandelt wurde). Vom schwach giftigen Acker- und Blau-Gauchheil (Anagallis arvensis, A. foemina) entfernte man mit dem Kochwasser die Saponine, ehe man das Kraut weiter verarbeitete. Die jungen Triebe mitsamt den Blättern von der Vogel- und Zaun-Wicke (Vicia cracca, V. sepium) wurden als Gargemüse verwendet. Junge beblätterte Triebe beinahe aller Platterbse-Arten (Lathyrus spec.), von Kriech-, Dorn- und Acker-Hauhechel (Ononis repens, O. spinosa, O. arvensis) nutzte man neben den jungen Blättern auch die Triebe für Spinat, Salat und als Gemüsebeilage bzw. lagerte auch die Blätter mit Salz als Vorrat ein. Die jungen Triebe und Blätter vom Rohrkolben (Typha latifolia, T. angustifolia, T. minima) waren als gekochtes oder gebratenes Sprossgemüse begehrt. Der in der Blattscheide befindliche weiche Teil von Gewöhnlicher und Wurzelnder Waldbinse (= ehedem Simse, Scirpus sylvaticum, S. radicans) wurde in jungem Zustand in großen Mengen als rohes oder gekochtes Gemüse gehandhabt. Von vielen Grasarten nutzte man in jungem Zustand ebenso die in den Scheiden gehüllte Blattbasis, wie sie von den Süßgräsern (Poaceae), z. B. beim Knaulgras (Dactylis glomerata) oder Europa-Schneideried (Cladium mariscus), bekannt ist. 3. Wildkräuter als Nahrung

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Von den Farnen nutzte man als Sprossgemüse nur geringe Mengen: Adlerfarn, Wurmfarne und Frauenfarne (Pteridium aquilinum, Dryopteris filix-mas, D. affinis, D. expansa, D. dilatata, Athyrium filix-femina, A. distentifolium), Königsfarn (Osmunda regalis), in seltenen Fällen jene der Eichenfarne (Gymnocarpium spec.) und, wie Versuche ergeben haben, die ganz jungen Sprosswedel des bekömmlichen und schuppenlosen Straußenfarns (Matteuccia struthiopteris). Vom Europa-Rippenfarn (Blechnum spicant), Sumpf- und Bergfarn (Thelypteris palustris, Th. limbosperma) und von der Hirschzunge (Asplenium bzw. Phyllitis scolopendrium) kamen die jungen Aufwüchse bis zum Sommer für Kochspeisen auf den Tisch. In den Berggebieten griff man auch auf Vielzipfel-, Mond-, Virginien- und Ästig-Rautenfarn bzw. -Mondraute (Botrychium multifidum, B. lunaria, B. virginianum, B. matricariifolium) zurück. Und die jungen Aufwüchse und Ährenkolben vom Acker-, Teich-, Riesen- und Winter-Schachtelhalm (Equisetum arvense, E. fluviatile, E. telmateia, E. hymenale) waren der Kochgemüsenutzung (für Suppe und Salate) ab und zu unterzogen worden. Der Riesen-Schachtelhalm (Equisetum telmateia) z. B. bevorzugt nasse Stellen in Waldlichtungen, entlang der Gräben mit stehendem Wasser und in den Gärten und Äckern mit Hackfrüchten. Von ihm nutzte man die Frühlingssprosse. Hinweise diesbezüglich bestehen ebenfalls aus Nordamerika.

2.3. Nutzung der Blütenknospen, Blütenböden und Blüten

Die geschlossenen Blütenknospen von Gänseblümchen (Bellis perennis), Löwenzahn-Arten (Taraxacum spec.), Frühlings-Dotterblume (Caltha palustris, auch junge Blätter und Sprosse), aller Kresse-Artigen, Bärlauch (Allium ursinum) wie auch einige Blattknospen der Gehölze dienten in Essig eingelegt als Kapern. Diese Arten stehen heute noch im Gebrauch. Die geschlossenen Blütenköpfchen von Ferkelkraut bzw. Schmalzkraut (Hypochaeris radicata, H. maculata, H. glabra), von den Herbstlöwenzahn- bzw. -Leuenzahn-Arten (Leontodon spec.), Wiesen-, Sumpf-Pippau (Crepis biennis, C. paludosa), beinahe aller Kratzdistel-Arten (Cirsium spec.), vornehmlich aber von der Acker- (Cirsium arvense), Sumpf- (C. palustre), Woll-Kratzdistel (C. eriophorum), Silber- oder Wetterdistel und Gewöhnlicher Golddistel (= Eberwurz, Carlina acaulis, C. vulgaris jeweils den Blütenboden), den milden Ringdistel-Arten (Carduus nutans, C. crispus, C. personata, C. heterophyllum, C. dissectum, C. defloratus agg., C. acanthoides in den Pyrenäen und Cevennen) und Eselsdistel (Onopordum acanthium) dienten ebenfalls zur Gemüsenutzung. In manchen Fällen griff man auch auf andere Distel-Arten zurück. Ebenso erfreuten sich die Leute an der Blütenknospennutzung von Kornblume und Berg-Flockenblume (Cyanus segetum, C. montanus), Wiesen- und Skabiosen-Flockenblume (Centaurea jacea, C. scabiosa), von Tauben-, Gelb-, Duft-, Glanz- und Südliche Skabiose (Scabiosa columbaria, S. ochroleuca, S. canescens, S. lucida, S. triandra) und Teufelsabbiss (Succisa pratensis) sowie an der Nutzung ihrer Blätter und jungen Triebe. Die ehemals als Saatwucherblume heute Margerite benannte Art („die nach der Saat wuchernde“, laut neuer Nomenklatur Groß- und Klein-Wiesenmargerite, Leucanthemum

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ircutianum, L. vulgare), Acker-Witwenblume (Knautia arvensis) und z.T. der Wiesen-Salbei (Salvia pratensis) hielten sich in großen Mengen auf Standorten, die nach Umbruch und Selbstberasung bzw. Neuansaat in Wiesen umgewandelt wurden. In der neuen botanischen Nomenklatur wird ihnen dieser Nutzungszusammenhang abspenstig gemacht. Mit den neuen Namen „Margerite“ und „Wiesen-Witwenblume“ geht auch der in ihren Bezeichnungen eingeschriebene und zugrunde liegende Erhaltungsimpuls der „Egartwirtschaft“ verloren. Solch ein Unverständnis in der Vermittlung von Wissen beherbergt die Voraussetzung für Ignoration der Bewirtschaftungsfragen auf solchen Flächen und solche und viele Arten mehr gehen dadurch verloren. Gerade wegen dem häufigen Vorkommen aufgrund dieser Bewirtschaftungsweise war die Nutzung der geschlossenen Blütenköpfchen als Gemüse einträglich und aus der Sicht des Naturschutzes vormals bedenkenlos. Margerite und Acker-Witwenblume sind Pflanzen des im Alltag praktizierbaren Naturschutzes. Ungarn-, Berg- und Langblatt-Witwenblume (K. drymeia, K. maxima, K. longifolia) unterzog man ebenfalls einer Köpfchennutzung. Die in den Mittelmeerländern hauptverbreitete eigentliche Saatwucherblume (Chrysanthemum segetum oder Glebionis segetum) war für die Nutzung der Blätter als Beigabe für Salate und Kochgemüse bekannt. Auch die Blütentriebe von Berg-, Haller- und Gebirgs-Margerite (Leucanthemum adustrum, L. halleri, L. gaudinii) waren für Kochspeisen vorgesehen. Die rohen beim Kauen nach Pilzen schmeckenden Samen der Wegeriche (Plantago spec.) lagerte man für die Winterversorgung in großen Mengen als Trockengut. Wegen des hohen Stärkegehalts gelten sie als kräftigend und heilwirksam gegen Erkältungen und Lungenbeschwerden und erhalten die Fruchtbarkeit von Mensch und Tier. Die Blütenknospen aller Bocksbart- (Tragopogon pratensis, T. orientalis, T. dubius) und der mittlerweile selten verbreiteten Schwarzwurzel-Arten (Scorzonera spec., s. bei Wurzelnutzung) wie auch ihre Sprosse eignen sich hervorragend zum Einlegen in Essig. Um die Blütenknospen und Blüten von Echt- und Knopf-Kamille (Matricaria chamomilla, M. discoidea), Rainfarn (Tanacetum vulgare), Straußmargerite (T. corymbosum), Großblatt-Wucherblume (T. macrophyllum), Balsamkraut oder Marienblatt (T. balsamita) und Mutterkraut oder Mutterkamille (T. parthenium) für Speisen zu nutzen, wurden diese zur Auslaugung der giftverdächtigen Inhaltsstoffe abgekocht und vor allem in Salaten, Suppen und Kochgerichten in geringen Mengen verwendet. Diese Kräuter enthalten verschiedene Giftstoffe, welche auch zur Insekten- und Schimmelabwehr eingesetzt wurden bzw. werden können. Von den Gattungen Cytisus, Chamaecytisus, Genista und Gewöhnlicher Stechginster (Ulex europaeus) waren die Blütenknospen als Kapern in Essig eingelegt worden. Es ist für die Mittelmeerländer zu vermuten, dass durch Züchtungen in Varietäten bedenkliche Inhaltsstoffe reduziert oder entfernt wurden und auf diese Weise eigene Ginsterarten der Nahrungsnutzung unterzogen werden konnten, wie z. B. Genista sylvestris var. In Georgien und im östlichen Donaugebiet legte man die weißen Blüten der Europa-Pimpernuss (Staphylea pinnata) in Salz ein und im Mittelmeerraum wurde sie kandiert.

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Blüten als Würzmittel und zur Dekoration Die Wildkräuternutzung für Suppe und Spinat am Gründonnerstag und die Verwendung der heilwirksamen Weidekätzchen (Salix spec.) im Frühjahr stehen als Symbol für Ostern. Früher nutzte man ebenso die Kätzchen von Erle und Birke und deren junge Blätter für Kochbeigaben. Den Speisen wurden vereinzelt die Blüten z. B. von Hornklee, Gewöhnlich-, Alpen- und Apenninen-Sonnenröschen, Rot-Klee, Mohn- und Nachtviole-Arten (Lotus corniculatus, Helianthemum nummularia, H. alpestre, H. apenninum, Trifolium pratense, Papaver spec., Hesperis spec.) etc. untergemischt. Sowohl die Blüten zum Garnieren als auch die Blütenknospen für Salat nutzte man von Blut-, Stink-, Weich-, Klein-, Wiesen-, Wald-, Sumpf-, Schlitzblatt-, Pyrenäen-, Tauben-, Silber-Storchschnabel (Geranium sanguineum, G. robertianum, G. molle, G. pusillum, G. pratense, G. sylvaticum, G. palustre, G. dissectum, G. pyrenaicum, G. columbinum, G. argenteum) wie auch zum Würzen in geringen Mengen deren aromatisch riechenden Blätter. Ähnlich handhabte man andere Blüten wie von den Klee- (Trifolium spec.), EhrenpreisArten (Veronica spec.), aller Kresseartigen (Cruciferae), von Franzosenkraut (Galinsoga parviflora, G. ciliata), Knopf- und Echt-Kamille (Matricaria discoidea, M. chamomilla), Thymian (Thymus serpyllum, Th. pulegioides, Th praecox etc.), Acker-Winde (Convolvulus arvensis), Glockenblumen und Teufelskrallen (Campanula spec., Phyteuma spec.) wie auch die scharf-würzigen Blüten der Kreuzblütlerfamilie (Brassicaceae). Je nach Region griff man auch auf die Blüten von Spitz- und Mittel-Wegerich (Plantago lanceolata, P. media), Malven, Eibisch, Raueibisch, Stock- oder Pappelrose, Stundeneibisch, Thüringen-Lavatere (Malva, Althaea spec., Dinacrusa spec., Alcea spec. Hibiscus trionum, Lavatera thuringiaca) und alle gelbblühenden Primel-Arten (Primula spec.) zurück. Die Blütenblätter der natürlich im Mittelmeerraum vorkommenden und über Gärten kultivierten und verwilderten Ringelblume (Calendula arvensis) verwendete man zum Dekorieren von Salaten. Diese und jene von Günsel (Ajuga spec.), der rotblühenden Taubnesseln (Lamium spec.), Echt-Lavendel und verwandte Arten (Lavandula angustifolia) und Vergissmeinnicht (Myosotis spec.) wurden u.a. in die Butter geknetet. Die Blütennarben der Wildformen des Echten Safrans (Crocus sativus, vormals C. officinalis der Stammsippe C. cartwrightianus) waren als heilwirksames Würzmittel gesammelt und die Sammelware mit den Narben anderer Krokus-Arten (z. B. C. purpureus, C. exiguus, C. albiflorus) zur Mehrung der Menge gestreckt bzw. gefälscht worden. Bemerkenswert ist die Sammlung des auf schwach und diskontinuierlich mit Mist gedüngten Wiesen und Böschungen befindlichen Ruchgrases (Anthoxanthum odoratum, A. alpinum), welches Cumarin enthält. Die Büscheln dieses Frühjahrsgrases sammelte man während der Blüte mit Sicheln und legte Lagervorräte an, um im angewelkten oder getrockneten Ruchgrasheu fettes Fleisch (von Gans, Kalb, Lamm etc.) einzuwickeln, damit der Fettgeschmack übertüncht und das genossene Fett gut verdaubar war. Weiters wurde es zum Aromatisieren von Blütensaftgetränken und Obstsäften sowie für die Bowle genutzt. Die Wurzel wusch man und bereitete aus der im Schatten getrockneten Ware Tabak zum Schnupfen und Rauchen oder verwendete es zum Aromatisieren von Speisen. Ähnlich kam auch das DuftMariengras (Hierochloë odorata) der Niedermoore, Feucht- und Riedwiesen zum Einsatz.

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Von den in die Gärten eingeführten Arten Gelb- und Gelbrot-Taglilien (Hemerocallis lilioasphodelus, H. fulva) nutzte man die Blütensprosse, Blütenknospen und Blüten zu Salaten und Suppen oder legte diese in Essig ein. Von verschiedenen Lilien-Blüten und der Wild- und Südlichen Tulpe (Tulipa sylvestris, T. australis), von Königskerze und EchtOdermennig (Verbascum spec., Agrimonia eupatoria), von Ruderal- oder Gelber, Färber-, Klein- und Garten Resede (Reseda lutea, R. luteola, R. phyteuma, R. odorata) pflückte man die Blüten zum Dekorieren der Speisen und für alkoholische Getränke („Kräuterbowle“). Veilchen-Blüten (Viola spec.) kamen wegen schädlichen Überdosierungen in geringen Mengen zur Verwendung. Und aus den Blüten des Schmalblatt-, Rosenroten, Sumpf- und Berg-Weidenröschen (Epilobium angustifolium, E. roseum, E. palustre, E. montanum) stellte man Sirup her. Zum Garnieren von Speisen und für die Sirupherstellung nutzte man auch Rosenblütenblätter (Rosa spec.).

2.4. Grüngemüse für die Kochnutzung

Von den in diesem Kapitel angeführten Arten wurden die bereits gut entwickelten Blätter, z.T. mit Blattstielen, Stängel- und Sprossteilen, als Gemüsebrei oder Spinat zubereitet und dienten als Beilage zu Speisen. Häufig wurde mit Mehl oder einer „Einbrenn“ eingedickt, um die austretende Säure zu binden und herbe Geschmäcker annehmbarer zu machen. Dadurch schützte man sich vor Übersäuerung. Dies gilt im Besonderen für die Oxalsäurehältigen Pflanzen (wie Rumex, Oxalis etc., aber auch für die „Maisprosse“ der Fichte, Picea abies, bei Gemüsenutzung). Laut Hinweisen entfernte man Säure aus den Speisen, indem man Wildgemüse zuvor in Wasser mit Kalk einmal aufkochte. Aus den Blättern der genannten Arten bereitete man auch Gemüsesuppen. Von vielen Arten wurden frei wachsenden Wildformen gesammelt, wiewohl einige auch kontinuierlich angebaut wurden. In der Hauptsache verwendete man dafür alle – ohne Ausnahme – Gänsefuß- und Melde-Arten (Chenopodium spec., Atriplex spec.) und bürgerte zur Kultivierung Arten von diesen Gattungen aus weit entfernten Regionen ein. Zweifelsohne gelten die Gänsefußgewächse als uralte Kulturpflanzen, denen erst in den letzten 200 Jahren der Ruch des Unkrautes angelastet wurde. Durch den Anbau auf nährstoffreichen Standorten gestalteten sich die Blätter größer und fiel die Ernte der Samen reichlicher aus. Beide Gattungen haben in Hackfruchtäckern und Gärten sehr gute Wuchsbedingungen. Am häufigsten wurde die Spreiz- oder Gewöhnliche und Garten-Melde (Atriplex patula, A. hortensis bzw. A. aucheri) gesammelt. Daneben kamen in der Hauptsache in den Kochtopf: Spieß-, Langblatt-, Glanz-, Rosen-, Tataren- und Verschiedensamige Melde (A. prostata, A. oblongifolia, A. sagittata, A. rosea, A. tatarica, A. micrantha). Die Garten-Melde (A. hortensis) ist heute als Zier- oder Ruderalpflanze bekannt, früher war sie Kulturpflanze. Von den Spülsäumen der Meeresküsten nutzte man die Gelappt-, Strandsalz- und Strand-Melde (A. laciniata, A. portulacoides, A. littoralis). Am bekanntesten sind heute noch Weiß-, Streifen-, Graugrün-, Feigenblatt-, Kleb-, Dorf-, Sautod-, Vielsamen- oder Fisch-Gänsefuß und Guter Heinrich (Chenopodium album, Ch. strictum, Ch. glaucum, Ch. ficifolium, Ch. botrys, Ch. urbicum, 3. Wildkräuter als Nahrung

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Ch. hybridum, Ch. polyspermum, Ch. bon-henricus), aus denen Spinat hergestellt wurde. Bemerkenswert ist, dass von diesen Arten sowohl Samen wie Blätter gut als Trockenware oder tiefgefroren bevorratbar sind. Von den anderen Gänsefuß-Arten fanden ebenfalls Spinatnutzungen mit Ausnahme des Stink-Gänsefußes (Ch. vulvaria) statt, der wegen seines Geruches allerdings als Schweinefutter Einsatz fand. Von Heuffel-, Acker-, Warzen- und Groß-Knorpelkraut (Polycnemum heuffelii, P. arvense, P. verrucosum, P. majus) sammelte man die Blätter und Triebe für Spinat. Die eigentliche Spinatpflanze (Spinacia oleracea), die vermutlich aus den asiatischen Hochgebirgen bzw. China stammt, verdrängte die ursprüngliche Nutzung der Halbkulturarten und vor allem den um die Hofstätten und in den Siedlungsräumen weitverbreiteten Guten Heinrich. In manchen Tälern war der Gute Heinrich ein Hauptnahrungsmittel während der Sommerzeit. Zu dieser Gruppe zählten der wegen der dekorativen und nutzbaren Früchte neuerdings in den Gärten wieder vermehrt angebaute Echte Erdbeerspinat oder Blätter-Gänsefuß (Blitum virgatum = Chenopodium foliosum) und KopfErdbeerspinat (B. capitatum = Ch. capitatum). Für Kochzwecke nutzte man die jungen Blätter der Halbstrauch-, Besen- und Sand-Radmelde (Bassia prostrata, B. scoparia, B. laniflora). Der Vollständigkeit halber müssen auch die Blatt- und Samennutzungen der bewusst oder unbewusst vornehmlich aus Süd- und Nordamerika eingeführten FuchsschwanzArten (Amaranthus spec.) erwähnt werden, von denen wegen dem basischen Wirkungsausgleich in Europa seit einigen Jahrzehnten Nahrungsmittel aus kultivierten Arten in unseren Küchen Einzug nahmen. Vornehmlich als altes Blattgemüse sind der Rau- oder Zurückgebogene Fuchsschwanz, Stutzblatt- oder Graugrüne, Westamerika-, Griechische und Weiß-Fuchsschwanz (A. retroflexus, A. blitum, A. blitoides, A. graecizans, A. albus) je nach Einbürgerung bei uns nicht nur in Notzeiten genutzt worden, auch ihre anfallenden feinen Samen wurden für Breispeisen verwendet. Ebenso im späteren Geschichtsverlauf kam das Blatt des Zierlicher Amarant (A. viridis) zur Nutzung. Grundsätzlich waren durch verschiedene Entbitterungsverfahren alle Knöterichgewächse (Polygonaceae) als Blattgemüse genutzt worden. Besonders zu erwähnen sind neben Wiesen-Sauerampfer (Rumex acetosa), Zwerg-Sauer-, Schild-Sauer-, Berg-Sauer-, Alpen-, Wasser-, Sumpf-, Teich-, Langblatt- und Schmalblatt-, Schön-, Kraus- und Stumpf-, Hain-, Knäuel-Ampfer etc. (Rumex acetosella, R. scutatus, R. alpestris, R. alpinus, R. aquaticus, R. palustris, R. hydrolapathum, R. longifolius und R. stenophyllus, R. pulcher, R. crispus und R. obtusifolius, R. sanguineus, R. conglomeratus), die auch gärtnerisch kultiviert bekömmlicher gemacht wurden. In den Gärten hielt sich bis vor wenigen Jahrzehnten auch der Gemüse-Ampfer (R. patientia). Wegen des bitteren Geschmacks beim Kosten des rohen Blattes und unseres verwöhnten Gaumens (durch die Betonung der überzuckerten Esswaren, Weißmehl etc.) sind wir über viele Generationen von ihren Nutzungsgebräuchen wieder abgekommen. Sofern die genannten Ampfer große Blattstiele ausbildeten, verwendete man diese wie Rhabarber oder für Kuchen und Marmelade. Deshalb waren früher zum Anbau im Garten die Ampfersamen auch gehandelt worden. Seit dem Mittelalter geht z. B. auch der Griechische Ampfer (R. cristatus = R. graecus) durch die Auf-

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lassung der Nutzung im Vorkommen zurück. Ehemalige Nutzungen sind von dieser Art noch für den französischen Alpenraum, die Niederlande und Belgien nachgewiesen. Als voll verwertbare Kulturpflanze – vom Blatt bis zur Wurzel – ist der Schlangen- oder Wiesen-Knöterich (Polygonum bistorta, neuerdings Persicaria bistorta) sehr lohnenswert. Vor allem in England wird ihre Nutzung hochgehalten. Aus dieser Pflanze wären mit geringem Aufwand neue Kultursorten mit größeren Samen etc. züchtbar. Nicht umsonst nennt man die dem Kultur-Buchweizen (Fagopyrum esculentum, und weniger frostempfindliche F. tataricum) nah verwandte Art auch „Wilder Buchweizen“. Auch der Gewöhnliche Vogelknöterich (Polygonum aviculare), Acker-Flügelknöterich (Fallopia convolvulus) und die ihm im Blatthabitus sehr ähnliche Acker-Winde (Convolvulus arvensis) sind als Blattgemüse verwendet worden. Nachweise der Spinatnutzung existieren auch vom Hecken-Flügelknöterich (Fallopia dumetorum). In Japan werden sowohl der Japan- (Fallopia bzw. Reynoutria japonica) als auch der Sachalin- (F. sachalinensis) und Bastard-Flügelknöterich (F. x bohemica) als Viehfutter und Gemüse und ähnlich wie Rhabarber genutzt. Bei uns breiten sich diese im Geschmack sehr sauer wirkenden Neophyten stark auf ungenützten Standorten aus. Sie bewirken bei Rohverzehr starken Durchfall. Im Hochgebirge ersetzte der Knöllchen-Knöterich (Persicaria vivipara) und in den Feucht- und Ackerbaugebieten ergänzend auch der Ampfer-Knöterich (Persicaria lapathifolia mit allen Unterarten) sowie der Floh-Knöterich (Persicaria maculosa) als Blattgemüse den Wiesen-Knöterich. Ebenfalls als Dünstgemüse verwendete man Wasser-, Mild-, Alpen- und Klein-Knöterich (Persicaria amphibia, P. dubia, P. alpina, P. minor). Vom Wasserpfeffer oder Pfeffer-Knöterich (P. hydropiper) kamen Blätter und Triebe in geringen Würzmengen roh oder gekocht in die Speisen. Die sprossartigen Blattgebilde der auf Salzböden (Salzseen, Flussmündungen in die Meere) vorkommenden Salicornia europaea bzw. S. herbacea und S. stricta (Queller oder Glasschmalz) kamen in bestimmten Gegenden Europas zur Nutzung als Gemüsebeilage oder Spinat. Ebenso gebrauchte man die auf sandigen Steppenweiden und Sandäckern vorkommenden Arten Suada maritima agg., Salsola kali oder S. pestifer (Salzmelde, Salzkraut-Arten). Die Blätter und jungen Triebe verzehrte man roh oder verwendete sie dosiert für Salat- und Kochgerichte. Um Bitterstoffe und Salzverbindungen auszuspülen, ist das Kochwasser je nach Jahreszeit der Ernte mehrmals zu wechseln. Roh, gekocht oder als Beigabe zu Sauerkraut aufbereitet erfreute man sich des küstenbewohnenden Nelkengewächses Salzmiere (Honckenya peploides) in Deutschland. Ähnlich kam die Flügel- und Salz-Schuppenmiere (Spergularia maritima, S. salina) und die Europa-Salzbunge (Samolus valerandi) zur Verwendung. Sumpf- und Salz-Dreizack (Triglochin palustre, T. maritimum) sind für die Spinat-, Suppen- und Kochgemüsebereitung gesammelt worden. Die heute immer noch im Gebrauch stehende wilde Spinatart ist die Brennnessel (Urtica dioica, U. urens). Neben der Blattnutzung zum Anlegen von Trockengut verwendete man in großen Lagerbeständen auch die getrockneten Samen, die im ausgewachsenen grünen und braunen Reifezustand gesammelt wurden. Der hohe Nährwert und Energiegehalt war wohlbekannt. Vermutlich nutzte man auch das nah verwandte Echt- und MauerGlaskraut (Parietaria officinalis, P. judaica) für Spinat und roh als Salat. Beide Gattungen 3. Wildkräuter als Nahrung

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bevorzugen sehr nährstoffreiche Standorte. Hanf (Cannabis sativa) ist auf allen Nutzungsebenen (Öl, Faser, Heildroge) zu betrachten, weshalb davon sehr viele verschiedene Varietäten je nach Wirkstoffgehalt mit unterschiedlichen Vorzügen für die Ernährung und Heilwirkung selektiert wurden. Nicht zu vergessen sind die Blatt- und Sprossnutzung und die Samennahrung. Auch die eingeführten Kulturarten Maulbeere (Morus nigra, M. alba), Feige (Ficus carica) und Wein (Vitis vinifera) beinhalten alte Nutzungen der Blätter. Obwohl die Schwarzund Gelbrotbeeren-Nachtschatten (Solanum nigrum, S. villosum agg.) als giftig gelten, dürften laut Hinweisen und mit Vorbehalt junge Blätter einer Spinatzubereitung unterzogen worden sein bzw. reife Beeren auch als Naschobst genutzt worden sein. Offenbar bestanden bei diesen Arten Selektionszüchtungen essbarer Beerensorten. Bei jenen Arten, die unter Solanum miniatum, S. hortense, S. atriplicifolium, S. flavum, S. humile in den Nomenklaturen geführt werden, nutzte man die Blätter und Sprosse für Spinatspeisen. Aus Griechenland gibt es Hinweise der Nutzung des Bittersüß-Nachtschattens (S. dulcamara). Zum klärenden Umgang mit der Gattung der anbaufähigen Nachtschatten wären unbedingt Forschungsprojekte anzustrengen. Nur mit höheren Kochkünsten und unter Beigabe würziger Kräuter verwendete man als Kochgemüse die eher geschmacklosen Blätter und Triebe des Kriechenden Günsels (Ajuga reptans) und der Klein- und Groß-Braunelle (Prunella vulgaris, P. grandiflora), in Mischung auch die Gundelrebe (Glechoma hederacea). Hingegen kamen die Arten Wiesen-, Echt-, Quirl-, Steppen- oder Hain-, der herbe Kleb-, im Mittelmeerraum Muskateller-, Ungarn oder Afrika- und Österreich-Salbei (Salvia pratensis, S. officinalis, S. verticillata, S. nemorosa, S. glutinosa, S. sclarea, S. aethiopis, S. austriaca) lediglich als Würze in die Speisen. Manchmal frittierte man die Blätter in Bierteig als Hauptspeise oder man hatte sie in Fett zur Entbitterung gebraten. Die Gattung Hohlzahn (Galeopsis spec.) umfasst ebenfalls Nutzpflanzen für Kochspeisen. Die beiden roh nicht besonders gut schmeckenden Bingelkraut-Arten (Mercurialis perenne, besser ist das M. annua) stellen ebenfalls uraltes Koch- und Suppengemüse dar. Für Spinat und zum Einrollen von Speisen (Gemüse-, Teigfüllung, Verhacktes/Faschiertes) verwendete man die Blätter von Huflattich (Tussilago farfara), Wildem Hopfen (Humulus lupulus) und Echt-Weinrebe (Vitis vinifera). Letzte Art nutzte man auch für Sauerkraut und zum Einwickeln bzw. Affinieren von Käse. Neben den Blättern kamen auch die Stängel und Ranken des Weins als Kochgemüse zur Verwendung. Für Gemüsebrei nutzte man die jungen Blätter und Frühlingssprosse von Wald-, Strauß-, Punkte- und Rispen-Gilbweiderich und Pfennigkraut (Lysymachia nemorum, L. thyrsiflora, L. punctata, L. vulgaris, L. nummularia) wie auch Acker-, Blau- und Zart-Gauchheil (Anagallis arvensis, A. foemina, A. tenella) und Kleinling (Centunculus minima). Viele Korbblütler (Kompositen, Compositae) eignen sich durch Kochvorgänge besser als Gemüse als zum Rohgenuss, da durch Sieden, Braten, Dämpfen etc. Bitterstoffe reduziert werden. Daneben bestehen auch andere Entbitterungs- und Aufwertungsverfahren zur Verfügbarmachung von Nahrung. Zum Beispiel sind die zum Teil herben Blätter und zarten Sprosse der Gemüse- oder Kohl-Gänsedistel (Sonchus oleraceus), der Sumpf-, Dorn-

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und der Acker-Gänsedistel (S. palustris, S. asper, S. arvensis) nutzbar, wenn man sie zuvor gestoßen oder fein geschnitten und über Nacht in Salzwasser einlagert. Durch das Kochen verliert sich weiterer Bitterstoffgehalt. Gleichfalls wurden die Blätter von Ruten-, Eichen-, Weiden-, Tataren-, Blau- wie auch von Wild- oder Kompass-Lattich (Lactuca viminea, L. quercina, L. saligna, L. tatarica, L. perennis, L. serriola), Rainkohl (Lapsana communis), Alpen-Milchlattich (Cicerbita alpina), Hasenlattich (Prenanthes purpurea), Mauerlattich (Mycelis muralis), Gewöhnliche Wegwarte (Cichorium intybus), Echt- und WeidenblattAlant (Inula helenium, I. salicina) durch Ab- bzw. Verkochung entbittert als Nahrung aufbereitet. Beinahe in Vergessenheit geriet in unseren Breiten die Kochnutzung der Löwenzahn-, Leuenzahn- (früher Gruppe der Herbstlöwenzahne), Habichtskraut- und FerkelkrautBlätter (Taraxacum spec., Leontodon spec., Hieracium spec., Hypochaeris spec.), welche durch Abkochung in größeren Mengen dem Nahrungszwecke zugeführt worden sind. Die Blattrosetten sind auch in Butter oder Schweineschmalz angebraten eine Delikatesse. Wenn die Blätter des Mittel- und Groß-Wiesen-Bocksbarts (Tragopogon pratensis, T. orientalis) und seiner nah verwandten Arten (T. dubius) nutzbar sind, so kann diese Nutzung auch bei der Haferwurzel (T. porrifolius) und Schwarzwurz-Arten (Scorzonera spec.) als Roh- und Kochgemüse vermutet und bedenkenlos ausprobiert werden. Junge Blätter verschiedener Disteln waren ebenfalls als Nahrung zubereitet worden, selbst von der AckerKratzdistel (Cirsium arvense). Von den in den Sumpfgebieten vorkommenden Zweizahnarten sammelte man ab Ostern die Blätter vom Groß-, Nick- und Dreiteil-Zweizahn (Bidens radiatus, B. cernuus, B. tripartitus) und an den Ruderalstellen der Wärmegebiete jene vom Fiederblatt-Zweizahn (Bidens bipinnatus). Wegen den Pyrrolizidin-Alkaloiden kochte man im Frühjahr in Salzwasser die jungen Blätter von Weiß-, Bach-, Alpen- und Filz-Pestwurz (Petasites albus, P. hybridus, P. paradoxus, P. spurius) längere Zeit aus, um sie in Mischgemüse zu nutzen – sie sind allerdings gewöhnungsbedürftig. Die zarten Sprosse und Blätter des Echt- und Einjahrs-Beifuss (Artemisia vulgaris, A. annua) dienten auch in geringen Mengen als Kochgemüsebeilage oder Würzmittel fetter Speisen und wurden als Entwurmungsmittel in den Speisen regelmäßig berücksichtigt. Ähnlich liegen die Nutzungsmöglichkeiten beim Salzsteppen- oder Salz-Beifuss (A. santonicum, A. maritima). Auch junge Kletten (Arctium spec.) geben ein gutes Blatt- und Blattstielgemüse ab. In Kochgerichte wurden auch die Blätter und jungen Triebe von Langblatt-, Rispen-, Ähren- und Orchideen-Blauweiderich (Veronica longifolia, V. spuria, V. spicata, V. orchidea) und von Echt-, Liege-, Nesselblatt-, Gamander-, Gänseblümchen-, Efeu-, Dreilappen-, Österreich-, Persien-, Acker-, Persien-, Glanz-, Glanzlos-, Früh-, Feld-, Hain-, Schild-, Ufer-, Schlamm-, Wasser-, Finger-, Quendelblättrigem, Halbstrauch- und natürlich BachEhrenpreis (Veronica officinalis, V. prostrata, V. urticifolia, V. chamaedrys, V. bellidioides, V. hederifolia, V. triloba, V. austriaca, V. persica, V. agrestis, V. persica, V. polita, V. opaca, V. praecox, V. arvensis, V. sublobata, V. scutellata, V. anagallis-aquatica, V. anagalloides, V. catenata, V. triphyllos, V. serpyllifolia, V. fruticulosa und V. beccabunga) und Gelb- und Blau-Mänderle (Paederota lutea, P. bonarota) eingegliedert. 3. Wildkräuter als Nahrung

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Als ausgezeichnetes Kochgemüse galten die Blätter und jungen Stängel von Wiesen-Bärenklau und Wiesen-Kerbel (Heracleum sphondylium sowie alle Unterarten, Anthriscus sylvestris) sowie Pastinak (Pastinaca sativa) und Venuskamm (Scandix pecten-veneris). Innerhalb der Kerbelarten eignen sich für Blattgemüse auch der Echte, Glanz- und Hunds-Kerbel (Anthriscus cerefolium, A. nitidus, A. caucalis). Von den genannten Arten stellen die Sprosse und Blattstiele ein hervorragendes Gemüse dar und auch die Samen sammelte man im grünen und ausgereiften Zustand als blutreinigendes und verdauungsförderndes Würzmittel. In der mengenmäßigen Verwertung hinkt der Geißfuß oder Giersch (Aegopodium podagraria) nicht nach. Durch die hohe Treibkraft wuchsen nach mehrmaligen Ernten neue Blätter beständig auf, weshalb man diese Art in Südösterreich als „Wiederkehr“ bezeichnet. Bei der Verwendung der Kälberkropf-Arten (Chaerophyllum spec.) als Kochgemüse ist man bis heute vorsichtig. Bei Gold- und Alpen-Kälberkropf (Ch. aureum, Ch. villarsii) und ebenso bei der Süßdolde (Myrrhis odorata) kann hingegen von der Nutzung der Blätter für Kochzwecke ausgegangen werden. Von den zum Sellerie nah verwandten Arten Knotenblüten- und Kriech-Sumpfschirm (Helosciadium nodiflorum, H. repens) waren alle Teile für Nahrungszwecke – wegen der Inhaltstoffe gekocht – verwendet worden. Sehr wohlschmeckend ist auch das frische und gekochte Kraut des Wiesen-Kümmels (Carum carvi) und suppenwürzend der Bärwurz (Meum athamanticum). Auch die Blätter von Großem oder Breitblatt-Merk (Sium latifolium) kochte man. Die Klein-, Schwarz- und Groß-Bibernelle (Pimpinella saxifraga, P. nigra, P. major) waren wegen des bitteren Geschmacks und die säuerlichen Blätter der Wiesensilge oder Silau (Silaum silaus) lediglich im Frühjahr für gemischtes Kochgemüse gesammelt worden. Früher war die Durchwachs-Gelbdolde (Smyrnium perfoliatum) als Pflanze angebaut worden, bis sie durch den Knollensellerie verdrängt wurde. Heute verwenden alte Frauen diese und den Pferde-Eppich (Smyrnium olusatrum) im Mittelmeerraum als Wildgemüse, indem man im Frühjahr die jungen Blätter, Sprosse, Blüten und Knospen in allerlei Kochgerichten veredelt. Als Kochgemüse sind die Blätter von Hundspetersilie (Aethusa cynapium) verwendbar. Von den Mädesüß-Arten (Filipendula ulmaria, F. vulgaris) bereitete man Topfencreme oder in Mischung mit Brennnessel, Beinwell u.a. Arten Spinat, Suppen und Salate. Erdrauch (Fumaria officinalis) war durch Kochen in den Bitterstoffen reduziert und unter Salate und in Gerichte gemischt worden. Das bekömmlichste Nelkengewächs scheint das Blasen- oder Gewöhnliche Leimkraut (Silene vulgaris) zu sein. Es lässt sich im Frühling und nach den Heuschnitten gedüngter Wiesen gut ernten und tiefgefrieren und ist äußerst gut als Gemüsebeilage, für Aufläufe und Spinat verwendbar. Früher unterschieden die Leute davon nicht die Art Hühnerbiss (Cucubalus baccifer = Silene baccifera), der seltener und in den Säumen vorkommt. Vom „Taubenkropf“, wie die Art auch genannt wurde, nutzte man die Blätter nach dem Wässern als Salat- oder Kochgemüse. Wenn das Aufgeblasene Leimkraut nutzbar ist, dann sind auch das Rote Marienröschen oder Rot- und Weiß-Leimkraut (Silene dioica, S. alba) sowie Kegel-, Nickendes, Französisches, Flachs-, Ohrlöffel-, Italien-, Nacht- und TatarenLeimkraut (S. conica, S. nutans, S. gallica, S. linicola, S. otites, S. cf. italica, S. noctiflora, S.

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tatarica) als Kochgemüse geeignet und dann stimmen die Überlieferungen der Nutzung der Gewöhnlich-, Kranz- und Jupiter-Kuckucksnelke (Lychnis flos-cuculi, L. coronaria, L. flos-jovis) aus den Vorzeiten. In der alpinen Zone nutzte man auch von den Polstern die Blätter des Felsen- und Stängellos-Leimkrauts oder Polsternelke (Silene rupestris, S. acaulis) für Salate und als Kochgemüse. Spinat aus den jungen Pflanzen Quendel-Sandkraut (Arenaria serpyllifolia), Dreinerven- und Steirisch-Nabelmiere (Moehringia trinerva, M. bavarica) und DoldenSpurre (Holosteum umbellatum) sowie von der Mittel-, Dolden- und Bitter-Schleifenblume (Iberis linifolia, I. umbellata, I. amara) und Kopfnelke (Petrorhagia prolifera) war im Volkswissen geläufig. Die Malven-Blätter (Malva sylvestris, M. alcea, M. borealis, M. moschata, M. neglecta, M. pusilla, M. verticillata) stellen uralte Gemüsenutzungen dar. Aber auch frische Eibisch- und Stockrosen-Blätter (Althaea officinalis, in S- und SO-Europa A. cannabina; Alcea biennis, A. rosea), im Frühjahr geerntet, sind bestens für Spinat (auch in Mischung) verwendbar und stellen wegen der bekömmlichen Nahrung sehr alte Nutzpflanzen dar, wie archäologische Funde in Tongefäßen zeigen. Den früher häufiger in den Ackerfluren vorkommenden Stundeneibisch (Hibiscus trionum) sammelten die Frauen während den Feldarbeit. Er wird heute in SO-Europa noch als Spinat- und Püreegemüse genutzt. Alle Blätter der Rübengruppe wurden einer Blattnutzung unterzogen. Die meisten Unkräuter bringt die Ackernutzung durch ihre Standortstörung hervor und innerhalb aller Beikräuter liefert die Familie der Kreuzblütler (Brassicaceae, Cruciferae) die meisten aller Arten. Von ihnen ist die Blattnutzung zumeist vor dem Blütenstadium überliefert, da sie in jungem Zustand nur einen geringen Gehalt an Senfölglycosiden besitzen, allerdings bei einigen Arten die kleinen Blätter scharf schmecken. Wohl am bekanntesten sind heute noch Acker-, Gelb-Senf und Hederich (Sinapis arvense, S. alba, Raphanus raphanistrum), Stauden- und Runzel-Rapsdotter (Rapistrum perenne, R. rugosum), die Raukeartigen (Sisymbrium, Diplotaxis, Descurainia, Alliaria) und verschiedene Gattungen wie Barbarea, Rorippa, Arabis, Arabidopsis, Fourraea, Nasturtium, Turritis, Berteroa, Lepidium, Teesdalia, Petrocallis, Subularia sowie die Schaumkraut- (Cardamine spec.) und Zahnwurz-Arten (Dentaria spec.). Von der Gattung Cardamine sind erwähnenswert: Bachkresse oder BitterSchaumkraut, Wiesen-, Kleeblatt-, Spring-, Ruderal-, Wald-, Zahnblatt-Wiesen-, Weißes Wiesen- und Gebirgs-Wiesen-Schaumkraut sowie Zwiebel-, Vielblättchen-, Neunblatt-, Ausläufer-, Finger-Zahnwurz (C. amara, C. pratensis, C. trifolia, C. impatiens, C. hirsuta, C. flexuosa, C. dentata, C. matthioli, C. rivularis; sowie C. bulbifera, C. kitaibelii, C. enneaphyllos, C. glanduligera, C. pentaphyllos und in den Karpaten Dentaria glandulosa). Von den Doppelrauken nutzte man Schmalblatt-, Acker- und im westlichen Mittelmeerraum Senfrauken-Doppelrauke (Diplotaxis tenuifolia, D. muralis, D. erucoides) vornehmlich für Salate und als Wildgemüse. Auch von Kriech-, Felsen- und Sand-Schaumkresse (Arabidopsis halleri, A. petrea, A. arenosa) und von den Schnabel- oder Lacksenf-Arten (am bekanntesten ist Coincya monensis) und Steinschmückel (Petrocallis pyrenaica) sammelte man die Blätter z. B. für Salate und zum Würzen und später im Verlauf der Vegetationszeit auch für Spinat- und Kochgerichte. 3. Wildkräuter als Nahrung

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Die Nutzung geht einher mit pfleglichen Kultivierungsüberlegungen, denn die genannten Kreuzblütler schieben früher als die Kulturpflanzen die Blätter. Durch ihre Ernte für Spinat, Mischsalate und frische Würzmittel kommt es auch zu ihrer Reduktion und somit zur Förderung der Kulturarten. Allerdings kam es bei vielen Arten der Kreuzblütler zu einem ackermäßigen Anbau. Von den von Sand- und Felsfluren stammenden und in Steingärten gepflanzten Steinkraut-Arten nutzte man Berg-, Mauer- und Kelch-Steinkraut (Alyssum montanum, A. murale, A. alyssoides) zum Salatwürzen und im Mischgemüse gekocht, solange die Pflanzen jung waren. In Rumänien ist für diesen Gebrauch das Siebenbürgen-Steinkraut (A. repens) bekannt. In Notzeiten holte man auch die Blattrosetten vom Glatt-Brillenschötchen (Biscutella laevigata; sowie behaarte Arten) von den Weiden heim und verkochte sie. Ausnahmslos nutzte man die Blätter der Arten aus den Gattungen Cardaria bzw. Lepidium und Thlaspi, Microthlaspi und Noccaea. Die bekanntesten Nutzarten sind: Acker- und Lauch-Hellerkraut (Thlaspi arvense, Th. alliaceum), Voralpen- (Noccaea caerulescens = Thlaspi sylvestre), Berg-, Früh- und Gösing-Täschelkraut (N. montana, N. praecox, N. goesingensis) sowie Durchwachs-Kleintäschel (Microthlaspi perfoliatum). Als Speise dienlich waren auch die gekochten Blätter von Ruderal- oder Acker-, Felsen-, Slowakei-, Ruten-, Pannonien-, Rätisch-Goldlack oder -Schöterich (Erysimum cheiranthoides, E. sylvestre, E. hungaricum, E. virgatum, E. odoratum, E. rhaeticum) sowie Gewöhnlicher Grau-Goldlack (E. diffusum) wie auch diejenigen der schön blühenden und duftenden Trauer-, Matronen- und Wild-Nachtviole (Hesperis tristis, H. matronalis, H. sylvestris). Von der Strandkresse (Lobularia maritima) nutzte man im Mittelmeerraum alle oberirdischen Pflanzenteile. Völlig in Vergessenheit gerieten die Blattnutzungen verschiedener Hahnenfuß- und Labkrautarten, da wir sie lediglich im rohen Zustand kosten und durch unser heutiges Geschmacksverständnis, welches bereits in der Kindheit anerzogen wird, ablehnen. Auch unsere Nutztiere fressen z. B. Kriechenden und Scharfen Hahnenfuß (Ranunculus repens, R. acris) in frischem Zustand ungern, als Heu getrocknet lassen sie davon nichts übrig. Durch die Heuwerdung verlieren sich die eigentümlichen und scharf brennenden Geschmäcker und Giftstoffe. Nach dieser Art sammelten früher die Leute auch vornehmlich diese beiden Arten und machten sie durch Trocknung mild. Durch die Auflösung des wässrigen Wirkstoffbezuges eröffnete man den Nahrungsgebrauch. Als Kochgemüse waren die Blätter sodann für den Menschen genieß- und essbar. Auch als getrocknetes Gewürz war in geringen Mengen der Scharf- und Kriech-Hahnenfuß verwendet worden. Laut Hinweisen nutzte man auf diese Weise auch je nach Vorkommen Spreiz-, Großblüten- und Flut-Wasserhahnenfuß (R. circinatus, R. aquatilis, R. fluitans) und Efeublättrigen, Woll- und Wald-Hahnenfuß (R. hederaceus, R. lanuginosus, R. nemorosus) sowie das Knöllchen- und Nacktstängel-Scharbockskraut (Ficaria verna, F. calthifolia), welche man auch in Fässern sauerkrautähnlich einlagerte. Auf ähnliche Weise nutzte man die verwandte Sumpfdotterblume (Caltha palustris) und die Berberidaceae Berberitze oder Sauerdorn (Berberis vulgaris), in geringeren Mengen Duft-Labkraut oder Waldmeister (Galium oderatum) nur vor der Blüte, allerdings in sehr großen Mengen das Kleb- oder Kletten-, Echt- und Wiesen-Labkraut (G. aparine,

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G. verum, G. mollugo). Heute ist die Nutzung der weichblättrigen und jungen Labkräuter unvorstellbar, wie wohl früher alle Arten als Kochgemüse genutzt wurden. Reichlich waren die Blätter der Wegeriche in den Küchen verwendet worden (vor allem Plantago lanceolata, P. media, P. major, P. atrata, P. alpina, P. altissima, P. coronopus, P. maritima sowie P. sempervirens), auch wenn sie mit der Blüte und je nach Standortsituation in den weiteren Aufwüchsen nach dem Weidegang oder der Heunutzung vermehrt Bitterstoffe anlegen können. Aus Amerika eingeführte und in Gärten kultivierte Arten dienten zielgerichtet dem Nahrungszwecke. Als Kochgemüse eignen sich von den Raublattgewächsen (Boraginaceae) folgende Arten, wegen den Pyrrolizidin-Alkaloiden nur im jungen Zustand vor der Blüte und nur in geringen Blattmengen oder Mischungen: Beinwell-Arten (Symphytum tuberosum, S. bulbosum, S. officinale, der Futter-Beinwell S. x uplandicum, in England werden heute wieder Comfrey-Sorten gehandelt), Lungenkraut (Pulmonaria officinalis, P. angustifolia, P. mollis, P. australis, P. obscura), Scharfkraut (Aperugo procumbens), Natternkopf (Echium vulgare), in geringen Mengen Hundszunge (Cynoglossum officinale, C. germanicum, C. hungaricum), Echt-Steinsame (Lithospermum officinale), Ochsenzunge (Anchusa arvensis, A. officinalis, A. azurea, A. ochroleua), Boretsch oder Gurkenkraut (Borago officinalis), alle Vergissmeinnicht-Arten (Myosotis spec.) und Nabelnüsschen (Omphalodes spec.). Von den genannten Arten bereitete man Püree und „grüne Soße“. Sowohl für Salat und als Kochgemüse kamen die Blätter von Ruderal- oder Gelber, Färber- und Klein- oder Rapunzel-Resede (Wau; Reseda lutea, R. luteola, R. phyteuma) zum Einsatz. Würzende Bedeutung wurde den Arten Wiesen-, Wald-, Tauben-, Flaum-, Sumpf-, Weich- und Pyrenäen-Storchschnabel (Geranium pratense, G. sylvaticum, G. columbinum, G. pusillum, G. palustre, G. molle, G. pyrenaicum) zugesprochen. Je nach Dafürhalten mischte man Sprosse, Blätter, Blüten in Salate oder verwendete sie für Kochspeisen. Ebenfalls als Spinat genutzt wurden der Gewöhnliche Blutweiderich (Lythrum salicaria) sowie Bach-, Echt- und Berg-Nelkwurz (Geum rivale, G. urbanum, G. montanum). Weitere Arten der Blatt- und Triebnutzung für Kochgerichte waren: Gelb-, Schmalblatt- und Kleb-Lein (Linum flavum, L. tenuifolium, L. viscosum). Als noch mehr unentwässerte Landschaftsteile mit Quell- und Moorfluren bestanden, nutzte man die Blätter von Gewöhnlich-, Alpen- und Dünnsporn-Fettkraut (Pinquicula vulgaris, P. alpina, P. leptoceras) als Dünstgemüse. Über das ganze Jahr sind für Kochgemüse alle Stiefmütterchen- bzw. Veilchen-Blätter und -Blüten nutzbar (Viola spec., mit einigen Ausnahmen) und waren in Mischung für Salat und Brei verwendet worden. Groß- und Klein-Springkraut (Impatiens noli-tangere, I. parviflora) und Drüsen-Springkraut (I. glandulifera) sind auch für Gemüsegerichte kochbar, wobei man das Kochwasser entfernt. Ebenfalls kamen Dorn-, Kriech- und Bocks-Hauhechel (Ononis spinosa, O. repens, O. arvensis), im submediterranen Raum auch Gelber Hauhechel (O. natrix) für Spinat zum Einsatz. Die zähen Blätter von Echt- und Duft-Odermennig (Agrimonia eupatoria, A. procera) sowie vom Eisenkraut (Verbena officinalis) galten eher als heilwirksames Mischgemüse. Die Blätter und jungen Sprosse wurden blanchiert oder pulverisiert anderen Nahrungsmitteln beigemischt. Und gekocht wurden 3. Wildkräuter als Nahrung

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die Blätter von Wald-, Wiesen-, Böhmen-, Scheiden- und Röhren-Gelbstern (Gagea lutea, G. pratensis, G. bohemica, G. spathacea, G. fistulosa) für Speisen verwendet. Die Flechte Isländisches Moos (Cetraria islandica) wurde in den Alpenländern als Schweinefutter verwendet, als in späterer Kulturgeschichte der Mensch auf andere Nahrungsmittel zurückgriff. Früher wurde es in großen Mangen in Säcken gesammelt und nach der Entbitterung getrocknet und pulverisiert und den Speisen wie auch dem Brotteig zum Strecken und besseren Haltbarmachung beigemischt (s. Machatschek, M. 1999). Auch Baumflechten unterstanden dieser Nutzungsweise. Verschiedene Moosarten, wie z. B. die Torfmoose (Sphagnum palustre, S. cuspitatum, …), pulverisierte man fein und mischte die Ware den Speisen zum Strecken bei.

2.5. Unmittelbare und Ölnutzung aus Samen und Fruchtbildungen

Im landläufigen Sprachgebrauch versteht man zumeist unter Früchten die Obstfrüchte. Um Missverständnissen vorzubeugen, verwende ich deshalb im botanischen Sinn den Begriff Fruchtbildungen. Im folgenden Kapitel werden jedoch die als Obst genutzten Wildarten nicht behandelt. Dazu besteht ein eigener Beitrag in diesem Buchband. Die ölreichen, blutreinigenden, verdauungs- und leberanregenden Samen (im unreifen, grünen und reifen Zustand) wurden vom Wiesen-Bärenklau (Heracleum sphondylium) in Kärnten, Ost- und Südtirol und anderen Regionen von Kindern gegessen oder für verschiedene Gerichte als Würzmittel in größeren Mengen genossen. Ebenso tat man dies mit jenen des Wiesen-Kerbels (Anthriscus sylvestris), des Rosskümmels (Laser trilobum), Pastinaks (Pastinaca sativa) und des Berg-, Breitblatt- und Haarstrang-Laserkrauts (Laserpitium siler, L. latifolium, L. peucedanoides), des Gold-Kälberkropfs (Chaerophyllum aureum), der Mutterwurz-Arten (Ligusticum spec.) und natürlich mit Wiesen-Kümmel (Carum carvi) und Süßdolde (Myrrhis odorata) und zerrieben die Samen von Wilder Karotte (Daucus carota) und Giersch (Aegopodium podagraria). Die Samennutzung der Hundspetersilie (Aethusa cynapium) und des Villars-Kälberkropfs (Chaerophyllum villarsii) ist umstritten. Dem Ölreichtum der im mediterranen Raum vorkommenden Woll- und Echt-Färberdistel, Saflor oder Öldistel (Carthamus lanatus, C. tinctorius) und Eselsdistel (Onopordum acanthium), aber auch der Heilpflanze Benediktenkraut (Cnicus benedictus, früher Cnicus sylvestris deutet auf eine vermutbare Nahrungsnutzung im unverholzten Zustand hin) ist der Gebrauch der ausgereiften Samen zur Ölgewinnung zu verdanken. Auch aus den Samen vom Dreiteil-Zweizahn (Bidens tripartitus) und von der Hundszunge (Cynoglossum officinale, C. germanicum, C. hungaricum) gewann man Speiseöl. Sehr gut geeignet sind für die Herstellung von Speiseöl, Brot- und Backwaren die Samen der Hohlzahnarten (Galeopsis spec.) und jene vom Färberwaid (Isatis tinctoria), ähnlich jenem von Lein. Auch die Samen der Weinrebe (Vitis vinifera) zog man zur Bereitung von Speiseöl heran. Die fettreichen Samen vieler Kreuzblütler wurden in Europa kultiviert und unterstanden auf trockenen, sandigen und steinigen Standorten einer regelmäßigen Vermehrung, um in den Genuss des Öles zu kommen. Nennenswert sind Goldlack, alle (!) Schöteriche

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(Goldlack oder Schotendotter Cheiranthus bzw. Erysimum), Zackenschötchen (Bunias), Wild-, Zahn- und Saat-Leindotter (Camelina microcarpa, C. alyssum, C. sativa), Finkensame (Neslia paniculata), Bauernsenf oder Rahle (Teesdalia nudicaulis) sowie Hirtentäschel und Echt-Brunnenkresse, z.T. auch als Pfefferersatz (Capsella bursa-pastoris, C. rubella, Nasturtium officinale), Österreichischer und Orientalischer Ackerkohl (Conringia austriaca, C. orientalis), Acker-Senf (Sinapis arvensis), Stauden-Rapsdotter (Rapistrum perenne), Wild- und Matronen-Nachtviole (Hesperis sylvestris, H. matronalis, Samen gelten als leicht giftig, weswegen das Öl für Kochzwecke verwendet wurde). Von Lauchkraut oder Knoblauchsrauke (Alliaria petiolata) nutzte man die Samen zur Ölgewinnung. Von diesen Arten mit größeren Samen bereitete man Senf wie z. B. auch aus dem Grausenf, Graukohl oder Grau-Rempe (Hirschfeldia incana), aus jenen der Schleifenblume (Iberis spec.) und Täschelkräuter (Thlaspi spec., Microthlaspi spec., Noccaea spec.). Vom Hederich oder Ackerrettich (Raphanus raphanistrum), verwilderten Rettich (R. sativus) und Stauden- und Runzel-Rapsdotter (Rapistrum perenne, R. rugosum) nutzte man die scharfen, jungen Schoten und die reifen Samen als Würzmittel und zum Erhalt von Öl. Sofern sie erntbar waren, wurden die Körnchen der Mohn-Arten (Klatsch-, Schlaf-, Sand- und auch Schmalkopf-Mohn, Papaver rhoeas, P. somniferum, P. argemone, P. dubium) für Speisezwecke und zum Ölherstellen verwendet. Auch hier hatte es durch die Kultivierung auf den Äckern eigene Formen mit verschiedenen Standortsansprüchen und Ertragsabsichten gegeben. Ebenso bestehen Hinweise aus den Mittelmeerregionen der Speiseölnutzung aus den Samen von den als giftig geltenden Arten Gelb- und Orange-Hornmohn (Glaucium flavum, G. corniculatum). Vom ausdauernden Lein (Linum angustifolium) des mediterranen Raums stammt der Kultur-Lein oder Flachs (Linum usitatissimum) ab. Die Samen der Wildform wurde auch in den Mittelmeerländern genutzt. Österreich-, Wild-, Gelb- und Strand-Lein (Linum austriacum, L. bienne, L. flavum, L. maritimum sowie alle Linum perenne-Arten) waren sowohl als bekömmliches Nahrungsmittel als auch als Ölpflanze gefördert und die Samen und Presskuchen bevorratet worden. Gekochte (!) grüne Schoten und Samen aller Platterbse-Arten (Lathyrus spec., vornehmlich L. tuberosus, L. sylvestris, L. heterophyllus, L. pratensis, L. aphaca, L. latifolius, L. bauhini, L. latifolius, L. sphaericus, L. niger, L. odoratus, L. vernus, L. maritimus, L. palustris, L. pannonicus, L. sativus) sowie die Kalk liebende Wilde Linse (Lens nigricans) in Ex-Jugoslawien und Norditalien ergaben energiereiche Nahrung. Ehemals wurden verschiedene Wicke-Arten (Vicia sepium, V. cracca, V. grandiflora, V. sativa, V. hirsuta, V. serratifolia, V. dumetorum, V. tetrasperma, V. tenuifolia, V. sylvatica, V. villosa, V. lutea, V. incana, V. pisiformis) zum Erhalt der Samen kultiviert. Sie wurden als Nahrungsmittel wie die Platterbsen von der Linsenkultur abgelöst. Innerhalb dieser Arten bestanden großsamige Selektionsarten. Narbonner und Großsamige Wicke (V. narbonensis, V. macrocarpa, aber auch V. cordata) waren aus dem Mittelmeerraum in Mitteleuropa eingeführt worden. In Küstenregionen nutzte man die Strand-Erbse (Pisum maritimum) sowie die jungen Schoten, in Salzwasser gekocht, vom Besenginster und Trauben-Geißklee (Cytisus scoparius, C. nigricans) und von der Echt-Geißraute (Galega officinalis) in anderen Gegenden. Ebenso bestehen Hinweise der Schotennutzung von den Zwerggeißklee-Arten (Chamaecytisus spec.) 3. Wildkräuter als Nahrung

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– leider ohne konkrete Angaben zu den einzelnen Arten. Von diesen Gattungen Lathyrus, Vicia, Pisum, Cytisus, Chamaecytisus, Genista tinctoria nutzte man ebenso die ausgereiften und gerösteten Samen für die Kaffeebereitung. Je nach Lebenssituation sammelte man auch von den Tragant-Arten (Astragalus spec.) die Früchte zur Herstellung von Speisen. Die Bezeichnungen Wilde oder Gelbe Spargelerbse und Spargelbohne der salztoleranten Art Gelb-Spargelklee (Tetragonolobus maritimus, neuerdings Lotus maritimus genannt) verdeutlichen die ehemalige Schoten- und Samennutzung als Kochgemüse. Von der Sau- oder Pferdebohne (Vicia faba) ist die Stammheimat unbekannt und es bestanden schon während der keltischen Hochkultur viele formenreiche Selektionszüchtungen in verschiedenen Regionen, u.a. die Kleine keltische Saubohne (V. f. celtica) und vermutlich zeitlich nachfolgend V. f. germanica. Vom häufiger in Osteuropa kultivierten und bis zu fünf Meter hoch werdenden Gewöhnlichen Erbsenstrauch (Caragana arborescens) bereitete man die Samen wie bei den Erbsengerichten zu. Von verschiedenen Lupinien-Arten nutzte man aufgrund ihres hohen Eiweiß- und Fettgehaltes die Samen nach mehrmaligem Wegschütten des Kochwassers, um Gift- und Bitterstoffe abzuführen oder röstete sie für Kaffee: zu nennen sind Blau-, Weiß- und Futter- oder Gelb-Lupinie (Lupinus angustifolius, L. albus, L. luteus). Alkaloidarme bis -freie, süß schmeckende Formen züchtete man in Europa zum Zwecke der Ernährung erst ab 1900 und man sprach von „Süßlupinen“. Die blau bis purpur blühende Stauden-Lupinie (L. polyphyllus) wurde erst später aus Nordamerika eingeführt und findet in der Bodengesundung und Begrünung Verwendung. In Südtirol bestehen heute noch züchterisch beeinflusste Bauerngartensorten der Behaarten Lupine (Lupinus pilosus) zur Kaffeebereitung wie z. B. der Altreier Kaffee im Fleimstal/Val di Fiemme. Neben der Blattnutzung bestehen auch Hinweise der Samennutzung, des Anbaus und der Vermehrung für Speisezwecke von folgenden Klee-Arten: Rot-, Weiß- oder KriechKlee, Schweden-, Berg-, Mittel- oder Zickzack-, Fuchs-, Inkarnat-, Blassgelb-, Braun-, Hasen-, Hügel-, Feld-, Erdbeer- oder Himbeer- und Steif-Klee (Trifolium repens, T. pratense, T. hybridum, T. montanum, T. medium, T. rubens, T. incarnatum, T. ochroleucon, T. badium, T. arvense, T. alpestre, T. campestre, T. fragiferum, T. retusum). In großen Mengen erntete man von den Hackfruchtäckern und Ruderalstandorten die halbreifen Samen der Gänsefuß- und Meldearten wie auch der Brennnesseln (Chenopodium spec., Atriplex spec., Urtica spec.) ohne diese von den Kleinblättern zu trennen, um sie nach der Trocknung und Lagerung als Winterernährung zu nutzen. Dieses Lagergut wurde nach und nach zu Trockenpulver (Samen und oder Blätter) verarbeitet, welches ein gutes und lagerbares Speisemehl ergab. Von allen Amarant-Arten (Amaranthus spec.) sind die körnerförmigen Früchte für Breie und als Mehl nutzbar wie auch jene von Heuffel-, Acker-, Warzen- und Groß-Knorpelkraut (Polycnemum heuffelii, P. arvense, P. verrucosum, P. majus). Zur höheren Ausbeute wurden letztere Arten häufig bei Samenreife mit den gesamten Krautteilen getrocknet und gemahlen. Die reifen Samen von den BrennnesselArten (Urtica dioica, U. urens, U. kioviensis) gelten als sehr energiereich: Sie wurden in großen Mengen vom Sommer bis in den Winter gesammelt und in gerösteter Form genutzt. Schon ab August stellte man aus den Samen von Sumpf- und Salz-Dreizack (Triglochin palustre, T. maritimum) durch Röstung Kaffee her oder verwendete sie für Speisen und

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zum Würzen. Vom Salz-Dreizack stellt man aus den Samen und der Wurzel ein Sodapulver her. Wie die Ureinwohner in Mexiko es heute noch handhaben, so stellte man früher auch an den Meeresküsten der Nord- und Ostsee aus den zylindrischen Nussfrüchtchen des Echt- und Zwerg-Seegrases (Zostera maritima, Z. noltii) Brei her. In unseren Breiten liegt eine Vorkultur des heutigen Kaffees in der Röstnutzung der Samen des Kletten-Labkrauts (Galium aparine), welches nicht von ungefähr zu den Röte-, Krapp- oder Kaffeegewächsen zählt. Vornehmlich Weiß- oder Grün-Kleb- oder KlettenLabkraut (G. aparine, G. spurium) besitzen verhältnismäßig große Früchte. Sie wurden knapp vor der Ausreifung, bevor die Schale zu stark verfasert, in großen Mengen gesammelt, durch Röstung haltbar gemacht und in Gefäßen gelagert. Ebenso nutzte man die Früchte vom Schweiz-, Wald-, Dreihörner-, Sumpf-, Lang-Sumpf-, Bach-, Glanz-, Wald-, Grannen-Labkraut (G. megalospermum, G. sylvaticum, G. tricornutum, G. palustre, G. elongatum, G. rivale, G. lucidum, G. sylvaticum, G. aristatum) von denen ebenfalls Kaffeenutzungen erwähnt wurden. Gerade diese vorzeitliche Kaffeenutzung aus den größerfruchtigen Labkräutern stellt ein typisches Beispiel der Vielfalt des Ausprobierens dar, wiewohl früher viele Lebensmittel durch Röstung haltbar und besser lagerbar gemacht wurden. Vom Feinblatt- und den Wildformen des Garten-Spargels (Asparagus tenuifolius, A. officinalis) bereitete man im mediterranen Raum aus den gerösteten Samen Kaffee. Von der in den Wintergetreideäckern heute durch den Spritzmitteleinsatz sehr selten gewordenen Kornrade (Agrostemma githago, ebenso von A. gracilis) waren die Samen als Nahrungsmittel (gekochtes Mehl) genutzt worden. Offenbar haben sich durch den ungewollten Anbau durch Mitschleppung der Samen im Getreidesaatgut und verschiedene Bewirtschaftungsintensitäten verschieden große Samensorten nebenher entwickelt, wobei früher die Samen kleiner ausgestaltet waren und vermutlich einen geringeren Gehalt an giftig wirkenden Saponien enthielten. Auch von dieser schön blühenden Art wären neue Kulturarten züchtbar. Sowohl vom Acker- als auch vom Blau-Gauchheil (Anagallis arvensis, A. foemina) wurden die Samen für Kochspeisen verwendet. Hohlzahn-Arten (Galeopsis tetrahit, G. angustifolia, G. speziosa, G. pubescens, ) gingen z.T. in starken Dominanzen nach Brandrodungen, auf Kahlschlägen und auf den Hackfruchtäckern auf, wodurch man sehr große Samenausbeuten erhielt, welche man zur Mehlherstellung verwertete. Diesbezüglich wurde bis in die 1980er-Jahre der kultivierbare Gelb- oder Saat-Hohlzahn (G. segetum) in den ehemaligen Ostblockländern als Handelsware geführt. Ebenso ging man den Samen vom Acker-, Frühlings- und Fünfmann-Spörgel (Spergula arvensis, Sp. morisonii, Sp. pentandra) nach, wobei man diese Pflanzen auch für Spinat und Breie nutzte. Ebenso gebrauchte man die Acker- und die in den feuchten Salzsteppen vorkommenden Salz- und Flügel-Schuppenmiere (Spergularia rubra, S. salina, S. maritima). Von den Leinkraut-Arten sammelte man vornehmlich vom Echt-, Ginster-, Alpen-, Italienischen, Streifen- und Ruten-Leinkraut (Linaria vulgaris, L. genistifolia, L. alpina, L. italica, L. repens, L. spartea) die Samen. Auch vom Wiesen-Knöterich (Polygonum bzw. Persicaria bistorta) und Sachalin-Knöterich (F. sachalinensis) bereitete man aus den Samen ein Speisemehl. Völlig in Vergessenheit geriet die Samennutzung von Groß- und Klein-Springkraut (Impatiens noli-tangere, 3. Wildkräuter als Nahrung

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I. parviflora) für die rohe und Kochnutzung als auch zur Herstellung von Speiseöl. Die aus Asien neu eingeführten und sich auf ungenütztem Land und in den Waldbereichen ausbreitenden Arten Drüsen-, Balfour- und Garten-Springkraut oder Balsamine (I. glandulifera, I. balfourii, I. balsamina) können genauso genutzt werden. Heute kennen wir den von Indien bis Westasien beheimateten Echten Schwarzkümmel (Nigella sativa) als würzende Nutzpflanze, vergessen allerdings die ebenfalls zur Nutzung der ölreichen Samen herangezogenen Arten Acker- und Damaskus-Schwarzkümmel bzw. Jungfer im Grünen (Nigella arvensis, N. damascena). Die zylindrischen Früchte vom Europa-Knotenfuß (Streptopus amplexifolius) sind gekocht genießbar. Als sehr ölreich gelten die Wolfsmilcharten (Euphorbia), wobei z. B. Spring-, Esel- und Bunt-Wolfsmilch (E. lathyris, E. esula, E. polychroma) in den Samen bis zu 30 % Öl enthalten, welches als Brennöl geeignet ist. Abgesehen davon enthalten Euphorbia-Arten krebshemmende Substanzen und es bestehen dahingehend Geheimrezepte für verschiedene Anwendungen. Von den in den Wäldern vorkommenden „WintergrünArten“ nutzte man die Früchte von Klein-, Mittel-, Groß- und Grünblüten-Wintergrün (Pyrola minor, P. media, P. rotundifolia, P. chlorantha) als Rohkost oder zur Bereitung von Kapern, die jungen Blätter in Salat eingemischt. Aber auch separat sammelte man Sämereien der Wiesen. Die aromatischen und energiereichen, teils nussartig schmeckenden Samen der Wegericharten (Plantago lanceolata, P. major, P. media, u.a.) trocknete man für die Vorratshaltung. Sie wurden als kraftspendende Würzmittel und in Form von Brei genossen.

2.6. Gräser und Grassämereien als Spätsommernutzungen

Eine wohl sehr häufige Art der Samengewinnung für Speisezwecke war das Dreschen von sorgfältig bewirtschaftetem Heu. Nur mit Vorbehalt sprechen die Menschen der Gebirgsräume darüber, wenn man sich über die alten in der Tenne aufgehängten Siebe unterhält. Sie erzählen von der Trennung der Gras- und Krautstängel von den feinen Bröckel- und Samenteilen für die Schweinemast. Nur selten geben sie zu, dass ihre Großeltern in der Zeit der winterlichen Not auch für ihre Nahrungssicherstellung die Heublumen zum Strecken verschiedener Speisen heranzogen. Damit die energiereichen Sämereien verschiedener Pflanzen, vor allem aber der Gräser auch erntbar waren, hängte man das Heu auf den Wiesen zur Trocknung auf Gestelle auf. Im Freien oder unter Dach – heute würde man sagen in der Tenne, der Diele oder im Vorhaus – wurde das „Hängeheu“ wie Getreide gedroschen. Mit den Samen erhielt man auch Blattbröckelanteile, die durch verschiedene Siebe durchgelassen wurden oder durch eine Trennung mittels Wind (Schütteln und in die Luft werfen oder Windreiterung) gewonnen wurden. Dementsprechend nutzte man anfallende Unkrautsamen auch nach der Getreidereinigung, und dies verstärkt mit dem Aufkommen mechanischer Erntegeräte. Von den Gräsern können, wenn auch in der Sammlung und Aufbereitung sehr aufwendig, sowohl Wurzeln, die eiweißreichen Aufwüchse, solange sie noch zart sind, die von der

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Scheide umgebenen Stängelteile und die stärkereichen Samen genossen werden. Das Wildgras unterscheidet sich von den Getreidepflanzen dadurch, dass es vergleichsweise leichter die Fruchtnüsschen verliert. Je nach Reifestadium und Grasart müssen sie einer Erhitzung in Form von Kochen im Wasser oder Röstung unterzogen werden, damit Bitterstoffe vergehen. Vorzüge der Grassamen sind ihr ca. 70–75%iger Stärke- und 1%iger Fettanteil und die gute Bevorratungsmöglichkeit, vorausgesetzt die Lagerungsorte sind vor Schädlingen sicher und nicht feucht. Bei den Wildgräsern wäre auf experimentellem Wege grundsätzlich zu entscheiden, mit welchen Arten weiter geforscht wird, welche technisch gut verarbeitbar bzw. für eine Weiterzucht lohnenswert wären. Aufbereitet wurden die häufig herb schmeckenden Samen durch Kochen in Wasser, durch (anschließende) Röstvorgänge mit oder ohne Fett oder durch Ankeimung (u.a. auch zur Bierherstellung). „Keimmachen“ bedeutet, sich etwas verfügbar, zugänglich und mild machen oder zähmen. Am häufigsten dürften die Wildhirsearten (Panicum, Echinochloa, Setaria, Digitaria spec.) und auch ihre eingeführten und eingeschleppten Formen gesammelt worden sein, da sich diese auf gestörten Standorten gut ausbreiteten. Erst später vermehrten sie sich auf den Ackeranbauflächen, wo Kulturgetreide und Hackfrüchte angebaut wurden. Besonders nennenswert sind die Blut-Fingerhirse (Digitaria sanguinalis, früher Bluthirse Panicum sanguinale) und Unterarten der Echt-Rispenhirse (Panicum miliaceum), Acker- und Essbare Hühnerhirse (Echinochloa crus-galli, E. esculenta), Grün-, Kurzborsten-, Gelb- und Klett-Borstenhirse (Setaria viridis, S. decipiens, S. pumila, S. verticillata) sowie Fennich oder Kolbenhirse (Setaria italica). Aus den Samen erzeugte man Mehl, Brei und Bratlinge, auch noch in Zeiten als der Ertrag der Kulturgetreidearten gering ausfiel. Die von der Wildform Eleusine indica (= „Wilde Fingerhirse“, yardgrass) abstammenden KorakanArten sowie die Wild-Sorgum oder Sorghumhirse (Sorghum halepense) und BuchweizenArten (Fagopyrum spec.) waren zur Nutzung über SO-Europa eingeführt worden. Ebenso häufig fanden die leicht ausfallenden Samen von Flug-, Nackt- und Sand-Hafer (Avena fatua, A. nuda, A. strigosa) sowie Taub-Hafer (Avena sterilis) als Lieferant für Mehl Verwendung und wurden zu diesem Zwecke einst in Unterarten kultiviert. Europa-Reisquecke oder Wilder Reis (Leersia oryzoides), Grannenhirse (Piptatherum miliaceum, P. paradoxum, P. virescens) und Ährenhafer (Gaudinia spec.) stellen weitere Beispiele dar. Von allen – klein- und großfruchtigen – Schwingel-Arten (Festuca spec.) wurden die Samen abgestreift und gemahlen. Vom Glatthafer (Arrhenatherium elatius) der guten zweischürigen Mähwiesen nutzte man die Samen und pulverisierten Wurzelteile für Speisezwecke. Ebenfalls unterzog man das Wiesen- und Grannen-Kammgras (Cynosurus cristatus, C. echinatus), den Wiesen-Goldhafer (Trisetum flavescens) sowie den „Grannenhafer“, Schmielenhafer oder die Grannenschmiele (Ventenata dubia) der Samennutzung. Wohl sehr häufig wurden früher von der Fieder-, Wald- und Felsen-Zwenke (Brachypodium pinnatum, B. sylvaticum, B. rupestre), den Quecken (Agropyron bzw. Elymus repens, E. caninus, E. athericus, E. hispidus, E. intermedium) und der Kammquecke (Agropyron pectiniforme) die Samen für Brot genutzt. Von der Ackerquecke (E. repens) bereitete man aus den gerösteten Wurzelteilen Breie und Kaffee zu. In Küstenregionen, Deichlandschaften und Kiefernwäldern der Nord- und Ostsee sammelte man Strandroggen (oder Blauer Helm, 3. Wildkräuter als Nahrung

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Elymus arenarius, früher Leymus), Strandweizen (E. juncea), Strandhafer oder Helm (Ammophila arenaria), Strand-Gerste (Hordeum marinum) und Sand-Segge (Carex arenaria, auch nutzte man die Wurzeln). In ganz Europa wurden die Waldgerste (Hordelymus europaeus) und auf warmen Standorten die Mäuse-Gerste (Hordeum murinum) und im Mittelmeerraum die Wildform der Gerste (H. spontaneum) sowie das ursprünglich subtropisch beheimatete Finger-Hundszahngras (Cynodon dactylon) genutzt. Das Kanariengras (Phalaris canariensis) ist heute als Vogelfutter bekannt, früher war es auch in den Südländern dem Nahrungszwecke dienlich. Durch Mahlen der ausgereiften Samenstände vom Dauer-Lolch (Englisches Raygras oder Weidelgras, Lolium perenne) und Italien-Raygras (Welsches Weidelgras, L. multiflorum) erzeugte man Mehl. Auch griff man auf die Samen des Taumel- und Lein-Lolchs (Lolium temulentum, L. remotum) zurück. Diese Art dürfte früher weit verbreitet genutzt worden sein, wobei man den an Samen anhaftenden, giftigen Pilzen durch Kochen und Abführen des ersten Kochwassers begegnete. Die Nutzung ist heute umstritten! Von den Trespen (Bromus) nutzte man die Samen von Roggen-, Dinkel-, Flaum-, Wehrlose, Aufrecht-, Acker- und Dichtblüten-Trespe (B. secalinus, B. grossus, B. hordeaceus, B. inermis, B. erectus, B. arvensis, in Südtirol und Norditalien B. condensatus). In den Sandsteppen der Ungarischen Tiefebene fand der langbegrannte – mit dem Kulturroggen nah verwandte – Wald-Roggen (Secale sylvestre) als Getreide Verwendung. Innerhalb der Schwadengräser, die eher stehende Gewässer oder stark durchnässte Böden bevorzugen, ist bis in die heutige Zeit das Mannagras, Himmelstau, Wildes Manna oder Flut-, Manna-Schwadengras (Glyceria fluitans) noch als genutztes Wildgras bekannt. Mitsamt oder ohne die zarten Spelzen wurden die 2,5 bis 3 mm langen Samen gemahlen und daraus Breie, Suppen, Brot, Mischbrot und Fladen hergestellt. Die „Schwadenoder Mannagrütze“ wurde früher sogar in Polen, Weißrussland und Ostdeutschland als Handelsware geführt. Daneben wurden Falt-, Bastard-, Große, Streifen-Schwadengras (G. plicata, G. x pedicellata, G. maxima, G. striata) und Wasser-Quellgras (Catabrosa aquatica) ebenfalls im Juli geerntet und bevorratet. Mit der Mechanisierung und Trockenlegung sumpfigen Landes sind die Vorkommen der Glyceria-Arten stark eingeschränkt worden. Von den Schwaden nahm man auch die jungen Triebe wie die von Schilf (Phragmites communis) und Rohr-Schwingel (Festuca arundinacea) mit den warmen Phasen des Frühlings sowohl als Gemüse oder Brei, aber auch für das Fladenbacken in Gebrauch. Die Samen von der Grün- und Grau-Teichbinse (Schoenoplectus lacustris, S. tabernaemontani) und jene von Moorbinse (Isolepis setacea bzw. I. fluitans), Knopfried (Schoenus ferrugineus, S. nigricans) und Gewöhnlicher und Wurzelnder Waldbinse (Scirpus sylvaticus, S. radicans) waren ähnlich genutzt worden. Man kann auch von der ausnahmslosen Samennutzung aller Simse- (vormals Binse der Gattung Juncus) und Hainsimse-Arten (Marbel, Gattung Luzula) ausgehen. Hinweise bestehen zu Luzula campestris, L. pilosa, L. multiflora, L. spicata, L. luzuloides, L. glabrata, L. alpinopilosa, L. lutea, L. sylvatica, L. sudetica, L. divulgata, L. alpina). Vielfach tragen wir bei den Grassamennutzungen die Getreidekörner in Gedanken. Aber auch viele kleinsamige Gräser unterzog man der Nutzung, indem man sie getrocknet mitsamt den Spelzen zermahlte und wässrig auszog. Auch frisch wurden sie zerstampft

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und dann gekocht. Vom Liebesgras (Eragrostis spec.) wurde ebenso wie von den Nelkenhafer-Arten (Aira caryophyllea, A. elegantissima) in ganz Europa die Samen als Mehlfrucht genutzt. Alle Straußgras- (Agrostis spec.) und Rispengras-Arten (Poa spec.) unterzog man der Samennutzung, wobei man von den Ausläufer treibenden Arten auch aus den getrockneten Wurzeln und Ausläufern ein Mehl erzeugte. Hauptsächlich unterzog man folgende Straußgras-Arten der Samennutzung (mitsamt den Spelzen): Agrostis canina, A. capillaris, A. castellana, A. gigantea und A. stolonifera. Windhalm-Arten (Apera spica-venti, A. interrupta) halten sich zum Trotz der Landwirte beharrlich in den Getreideäckern, da die Ackerungseinflüsse sie stark fördern. Auch ihre Samen sind einst verwendet worden, da sie in großen Mengen zur Verfügung standen. Auch die beiden Honiggräser (Holcus mollis, H. lanatus) sowie Zittergras und die Perlgras-Arten (Briza media, Melica ciliata, M. transsilvanica, M. nutans, vor allem auf den Waldschlägen) waren aufgrund der weichen Spelzen in Verwendung, wie auch Blattteile im jungen Zustand. Erhalten blieben auch die Hinweise der Samennutzung z. B. bei Dreizahn- und Traubenhafer (Danthonia decumbens, D. alpina), vom Flattergras (= Waldhirse, Milium effusum) und Klein- und Groß-Pfeifengras (Molinia caerulea, M. arundinacea), ohne nähere Kenntnisse des Gebrauchs. Auch von den jeweils in den Regionen vertretenen Salzschwaden-Arten (Puccinellia spec.) nutzte man die feinen Samen. Von den im Mittelmeerraum verbreiteten Acker- und Ruderalarten Wimper-, Mäuse- und Trespen-Federschwingel (Vulipa ciliata, V. myuros, V. bromoides) bereitete man aus den Samen Mehl. Bei gutem Samenbehang nutzte man vor allem die Horst- und Bodensee-Rasenschmiele (Deschampsia cespitosa, D. litoralis) und die Drahtschmiele (Avenuella flexuosa). Ebenso wurden einige Schillergräser für die Samennutzung herangezogen, wie z. B. Koeleria pyramitata, K. glauca, K. eriostachya und K. macrantha und verschiedene Lieschgräser (Phleum spec.). Die ausgereiften Grassamen der Seggen (Carex spec.), Zypergras- (Cyperus spec.) und Schlickgras-Arten (Spartina spec.) von trockenen, hageren, aber vor allem der wasserführenden Standorte nutzte man in großen Mengen. Sie sind leicht abstreif- und mitsamt den Spelzen verarbeitbar. Die drei Sumpfried-Arten Einspelzen-, Groß- und Zitzen-Sumpfried (Eleocharis uniglumis, E. palustris, E. mamillata) sowie Nacktried und Schuppenried (Kobresia myosuroides, K. simpliciuscula), Weiß- und Braun-Schnabelried (Rhynchospora alba, R. fusca) unterstanden der Samennutzung. Aufgrund verschiedener Aufbereitungsweisen des Ausziehens der Samenstärke können auch die Nutzungshinweise der Federgras-Arten (Stipa spec.) vom Vintschgau (Südtirol, Italien) bis in den mediterranen Raum und von Tschechien, Slowakei bis Rumänien bestätigt werden.

2.7. Die Nutzung der Wurzel und Wurzelspeicherorgane

Viele z.T. stärkereiche Wurzelpflanzen nutzte man als Gemüse. Sie wurden unter anderem durch den Kartoffelanbau verdrängt und gerieten in Vergessenheit. Zum Verdicken der Wurzeln neigen vor allem die Korb- und Kreuzblütler, Dolden- und Meldengewächse. Aber innerhalb anderer weniger artenreicher Familien finden sich Einzelarten mit größe3. Wildkräuter als Nahrung

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ren unter- und oberirdischen Speicherorganen. Bemerkenswert ist, dass von den nachfolgenden Beispielen nutzbarer Bodenspeicherorgane bis heute kaum mehr eine Nutzung durchgeführt wird und ebenso wenige Forschungen zur Schaffung neuer Kulturarten betrieben werden. Dem Studium, aus „Unkräutern“ für die Zukunft neue Nahrungsmittel zu züchten, müsste in Zeiten sich verändernder klimatischer und demographischer Verhältnisse und unter dem Aspekt der Verknappung von Ressourcen eine große Bedeutung beigemessen werden. Von großer Bedeutung war die Nutzung der Wurzeln des Wiesen-Löwenzahns (Taraxacum officinale), aller anderen Taraxacum-Arten und der Wegwarte (Cichorium intybus), die in Stücke geschnitten und angeröstet haltbar gemacht wurden. Durch das Rösten erfolgt eine teilweise Entbitterung. Röstgemüse schmeckt wunderbar und bei stärkerem Anbrennen entsteht Kaffee. Auch mehrere Minuten gesotten schmecken sie gut. Oder sie wurden im Herbst im Erdkeller oder sandigen Erdbehältnissen zur Winterlagerung eingeschlagen oder getrocknet bevorratet. Völlig in Vergessenheit geriet die Wurzelnutzung vom StinkHainsalat oder Stinkkohl (Aposeris foetida) als Kochgemüse und die Wurzel für Kaffee. Von den meisten Leuenzahn-Arten (Leontodon spec.) nutzte man die geschälten und entbitterten Wurzeln für Brat- und Kochspeisen, Salate und zur Kaffeebereitung. Die süßen und zarten Wurzeln aller Bocksbart- (Tragopogon spec., auch T. pratensis) und Schwarzwurzel-Arten (wie Scorzonera humilis, S. hispanica, S. aristata, S. austriaca, S. rosea, S. purpurea, S. cana, S. laciniata, S. parviflora) stellten ein sehr begehrtes Wurzelgemüse dar. Von den gärtnerisch kultivierten Arten blieb bis heute spärlich die Spanische oder Echt-Schwarzwurzel (S. hispanica) mit ihrer fleischigen Wurzel als Gemüse erhalten. Zum Zwecke des Anbaus oder der Vermehrung in Wiesen wurden beide Artengruppen in allen europäischen Regionen gehandelt. Die Alpen- oder Bergscharte (Rhaponticum scariosum) gilt als ein altbekanntes Wurzelgemüse. Je nach Vorkommen griff man in der Not auf die Wurzel des Dürrwurz- und Echten Alants oder der Edelwurz (Inula conyzae, I. helenium) zurück. Berichte der Nutzung anderer Alant-Arten bestehen z. B. für Weiden-, Christusauge- und Wiesen-Alant (I. salicina, I. oculus-christi, I. britannica). Von den Distel-Arten (Cirsium spec.) grub man die halb- oder einjährigen Wurzeln aus, um sie nach der Trocknung zu Mehl zu verarbeiten. Auch gebraten und gekocht genoss man ihre Wurzeln. Vielfach entstanden große Mengen anfallender Wurzeln bei der Ackerarbeit. In Bayern und Frankreich griff man auf die Knollen-Kratzdistel (Cirsium tuberosum) und die Eselsdistel (Onopordum acanthium) für Bratgemüse zurück. Ebenso nutzte man die unterirdischen Teile der Wildformen der Spanischen Golddistel bzw. Goldwurzel (Scolymus hispanicus) im mediterranen Raum und Frankreich. Aus allen Klette-Arten (Arctium spec.) wie Echte, Filz- und Klein-Klette (A. officinalis, A. tomentosum, A. minus, auch eigens eingebürgerte), vornehmlich aber aus der Groß- und Auen-Klette (A. lappa, A. nemorosum) bereitete man aus der jungen Wurzel ein Gemüse. Zu diesem Zweck wurden Samen geerntet und erst relativ spät auf offenen, nährstoffreichen Standorten angesät, damit bei Herbsternte die Wurzeln zart und unverholzt blieben. Alle gelten als Heilpflanzen und von ihnen wurden auch die ganz jungen Sprosse wie

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Spargel und Blätter zu Gemüsebrei verarbeitet. Die Wurzeln der Groß- und Klein-Wiesenmargerite (Leucanthemum ircutianum, L. vulgare) wurden nach der Ackerung im Zuge des Egart-Umbruchs gesammelt, gewaschen und in der Laube oder auf Stangen zum Trocknen aufgehängt. Daraus stellte man ein Streckmehl für Speisen her. Aus den Urformen des Kohls (Brassica) wurden alle Teile als Gemüse und Würzmittel genutzt und aus den Samen erzeugte man „Rübenöl“ und Senfpaste (im Speziellen aus dem Schwarzsenf oder Braunsenf, B. nigra, und in Ungarn Langrispen-Kohl, B. elongata). Von den verwilderten Formen der Rübsen- oder Rüben-Kohl (Brassica rapa) nutzte man neben den Blättern die verdickten (zumeist verholzten) Wurzeln, indem man sie kochte, trocknete und zermahlte. Das Pulver verarbeitete man zu würzigem Brei und mischte dieses und jenes der Blätter in Mittel- und Osteuropa und Russland auch dem Brotteig bei. Der heimische Garten- oder Gemüsekohl (Brassica oleracea) hat seine Stammsippe in den westeuropäischen Küstenlandschaften. Raps oder die Kohlrübe (Brassica napus, eine Kreuzung aus B. oleracea und B. rapa) beherbergte viele nutzbare Unterarten. Die Vermutung liegt auch nahe, dass einige Kohlarten bzw. Kreuzblütler über vorgeschichtliche Handelsbeziehungen eingeführt wurden und sich als nutzbare Wildformen an den Küsten halten konnten. Den Meerkohl (Crambe maritima) nutzen lange Zeit die Fischerfrauen in Frankreich und England, ja bauten diese Pflanze als Gemüse ebenso an wie in anderen europäischen Regionen den Ungarischen (C. tataria) und Spanischen Meerkohl (C. hispanica). Deshalb findet man heute spärlich Ruderalformen an. Im Frühjahr nutzte man von den genannten Arten die Blätter und Sprosse als Kochgemüse. Ihre Blätter band man zu ihrer Bleichung zusammen, damit sie und die Blattstiele von Sommer bis Herbst als Nahrungsmittel tauglicher wurden. Vom Hederich oder Ackerrettich (Raphanus raphanistrum) und verwilderten Rettich (R. sativus) kamen die scharfen Blätter, Sprossteile und Wurzeln in Verwendung. Die gereinigten Wurzeln vom Hirtentäschel (Capsella bursa-pastoris) pulverisierte man nach der Trocknung für Würzzwecke. Von dem für Kreislauf und Verdauung heilwirksamen Meerrettich oder Kren (Armoracia rusticana) waren die jungen Blätter, Blüten und Samen als Würzmittel verwendet worden. Der Hauptnutzung unterstand aber die Wurzel, die geraspelt z. B. mit Essig zur Haltbarmachung von Apfel- und Birnenmus diente. Der punktuelle Mischanbau mit Kartoffeln hebt das Aroma der Erdknollen und schützt vor verschiedenen Schädlingen. In vielen Speisen fand die Wurzel Eingang und war auch als eigene Gemüsespeise aufbereitet worden. Bevor Pfeffer und Kren eingeführt wurden, baute man die Breitblättrige Kresse (Lepidium latifolium) an, um den Wurzelstock dieser mehrjährigen Pflanze zu nutzen. Auch von Warzen-, Zweiknoten-, Grasblatt-, Verschiedenblatt-, Ruderal-, in Ungarn Durchwachs-, und in jüngerer Zeit Virginien-Krähenfuß wie auch von der Salz- und Kandelaber-Kresse (Lepidium squamatum, L. didymus, L. graminifolium, L. heterophyllum, L. ruderale, L. perfoliatum, L. virginicum; L. cartilagineum, L. campestre) nutzte man alle Pflanzenteile zum Würzen und als Kochgemüse. Vom Löffelkraut (Cochlearia officinalis) verwendete man ebenfalls die Wurzeln. Von allen Zahnwurz-Arten (Dentaria spec.) wurden die Wurzeln, soweit sie ergiebig waren, roh, unter Luftabschluss vergoren und oder gekocht genossen. 3. Wildkräuter als Nahrung

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Von den Pastinaken (Pastinaca sativa) existierten durch ihre intensive Kultivierung charakteristische Selektionszüchtungen mit verschiedenen Wurzelgrößen, -farben und Geschmacksrichtungen, welche sich aufgrund der Nutzungsaufgabe wieder in Wildformen aufspalteten. Auch eigene Blattnutzungssorten für den Gebrauch als Gemüse bestanden. Eine der wichtigsten Wurzelgemüsearten war die vitaminreiche Wilde Karotte bzw. Wilde Möhre (Daucus carota). Sie wurde auf geeigneten sandreichen Humusböden als einjährige Kultur angebaut, da sie dort größere Ernten abwarf und in geeigneter Weise erntbar war. Saatgut wurde geerntet und verspätet angebaut, damit bis zum Herbst keine Fasern in den Wurzeln ausgebildet wurden. Zur Lagerung und Frischhaltung schlug man die Wurzeln auch in sandreicher Erde im Keller ein oder trocknete sie. In Dünenlandschaften der Küste grub man vom Doldenblütler Stranddistel (Eryngium maritimum) die bis zu zwei Meter lang werdende Wurzel zur Herstellung von Süßspeisen und, gekocht und mit Zucker gesüßt, Sirup. Auch von den anderen in diesem Beitrag angeführten Eryngium-Arten nutzte man die Wurzeln gedünstet oder gebraten oder als Kochgemüse. Weitere Wurzelgemüsearten sind Bärwurz (Meum athamanticum), Wiesen-, Glanz-, Echt- und Hunds-Kerbel (Anthriscus sylvestris, A. nitidus, A. cerefolium, A. caucalis), Wiesen-Kümmel (Carum carvi), Alpen-Mutterwurz, Muttern oder Madaun (Ligusticum muttelina bzw. Mutellina adonidifolia), Acker- und Wald-Borstendolde (Torilis arvensis, T. japonica) oder Breitblatt-Laserkraut (Laserpitium latifolium). Sie stellen typische Beispiele nutzbarer Speicherorgane dar. Roh nutzte man die Wurzel von Kümmel und WiesenKerbel. Vielfach wurde die Ernte im Herbst durchgeführt und das grob gereinigte Gut zur Trocknung aufgehängt. Seltener wurden deren Wurzeln im Frühling zur unmittelbaren Verwendung gegraben. Von der Echt- und Gewöhnlich-Engelwurz (Angelica archangelica, A. sylvestris) nutzte man Wurzel, jungen Trieb, zarte Stängel und Blätter als Gemüse und zur Kandierung. Die Wurzelstöcke wurden in feine Scheiben geschnitten und vor allem in Schweineschmalz oder mit Speck geröstet. Die Stängel lässt man in erwärmtem Fett und einige Stunden bei Raumtemperatur ziehen, ehe man sie als Beilage verzehrt. Stängel, Samen und Wurzel lagerte man auch in Essig oder Wein, um sie zum Aromatisieren von Speisen oder Likör zu gebrauchen. Ebenso stellte man aus diesen Teilen Öl als Heil- und Würzmittel her. Ebenso erwähnenswert erscheint der Wurzelgebrauch des Alpen-Augenwurz (Athamanta cretensis) sowie seiner endemischen Arten im Mittelmeerraum und der Wiesensilge oder Silau (Silaum silaus). Von diesen Arten verwendete man Sprosse, Blätter und Blattstiele für Kochspeisen. In Suppen kochte man die Wurzeln von Bärenklau (Heracleum spec.) mit oder genoss sie als Gemüse. In ähnlicher Weise nutze man ebenso den Österreich-Bärenklau (Heracleum austriacum) und die zumeist in Trockenrasen oder auf Fels- und Steinuntergrund vorkommenden Bergfenchel oder Sesel (Seseli spec.). Vom mediterranen Raum bis nach Mitteleuropa erntete man im Herbst die „Rüben“ der Durchwachs-Gelbdolde (Smyrnium perfoliatum) und den Pferde-Eppich (Smyrnium olusatrum) für Kochgerichte.

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Alpen-Mutterwurz oder Muttern (Mutellina adonidifolia) und Einfach- oder Kleine Mutterwurz (Pachypleurum simplex) wurden auf montanen und alpinen Hochweiden in großen Mengen gesammelt und als Trockengut aufbewahrt. Sie dienten ebenso wie Wilde Möhre (Daucus carota) als Suppenwürzmittel oder eingeweichtes Kochgemüse. Ungewöhnlich erscheint auch die Nutzung der z.T. scharf brennenden Wurzeln der Heilpflanzen vom Meisterwurz (Peucedanum ostruthium) sowie von Venetien- (P. venetum), Österreich- (P. austriacum), Kümmel- (P. carvifolia), Sumpf- (P. palustre), Hirsch-Haarstrang (P. cervaria) und Bergsilge oder Berg-Haarstrang (P. oreoselinum), von denen auch die ölreichen und intensiv schmeckenden Samen, Blätter und Stängel genutzt wurden. Offenbar werden dabei die brennenden und herben Gehalte durch Kochen verwandelt. Selbst von der Getreideacker-Art „Wanzensame“, „Stinkdolde“ oder Strahlen-Stinkkoriander (Bifora radians) nutzte man das Blatt-, Samen- und Wurzelpulver für Gewürzzwecke. Eher im Mittelmeerraum nutzte man die Groß-Knorpelmöhre (Ammi majus) und die Sichelmöhre oder -dolde (Falcaria vulgaris) als Wurzelgemüse. Die Namen „Rübenkerbel, Rüben-Kälberkropf oder Kerbelrübe“ bezeichnen die Nutzung der süßlich schmeckenden und nährkräftigen Speicherorgane des Knollen-Kälberkropfs (Chaerophyllum bulbosum). Nach dem Kochen entfernte man die Haut und es wurde ein Salat zubereitet. Auch kochte man die Wurzelrübe mit Kalbfleisch oder machte Bratgemüse. Ähnlich nutzte man Gold- und Taumel-Kälberkropf oder Heckenkerbel (Ch. Aureum, Ch. temulum), wobei letztere Art roh gegessen zu Vergiftungserscheinungen führen kann. Die Kälberkropf-Arten stellten vor der Einführung der Kartoffel ein häufig genutztes Wurzelgemüse dar. Der Russland- oder Prescott-Kerbel (Chaerophyllum prescotti) ist in Frankreich bis heute als Gartenpflanze bekannt, ursprünglich aber für Speisezwecke aus Ch. bulbosum gezüchtet worden. Über die Einschleppung mit russischem Saatgut ist „Prescotti“ aus den Gerste- und Kartoffeläckern in Skandinavien genutzt worden. Durch Abkochung nutzte man auch die Wurzelspeicher von Glanz- und Hunds-Kerbel (Anthriscus nitidus, A. caucalis). Die eher in Westeuropa verbreitete Erdkastanie oder Gewöhnliche Erdnuss (Bunium bulbocastanum) blieb in manchen Regionen als Kulturrelikt verwildert erhalten. Wegen der Ähnlichkeit nennt man die weiß blühende Doldenpflanze auch „Knollenkümmel“. Im Wallis kommt die „Arschlen“ z. B. bis in eine Seehöhe von 2000 m vor und kennzeichnet dort viele Jahre nach Auflassung der Äcker die ehemaligen Getreidefelder. In Zeiten der Hungersnöte griff man auf die sich als „Ackerunkraut“ vermehrende Art zurück, indem man sie nach dem Umbrechen in Säcken und Körben sammelte. Vor Einführung der Erdäpfel baute man sie zur Nutzung der Knolle nicht nur in Frankreich, Italien und Schweiz an, sondern auch in Deutschland, England und Irland, wo sie auch in den Städten gehandelt wurde. Entweder aß man sie roh oder briet sie in Fett oder unter der Asche. Sie schmeckt wie Bratmaroni. Daraus stellte man Mehl her oder mästete damit die Schweine. Ähnlich unterzog man die geschälten Speicherorgane der Französischen Erdkastanie (Conopodium majus) der Nutzung als Koch- und Bratgemüse oder roh für Salate. Aus der Gruppe der Gänsefuß- und Meldengewächse entstammen z. B. unsere Rüben (Zucker-, Dick- und Rote Rüben), Spinatarten und Mangold. Aus ihnen wurden Abarten 3. Wildkräuter als Nahrung

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mit verdickten Wurzel- und Sprossteilen und großen Blättern weitergezüchtet. Innerhalb der Gruppe um die Runkelrübe (Beta vulgaris) stellt die Salz ertragende Küstenpflanze Meerstrand-Mangold (B. maritima) eine uralte Nutzpflanze dar. Auch bei den Schmetterlingsblütlern bestehen Wurzelnutzungen. Man sammelte z. B. die Wurzelknollen von der Knollen- und Berg-Platterbse (Lathyrus tuberosus, L. linifolius), die geröstet wurden. Der Geschmack der Bulben ist der Edelkastanie oder Wassernuss sehr ähnlich. Die Knollen-Platterbse nannte man auch „Erdnuss“ oder in Burgenland „Erdmandel“. Im pannonischen Raum nutzte man ebenso die Pfahlwurzel der Ungarischen Platterbse (L. pannonicus). In Osteuropa brannte man aus ihren angebauten Formen Spirituosen. Wurzelorgane von Spitzkiel-Arten (Oxytropis spec.) und die Wurzel des Rot-Klees (Trifolium pratense) fanden ebenfalls Verwendung zur Bereitung von Speisen und Speisestreckmehl. Das Gänse-Fingerkraut (Potentilla anserina) besitzt stärkereiche Wurzeln und Ausläufer, die für allerlei Speisen aufbereitet wurden. Die nussartig schmeckenden Wurzeln wurden für Mehl und die Bereitung von Brot, Backwaren und Brei getrocknet, frisch in Fett gebraten oder gekocht dienten sie als Beilage. Neben der Rohkost wurden sie auch gebacken, gebraten oder als Kochgemüse verwendet. Um aus ihnen Mehl bereiten zu können, mussten die Wurzeln von Blutwurz, Tormentill oder des Aufrechten Fingerkrauts (P. erecta) wegen ihres hohen Tanningehalts mehrmals ausgekocht werden. Ebenso wurden folgende Arten der Nutzung unterstellt: Gold-, Kriech-, Mittel-, Grau-, Silber-, Großblüten-, Norwegen-, Hoch-Fingerkraut (P. aurea, P. reptans, P. intermedia, P. inclinata, P. argentea, P. grandiflora, P. norwegica, P. recta). Aufwendig entbitterte Wurzeln des Groß- und Klein-Mädesüß (Filipendula ulmaria, F. vulgaris) dienten ebenfalls der Ernährung. Besonders das stärkereiche Kleine Mädesüß besitzt einen knollenartig verdickten Wurzelstock mit lohnenswerter Masse, deshalb auch der ursprüngliche Name „Knollen-Mädesüß“. Beim Umbruch von gealtertem Grünland in Acker sammelten die Frauen diese ein. Filipendula vulgaris hat einen geringeren Wirkstoffgehalt als F. ulmaria. Auf die Nahrungsmittel konservierende Wirkung der Wurzel von Echtem Nelkenwurz (Geum urbanum) habe ich bereits hingewiesen (s. Machatschek, M. 2004). Erwähnenswert ist die Verwendung der Blätter und vor allem der stärkenden Wurzel in Suppen zur Vorbeugung gegen Schlaganfälle und die Wurzelverwendung für die Herstellung von Bier, Nelkenwasser und Speisen. Früher wurden sie für Obstspeisen und beim Konservieren des Obstes eingesetzt, da vor allem Geum urbanum Eugenol enthält, welches vor Schlagkrankheiten schützt. Bach- und Berg-Nelkwurz (Geum rivale, G. montanum) wurden ähnlich genutzt. Die Wurzelnutzung des Echt-Nelkwurzes wurde mit der Einführung der Gewürznelke langsam ersetzt. Groß- und Klein-Wiesenknopf (Sanguisorba officinalis, S. minor) stellen nicht nur gute Gemüsearten dar, sondern dienten ursprünglich auch der Wurzelnutzung. Heute kennen wir diese Blatt-, Samen- und Wurzelnutzung lediglich vom WiesenKnöterich (Polygonum bistorta). Die Wurzelorgane vom Knöllchen-Knöterich (P. vivipara) wurden nach der Schneeschmelze vor der Entwicklung der ersten Blätter gegraben und

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getrocknet. Wegen des Mandelgeschmacks nahmen die Leute die Wurzelstöcke als Wanderproviant mit und kauten sie auch neben der Arbeit als Nahrung nebenher. Auch die abgestreiften, kugeligen Samen wurden roh oder in Form von Brei genutzt. Der schlangenförmige Wurzelstock des Wiesen-Knöterichs (P. bistorta) wurde aufbereitet als Gemüse gegessen, als Suppe, Brei und Pudding oder Mischkompott zubereitet und zur Gewinnung von Stärke herangezogen. In ähnlicher Weise nutzte man alle Teile des Klein-Knöterichs (P. minor). Von den als Vieh- und Wildfutter und zur Uferbefestigung eingeführten sich stark ausbreitenden Arten Japan-Knöterich (Fallopia bzw. Reynoutria japonica) und Sachalin-Knöterich (F. sachalinensis) nutzte man die Sprosse und im Herbst die geschälten Wurzeln als gekochtes Gemüse. Heute völlig unbekannt ist die Nutzung der Wurzeln vom Schmalblatt-Weidenröschen (Epilobium angustifolium), weshalb die Pflanze vom östlichen Polen bis in die ehemalige Sowjetunion auch kultiviert wurde. Mehrmals zur Abführung bedenklicher Inhaltsstoffe ausgekocht, dienten auch geringe Wurzelmengen von Echt-, Klein- und Knollen-Beinwell (Symphytum officinale, S. bulbosum, S. tuberosum) in Mischung mit anderen Wildgemüsearten für Kochgerichte. Von den Sandknöpfchen (Jasione spec.), Teufelskrallen (Phyteuma spec.) sowie den Glockenblumen (Campanula spec.) waren auch die Wurzeln sehr beliebt z. B. von: Rapunzel-, Knäuel-, Borsten-, Wald-, Wiesen-, Breitblatt-, Nessel-, Acker-, Mähren- oder Holzwurzel-Glockenblume (C. rapunculus, C. glomerata, C. cervicaria, C. persicifolia, C. patula, C. latifolia, C. trachelium, C. rapunculoides, C. moravica) und von Eikopf- (verdickte Wurzel), Ähren-, Schwarz-, Betonien- und Pfirsichblatt-Teufelskralle (Ph. ovatum, Ph. spicatum, Ph. nigrum, Ph. betonicifolium, Ph. persicifolium). Von der selten vorkommenden Lilien-Becherglocke (Adenophora liliifolia) war die Wurzel gekocht und gebraten worden. Die Blätter vom Feigwurz oder Knöllchen-Scharbockskraut (Ficaria verna) wurden als Salat gegessen und in Fässern eingesäuert den Schiffen mitgegeben, damit sie sich bei den langen Seefahrten mit Vitamin C versorgen konnten, deshalb der alte Name „Skorbutkraut“. Neben den weizenkornartigen Brutknöllchen wurden auch die saftigen Wurzeln als Kochgemüse genutzt. Ebenso kam z. B. in den skandinavischen und sowjetischen Ländern die Wurzel der Sumpfdotterblume (Caltha palustris) z.T. als wichtiges Grundnahrungsmittel zum Einsatz. Auch die unterirdischen Speicherorgane von Knollen- und Unheil-Hahnenfuß (Ranunculus bulbosus, R. sceleratus) nutzte man aufbereitet als Gemüse, wie wohl Letzterer als giftig gilt. Als Nutzungsrelikte ist in den Obstgärten nach wie vor der Hohl-Lerchensporn (Corydalis cava) vertreten. Diese Art wie auch Finger- oder Vollwurz-Lerchensporn (= Grimwurz, C. solida), Zwerg-Lerchensporn (C. pumila) und der nah verwandte Knollen-Erdrauch (Fumaria bulbosa) waren einst Wurzelgemüse-Arten. Die pulverisierten Wurzeln vom Echt-Erdrauch (Fumaria officinalis) verwendete man als Brotstreckmehl. Auch vom Knollen-Läusekraut (Pedicularis tuberosa) nutzte man die Sproßorgane. Von der Nutzung der kugelförmigen Speicherorgane der Zyklame („Erdbrot“, Cyclamen purpurascens) wird an verschiedenen Stellen immer wieder berichtet, allerdings besteht wegen der Giftstoffe Vorbehalt. 3. Wildkräuter als Nahrung

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In Frankreich nutze man von den Aronstabgewächsen Arum vulgare, A. incurvatum sowie Calla palustris die Rhizombildungen. Vom Gefleckten und Südost-Aronstab (Arum maculatum, A. cylindraceum) kochte oder wässerte man zum Entgiften die im Herbst während der Fruchtreife geernteten Knollen. Nach dem Rösten oder Braten nutzte man die Knollen für Speisezwecke. Roh ausgewaschen, gewann man daraus auch Stärkemehl. Auch nutzte man nach demselben Aufbereitungsverfahren die Sprosse und Blattstiele als Gemüse. Ähnlich bereitete man aus der getrockneten Wurzel der sehr selten gewordenen Moorund Bruchwaldpflanze Drachenwurz (Calla palustris) ein Brotmischmehl zu. Für Frankreich ist auch die Nutzung der „Wurzeln“ der Osterluzei-Art (Aristolochia rotunda) und von der Schwarz(beerigen)- und Rot(beerigen)-Zaunrübe (Bryonia alba, B. dioica, von diesen auch ihrer jungen oberirdischen Triebe, gekocht) erwähnt. Von den Pfingst- oder Gichtrosen waren viele heute als Zierselektionen geführte Arten auch für Nahrungsmittel genutzt worden. Paeonia femina (= P. officinalis) ist die geläufigste kultivierte Art. Ebenso zum Brotmehl ausgewogen dazugemischt wurde das Pulver des knotig verdickten Rhizoms vom Knoten-Braunwurz (Scrophularia nodosa) sowie der jungen, saftigen Wurzeln von Kleinblüten-, Großblüten-, Gewöhnlich-, Heide-, Dunkel-, Österreich-, Woll- und Flocken-Königskerze (Verbascum thapsus, V. densiflorum, V. phlomoides, V. lychnitis, V. nigrum, V. chaixii, V. alpinum, V. pulverulentum) und von Schwarzem und Rotem Holunder (Sambucus nigra, S. racemosa). Die Wurzel vom Sumpf- und ArzneiBaldrian (Valeriana dioica, V. officinalis) diente als gebackenes und Mischgemüse, oder pulverisiert als Würzmittel in Speisen und Brot. Alles, was das Schwein verträgt, kann auch der Mensch nutzen. Mit der Einführung der Nachtkerzen (Oenothera spec., vornehmlich Oe. biennis, Oe. parviflora) zu Beginn des 17. Jahrhunderts als Schweinemastfutter (einjährige Wurzel, Blätter, Sprosse) nutzte auch der Mensch alle daraus entstehenden und unbeständig auftretenden Wildformen für Nahrungszwecke (Blätter als Sommer-, Wurzel als Wintergemüse). Nicht umsonst nennt man sie wegen der rosa Färbung nach dem Anschneiden die „Schinkenwurzel“ oder „Rote Sellerie“. Von den Schwertlilien nutzte man die Wurzelorgane von den Arten Iris pseudacorus, I. sibirica, I. latifolia, I. spuria, I. reticulata, I. germanica, I. lutea, I. foetidissima und der trockene Standorte bevorzugenden Iris aphylla und zum Teil jene der in den Gärten kultivierten und scheinbaren Zier- sowie Kreuzungssorten. Die Knollen von Illyrien-, Italien-, Dachig-, Groß- und Sumpf-Siegwurz oder -Gladiole (Gladiolus illyricus, G. italicus, G. imbricatus, G. major, G. palustris) nahm man in den Gebrauch, indem scharfe Geschmäcker durch Kochen weggebracht wurden. Gekochte Speicherorgane verzehrte man im gesamten europäischen Raum von folgenden Arten, da sie Stärke enthalten: Dolden-Milchstern (Ornithogalum umbellatum), Wald-, Wiesen-, Böhmen-, Scheiden- und Röhren-Gelbstern (Gagea lutea, G. pratensis, G. bohemica, G. spathacea, G. fistulosa), Manns- oder Stattliches Knabenkraut (Orchis mascula) sowie Helm- und Purpur-Knabenkraut (Orchis militaris, O. purpurea), Wanzen-, Sumpf-, Kamm- und Klein-Knabenkraut (Anacamptis coriophora, A. palustris, A. pyramidalis, A. morio), Mücken- und Duft-Händelwurz (Gymnadenia conopsea, G. odoratissima), Flecken-, Holunder-, Breitblatt-, Traunsteiner-Fingerwurz (Dactylorhiza maculata, D. sam-

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bucina, D. majalis, D. traunsteineri), Breitblatt-, Purpur- und Schmalblatt-Waldvöglein (Cephalanthera damasonium, C. rubra, C. longifolia), relativ auch Ständel- oder Sumpfwurz-Arten (Epipactis spec.), … Sie wurden auch nach der Art gebratener Kastanien zubereitet. Erreichten Hummel-, Bienen-, Fliegen- und Sinnen-Ragwurz (Ophrys holoserica, O. apifera, O. insectifera, O. sphegodes) auf guten Standorten größere Wuchshöhen, so kochte man ihre unterirdischen Speicherorgane als Gemüse oder bereitete daraus Mehl. Kochgemüse und Mehl stellte man aus den Speicherknollen von Kamm-, Klein- Sumpf- und Wanzen-Hundswurz (Anacamptis pyramidalis, A. morio, A. palustris, A. coriophora) und von Brand- und Dreizahn-Keuschständel (Neotinea ustulata var. aestivalis, N. tridentata) sowie von der Weiß- und Grünlich-Waldhyazinthe (Platanthera bifolia, P. chlorantha) her. In West- und Südwesteuropa grub man nach den Zwiebeln von Italien-, Eigentliches und Spanien-Hasenglöckchen (Hyacinthoides italica, H. non-scripta, H. hispanica). Nur durch das Auskochen und Wasserwechseln waren diese nutzbar. Von den Traubenhyazinthe-Arten (wie z. B. Muscari tenuiflorum, M. botryoides, M. comosum, M. neglectum, M. armeniacum) nutzte man die Zwiebeln im Herbst als Kochgemüse. Von den zwiebel- und bulbenbildenden Pflanzen nutzte man die Wurzelspeicherorgane aller Allium-Arten wie wilde Schnittlauchformen, wie z. B. Sumpfschnittlauch, Berg-Lauch (Allium lusitanicum), Weinberg-Lauch (A. vineale), Bärlauch (A. ursinum), Allermannsharnisch (Allium victorialis), diverse Knoblaucharten, … Sie wurde auch durch Einsalzen konserviert bzw. liefern die Wurzelorgane stärkereiche Lebensmittel. So wurden die gesäuberten Zwiebeln von Türkenbund- und Feuerlilie (Lilium martagon, L. bulbiferum) roh oder gekocht genossen oder getrocknet für Brot und Backwaren. Speisen von diesen beiden Arten haben den Geschmack wie Kartoffelpüree. In Sibirien wurde die Türkenbund-Lilie mit Milch aufgekocht. Krokus-Arten (Crocus spec., hauptsächlich C. albiflorus) sind ebenso roh in geringen Mengen genießbar oder getrocknet, in Form von Mehl verarbeitet, verwendbar. Früher nutzte man auf verschiedenen Kontinenten auch die Zwiebeln der als giftig geltenden Fritillaria-Arten (bei uns als Kaiserkrone bekannt). Folgende Liliengewächse aus Japan, China und Nordamerika sind in den Gärten anbaubar und wären z. B. für neue Nahrungsmittel züchtbar: Lilium spectabile, L. tigrinum, L. auratum, L. columbianum, L. concolor, L. lancifolium , L. speciosum, L. pomponium, L. occidentale, L. pardalinum, L. parvum, L. philadelphicum und L. canadense. Von diesen schön blühenden Arten besteht bereits Wissen um ihre Nutzung. Unbestätigten Hinweisen nach nutzte man die giftig wirkenden Zwiebel von der Stern-, Zweiblüten- und Gelben Narzisse oder Osterglocke bzw. Märzenbecher und Dichter-Narzisse (Narcissus radiiflorus, N. x medioluteus, N. pseudonarcissus, N. poeticus). Sie waren ursprünglich zum Vertreiben der Mäuse in den Obst- und Bauerngärten verbreitet worden. Hier soll auch die ehemalige Nutzung der Wild- und Südlichen Tulpe (Tulipa sylvestris, T. australis) Erwähnung finden, deren Zwiebel offenbar erst durch Kochung entgiftet und genießbar gemacht wurde. Die Wilde Tulpe kommt z. B. im Apennin als Ackerunkraut vor. Die zarten Blumen finden sich im Frühjahr am Rand umgebrochener Äcker, wo sie von den Gebüschen ausgehend wieder in die Flächen einwachsen. 3. Wildkräuter als Nahrung

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Die Walliser Tulpenform Grengjer Tulpe (Tulipa grengiolensis) steht in ihrer Gesamtkultur möglicherweise als ein Beweis für die Verwendung der Tulpenzwiebeln als Nahrungsmittel. Die alten Einwohner nennen sie heute noch die Römertulpe, was auf ein altes Kulturrelikt fremder Herkunft verweist. Sie steht laut der Tulpenkennerin Adelaide Stork aus Genf der Tulipa diedieri, welche heute in der Schweiz ausgestorben ist, aber in Savoyen in Wildformen weiter existiert, in direkter naher Verwandtschaft. Die Grengjer Tulpe benötigt magere Böden mit steinigem und sandigem Anteil. Wuchsort ist ähnlich dem des Safrans – wenig Regen, viel Sonne im Sommer und starke Fröste, dann blühen sie am schönsten. Aber auf den Winterroggenäckern erfolgte eine optimale Vermehrung durch die Art der Ackerung. Ein alter Bauer im Wallis erzählte 1989 am Gomser Höhenweg von der Weise der einstigen „zweilagigen“ Ackerungen mit der Ackerhacke. Man hob die obere Bodenschicht des Humus ab und warf sie mit einem Schwung in die Furche daneben, dann kam die zweite Hälfte dran, die untere Bodenschicht, die auf die erste Lage zuoberst draufgeworfen worden war. Mit der Halbierung in zwei Lagen kamen auch die im Acker befindlichen Zwiebeln an die Oberfläche. Die Winterung, 2–3 Jahre lang Winterroggenanbau, dann ein Jahr Brache oder Wiese (mit höchstens einer Schnittnutzung) und evt. eine Erdäpfelfolge sind dieser Tulpe hochgradig förderlich, solange nicht eine industrielle Landbewirtschaftung (mit Fräsung, schweren Geräten oder Kartoffelroder) erfolgt. Die Produktivität der Äcker bzw. Wiesen, wo diese besagte Tulpe vorkommt, ist gering und hier erfolgt keine Bewässerung, weshalb kein zweiter Schnitt möglich ist. Der belassene zweite Schnitt (Emd) dient auf diese Weise der Düngung für das nächste Jahr. Früher wurden bei der Arbeit die offen liegenden Zwiebeln abgesammelt und dienten als Nahrung, bevor die Erdäpfel eingeführt wurden. Tulpen lassen sich gut trocknen und so lagern, wenn sie vor Mäusen geschützt in Leinensäcken am Dachboden aufgehängt werden. Diese Nutzungs­ geschichte wurde bislang noch von keinem Tulpenfreund bestätigt. Aus dem submediterran verbreiteten Berg- oder Weißen Affodill bzw. Asphodill ­(Asphodelus albus) wurde die Speicherwurzel zur Gewinnung eines nahrhaften Mehles herangezogen, welches zur heilwirksamen Bekömmlichmachung der Speisen verwendet wurde. Deshalb findet man diese Art in vielen Koch- und Anbauvorschriften erwähnt. Von der Gelb- und Gelbrot-Taglilie (Hemerocallis lilioasphodelus, H. fulva) genoss man roh junge Wurzelknollen vom Herbst an bis ins Frühjahr und ältere Speicherorgane auch als Kochgemüse. Im Herbst entfernte man von Breitblatt-, Vielblütig-, Quirl- und Duft-Weißwurz (Polygonatum latifolium, P. multiflorum, P. verticillatum, P. odoratum) durch Kochen der Wurzeln in Salzwasser oder Röstung die sekundären Inhaltsstoffe, um daraus warme Speisen zu bereiten. Die Wurzeln von Europa-Knotenfuß (Streptopus amplexifolius), gekocht, dienten zur Bereitung von Salaten und Kochgerichten. Die Wurzeln von Gewöhnlich- und Hoch-Wolfstrapp bzw. Wolfsfuß (Lycopus europaeus, L. exaltatus) fanden aufbereitet in verschiedenen Speisen Berücksichtigung. Vom Sumpf-Ziest (Stachys palustris) nutzte man in großen Mengen die verdickten Wurzeln, knolligen Wurzelknoten und Ausläufer als Kochgemüse. Auch die Knollen von Wald-Ziest

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oder Waldnessel (S. sylvatica) wurden gekocht und gebraten gegessen oder Salat daraus gemacht. Häufig bereitete man daraus Püree oder trocknete sie zur Mehlgewinnung für die Eindickung anderer Speisen oder zur Herstellung von Backwaren. Von den Taubnesselund Goldnessel-Arten (Lamium spec., Galeobdolon spec.) nutzte man die intensiv schmeckenden Wurzeln als Kochgemüse. Ab dem Herbst grub man nach dem Rhizom der Rosenwurz (Rhodiola rosea), um sie roh oder gekocht zu verzehren. Zum Strecken des Brotteigs verwendete man die pulverisierten Wurzeln vom Gemeinen Bilsenkraut (Hyoscyamus vulgaris), Schwarze Nieswurz (Helleborus niger) und der Wasserfenchelarten (Oenanthe aquatica, Oe. apii-folio), wobei deren Aufbereitung als Nahrung nicht konkret überliefert ist. Nicht unerwähnt soll die Verwendung der Pfahlwurzel vom Rispen-Gipskraut (Gypsophila paniculata) bleiben: In den Gärten als Schleierkraut geführt, nutzte man das enthaltene Saponin in den Konditoreien für die Schaumbildung. Die kleinen, bulbenartigen Wurzelknollen des als giftig geltenden Sumpf-Schachtelhalms (Equisetum palustre) nutzte man z. B. in Osteuropa durch intensives Kochen. Vom Europa-Rippenfarn (Blechnum spicant) nutzte man für Kochspeisen auch ab dem Herbst die gerösteten Rhizome, wie auch jene von Lanzen-, Grannen-, Gewöhnlich-, Schuppen- und Sichel-Schildfarn (Polystichum lonchitis, P. setiferum, P. aculeatum, P. braunii, P. falcatum) nach der Entfernung der braunen Haare. Das stärkereiche Rhizom vom Adlerfarn (Pteridium aquilinum) und Königsfarn (Osmunda regalis) diente zur Gewinnung von Mehl, Koch- und getrocknet als Lagergemüse und zur Eindickung verschiedenster Speisen. Nicht zu vergessern ist die „Süßwurzel“ des Tüpfelfarns (Engelsüß = Polypodium vulgare) als Kreislauf stärkende Rohkost.

2.8. Die Nutzung der Wurzeln von Gräsern und Gräserblütigen

Rhizome, Wurzeln und Wurzelsprosse aus der Großgruppe der „Binsen“ (Scirpus, Blysmus, Bolboschoenus planiculmis und B. maritimus, Schoenoplectus), Schilf (Phragmites australis) und Rohrkolben (Typha latifolia, T. angustifolia, T. laxmannii, T. shuttleworthii) und ihre jungen Triebe sammelte man im Spätherbst oder Frühjahr. In manchen Feuchtgebieten wurden sie regelrecht „angebaut“, um das aus dem Trocken- und Röstgut hergestelltes Mehl als Hauptnahrungsquelle zu erhalten. Auch bereitete man aus den Rhizomen und Wurzeln Kochgerichte und Sirup zu. Aus den Schilfwurzeln erzeugte man Mehl und Brot oder stellte gewöhnungsbedürftigen Kaffee her. Junge Triebe lagerte man getrocknet oder unter marinierten und gesalzenen Verhältnissen. Frisch erzeugte man damit Suppen und Salate. Geschätzt wurden Grün-, Spitz-, Kanten-, Grau- und Stech-Teichbinse (Schoenoplectus bzw. Scirpus lacustris, S. mucronatus, S. triqueter, S. tabernaemontani, S. pungens), da deren Wurzelstock im Herbst und Frühjahr sehr stärke- und zuckerreich ist. Sie wurden gequetscht und in Wasser bis zu zwei Stunden gekocht, um den süßen und eingedickten Auszug zu erhalten. Zarte, neu austreibende und geschnittene Frischwurzeln verwendete man als Suppeneinlage oder Bratgemüse. Es ist zu vermuten, dass auch die anderen genannten und großwüchsigen Binsen-Gattungen solchen Nutzungen unterzogen wurden. 3. Wildkräuter als Nahrung

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Aus den Wurzeln von Wild-Sorgum oder Aleppo-Mohrenhirse (Sorghum halepense) stellte man gekochtes oder geröstetes Gemüse und Mehl her. Die Wurzeln der Acker-, Hunds- und Blau-Quecke (Elymus repens, E. caninus, E. intermedium) trocknete man und erzeugte Mehl, um Backwaren, Fladen und Breie herzustellen. Hohe Kunst erforderte auch die Bereitung von Wurzelsuppen, Wurzelsalaten, Wurzelkaffee und -bier oder Beilagen aus Queckenwurzeln, denn zu den entstehenden Speisen fehlt uns heute der geschmackliche Bezug. Die Zypergräser (Cyperus spec.) sowohl der Wasser- und Sumpfufer-, Graben- als auch Ruderalstandorte bilden größere Wurzelformen aus. Von folgenden Arten nutzte man diese: Die bekannteste ist die von Westasien bis in den Mittelmeerraum beheimatete bzw. angesiedelte Erdmandel; Pannonien-, Micheli-, Lang-, Knäuel-, Gelb- und Braun-Zypergras (Cyperus esculentus; C. pannonicus, C. michelianus, C. longus, C. glomeratus, C. flavescens, C. fuscus). Diese Arten besitzen einen relativ hohen Ölgehalt und wurden neben Koch- und Breigemüse auch zur Herstellung von Kaffee verwendet.

2.9. Pflanzen zum Erhalt von Süßungsmitteln und Stärke

Der wichtigste Bestandteil der Ernährung ist die Stärke zur Aufrechterhaltung des Energiehaushaltes, vor allem bei manuell arbeitenden Menschen und in der Winterszeit. Stärke oder stärkereiche Lebensmittel lassen sich relativ gut bevorraten. Als Spanische Wurzel oder Wilde Lakritze bezeichnete man den Kriechenden Hau­ hechel (Ononis repens). Die Süße der Wurzel legte mit der Trockenheit zu und sie diente als Kinderbrot und zur Zubereitung von Lakritze und Kräuterlikör. Gleicher Nutzung kam man bei der Dorn- und Acker-Hauhechel (O. spinosa, O. arvensis) nach. Die Blätter und Wurzeln von Alpen-Süßklee (Hedysarum hedysaroides) wie auch jene harntreibenden von Süßblatt-Tragant oder Bärenschote (Astragalus glycyphyllos) und von der Süßdolde oder „Aniskerbel“ (Myrrhis odorata, die aromatischen Früchte dienen ebenfalls als süßes Würzmittel) waren in blutreinigenden Tees verwendet worden. Auch gewann man daraus Pulver zum Speisensüßen und verwendete jene der Süßdolde für Kochgemüse. Aus der Wurzel von Süßblatt-, Süß-Tragant oder Bärenschote (Astragalus glycyphyllos, vermutlich auch A. scandens, A. cicer, A. helveticus, A. onobrychis) stellte man durch langsames Kochen und Eindicken lakritzeartige Süßungsmittel oder Sirup her. Der Große oder Breitblatt-Merk (Sium latifolium) kommt in Sümpfen oder Nasswiesen vor. Der Zuckerwurz oder Merk (Sium sisarum) wurde in Gärten und Feldacker angebaut. Aus beiden Arten bereitete man nicht nur Wurzelspeisen, sondern gewann auch Süßstoff. Als Süßungsmittel verwendete man die Wurzeln des Eibisch (Althaea officinalis). Sie enthalten kristallisierbaren Zucker und Stärke. Süßwurzel oder Tüpfelfarn (Polypodium vulgare) wirken reinigend auf die Blutgefäße, weshalb sie regelmäßig gesammelt und gekaut wurden oder Lakritze daraus hergestellt wurde. Auf die Nutzung der „Baumwässer“ zur Herstellung von Süßstoffen wird im anderen Beitrag dieses Bandes eingegangen.

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2.10. Nutzungshinweise über die Wasserpflanzen

Bemerkenswerterweise sind die Nutzungsgeschichten unserer Wasserpflanzen verloren gegangen, vielleicht auch durch die flächendeckende Urbarmachung der Moor-, Ried-, Teich- und Sumpflandschaften und sicher durch die Einführung der Kartoffel und anderer Kulturgemüse. Neben zuckerreichen Teilen wurden junge Sprosse, unverholzte Triebe und Blätter mehrerer Arten genutzt – dazu wurden in verschiedenen Kapiteln zuvor schon viele Beispiele eher der Wasserrandzonen angeführt. Eine wichtige Nutzartengruppe offener Gewässer ist mit dem Überbegriff Entengrütze oder Wasserlinsen (Lemna minor, L. gibba, L. triscula, L. minuta; Wolffia arrhazia, Teichlinse = Spirodela polyrhiza) umschrieben, deren Nutzung auch im europäischen Raum gegeben war und heute sich auf den asiatischen Raum beschränkt – allerdings hat sich dort eine Wasserlinsenkultur zum Nahrungszwecke erhalten (s. Landolt, E. & Kandeler, R. 1987). Neuerdings beschäftigen sich auch andere Länder mit dieser Pflanze. Diese kleinen Blattgebilde schwimmen an der Oberfläche zumeist nährstoffreicher Stehgewässer. Im Winter senken sich diese in bodennahe Wasserschichten ab. Verschiedene Breigerichte werden aus den Wasserlinsen zubereitet. Stärker kamen wegen dem Energiereichtum die Wurzelorgane und Fruchtsamen zur Nutzung. Von allen – zum Teil eingeführten und als giftig geltenden – Seerose-Arten (Nymphaea spec.) waren die Früchte in Erdreich zur Vergärung vergraben worden. Auch genoss man die Früchte über dem Feuer geröstet und von der Weißen Seerose (Nymphaea alba) das aufwendig gewonnene Mehl der Wurzelstöcke. Auch die offenbar als bedenklich geltenden Samen der Gelb- und Klein-Teichrose (Nuphar lutea, N. pumila) fanden aufbereitet als Nahrung (Mehl) oder roh genossen Verwendung. Durch mehrmaliges Wässern entfernte man die Gerb- und Giftstoffe der breiartig zerkleinerten oder geraffelten Rhizome und nutzte diese nach der Trocknung zur Mehlherstellung. Sie gelten als sehr stärkereich. In den Teichen förderte und kultivierte man die Arznei-Kalmus (Acorus calamus), um deren getrocknete Wurzel zum Würzen oder zum geringfügigen Beimischen zu allen möglichen Speisen regelmäßig verfügbar zu haben, damit die Zähne gesund blieben. Eine alte Nutzpflanze entlang der Meeresküsten sei hier ebenfalls angeführt: Aus den Wurzeln des Echt- und Zwerg-Seegrases (Zostera maritima, Z. noltii), eine grasartige, untergetauchte Meeresbodenpflanze, bereitete man Brat- oder Röstgemüse oder man genoss sie vom Herbst bis ins Frühjahr roh. Von der Schwanenblume (Butomus umbellatus), dem Pfeilkraut (Sagittaria sagittifolia) und den Froschlöffel-Arten (Alisma plantago-aquatica, A. gramineum, A. lanceolatum) entgiftete man die fleischigen und stärkereichen Wurzel- und Speicherorgane durch Trocknung und bereitete daraus ein Mehl für Speisen. Auch wurden sie geschält, geröstet oder gebraten oder ein kaffeeähnliches Mahl zubereitet. Die Kenntnisse derartiger Aufbereitungsweisen bestehen auch in Nordamerika und Asien, wo über die länger währende Kultivierung auch eigene Unterarten als Kulturpflanzen gepflegt wurden. Ebenso nutzte man von ihnen die jungen Blätter, Blattstiele und Sprosse als Kochgemüse. Die Wurzelstöcke der vom Spätherbst bis Frühling geernteten Schwanenblume, Weißen Seerose, Gelb- und Klein-Teichrose (Nuphar lutea, N. pumila) wie auch jene von den Rohrkolben-Arten (Ty3. Wildkräuter als Nahrung

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pha latifolia, T. angustifolia) backte man in der aschereichen Glut oder nutzte sie nach mehrmaligem Wechseln des Kochwassers. Die Stärke gewann man von den genannten Arten durch Auswässerung, wodurch Gerb- und Giftstoffe entfernt wurden. Grundsätzlich sind nach der Trocknung die angeführten Wurzelspeicherorgane relativ lang lagerbar. Häufig zermuste man die entgifteten Wurzeln zu einem Brei, um sie mit Blattgemüse zu Speisen zu verwerten. Ebenso bereitete man die Wurzelstöcke aller Laichkrautarten (Potamogeton) der Gewässerbiotope durch Einsäuern oder Trocknen auf und nutzte die Blätter für Kochgemüse. Nach dem Schälen nutzte man die Wurzelstöcke für allerlei Kochgerichte. Verwendet wurden je nach Größenaufwuchs folgende Arten in ganz Europa, wobei je nach Art auch unterschiedliche Aromen zum Ausdruck kamen: Kamm-, Flachstängel-, Faden-, Schwimm-, Farb-, Rötliches, Flut- oder Knoten-, Alpen-, Gras-, Schmalblatt-, Schimmer-, Spitzblatt-, Stachel-, Gewöhnliches und Berchtold-Zwerg-Laichkraut, Stumpfblatt-, Kraus-, Durchwachs-, Langblatt-, Glanz- und Weidenblättriges Laichkraut (Potamogeton pectinatus, P. compressus, P. filiformis, P. natans, P. coloratus, P. rutilus, P. nodosus, P. polygonifolius, P. alpinus, P. gramineus, P. x angustifolius, P. x nitens, P. acutifolius, P. friesii, P. pusillus und P. berchtoldii, P. obtusifolius, P. crispus, P. perfoliatus, P. praelongus, P. lucens, P. x salicifolius). Von folgenden Igelkolben-Arten nutzte man vom Herbst bis ins Frühjahr die geschälten Wurzeln für Kochgemüse: Äste-, Astlos-, Nordisch-, Schmalblattund Zwerg-Igelkolben (Sparganium erectum agg., S. emersum, S. hyperboreum, S. angustifolium, S. natans). So wie heute die Erdäpfel im allgemeinen Gebrauch stehen, genoss man früher die Wassernüsse (Trapa natans) und in manchen Gegenden nutzte man sie z.T. in großer Menge als Grundnahrung. Sie wurde ähnlich wie die Esskastanie gebraten oder gedämpft. Die Jahreserntemengen standen in Abhängigkeit mit dem Witterungsverlauf des Sommers. Die gut verdaulichen Nährnüsse waren handelsübliche Leckerbissen aus denen Brot und Fladen zubereitet wurden. Die Standorte des Fieber- oder Bitterklee-Vorkommens (Menyanthes trifoliata) sind aus Mangel der pfleglichen Nutzung vielfach verloren gegangen bzw. durch das Fehlen ­offen gehaltener Stehgewässer kaum mehr zu finden. Die Pflanze bevorzugt kalkarme, saure Niedermoore und Hochmoorschlenken, Schwingrasen bzw. die Flach- und Verlandungsbereiche stehender, aber offener Gewässer. Die genannte Art nutzte man als heilwirksames Würzmittel und die durch Wässerung entbitterten und getrockneten Wurzeln zur Mehlbereitung. Von der nah verwandten und sehr selten gewordenen Europa-Seekanne oder (= Sumpfrose, Teichenzian, Nymphoides peltata) unterzog man Blätter, Blütenknospen und Blüten der Salat- und Würznutzung.

3. Schlussbemerkungen Meiner Ansicht nach dürfte es sich bei mehreren Arten um eingeführte Pflanzen zum Nutzungszwecke handeln, welche sich über mehrere Jahre auf Ruderalstellen und im Kulturland halten konnten, bis sie durch die Standortsättigung keine geeigneten Bedingungen

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mehr vorfanden. Viele der hier angeführten Arten kommen mittlerweile selten vor, sei es durch den Wandel der Kulturlandschaft, durch Nutzungsintensivierung oder Verbrachung. Durch die fehlende Inkulturation und Nutzungsaspekte, Nährstoffüberformung der Standorte, Dominanzverhalten bestimmter Pflanzengruppen, aber vielleicht auch durch übermäßiges Sammeln unterliegen die angeführten ehemaligen Nutzpflanzen der Vergänglichkeit. Sie haben zumeist in anderen Ländern höher signifikante Verbreitungsareale. Den „urgeschichtlichen Nachlass“ vor der Haustür wieder aufnehmen Die Menschen haben sich mit der Natur entwickelt und finden in der Natur alle Hilfsmittel, welche zum Leben notwendig sind. Die Kultur des Sammelns von Nahrungs-, Heil- und Hilfsmitteln ist uns in einem evolutionsabhängigen Zusammenhang in die Wiege gelegt und der Gebrauch von Pflanzenarten steht in einem allzeitlichen Schöpfungszusammenhang, will der Mensch nicht zu einem kreatürlichen Wesen verkommen, welches sich in Hinkunft aus Labornahrung und in hoher Abhängigkeit von Prothesen aufrechterhalten will. Der Mensch als herrschendes Wesen der Erde hat der Natur mit Respekt zu begegnen, indem er unter Einflussnahme und Impulsen die Natur kleinteilig wie einen Garten nutzt. Ernährungssicherheit kann in Hinkunft aus den bestehenden Wildpflanzen gegeben sein, wenn wir sie über die Standortbeeinflussung in verschiedenen Zusammenhängen erhalten. Diese Erhaltung eröffnet neue Möglichkeiten, daraus wieder Kulturpflanzen hervorzubringen. In Zukunft sind wir mehr denn je auf Pflanzen angewiesen, deren Gebrauch im Zuge der modernen Entwicklung der Vergessenheit anheimgefallen. Zudem sind aus vorhandenen Arten neue Nutzpflanzen zu selektieren, da bestehende Kulturarten im verarmten Genmaterial nicht mehr allen Erfordernissen der Umwelteinflüsse entsprechen werden. Der Trend zu wenigen Weltmarkt- und Weltkulturpflanzen und die immer stärkere Einengung auf einseitige Sortengene beschwören unter ausbeuterischen und die Ökologie ignorierenden Verhältnissen weltweite Ernteeinbussen herauf. Wenige und z. B. an bestimmte Umwelterfordernisse (Trockenperioden, natürliche Gegenspieler) nicht angepasste Getreide-, Mais- und Obstsorten werden aktuell um den gesamten Globus auf einer geographischen Breite angebaut. Und um durch Wetterkatastrophen verursachte Nahrungskrisen abzuwenden, werden heute von renommierten Institutionen die Gentechnik und das Fortschreiten monokultureller Wirtschaftsweisen bemüht. Wandlung und das Gewordene Die Ernährungssicherheit kann aus der langsam „gewandelten“ Natur für Nahrungszwecke garantiert sein und nicht aus der schnellen „künstlich entwickelten“. Eine postmoderne Nahrungspflanze zu züchten, die vom Punkt null aus entwickelt wurde und scheinbar allen Natureinflüssen standzuhalten vermag, dieser Wunsch bleibt ein Traum, der von einer Naturentkoppelung ausgeht. Wenn zwar für heute andere Gebrauchsbewährungen an die Nahrung gegeben sind, so ermöglicht die angeführte Übersicht ein Anschauungsma3. Wildkräuter als Nahrung

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terial einer breiten Vielfalt wildwachsender Pflanzen, wo im Grunde genommen durch Selektionszüchtung, Standortbeeinflussung und adaptierte Aufbereitungsverfahren neue Kulturpflanzen als Nahrungsquelle erschlossen werden können. Die Nutzung der in der Natur frei lebenden und an die Naturunbilden angepassten Kräuter garantiert aber allemal im Vergleich zur angebauten Natur einen höheren Sicherheitsgrad in Ernährungsfragen. Das erprobte Gebrauchswissen des Kochens kann in Zukunft wieder aufgenommen und verbessert werden. Trotzdem wäre es sinnvoll, einige dieser in Vergessenheit geratenen Arten wieder in die Zuchtabsicht zu nehmen. Der „Wandlung“ steht die „Entwicklung“ entgegen, da diese das über viele Generationen „Gewordene“ ignoriert. Die heutige Sicht von Entwicklung erklärt die Nutzung wild wachsender Nutzpflanzen als rückständig. Wert hat, was auf den Markt getragen wird und Geld einbringt. Es ist eine Selbstverständlichkeit geworden, die mittlerweile widernatürlich gewordenen Nahrungsmittel aus Geschäften zu beziehen. Durch die Abhebung von der allgemeinen Natur war auch der Umgang mit ihr als „nutzbare Allmende“ ein anderer geworden und wird das Grundrecht des Sammelns von Nahrungsmitteln in der freien Natur abgegraben. Pflanzennutzung enthält die Geschichte der Generationenarbeit Bevor die Kulturpflanzen in unseren Breiten Eingang fanden, nutzte man die Wildpflanzen, die bis heute von 70- bis 90jährigen Menschen zwar im Umfang reduziert, aber immer noch einer Verwendung unterliegen. Kulturpflanzen entstanden in Generationenarbeit aus der Wildpflanzennutzung. Aus der Sortierung ertragreicher, mild schmeckender und verdaubarer Arten und ihrer Vermehrung kamen ausgewählte Selektionen und später durchgeführte Kreuzungszüchtungen zum Anbau. Aus den Beobachtungen des Wuchsverhaltens schloss man auf die Voraussetzungen und Maßnahmen der Standortbeeinflussung. Durch Vermehrung der Selektionen und über Generationen investierter Arbeit haben sich ertragreiche Sorten entwickelt. Wenn wir die Zusammenhänge der fördernden Standortbeeinflussung zur Förderung der Erträge, der richtigen Ernte, der Umwandlung bedenklicher Inhaltsstoffe z. B. durch Hitzeeinwirkung verstehen lernen und Möglichkeiten der Konservierung und Bevorratung erforschen, so können Wildpflanzen in Anpassung an andere Zeiten neue Nahrungsmöglichkeiten eröffnen. Und heutige technische Errungenschaften zur Gewinnung und Aufbereitung von Nahrungspflanzen ermöglichen neue Gebrauchsqualitäten bei der Verwendung von Arten. Im Laufe der Geschichte wurden ehemalige Wildobst- und Wildgemüsearten von Kulturarten verdrängt. Wie wichtig es auch für die europäische Kultur war, aber es kann nicht darüber hinweggesehen werden, dass durch die Einführung des Getreides, verschiedener Gemüsearten und der Kartoffel ursprüngliche Arten von Getreide, Salaten sowie allgemeine und Wurzel- und Knollengemüse-Arten verdrängt wurden. Unsere Nahrung aus Getreide, inhaltsstoffarmem Gemüse und Obst, Fleisch und Milch kann die Wirkstoffe der Wildgemüsearten wie z. B. Spitzwegerich, Schafgarbe, Johanniskraut, Enzian, Wermut, Waldmeister, Bingelkraut, Wolfstrapp, Ferkelkraut, Odermennig, Eisenkraut etc. nicht ersetzen und diese sind nicht in den Lebensmittelgeschäften käuflich erwerbbar.

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Bäuerliches Wirtschaften erhält eine Vielfalt – agrarindustrielle Landwirtschaft nicht Sammelerträge und das Vorhandensein einer hohen Artenvielfalt in den Bewirtschaftungsflächen sind wichtig, damit die Leute und das Vieh gesund bleiben, und die Kraft der Kräuter selbst z. B. über die Milch gute Käsequalitäten bestimmt. Je artenreicher u.a. die Wiesen und Weiden sind, umso höher sind die Tierfruchtbarkeit und umso geringer die Tierarztkosten. Je intensiver und einheitlicher die Landschaftsteile bewirtschaftet werden, umso nivellierter sind die Standortbedingungen und umso geringer die Artenvielfalt und das mengenmäßige Vorkommen der genannten Gebrauchspflanzen. Die Nahrhaftigkeit unserer Landschaften (s. Machatschek, M. 1999/2007 u. 2004) bestimmt sich aus den gesellschaftlichen Einflüssen, mit welcher Werthaltung wir der Natur begegnen und denen die Landbewirtschafter unterliegen. Auf den zu intensiv genutzten Landschaftsteilen und auf den Verbrachungsflächen finden sich nur mehr spärlich nutzbare Pflanzenarten bzw. gehen wichtige Genressourcen an Wildpflanzen verloren. Die Menschen haben aus der Sammeltätigkeit und der Naturbeobachtung die wesentlichen Ableitungen des Überlebens entwickelt und in der Kultivierung der Nutzpflanzen manifestiert. Aus dem Zutun und Einwirken auf das natürliche Umfeld des Menschen erfuhr seit dem Neolithikum die Vielfalt der Wildpflanzen in der Kulturlandschaft eine starke Zunahme. Durch die Kulturarbeit erfahren viele Nutzpflanzen auf den Standorten ihres Vorkommens eine Förderung und Stabilisierung, z. B. auf den Weiden, Wiesen und in den Wäldern. Hierbei waren Sonderstandorte, welche sich aus Naturereignissen wie flächiger Windbruch und Waldverlichtung, Vermurungen, Hochwässer etc. ergaben, Vorbilder für Impulse des Nachahmens. Die anthropogen beeinflusste und entstandene Vielfalt wusste der Mensch bei stark wechselnden Ertragsmengen zum Überleben auszunützen. Mit dem Sesshaftwerden entstand eine stärkere Standortsbeeinflussung, Fokussierung und Spezialisierung auf weniger Arten. Mit der jährlich wiederkehrenden Inkulturation und somit Selektion der Arten entstanden ertragreichere Anbauarten und in Verlängerung die Lebensmittelaufbereitung und die Vorratswirtschaft. Die zunehmende Verbrachung reduziert die Artenvielfalt gravierend Flächen, welche aus der Nutzung genommen werden, zeigen über mehrere Jahre Verbrachungsphänomene, wodurch die Standorte einer Dynamik ausgesetzt sind, so dass die Artenvielfalt stark zurückgeht. Manche Arten kommen zur Dominanz und viele werden durch die Unterdrückung verdrängt. Betroffen sind davon auch viele Nutzkräuter an Böschungen, Säumen von Hecken und Waldrändern, Weiden- und Wiesenrändern sowie im Gebirge große Flächen von Steilweiden, Alm- bzw. Alpweiden und Bergmähder. Mit der Reduktion der Artenvielfalt gehen die Nutzungsmöglichkeiten verloren und mit dem Aussetzen des Gebrauchs durch Sammlungen auch die Übertragung des Wissens der nutzbaren Artenvielfalt. Und von der schwindenden Pflanzenvielfalt als Nahrungsquelle und Lebensraum ist im vollen Ausmaß auch die Tierökologie betroffen. Die ständige Züchtung weiterer Kulturpflanzen aus den wilden Freundinnen ist keine Traumvorstellung, sondern in Anpassung an veränderte Klimabedingungen und der Welt3. Wildkräuter als Nahrung

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ernährungssituation ein Grunderfordernis des menschlichen Daseins. Um bei steigender Bevölkerungszahl und sich ändernden Klimaverhältnissen in Zukunft das Überleben zu sichern, sind wir nicht nur von der Vielfalt natürlich wachsender Arten abhängig, sondern vielmehr von den in Kleinrassen enthaltenen Genressourcen, welche den Spielraum sich verändernder Verhältnisse vor allem lokal bergen. Dies ist im Besonderen bei den langlebigen Gehölzen von wesentlicher Bedeutung, wenn sie als Pflanzendecke z. B. im Gebirgsraum eine Schutzfunktion zu erfüllen haben. Deshalb ist die Beschäftigung des urgeschichtlichen Nachlasses vergangener Nutzpflanzen wesentlich, um eine Basis (Wissen über Selektionszüchtung, Kultivierung, Verwendungsgebräuche etc.) für die zukünftige Pflanzennahrung und -gebräuche zu schaffen. Nutzbare Wildkrautarten sind verdrängbar und ausrottbar, aber die Hungersnöte nicht Wenn bei Ernteausfällen die Verunkrautung der Äcker stark zunimmt, sollen dann die Leute verhungern, nur weil sie nicht mehr über das Wissen um diese wild wachsenden Beikräuter verfügen? Das gab es z. B. bereits im 14. und 16. Jh. in England, im 18. Jh. in Frankreich und im 19. Jh. in Russland. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass die Menschen in Zeiten der Not die Kenntnisse um die Wildpflanzen-Nahrung wieder auffrischen und zu bereits vergangenen Kulturen zurückkehren. Die Gebrauchsgeschichten können in prekären Situationen nicht binnen weniger Tage vermittelt werden. Heute ist das Licht auf die alten Nutzpflanzen zu werfen, um für die Zukunft geeignete Kulturpflanzen aufzubauen. Vergleicht man die Artenvielfalt der heute verwendeten Gemüse- und Obstarten mit der Artenzahl wild wachsender Nutzpflanzen, so ist es geradezu erbärmlich, wie verarmt unsere heutige Kultur geworden ist. Das Basiswissen weiterzugeben und auch den Mut zu haben, neue Nutzpflanzen zu entwickeln oder aus anderen Regionen einzuführen, gehörte auch zur Tradition, und die Schwärmerei für neue Arten ist vielmehr instinktives Verhalten, das Überleben zu sichern, als eine Freizeitbeschäftigung. Deshalb benötigen wir einen hohen Artenreichtum sowohl bei den Kulturarten der hochzivilisierten Landbewirtschaftung, bei den Pflanzen des unsicheren Anbaus, den wild sammelbaren Arten, aber auch von den nicht der Nutzung unterzogenen Arten.

Literaturangaben

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Machatschek, M. – 2004: Nahrhafte Landschaft Band 2 - Mädesüß, Austernpilz, Bärlauch, Gundelrebe, Meisterwurz, Schneerose, Walnuss, Zirbe und andere wiederentdeckte Nutz- und Heilpflanzen. Böhlau Verlag. Wien, Köln, Weimar. S. 308. Machatschek, M. – 2004: Nelkenwurz – Die Wurzel des Echten Nelkenwurzes (Geum urbanum) vorbeugend gegen Schlaganfall. In: Der Österreichische Kleingärtner. Nr.: 6/04: 8–11. Wien. Machatschek, M. – 2006: Vom Baumblut oder Baumwasser – über die Gewinnung von Süßstoffen. In: Der Österreichische Kleingärtner. Teil 1 Nr.: 3/06: 50–52, und Teil 2 Nr.: 4/06: 52–54. Wien. Machatschek, M. – 2008: Der Ökolandbau kappt seine Wurzeln. In: politische ökologie, Nr. 110: 66–67. München. Madaus, G. – 1938: Lehrbuch der Biologischen Heilmittel. Bd. 1, 2 u. 3. Leipzig. Marzell, H. – 1924: Heil- und Nutzpflanzen der Heimat. Reutlingen. Maurizio, A. – 1927: Die Geschichte unserer Pflanzennahrung. Berlin. Maurizio, A. – 1940: Pflanzennahrung in Zeiten der Missernte und des Krieges. In: Mitt. aus dem Gebiete der Lebensmitteluntersuchung und Hygiene. Bd. 31: 12–38. Bern. Mességué, M. – 1976: Das Mességué-Heilkräuter-Lexikon. Wien, München, Zürich. Pohanka, A. – 1987: „Ich nehm’ die Blüten und Stengel ...“ – Kräutlerin am Schlingermarkt. Wien, Köln, Weimar. Pahlow, M. – 1993: Das große Buch der Heilpflanzen. München. Roth, L., Daunderer, M. u. K. Kormann – 1994: Giftpflanzen – Pflanzengifte. Giftpflanzen von A–Z, Notfallhilfe, Allergische und phototoxische Reaktionen. Landsberg/ Lech. Rothmaler, W. – 1988: Exkursionsflora. Bildband 3. Berlin. Sahlins, M. – 1978: Ökonomie der Fülle. Die Subsistenzwirtschaft der Jäger und Sammler. In: Technologie und Politik 12: 154–204. Reinbek/Hamburg. Scheibenpflug, H. – 2000: Ernte am Wegrand. In: Cooperative Landschaft Nr. 5: 46– 103. Wien. Schlosser, S., Reichhoff, L. u. P. Hanelt – 1991: Wildpflanzen Mitteleuropas – Nutzung und Schutz. Deutscher Landwirtschaftsverlag. Berlin. Schönfeld, M. – 1895: Waldplatterbse – Lathyrus silvestris. Ihr Anbau und ihr Wert als landwirtschaftliche Kulturpflanze. Diss. Universität Leipzig. Schramayr, G. – 2009: mündl. zu Wassernuss, Kornelkirsche bzw. Dirndl und andere Arten. Grünz. Willfort, R. – 1959: Das große Handbuch der Heilkräuter. Linz.

3. Wildkräuter als Nahrung

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4. Über die Vielfalt der Wildobst- und Gehölznutzungen Beispiele des Nahrungserwerbs im mitteleuropäischen Raum Michael Machatschek

Eine jede Wildobstart besitzt ihren eigenen Gehalt an Geschmacks-, Duft-, Nähr- und Heilwirkstoffen. Neben der sättigenden ist den Früchten eine kräftigende und heilwirksame Bedeutung beizumessen. Aus vielen wilden Beeren und Früchten lassen sich verschiedenste Variationen von Marmeladen, verdauungsförderndes Mus (z. B. Schlehdorn, Kreuzdorn), Pasten und „Fruchtkäse“ (Quitten), Sülze (Holunder, Heidelbeere, Brombeere), Powidl und Latwerg (auch mit Kräutern kombiniert), Gelee und Geliermittel (unreife Äpfel, Birnen, Quitten, Weißdorn), Kompotte, Tunken, Obstsuppen, Süßigkeiten, Kandier-, Kuchenbeleg- und Tortenverzierobst (Kartoffel-Rose), Dörrobst, Kletzenbzw. Früchtebrot, Birn- und Apfelmehl als Süßmittel, Mehl, Backmehl, Brotstreckmehl (frische und geröstete Früchte und deren Kerne), Kaffee (Weißdorn, Eberesche, Rot- und Gelb-Hartriegel, Traubenkirsche, Johannisbrotbaum, Weinrebe, vor allem aber Eiche, Edelkastanie, Rotbuche) sowie Saft, Sirup, Süßmost, Most, Essig, Wein, Bier (Eicheln), Tee- und Heilmittel, Schnäpse und Liköre etc. bereiten. Weiters nutzt man anfallende Kerne für die warm haltenden Kernkissen (Kirsche, Schlehdorn), nussartige Früchte sowie Nuss- (Buchecker, Linde, Hasel, …) und anderes Wildobst für Kernöl (Stein- und Kernobst, Hagebutte, Weinrebe). Andererseits diente Wildobst in Mischung dem Strecken und Schmackhaftmachen der einfachen Kost. Neben der süßen Verwendungsweise gibt es auch eine saure, denn verschiedenes Wildobst eignet sich hervorragend zum Einlegen in Salzwasser, gesüßtem Salzwasser oder Essig und für die milchsaure Vergärung. Aus den Hagebutten der Heckenrose lässt sich z. B. Ketchup zubereiten. Pressrückstände bei der Marmeladebereitung können im oder auf dem Herd auf Platten getrocknet werden. Sie eignen sich für Früchteteemischungen. Verschiedene Kerne wurden angeröstet und dienten als Kaffeemittel oder als Mehl zum Dazumischen in die Breinahrung. Dies machte man z. B. mit den anfallenden Kernen der Weißdornarten, Mehlbeeren und der Hagebutten. Alle Kerne der Stein- und Kernobstarten wurden durchgängig für die Ölpressung genutzt.

1. Nutzung der Wildfrüchte Von den wohl am meisten genutzten Wildobstarten sind folgende anzuführen, die sich im Vorkommen ohne das Zutun des Menschen annähernd dauerhaft auf Standorten konsolidierten: Gewöhnlicher Schneeball, Gewöhnliche Traubenkirsche, Schwarzer Holunder, Vogelbeere, Vogelkirsche, Moos- und Rauschbeere, Kratz- oder Auen-Brombee4. Wildobst- und Gehölznutzungen

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re, Eichen, Rotbuche, Linde, Haselnuss … Andere heute weiter verbreitete Arten fanden erst durch die Beeinflussung der Landschaft aus den Kultivierungs- und zeitweiligen Brachemomenten Gebrauch. Im Folgenden sind die wesentlichsten Arten angeführt: Die Heckenrosen (Rosa canina, R. rugosa, R. rubiginosa, R. pendulina u.v.a.) Entgegen der landläufigen Meinung sind nicht die Zitronen oder Orangen unsere wichtigsten, lokalen Vitamin-C-Lieferanten. Hagebutten sind bis zu 24mal oder Schwarze Johannisbeere viermal oder Sanddorn zweimal reicher an Vitamin C. Verarbeitet werden die Früchte zu Tunken, Kompotten, Salaten, Pasten, Eis, Suppen und Süßmost, Essig und Wein. Aus getrockneten Früchten bereitete man früher Suppen. Und aus den Kernen Tee, der besonders der Nieren- und Verdauungstätigkeit förderlich und blasenreinigend ist. Das Buttenmark, kalt gerührt, enthält sehr viele Vitamine und sollte regelmäßig im Winter verspeist werden. Folgende weitere Wildrosen-Arten der Fruchtnutzung seien genannt: Rosa abietina, R. agrestis, R. arvensis, R. caesia, R. corymbifera, R. dumalis, R. elliptica, R. gallica, R. glauca, R. indora, R. jundzillii, R. majalis, R. micrantha, R. mollis, R. montana, R. obtusifolia, R. pimpinellifolia, R. rhaetica, R. sherardii, R. stylosa, R. subcanina, R. subcollina, R. tomentella, R. tomentosa, R. villosa, R. vosagiaca. Von mehreren Arten verwendete man die Blüten für Rauchtabak und Tee, junge Triebe, Blütenknospen und Blätter als Gemüse. Die Berberitze (Berberis vulgaris) Die Beeren und Blätter werden für Teemischungen getrocknet. Wegen den sauren Früchten wird der Strauch als „Sauer-“ oder „Essigdorn“ bezeichnet. Beeren verwendet man in Mischungen von Marmelade, Gelees und für die Saftbereitung. Zum Mischen geeignet sind: Apfel, Kürbis, Mehlbeeren, Mispel und Birne. Der sehr vitaminreiche Saft dient auch zum Verstärken anderer Säfte und einfacher Obstsuppen aus Äpfeln. Essig, Branntwein und Limonaden wurden ebenfalls hergestellt. Rinde und Wurzel dienten der Krebsheilung. Die Gewöhnliche Mahonie (Mahonia aquifolium) Der aus Nordamerika eingeführte Strauch besitzt stechpalmenartige Blätter und diente zur Bereitung von (Misch-)Marmeladen, Gelee, Kompott, Wein, Most, Essig und die Zitrone ersetzenden Saft. In der ehemaligen Sowjetunion brannte man daraus Schnaps. Der Schwarze und Weiße Maulbeerbaum (Morus nigra, M. alba und M. rubra) Die „Sammelbeerenfrucht“ schmeckt süß. Man vermischte sie gerne zum Rohverzehr mit weniger süßen Früchten. Auch getrocknet haben sie einen sehr süßen Geschmack. Sie können zu Sirup, Saft, Kompott oder Marmelade bereitet werden. Im Kaukasus macht man daraus Essig und Wein. Dort wird mit Schwarzer Maulbeere Saft und Wein farblich aufgewertet. Das milde Laub dient der Ernährung von Mensch und Tier.

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Die Frucht- und Auen-Brombeere (Rubus fruticosus, R. caesius) und Unterarten Die glänzend-schwarzen (R. fruticosus und Unterarten) und schwarzblau bereiften Früchte (Kratzbeere = R. caesius) wurden meist roh verzehrt oder direkt für Backwaren verwendet. Diese Wildfrucht kommt wegen der geringen Haltbarkeit äußerst selten auf den Märkten in Umlauf. Sie ist für Marmelade, Gelee, Likör, Mischschnäpse, Essig, Mischgetränke und für die Weinbereitung geeignet. Die stark Vitamin-A-hältigen Früchte oder ihr frisch gepresster Saft wirken schweiß- und harntreibend, schleimlösend und schlafberuhigend. Sie enthalten viel Eisen und Kalk. Eine bereitete Tinktur dient der Stärkung des Magens. Weitere als Wildobst genutzte Arten sind erwähnenswert: Samt- (R. vestitus), Raspel- (R. radula), Aufrechte (R. nessensis), Furchen- (R. sulcatus), Bertram- (R. bertramii), Vest- (R. constrictus), Adern- (R. venosus), Schlank- (R. gracilis), Großblatt(R. macrophyllus), Weißblüten- (R. albiflorus), Zweifarben- (R. bifrons), Ulmenblatt- (R. ulmifolius), Hoch- (R. elatior), Weinberg- (R. praecox), Graz- (R. graecensis) und WeizBrombeere (R. conterminus). Die Himbeere (Rubus idaeus) Kalt gerührte mit Zucker gesüßte Marmelade kann man ungekocht tiefkühlen. Sie schmeckt besser als gekochte. Nach dem Auftauen soll sie schnell verbraucht werden. Auch Himbeer-Sirup und Gelee wurde daraus hergestellt. Der Saft von Him- und Brombeeren ist ein sehr wirksames Mittel zur Senkung des Fiebers. Sirup kommt bei Rheuma, Darm- und Magenbeschwerden zur Anwendung, Himbeeressig gurgelt man bei Halsund Mandelentzündung. Die in Nordeuropa vorkommende Moltebeere (Rubus chamaemorus) kreuzte man zur Verbesserung des Fruchtgeschmackes in die Himbeere ein. Die Steinbeere (Rubus saxatilis) und Moltebeere (R. chamaemorus) Die im Alpenraum vertretene Felsen- oder Steinbeere (Rubus saxatilis) wird mit der in Skandinavien vorkommenden Moltebeere (R. chamaemorus) häufig verwechselt. Die himbeerrote Steinbeere ähnelt im Fruchtaufbau und Blatt bzw. Ausläufern der Brombeere stark. Sie kommt bei uns im Alpenbereich vor allem auf steinigen Schlägen und in Weidewäldern vor. Seltener taucht sie in Heiden oder Moorlandschaften auf. Auf solchen Standorten ist in Skandinavien eher die Moltebeere häufig zu finden. Die Eignung für Mischmarmeladen ist gegeben. Die Rot- und Schwarz-Johannisbeere oder Ribisel (Ribes rubrum, R. nigrum) Die Heimat der Roten Ribisel (Ribes rubrum) liegt in Nordfrankreich und Belgien und die der Schwarzen Ribisel oder Gichtbeer (R. nigrum) in Nord- und Ost-Europa. Man sammelte diese als Frischobst, zur Kompott-, Marmelade-, Saft- und Kuchenbereitung und zur Trocknung (u.a. Dörrobst und Teenutzung). Mit den Blättern der SchwarzRibisel bereitete man aromatischen Tee. Sowohl Blätter als auch Beeren dieser Art gelten als wertvolles Mittel gegen Gicht, zur Reinigung und Stärkung des Kreislaufs.

4. Wildobst- und Gehölznutzungen

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Die Alpen- und Felsen-Johannisbeere bzw. -Ribisel (Ribes alpinum, R. petraeum) Als „Wilde Ribisel“, „Auernitzen“ im Mölltal oder in Salzburg „Avaritzen“, werden beide Arten benannt. Sie schmecken im Vergleich zu den Garten-Ribisel fad und sauer, enthalten aber mehr Schleim. Die Säure kommt weniger zur Geltung als bei der RotRibisel. Die Früchte eignen sich für Marmelade-Mischungen mit Berberitze, Schlehen und Vogelbeere. Die Alpen-Ribisel kommt im kalkhaltigen Fels- und Alpinbereich sowie in frischen, felsreichen Waldschluchten und entlang schotterreicher Gebirgsbäche und die kalkmeidende Felsen-Ribisel in Wäldern und frischen Gebüschen vor. Die Stachelbeere (Ribes uva-crispa) Zur Obstnutzung kultivierte man die Kurzhaar-Stachelbeere (Ribes uva-crispa subsp. uva-crispa). Im Volksgebrauch steht auch die wild vorkommende Drüsenborsten-Stachelbeere (R. uva-crispa subsp. grossularia). Letztere ist kleiner in der Frucht und besitzt längere Drüsenborsten an der Frucht. Sowohl (Misch-)Marmelade als auch Fruchtsaft und Kompott stellt man daraus her. Die Preiselbeere (Vaccinium vitis-idaea) Wegen dem herb-säuerlichen Geschmack sind sie erst im Hochherbst roh gut genießbar. Die Marmelade ist wegen des hohen Gehalts an Benzoesäure kalt gerührt relativ lange haltbar. In schwachen Erntejahren streckt man die Konfitüre mit geschälten Birnstücken. Preiselbeer-Marmelade diente als konservierende Abdeckschicht für andere Marmeladen. Auch die im jungen Zustand geernteten Blätter nutze man für Teegetränke und fein gehackt als Würze zu verschiedenen Speisen. Die Heidel-, Schwarz- oder Blaubeere (Vaccinium myrtillus) Das „Blau-, Tau- oder Schwarzbeere“ benannte Wildobst schmeckt vom Berg und von der Sonne ausgesetzten Hängen am besten. Die begehrteste Kost aus Heidelbeeren sind bei unseren Vorfahren die „Heidelbeernocken“. Auch sind die Beeren für Milchmixgetränke, als Kuchenbelag, für Weine und Liköre sehr beliebt. Der Vitamin-C-, mineralstoff-, kalk-, natron-, gerbstoff- und fruchtsäurereiche Frischsaft findet Verwendung als heilendes Hausmittel. Bei Entzündungen des Halses oder der Mundhöhle, aber auch bei Katarrhen wird mit (frischem) Saft gegurgelt. Auch bei Darmkatarrh und Durchfall ist er verwendet worden. Verschiedene Zubereitungen aus den Beeren und Blättern wirken (Tee) blutzuckersenkend. Der hohe Kaliumgehalt tut seine wohltuende Wirkung auf Herz und Nerven. Heidelbeeren sind getrocknet oder kurze Zeit in kaltem Wasser eingeweicht ein gut lagerbares Kauobst. Die Früchte verwendete man zum Mundspülen oder für die Regulation der Darmtätigkeit. Dörrobst, gründlich gekaut oder lange gelutscht, hilft bei leichtem Stuhl und stillt Durchfall. Getrocknete Früchte sind zum Abgewöhnen des Rauchens dienlich. Den blauschwarzen Mund kann man mit Zitronensaft wieder entfärben. Auch das Ansetzen in Rotwein soll ein gutes und gesundes Verdünnungsgetränk bieten, welches erfrischt und magen- wie verdauungsanregend ist. Die Frühjahrsblätter

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dienen für Tee, die belaubten Triebe, gemeinsam mit Krenscheiben dem Most beigegeben, der Essigbereitung. Die Moor- und Alpen-Nebelbeere oder -Rauschbeere (Vaccinium uliginosum und V. gaultherioides) Die hell bereiften, säuerlich-süß schmeckenden Beeren haben ein weißes Fleisch und legen mit der Vollreife an Süße zu. Bislang konnten keine Leute ausfindig gemacht werden, die bei Genuss rauschartige Zustände oder Übelkeit bekommen hätten. Offenbar dürfte das in der Natur vergorene Obst Alkohol enthalten. Die erste Art gedeiht in Hochmooren, moorigen Wäldern und in bodensauren Zwergstrauchgesellschaften bis in die montane Zone verbreitet. Die zweite Art wächst auf sauren, steinigen und flachgründigen, zumeist windausgesetzten Standorten der Alm-Zwergstrauchheiden. Beide werden für die Saft- und Marmeladeherstellung genutzt oder anderem Obstaufbereitungen beigemischt. In manchen Gegenden werden die Blätter in Teemischungen verwendet. Die Moosbeere bzw. Klein- und Groß-Torfbeere (Vaccinium oxycoccos, V. microcarpum) Die im Moor vorkommenden verholzenden Pflanzen tragen rote, wohlschmeckende Beeren, die erst ab dem ersten Frost roh genießbar sind. Sie sehen und schmecken den Preiselbeeren ähnlich. Daraus bereitete Marmelade, Gelee oder Kompott ist im Geschmack aber viel besser. Sie eignet sich hervorragend für Mischmarmeladen, da sie gut ausgeliert. Die Arznei- und Alpen-Bärentraube (Arctostaphylos uva-ursi und A. alpinus) Die Bärentrauben-Arten kommen in den baumfreien Hochgebirgslagen wie auch in Fichtenwäldern vor. Die fad schmeckenden, intensiv rot gefärbten Beeren wurden nur gekocht einer Nutzung unterzogen: für Gelee, Marmelade, Fruchtsäfte etc. Die Krähenbeere (Empetrum nigrum) Die Beeren sind schwarz bis blau bereift und ihr Saft schmeckt säuerlich. Sie wurden für den Rohgenuss und die Marmelade-, Saft- und Geleeherstellung hauptsächlich in Skandinavien und im Alpenraum gesammelt, wo sie in Backwaren oder Obstgerichten Berücksichtigung fanden. Die Wald-, Groß- und Knack-Erdbeere (Fragaria vesca, F. moschata, F. viridis) Aus Abfallresten von Ausgrabungen ist die uralte Nutzung der wild wachsenden Erdbeere bestätigt. In den Blättern und Früchten sind relativ viel Kalk und Phosphor enthalten. Am Rande von Steinen und am Holzstock gefällter Bäume (Kahlschlag) tragen ErdbeerPflanzen wegen der abstrahlenden Wärme und Mineralisation des Rohhumus größere Früchte und sind im Geschmack wesentlich aromatischer als an gealterten Standorten z. B. entlang von Hecken. Blüten und Blätter dienten der Teenutzung, Blätter auch in Mischung für Kochspeisen. Die in unseren Breiten zugezogene oder eingeschleppte Indi4. Wildobst- und Gehölznutzungen

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sche Scheinerdbeere (Duchesnea indica) besitzt ungiftige, wässrige und fad schmeckende Früchte, die für Mischmarmelade verwendbar sind. Der Gewöhnliche bzw. Echte Schneeball (Viburnum opulus) Aus den knallroten, wässrigen Früchten des Schneeballs wurde Marmelade bereitet. Der flache, herzförmige Kern („Herzerlbeere“) wird mit einem Passiersieb entfernt. Roh verträgt man einige Beeren - in größeren Mengen können sie Vergiftungserscheinungen herbeiführen. Die Marmelade riecht etwas ranzig, da sie Butter- und Valeriansäure enthält, gilt allerdings als Antidepressivum. Auf das mit Rahmkäse oder Topfen bestrichene Brot und ins Joghurt gegeben, schmeckt sie bekömmlich. Sie eignen sich auch für Krapfen- und Buchtelfüllungen. Die Beeren verwendete man als Dörrobst, für Kompott und Gelee oder setzte sie zur Herstellung von Likör in Schnaps an. Die jungen Blätter dienten getrocknet als Rauchtabak. Der Wollige oder Filz-Schneeball (Viburnum lantana) Nachweise der Beerenverwendung bestehen aus dem oberösterreichischen, weißrussischen, rumänischen und bulgarischen Raum, wo ausgereifte bzw. schwarz gewordene Beeren zum Lutschen genutzt wurden. In Bayern steckte man die ausgewachsenen Früchte in den Heu- oder Strohstock der Scheunen, um sie durch Nachreifen unbedenklich werden zu lassen. Die schrumpelig und patzig gewordenen Früchte nannte man dort „Dreckbeere“. Die Wildobstart dürfte früher vermutlich regelmäßig einer Nutzung unterzogen worden sein. Der Schwarze und Rote Holunder bzw. Holler (Sambucus nigra und S. racemosa) „Vor dem Holler sollst du den Hut ziehen“, „der Holunder ersetze den Hausarzt“, besagen alte Sprüche über den Allheilstrauch. Vor allem die Beeren des Schwarzhollers wirken gegen Rheuma und Stoffwechselkrankheiten, dienen zur Beruhigung des Magens und fördern die Nierentätigkeit. Sie werden auch auf Wunden aufgelegt und wirken wie Zugsalben. Die Blüten gelten als schweißtreibend, ebenso wie die aus Blütenknospen und unreifen Früchten zubereiteten Kapern. Der Holunder wurde deshalb kultiviert und gegebenenfalls sogar als Baum gezogen. Die saftigen Frühjahrstriebe wurden einst gekocht und mariniert als Speise oder Beilage verzehrt. Einige rohe Beeren des Roten und Schwarzen Hollers können nach dem Verzehr zum Erbrechen führen. Die Holunderbeeren zu Mus, Marmelade oder Hollerkoch gekocht (als „Hollersuppe“ bekannt), wirken blutreinigend und blutbildend. Die Beeren werden dampfentsaftet und sind für durstlöschende Mischgetränke geeignet. Aus den Kernen des Rot-Hollers kann Speiseöl oder ein sehr wertvolles Heilöl gewonnen werden. Aus Rotem Holler wurde ein kalt gepresster, sehr herber Saft hergestellt, der als Schwitzmittel gegen Halsweh und Grippe half. Häufig wurden die Früchte mit bestimmten Apfel-, Melonen-, Kürbissorten oder Preiselbeeren unter Beigabe bestimmter Gewürze oder der Saft, mit Apfelsaft 1:1 gemischt und mit Zucker aufgekocht, eingedickt. Aus dem Rohsaft lässt sich auch Süßmost, Wein und Branntwein herstellen. Ein Hollersüßmost kann

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mit Süßmost von Apfel und Quitte zu gleichen Teilen gemischt werden. Die Blüten, etwa in Wein angesetzt, bewirken eine würzige Weinkomponente. Derart bereitet man in Südfrankreich Wein bzw. verfeinert den Weinessig. Beeren werden getrocknet für den Winter aufbewahrt. Die reifen Beeren des Schwarzen Holunders verwendete man zum Färben des Weines und in der Textil-Färberei. Die Beeren vom Attich oder Zwerg-Holunder (Sambucus ebulus) dienten vornehmlich zu Heilzwecken oder zum Untermischen in Marmeladen. Roh gelten sie als giftig. Sie wurden nur in gekochter Form genossen und dienten getrocknet als schweißtreibendes, abführendes Mittel. Den Fruchtsaft zog man zum Schwarzfärben der Haare und von Leder und Stoffen heran. Die Blasenkirsche, Judenkirsche oder Lampionblume (Physalis alkekengi) Die Lampionblume wurde ähnlich wie später die „Peru-Beere“ als Nutzpflanze aus Amerika eingeführt und ist teilweise auf nährstoffreichen Standorten verwildert anzutreffen. Zu Herstellung von Marmelade werden ca. 80–90 % Apfel, Birne oder Kürbis als Basis verwendet. Diese bekommt einen süßbitteren Geschmack. Die Beeren wurden einst zum Färben von Weinen, getrocknet als Skorbutmittel und in Schnaps eingelegt für Aperitife zur Appetitanregung verwendet. Der Sanddorn (Hippophae rhamnoides) Innerhalb dieser Art bestehen in Wuchsform, Fruchtfarbe und -form und seitens der Standortansprüche unterschiedliche Unterarten und Zuchtsorten. Auch ohne Fröste werden die festen, herbsauren, Vitamin-C-reichen Scheinbeeren saftig und genießbar. Um Ernteverluste zu vermeiden, können zum Absammeln der Saft gebenden Beeren eingekürzte Zweige in einer Schachtel eingefroren werden. Aus ihnen wird eine intensiv schmeckende Marmelade – empfehlenswert mit Hokkaido-Kürbis gemischt – bereitet. Neben Saft lässt sich Süßmost, Mus, Gelee, Kompott, Likör und Fruchtpaste zubereiten und sie geben Fischtunken eine Würze. Die abwehrsteigernde Wirkung bei Erkältungen ist bekannt. Der Wacholder (Juniperus communis) Die Beerenausreifung dauert zwei bis drei Jahre. In den schwarzen, bereiften Beeren finden sich ätherische Öle, ferner Bitter- und Gerbstoffe, Kalium, Kalzium, Mangan und Harze, die allgemein den Stoffwechsel anregen. Die relativ harten ‚Beeren‘ enthalten mehrere Kerne. Gekaut schmecken die Beeren harzig. Sie helfen auch mitgekocht gegen Grippe, bei Magenschwäche und Leberleiden und wirken blut- und magenreinigend, appetitanregend, schweißtreibend und nervenstärkend und fördern die Schweiß- und Urinabsonderung. Ein Absud wurde bei Nieren-, Gicht-, Rheumaleiden und bei Wassersucht getrunken. Als Mus und Saft angerichtet, kann der Wacholder haltbar gemacht werden. Das Mus wurde als Zusatz in Bädern verwendet. Beeren dienten als Würzmittel für Wild- und Wildfälschungsgerichte, für Hammel-, Rind- und Schweinebraten, für Sauerkraut und andere saure Gemüsebereitungen. Wegen der Übersäuerung der Blase 4. Wildobst- und Gehölznutzungen

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und zum Vertreiben der Blähungen würzte man damit das Sauerkraut. Man nutzte sie zur Herstellung von Gin, Likör, Branntwein und Essig. Indem die frischen Beeren in einem Zuckersirup mehrere Tage eingelegt, gekocht und anschließend abgesiebt werden, entsteht ein Sirup, den man als Honigersatz oder Arznei gegen Kopfschmerzen und Asthma verwendet. Eine vorsichtige Anwendung bei auftretenden Entzündungen bei verschiedenen Organen ist empfohlen. Aus den jungen, frischen Sprossen kann man Salat oder eine Gemüsebeilage machen. Die Felsenbirne (Amelanchier ovalis) Die kleinen, schwarzblauen Früchte reifen bereits im frühen Sommer aus und werden für Suppe, Kompott, Gelee, Mus, Süßmost, Kuchen und Marmelade verwendet. In der Regel haben sie einen süßlichen Geschmack. Wenn sie fad schmecken, mischt man sie mit anderem Obst. Sie werden getrocknet als Rosinen verwendet. Die Holz- und Schnee-Birne (Pyrus pyraster, P. nivalis) Die Früchte der Holz- und Schnee-Birne werden roh verzehrt, wenn sie vom Baum gefallen und teigig geworden sind. Sie enthalten meistens Nester von Steinzellen. Man presst aus den Früchten einen Saft und kocht diesen zu einem Zuckermittel ein. Erntet man sie im unreifen Zustand, so kann man aus ihnen durch Maischwerdung einen Most herstellen. Aus den Kernen gewann man das Birn-Öl. Aus etwa 100 kg Kerne können etwa 12 Liter Speiseöl gewonnen werden. Die Blausäure enthaltenden Blätter gebrauchte man zum Entwurmen bei Mensch und Tier. Ebenso nutzte man die eingeführten Arten (P. spinosa, P. magyarica). In den Holzbirnen ist ein unsäglich großer Formenreichtum an Genressourcen enthalten, aus denen nach wie vor neue Selektionslinien züchtbar wären. In Kärntner Tälern wird heute noch aus Kleinsorten gedörrter Birnen das Birnmehl als Mittel zum Speisensüßen verwendet (s. Machatschek, M. 2008). Der Holz- oder Wild-Apfel (Malus sylvestris) Die Früchte dienten der Most- und Essigbereitung. Zur Gewinnung von Süßstoffen entsaftete man die gut ausgereiften Früchte und dampfte den Saft zu einem Sirup oder einer Paste ein. Auch die ölreichen Kerne wurden für Speisezwecke genutzt. Neben der Fruchtnutzung ist auch die Blattnutzung der (Kultur-)Apfelarten durch Abkochung für Brei erwähnenswert. Als alte Kulturrassen gelten Malus dasyphylla und M. pumila. Quitte, Scheinquitten (Cydonia oblonga, Chaenomeles speciosa, Ch. japonica) Nach Einführung aus Zentralasien und Arabien in unsere Breiten wurde die Quitte für den Erhalt von Speise- und Geliermittel genutzt, die Scheinquitten hingegen wurden als Ziergehölze aus China, Burma oder Japan eingeführt. Aus diesen Arten können Geliermittel und, mit anderem Obst gemischt, Säfte, Schnäpse und Liköre hergestellt werden. Die Echte Mispel (Mespilus germanica) Die braunen, kernhaltigen Früchte können bis 7cm im Durchmesser haben und reifen

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Ende Oktober aus. Nach der Lagerung auf Laub oder Stroh werden sie reif und dienen dem Rohverzehr. Wegen des Gerbstoffgehaltes wurden sie bei der Mostbereitung unreif beigegeben, damit sie feine Schwebstoffe chemisch banden und den Most klarer werden ließen. Der Most wurde dadurch länger haltbar. Aus teigigen, pektinreichen Früchten erzeugte man Süßigkeiten, Sirup, Gelees, Kompotte und Marmeladen in Mischungen (mit Heidelbeere, Apfel, Birne, Eberesche, Heckenrose, Berberitze, Mahonie). Der Einkern- und Zweikern-Weißdorn (Crataegus monogyna und C. laevigata) Saft und Gelee aus den Früchten hergestellt, hat eine heilwirksame Bedeutung auf Kreislauf, Atmung und Herz. Diese „Mehlbeeren“ wirken gekaut stärkend auf das Herz, beruhigend bei Herzklopfen und -krämpfen und sie sind auch gegen Arteriosklerose als vorbeugendes Mittel bekannt. Liköre, Marmelade oder Kompotte – mit anderen Früchten gemischt –, werden daraus bereitet. Sie gelieren ausgezeichnet. Die anfallenden Kerne wurden einst getrocknet und für Kaffee geröstet oder wie auch die Früchte für Schweine und Hühner als Futter gesammelt. Pulverisiert können sie im Brot mitgebacken werden. Junge Blätter dienten für Salate und als Spinatgemüse. Ähnliches gilt für den Krummkelch- und Großfrucht-Weißdorn (C. rhipidophylla, C. x macrocarpa), die bastardisierenden Weißdorn-Arten, wobei aus den großfrüchtigen Zierformen aufgrund des größeren Fruchtfleisches bekömmlichere Marmeladen und Gelees wie auch Geliermittel herstellbar sind. Die Vogelbeere oder Eberesche (Sorbus aucuparia) Sie wird im Volksmund „Quitsche“ oder „Quitschbeerbaum“ genannt und wegen dem Gehalt an Vitamin C häufig als Mittel gegen Skorbut eingesetzt. Nach der Ernte sollte man das rot leuchtende Obst zum Nachreifen auflegen. Dabei werden Bitterstoffe umgewandelt. Wilde und kleine Sorten weisen einen höheren Gehalt an Blausäure und Bitterstoffen auf. Sie werden deswegen in Wasser oder leichtem Essigwasser bis über 24 Stunden eingelegt oder gekocht und dann gut ausgewaschen verwendet. Die enthaltene Wein-, Apfel- und Zitronensäure sind gegen Nierensteine und Harnbeschwerden wirksam. Wegen diesem hohen Säuregehalt mischte man sie zum Haltbarmachen anderer Marmeladen bei. Früher wurden die Vogelbeeren als Zitronenersatz verwendet. Die Beeren sind gut gelierfähig und eignen sich für Gelee, Sirup und Marmeladen zur Mischung mit Himbeere, Birne, Apfel, Melone, Ribisel oder mit Rübe. Die Rückstände bei der Musbereitung wurden in Wasser zur Herstellung von Essig und Schnaps angesetzt. Aus gerösteten und gemahlenen Vogelbeeren backte man ein schmackhaftes Brot. Einst wurden sie geröstet und anschließend für Kaffee vermahlen. Die Beeren, als Mus eingekocht, werden als Mittel gegen Husten und Heiserkeit genossen, auch sollen sie eine blutreinigende und magenstärkende Wirkung haben. Das Mus wird gegen Gicht, Rheuma und bei Durchfall eingesetzt. Schon wenige frische Früchte bestimmter Sorten können als Abführmittel bzw. bei Harnverhaltung wirken. Deshalb können sie in Abführ- und Blasentees vorkommen. Abkochungen verwendete man bei Lungenseuchen der Rinder. Getrocknete Vogelbeeren, Pressrückstände und Blätter verwendete man als wurmabtreibende Mittel für Hühner, Rinder, Esel, Ziegen und Schafe. 4. Wildobst- und Gehölznutzungen

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Der Mehlbeerbaum und die Schweden-Mehlbeere (Sorbus aria, S. intermedia) Gewöhnlich wird das Obst mit zunehmender Reife und spätestens nach dem ersten Frost mürbe und weich. Die mehligen Früchte, dann geerntet, schmecken roh genossen fad, gekocht als Brei wirken sie süß. Man machte daraus Säfte, Schnäpse, Kompotte, Marmeladen und Gelees, Backzusatz und eingeweicht Vogelfutter. Getrocknet sind sie schmackhaft süß und wurden in der Volksmedizin bei Husten, Durchfall und Katarrh eingesetzt. Auf einer Platte eingeliert, wurden damit Bonbons gemacht. In derselben Weise verarbeitete man die Breitblatt-Mehlbeere (S. latifolia), Vogesen-, Österreich- und Karparten-Mehlbeere (S. mougeotti, S. austriaca, S. carpartica) sowie die Donau-, Griechenland- und Sudeten-Mehlbeere (S. danubialis, S. graeca, S. sudetica). Der Elsbeerbaum (Sorbus torminalis) Nur die weich gewordenen Früchte eignen sich nach der Reife zur Marmeladebereitung. Man kann sie aber auch roh essen, dörren oder Gelee, Kompott und Marmelade daraus herstellen. Wegen der Verwendung der schmackhaften Dörrfrüchte bei Durchfall wurde sie früher auch „Ruhrbeere“ genannt. Der Name „torminalis“ gibt einen Hinweis auf die Verwendung „gegen Kolik“. Der Speierling (Sorbus domestica) Die mürben, gerbstoffreichen Inhaltsstoffe der Früchte des Speierlings ziehen einem den Mund zusammen und machen die Mundschleimhaut rauh. Sie sind erst nach der Frost­ einwirkung genießbar oder nach längerer Lagerung, wenn sie braun und teigig geworden sind. Da die Kerne Blausäure enthalten, soll man sie ausspucken. Wegen der zusammenziehenden und stopfenden Wirkung verwendete man sie getrocknet als pulverisiertes Hausmittel bei Durchfällen und bei Magenleiden. Die Früchte wurden in unreifem Zustand dem Apfelmost zur Verbesserung von Geschmack und der längeren Haltbarkeit zugemischt. Heute wissen nur mehr wenige Bauern, dass man zur Verbesserung, zur Trübstoffabscheidung und Haltbarmachung von Most aus schlechtem oder weniger gut geeignetem Obst diese Frucht in geringen Mengen zumischte. Speierling-Süßmost und Schnäpse sind wieder begehrte und teuere Waren. Die Zwerg-Mehlbeere (Sorbus chamaemespilus) Der kleinwüchsige Strauch gedeiht in halbschattigen Hochgebirgslagen und lichten Wälder auf Kalkuntergrund. Die roten, fad schmeckenden, mehligen Früchte eignen sich für Mischmarmeladen. Die Stein- oder Bergmispel (Cotoneaster spec.) Die fad oder süß schmeckenden Früchte des eingesetzten Bodendeckers sind ebenso für Mischmarmelade verwendbar. Erwähnenswert sind neben den Ziersträuchern vor allem Gewöhnlich-, Filz- und die schwarzrotfruchtige Schwarz-Steinmispel (Cotoneaster integerrimus, C. tomentosus, C. melanocarpus).

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Der Feuerdorn (Pyracantha coccinea) Die orangen bis gelben Früchte des in Südosteuropa und Südwestasien natürlich vorkommenden und als Zierstrauch gezogenen, auch verwildernden Feuerdorns sind verwendbar. Wegen des unwesentlichen Aromas mischt man die Früchte mit anderem Obst für Marmelade. Die Dirndl, Kornelkirsche oder Gelb-Hartriegel (Cornus mas) Zum Einlegen in Salzwasser oder gesüßtem Essigwasser sind knapp vor der Reife stehende Steinfrüchte gut geeignet. Man kann mit Lorbeer und Fenchel würzen und die Früchte werden dann im Geschmack den Oliven sehr ähnlich, weshalb sie auch als „Olive des Nordens“ bekannt ist. Vollreife Früchte verwendete man für die herrliche Marmelade, Süßmost und Liköre. Auch aus ihnen hergestellter Schnaps ist sehr begehrt (s. bei Schramayr, Wanninger 2009). Der Rote Hartriegel (Cornus sanguinea) Der rohe Fruchtgenuss erscheint wegen Giftgehalten als bedenklich. Aus den schwarzen Früchten bereitete man Fruchtsäfte und Mischmarmelade. Aus den Samen stellte man Kaffee her. Ungesicherten Hinweisen nach sammelte man die Früchte vom Roten Hartriegel (Cornus sanguinea) für die Ölherstellung. Auch andere Cornus-Arten unterstanden der Fruchtnutzung. Der Schlehdorn oder Schwarzdorn (Prunus spinosa) Die schwarzbläulich bereiften Steinfrüchte können etwa kirschgroß werden. Mit den warmen Herbsttagen reifen sie aus und verlieren den herb-säuerlichen Geschmack. Sie werden gedörrt oder in gewässertem und gesüßtem Schnaps eingelegt. Der Likör und die leckeren Früchte können als Aperitif verwendet werden. In gezuckertem Essigwasser eingelegt bzw. auch milchsauer vergoren, nimmt man ihnen die Herbheit. Solcherart bereitete Früchte können für Rindfleisch als Beilage dienen. Schlehen lassen sich entsaften und daraus kann Schlehenwein hergestellt werden. Ein Tee aus getrockneten Früchten kann gegen Durchfall und Magenschwäche angewendet werden. Das Mus wird zur Behandlung bei Magenschwäche, Durchfall und zur Kräftigung der Stoffwechselorgane gebraucht. Die Einnahme des Gelees und des Saftes wirkt gut bei ständigem Nasenbluten und der Saft ist bei Geschwüren in der Mundhöhle als Gurgelmittel empfohlen. Die Blüten und Blätter nutze man für Teegetränke (s. bei Schramayr, Wanninger 2008). Die Haferschlehe (Prunus insititia) Diese Steinobstart sieht der Schlehe ähnlich, kann allerdings doppelt so groß werden. Die schwarzblau bereiften Früchte sind kugelrund. Lagert man sie länger auf Haferstroh, so verlieren sie den sauren Geschmack und werden angenehm süß und weich. Sie können in Essig, Zuckerwasser, Alkohol oder als Marmelade eingemacht und Schnaps kann daraus gebrannt werden. Sie benötigt relativ gut besonnte Standorte zum Gedeihen und Fruchten. In manchen Gegenden wurde sie als wilde Zwetschke bezeichnet. 4. Wildobst- und Gehölznutzungen

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Die Gewöhnliche und Späte Traubenkirsche (Prunus padus und P. serotina) Die kleinen, schwarzblauen Kirschen schmecken roh genossen bittersüß und herb. Sie drücken auf den Magen und die Verdauung. Sie weisen eine adstringierende Wirkung auf und fanden wegen des Blausäuregehalts der rohen Früchte zum Entwurmen Verwendung. Zu Saft, Mus, Gelee oder Marmeladezumischung ist diese Steinfrucht durchaus geeignet, da über das Kochen die Bitterstoffe und Blausäure vergehen. Die Auslösung der Kerne erweist sich als eine sehr mühsame Arbeit. Im Mölltal werden die Kirschen („Elschen“, „Elexen“) mit den Kernen gestampft und als Krapfenfüllung verwendet. In Russland bereitete man damit Gärgetränke und Schnaps. Aus den getrockneten Kernen erzeugte man eine Art ‚Mandelmilch‘. Aus verschiedenen Gegenden sind die Röstung der Kerne und die Beigabe des Mehls zum Kaffee bekannt. Als Kirscharoma-Ersatz verwendete man den Schnaps der Gewöhnlichen Traubenkirsche in Süßigkeiten und Schwarzwälder-Kirschtorte. Den blausäurehältigen Blättern und Beeren soll krebsabwendende und entwurmende Bedeutung zukommen. Aus den Zweigen stellte man einfache und primitiv verflochtene Zuggeräte zum Ziehen von Heu und Mist her (s. in Machatschek, M. 1998, 2007). Die Vogelkirsche (Prunus avium) In großen Mengen nutzte man diese Früchte, wie archäologische Funde belegen. Neben dem Rohgenuss kann man Saft, Wein, Schnaps und Liköre aus den Früchten zubereiten. Sie eignen sich auch hervorragend zum Trocknen, wo der Geschmack gut erhalten bleibt. Aus den ausgelösten Kernen gewann man Öl oder verwendete sie als Ersatz für Bittermandeln und für Wärmekissen. Die Stängel wurden auch zur Teebereitung genutzt. Ähnlich aber hauptsächlich für Kompott nutzte man die Formen der Weichselkirsche oder Kultur-Weichsel (P. cerasus). Die Steinweichsel oder Felsenkirsche (Prunus mahaleb) Sie benötigt felsige und lehmige Böden auf trockenen, sonnigen Stellen und ist auch auf normalen Böden anbaubar. Wenn man die Blätter reibt, strömt ein Cumaringeruch aus. Deshalb wurden Blätter und Steinkerne in der Parfümerie bzw. in der Seifenherstellung verwendet (s. Schramayr, Wanninger 2007). Aus den zermahlenen Kernen stellte man das „Mahalepi-Pulver“ her. Den herb und bitter schmeckenden Früchten sagt man häufig eine Unverwendbarkeit nach. Alles, was man mit Vogel- und Traubenkirschen machen kann, ist auch mit der Steinweichsel möglich. Besonders gut schmeckt ein Likör davon. Aus den Stock- oder Kopfloden stellte man Spazierstöcke, Spezialwerkzeuge, Zigarettenspitze für den Filter, Tabakpfeifen und Drechselwaren her (s. ebenda). Die Zwerg-Weichsel (Prunus fruticosa) Der 0,3–1 m hoch werdende Strauch bevorzugt sonnige, trockene und hagere, zumeist steinige Waldränder oder Trockenrasen der Tieflagen. Die Fruchtnutzung erfolgt wie bei den anderen Steinfrüchten. Früchte eignen sich zur Trocknung. Die Blüten verwendete man für Tee und kandierte sie für Süßspeisen und die Blätter sammelte man für Teegetränke.

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Die Alpenpflaume (Prunus brigantiaca = Armeniaca brigantiaca) Der Kleinbaum bevorzugt sonnige, trockene und hagere Höhenlagen bis 1800 m Seehöhe, z. B. in den italienischen und französischen Alpen. Aus den Samen stellte man ätherische Öle und aus den Früchten aromatische Speisen und Likör her. Der Europa-Judasbaum (Cercis siliquastrum) Im östlichen Mittelmeerraum nutzte man die Blätter des bis zu 10 m hoch werdenden Bockshörndlbaum- oder Johannisbrotbaumgewächses (Caesalpiniaceae) als Salat und die Blütenknospen als Kapernersatz. Die aufbereiteten Samen fanden Verwendung in der Ernährung ähnlich anderen Hülsenfrüchtlern. Der Johannisbrot-, Karuben- oder Karobbaum (Ceratonia siliqua) Der eigentliche „Bockshörndlbaum“ gehört ebenfalls zu den Johannisbrotbaumgewächsen und kommt wild in Vorderasien vor. Er wurde bereits vor 3000–4000 Jahren in Ägypten angebaut, ehe er in den Mittelmeerraum (Anbaugebiete sind: Spanien, Italien, Portugal, Zypern, Griechenland, Türkei und Nordafrika) eingeführt wurde, um die Früchte als Kaffeeersatz und das Kernmehl zu verarbeiten. In den braunvioletten, ledrigen, bis 25 cm lang werdenden Fruchthülsen befinden sich 10 bis 15 harte, schwarz glänzende Samen oder sogenannte „Carobkerne“, welche, zu weißlichem Pulver vermahlen, ein stark quellfähiges Verdickungsmittel ergeben. Es kommt als geschmacksneutrales, glutenfreies Bindemittel und Stabilisator in (schokoladeartigen) Süßwaren, Soßen, Suppen, Käse­ analogprodukten, Puddings, Speiseeis oder in Backhilfsmitteln und Diätprodukten zum Einsatz. Die reife, fettarme und kohlenhydratreiche Frucht, Karobe genannt, bzw. das Fruchtmark der Schoten hat im September einen süß-aromatischen, karamellähnlichen Geschmack und riecht nach längerer Lagerzeit nach Buttersäure. Sie wird roh, geröstet, gebacken oder getrocknet genossen und gemahlen zu einem kakao- bzw. kaffeeähnlichen Getränk zubereitet. Die Früchte enthalten Eisen, Kalzium und ca. 40 % Zucker, der durch Auspressen für Sirup und in Mischung mit anderem Obst für Fruchtsäfte genutzt wird. Andere Verwendungsformen sind die Verarbeitung zu Hustentees oder Vergärung, danach entsteht Branntwein, Likör und eine Art Rum. Die Johannisbrotfrüchte eignen sich zu Marmelade- und Konfektherstellung. Die übrig bleibenden Fruchthülsen dienen als Viehfutter. Der Zürgelbaum (Celtis spec.) Vom Amerikanischen und heimischen Südländischen Zürgelbaum (Celtis occidentalis und C. australis), die jeweils warme Gebiete und lichtreiche Standorte zum Gedeihen bevorzugen, kann man die süßen Früchte roh genießen. Die Ausbeute ist gering. Kocht man sie in Wasser, erhält man einen orangefarbenen Saft, den man eindicken kann. Die Weinrebe (Vitis vinifera) Von den natürlich vorkommenden sowie eingeführten Arten und z.T. wieder verwilderten Unterarten (Wilde Edelrebe, „Schwarzrebe“ = Vitis vinifera subsp. sylvestris) nutzte 4. Wildobst- und Gehölznutzungen

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man die kleinfruchtigen Beeren als frisches und getrocknetes Wildobst und zur Herstellung von Saft und Essig. Der Wein wurde als Heilpflanze für Venen-, Lungen- und Kreislaufbeschwerden für annähernd jedes Haus ursprünglich in Form von Wandspalieranlagen gepflanzt. Aus den Samen bereitete man Speiseöl oder röstete Kaffee. Die Kermesbeere (Phytolacca esculenta, Ph. americana) In unseren Breiten wurde auch die Kermesbeere eingeführt. Es handelt sich um zwei Arten: Asiatische und die, roh genossen, als schwach giftig geltende Amerikanische Kermesbeere (Phytolacca esculenta, Ph. americana). In Asien und Amerika bestehen verwandte Arten, die für Spinat, Obst und zum Färben von Lebensmitteln verwendet wurden. Spindelstrauch oder Pfaffenhütchen (Evonymus europaeus) Grundsätzlich enthalten die rohen Früchte und das Gehölz Giftstoffe. Hinweisen aus Europa und der Sowjetunion zufolge dürften die ausgelösten, grellorangen Fruchtkerne sowohl als Medizin in Alkohol eingelegt bzw. wegen des Ölgehalts auch für Nahrungszwecke aufbereitet worden sein. Die Gruppe der Heckenkirschen (Lonicera spec.) Über die Giftigkeit der Früchte dieser Gruppe sind sich Wissenschaftler nicht im Klaren, Schwindelgefühle und Übelkeit weisen darauf hin. Versuche über die Entfernung oder Verwandlung bedenklicher Stoffe durch Kochen sind unbekannt. Es bestehen allerdings über ihre Verwendung Hinweise zumindest gesichert von den Arten Blau-, Tataren-Heckenkirsche und Wald-Geißblatt (Lonicera caerulea, L. tatarica, L. periclymenum). Von beinahe allen Arten wurden die kandierten Blüten für Süßspeisen verwendet. Heute ist die stärker beworbene Kulturart „Maibeere“ bekannt. Der Bocksdorn (Lycium barbarum) Der Strauch wurde aus China eingeführt und gilt generell als giftig. Die scharlachroten Beeren sind mit Vorsicht zu betrachten, können laut unbestätigten Hinweisen vermutlich durch längeres Kochen entgiftet und genossen werden. Schwarzer Nachtschatten (Solanum nigrum) Großfruchtige Sorten wurden aus europäischen (Kultur-)Arten gezüchtet, die heute aus Amerika wieder rückgeführt werden. Unreife Früchte gelten als giftig! Ausschließlich die reifen Beeren wurden zu Marmelade, Kompott etc. verarbeitet. Hinweisen nach wurden früher auch die jungen Blätter und Triebe gekocht gegessen. Die mennigroten Früchte des Rotbeeren-Nachtschattens (Solanum villosum subsp. alatum) sind im Herbst für Kochzwecke verwendbar. Mistel und Eichenmistel (Viscum spec., Loranthus europaeus) Aus Polen, Moldawien und der Walachei ist die Nutzung der Blutdruck hemmenden Mistel-Beeren von Laubholz- und Nadelholz-Mistel (Viscum album, V. laxum) und Ei-

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chenmistel (Loranthus europaeus), z. B. durch die geringe Beimischung zu anderen Marmeladeobstarten, überliefert. Die Eibe (Taxus baccata) Von der Eibe nutzte man den roten Arilluskörper, das schleimige Fruchtfleisch um den giftstoffhältigen Kern, als Rohkost, wobei der Kern ausgespuckt wurde oder bei Küchenverwendung in kaltem Zustand druch Sieb- oder Passiervorgänge ausgesondert wurde.

2. Die Nutzung der Nussfrüchte und Baumsamen Nussfrüchte hatten früher wegen ihres Energiegehaltes und der guten Lagerfähigkeit eine enorme Bedeutung für die Ernährungssicherheit. Sie wurden für die Mehlgewinnung, Breinahrung, zum Brotmachen, zur Ölgewinnung, für nahrhafte Gärgetränke u.v.m. gesammelt. Die Nutzung heimischer Nussfrüchte bezieht sich in unseren Breiten vornehmlich auf Hasel (Corylus avellana), Walnuss (Juglans regia), Eiche (Quercus spec.) und Edelkastanie (Castanea sativa). Die Bucheckern der Rotbuche (Fagus sylvatica) dienten als Nahrungsmittel und zur Herstellung von Öl, welches auch aus Hasel und Walnuss kalt und warm gepresst wurde. Die bis in die Nachkriegszeit erhalten gebliebene Kultur der Eichelnutzung bezog sich auf Kaffee und Schweinemast. Derweilen war früher durch geeignete Entbitterungsverfahren (Wässern, Ankeimen, Fermentation, Rösten, …) alles aus den Eichelnüssen hergestellt worden, was wir heute aus Getreide erzeugen: Mehl, Brot, Backwaren, Brei und Fladen, Bier u.a. Von der Edelkastanie wurde in derselben Form Gebrauch gemacht, von deren Sorten werden heute fast ausschließlich die großfruchtigen für Maroniverkauf und Pastenherstellungen herangezogen. Allein von den Edelkastanien gab bzw. gibt es schätzungsweise mindestens 600 bis 700 Sorten. Nicht unerwähnt soll auch die Nutzung der Ahorn-Samen (Acer spec.) als Nahrung bleiben. Auch können z. B. die ganz jungen oder ausgereiften Samen von Feld- und BergAhorn, Linde, Esche und Ulme blanchiert für Salate oder Beilagen Verwendung finden. Ausgereifte, getrocknete Samen nutzte man als Würzmittel beim Brotbacken. Von den jungen, grünen Flügelfrüchten der Eschen (Fraxinus excelsior) können die herben Stoffe durch mehrmaliges Wechseln des Salzkochwassers zu kapernartigem Gemüse zubereitet werden, die später in Essig unter Beigabe von Süßstoffen eingelegt gelagert werden. Wenn man die zuvor in Salzwasser gekochten Eschensamen in frischem Wasser mehrere Stunden stehen lässt, werden zwischen den Kochvorgängen während längerer Abkühlungspausen mittels Salzausdringung herbe Stoffe ausgezogen. Sie dienen als Beilage zu Fleisch oder werden in Salate eingemischt. Ähnlich handhabte man die jungen Sprosse der Esche als Gemüse. Die Haselnuss (Corylus avellana) und Baumhasel (Corylus colurna) In eigens angelegten, hausnahen „Haselgärten“ pflanzte man neben den Wildformen auch Selektionen und Züchtungen wie Corylus avellana oblonga und C. a. silvestris und 4. Wildobst- und Gehölznutzungen

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andere Selektionen. Es wurden nicht nur Früchte, sondern im Frühjahr die männlichen Kätzchen (Würstchen), Knospen oder Rinden, aber auch im Sommer Blätter zum Strecken des Brotmehles geerntet. Die getrocknete Nussfrucht enthält etwa 60 % Öl und 8 % Kohlehydrate. Das Nussöl soll besser als Olivenöl sein, muss aber schneller verbraucht werden. Es wurde auch als Uhren- und Musikinstrumentenöl gebraucht. Für Backwaren wird die Haselnuss z. B. als Mandelersatz verwendet. Für Nusslikör, Saucen und Salate dienten die Früchte gerieben und geröstet als Würzmittel. Die südosteuropäische Baumhasel wird häufig als Zierbaum in den Parks oder als Allee­ baum gepflanzt. Ihre Nüsse sind in einem Knäuel vereint und weisen klebrige Nussbecher auf. Sie können ebenso wie die Strauchhasel verwendet werden. Ihre Schale ist aber fester und der Fruchtertrag geringer. Die großen Nüsse nutzte man ebenso von der Lamberts- oder Großen Hasel (C. maxima). Die Eiche (Quercus spec., incl. der Arten des Mittelmeerraums und Osteuropas) Die Eicheln (Quercus petraea, Q. robur) dürften früher die wichtigste Winternahrung gewesen sein, auf die später die Getreide-Esskultur aufgebaut hatte. Aus der hohen mythologischen Bedeutung kann dies gefolgert werden. Sie wurden verschiedenen Verfahren der Entbitterung, z. B. durch Wässerung bzw. Ankeimen oder Einlegen in Kalkwasser, und der Röstung unterzogen, ehe sie als Mehl für die Brotherstellung oder Brei zum Verzehr geeignet waren. Das Mehl hat einen sehr intensiven Geschmack. Geröstete Eichelstücke oder -mehl waren besser lagerbar und diese wurden für die Kaffeebereitung verwendet. Auch bitterstoffarme Sorten haben laut Erzählungen früher existiert. Über die Nutzung und Selektionszüchtung wussten die Leute auch jene Sorten mit „süßen Eicheln“ zu gebrauchen. Manche Baumfrüchte sollen süßer als die Esskastanien gewesen sein. Die Eicheln enthalten etwa 70 % Stärke und Zucker und etwa 6 % Eiweiß, weshalb sie als Nahrungsmittel geschätzt waren. Aus den Eicheln wurde Bier – die „flüssige Bevorratungsform von Kohlehydraten“ – bereitet und Schnaps gebrannt. Auch Kuchen kann mit dem Mehl gemischt mit anderen Zutaten gebacken werden. Weitere EichenArten in Europa, von denen die Nussfrüchte genutzt wurden: Zerr-, Flaum-, Falsche Kork-, Stein-, Ungarische, Vielblütige Eiche, Adriatische Flaum-Eiche u.a. (Quercus cerris, Q. pubescens, Q. crenata, Q. ilex, Q. frainetto bzw. Q. conferta, Q. polycarpa, Q. virgiliana). Die Früchte der Ungarischen und Adriatischen Eiche sowie nordafrikanischer Arten enthalten weniger Bitterstoffe und sind roh gut genießbar. Nicht zu vergessen ist, dass „auf den Eichen die besten Schinken wachsen“. Und beim im Mai zubereiteten „Eichenwasser“ handelt es sich um in Wasser aufgekochte Eichenblätter. Die Edelkastanie (Castanea vesca, C. sativa) Von dieser Baumart – der „Brotbaum“, das „Baumgetreide“, das Getreide, welches auf den Bäumen wächst – hatte man einst alles genutzt. Mit den Schalen wurde früher im Tessin und Südtirol Wolle und Leinen gefärbt. Holz kam für viele Verwendungen in Frage. Die Blätter dienten als Futterlaub und Viehstreu, die Rinde zum Gerben. Zur Blüte sammelte man eigens Kastanienhonig, welcher äußerst gesund sein soll. Die befreiten

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Früchte können roh genossen werden und eignen sich zur Herstellung von Brotmehl, Fladen, Brei, Kaffee, Krapfenfüllungen, als Sied-, Röst- und Bratkastanien u.v.m. Aus Kastanienmehl und Wasser stellte man 1–3 cm dicke Fladen zwischen zwei glühend heiß gemachten Steinplatten her, wobei man die Fladen vom Stein durch Kastanienblätter trennte, welche durch heißes Wasser gezogen wurden. Die Nussfrüchte wurden glasiert oder zu einer süßen Paste (Vermicelle) zum Tortenverzieren oder als Füllung von Backwaren oder als Marmelade verwendet. Heute werden Konserven davon aus Italien, der Türkei oder aus Amerika in den Supermärkten angeboten. Die Rotbuche (Fagus silvatica) Die Allmende-Hirten trieben im Herbst und Frühjahr ihre Schweine nicht nur in den Eichen-, sondern auch in den Buchenwald, damit sich diese an den dreikantigen Bucheckern oder „Bucheln“ mästeten. Der Speck aus der Eichelmast war aber durch Räucherung in der Haltbarkeit und im Geschmack besser. Auch weiß man heute noch von der Röstung der Bucheckern für Speisezwecke. Wenn man etwa durch leichtes Sieden die Blausäure aus den Eckern entfernte, konnte man die geschälten oder gerösteten Nüsse auch für Brot oder Kuchen verbacken. Sie wurden für Kaffee und als Brei verwendet. Die Samen enthalten bis zu 45 % Öl und um 50 % Eiweiß. Aus etwa 100 kg Bucheckern können für Speise- und Brennzwecke etwa 12 Liter Klaröl und 5 Liter Trüböl gepresst werden. Auch der verbleibende Presskuchen diente für allerlei Backwaren. Eine andere Form der Ölgewinnung ist das Aufkochen in Wasser und Abschöpfen des schwimmenden Öls. Die Walnuss (Juglans regia) Die „Welsche Nuss“ wurde über den Mittelmeerraum in ganz Europa verbreitet und war sicherlich als Wildgehölz auch im westlichen Europa beheimatet. Die jungen, grünen Schalen der jungen Gesamtfrucht, aber auch die Schalen der verholzenden Nuss sind zur Färbung von Wolle, Haaren und anderen Naturstoffen geeignet. Ab Mai bis Juni erntete man in jungem Zustand die kleinen, grünen, noch fleischigen Walnüsse für Speisezwecke. Sie werden zur Entbitterung mit einer Nadel mehrmals angestochen und in heißem Wasser angesetzt und mit Zuckersirup weiterverarbeitet bzw. darin eingelegt und gewürzt. Sind die Nussfrüchte schon härter und reifer ausgewachsen, dann können sie für die Herstellung von Nusslikör eingelegt werden. Zur Blutreinigung wurden Nussmit Erdbeerblättern für die Teebereitung getrocknet. Mit den Nussblättern wurden die Rösser eingerieben, damit sie nicht von den Rossbremsen aufgesucht wurden. Die Beimischung zerkleinerter Blätter in die Speisen und das Zerreiben auf der Haut dienten auch beim Menschen der Fliegenabwehr. Der anfallende Ölpresskuchen fand Verwendung beim Brot- und Kuchenbacken sowie bei der Breibereitung. Er wurde einer Trocknung zur besseren Bevorratung unterzogen.

4. Wildobst- und Gehölznutzungen

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Die Winter-, Sommer- und Silber-Linde (Tilia cordata, T. platyphyllos, T. tomentosa) Die kleinen Lindennüsschen der genannten Arten (sowie die Holland-Linde, Tilia x vulgaris besitzen einen verhältnismäßig hohen Ölgehalt. Deshalb verwendete man sie je nach Jahr auch für die Ölgewinnung, wie sehr auch das Sammeln von August bis September und die Aufbreitung aufwendig waren. Die Rosskastanie (Aesculus hippocastanum) Diese stärkereiche Frucht kann wegen ihres Bitterstoffgehalts nicht verzehrt werden. Allerdings wässerte man geraspelte oder getrocknete Fruchtkerne und mischte das Pulver dem Brotmehl in geringen Mengen zur Streckung bei. Vielmehr taugt die Frucht aber für Pferde und für das Rotwild als Futter. Um die Jahrhundertwende versuchte man, aus ihr die Stärke zu gewinnen. Die Kastanien haben einen sehr hohen Gehalt an Saponinen, den Seifenstoffen. Man kann daraus eine schäumende und schmierige Waschlauge für Kleiderwäsche herrichten. Die Früchte der Rosskastanien wurden aufgeschnitten und in Schnaps angesetzt und die Gläser an der Sonne stehen gelassen. Das konnte man im Frühjahr auch mit den Blüten durchführen. Dieser nussig riechende Schnaps wurde zum Einreiben der Venen und Krampfadern verwendet. Die Zirbe, Zirbelkiefer oder Arve (Pinus cembra) Dort, wo die Zirbe vorkommt, wurden von ihr die ungeflügelten Samen geerntet. Man legte die Zapfen auf die Herdplatte, bis sie aufgingen und die relativ großen Nüsschen herausgearbeitet werden konnten. Diese (auch von der Schale befreit) wurden in der Pfanne oder auf der Herdplatte geröstet. Aus in Scheiben geschnittenen Jungzapfen stellte man Zirbenlikör her. Die zarten Nadeln der Zirbel-Kiefer eignen sich auch im Winter sehr gut für Speisen, da sie vergleichsweise wenig Harz enthalten. Vor 200 Jahren wurden in kargen Hochgebirgslagen Versuche durchgeführt, anstelle der Legföhre (= Latsche, Pinus mugo) die kleinwüchsige Form Pinus cembra pumila wegen der Ernte der Samen für Speisezwecke zu verwenden. Nicht zu vergessen ist die Nutzung der Pinienkerne von Pinus pinea. Fichte (Picea abies), Tanne (Abies alba), Rot-Kiefer bzw. -Föhre (Pinus sylvestris) Von den genannten Nadelgehölzen nutzte man die energie- und ölreichen Samen sowohl zu Nahrungszwecken als auch zur Gewinnung der Fette. Junge Zapfen und Nadeln wurden in Notzeiten als Nahrungs- und Futtermittel beansprucht (Stichwort: „Grass“, Grassmühlen, Grasskultur). Das Kambium wurde von diesen Gehölzen geerntet, fein geschnitten und nach der Röstung pulverisiert für die Brotmehlbereitung verwendet. Auch von der Rot-, Schwarz- (Pinus sylvestris, P. nigra) und Leg-Föhre (= Latsche, P. mugo) nutzte man die jungen, harzreichen Knospen und männlichen Blütenteile für Schnapsansätze und die jungen, gehackten Nadeln dienten als Würzmittel für Speisen, Brot und Fleischbraten.

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Die Gewöhnliche oder Europa-Pimpernuss (Staphylea pinnata) Die eher selten vorkommende, Kalk liebende Europa-Pimpernuss kann bis zu 5 m hoch werden, gedeiht in Gebüschen, frischen durchlichteten Edellaub- und Schluchtwäldern und bevorzugt sommerwarme Standorte. Die braunen, kugeligen und hartschaligen Samen befinden sich in einem häutigen, aufgeblasenen Samenbehälter und wurden roh und gebraten gegessen und bevorratet. Die duftenden Blütenstände verwendete man als Gemüse oder legte sie in Salz ein.

3. Die Gehölznutzungen Laub, Knospen und Rinde als Nahrungsmittel Gehölze lieferten Lebens- und Futtermittel, Reisigfutter und dies auch im Sommer, wenn durch den Johannisschnitt die Knospen für das nächste Jahr gefördert wurden. Neben Kambiumschicht, Rindenteilen und Knospen nutzte der Mensch in Vorzeiten vornehmlich das junge Laub bestimmter Gehölze. Durch die kontinuierliche Schnittnutzung an Bäumen schuf man in unmittelbarer Nähe der Behausungen Laubqualitäten, welche von den Menschen als Nahrungsquelle genutzt wurden. Solche Gehölze bestehen heute noch als markante Haus- und Hofbäume wie z. B. Linden, Ahorne, Gewöhnliche Esche, Ulmen, Birke, Kirschgehölze, Weißdorn-Arten, Rotbuche, Vogelbeere, Birke, Maulbeere, ... Von ihnen wurden im Frühling Knospen und die ganz jungen Austriebe und Blätter für Speisezwecke genutzt. Der Lindenbaum war wegen der nahrhaften Knospennahrung als Hausbaum unabkömmlich. Die zarten Knospen dienten als bekömmliche Rohkost, wenn nach dem Winter noch keine grünen Wildpflanzen erntbar waren oder sie wurden geröstet. Durch die Schleimstoffe lassen sie sich sehr gut kauen. Regelmäßig zurückgeschnittene Linden entwickeln sehr große Laubblätter. Sie dienten z. B. als dicke Auflage auf das Butterbrot oder zur Herstellung der Laubmehle zur Streckung der Nahrung (Brot, Breie, Soßen ...) oder als Toilettepapier. Ähnlich handhabte man die Blätter von Ulme, Feld-Ahorn und Maulbeere (Morus spec.). Oder die ausgebrochenen Weinschosse, die sogenannten Geiztriebe, wurden immer als Futter- oder Nahrungsmittel verwendet. Sie stellen ein „abfallendes Produkt“ der Weinwirtschaft dar, welches wieder klug in die Bewirtschaftungskreisläufe eingesetzt wurde. Die Stängel und Blätter der „Geiztriebe“ waren voll im Saft und wurden gerne angenommen. „In der Gegend von Lyon bewahrte man früher – offenbar noch in den 1880er-Jahren – das Laub von den Weinbergen, welches man vor der Lese gewonnen hatte, in betonierten Gruben, die öfters bis zu 20 m³ groß gewesen sein sollen. Es wurde etwas mit Wasser bespritzt und von 12 bis 20 Arbeitern festgetreten und dann mit Brettern und Steinen beschwert“ (Brockmann-Jerosch, H. 1921). Dieses „Weinblattkraut“ diente der Ernährung. Von Kirschen (Prunus avium und Kultursorten) oder Vogelbeere (Sorbus aucuparia) erntete man die Blätter als Aromamittel und zur Entwurmung für Mensch und Tier. Getrocknetes Schnittgut zurückgeschnittener Himbeerstauden und Johannisbeersträucher des Beerengartens diente für Nahrungs- und Heilzwecke. Im Winter griff man auf die bis 4. Wildobst- und Gehölznutzungen

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ins Frühjahr grün bleibenden Blätter der Brombeere zurück, die man auf den Wald- und an den Bachstandorten sammelte. Von der Gewöhnlichen Waldrebe (Clematis vitalba) und vom Echt-Hopfen (Humulus lupulus) wurde das aufbereitete Laub und Sproße für Nahrungs- und Fütterungszwecke gesammelt. An das Haus pflanzten sich die Leute auch den Hopfen und Kulturwein, um von ihnen die jungen Sprossspitzen zu sammeln. Daraus wurden im Frühjahr Spargelgerichte zubereitet. Die jungen Blätter lieferten eine spinatähnliche Gemüsebeilage oder geschnitten einen Salat. Über die Speise-Laubbäume Blätter von Gehölzen, vor allem des Frühjahrs, gehören zu den Schutz- und Abwehrkräfte gebenden, blutreinigenden und appetitanregenden Nahrungsmittel. Heute ist das überlieferte Wissen um die Essbarkeit roher Gehölzblätter unvorstellbar. Die verschiedenen Geschmacksfacetten hängen vom Erntezeitpunkt ab. Als Nahrungsmittel für die menschliche Ernährung fanden in verschiedenen Aufbereitungen des Laubes folgender Gehölze Verwendung: Linde, Feld- und Berg-Ahorn, Rotbuche, Ulme, Weißdorn, Hasel, Kirsche, Weinrebe, Wildrose, Birke, Berberitze, Eiche, Pappel, Weidearten, später auch Zürgelbaum u.a. (s. bei Machatschek, M. 2002). Von den Nadelgehölzen nutzte man die jungen Blätter bzw. Triebe von Fichte, Tanne, Lärche, Zirbe oder Arve, Wacholder (nur Juniperus communis) u.a. Von ihnen wurden ganz junge Blätter, Knospen und grüne, saftige Triebe gepflückt. Die zarten Blätter enthalten vom Frühjahr bis Frühsommer, wenn sie noch hellgrün sind, wenig Bitter- und Harzstoffe, schmecken frisch und sind zum Essen noch zart. Die Überlieferung der sehr behutsamen Handhabung der Trocknung z. B. von FeldAhorn-, Ulmen- oder Linden-Laub in der schattigen Tenne oder in der Nähe des Kachelofens oder im Backrohr ist ebenfalls eine Bestätigung für die hohe Bedeutung der grünen Blätter für die menschliche Ernährung. In Zeiten der Hungersnot sammelte man zarte Laubblätter von Ulme, Feld-, Berg-, Montpellier-, Italien-, Eschen-Ahornen (Acer campestre, A. pseudoplatanus, A. monspessulanum, A. opalus, A. negundo), von den Linde-Arten (Tilia spec.) bis in den Sommer hinein und die ganz jungen Blätter von Erlen (Alnus glutinosa, A. incana, A. alnobetula), Birken (Betula spec.) und Haseln (Corylus avellana). Sie wurden frisch verzehrt oder getrocknet, zerstampft und gemahlen, um das Laubpulver zur Streckung des Brotteigs zu verwenden. Vor allem die Haselknospen und „Kätzchen“ sind im Frühjahr sehr phosphor- und eiweißreich. Man sammelte sie im Spätwinter oder im Frühjahr als Notbehelf zur Streckung von Breigerichten oder Brotteig. Vor allem aus den jungen Linden- und Feld-Ahorn-, frisch schiebenden Rotbuchenund Eichen-Blättern kann man sehr gute Mischsalate herstellen. Mit den süßen Blüten vom Berg- oder Feld-Ahorn können die fein geschnittenen Baumblätter vermischt und mit aromatischen Wiesenkräutern gestreckt oder gewürzt werden. Die Blätter von Birken und Eichen schmecken herb, doch, in schmale Streifen geschnitten und mit frischen Wiesenkräutern vermischt, dienen auch sie der Salatnutzung oder als Würzmittel in Kochspeisen. Blätter der Berg-Ulme (Ulmus glabra) dienen ausschließlich für Grünmehlherstellung, da sie eine starke Behaarung aufweisen. Die Ulmen entwickeln bald nach

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der Blüte die grüngelblichen, rundblättrigen Flugeinrichtungen zur Verbreitung ihrer Samen. Solange sie grün und saftig sind, schmecken sie süßlich, und man nutzte sie als Rohkost und als Salat in großen Mengen oder sie wurden für Wintersalate in Salz- oder Essigwasser eingelegt. Die jungen Blätter der Feld-, Berg- und Flatter-Ulmen (Ulmus minor, U. glabra, U. laevis) dienten für Salate, Aufläufe und hauptsächlich getrocknet für Speisepulver, um das Brotmehl und Salz zu strecken. Aus den Blättern der Silber-, Schwarz- und Zitter-Pappel (Populus alba, P. nigra, P. tremula) stellte man Sauerkraut und Pulver her und bereitete aus den ganz jungen Blättern Mischsalate und aus den Trieben ein Kochgemüse. Die Nutzung der Rindenteile für Brotmehl und Kaffee Trotz der bekanntlich geringen Nahrhaftigkeit von Holzpulver nahm man es zur Streckung der Speisen in Anspruch. Bei den Samen in Lappland spricht man bei der Bastrinde vom „Brot“. Man schabte den Bastteil zwischen Rinde und Holz der Föhren heraus. Oder man löste zuerst die äußere Grobrinde und entnahm dann den inneren Rindenteil – das Kambium. Seltener griff man auf die gesamte Rinde junger Bäume und deren Äste zurück. Diesen „weißen Bast“ zerkleinerte und trocknete oder röstete man und bereitete daraus ein „Brotmehl“ (später auch zum Strecken des Getreidemehls) oder ein Kaffeepulver. Nach einer Vortrocknung wurde unter hoher Hitze nachgetrocknet oder geröstet. Zum Mürbmachen der Fasern wechselte man zwischen Abkühl- und Erhitzungsphasen ab. Durch den Röstvorgang erfolgte eine geschmackliche Aufwertung und war ein Bevorratungsschutz vor Schädlingen und Verpilzungen gegeben. Rindenbrot aus Föhreninde oder Birkenholz wurde nachweislich noch während der Notzeiten bis 1920 und auch in den 1940er-Jahren in Skandinavien und Russland gegessen. Es handelte sich um ein Gemisch von Getreidemehl, -kleie und bis zu 15 % gemahlener Rinde. War kein Getreidemehl vorhanden, so griff man als Bindemittel auf Knochen-, Torfmoos- (Sphagnum spec.) oder Flechtenmehl von Isländischem Moos und Rentierflechten (Cetraria islandica, Cladonia spec.) zurück. Unter arger Not mischte man auch das Sägemehl von Holz bei. Die Folgen eines hohen Rohfaseranteils waren eine schwere Verdauung, Energieverlust, Probleme in den Beinen und Geschwülste. Von folgenden Baumarten nutzte man in Europa gesichert zumeist die junge Rinde für Kaffee- und Brotmehlherstellung: Fichte (Picea abies), Tanne (Abies alba), junge Lärche (Larix decidua), Birke (Betula pendula, B. nana, B. humilis, B. pubescens u.a.), Hainbuche (Carpinus betulus), Gewöhnliche Hasel (Corylus avellana), alle Erle-Arten (Alnus spec.), Pappel (Populus spec.), Linde (Tilia cordata, T. platyphyllos, T. tomentosa, T. x euchlora), einige Weide-Arten (Salix spec.), Rot- (Pinus sylvestris) und Zirbel-Kiefer (Pinus cembra), in südlichen Ländern: junge Eiche (Quercus spec.), Rotbuche (Fagus sylvatica), junger Ahorn (Acer spec.), Edelkastanie (Castanea sativa), Ulme oder Rüster (Ulmus spec.) und Hopfenbuche (Ostyra carpinifolia), zumeist vom Frühjahr bis Herbst, seltener im Winter.

4. Wildobst- und Gehölznutzungen

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Getränke aus Baumblättern und Blattsprossen Aus den jungen Blättern z. B. von Rotbuche und Eiche wurden Liköre und Weine hergestellt. Blätter setzte man in Alkohol an oder man ließ sie vergären. Darüber hinaus dienten alkoholische Zubereitungen verschiedener Blätter zur Vorbeugung oder Heilung von Krankheiten. Aus Birkenblättern stellte man z. B. Sirupe her, die verdünnt als Durstlöscher und blutreinigende Heilmittel dienten. Die jungen, frischen oder bevorrateten Fichten- (Picea abies) und Tannentriebe (Abies alba) bezog man früher in die Ernährung ein, da ihr Verzehr der Grippe und Skorbut-Krankheit vorbeugten. Im Frühjahr sott man die „Maiwipferl“ in Wasser, Wein, Most oder Bier und trank die eingedickte Flüssigkeit gesüßt. Aber auch mit Rinde, Zapfen, alten Nadeln und Zweigen kann man einen Absud kochen, der allerdings herb ist. Durch Vergärung hielt sich die vortreffliche Heilkraft über ein Jahr. Sie wirken gegen Rheuma-, Gicht- und Atembeschwerden. Ein „Tannenbier“ aus Tannen- oder Fichtensprossen brachte man durch die Beigabe von Sirup zur Gärung. Beim Kochen gab man Kren (Meerrettich) und Wermut, Spitzwegerich oder Thymian bei. Nach der Vergärung und Klärung ist das „Bier“ zu trinken. Es heißt Bier, da es einen herben Geschmack aufweist.

4. Baumwasser zur Gewinnung von Süßstoffen Beim Baumwasser handelt es sich um das aus dem Boden gezogene Wasser, das dem Transport von Kohlehydraten, Eiweiß und Mineralstoffen dient (s. bei Machatschek, M. 2006). In Europa wurden seit alters her hauptsächlich Gewöhnlich- oder Hänge-Birke (Betula pendula = B. alba) und der „Milchbaum“, Berg-Ahorn (Acer pseudoplatanus), zur Gewinnung des Baumsaftes herangezogen. Besonders die saftreichen Ahorne zeichnen sich durch eine vergleichsweise höhere Süßkraft des Sirups aus, der darüber hinaus auch einen angenehmen Geschmack besitzt. Daneben wurde das Baumwasser von Moor-Birke (B. pubescens) und von Spitz-Ahorn (A. platanoides) zur Zuckergewinnung verwendet. Weiters griff man bei geringer Zuckerausbeute auf Walnuss (Juglans regia), Ulme (Ulmus spec.), Grau-Erle (Alnus incana), Zitterpappel (Populus tremula) sowie in Russland, Ukraine oder Polen auf die Vogelkirsche (Prunus avium) zurück. Den Baumsaft der Eichen zapfte man an den ausgegrabenen Starkwurzeln im März ab. Von der Gewöhnlichen Waldrebe (Clematis vitalba) verwendete man im Frühjahr in geringen Mengen den Saft der Triebe für Heilzwecke. Von der Manna- oder Blumen-Esche (Fraxinus ornus) bezog man das Baumwasser für eine leicht abführende Droge und die Mannabrot-Herstellung. Die Ausbeute an „Ahornzucker“ ist in Menge und qualitativer Hinsicht bei kanadischen Zucker-Ahornarten höher. Unter dem „Fichtenwasser“ versteht man den Saft des Baumes Picea abies, der ein Getränk im Zeitraum März bis April liefert. Ernte des Baumsaftes und Verwendung als energiereiches Nahrungsmittel Im März und April, bevor die Gehölze ausschlagen und Laub ansetzen, aber auch noch im Mai kann während sonnenreicher Tage gegen Mittag der Saft an der Südseite des

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Baumes abgezogen werden. Zu dieser Zeit ist am meisten Saft in Bewegung und somit die Ausbeute hoch. Gehölze ab einem Stammdurchmesser ca. 20 cm wurden 30 cm über dem Boden angebohrt und Anteile des Baumsaftes in Behältnissen abgezapft. Nach der Safternte wird die Öffnung mit Holz zugestoppelt. Beim Verfahren des Anritzens der Stämme kann der Saftfluss nicht so gut gestoppt werden und Auffangrinnen haben sich wegen des Insekteneinfalls nicht bewährt. Die Flüssigkeit vergärt relativ schnell und riecht dann unangenehm. Deshalb sind eine kühle Lagerung und eine sofortige Weiterverarbeitung notwendig. Im Kühlschrank hält sich der Birkensaft unbearbeitet bis über eine Woche in geschlossenen Gefäßen, ohne dass geschmackliche Veränderungen durch Gärvorgänge eintreten. Gibt man z. B. dem Birkenwasser Alkohol im Verhältnis von 1:10 bis 1:20 oder Gewürznelke und Zimtrinde bei, so hält es sich länger. In Polen, Russland, Finnland und den baltischen Ländern trank man den abgezapften Birkensaft, den man in der Sonne säuerlich vergären ließ. In frischem Zustand kann das Ahorn-Baumwasser ohne Bedenken getrunken werden. Birkensaft soll zum Trinkgenuss verdünnt und kann etwas mit Honig versetzt werden. Durch langsames Wallenlassen der Flüssigkeit verfolgt man das Eindicken zu einem braunen Brei und die Herstellung eines Süßstoffkonzentrats. Sowohl als Sirup als auch eingedickt diente dieses „unraffinierte“ Süßungsmittel für Konservierungszwecke. Man bereitete daraus Brotaufstriche, Pudding, Desserts, Sirup und Pasten für Torten und Kuchen. Aus dem Baumwasser wurde in Vorzeiten zumeist Essig, Bier und Branntwein und unter Beigabe von Gärhefe Wein hergestellt. Verschiedene „alkoholische Zubereitungen“ werden auch mit Rum oder Schnaps durchgeführt. Verschiedentlich werden Kräuter wie Thymian, Wermut, Mädesüß etc. oder Gewürznelken, süße Früchte, Honig oder Apfelsaft beigegeben und zuletzt die abgezogene Maische mit Weinhefe versetzt.

Ein paar Worte zum Schluss Es gibt nicht ein System einer ausgewogenen Ernährung, wiewohl man vom Angebot der Natur ausgewogen leben und mit allen Heilstoffen versorgt werden kann. Dem Angebot an verarbeiteten Produkten in den Regalen der Geschäfte und Supermärkte fehlen wesentliche Inhaltsstoffe bzw. Aromen und Mineralstoffe, die allemal in den Früchten und Kräutern der Landschaft enthalten sind. Ein schutzvoller Umgang mit der Kulturlandschaft ist über die Art der Landnutzung bestimmend. Naturschutz gelingt nur über eine bäuerliche Landwirtschaft und eine gebrauchsorientierte Nutzung. Wie wir (s. Kurz P. et al. 2001) im Heckenprojekt ausgeführt haben, unterstehen viele der Flurgrenzen und Waldränder bevorzugenden Gehölze ebenso dem Druck anderer dominierender Gehölze und sind deshalb in einer Zeit der ausschließlichen Gewinnmaximierung in der Agrarwirtschaft zunehmend der Reduktion ausgesetzt. Landschaften mit einer bäuerlichen Agrarkultur sehen anders aus als jene durch agroindustrielle Landwirtschaft beeinflusste, wo keine Flurränder mehr gemäht, keine Hecken mehr bewirtschaftet, Böschungen, Gewässer und Steilflächen zuwachsen. Kurz gesagt: Mit der Brache und in Ermangelung der 4. Wildobst- und Gehölznutzungen

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selektiven Bewirtschaftung geht die Anzahl der Wildgehölze mengenmäßig stark zurück, wodurch auch viele Tierarten wertvolle Nahrungsquellen und Lebensräume verlieren (s. Kurz, P. et al. 2001b). Lediglich in den Gärten, Parkanlagen und bedingt bei Straßenbegrünungen bleiben Wildobstarten zumeist ungenützt erhalten, vorausgesetzt, die Gehölze werden pfleglich bewirtschaftet.

Literaturhinweise Cooperative Landschaft / Autorengruppe – 2000: Gebrauchsgeschichten rund um Wildgemüse und Wildobst. Über das vegetationskundige Botanisieren. Schriften der Cooperative Landschaft Nr. 5. Wien. Friedrich, G. u. W. Schuricht – 1985: Seltenes Kern-, Stein- und Beerenobst. Leipzig, Radebeul. Kurz, P. & M. Machatschek – 2001a: Zur Vegetation der Hecken und Heckenbrachen, ihrer Säume und Versaumungen im Land Salzburg – Eine pflanzensoziologische und vegetationskundliche Untersuchung. In: Sauteria – Beiträge zu Geobotanik, Pflanzensystematik und Floristik: Bd. 11: 437–504. Dorfbeuern, Salzburg, Brüssel. Kurz, P., Machatschek, M. & B. Iglhauser – 2001b: Hecken. Geschichte und Ökologie, Anlage, Erhaltung und Nutzung. Leopold-Stocker-Verlag. Graz, Stuttgart. Machatschek, M. – 1996: Das „Brotgetreide“ vom Edelkastanienbaum. Über die Geschichte einer Tessiner Baumkultur. In: Notizbuch 38 der Kasseler Schule: 135–149. Hg.: Arbeitsgemeinschaft Freiraum und Vegetation. Kassel. Machatschek, M. – 1997: Wildobst, vergessene Schätze wiederentdecken. Wildobstseminar veranstaltet von der ARGE Umwelterziehung an der Universität Salzburg (21.10.1997). unveröff. Mskr. Machatschek, M. – 1998: Die Traubenkirsche (Prunus padus), ein verkanntes Wildobst und die Verarbeitung im Holzstampfer. In: Fachberichte aus dem NÖ Landschaftsfonds. Nr. 7/1998: 4–6. NÖ Obstbaumtag 1996/97. St. Pölten. Machatschek, M. – 1999: Nahrhafte Landschaft - Ampfer, Kümmel, Wildspargel, Rapunzelgemüse, Speiselaub und andere wiederentdeckte Nutz- und Heilpflanzen. Böhlau-Verlag. Wien, Köln, Weimar. 3. Auflage 2007. Machatschek, M. – 1999: Die Walnuß (Juglans regia) für Öl und Likör, zum Färben und kandiert. In: Der Österreichische Kleingärtner. Nr. 6/99: 12–14. Hg.: Zentralverband der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter Österreichs. Wien. Machatschek, M. – 2000: Beispiele der Wildobstnutzung im Überblick. Vortragsmanuskript bei der Tagung des OÖ Obstbautages. OÖ Umweltakademie, Institut für Naturschutz. Linz. Machatschek, M. – 2003: Von Eichelbier, Eichenrinde und Galläpfeln – die Geschichte der Eicheln, spannend wie ein Krimi. In: Der Österreichische Kleingärtner. Nr.: 11/03: 14–17. Wien. Machatschek, M. – 2006: Vom Baumblut oder Baumwasser – über die Gewinnung

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von Süßstoffen. In: Der Österreichische Kleingärtner. Teil 1 in Nr. 3/06: 50–52 und Teil 2 in Nr. 4/06: 52–54. Wien. Machatschek, M. – 2008: Von Birnenmehl und Kloazen – Über die Bedeutung der in Vergessenheit geratenen Mölltaler Scheibelbirnsorten. In: Der Alm– und Bergbauer. 58. Jg., Folge 11/08: 17–19. Innsbruck. Pirc, H. – 2002: Wildobst im eigenen Garten. Graz, Stuttgart. Schramayr, G. – 1996: Süßsaure Pflaumenverwandtschaft – Kriecherl, Zieberl und Spenling. In: Ernte, Zeitschrift für Ökologie und Landwirtschaft. 1/96. St. Florian. Schramayr, G. u. K. Wanninger – 2007: Die Steinwechsel – Prunus mahaleb. Eine Monographie des Vereins Regionale Gehölzvermehrung in Aspersdorf. Hg.: Amt der Niederösterr. Landesregierung. St. Pölten. Schramayr, G. u. K. Wanninger – 2008: Die Schlehe – Prunus spinosa. Eine Monographie des Vereins Regionale Gehölzvermehrung in Aspersdorf. Hg.: Amt der Niederösterr. Landesregierung. St. Pölten. Schramayr, G. u. K. Wanninger – 2009: Die Dirndl – Cornus mas. Eine Monographie des Vereins Regionale Gehölzvermehrung in Aspersdorf. Hg.: Amt der Niederösterr. Landesregierung. St. Pölten. Valset, K. u. G.G. Flatabö – 2000: Wilde Beeren aus Wald und Flur Norwegens. In: Schriften der Cooperative Landschaft Nr. 5. Gebrauchsgeschichten rund um Wildgemüse und Wildobst – Über das vegetationskundige Botanisieren: 104–136. Hg.: Cooperative Landschaft. Wien.

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5. „Gegen jedes Leiden ist ein Kraut gewachsen …” – ein Argument für die Erhaltung der Biodiversität? Monika Kriechbaum … oder anders herum: Alles, was wächst, hat auch irgendeine (Heil-)Wirkung für Mensch oder Tier. Über die Heilkünste Jivakas, den Leibarzt von Buddha, geboren im sechsten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung im Nordosten Indiens, ranken sich viele Legenden. Mit sechzehn begab er sich nach Taxila, einer damals renommierten Hochburg der Bildung und studierte bei Atreya, dem angesehensten Mediziner seiner Zeit. Dieser sandte ihn und die anderen Studenten in die Umgebung der Stadt mit der Aufgabe, eine Pflanze zu bringen, für die sich keinerlei medizinische Verwendung finden ließe. Jivaka kehrte mit leeren Händen zurück. Befriedigt erklärte Atreya daraufhin die Ausbildung für abgeschlossen. Diese Geschichte gibt es in verschiedenen Versionen. Ich habe eine ähnliche Darstellung das erste Mal in einem Buch über tibetische Medizin (Clifford 1990) gelesen. Das war vor etwa 15 Jahren und ich war damals in ein Projekt zur Erhaltung der traditionellen Medizin Tibets1 eingebunden. Im Rahmen dieses Projektes war ich viel mit tibetischen Ärzten im Himalaya unterwegs, wir haben gemeinsam Pflanzen gesammelt, getrocknete Pflanzen besprochen, Erkennungsmerkmale diskutiert und ich habe einen Einblick in die tibetische Sichtweise bekommen. Es hat mich immer fasziniert, wie unterschiedlich die Herangehensweise bei der Bestimmung von Pflanzen ist. Die Tibeter kosten zum Beispiel jede Pflanze und bereits der Geschmack gibt einen Hinweis auf ihre Identität oder auf ihren Nutzen. Der vorliegende Beitrag beleuchtet verschiedene Aspekte aus dem Themenkomplex Biodiversität – Heilpflanzen – Artenschutz und soll die enge Verknüpfung und wechselsei1

Projektpartner waren das Institut für Pharmakognosie der Universität Wien, das Institut für Botanik der Universität für Bodenkultur Wien und Men Tsee Khang in Dharamsala, Indien und Amchi Sonam Namgyal, ein inzwischen verstorbener tibetischer Arzt, der in Lhasa ausgebildet wurde und viele Jahre in Jharkot, Nepal praktiziert hat. Dem rein wissenschaftlichen Ziel, die Pflanzen, die von den tibetischen Ärzten gesammelt und verwendet werden, möglichst umfassend in Form eines Buches zu dokumentieren, war die kulturelle Aufgabe eines Beitrages zur Bewahrung des traditionellen Wissens übergeordnet. Meine Aufgabe im Rahmen des Projektes bestand vor allem darin, die traditionellen botanischen Kenntnisse zu sammeln, die Heilpflanzen mit wissenschaftlichen Methoden zu bestimmen und damit in nachvollziehbarer Übersetzung zu dokumentieren. 5. Gegen jedes Leiden ist ein Kraut gewachsen

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tige Abhängigkeit von biologischer und kultureller Vielfalt zeigen. Einerseits möchte ich am Beispiel von tibetischen Heilpflanzen darauf hinweisen, dass die westliche Systematik mit den Arten als zentraler Einheit – ohne auf die Problematik des (biologischen) Artbegriffes einzugehen – nur eine mögliche Sichtweise ist. Andererseits möchte ich die kulturelle Vielfalt im Umgang mit Heilpflanzen in den Vordergrund stellen. Für viele traditionelle Medizinsysteme ist eine ganzheitliche Betrachtungsweise im Umgang mit Krankheit und Heilung charakteristisch und oftmals sind religiöse und rituelle Praktiken in die Anwendung von heilkräftigen Pflanzen integriert. Diese erweiterten Sichtweisen lassen auch den Schutz der Biodiversität in einem anderen Licht erscheinen: Arten rücken in den Hintergrund, was zählt, sind lebendige Organismen, traditionelles Wissen und kulturelle Erfahrungen. Heilpflanzen sind als Beispiel dafür so gut geeignet, weil sie die Chancen, Grenzen und Gefahren des Nützlichkeitsarguments für die Erhaltung der Biodiversität besonders deutlich vor Augen führen. Der Rahmen, der sich um diesen Beitrag spannt, ist die Frage nach wirksamen Argumenten für den Naturschutz, für den Schutz der Biodiversität, hinaus über die Nutzungsdimension.

1. Heilpflanzen – Chancen und Gefahren für die Erhaltung der Biodiversität Im Rahmen der Diskussion und der Bemühungen zur Erhaltung und Förderung der Biodiversität spielen Heilpflanzen eine besondere Rolle. Die Bedeutung von Heilpflanzen für die Menschheit kann zwar nicht in Zahlen gefasst werden, aber Schätzungen zufolge sind weltweit 70–80 % der Bevölkerung in der medizinischen Grundversorgung maßgeblich von traditioneller Medizin und Heilpflanzen abhängig. Auf Schätzungen ist man auch angewiesen, wenn man sich eine Vorstellung machen will, wie viele Arten weltweit für medizinische Zwecke genutzt werden. Diese schwanken zwischen 35.000 und 70.000 (Farnsworth and Soejarto 1991). Abgesehen von der traditionellen Bedeutung und Verwendung von Heilpflanzen ist in den letzten Jahrzehnten ein weltweiter Boom auf pflanzliche Heilmittel ausgebrochen. Dieser Markt stieg in Europa und Nordamerika in den letzten Jahren jährlich um etwa 10–20 %. In gleichem Ausmaß steigt aber auch die Sorge hinsichtlich kommerzieller Nutzung und rücksichtsloser Ausbeutung dieser wertvollen Ressourcen und die Sorge, dass transnationale Pharmakonzerne sich die Rechte über die biologische Vielfalt (Arten und ihre Gene) der Welt (zu ihrem eigenen Nutzen) aneignen. Generell werden der Schutz und die nachhaltige Nutzung der Biodiversität durch die Konvention für biologische Vielfalt (CBD) geregelt. Diese besagt auch, dass die in einem Land vorhandenen Biodiversitätsressourcen dem jeweiligen Land gehören. Zur Regelung der Bioprospektion, also der gezielten Erkundung und Sammlung von biologischem Material hinsichtlich ihrer Anwendungsmöglichkeiten für eine gewerbliche Nutzung, sind bilaterale Abkommen vorgesehen. Die finanziellen Gewinne, die sich aus der Nutzung dieser Ressourcen ergeben, sollen nach dem Prinzip des sogenannten „benefit-sharing“ gerecht aufgeteilt werden. Die Meinungen darüber, welche Bedeutung und Konsequen-

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zen dies für lokale Gemeinschaften und für die Biodiversität haben könnte, gehen jedoch weit auseinander. Kritiker meinen, nicht der Schutz, sondern lediglich die Vermarktung der Biodiversität würde damit geregelt. Auf der anderen Seite wird darin der Beginn eines neuen Zeitalters in der Zusammenarbeit zwischen Nord und Süd gesehen (vgl. Eser 2003). Diese unterschiedlichen Auslegungen und Nutzungsmöglichkeiten der CBD hängen mit der Vielschichtigkeit des Begriffs Biodiversität zusammen. Darauf wird im nächsten Kapitel noch näher eingegangen, vorerst möchte ich aber noch einige Beispiele für das Zusammenspiel von ökologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen im Zusammenhang mit dem Schutz biologischer Ressourcen, damit verbundenem Wissen und geistigen Eigentumsrechten anführen. Die Grenzen zwischen Schutzinteressen und wirtschaftlichen Interessen sind oft fließend. So wird beispielsweise die Suche nach Wunderpflanzen in tropischen Regenwäldern in der Öffentlichkeit als wichtige Unterstützung für Schutzbemühungen dargestellt. Dieser Anspruch wird jedoch auch hinterfragt, vor allem der Mythos, dass Urwälder überhaupt die primären Sammelgebiete für traditionelle Sammler sind. Voeks (2004) bringt diese Thematik in den Kontext von Ethno-Landschaftsökologie, unter Berücksichtigung des längst überfälligen Paradigmenwechsels, welcher die Rolle von Störungen – natürliche und kulturelle – in der tropischen Landschaftsentwicklung betrifft. Dabei rollt er die Geschichte der europäischen Kolonialisierung in Zusammenhang mit der Entdeckung von Medizinalpflanzen, der Ausbeutung von geistigem Eigentum und dem Handel von Pflanzen auf und beschäftigt sich mit dem Wiederaufleben des wissenschaftlichen Interesses an der tropischen Volksmedizin. Im Gegensatz zu dem von Umweltunternehmen oftmals vermarkteten Klischee der „Medizin aus der tropischen Natur“ sind die bevorzugten Sammelgebiete von lokalen Heilpflanzenkundigen hauptsächlich Sukzessionsmosaike, die von ihnen selbst geschaffen wurden: Wege, Hausgärten, Rodungsflächen und Brachen. Den „Schatz an ruderalen Heilpflanzen“ („disturbance pharmacopoeias“) sieht er als logische Konsequenz von veränderten Strategien zur Bestreitung des Lebensunterhalts, ökologischen Prozessen und Krankheitsmustern. Leicht zugänglich, bekannt und reich an bioaktiven Inhaltsstoffen ist die anthropogene Natur der ideale tropische Arzneikasten. Die Bioprospektionsunternehmen bedienten sich bereits in der Kolonialzeit einer ähnlichen Rhetorik wie jetzt – tödliche Krankheiten, wundersame Heilungen, fantastische Profite – und sind immer noch gestützt von fingierten Vorstellungen der unberührten tropischen Natur und geheimnisvollen Heilungskräften ihrer „Primitiven“. Heilpflanzen und das Wissen um ihre Verwendung besitzen eine zentrale Bedeutung für den Schutz von biologischen Ressourcen. Hier treffen der Schutz der Biodiversität und die Rechte der lokalen Bevölkerung über ihre Ressourcen und ihr Wissen aufeinander. Die geistigen Eigentumsrechte (intellectual property rights) an der traditionellen Medizin und die unterschiedlichen und vielfältigen Ziele, die oftmals dahinter stehen, stellen Schlüsselprobleme, Dilemmas und somit Herausforderungen für die Gesellschaft und die Politik dar. In der Diskussion um Bioprospektion und geistige Eigentumsrechte wird häufig vernachlässigt, dass eine autochthone Gemeinschaft, die mit externen Interessen konfrontiert wird, nicht immer zwingend eine homogene Einheit darstellt. Die Vielfalt und Heteroge5. Gegen jedes Leiden ist ein Kraut gewachsen

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nität innerhalb von Gemeinschaften und die vielfachen möglichen Handhabungen von geistigen Eigentumsrechten werden dabei übersehen (Timmermans 2003). In einem Beitrag über die Bedeutung von geistigen Eigentumsrechten für die Identität von Gemeinschaften und als Plattform für gesellschaftliche Macht im indischen Himalaya behandelt Pordié (2008) das Thema aus einem anthropologischen Blickwinkel. Er analysiert wie Amchis (Tibetische Medizin praktizierende Ärzte) das Thema aufgegriffen haben, es interpretieren und für ihre jeweiligen Zwecke nutzen. Dabei hat er zwei gegensätzliche Fallbeispiele ausgewählt. Einen Amchi, der als rigoroser Verteidiger der geistigen Eigentumsrechte und für radikale Entscheidungen in diesem Zusammenhang bekannt ist, sowie einen Amchi, der Heilpflanzenreisen für Touristen organisiert und mit ausländischen Sponsoren zusammenarbeitet. Während der erste Fall ein Beispiel für individuelle Machtausübung zum eigenen Vorteil ist, werden im zweiten Fall geistige Eigentumsrechte von der Gemeinschaft umfunktioniert und gegen einen Einzelnen aus der Gemeinschaft verwendet. Nach Pordié (2008) werden geistige Eigentumsrechte auf drei Ebenen innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft verwendet. Einerseits innerhalb der AmchiGemeinschaft; andererseits um nationalen und internationalen Ansprüchen gerecht zu werden, wobei die Amchi-Gemeinschaft für kollektive ethnische und medizinische Identität homogenisiert wird; und schließlich in Hinblick auf das Verhältnis mit der Exilgemeinschaft der Tibeter. Obwohl Pflanzen nur einen Teil des Medizinsystems der Amchis darstellen, spielen sie dennoch eine besondere Rolle, als Symbole für das Naturwissen der Amchis und als Zentrum des Interesses von Biosprospektion, einem Teil der biomedizinischen Forschung. Die beiden Beispiele aus Ladakh zeigen auch, losgelöst aus dem gesellschaftlichen Kontext, das Dilemma von traditionellen medizinischen Systemen – einerseits die Gefahr, dass ihr Wissen gestohlen wird, andererseits die Chance für deren Erhaltung. Dass Heilpflanzen aus der Perspektive des Naturschutzes nicht nur Probleme darstellen, sondern auch als Chancen für den Naturschutz („conservation opportunities“) betrachtet werden können, ist eine wichtige Botschaft einer Sammlung von Fallstudien, die von Plantlife International, einer Naturschutzorganisation, die sich den Stopp des Verlustes der Diversität von Wildpflanzen zum Ziel gesetzt hat, herausgegeben wurde (Hamilton 2008). Der tatsächliche oder potenzielle Wert von Heilpflanzen für Gesundheit, Einkommen oder kulturelle Identität trägt das Potenzial, als motivierende Kraft für den Naturschutz zu agieren. Eine Fallstudie aus Ladakh zeigt, dass es gelungen ist, durch die Verknüpfung von Heilpflanzenschutz mit den Bedürfnissen im Gesundheitsbereich das Bewusstsein in Hinblick auf schonende Ressourcennutzung zu steigern und die Gemeinschaft diesbezüglich zu mobilisieren. Das Projekt verfolgte Schutzziele und thematisierte die finanziellen Probleme der Amchis und leistete somit wichtige Beiträge zum Schutz der Biodiversität und zur Revitalisierung der traditionellen Medizin in entlegenen Gebieten.

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2. Der Nutzen von Heilpflanzen – ein Argument für die Erhaltung der Artenvielfalt? Beim Schutz von Arten oder Naturräumen bildet oft die Frage nach dem Nutzen das Kernstück der Problematik (vgl. Reichholf 2008). Wem nützt es? Nutzungsbezogene Argumente stehen daher bei der Argumentation des Naturschutzes meist an erster Stelle. Heilpflanzen sind als Motoren für Schutzaktivitäten naturgemäß bestens geeignet, da ihr Nutzen unumstritten und auch von wirtschaftlicher Bedeutung ist. Außerdem schließt das Nützlichkeitsargument auch den potenziellen Nutzen ein und damit die Begründung, dass Nichtwissen durch besseres Wissen ersetzt werden könnte. Es wäre ja kurzsichtig, Arten zu gefährden oder auszurotten, wenn sie später Nutzen bringen könnten. Zahlreiche Beispiele medizinisch bedeutsamer Pflanzen sind ein Beweis dafür, dass das Argument mit dem möglichen Nutzen „auf sicherem Boden steht“ (Reichholf 2008: 201). Allerdings reicht es alleine nicht aus und ist abhängig von den Umständen vor Ort und von der Lebenssituation der jeweiligen Bevölkerung. Wo Armut und soziale Ungerechtigkeit herrschen, verliert es auch an Bedeutung. Der Anbau von Nutzpflanzen für die direkte Ernährung wird dann sicherlich dem Schutz von Heilpflanzen, deren Nutzen möglicherweise noch gar nicht bekannt ist, vorgezogen. Aber, wie zahlreiche Beispiele zeigen, werden auch in reichen Ländern Ertragseinbußen nicht hingenommen, mag der Schutz betreffender Arten noch so gut begründet sein. Die Verknüpfung der Frage, welche Arten erhalten werden sollen, mit der Frage, welche Arten gebraucht werden, führt unweigerlich zu Problemen (vgl. Reichholf 2008): Wo wird die Grenze gezogen zwischen nützlichen und schädlichen Organismen, zwischen den brauchbaren, unbedingt nötigen oder einfach nur schönen Arten? Wer trifft diese Entscheidungen? Ich komme auf das Problem der Unterscheidung zwischen nützlich und problematisch in Kapitel 5 noch einmal zurück. An dieser Stelle möchte ich nur auf die unüberschaubare Fülle und Komplexität von Beziehungen der Lebewesen untereinander und auf ihre wechselseitigen Abhängigkeiten hinweisen. Wenn wir eingreifen und bestimmte Arten fördern, kann es sein, dass andere Arten dadurch empfindlich gestört werden. Bei Naturschutzmaßnahmen muss man sich dieser Problematik immer bewusst sein – es gibt zahlreiche Beispiele, wo in guter Absicht großer Schaden angerichtet worden ist. Das Argument der Nützlichkeit für die Erhaltung von Arten muss somit relativ betrachtet werden. Die Argumentation des Naturschutzes kann aber nicht nur auf Nützlichkeit begründet werden. Nach Reichholf (2008) bewegt sie sich auf drei Ebenen: Neben dem direkten Nutzen ist es die gesellschaftliche Verantwortung und die Lebensvielfalt als Ganzes. Zu den rein anthropozentrischen Nutzungsargumenten stellt Eser2 nicht unmittelbar nutzungsbezogene Argumente wie die Vielfalt, Eigenheit und Schönheit einer Landschaft, die sie als „weiche“ Anthropozentrik bezeichnet. Dazu kommt die eigentlich ethische, völlig selbstlose Argumentation, der Schutz der Natur um ihrer selbst willen. Obwohl in der 2

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Realität kaum jemand nur einem Argumentationsmuster folgen wird, ist diese Typologie hilfreich, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten sowie Stärken und Schwächen der verschiedenen naturethischen Positionen zu verstehen (Eser & Potthast 1999). Betrachtet man den Begriff „Biodiversität“ und seine Definitionen näher, findet man die Gleichzeitigkeit des Werts der biologischen Vielfalt an sich und für menschliche Nutzungen. „Der Biodiversitätsbegriff schwankt zwischen einem ominösen, allumfassenden und ehrfurchtgebietenden Gesamt des Lebens auf Erden und einem wissenschaftlich beschreibbaren, erklärbaren und – so könnte man hoffen – beherrschbaren Phänomen“ (Eser 2001: 138). Diese Mehrdeutigkeit zwischen „ganzheitlicher Mystik und reduktionistischer Entzauberung“ bezeichnet sie als wesentliches Charakteristikum des Biodiversitätsbegriffes und spricht in diesem Zusammenhang von einer „produktiven Koalition“, die selbstlose Wertschätzung und nüchterne Nutzungsinteressen im Biodiversitätsdiskurs eingehen. Dass sich daraus eine Reihe von unterschiedlichen Deutungs- und Interpretationsmöglichkeiten ergeben, wurde schon im ersten Kapitel erwähnt. Genau in dieser Vielfalt der Deutungs- und Nutzungsmöglichkeiten kann man den politischen Erfolg des Begriffs begründet sehen. Er ermöglicht es, unterschiedliche Interessen so zu verhandeln, dass alle profitieren können. Biodiversität kann daher als sogenanntes Grenzobjekt, ein Begriff aus der Wissenschaftsforschung, bezeichnet werden (Eser 2001: 147). Solche Grenzobjekte ermöglichen es, unterschiedliche Gruppen zur Kooperation zu bringen, die keine gemeinsamen Ziele verfolgen. Sieht man Biodiversität als Grenzobjekt, so wird deutlich, dass der Begriff sowohl praktisch als auch theoretisch den vermeintlichen Gegensatz von Mensch und Natur überwinden kann. Biodiversität im Speziellen kann sowohl anthropogenen als auch natürlichen Ursprungs sein. Somit kann es im praktischen Naturschutz notwendig sein, Maßnahmen zu treffen oder bloß vor menschlichem Einfluss zu schützen. In der Naturschutzethik kann Biodiversität als Grenzobjekt sowohl von Anthropozentrikern als auch von Physiozentrikern in ihre Argumentation integriert werden und somit zu einer erfolgreichen Vermittlung zwischen den Polen beitragen. Die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur ist zwar sinnvoll, aber nicht immer sinnvoll anwendbar.

3. Arten im Kontext des tibetischen Medizinsystems Dieses Kapitel umfasst einen geringfügig veränderten Abschnitt aus meiner Habilitationsrahmenschrift (Kriechbaum 2003), in die ich meine Forschungsarbeiten über tibetische Heilpflanzen integriert habe. Bevor ich auf einige Aspekte der Klassifizierung von Pflanzen im tibetischen Medizinsystem und auf die Probleme, die sich bei der Übersetzung in das westliche System ergeben, eingehe, noch einige grundlegende Worte über das tibetische Medizinsystem. Die tibetische Medizin gehört zu den ältesten noch praktizierten medizinischen Traditionen. Sie ist tief im Buddhismus verwurzelt, enthält Elemente vorbuddhistischer und indischer Traditionen und wurde auch von der chinesischen Medizin beeinflusst. Kino-

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und Fernsehfilme, Bücher, die Suche nach alternativen Behandlungsmethoden sowie die generelle Sympathie für das entfernte Hochland von Tibet und seine Bewohner haben zur Popularität der tibetischen Medizin beigetragen. Relativ unbekannt sind jedoch die Probleme, mit denen dieses traditionelle Heilsystem konfrontiert ist. Die tibetische Medizin ist heute weitgehend entwurzelt, da nach der chinesischen Besatzung und während der Kulturrevolution die Medizinschule lcags po ri in Lhasa und auch viele Klöster, in denen die medizinische Tradition unterrichtet wurde, zerstört und die meisten Ärzte entweder getötet oder vertrieben wurden. Vieles von dem alten Wissen, vor allem der mündlich überlieferte Anteil, droht endgültig verloren zu gehen. Die Exiltibeter sind von ihren ehemaligen Sammelgebieten abgeschnitten und es ist außerdem zu einer Konkurrenzsituation mit Ladakh-Amchis gekommen (vgl. Pordié 2008). Vieles über die tibetische Medizin ist in alten Büchern und Schriften überliefert, die nur auszugsweise ins Englische und Deutsche übersetzt sind. Die „klassische“ tibetische Medizin basiert im Wesentlichen auf dem Buch der „Vier Tantras“ (rgyud bzhi), dessen Worte die Tibeter auf Buddha zurückführen. Dennoch liegt vieles aus der Geschichte der tibetischen Medizin, so wie die Geschichte Tibets selbst, (noch) im Dunklen. Zahlreiche Geschichten und Theorien ranken sich um das geheimnisvolle zhang zhung, der Wiege der tibetischen Kultur. Dieses vorbuddhistische Königreich beherrschte vermutlich die westlichen und nördlichen Teile Tibets. Wo es genau lag, wie weit sein Einfluss reichte und wann es zum Niedergang kam, weiß man nicht. Eine der bedeutendsten Abhandlungen über die tibetische Materia Medica stellt das shel gong shel phreng aus dem Jahr 1727 dar, welches auch Beschreibungen der verwendeten Arzneipflanzen enthält. Es gibt aber immer weniger Ärzte, die das Spezialwissen besitzen, die Pflanzen zu erkennen und diese medizinisch verwenden zu können. Eine wesentliche Rolle in der tibetischen Medizin spielte die mündliche Überlieferung, da ergänzend zu den schriftlichen Quellen viele Informationen nur durch die Lehrer weitergegeben wurden. Im traditionellen Umfeld verwenden tibetische Ärzte sowohl selbst gesammelte Pflanzen wie auch im Handel erhältliche Arzneidrogen. Während viele dieser „Marktdrogen“ vergleichsweise gut bekannt und dokumentiert sind, sind die Kenntnisse über die im Gelände gesammelten Pflanzen meist unzureichend oder fehlend und oftmals sind nur die tibetischen Namen bekannt. Für das Buch „Tibetan Medicinal Plants“ (Kletter & Kriechbaum 2001) wurden sämtliche zugänglichen Literaturquellen mit Angaben zu wissenschaftlichen Namen von tibetischen Arzneipflanzen ausgewertet. Dabei ergaben sich lange Listen unterschiedlicher Arten, unterschiedlichster Gattungen und sogar Familien für eine tibetische Arzneipflanze. In den meisten Fällen fehlen jedoch Angaben über die Bestimmung und das Zustandekommen der Namen. Die Vielzahl an Arten, die oftmals für eine einzige tibetische Arzneipflanze angegeben wird, lässt sich teilweise geografisch erklären, da sich die Praxis der tibetischen Medizin über weite Gebiete erstreckt. So werden in der Mongolei naturgemäß andere Pflanzenarten oder -gattungen unter der gleichen Arzneipflanzenbezeichnung gesammelt wie in Osttibet. Beispielsweise können in der Gegend von Lhasa viel weniger Arten gefunden werden als in den Biodiversitäts-Hotspots in Yunnan und Sichuan. Daraus 5. Gegen jedes Leiden ist ein Kraut gewachsen

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ergibt sich, dass es für eine Arzneipflanze nicht einen einzigen wissenschaftlichen Namen geben kann und dass andererseits die Bezeichnungen nur von lokaler Gültigkeit sind. Man kann sich also vorstellen, dass daraus viele Verwirrungen und Verwechslungen entstehen. So werden botanische Namen für geografische Regionen angegeben, in denen die Art gar nicht vorkommt, weil einfach der tibetische Pflanzenname in die Wissenschaftssprache „übersetzt“ wurde. Ein weiterer Grund für verwirrende Angaben sind die unterschiedlichen Überlieferungen, regionale Abwandlungen und oftmals verwendete Ersatzpflanzen. In diesem Zusammenhang steht auch das Problem der Exiltibeter, die von den traditionellen Sammelgebieten abgeschnitten sind und heute in ganz anderen biogeografischen Regionen sammeln oder die Arzneipflanzen von Händlern beziehen müssen. Es gibt aber auch Ungenauigkeiten, die sich durch wiederholtes, unrichtiges Abschreiben fortpflanzen und vervielfältigen. Die tibetischen Benennungen können in vielen Fällen nur über lokale Gewährsleute erfragt werden. Ihre Übersetzung nach dem Gehör ist jedoch fehlerträchtig und es kann leicht zu Missverständnissen kommen, da die Informanten oftmals einen Namen nicht genau wissen: „throughout the world local terms for ‚I don’t know‘ have been published as species specific names“ (Cunningham 2001: 19). Einige Beispiele sollen verdeutlichen, wie die unterschiedliche Herangehensweise der Tibeter bei der Klassifizierung im Pflanzenreich zu Schwierigkeiten bei der „Übersetzung“ führt. Es gibt unterschiedliche Ansätze, die Vielfalt der Pflanzen zu beschreiben, was in der Folge bedeutet, dass Arten im wissenschaftlichen Sinne nur eine mögliche Sichtweise sind. In „Tibetan Medicinal Plants“ (Kletter & Kriechbaum 2001) sind die Pflanzen dem tibetischen System entsprechend geordnet, um dem Leser dieses Konzept näherzubringen. Der Abschnitt über die Pflanzenklassifikation bezieht sich im Wesentlichen auf zwei Quellen: shel gong shel phreng und mkhyen rab nor bu, einen erfahrenen Arzt, der in Lhasa im Men Tsee Khang praktiziert hat. Dieses System der Pflanzen ist nicht minder kompliziert als unser westlich-wissenschaftliches. Oftmals werden verschiedene Typen unterschieden und es existieren zahlreiche Synonyme und Ersatzverwendungen. Hinzu kommen – wie auch bei uns – die abweichenden Ansichten unterschiedlicher Experten. Drei Typen, wie viele Arten? Die tibetischen Ärzte des Men Tsee Khang in Dharamsala sammeln Pflanzen der Gattung Anaphalis unter dem Namen spra ba, wobei sie einen größeren Typ (spra thog) und einen kleineren Typ (spra g-yung) unterscheiden. Eine dritte Pflanze wird nur als spra ba gesammelt und keinem der beiden Typen zugeordnet. Die drei Pflanzen sind morphologisch in Bezug auf Wuchsform, Stängel- und Hüllblätter gut zu unterscheiden, lassen sich aber mit der vorhandenen Literatur nicht verlässlich bestimmen. Das ist verständlich, da es sich bei Anaphalis um eine „schwierige“ oder „kritische“ Gattung handelt. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts formuliert ein britischer Botaniker „It is difficult to conceive a more troublesome assemblage of plants to discriminate and describe than this genus“ (Hooker 1882: 279). Hundert Jahre später weisen Georgiadou & Rechinger (1980) in der Flora Iranica darauf hin, dass die Verteilung von männlichen und weibli-

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chen Blüten und die Fruchtmerkmale, auf denen die meisten Klassifikationen der Gattung beruhen, taxonomisch unzureichend sind und eine gründliche Revision dieser Gattung dringend notwendig wäre … Beim Vergleich von Hunderten von Belegen und den zugänglichen Schlüsseln und Beschreibungen zeigten sich die unterschiedlichen und oftmals recht widersprüchlichen Ansichten der verschiedenen Bearbeiter und Sammler. Hinter manchen Arten (z. B. Anaphalis contorta), die in Herbarien abgelegt oder in der Literatur dokumentiert sind, verbirgt sich oft eine Mehr-, wenn nicht Vielzahl von Arten. Andererseits sind Belege einer bestimmten Art in unterschiedlichen Herbarien oftmals verschiedenen Namen zugeordnet und damit letzten Endes unbestimmbar. Der Vollständigkeit halber möchte ich kurz schildern, wie ich mit dem Problem umgegangen bin. Nach gemeinsam mit Bernhard Dickoré (Göttingen) durchgeführten Studien der reichhaltigen Sammlungen im British Museum of Natural History und den Herbarien in Kew Gardens und der Universität Göttingen und dem Vergleich mit den Originalbeschreibungen kristallisierte sich ein Konzept aus drei Arten heraus, die für unsere Arbeit brauchbar erschienen und die drei bestehenden Namen (Anaphalis contort., Anaphalis royleana, Anaphalis triplinervis) zugeordnet werden konnten. Es war notwendig, ein Konzept zu entwickeln und die Beschreibungen der Arten so zu ergänzen, dass Herbarbelege dieser drei Arten auch bestimmbar werden. In diesem Fall konnten die drei tibetischen Pflanzenbezeichnungen schließlich mit drei botanischen Artbezeichnungen zur Deckung gebracht werden. Dies stellt nur ein vorläufiges Ergebnis dar. Durch die Beschreibung des Prozesses ist aber eine Nachvollziehbarkeit gegeben. Die Belege wurden im Herbarium des Instituts für Botanik der Universität für Bodenkultur Wien abgelegt und stehen für eine Nachprüfung oder spätere, ausführlichere, rein wissenschaftliche Revisionen zur Verfügung. Eine kleine Auswahl von Typen … In der botanischen Klassifikation der tibetischen Medizin werden Pflanzen in Typen und Untertypen eingeteilt. Oftmals sind sie an morphologischen Unterschieden zu erkennen, z. B. an unterschiedlichen Blütenfarben, oder daran, dass sie auf unterschiedlichen Standorten wachsen, in seltenen Fällen auch nach ihrer geografischen Verbreitung. Nach der Farbe der Blüte oder der Wurzel unterscheidet man z. B. Typen von Aconitum (Schwarzer, Gelber, Weißer, Roter Eisenhut), nach der Blütenform solche von Pedicularis. Häufig werden den Typen die Attribute männlich und weiblich zugeordnet (z. B. bei Asparagus der männliche Typ mit Dornen, der weibliche ohne). Die Namen und Beschreibungen sind manchmal sehr treffend und anschaulich. So wird die Gattung Pedicularis nach der Form des Blütenschnabels in zwei Gruppen geteilt, die jeweils einer Arznei entsprechen, die wiederum in verschiedene Typen aufgeteilt sind. Lug ru (Schafhorn) umfasst alle Arten mit gedrehtem Schnabel, während glang sna (Elefantenrüssel) alle Arten mit geradem Schnabel enthält. In anderen Fällen sind aber die Unterteilungen der Typen für uns nicht so leicht nachvollziehbar, da es kaum logische Begründungen oder brauchbare Beschreibungen dazu gibt. Manche Arzneinamen haben einen mythischen Hintergrund. Zum Beispiel gehört lug mig 5. Gegen jedes Leiden ist ein Kraut gewachsen

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(Aster- und Erigeron-Arten) zu einer Gruppe von Pflanzen, deren Bezeichnung als „drei Augen von Lord Shiva“ übersetzt werden kann. Die Vertreter dieser Gruppe werden nach ihrer Blütenfarbe in drei Kategorien eingeteilt: gelb, schwarz und blau. Der Name der blauen Gruppe wird als „das Auge der Göttin lug skyes ma“ übersetzt und lug mig, die zu dieser Gruppe gehört, bezieht sich nach einer Legende auf die Augen dieser Göttin. Spyan gzigs rtag ngu ist eine Arzneipflanze, die zu einer Gruppe von Pflanzen gehört, deren Namen sich auf verschiedene Gottheiten beziehen, deren Körperfarben mit den Blütenfarben übereinstimmen. Der weiße Typ bezieht sich auf den Buddha des Mitgefühls (spyan ras gzigs), rtag ngu bedeutet wörtlich übersetzt „immer weinend“ und wird damit erklärt, dass die Pflanze weint, weil ihre medizinischen Qualitäten von den Menschen nicht erkannt werden. Eine Heilpflanze, drei Gattungen Der Umgang mit den tibetischen wissenschaftlichen und lokalen, volkstümlichen Heilpflanzennamen ist viel komplizierter als hier dargestellt werden kann. Der kurze Exkurs in dieses Thema soll nur die Welt anschaulich machen, in die der westliche Wissenschafter dabei eintaucht. Oft sind es – aus westlicher Sicht – verschiedene Arten, ja sogar Gattungen und Familien, die unter einem tibetischen Namen gesammelt werden. ‚Bri ta sa ‘dzin, z. B., umfasst die Gattungen Fragaria, Saxifraga und Cuscuta. Entscheidend für die Zuordnung sind die langen, dünnen Ausläufer oder Stängel. Andererseits findet man z. B. verschiedene Vertreter der Gattung Artemisia unter drei verschiedenen tibetischen Bezeichnungen: yog mo, tshar bong, phur nag.

4. Mehr als nur Inhaltsstoffe … Charakteristisch für viele traditionelle Medizinsysteme ist die ganzheitliche Betrachtungsweise im Umgang mit Krankheit, Heilung und Gesundheit im heilkundlichen sowie im spirituell-religiösen Kontext. Bleiben wir bei den tibetischen Heilpflanzen. Um deren Wirkung zu verstehen, ist ein Studium des gesamten Medizinsystems notwendig, das hier zu weit führen würde Die tibetische Medizin ist ein ganzheitliches System. Das innere Gleichgewicht des Körpers findet seinen Ausdruck vor allem in der Harmonie der drei nyes pa – wörtlich übersetzt bedeutet der Begriff schädlich für den Körper –, ähnlich wie bei der antiken Humoraltheorie. Die üblichen deutschen Übersetzungen „Wind, Galle und Schleim“ sind unzureichend und irreführend (vgl. Kletter & Kriechbaum 2001). In der tibetischen Medizin sind alle Heil- und Nahrungspflanzen in ihrer Natur und ihren Eigenschaften durch die fünf Grundelemente bestimmt, von denen sie hervorgebracht wurden (Erde, Wasser, Feuer, Luft, Raum). Für ihre Wirksamkeit sind verschiedene Faktoren zu beachten, da diese sonst verloren geht. Bedeutsam sind hierbei der Wuchsort, der Zeitpunkt und die Art der Ernte sowie die Entfernung von schädlichen Pflanzenteilen und die Anwendung innerhalb einer bestimmten Zeit.

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Von ihrer Natur her werden Pflanzen als wärmend, kühlend oder neutral unterschieden, vom Geschmack her werden sie in sechs Kategorien (süß, sauer, salzig, bitter, scharf, adstringierend) eingeteilt. Des Weiteren werden acht Qualitätskategorien unterschieden, die sich etwa folgendermaßen übersetzen lassen: schwer, ölig, kühl, stumpf, leicht, grob, scharf und beißend. Darüber hinaus gibt es 17 sekundäre Qualitäten, welche Einfluss auf die nyes pa und somit auf den Körper und den Verlauf von Krankheiten haben. In vielen traditionellen Medizinsystemen kann man keine klare Grenze zwischen heilkundlichen Maßnahmen und religiösen oder rituellen Praktiken der Heilkundigen erkennen. Medizinische Vorstellungen im Umgang mit Heilung gehen oft mit spirituell-religiösen Ansichten einher. Auch im medizinischen Umfeld der Baatombu in Benin lassen sich Medizin und Religion nicht immer klar voneinander trennen (Mannah 2009). Alle befragten Patienten und Heiler gaben an, dass unter Heilung nicht nur die Beseitigung von Krankheiten verstanden wird, sondern auch immer die spirituellen und religiösen Aspekte von Krankheiten mit einbezogen werden. Neben dem Wissen um die medizinischen Eigenschaften einzelner Pflanzen ist auch die richtige Zusammensetzung zu einem Heilmittel erforderlich, wobei nach Aussage von Heilern die Reihenfolge der Zugabe der jeweiligen Bestandteile entscheidend ist. Betont wird außerdem die Wichtigkeit begleitender Gebete während der Herstellung der pflanzlichen Medizin. Bei der gleichzeitigen Verwendung mehrerer Heilpflanzen müssen die einzelnen Pflanzenteile – begleitet durch ein Gebet an die höchste Macht oder die Ahnengeister – eine Lage nach der anderen in einen Topf gelegt, mit Wasser aufgefüllt und erst dann abgekocht werden, damit sich die Gebete nicht vermischen und die medizinische Wirksamkeit der Pflanzen gewährleistet bleibt. Ohne die Beachtung spirituell-religiöser Elemente ist weder Diagnose noch Therapie möglich. In einigen Heilpflanzenanwendungen müssen Zeremonien vollzogen werden, die die Verwendung ritueller Namen erfordern. Bei den Behandlungen von Krankheiten werden Pflanzen immer mit diesen Namen angesprochen, da nur so die Heilkräfte aktiviert werden können. Beinahe jede Heilpflanze besitzt mindestens drei unterschiedliche Namen, entsprechend ihrer Verwendung, Herkunft und Alter. Die „Ehrennamen“, die dabei in Gebeten und bei Zeremonien zum Ausdruck kommen, sind aber nicht jeder Person bekannt.

5. Chemische Vielfalt … Der Schutz der Biodiversität, insbesondere jener von Heilpflanzen, bedeutet auch den Schutz der chemischen Vielfalt. Chemischer Polymorphismus ist ein verbreitetes Phänomen bei Pflanzen und bedeutet, dass bei Pflanzen einer Art chemische Variationen auftreten können. Dies ist sowohl für die pharmazeutische Biologie als auch für die botanische Systematik von Bedeutung. Ein Beispiel soll verdeutlichen, wie stark die Variationen, sogar innerhalb einer Unterart, sein können. Flächendeckende Untersuchungen des arktischen Thymians (Thymus praecox subsp. arcticus) im nordatlantischen Europa ergaben, dass es, bezogen auf die Variationen an ätherischen Ölen, insgesamt 17 verschiedene Chemotypen 5. Gegen jedes Leiden ist ein Kraut gewachsen

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dieser Art gibt (Schmidt & al. 2004). Diese wachsen häufig auf engem Raum nebenei­ nander, die Ausprägung der Variation ist jedoch vom geografischen Breitegrad beeinflusst.

… über die Rolle von sekundären Inhaltsstoffen im Ökosystem

Die Pflanzenwelt ist reich an chemischen Substanzen, die in den normalen biochemischen Abläufen keine Funktion zu haben scheinen. Die Fähigkeit der Pflanzen zur Synthese sekundärer Inhaltsstoffe hat jedoch eine große Bedeutung hinsichtlich ihrer Konkurrenzfähigkeit. Diese Sekundärstoffe fungieren als Toxine und Abwehrstoffe, als chemische Signal- oder Lockstoffe und sind maßgeblich für die lebensnotwendigen Wechselbeziehungen zwischen Pflanze und Tier in einem Ökosystem verantwortlich. Durch die Reaktion der Pflanzen auf tierischen Fraßdruck – bei uns vornehmlich jener der Insekten – sind zahlreich sekundäre Inhaltsstoffe entstanden. Verschiedene Alkaloide, Terpene und Tannine verursachen einen bitteren Geschmack, einen strengen Geruch oder sie sind giftig und verleihen damit Pflanzen einen Schutz vor herbivoren Tieren. Andere Verbindungen wirken als Signalstoffe im Rahmen symbiontischer Interaktionen mit nützlichen Mikroorganismen des Bodens. Phenolische Verbindungen dienen zur Abwehr von Attacken pathogener Mikroorganismen oder haben eine Schlüsselrolle als strukturelle Komponenten. Es gibt jedoch auch Tierarten, die die Abwehrgifte ihrer Nahrungspflanzen tolerieren und sogar speichern können, um sie zu ihrer eigenen Verteidigung zu verwenden. Ein klassisches Beispiel hierfür ist der Osterluzeifalter, dessen Raupen an der giftigen Osterluzei fressen und davon profitieren. Die Giftstoffe der Osterluzei werden im Körper eingelagert und schützen so Raupe und Schmetterling vor dem Gefressenwerden. Das Vorkommen der Osterluzei ist für den Schmetterling von lebenswichtiger Bedeutung, da sie der Raupe als alleinige Futterpflanze dient. Die Heimat der Osterluzei ist das Mittelmeergebiet, daher ist sie bei uns auf wärmebegünstigte Gebiete beschränkt. Sie gilt als Kulturrelikt und Kulturbegleiter, weil man annimmt, dass sie aus Gärten, in denen sie im Mittelalter als Heilpflanze kultiviert wurde, verwildert ist. Es gibt aber auch Hinweise, dass die Pflanze in unserem Gebiet in Augebieten autochthon ist und sich von dort auf die Standorte der Kulturlandschaft, besonders in die Weinberge, ausgebreitet hat (Holubová & Slavíková 1964). Die Osterluzei ist eine uralte Heilpflanze. Im wissenschaftichen Namen Aristolochia und im englischen Namen birthwort spiegelt sich die frühere Verwendung in der Geburtshilfe wider. Im Mittelalter war die Osterluzei als Universalheilmittel bekannt. Hildegard von Bingen empfiehlt sie als Prophylaktikum bei schweren, lang anhaltenden Erkrankungen (Müller 1982). Ähnlich war die Verwendung im 20. Jahrhundert als Immunstimulanz. Aristolochiasäure steigert deutlich den körperlichen Abwehrmechanismus bei Infektionen und war bis vor mehr als 20 Jahren in Präparaten zur Verbesserung der Heilerfolge bei Antibiotika- und Chemotherapien enthalten. Wegen der hohen Giftigkeit ist sie allerdings heute nicht mehr in Gebrauch. Aristolochiasäure kann Tumorbildung aus-

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lösen, außerdem wurde eine erbgutverändernde Wirkung festgestellt (Roth & al. 1994). Aufsehen erregt haben Osterluzei-Arten auch im Zusammenhang mit schweren Nierenerkrankungen („Balkan endemic nephropathy“), auf die man erstmals in den 1950er-Jahren aufmerksam wurde. Mead (2007) schildert in seinem Beitrag „Manna from hell“, wie ein amerikanisch-kroatisches Forscherteam bestätigen konnte, dass mit Aristolochiasäure vergiftetes Brot diese Nierenerkrankung verursacht und konnte nachweisen, dass dieselben giftigen Inhaltsstoffe in Kräuterpräparaten vorkommen, die auf der ganzen Welt verwendet werden. In den letzten 50 Jahren wurden verschiedene Hypothesen aufgestellt, um die Krankheitsursachen zu erklären. Die Hypothese, dass Aristolochiasäure in einem ursächlichen Zusammenhang mit den mysteriösen Erkrankungen steht, wird von Grollman & al. (2007) unterstützt. Ich habe dieses Beispiel gewählt, weil es sehr schön zeigt, wie schwierig die Entscheidung sein kann, ob etwas nützlich und schützenswert oder schädlich ist.

… problematisch oder schützenswert?

Sind Heilpflanzen nützlich und Giftpflanzen schädlich? Diese Frage kann weder bejaht noch verneint werden, da alle Pflanzen ihre Funktionen in Ökosystemen besitzen. Außerdem ist in vielen Fällen die Zuordnung zu Heil- oder Giftpflanzen nur eine Frage der Dosis. Giftpflanzen können unter bestimmten Umständen jedoch zu einem Problem werden. Treten diese in zu großer Dichte auf Wiesen oder Weiden auf, kann es zu Vergiftungen bei Nutztieren kommen. Wenn diese Flächen dazu noch naturschutzfachlich wertvoll sind, kommt es zu einem Konflikt zwischen Landwirtschaft und Naturschutz. In Österreich gibt es in manchen Regionen solche Probleme mit Herbstzeitlose und Wasser-Greiskraut, vor allem auf extensiv bewirtschaftetem Grünland. Auf der Universität für Bodenkultur laufen derzeit Untersuchungen zu beiden Giftpflanzen bezüglich der Ursachen ihrer Zunahme und wie man sie regulieren kann, ohne den naturschutzfachlichen Wert des Grünlandes zu beeinträchtigen (Bassler 2008, Winter & Kriechbaum 2009). Die Herbstzeitlose als Gefahr für Nutztiere stellt im Prinzip kein neues Problem dar. Durch die Intensivierung der Grünlandwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg sind giftpflanzenbedingte Erkrankungen und Verluste in den Hintergrund getreten. Erst in den letzten Jahren häufen sich wieder Berichte über entsprechende Vorfälle. Die Antwort auf die oben gestellte Frage lautet also problematisch. Ja, aber ganz so einfach ist es nicht. Die Grünlandflächen, auf denen die Herbstzeitlosen Probleme bereiten, sind, wie bereits erwähnt, oft sehr artenreich und auf jeden Fall zu erhalten. In Hinblick auf unser eigentliches Thema ist zudem erwähnenswert, dass die Herbstzeitlose auch für medizinische Zwecke genutzt wurde und wird. Insbesondere über Anwendungsmöglichkeiten in der Krebstherapie und bei der Behandlung von Leberzirrhose wird immer noch geforscht. Die Herbstzeitlose ist in ihrem Verbreitungszentrum in Mitteleuropa (noch) 5. Gegen jedes Leiden ist ein Kraut gewachsen

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weit verbreitet und nicht gefährdet, an ihren Arealrändern ist sie jedoch selten. In Irland beispielsweise, am nördlichen Rand ihrer Verbreitung, ist die Art stark gefährdet und die wenigen Populationen werden streng gehütet. Es ist also eine Frage des Blickwinkels, ob die Pflanze schädlich oder nützlich, problematisch oder schützenswert ist. Probleme mit Wasser-Greiskraut treten regional im Waldviertel auf. Der Vergiftungstod von zwei Therapiepferden war der Anlass für Verunsicherung und teilweise Panik bei Pferdebesitzern und Wiesenbewirtschaftern. Auch hier sind es meist naturschutzfachlich wertvolle Wiesen, die betroffen sind. Das Wasser-Greiskraut selbst steht auf der Liste der Gefährdeten Pflanzen Österreichs. In Nordwest-Deutschland gibt es beispielsweise sogar Artenschutzprojekte für das Wasser-Greiskraut und sogar Wiederansiedlungsversuche (Müller 1999). Ein weiterer Aspekt, der sowohl für Heilpflanzen als auch für Artenvielfalt große Relevanz hat, ist die zeitliche Dimension unserer Betrachtungsweise. Wenn wir diese erweitern, müssen wir auch evolutionäre Vorgänge in Betracht ziehen, die Arten verändern, oder zum Entstehen von neuen Arten führen. Das kann wieder am Beispiel des Wasser-Greiskrautes verdeutlicht werden. Aus verschiedenen Gebieten in Europa sind Hybride des WasserGreiskrautes und des Jakobs-Greiskrautes bekannt. Auf den Orkney-Inseln nördlich von Schottland hat sich dieser Hybrid auf den teilweise dränagierten Weiden gut etabliert. Die Bedingungen für die Elternteile sind jedoch suboptimal – für das Jakobs-Greiskraut zu feucht, für das Wasser-Greiskraut im Sommer zu trocken – und begrenzen somit deren Verbreitung. Es ist ein eindrucksvolles Beispiel für einen Hybrid, der in einem Randgebiet die dominante Form wird (Crawford 2008). Durch Hybridisierung können möglicherweise aber auch neue Eigenschaften und Inhaltsstoff-Kombinationen auftreten, die eine Ausbreitung der Hybrid-Sippen fördern und ihre Giftigkeit steigern. Die Entstehung neuer Hybride wäre somit eine denkbare Erklärung für die Häufung und Ausbreitung entsprechender Sippen. Für Hybrid-Populationen von Wasser-Greiskraut und Jakobs-Greiskraut in den Niederlanden konnten tatsächlich einzigartige Zusammensetzungen von Inhaltsstoffen nachgewiesen werden (Kirk & al. 2004).

6. Artenvielfalt – wozu? Das Argument der Nützlichkeit ist für den Schutz von (Heil-)Pflanzen, aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, also nur von untergeordneter Bedeutung. Bierhals (1984) sieht sogar eine Gefahr darin, dass der Naturschutz durch die Überbetonung von ökologischen und Nutzen-Argumenten die Kontrolle über die Natur eher beschleunigt als bremst. Er stellt fest, dass der Zuwachs an ökologischem und naturwissenschaftlichem Wissen mit der Zunahme der Vernichtung der Natur einhergeht, und befasst sich mit der Frage, warum die Argumente des Naturschutzes so erfolglos sind. Als eine erste Antwort nennt er das Verleugnen der wahren Argumente und drückt es provokant so aus: „Wenn wir wissenschaftlich, rational, quantitativ oder ökologisch argumentieren, lassen

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wir uns auf die Argumentationsweise derjenigen ein, die die Natur umwandeln und zerstören. Wie können wir erwarten, erfolgreich Naturschutz zu betreiben mit den Argumenten der Naturzerstörer?“ (Bierhals 19843) Das Dilemma des Naturschutzes ist die Konzentration auf das Rationale, Objektive, auf die Ökologie, auf die Monetarisierung und das Ausblenden der eigentlich tiefsten emotionalen, seelischen Beziehung des Menschen zur Natur. Bierhals (1984) beschäftigt sich mit den Wurzeln unserer Naturbeziehung und mit dem jahrhundertealten, aus unendlich vielen Quellen gespeisten Entwicklungsprozess in unserer Beziehung zur Natur. Hoffnung sieht er in der Vielfalt alternativer Bewegungen in der Landnutzung, der Ökonomie, dem Wohnen, Ernähren, in der Religion oder der Politik, die zu dem Versuch gehört, die Verhältnisse des Menschen zu sich selbst, zum Mitmenschen und zur Natur zu erneuern. Dass Naturschutz eine emotionale Angelegenheit ist, betont auch Reichholf (2008) und weist darauf hin, dass gegenwärtig allzu Negatives im Naturschutz überwiegt und durch Positives ausbalanciert werden muss. „Conservation is basically about people not about resources.“ (Anderson 1996: 123). Das echte Problem ist nicht das Management von Ressourcen, sondern das Management von Menschen. Wissen ist notwendig, aber ohne emotionalen Antrieb kommt es zu keiner Aktion. Anderson sieht ein Hauptproblem für modernes Umweltmanagement in der Tatsache, dass das urbane Umfeld viele von uns von der ökologischen Realität entkoppelt. Ja, dass Überspezialisierung auch in der Landwirtschaft Tätige von einer breiten ökologischen Sicht entkoppelt. Sie zeigt aber auch auf, dass der sorgsame Umgang mit der Natur nicht unbedingt selbstverständlich für traditionelle Kulturen ist. Wir können von Kulturen lernen, die Erfahrung im Management von Ressourcen haben, aber wir dürfen von keiner Gesellschaft erwarten, dass sie alle Lösungen parat hat. Kulturen sind verschieden und weltweit unterschiedliche Verhältnisse müssen den örtlichen Gegebenheiten entsprechend berücksichtigt werden. Aber Erhaltung der Natur ist eine Kulturleistung und „wie viel Natur, wie viel von ihrer Natur sie schützt, wird auch ein Kriterium für Qualität einer Kultur werden“ (Reichholf 2008: 205). Warum die Mannigfaltigkeit der Natur mit der Erhaltung der Lebensgrundlagen des Menschen zu tun hat, zeigt ein revolutionäres Plädoyer für den Naturschutz, das die enge Beziehung zwischen Natur und Kultur ausdrückt (Mazzucco 1983): (1) Die Natur bildet das Erfahrungspotenzial des Menschen – die Bedeutung der Mannigfaltigkeit für die Menschheit, für die Erfahrung von Sinnesqualitäten, wie Farben, Geschmack und Geruch; für die Kreativität, die Kulturleistungen hervorbringt. (2) Das primäre Erleben der Natur ist eine gründende Form des Daseins – der Einfluss der natürlichen Vielfalt auf die Entwicklung des Einzelmenschen; Naturerlebnisse sind im Vergleich zur Konsumwelt immer einzigartig, etwas, das die Individualität der Erfahrung und damit des Innenlebens erhöht; in der Natur erleben wir Harmonie und Ästhetik.

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S. 116 des Wiederabdrucks 2005. 5. Gegen jedes Leiden ist ein Kraut gewachsen

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(3) Der Einfluss regionaler Unterschiede in der Natur auf das Heimatgefühl des Menschen – regionale Unterschiede in der Natur spiegeln sich in einer Vielfalt menschlicher Lebensformen wieder; jede Nivellierung der Umwelt erschwert die Identifikation mit einem Landschaftscharakter, die Ausbildung eines Heimatgefühls, eines Gefühls der Vertrautheit, Sicherheit, Zugehörigkeit, aber damit das Erlebnis der Fremde. (4) Die Mannigfaltigkeit der Natur ermöglicht eine Vielzahl landbesitzartiger Beziehungen innerhalb desselben Areals – das Zugehörigkeitsgefühl, also eine gefühlsmäßige Bindung, zu einer Landschaft begründet sich über die geistige Besitznahme von landschaftstypischen Strukturen; auch die intensive Beschäftigung mit Teilbereichen der Natur kann ein Gefühl vermitteln, das einem Besitzverhältnis gleichkommt. (5) Die Mannigfaltigkeit in der Natur bildet das Entwicklungspotenzial für Anpassungen an Umweltveränderungen – die Natur befindet sich in stetigem Wandel, die Erhaltung der Artenvielfalt bedeutet daher nicht die Beibehaltung des Status quo in der Landschaft; aber die genetische Vielfalt sowohl auf Artebene als auch innerartlich muss erhalten bleiben, um die Anpassungsfähigkeit der Organismen zu gewährleisten. Die Existenz des Menschen in seiner geistigen Vielfalt ist vom Vorhandensein der Mannigfaltigkeit in der Natur abhängig. Es gibt eine unbegrenzte Zahl von Möglichkeiten, trotz Bewahrung der natürlichen Vielfalt eine blühende Wirtschaft zu betreiben, weil dies ja nur vom menschlichen Einfallsreichtum abhängt (Mazzucco 1983: 15). Das Fazit aus all diesen Betrachtungen ist, dass man sich auf die Frage, wie viele Arten von Tieren und Pflanzen die Erde „braucht“, niemals wird festlegen können. Es kann aber auch niemand angeben, welche Arten „entbehrlich“ sind (Reichholf 2008: 211).

Literatur Anderson, E.N. (1996): Ecologies of the Heart. Emotion, Belief and the Environment. Oxford University Press, New York. 256 p. Bassler, G. (2008): Giftpflanzen im Grünland – ein Problem für Landwirtschaft und ­Naturschutz. Pilotstudie Wasser-Greiskraut im Waldviertel. Unveröffentlichter Bericht. 42 S. Bierhals, E. (1984): Die falschen Argumente? Naturschutz-Argumente und Naturbeziehung. Landschaft + Stadt 16 (1/2): 117–126. Wiederabdruck 2005 in: Natur und Kultur 6 (1): 113–128. Crawford, R.M.M. (2008): Plants at the Margin. Ecological Limits and Climate Change. Cambridge University Press. 478 p. Clifford, T. (1990): Tibetische Heilkunst. Einführung in Theorie und Praxis der altbewährten Naturheilkunde der Tibeter. Ullstein Sachbuch, Frankfurt. 320 S. Cunningham A.B. (2001): Applied Ethnobotany. People, Wild Plant Use & Conservation. People and Plants Conservation Manuals, Earthscan Publications Ltd, London and Sterling VA. 300 S.

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Pordié, L. (2008): Hijacking intellectual property rights: Identities and social power in the Indian Himalayas. In: Pordié, L. (ed.): Tibetan Medicine in the Contemporary World. Global Politics of Medical Knowledge and Practice. Routledge. 132–159. Reichholf, J.H. (2008): Ende der Artenvielfalt? Gefährdung und Vernichtung der Biodiversität. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main. 224 S. Roth, L., Daunderer, M., Kormann, K. (1994): Giftpflanzen. Pflanzengifte. 4. Auflage. Nikol Verlagsgesellschaft, Hamburg. 1090 S. Schmidt, A., Bischof-Deichnik, C., Stahl-Biskup, E. (2004): Essential oil polymorphism of Thymus praecox subsp. arcticus on the British Isles. Biochemical Systematics and Ecology 32: 4009–421. Timmermanns, K. (2003): Intellectual property rights and traditional medicine: policy dilemmas at the interface. Social Science & Medicine 57: 745–756. Voeks, R.A. (2004): Disturbance Pharmacopoeias: Medicine and Myth from the Humid Tropics. Annals of the Association of American Geographers 94 (4): 868–888. Winter, S., Kriechbaum, M. (2009): Bewirtschaftung mit Hindernissen. Über die Herbstzeitlose im österreichischen Grünland. zoll+ Österreichische Schriftenreihe für Landschaft und Freiraum 14: 66–70.

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6. Kulturpflanzenerhaltung mit ARCHE NOAH1

6.1. Entstehung, Gefährdung und Erhaltung der Kulturpflanzenvielfalt Bernd Kajtna

Mensch und Kulturpflanze

Der Mensch wird in vielen Fällen als Bedrohung für die Biodiversität betrachtet. In einem Teilbereich, der Agrobiodiversität, hingegen ist der Mensch Ursache für die Entstehung und Mittel und Zweck für die Erhaltung der „Vielfalt“. Diese enge Verbindung zwischen Mensch und Pflanze wird durch den Begriff „Kultur“ beschrieben. Das Wort „Kultur“ hat, laut dem Kulturwissenschaftler Raymond Williams, seine Ursprünge in der Landwirtschaft, mit den ursprünglichen Bedeutungen von „Kultivierung“ und „Hüten“2. Die Kulturlandschaft ist die durch den Menschen erzeugte, durch die Landnutzung strukturierte und von ihr geprägte Landschaft. Durch die jahrtausendelange, vor allem landwirtschaftliche Nutzungstätigkeit entstand eine abwechslungsreiche, vielfältige Landschaft. Mit ihren Arten und Lebensräumen beinhaltet die Kulturlandschaft einen wichtigen Teil der Agrobiodiversität (HOLZNER 2006). Die Kulturpflanzen stammen von wilden Ursprungsarten ab – sie wurden durch Auslese in Kultur genommen (domestiziert). Der Mensch veränderte (bewusst oder unbewusst) ihre Eigenschaften, um einen größtmöglichen Nutzen durch die Verwendung der Pflanze zu erzielen. Vor rund 10.000 Jahren begann der Prozess der Domestikation im Nahen Osten. Der Übergang vom Sammeln zum Anbau ist Grundstein unserer heutigen Kultur und Beginn der bäuerlichen Pflanzenzüchtung. Natürliche Standortsfaktoren, Anbaumethoden und Ernährungsgewohnheiten wirkten dabei ebenso auf die Entwicklung lokaler Kulturpflanzen ein wie soziokulturelle Eigenheiten der lokalen Gemeinschaften. Der Standort einer Kulturpflanze ist immer ein Feld, Garten oder ein anderer für die landwirtschaftliche oder gartenbauliche Nutzung anthropogen modifizierter Standort (VOGL-LUKASSER et. al. 2007). Kulturpflanzen werden aktiv vom Menschen vermehrt. Der Mensch beeinflusst durch Wahl des Standorts, Größe der Population und Auswahl der Individuen mit jedem Vermehrungsschritt den Charakter eine Kulturart in eine bestimmte Richtung. Kulturpflanzen wurden seit jeher von Menschen von ihren Ursprungsgebieten aus in neue Anbaugebiete gebracht, wo sie weiterentwickelt wurde. Dieser Prozess der Weitergabe 1 2

Arche Noah, Gesellschaft für die Erhaltung der Kulturpflanzenvielfalt & ihre Entwicklung. Aus dem Referat von Jennifer Jordan am 16. Sepember 2009 in Wien. 6.1. Entstehung, Gefährdung und Erhaltung der Kulturpflanzenvielfalt

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und Vermehrung wurde über Jahrtausende von Bauern und Bäuerinnen getragen. Das Ergebnis ist eine enorme genetische Vielfalt innerhalb jeder Kulturart (im Folgenden als Sortenvielfalt3 bezeichnet). Die Leistung der Bäuerinnen und Bauern wird auch im Internationalen Vertrag über pflanzengenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft an prominenter Stelle gewürdigt: Im Artikel 9 (Rechte der Bauern) heißt es: Die Vertragsparteien erkennen den außerordentlich großen Beitrag an, den die ortsansässigen und eingeborenen Gemeinschaften und Bauern aller Regionen der Welt, insbesondere in den Ursprungszentren und Zentren der Kulturpflanzenvielfalt, zur Erhaltung und Entwicklung pflanzengenetischer Ressourcen, welche die Grundlage der Nahrungsmittel- und Agrarproduktion in der ganzen Welt darstellen, geleistet haben und weiterhin leisten.4 Mit dem Beginn der professionellen gärtnerischen Pflanzenzüchtung begannen sich Anbau (auf landwirtschaftlichen Betrieben) und Vermehrung (auf Saatzuchtbetrieben) zunehmend von einander zu entkoppeln. Beim Getreide hatten bis in die 1930er-Jahre Landsorten5 die größte Bedeutung, erst danach setzte ihre Verdrängung durch Hochzuchtsorten ein (SCHACHL 1975). In unserer heutigen industrialisierten und arbeitsteiligen Gesellschaft haben Kulturpflanzen und Kultursorten einen anderen Stellenwert als in der früheren, auf Subsistenz basierenden bäuerlichen Gesellschaft, in der sich die enorme Fülle an Arten und Sorten entwickeln konnte. Saatgut und Pflanzmaterial sind heute Betriebsmittel, die überwiegend zugekauft werden. Vermehrung, Saatgutgewinnung und Selektion sind zumeist nicht mehr Bestandteile der bäuerlichen Arbeit und das dazugehörige Erfahrungswissen geht verloren.

Kulturpflanzen im österreichischen Rechtssystem

Kulturpflanzen und -sorten sind als Ressource und Handelsware in unser Rechtssystem eingebunden. Eine Vielzahl von Richtlinien, Gesetzen und Verordnungen regelt das Ange3

4 5

Unter dem Begriff Sorte wird eine Gesamtheit von kultivierten Individuen einer Art verstanden, die durch besondere wichtige Merkmale charakterisiert ist und sich dadurch von anderen Sorten der gleichen Art unterscheidet. Diese Eigenschaften müssen nach generativer oder vegetativer Vermehrung bestehen bleiben (das Eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement 2005). Der Sortenbegriff wird hier nicht im rechtlichen Sinne gebraucht. International Treaty on Plant Genetic Resources for Food and Agriculture (2004). Als Landsorten werden lokal angebaute, nicht geschützte Sorten bezeichnet, die durch Selektion im Rahmen des Anbaus über einen längeren Zeitraum an die speziellen Nutzungsanforderungen und Umweltbedingungen angepasst sind. Landsorten sind im Gegensatz zu Handels- und Zuchtsorten nicht durch systematische Züchtung entstanden und in ihrem Erscheinungsbild mehr oder weniger heterogen (OETMANN 1995).

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bot an Saatgut, Pflanzen und Lebensmitteln auf den Märkten. Zwischen den Rechtsmaterien, die den Saatgutmarkt regeln, und völkerrechtlichen Abkommen wie der Konvention zum Schutz der biologischen Vielfalt (CBD), dem Internationalen Vertrag über Pflanzengenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft (IT, International Treaty) kommt es allerdings zu teils grundlegenden, teils spezifischen Zielkonflikten. Der Saatgutmarkt in der Europäischen Union ist streng reguliert. Saatgut kann bisher in der EU nur nach Durchlaufen eines amtlichen Zulassungsverfahrens für die Sorten und eines Anerkennungsverfahrens für die einzelnen Saatgutpartien in Verkehr gebracht, also vermarktet werden. Das gilt zumindest für wirtschaftlich wichtige Arten, die in einer eigenen Artenliste aufgeführt sind. Nicht betroffen von dieser Regelung ist Saatgut untergenutzter und wirtschaftlich unbedeutender Arten. Außerdem dürfen in Österreich Kleinstmengen an Saatgut von nicht zugelassenen Sorten ausgetauscht werden. Das Saatgutgesetz gestattet den Nachbau von Pflanzen und Sorten und erlaubt auch die Weitergabe von Vermehrungsmaterial im Rahmen der bäuerlichen Nachbarschaftshilfe, sofern das Saat- oder Pflanzgut aus eigenem Anbau stammt (Saatgutgesetz 1997 BGBl. I Nr. 72/1997). Diese Regelung ist als „Landwirteprivileg“ bekannt und für Erhalt und Entwicklung neuer Vielfalt sehr wertvoll und deshalb auch im IT Artikel 9 völkerrechtlich verankert. Innerhalb der Europäischen Union droht dieses Privileg zunehmend an Bedeutung zu verlieren. Bei Sorten mit aufrechtem Sortenschutz gilt das Landwirteprivileg in den EUStaaten nur mehr mit Einschränkung. Nachbaugebühren und Lizenzgebühren können in manchen Fällen anfallen. Für Österreich ist im Sortenschutzgesetz von 2001 vorgesehen, dass privatrechtliche Verträge zwischen Landwirt und Züchter (Sortenschutzinhaber) zur Regelung der Nachbaugebühr festgelegt werden können. Kleinlandwirte nimmt das Sortenschutzgesetz davon aus, sie dürfen auch geschützte Sorten ohne Gebühren nachbauen.6 Das Saatgutgesetz bietet aber keine Möglichkeit, größere Mengen an Saatgut von Landsorten und alten Handelssorten am Markt verfügbar zu machen, ohne ein Zulassungsverfahren zu durchlaufen. Für ProduzentInnen von Sortenraritäten ist die Verfügbarkeit von Saatgut in entsprechender Menge und Qualität aber Voraussetzung, um den Schritt in die Vermarktung zu wagen. Voraussetzung für die reguläre Zulassung einer Sorte ist, dass sie unterscheidbar, homogen und beständig ist. Landsorten hingegen kennzeichnet gerade eine große genetische Breite (Heterogenität). Die zweite Hürde für die Zulassung sind die Kosten für das Verfahren (Saatgutgesetz BGBl. I Nr. 72/1997 und Saatgutverordnung BGBl. II Nr. 417/2006). Ursprünglich waren diese Regelungen dafür gedacht, die Landwirtschaft vor minderwertigem Saatgut zu schützen. Während des Zweiten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit dominierte das volkswirtschaftliche Anliegen der landwirtschaftlichen Produktionssteigerung, das unter anderem mit der Förderung von Hochzuchtsorten vorangetrieben wurde. Heute verfolgen Österreich und die EU jedoch auch das Ziel der Erhaltung der Biodiversität. Das ehemalige Ziel, Landsorten auszumerzen, ist daher obsolet geworden. Des6

BGBl. I Nr. 109/2001. 6.1. Entstehung, Gefährdung und Erhaltung der Kulturpflanzenvielfalt

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halb wird im Artikel 203 des GPA7 auch empfohlen, Vertrieb und Handel von Landsorten und ausgelaufenen Zuchtsorten zu ermöglichen. 2008 und 2009 wurden auf EU-Ebene Richtlinien beschlossen8, die diese Empfehlung aufgreifen und einen erleichterten Marktzugang für bestimmte Sorten erlauben. Die Richtlinien präsentieren sich als Kompromiss verschiedener Interessen. Zum einen wurde das Vorhaben, den Saatgutmarkt für sogenannte Erhaltungssorten und an spezielle Bedingungen adaptierte Sorten zu öffnen, ansatzweise umgesetzt, andererseits ist der Einfluss der Saatgutunternehmen im Ergebnis, konkret an strengen Mengen- und Gebietsbeschränkungen, deutlich sichtbar. Die Richtlinien zeigen auch deutlich auf, dass zwischen Sortenrecht und Biodiversität ein genereller Widerspruch besteht. Recht kann nur umgesetzt werden, wenn stabile Kennzahlen und Messgrößen existieren. Sorten müssen vom Züchter stabil gehalten werden, um im Rechtssystem bestehen zu können. Um in verschiedenen Umwelten bestehen zu können, brauchen unsere Kultursorten hingegen eine möglichst breite genetische Ausstattung. Auf nationaler Ebene wurde als Reaktion auf die CBD im ÖPUL (Österreichisches Programm für eine Umweltgerechte Landwirtschaft) die Maßnahme „Seltene Landwirtschaftliche Kulturpflanzen (SLK)“ eingeführt. Der Anbau seltener landwirtschaftlicher Kulturpflanzen im Rahmen des ÖPUL wird bereits seit 1995 durch eine spezifische Maßnahme finanziell unterstützt. Anfänglich war die Akzeptanz verhalten, nach einer Adaptierung der Fördermodalitäten 2000 wurde die Maßnahme besser angenommen. Seither wird vor allem der Anbau von lokalen Dinkelsorten (Ebners Rotkorn, Ostro) und dem Waldviertler Graumohn gefördert. Auch Emmer, Einkorn und lokale Buchweizensorten kommen durch diese Maßnahme in den Genuss einer Anbauförderung und werden verstärkt genutzt. Einige Kulturen fanden trotz Flächenförderung nicht zurück in die Praxis.9 Das liegt wohl auch daran, dass für einige förderfähige Arten und Sorten gar kein Saatgut zu Verfügung steht, da es sich nach geltendem Saatgutgesetz um nicht zugelassene Sorten handelt und darum kein Saatgut in Verkehr gebracht werden darf. Dieser Umstand könnte sich durch die Verabschiedung der oben zitierten Richtlinien ändern.

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GPA – Global Plan of Action for Conservation and Sustainable Utilisation of Plant Genetic Resources for Food and Agriculture (Weltaktionsplan zur Erhaltung und nachhaltigen Nutzung pflanzengenetischer Ressourcen), beschlossen auf der 4. Technischen FAO-Konferenz in Leipzig, 1996. Richtlinie für die Zulassung von Gemüse als Conservation varieties (Erhaltungssorten) und „varieties developed for growing under particular conditions“ (früher Amateursorten) wurde am 21. September 2009 beschlossen, war zur Zeit der Drucklegung aber noch nicht veröffentlicht. Richtlinie 2008/62/EG Ausnahmeregelungen für die Zulassung von Landsorten und anderen Sorten, die an die natürlichen örtlichen und regionalen Gegebenheiten angepasst und von genetischer Erosion bedroht sind, sowie für das Inverkehrbringen von Saatgut bzw. Pflanzkartoffeln dieser Sorten. Ex-post-Evaluierung des Österreichischen Programms für die Entwicklung des ländlichen Raums. http://land.lebensministerium.at/article/articleview/72112/1/25107/

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Kulturpflanzenvielfalt in Österreich

Die Geschichte der Kulturpflanzen ist von der Dynamik der Ausbreitung einerseits und des Verschwindens andererseits geprägt. So bereicherten neu eingeführte Kulturarten immer wieder das Nahrungsspektrum von Gesellschaften, während gleichzeitig traditionelle Arten ins Abseits gerieten. Dieser Prozess ist heute durchaus nicht abgeschlossen – im Gegenteil verstärkt der Klimawandel gegenwärtig diese Dynamik. Einige Beispiele: Seit wenigen Jahren wird auch in Österreich Kiwi erwerbsmäßig angebaut; auch die Gruppe der Asiasalate (Pak Choi Senfkohl, Mizuna u. a.) ist relativ neu und exotisch. Der Chinakohl, auch ein Asiasalat, wird hingegen durch den jahrzehntelangen Anbau in der Steiermark schon als heimisches Gemüse empfunden. Migranten und Migrantinnen bringen Kulturpflanzen und -sorten aus aller Welt nach Österreich. Durch Gastarbeiter aus Bulgarien kam übrigens auch der Paprika ins Burgenland und die Expertise der bulgarischen Gärtner im Paprikaanbau wurde lange geschätzt (ARNDORFER 2005).

Traditionelle Sorten, Lokalsorten und Ursprungsregion

Bei wild wachsenden Arten wird zwischen einheimisch (autochthon) und nicht einheimisch (eingeschleppt bzw. eingewandert) unterschieden. Im Falle der Kulturpflanzen ist diese Differenzierung schwierig. Für die Produktion ist die Historie einer Sorte auch von untergeordneter Bedeutung. Für (öffentliche) Genbanken und daher auch für den Staat hingegen sind Daten über die Herkunft von genetischen Ressourcen strategisch wichtige Informationen. Zum einen haben sich die Nationalstaaten mit der Unterzeichnung des International Treaty verpflichtet, „ihre“ Kulturpflanzenvielfalt zu erhalten. Mit diesem Argument – und da Sortenerhaltung Geld kostet – werden zunehmend „nicht einheimische“ Sorten in die Verantwortung der „Ursprungsländer“ übergeben. Diese Logik prägt auch die bereits angesprochene „Erhaltungssortenrichtlinie“ (2008/62/EG), in der die „Ursprungsregion“ ein zentraler Begriff ist. Denn das vereinfachte Zulassungsverfahren soll in den Ländern nur dann zum Tragen kommen, wenn eine Sorte im jeweiligen Land von genetischer Erosion bedroht ist und dort auch ihren „Ursprung“ hat. Weder der Begriff Region noch Ursprung sind in diesem Zusammenhang genau definiert. Der Anbau einer Art oder Sorte allein sagt wenig über die Verankerung in einer Region aus. Arten oder Sorten gelten als traditionell, wenn sie über einen längeren Zeitraum in einer Region angebaut und genutzt werden. Als „traditionell“ können auch Kulturarten bezeichnet werden, die in eine Kultur neu aufgenommen werden (wie die Kartoffel in Europa), wenn sie über einen längeren Zeitraum in der Region genutzt werden. Wie viele Generationen an NutzerInnen dazu notwendig sind, ist Definitionssache (VOGLLUKASSER 2007). Eine Sorte kann als „Lokalsorte“ bezeichnet werden, wenn Saatgut dieser Sorte über einen Zeitraum von mindestens einer Menschengeneration in einer definierten Region 6.1. Entstehung, Gefährdung und Erhaltung der Kulturpflanzenvielfalt

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kontinuierlich nachgebaut wird (LOUETTE 2000). Lokalsorten können sich in diesem Sinne aus Landsorten ebenso entwickeln wie aus Handelssorten.

Anzahl an Kulturarten

Heutige Schätzungen gehen davon aus, dass weltweit 250.000 höhere Pflanzenarten existieren (UNGRICHT, 2004). Davon werden 35.000 Arten (oder 14 %) zu verschiedenen Zwecken vom Menschen kultiviert (KHOSHBAKHT und HAMMER, 2008). Die größte Gruppe darunter bilden die Zierpflanzen. Das aktuelle Mansfeld-Verzeichnis (HANELT 2001)10 listet 6.040 kultivierte Arten auf, die als Nahrungs-, Futter-, Faser-, Öl-, Gewürz-, oder Medizinalpflanzen angebaut werden, sowie Pflanzen, die als Gründüngung oder Rohstoff Verwendung finden. Nicht inkludiert sind Zier- und Forstpflanzen. HAMMER (1998) spricht von 4.800 nachgewiesenen Kulturpflanzenarten weltweit und rechnet davon auf die Existenz von geschätzten 7.000 Kulturarten hoch. Besonders in Lateinamerika und Südostasien werden bislang nicht dokumentierte Kulturarten vermutet. Demnach werden etwa 2,8 % der höheren Pflanzen landwirtschaftlich oder gärtnerisch genutzt. Für Österreich gibt es keine Belege über die Anzahl an kultivierten Arten. Im Grünen Bericht wird der Anbau von rund 70 Arten ausgewiesen, die in Österreich erwerbsmäßig angebaut werden. Kulturen mit geringem Anbauumfang und der private Bereich werden nicht berücksichtigt.11 In Osttiroler Bauerngärten beispielsweise konnten 587 Arten (inklusive Zierpflanzen) nachgewiesen werden (VOGL-LUKASSER 2005). Für Deutschland schätzt HAMMER (2001) die Kulturpflanzenanzahl auf 150 Arten (ohne Zier- und Forstpflanzen). Die wirtschaftlich wenig bedeutenden Pflanzenarten stellen somit das Gros der Kulturpflanze. Tatsächlich decken heute nur 30 Kulturpflanzen 95 % des weltweiten Bedarfs an Energie und Eiweiß (FAO 1997).

Vielfalt an Sorten

Durch die Konzentration der modernen Landwirtschaft auf wenige Arten steht die Welternährung bereits auf einem sehr unsicheren Fundament. Das Bild wird noch dramatischer, wenn die Vielfalt innerhalb einer Kulturart (Sortenvielfalt) genauer betrachtet wird.

10 Das von Rudolf Mansfeld verfasste Verzeichnis für landwirtschaftliche und gärtnerische Kulturpflanzen ist eine Standardquelle für Informationen über Kulturpflanzen und behandelt in der aktuellen 3. Auflage rund 6000 Arten (ohne Zier- und Forstpflanzen). Abrufbar unter http://mansfeld.ipkgatersleben.de 11 Grüner Bericht 2009. http://www.gruenerbericht.at/

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Beispiel Apfel

Anhand der Modellfrucht Apfel kann anschaulich gezeigt werden, wie sich die moderne Landwirtschaft auf wenige Sorten konzentriert. Der Apfel eignet sich auch deshalb als Fallbeispiel, weil hier Sortennamen (Golden Delicious, Gala, Klarapfel) allgemein bekannt sind und weil Apfelbäume und bestimmte Sorten häufig Erinnerungen an frühere Erlebnisse wachrufen und somit bei vielen Menschen ein emotionaler Bezug zur Thematik besteht. Apfelsorten lassen sich nach ihrem Verbreitungsgebiet unterteilen in Weltsorten, überregional verbreitete Sorten, Regionalsorten und Lokalsorten. Nach ihrer Häufigkeit in Bezug auf das Verbreitungsgebiet können Apfelsorten in häufig, zerstreut oder selten gegliedert werden.

Weltsorten

Dazu zählen alle im Supermarkt erhältlichen Sorten (Ausnahme Kronprinz Rudolph). Sie werden in Österreich und in anderen Teilen der Welt angebaut und interkontinental gehandelt. Für den heimischen Markt haben maximal zehn Sorten eine wirtschaftliche Bedeutung. Die Weltsorten sind durchwegs eng bis sehr eng miteinander verwandt. Eine Reihe von bedeuteten Apfelsorten, die in den vergangenen sechs Jahrzehnten gezüchtet wurden, stammen in direkter Linie von drei Sorten ab – Golden Delicious, Cox Orange und Jonathan. Bei einigen Sorten kommen diese drei Ahnen sogar mehrfach in ihren Stammbäumen vor. So z. B. bei den wichtigen Marktsorten Jonagold, Elstar und Gala. Die nahe Verwandtschaft ist auch am ähnlichen Geschmack erkennbar. Diese genetische Enge erscheint noch bedenklicher, wenn man weiß, dass die drei Ahnen extrem anfällig für Schorf, Mehltau und diverse Schädlinge sind (BANNIER 2004).

Überregional verbreitete Sorten

Dazu zählen alte Handelssorten (z. B. Steirischer Maschanzker, Wintergoldparmäne, Gelber Bellefleur), moderne Züchtungen für den Hausgarten sowie Wirtschafts- und Tafelobstsorten aus dem Streuobstbau (Bohnapfel, Rheinischer Winterrambour). Sie sind in verschiedenen Obstbauregionen Europas zu finden. In Österreich dürften etwa 500–700 Sorten mit überregionaler Bedeutung vorkommen. Sie sind in Streuobstwiesen und in Hausgärten anzutreffen und in der Regel in der pomologischen Literatur beschrieben. Die meisten dieser Sorten sind nicht durch planmäßige Züchtung entstanden, sondern sind sogenannte Zufallssämlinge. Die phänotypische und genotypische Bandbreite innerhalb der Gruppe ist groß. Überregional verbreitete Sorten können in einem Obstbaugebiet selten, zerstreut oder häufig vorkommen. Die Überalterung und die Bakterienkrankheit Feuerbrand gefährden die Sorten und Bestände. Die Bedeutung für die Selbstversorgung und die Verarbeitung ist hoch. Die Früchte aus dem Streuobstbau werden auf einem glo6.1. Entstehung, Gefährdung und Erhaltung der Kulturpflanzenvielfalt

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balisierten Markt zu Saft oder Konzentrat verarbeitet. Missernten in Osteuropa und Asien steigern die Nachfrage nach heimischem Streuobst und heben den ansonst sehr geringen Preis.

Regional- und Lokalsorten

Vertreter diese Gruppe sind in ihrem Verbreitungsgebiet mehr oder weniger eingeschränkt, sie werden auch als Apfellandsorten bezeichnet. Die Anzahl für Österreich ist schwer abzuschätzen, da sie in der modernen pomologischen Literatur ungenügend beschrieben sind (BERNKOPF 1989). Es dürften jedoch 100 bis 200 Sorten sein. Im Gegensatz zu den eng verwandten Weltsorten ist diese Gruppe genetisch ausgesprochen divers. Als genetische Ressource sind Regional- und Lokalsorten mangels Dokumentation und fehlender Absicherung in Genbanken akut gefährdet. In den letzten 30 Jahren wurden in allen Bundesländern Sortenerhebungen durchgeführt. Bei Feldrecherchen wurden zwischen 10 und 50 % nicht verifizierbare Apfelsorten gefunden. Die „Unbestimmbaren“ werden mit Nummer oder Arbeitsnamen versehen. Ob es sich dabei um nicht erkannte Allerweltssorten oder um seltene Lokalsorten handelt, bleibt häufig im Dunklen. Eine systematische Erfassung dieser Sorten und eine koordinierte Sortenbestimmung in einem erweiterten Expertenkreis kann hier Abhilfe schaffen.

Resümee

Einer geringen Anzahl an eng verwandten Marktsorten (10) steht eine große Zahl an genetisch diversen Apfelsorten im Streu- und Siedlerobstbau gegenüber (600–800). Vor allem österreichische Regional- und Lokalsorten sind unzureichend erfasst und massiv gefährdet. Die Wertschätzung für alte Apfelsorten in der Bevölkerung und die Bedeutung von Streuobstwiesen für Natur- und Umweltschutz bieten günstige Voraussetzungen für lokale Initiativen zur Erhaltung und Förderung der Streuobstkultur (vergleiche dazu Dietrich Streuobst KEG in Vorarlberg www.nle.at/streuobstinitiative).

Wie kann die Kulturpflanzenvielfalt erhalten werden?

Professor Erwin Mayr war einer der Ersten in Österreich, der sich mit der Frage der Sortenerhaltung von Landsorten aktiv beschäftigte. Zwischen 1922 und 1934 bereiste Mayr Salzburg, Tirol, Vorarlberg und Kärnten und sammelte Getreidelandsorten, die er anschließend anbaute und beschrieb, um letztlich ein Sortiment von 200 Sorten für die weitere Erhaltung zu empfehlen (HOLAUS 2000).

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Anhand der alpinen Getreidelandsorten lässt sich gut erläutern, welche Herausforderung die Erhaltung der genetischen Vielfalt von Kultursorten an Genbanken stellt, wie damit verfahren wird und welche Strategien verfolgt werden können. Die Sorten der Mayr-Sammlung wurden von Bauern für den Anbau am eigenen Hof gezüchtet und jährlich in größeren Beständen angebaut. Sie sind Ergebnis eines Jahrhunderte andauernden Prozesses von Anbau, Selektion sowie Saatguttausch und in ihrem Erscheinungsbild ausgesprochen vielgestaltig (heterogen). 12 Mayr sammelte die Sorten am natürlichen Standort (in situ) und brachte sie in eine andere Umwelt (ex situ). Mit jedem Vermehrungsschritt passt sich die Sorte an die neue Umwelt an und ein Teil ihrer ursprünglichen Eigenschaften geht verloren (natürliche Selektion). Die Mayr-Sammlung wurde zuerst auf den Getreidezuchtfeldern in Sistrans und von 1942 bis 1999 in Rinn regeneriert. Seit 2000 werden die Sorten in Imst und Rotholz vermehrt. Die dortigen Standortbedingungen (Grenzlage des Wintergetreideanbaues) stimmen relativ gut mit den Bedingungen an den Fundorten überein. Die Mayr-Sammlung ging zur Absicherung ans IPK in Gatersleben (Genbank in Ost-Deutschland) und von dort auch weiter ans ARCHE-NOAH-Sortenarchiv in Schiltern. Werden dort, in völlig anderen Klimagebieten, alpine Getreidelandsorten auf kleinen Parzellen vermehrt, drängen sich mehrere Fragen auf: Wie verändert sich das Ursprungsmaterial in fremder Umgebung? Wie kann der Verlust an genetischer Diversität verhindert werden? Mit dieser Problematik beschäftigen sich Wissenschaftler weltweit (EFKEN 2005, HAMMER et al. 2003, Le CLERC et al. 2003; HAWKES et. al. 2000; MAXTED et al. 2002), derzeit werden drei Ansätze diskutiert: Erhaltung ex situ, in situ und on farm.

Methoden der Sortenerhaltung

• Ex situ: Erhaltung von Genmaterial außerhalb des natürlichen Standortes in Genbanken oder botanischen Gärten. Zweck ist neben der Erhaltung auch die Beschreibung des genetischen Materials. Dadurch unterscheiden sich Genbanken von reinen Saatgutlagern, wie dem Global Seed Vault in Svalbard auf Spitzbergen. • In situ: bedeutet die Erhaltung von Ökosystemen und natürlichen Lebensräumen sowie die Bewahrung und Wiederherstellung lebensfähiger Populationen von Arten in ihrer natürlichen Umgebung und – im Fall domestizierter oder gezüchteter Pflanzenarten – in der Umgebung, in der sie ihre besonderen Eigenschaften entwickelt haben. Das Genmaterial ist bei der In-situ-Erhaltung den natürlichen Umweltbedingungen aus12 Als Landsorten werden lokal angebaute, nicht geschützte Sorten bezeichnet, die durch Selektion im Rahmen des Anbaus über einen längeren Zeitraum an die speziellen Nutzungsanforderungen und Umweltbedingungen angepasst sind. Landsorten sind im Gegensatz zu Handels- und Zuchtsorten nicht durch systematische Züchtung entstanden und in ihrem Erscheinungsbild mehr oder weniger heterogen (OETMANN 1995). 6.1. Entstehung, Gefährdung und Erhaltung der Kulturpflanzenvielfalt

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gesetzt und eine Verschiebung des genetischen Spektrums wird toleriert. In Österreich werden nur sehr wenige Kultursorten in situ angebaut und erhalten (siehe dazu das Beispiel Tullnerfelder Kraut). • On farm: Erhaltung von Kulturpflanzen (genetischen Ressourcen) durch Anbau und Vermehrung in landwirtschaftlich-gärtnerischen Betrieben im Kontext von Produktion, Vermarktung und Selbstversorgung. Häufig sind die Sorten nicht am Hof entstanden. Die On-farm-Erhaltung wird auch als Teil der In-situ-Erhaltung angesehen. Bei der Onfarm-Erhaltung ist die Einführung bzw. Wiedereinführung von Arten und Sorten in die Produktion eine legitime Maßnahme. Streng genommen ist diese Maßnahme mit der Insitu-Definition nicht immer vereinbar, da der Ort, an der Kultursorten ihre besonderen Eigenschaften entwickeln haben, nicht immer klar definierbar bzw. verfügbar ist. Der Begriff der In-garden-Erhaltung wird bisweilen in der Literatur verwendet (ENIGL und KOLLER 2003), hat aber als Begriff nicht Eingang in die nationalen und internationalen Strategiepapiere gefunden. Unter In-garden-Erhaltung sind der Anbau und die Vermehrung in Kleingärten gemeint, insbesondere von Sorten, die für die Selbstversorgung von Bedeutung sind. Die Definition wurde gewählt, um den Sonderstatus von Kleingärten hervorzuheben.13

On-farm-Erhaltung in Österreich

Die ursprüngliche Absicht hinter dem Konzept der On-farm-Erhaltung war, Landsorten in Verbindung mit traditioneller Landbewirtschaftung in ihrem Ursprungsgebiet zu erhalten. Das Konzept ist für Regionen mit hohem Subistenzgrad schlüssig, in hoch entwickelten Industrieländern wie Österreich, wo „Landsorten“ kaum eine Rolle in der Landwirtschaft und im Gartenbau spielen und fast vollständig aus dem Anbau verschwunden sind,14 ist es notwendig, die Aufforderung der FAO „nach Fortführung von Anbau und Nutzung von Landsorten durch den Bauern“ neu zu interpretieren. Es geht darum, eine Strategie zu entwickeln, um die Einführung oder Wiedereinführung von genetischen Ressourcen in Landwirtschaft, Gartenbau und Hausgärten zu ermöglichen. Die Strategie muss die Weiterentwicklung der Sorten unter Praxisbedingungen und letztlich auch Möglichkeiten des Monitoring von genetischen Ressourcen on farm berücksichtigen.

13 Siehe dazu: Hausgärten – Schatzkammern der Vielfalt. http://www.gtz.de. Landwirtschaftliche Kulturpflanzen, die von den Äckern verschwanden, wurden zu einem Teil in die Hausgärten übernommen, weil sich BäuerInnen und GärtnerInnen nicht so einfach von diesen Pflanzen, die ja einen wichtigen Teil ihrer Identität ausmachen, trennen wollten (Prof. Christian R. Vogl in einem Vortrag auf der Terra Madre Austria 2009). 14 Die Inventarisierung von Hausgärten durch Vogl-Lukasser in Tirol und NÖ und die Erfahrungen im Rahmen ihrer Bildungsarbeiten von Andrea Heistinger und Peter Zipser zeigen, dass sich eine nicht unbedeutende Zahl an Personen sehr wohl mit dem Anbau von alten Sorten beschäftigt, in Relation zur gesamten agrarischen Produktion ist der Umfang aber gering.

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Von vielen AutorInnen wird die Sinnhaftigkeit der On-farm-Erhaltung von Kulturpflanzen auch in der westlichen Welt unterstrichen. Es steht auch außer Streit, dass die Erhaltung von Kulturpflanzen on farm eine ergänzende (komplementäre) Maßnahme zu Erhaltung ex situ darstellen sollte (EFKEN 2005, BECKER et al. 2002; HAMMER 2003). Die Stärken und Schwächen beider Systeme sind in Tab. 1 und 2 dargestellt. Daraus wird ersichtlich, dass sich die Schwächen der Ex-situ-Erhaltung durch die Stärken der On-farm-Erhaltung und vice versa ausgleichen lassen. Ex-situ-Erhaltung Tab. 6.1: Stärken und Schwächen der Ex-situ-Erhaltung (Quellen: ergänzt nach ARNDORFER 2004, HAMMER 2003)

Prinzipien & Methoden Statisches Genpool • Sortenechte Vermehrung (Isolierung) • Linientrennung bei heterogenen Populationen • Große Vermehrungs­ intervalle • Gefrierlagerung von ­Samenmustern • Meristemkultur und Kryo-Konservierung von vegetativem Material • Rückgriff auf älteres Vermehrungsmaterial (gegen Einengung der genetischen Basis) • Kleine Vermehrungsflächen mit Mindest­ bestandsgrößen

Stärken

Schwächen

• „Konservierung“ von Sorten, die (vorläufig) keine Anbaurelevanz haben oder vom Verschwinden bedroht sind • Langjährige Sicherungsmuster für In-situ- und On-farm-Management • Zentrale Zugänglichkeit pflanzengenetischer Ressourcen • Vergleichsmöglichkeiten zwischen Herkünften – Erstellung von Typologien • Entwicklung von „Sortenkenntnis“ • Standardisierte Verfahren und Beschreibungen erlauben statistische Auswertungen

• Anbau abseits des Ursprungsortes • „Sortenentwicklung eingefroren“: dem Selektionsdruck unter Praxisbedingungen entzogen (Klima, Krankheiten, Nutzungskriterien) • Selektion höchstens nach formalen, morphologischen Kriterien (Bewahrung des „Sortentyps“) • „Genetische Drift“: zufällige oder indirekte Begünstigung bestimmter Genotypen. Verlust anderer. • Fehlende Nutzung • Risiko „Inzucht“ • Risiko der Akkumulation von saatgutbürtigen Krankheiten • Risiko von Verlusten bei Klonsorten mangels Absicherung an weiteren Standorten • Sammlungsstrategien und Sammlungsmanagement, abhängig vom politischen Willen und Finanzierbarkeit • Wissensmängel im Umgang mit Populationssorten, Landsorten und Sortenmischungen und der Langzeitlagerung • Wenig Spezialisten/Wissenschaftler zur Bearbeitung spezieller Gruppen.



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Tab. 6.2: Stärken und Schwächen der On-farm-Erhaltung (Quellen: ergänzt nach ARNDORFER 2004, HAMMER 2003)

Prinzipien & Methoden Dynamisches Genpool • Verbindung von Erhaltung und Nutzung • Selektion nach nutzungsrelevanten Gesichtspunkten • Natürliche Selektion • Selektionskriterium Variabilität (gewünscht oder toleriert), nicht Einheitlichkeit • Große Bestandesgrößen (On-farm-Erhaltung)

Stärken • Bewusstseinsbildung (best practise) • Vielfalt am Markt • Spezielle Anpassungen • Lokalisierte Divergenz (standörtliche Differenzierung) • Fortsetzung evolutionärer Prozesse • Genotypische Diversität • Förderung von Know-how (Saatgut & Züchtung) und Sortenkenntnis • Förderung regionaler und partizipativer Pflanzenzüchtung • Höhere Arten- und Sortenvielfalt • Erhöhte Sicherheit durch Absicherung von Klonsorten (Obst u. Kartoffel) und an mehreren Standorten

Schwächen • Fehlende Erhaltungssicherheit (Entscheidungen bezüglich Sortenwahl, Anbauumfang, Selektion bis zur Aufgabe der Sorte trifft Produzent) • Ergebnis und Entwicklung der On-farm-Erhaltung ungewiss. • Nur ein kleiner Teil der PGR tauglich für On-farm-Erhaltung. • Anforderungen moderner Produktionsweisen & Normen. • Monitoring einer größeren Zahl von Sorten ist aufwendig. • Kleine Bestandesgrößen (besonders in Hausgärten)

Das ARCHE-NOAH-Erhalternetzwerk

Als Beispiel für die Verknüpfung von Ex-situ- und On-farm-Erhaltungsmaßnahmen Der Verein ARCHE NOAH wurde 1990 auf Initiative von HausgärtnerInnen und LandwirtInnen gegründet. Von Anfang an wurde eine Ex-situ-Sammlung (Sortenarchiv) betreut und die Erhaltung von genetischen Ressourcen in Hausgärten und in der Landwirtschaft propagiert und durch Vereinsmitglieder aktiv umgesetzt. Die Begrifflichkeiten haben sich in den letzten 20 Jahren gewandelt: War früher von dezentraler Erhaltung die Rede, spricht man heute von Erhaltung on farm/in garden. Im Folgenden werden die Erfahrungen in der On-farm-Erhaltung und die derzeit verfolgte Strategie beschrieben. Die Erhaltung der Kulturpflanzenvielfalt ist ein gesamtgesellschaftliches Anliegen und es Bedarf eines interdisziplinären Ansatzes, um den Rückgang an Vielfalt zu stoppen und neue Vielfalt zu entwickeln. In diesem Sinne müssen die Landwirtschaft und die ihr vor-

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und nach gelagerten Bereiche, die Umwelt- und Sozialwissenschaften und der private Sektor in eine Erhaltungsstrategie mit integriert werden. Vor diesem Hintergrund koordiniert der Verein ARCHE NOAH ein Netzwerk an Personen, die durch persönliches Engagement einen Beitrag zu Erhaltung der Kulturpflanzenvielfalt leisten. Die gemeinsamen Interessen der NetzwerkteilnehmerInnen sind Anbau, Vermehrung und Verbreitung von seltenen und gefährdeten Kulturpflanzensorten, mit dem Ziel ihrer Erhaltung. Eine Grundvoraussetzung für das Funktionieren von Netzwerken ist eine Ausgewogenheit von Geben und Nehmen. Jeder Teilnehmer/jede Teilnehmerin ist bereit, anderen Vorteile zu verschaffen (Geben), um auch selbst welche zu bekommen (Nehmen). Des Weiteren müssen die Faktoren Freiwilligkeit, Verbindlichkeit, Vertrauen sowie Freude berücksichtigt werden. Es ist die Aufgabe des Arche-Noah-Büros, diese Voraussetzungen zu schaffen und den NetzwerkteilnehmerInnen Vorschläge bezüglich Sortenwahl, Vermehrung und allem damit Zusammenhängendem zu unterbreiten und Anleitung für ihre Arbeit zu geben (siehe Bildungsbereich). Das Erhalternetzwerk leistet einen Beitrag zur Erhaltung der Kulturpflanzenvielfalt – es ist die Aufgabe des Arche-Noah-Sortenarchivs, dieses Ziel durch die Erfassung von Kennzahlen zu überprüfen.

Rollenverteilung im Netzwerk

Das Sortenarchiv erfüllt alle in Tab. 3 genannten Funktionen eine Ex-situ-Genbank. Das Sortenarchiv erstellt nach definierten Kriterien eine Liste an Sorten, die sich für die Erhaltung on farm eignen, und speist Saat- und Pflanzgut dieser Sorten in das Netzwerk ein. Das Sortenarchiv übernimmt traditionelle Sorten15, die im Netzwerk kursieren, in die Ex-situ-Erhaltung. Ziel ist, für jede Sorte aus der Vorschlagsliste sechs SortenpatInnen zu finden.



• •

Die Sorten stammen aus Österreich oder angrenzenden Regionen. Es handelt sich um Landsorten, Hofsorten oder ehemalige Handelssorten. Traditionelle Sorten, die sich aktuell im Anbau befinden, werden in die Ex-situ-Sammlung und in die Auswahlliste übernommen. Die Sorten sind in ihren primären Merkmalen charakterisiert (Sortentyp, Farbe etc.). Sorten weisen typische Merkmale auf, die sie von herkömmlichen Handelssorten unterscheiden. Die Sorten zeichnen sich durch gute Nutzungseigenschaften aus.

15 Traditionelle Sorten. 6.1. Entstehung, Gefährdung und Erhaltung der Kulturpflanzenvielfalt

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SortenpatInnen betreuen langfristig eine oder mehrere Sorten aus der Vorschlagsliste. Eine entsprechende Vereinbarung wird zwischen SortenpatInnen und Sortenarchiv abgeschlossen. SortenpatInnen werden dazu angehalten, das charakteristische Sortenbild zu bewahren, aber positive Veränderungen zuzulassen und nach Bedarf auch zu fördern. Ein Beispiel: Einzelne Individuen der Buschbohne „Rotholzer“ bildeten im Garten einer Sortenpatin Ranken aus. Diese wurden von ihr gezielt weitervermehrt, da die Kultur als Stangenbohne für sie Vorteile hat. Seither existiert neben der Buschbohne Rotholzer die Sorte Rankende Rotholzer. Beide sind als getrennte Akzessionen auch im Sortenarchiv vertreten. Die Patensorten werden periodisch (je nach Art und Keimfähigkeit) am landwirtschaftlichen Betrieb oder im Garten vermehrt. Das Saatgut wird nicht automatisch, sondern nur auf Nachfrage dem Sortenarchiv zu Verfügung gestellt. SortenpatInnen entwickeln mit der Zeit eine Expertise in Anbau, Vermehrung und Nutzung ihrer Sorten, ihre Erfahrungen sollen den restlichen NetzwerkteilnehmerInnen zugänglich gemacht werden. ErhalterInnen bieten Saat- und Pflanzgut aus eigener Vermehrung über das Sortenhandbuch (siehe Abschnitt Kommunikation und Wissenstransfer) an. Die Sorten stammen nicht zwingend aus der Vorschlagsliste. ErhalterInnen entscheiden über Sorte und Anbaudauer und verpflichten sich, Saatgut aus eigener Vermehrung über eine Saison abzugeben. Derart speisen sie immer wieder zusätzliche Sorten in das Netzwerk ein. Temporäre Vermehrung Das Sortenarchiv sucht gezielt nach Personen, die eine Sorte zur Erneuerung des Genbankmaterials einmalig vermehren. Es handelt sich hier um eine Auftragsvermehrung mit klar definierten Vorgaben hinsichtlich Selektionskriterien, Pflanzenzahl, Abständen und Isolation. Die Gärten von NetzwerkteilnehmerInnen werden zu „Außenstellen der Genbank“. Lokalgruppen Das Sortenarchiv fördert die Bildung von Lokalgruppen, die eine bestimmte Anzahl an Sorten in ihren Reihen erhalten und austauschen.

Kommunikation und Wissenstransfer im Netzwerk

Unter Nachbarn werden Pflanzen und Saatgut über den Gartenzaun hinweg getauscht und verschenkt, zusätzlich werden ganz persönliche Anbauerfahrungen weitergegeben. Um diesen Austausch an Pflanzen und Erfahrungswissen im Netzwerk zu ermöglichen, müssen reale und fiktive Orte geschaffen werden. Das Sortenhandbuch (ARCHE NOAH 2009) schließt an diese Tradition des Tau­

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schens an. Es handelt sich hierbei um ein Verzeichnis an Arten und Sorten, die von Erhaltern und Erhalterinnen am eigenen landwirtschaftlichen Betrieb oder im Hausgarten vermehrt und verfügbar gemacht werden. Eingang in das Verzeichnis finden seltene und gefährdete Sorten von Kulturpflanzen, die im Handel nicht oder nicht mehr angeboten werden. Persönliche Erfahrungen zu Anbau und Nutzung sind im Sortenhandbuch verzeichnet. Eine Onlineversion des Sortenhandbuchs ist unter www.arche-noah.at einsehbar. Der persönliche Austausch ist bei einem Erhaltertreffen und bei Veranstaltungen im Arche-Noah-Schaugarten möglich.

Qualitätssicherung und Monitoring

Diese Punkte sind essenziell, aber derzeit nicht befriedigend zu beantworten. Die SortenpatInnen werden jährlich zu Anbau, Vermehrung und Selektionsmaßnahmen befragt und müssen jährlich die Weiterführung einer Sorte bestätigen (Statusabfrage). Kennzahlen zur Bewertung der Sortenqualität in der On-farm-Erhaltung müssen erst entwickelt werden. Das Sortenhandbuch bietet die Möglichkeit, die Verteilung und Fluktuation bestimmter Sorten im Laufe der Jahre zu verfolgen. Es lässt sich außerdem feststellen, welcher Beliebtheit sich bestimmte Sorten erfreuen und in welchen Regionen sie angebaut werden.

Erfolgsfaktoren

Motivation und Zufriedenheit Grundsätzlich muss beachtet werden, dass bei der On-farm-Erhaltung der/die LandwirtIn oder der/die GärtnerIn die eigentliche Erhaltungsarbeit leistet und daher diese Methode nur dann nachhaltig erfolgreich sein kann, wenn die Eigenschaften einer Sorte/Herkunft und die Erwartungen des/der ProduzentIn zusammentreffen (siehe auch MAXTED 2002). Aus diesem Grund ist es wichtig zu erforschen, nach welchen Kriterien Bauern/ Bäuerinnen oder GärtnerInnen Sorten auswählen. Es ist klar, dass ein Landwirt, der für den Weltmarkt produziert, nach anderen Maßstäben urteilt als ein Bauer, der an die gehobene Gastronomie liefert. Eine Hausgärtnerin wiederum wird eher Sorten bevorzugen, die ihren persönlichen Geschmack treffen und standortangepasst sind. ProduzentInnen, die Nischenmärkte versorgen, und HausgärtnerInnen orientieren sich nicht ausschließlich an agronomischen und ökonomischen Fakten wie Ertrag, Standorteignung, Marktpreis und Förderungen. Zusätzliche Motive für den Anbau können sein: Liebhaberei, Traditionen, Sammlerleidenschaft. Auch ästhetische Gründe und natürlich das Argument „damit es nicht verloren geht“ werden angeführt. Die Erwartungen und Bedürfnisse der ProduzentInnen genießen oberste Priorität in einem nachhaltigen On-farm-Erhaltungsprogramm. Motive für Anbau und Vermehrung einer bestimmten Sorte am Hof oder im Hausgarten (Quelle: ergänzt nach ARNDOFER et al. 2009): 6.1. Entstehung, Gefährdung und Erhaltung der Kulturpflanzenvielfalt

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• vorteilhafte agronomische Eigenschaften für marktorientierte Produktion (Ertrag, Optik, Resistenz) • Diversifizierung im Angebot und verbesserte Marktchancen •• vorteilhafte agronomische Eigenschaften für Anbau im Hausgarten oder in Extremlagen (widerstandsfähig, ertragsstabil, freilandtauglich) • Anpassung der Sorte an Umweltbedingungen • Weiterführung einer Anbau- und Verarbeitungstradition (kulturhistorische Motive) • Selbstversorgung mit wohlschmeckenden und gesunden Lebensmitteln • Sammlerleidenschaft • Freude am Experimentieren • Unabhängigkeit von (teurem) Hybrid-Saatgut • Unabhängigkeit von fluktuierendem Saatgutmarkt • Garantiert GMO-freies Saatgut • Gartenschmuck • ethische Motive (Naturschutz, Leistung für Gesellschaft und nachkommende Generationen) Anerkennung: Die Netzwerkteilnehmer brauchen Anerkennung und Würdigung für ihre Leistungen. Bildung der Netzwerkteilnehmer: Wie schon oben erwähnt, geht es um Einführung und langfristige Absicherung von genetischen Ressourcen im Erhalternetzwerk. Es ist die Aufgabe des Sortenarchivs (Genbank), alle Sorten der Sammlung nach definierten Kriterien zu bewerten, um so ihre Eignung für die Erhaltung on farm festzustellen. BECKER et al. 2002 empfehlen, Fremdbefruchter gegenüber Selbsbefruchtern in der On-farm-Erhaltung bevorzugt zu behandeln. Fremdbefruchtende Arten weisen eine größere Variation innerhalb der Sorte auf, und eine Ex-situ-Erhaltung ist schwieriger und kann mit dem Verlust an genetischer Information verbunden sein. Diese Argumente sind richtig. Aber die Nachteile und Schwierigkeiten der Ex-situ-Erhaltung können prinzipiell in On-farm-Systemen nur überwunden werden, wenn die Produzenten über das notwendige Know-how verfügen. Essenziell für den Erfolg ist daher die Frage: Kann der/die Produzent/Produzentin eine Sorte auch fachgerecht vermehren und wie kann das notwendige Wissen vermittelt werden? Stärkung der sozialen und pädagogischen Fähigkeiten: Bei der Arbeit mit genetischen Ressourcen ist zweifelsfrei eine landwirtschaftliche oder gärtnerische Ausbildung von Vorteil. Die Arbeit mit Gruppen und Netzwerken verlangt zusätzliche Fähigkeiten im Bereich der Kommunikation und Bildungsarbeit.

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6.2. Generierung von Erfahrungswissen und Weitergabe im Netzwerk Peter Zipser Seit 1997 können ErhalterInnen, SortenpatInnen und Interessierte ein Bildungsangebot mit den Schwerpunkten „Vermehrung und bäuerliche Pflanzenzüchtung“ und „Anbau und Nutzung von Sortenraritäten“ in Anspruch nehmen. Das Handbuch Samengärtnerei (HEISTINGER 2003) gibt Anleitung zur fachgerechten Vermehrung von Gemüse. Ein Erfolgsfaktor in der On-farm-Erhaltung ist, das vorhandene Erfahrungswissen einzufangen und Methoden zur Weitergabe im Rahmen von Lehrgängen und Seminaren zu entwickeln. Es hat sich über die Jahre herausgestellt, dass es sehr schwierig ist, bäuerliches und gärtnerisches Erfahrungswissen durch Abfragen zu generieren (HEISTINGER 2001). Erfahrungswissen wurde niemals in Worte gefasst, ja es scheint sogar, dass es für manche Arbeitsabläufe in der bäuerlichen Pflanzenzüchtung nicht einmal beschreibende Worte gegeben hat, weil viele dieser Tätigkeiten im gemeinsamen Arbeiten einfach von einer Generation zur nächsten unausgesprochen weitergegeben wurden. Fällt eine Generation aus, wie es in den letzten Jahrzehnten immer häufiger passiert ist, dann reißt dieser kontinuierliche Strom des Wissenstransfers rasch ab. Vielfach erinnern sich Nachfolgegenerationen nur mehr bruchstückhaft an Handlungen, die sie im jugendlichen Alter noch miterlebt haben. Deshalb hat es sich der Bildungsarbeit bewährt, den praktischen Unterricht zu forcieren, denn oft tauchen bei der praktischen Beteiligung an der Vermehrungsarbeit Erinnerungen über die Arbeiten der Großelterngeneration wieder auf. Es braucht offensichtlich ganz konkretes, praktisches Handeln, um diese Erinnerungen in die Wahrnehmung zu holen und damit auch mit-teilbar zu machen. Im Weiteren erscheint es so, dass eine ethisch begründbare und verstehende Einbindung der Akteure in die historischen Zusammenhänge, die zum Verlust der bäuerlichen Kultur und mit ihr des traditionellen Wissens führten, bei vielen FortbildungsteilnehmerInnen den eigenen Forschungsdrang verstärkt hat. Fortbildungsmaßnahmen in Bereichen, die traditionelles Erfahrungswissen wiederbeleben und weiterentwickeln wollen, müssen dem Dialog der TeilnehmerInnen viel Platz einräumen. Es zeigt sich auch, dass der Prozess der Wissensentwicklung im Mittelpunkt stehen muss, dass unterschiedliche Erfahrungen nebeneinander entwickelt werden können und Platz haben sollen, die eigene Kreativität und Lust im züchterischen Dialog mit den Pflanzen neues Wissen und Erfahrungen hervorzubringen. So konnte und kann laufend neue Vielfalt entstehen. Heute werden vor allem zwei Lehrgänge angeboten, in denen Wissen gesammelt, aufgebaut und weitergegeben wird: Ausbildungslehrgang zum/zur ARCHE-NOAH-SamengärtnerIn und LFI-Zertifikatslehrgang „Sortenspezialitäten am bäuerlichen Betrieb“.

6.2. Generierung von Erfahrungswissen und Weitergabe im Netzwerk

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6.3. Ausgewählte Beispiele erfolgreicher On-farm-Erhaltung Auf der Suche nach dem verloren gegangenen Geschmack

Erich Stekovics

Geschmack erzählt in schönster Weise vom Himmel.

Der Betrieb in Frauenkirchen (Burgenland) wurde 2002 gegründet. Der mediale Durchbruch mit dem Paradeiserparadies gelang durch den Anbau von 1260 verschiedenen Sorten Paradeiser in Zusammenarbeit mit Arche Noah. Der Verkauf von Rohprodukten stellte sich als sehr schwierig bis unmöglich heraus: Konsumenten von heute haben wenig Verständnis für Saisonalität, Aussehen und Lagerfähigkeit von Sortenraritäten, besonders beim Hauptprodukt Paradeiser. Solange Obst und Gemüse in den Märkten zur Selbstbedienung aufliegen, wo jeder drücken und tappen darf, ist es schwer möglich, eine Kultur des Geschmacks zu entwickeln. Daher werden 97 % der Rohprodukte zu Konserven im Betrieb verarbeitet, da nur so eine echte Wertschöpfung erfolgen kann. In dem Betrieb entstehen rund 50 verschiedene Produkte. Vermarktung erfolgt großteils ab Hof (etwa 40 %), über Delikatessengeschäfte und Vinotheken. Der Betrieb steht im Spannungsfeld von Sortenerhalten, Saatgutgewinnung und Wirtschaftlichkeit (zehn Sorten wären in der Produktion am effizientesten). Mein Hauptaugenmerk liegt in der Sortenpflege: ich möchte 100 Sorten in guter Qualität für die Nachwelt erhalten.  Weiterer Schlüssel für den Erfolg: • Die Öffnung des Betriebes. Täglich in der Erntezeit werden persönliche Führungen in Gruppen von max. 25 Personen angeboten (Dauer 4 Stunden). Mein größtes Kompliment war folgender Pressetext: Erich Stekovics hat die Kirche nicht verlassen, er hat sich nur einen anderen Ort zum Predigen gesucht.        • Die Entwicklung einer Sprache zur Beschreibung von Aromen bei Gemüse und Obst. • Geschichten rund um Sorten erzählen (z. B. Mieze Schindler, die Erdbeere, hat als Liebhabersorte in den Kleingärten der ehemaligen DDR überlebt). • Öffentlichkeitsarbeit mit Arche Noah Auszeichnungen:                                                    

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2002 bestes Sauergemüse Österreichs mit Mangaliza-Paprika 2003 Gereiht zum Favoriten Sugo in Europa/Berliner TZ 2007 Gewinn der Gourmet Trophee

Erich Stekovics

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6.4. „Grubenkraut“ und die Verwendung samenfester regionaler Krautsorten Waltraud Froihofer Grubenkraut ist eine traditionelle Form der Krautkonservierung, ehemals praktiziert auf Bergbauernhöfen entlegener Ortschaften in klimatisch rauen Lagen. Es war ein wesentlicher Teil der bäuerlichen Subsistenzwirtschaft in Gebieten, die sonst wenig an Gemüse und Obst gedeihen ließen, und erhielt sich am längsten in den Fischbacher Alpen in der Steiermark. Die besondere Technik der Konservierung kommt völlig ohne Zusätze aus.

Warum samenfeste Regionalsorten?

Die Anforderungen an Weißkraut von Handel, Industrie und Lebensmittelverarbeitung sind heute unter anderem „gute Kopfbeschaffenheit (fest, kompakt, gute Schichtung, platzfest, kurzer Strunk, ansprechende Farbe)“ sowie hohes Ertragspotenzial, reinweiße Innenqualität, kurzer Innenstrunk und leichte maschinelle Beerntbarkeit.16 Die Züchtung hat Weißkraut in eine Richtung entwickelt, die für die Technik der Grubenkrautherstellung, so haben wir im Versuch bemerkt, nicht zufriedenstellend ist. Für Grubenkraut werden flache Köpfe mit lockerer Blattschichtung benötigt. Um das Kraut mit möglichst wenig Luftzwischenraum in die ausgekleidete Erdgrube schlichten zu können –wichtig, um ohne Konservierungsmittel und Gärzusätze auszukommen. Es ist außerdem von entscheidendem Vorteil, wenn man unterschiedliche Kopfgrößen zur Verfügung hat. Diesen Aspekt erfüllen Hybridsorten nicht. Auch deren durchwegs hohe Kopffestigkeit erschwert ein dichtes Schlichten. Selbstverständlich sind auch die besonderen Geschmackseigenschaften von Regionalsorten ein zentraler Beitrag zur Unverwechselbarkeit des Produktes. Aus diesen Gründen sind moderne Züchtungen für uns keine Alternative zu samenfesten Regionalsorten. Die selbst bestimmte Weißkrautzüchtung der Bäuerinnen ist aber in den letzten Jahrzehnten weitestgehend verschwunden. Das Ausgangssaatgut wird derzeit über das ArcheNoah-Sortenarchiv und Arche-Noah-ErhalterInnen bezogen, wobei es das Ziel ist, die Vermehrung gänzlich auf den Grubenkraut-Projekthöfen vorzunehmen, um so an den jeweiligen klimatischen Standort optimal angepasste Sorten zu erhalten. Ziel des Projektes ist es, von der Gewinnung des Samenkorns bis hin zum fertig vergorenen und verpackten Grubenkraut alle Arbeitsschritte direkt am Hof zu haben. Es geht um den Erhalt von traditionellem Wissen rund um die Vermehrung von Pflanzen und der anschließenden handwerklichen Verarbeitung und Konservierung in genossenschafts- und konzernunabhängigen Kleinststrukturen, um so die Wertschöpfung direkt beim Bauern zu belassen. Unser Grubenkraut wurde 2009 von SLOW FOOD in die internationa16 Wonneberger/Keller: Gemüsebau, Stuttgart 2004, S. 198. 6.4. „Grubenkraut” und die Verwendung samenfester regionaler Krausorten

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le Arche des Geschmacks aufgenommen und mit einer Presidio-Auszeichnung bedacht. Diese Auszeichnung steht für handwerkliche Tradition und höchste Qualitätsansprüche bei der Herstellung. Absatzwege sind Spitzengastronomie, Feinkost- und Bioläden, AbHof-Verkauf, Bauernmarkt. Die Problematik des niedrigeren Flächenertrags bei der Arbeit mit samenfesten Regionalsorten kompensieren wir durch einen höheren Erzeugerpreis, den die Konsumenten nach entsprechender Aufklärung gerne bereit sind zu zahlen. In Kundengesprächen zeigt sich immer wieder, dass es sogar als Widerspruch empfunden werden würde, wenn diese alte Form der Krautkonservierung mit modernen Hybridsorten arbeiten würde. Auch die biologische Wirtschaftsweise wird als Grundbedingung empfunden.

Literatur zu 6.1. bis 6.4. ANONYM. Themenblätter der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) GmbH. Hausgärten – Schatzkammern der Vielfalt. www.gtz.de am 30. Oktober 2009. ARNDORFER, M., 2004: Konzept einer für Österreich repräsentativen Sammlung pflanzengenetischer Ressourcen von Gemüse. Abschlussbericht. BMULF, ZL. 24.520/34-II 4/2003. Abrufbar unter www.arche-noah.at ARNDORFER, M., KAJTNA, B. & VORDERWÜLBECKE, B., 2009: Integratin ex situ and on – farm conservation of local vegetable diversity in Austria. Acta Hort. (ISHS) 817: 333–340. BANNIER, H., 2004: Genetische Verarmung beim Obst und Initiativen zur Erhaltung der genetischen Vielfalt. Jahresheft des Pomologen-Verein e.V. Aue/Sachsen. BECKER, H. C. et al 2002: Darstellung und Analyse von Konzepten des On-farm Managements pflanzengenetischer Ressourcen unter besonderer Berücksichtigung der ökonomischen Rahmenbedingungen in Deutschland. Georg-August-Universität, Göttingen. BERNKOPF, S., 1989: Ergebnisse von Untersuchungen über botanisch-pomologische sowie physikalisch-chemische Merkmale von Apfel- und Birnenlandsorten oberösterreichischer Herkunft, Dissertation Univ. Bodenkultur, Wien. EFKEN, J., 2004: On Farm Management in Deutschland – Funktion, Gestaltung und Strategie. Schriften zu genetischen Ressourcen Bd. 25. ZADI, Bonn. ENIGL, M., KOLLER B., 2003: Kulturpflanzenvielfalt: Entstehung und Gefährdung. Fallbeispiele aus Österreich. Eigenverlag Arche Noah. HEISTINGER, A., 2001: Die Saat der Bäuerinnen Saatgutgewinnung und Pflanzenzüchtung von Bäuerinnen in Südtirol. Löwenzahn Verlag. HEISTINGER, A., ARCHE NOAH & PRO SPECIE RARA, 2003: Handbuch Samengärtnerei. Löwenzahnverlag.

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Waltraud Froihofer

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HAMMER, K., 1998: Agrarbiodiversität und pflanzengenetische Ressourcen – Herausforderung und Lösungsansatz. Schriften zu Genetischen Ressourcen 10. ZADI Bonn. HAMMER K., 2001: Agrarbiodiversität, pflanzengenetische Ressourcen und ökologische Leistung. Schriften zu Genetischen Ressourcen 16. ZADI Bonn. HAMMER, K., TH. Gladis & A. DIEDERICHSEN, 2003: In situ and on-farm management of plant genetic resources. European Journal of Agronomy 19: 509–517. HANELT, P. & IPK (Eds.), 2001: Mansfeld’s Encyclopedia of Agricultural and Horticultural Crops. 6. Vol. Institute of Plant Genetics and Crop Research, Springer, Berlin. http://mansfeld.ipk-gatersleben.de HAWKES, J. G., N. MAXTED & B. V. Ford-Lloyd, 2000: The Ex situ Conservation of Plant Genetic Resources. Kluwer Academic Publishers, Dordrecht. HOLAUS, K., 2000: Sammlung und Erhaltung pflanzengenetischer Ressourcen im Alpenraum. Tagungsband ALVA Jahrestagung 67–68. HOLZNER, W., 2006. MOBI-e. Entwicklung eines Konzeptes für ein Biodiversitäts Monitoring in Österreich. Im Auftrag des Bundesministeriums für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft. KHOSHBAKHT, K., K. HAMMER, 2008: How many plant species are cultivated? Genetic Resources and Crop Evolution. Vol. 55, 925–928. KOLLER, B., 2008: Mehr Kulturpflanzenvielfalt durch neue Saatgutrichtlinien? Ökologie und Landbau 145: 45–46. LE CLERC, V., BRIARD, M., GRANGER, J. & DELETTRE, J., 2003: Genebank biodiversity assessments regarding optimal sample size and seed harvesting techniques für the regeneration of carrot accessions. Biodiversity and Conservation 12: 2227–2336. LOUETTE, D., 2000: Traditional management of seed and genetic diversity: what is a landrace? In: BRUSH, S. B. (Ed.), Genes in the Field – On Farm Conservation of Crop Diversity. Boca Raton/USA., Lewis Publishers. MAXTED, N., L. GUARINO, L. MYER & CHIWONA, E.A., 2002: Towards a methodology for on-farm conservation of plant genetic resources. Genetic Resources and Crop Evolution 49: 31–46. UNGRICHT, S., 2004: How many plant species are there? And how many threatened with extinction. Endemic species in global biodiversity and conservation assessments. Taxon 53: 481–484. VOGL-LUKASSER B., VOGL, C. R., 2005: Ethnobotanical Research in Homegardens of Small Farmers in the Alpine Region of Osttirol (Austria). Ethnobotany Research and Applications 3(1): 79–98. VOGL-LUKASSER, B., G. FALSCHLUNGER, P. BLAUENSTEINER, & C. R. VOGL 2007: Erfahrungswissen über Lokalsorten traditioneller Kulturarten in Ost- und Nordtirol (Gemüse, Getreide). Endbericht zum Teilprojekt „Sicherung und Beschreibung des Erfahrungswissens über Saat- und Pflanzgut lokaler Sorten traditioneller Kulturarten im Bereich Gemüse und Getreide in Tirol“ im Auftrag des Amtes der Tiroler Landesregierung. Teilprojekt im Projekt „Gene-Save“, gefördert im Rahmen des  INTERREGG-IIIA-Programmes durch die Länder Tirol, Südtirol und die Europäische Union. Literatur zu 6.1. bis 6.4.

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Enthält Elemente aus dem Projekt 1272, GZ 21.210/41-II1/03 (Teil 2), gefördert vom Land Tirol und dem Lebensministerium (BM:LFUW). ZEVEN, A.C., 2002: Traditional maintenance breeding of landraces: 2. Practical and theoretical considerations on maintenance of variation of landraces by farmers and gardeners. Euphytica 123: 147–158.

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Literatur zu 6.1. bis 6.4

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6.5. Genbanken (Ex-Situ-Erhaltung) in Österreich Die AGES Linz dient als Focal Point für die Datenerfassung aller österreichischen Exsitu-Sammlungen. Die Daten sind im Österreichischen Katalog für pflanzengenetische Ressourcen (National Inventory of Austria) über www.genbank.at abrufbar. Das nationale Verzeichnis, ursprünglich unter der Bezeichnung „Index Seminum Austriae“ veröffentlicht, umfasst 11.230 Akzessionen (Abfrage im Oktober 2009) und wird laufend erweitert (nicht alle in Österreich gehaltenen Akzessionen sind erfasst). In das Verzeichnis werden Datensätze zu genetischen Ressourcen übernommen, die die international üblichen Mindestanforderungen erfüllen (Passportdaten). Die Daten werden für den gesamteuropäischen Suchkatalog EURISCO des ECP/GR17 bereitgestellt. Bezug von Vermehrungsmaterial aus Genbanken

Der Internationale Vertrag (International Treaty) über pflanzengenetische Ressourcen für Landwirtschaft und Ernährung trat 2004 in Kraft und wurde von mehr als 100 Staaten ratifiziert. Der Vertrag regelt den Zugang und die Verwendung von genetischen Ressourcen für Forschungs- und Züchtungszwecke. Die Vertragspartner haben den freien Zugang zu jenen Arten garantiert, die im Anhang des IT genannt sind. „Freier Zugang“ bedeutet in der Praxis, dass jede öffentliche und private Forschungs- und/oder Zuchtanstalt eines Landes, das den Vertrag unterzeichnet hat, Saatgut gegen eine Aufwandsentschädigung von unter den Vertrag fallenden Kulturpflanzenarten von einer öffentlichen Einrichtung im In- und Ausland beziehen kann. Der „freie Zugang“ gilt nicht automatisch für Privatpersonen. Der IT regelt auch die Verwendung und den Vorteilsausgleich von pflanzengenetischen Ressourcen (PGR). Zur Umsetzung der vertraglichen Regelungen wurden einheitliche Bestimmungen für die Materialübertragung (Standard Material Transfer Agreement, SMTA) erarbeitet. Das SMTA findet in den österreichischen Genbanken Anwendung. Die folgenden Angaben zu den Sammlungen wurden von den genannten Kontaktpersonen bereitgestellt. AGES Linz Kontaktpersonen: DI Paul Freudenthaler, Ing. Wolfgang Kainz Der Grundstock der Genbank der AGES Linz wurde ursprünglich mit 80 Sippen von Weizen, Gerste und Hafer begründet, und zwar hauptsächlich alte Zuchtsorten aus Oberösterreich und Bayern, die von der Saatbau Linz im Jahr 1968 der damaligen Bundesversuchsanstalt übergeben wurden. Als darauf aufbauend eine eigene Sammlung von Landsorten hier in Linz angelegt wurde, wusste man bereits, dass die letzten Landsorten 17 Europäisches Programm für Zusammenarbeit an genetischen Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft. 6.5. Genbanken (Ex-Situ-Erhaltung) in Österreich

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bzw. alten Zuchtsorten, die noch im extensiven Landbau vermehrt wurden, in starkem Rückgang waren. Das Hauptinteresse bei allen Sammlungen gilt in erster Linie dem Voralpengebiet. Die Genbanktätigkeit in Linz reicht vom Getreide über die Gartenbohnen, von denen in den 1980er-Jahren an die 600 Landsorten gesammelt wurden, über Heilund Gewürzpflanzen bis hin zu den Wildpflanzen und nicht zuletzt den traditionellen österreichischen Obstsorten. Der Ursprung der Sammlung an Heil- und Gewürzkräutern der AGES geht auf das „K. u. K. Komitee zur staatlichen Förderung der Kultur von Arzneipflanzen“ zurück. In der Zwischenkriegszeit leitete Prof. W. Himmelbaur, ein weit über die Grenzen Österreichs anerkannter Wissenschafter, diese Sammlung. Nicht nur dass er die Kulturbedingungen sehr vieler Arten erforschte, brachte er auch in Zusammenarbeit mit dem pharmakognostischen Institut der Universität Wien die chemische Analytik der Inhaltsstoffe auf den damals neuesten Stand. Die von Dr. Siegfried Bernkopf aufgebaute Obstsortensammlung ist am Ritzlhof angesiedelt und nicht mehr der AGES Linz unterstellt (s. dort). Die Genbank Linz nimmt auch am weltweiten Verbund der Genbanken als Mitglied des IPGRI (Internationales Institut für pflanzengenetische Ressourcen, einer Unterorga­ nisation der FAO) seit seinem Bestehen teil und ist unter der Kurzbezeichnung AUT001 im internationalen Katalog der Genbanken angeführt. Um eine weitere Facette der internationalen Zusammenarbeit zu nennen, fungiert Linz als Sicherheitslager für die bedeutende Ackerbohnensammlung der ICARDA (International Center for Agricultural Research in the Dry Areas) in Syrien, weiters der Weizensammlung der Niederländischen Genbank in Wageningen und innerhalb Österreichs der Genbank Tirol und der Arche Noah. Bei -20 °C werden die Muster dieser Sammlungen gelagert, damit nach einem Katastrophenfall, der eine Zerstörung der Sammlungen zur Folge hat, auch noch nach Jahrzehnten auf das Material in Linz zurückgegriffen werden kann. Im Gegenzug bildet die Genbank in Wageningen das Sicherheitslager für die Sammlung der AGES in Linz. Höhere Bundeslehr- und Forschungsanstalt für Gartenbau Schönbrunn Kontaktperson: DI Wolfgang Palme Die Sammlung an traditionellen österreichischen Erwerbsgemüsesorten wurde Mitte der 1980er Jahre durch HR Dr. Leopold Urban begründet. Gesammelt werden Sorten aller Gemüsearten, der Schwerpunkt liegt auf den Gattungen Allium, Brassica, Daucus, Lactuca, Solanum lycopersicum und Raphanus. Derzeit werden ca. 130 Akzessionen betreut. Aufgelassene Sorten von heimischen Samenfirmen werden laufend integriert, aber auch einzelne Herkünfte, die aus der wissenschaftlichen Arbeit anfallen (zB. Physalis-Herkünfte) finden Eingang in die Sammlung. Die Akzessionen werden in der Genbank der AGES Linz bei -20 °C gelagert und regelmäßig auf Keimfähigkeit getestet. Die Vermehrung erfolgt, sobald die Keimfähigkeit einen kritischen Wert unterschreitet (< 60 %). Bei Fruchtgemüse werden mind. 15 Pflanzen, bei Salat- und Kohlgemüse mind. 30 Pflanzen pro Sorte für die Saatgutgewinnung herangezogen. Die HBLFA Schönbrunn ist durch Wolfgang Palme in der nationalen Fachbereichsarbeitsgruppe für genetische Ressourcen des BMLFUW vertreten und international im

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Rahmen von IPGRI/ECPGR in den Fachgruppen Solanaceae und Umbelliferae. Material wird für wissenschaftliche Zwecke und für Züchtungsarbeiten über SMTA abgegeben, nicht aber an Hobbyanbauer. Tiroler Genbank Im Amt der Tiroler Landesregierung, Abt. Landw. Schulwesen, Jagd und Fischerei Fachbereich Landw. Versuchswesen, Boden- und Pflanzenschutz Kontaktperson: DI Dr. Christian Partl Im Jahr 1923 begann Prof. Dr. Erwin Mayr auf Anregung von Prof. Dr. Tschermak, Lehrbeauftragter der Universität für Bodenkultur, mit einer Inventarisierung, Sammlung und später auch züchterischen Bearbeitung von Getreide-Landsorten aus dem alpinen Raum. Mehrere Sammelreisen durch Salzburg, Tirol, Vorarlberg und Kärnten führten bis 1934 zu umfangreichen Sortimenten der verschiedenen Getreidearten. 1939 wurde die Landesanstalt für Pflanzenzucht und Samenprüfung in Rinn/Tirol gegründet, der Prof. Mayr bis 1964 vorstand. Unter der Leitung von HR Dipl.-Ing. Leonhard Köck (1965–1989), Dipl.-Ing. Kaspar Holaus (1990–2004) und Dipl.-Ing. Dr. Christian Partl (seit 2004) erfolgten Erweiterungen der Rinner bzw. später Tiroler Genbank um verschiedene Arten und Sortimente. Verschiedene Kooperationen und Projekte, vor allem mit dem VZ Laimburg in Südtirol, führten besonders in den letzten Jahren zu einer großen Zahl weiterer Akzessionen. Mit Jahresende 1999 wurde die Landesanstalt Rinn geschlossen, seit dem 01.01.2000 werden die Aufgaben inkl. der Landsortenerhaltung im Amt der Tiroler Landesregierung durchgeführt. Sammlungsschwerpunkte und Anzahl an Akzessionen Es handelt sich zum größten Teil um landwirtschaftliche Nutzpflanzen; je nach Einteilung sind etwa 40 Arten enthalten: Sommer- und Winterformen von Weizen, Hafer, Gerste, Roggen; verschiedene Urformen von Getreide; Mohn; Lein; Buchweizen; Ackerbohnen; Feuerbohnen; Erbsen; verschiedene Rüben; Hirse; Brotklee; wenige Herkünfte von Schnittlauch, Zwiebel, Knoblauch, Tomaten, Wicken, Kraut, Lupine, Kürbis. Seit 2007 sind zwei Pflanzgärten mit 67 alten Apfelsorten an den Landwirtschaftlichen Landeslehranstalten Imst und Rotholz eingerichtet. Schwerpunktmäßig aufgrund der Entstehung und der enthaltenen Anzahlen werden alle alpinen Getreidearten bearbeitet. Aktuell werden über 1.000 Akzessionen gehalten (laufend weitere Akzessionen und die Tatsache, dass die neuesten Eingänge zum Teil noch nicht gesichert sind, lassen eine genaue Angabe nicht zu). Je nach Kulturart und Entwicklung der Keimfähigkeit im Kühllager erfolgen Vermehrungen durchschnittlich alle zehn bis 15 Jahre. Die Parzellengrößen beim Getreide liegen zwischen 4 und 8 m². Nach der Ernte werden Qualitätsuntersuchungen und fallweise eine Behandlung gegen Lagerschädlinge durchgeführt. Bei zufriedenstellender Qualität folgen Trocknung und Einlagerung in die Kühlzelle bei etwa -15 °C, außerdem sollen Verluste durch die Beschickung eines Sicherheitslagers (in Linz) vermieden werden. Von den bisher in die Pflanzgärten integrierten Apfelsorten werden jeweils drei Bäumchen auf 6.5. Genbanken (Ex-Situ-Erhaltung) in Österreich

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je zwei Standorten gehalten. Die kontinuierliche Sammlung, Sicherung und Beschreibung von Landsorten konnte im Zuge eines Interreg-Projektes seit 2003 flächendeckend und mit hoher Intensität im Bundesland Tirol und in Südtirol (Provinz Bozen) durchgeführt werden. Dabei konnten viele Landsorten aus den Bereichen Acker, Garten und Apfel gesammelt und in die Genbank bzw. Pflanzgärten integriert werden. Hauptaugenmerk liegt dabei auf den landwirtschaftlichen Nutzpflanzen. Abgabe von Vermehrungsmaterial Vermehrungsmaterial von Landsorten wird nur in geringen Mengen und mit dem Vermerk, dass alle Rechte an diesem Material bei der Tiroler Genbank verbleiben, abgegeben. Die Umstellung auf das SMTA im Rahmen und ein standardisierter Vertrag mit Privatinteressenten erfolgen demnächst. HBLFA Raumberg-Gumpenstein Kontaktpersonen: Dr. Bernhard Krautzer, Dr. Wilhelm Graiss In den 1950er-Jahren wurde mit der Sammlung von Rotklee in der Süd- und Oststeiermark begonnen, das als Ausgangsmaterial für den Steirerklee und in weiterer Folge für den Gumpensteiner Rotklee diente. Seit dem Jahr 1989 werden Sammlungen im Bereich des Dauergrünlandes und der Hochlagen durchgeführt und das Material züchterisch bearbeitet bzw. zur Erhaltung in einem Kühllager bei 4 °C und 45 % Luftfeuchtigkeit eingelagert. Die Herkünfte von besonderem Interesse und ausgelaufenen Sorten werden seit 2008 in ein Langzeitlager (Gefrierschrank) überführt. Die HBLFA Raumberg-Gumpenstein vertritt Österreich im internationalen Gremium European Cooperative Programme for Crop Genetic Resources Networks (ECP/GR) Working Group on Forages. Sammlungsschwerpunkte und Anzahl an Akzessionen Schwerpunktmäßig werden in Gumpenstein Gräser, Kräuter und kleinkörnige Leguminosen des Grünlandes bearbeitet (Tab. 6.1). In Summe werden 394 Akzessionen erhalten, davon sind ca. 290 in Bearbeitung. Die Sammlung wird einerseits um ausgelaufene Sorteneintragungen und andererseits um österreichische Herkünfte erweitert. Die Akzessionen werden alle 12–15 Jahre mit 20 Pflanzen zur Saatgutgewinnung angebaut. Saatgut wird mit maximal 38 °C vorgetrocknet und danach wird in einem Trockenschrank mit Silikagel die Restfeuchte entzogen. Das trockene Material wird bei -18 °C in Schraubgläser bzw. in verschweißten Aluminiumsäcken gelagert. Tab. 6.3

Agrostis capillaris Alopecurus pratensis Cynosurus cristatus Dactylis glomerata Festuca nigrescens Festuca supina Lolium x boucheanum

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Rot-Straußgras Wiesen-Fuchsschwanzgras Wiesen-Kammgras Knaulgras Horst-Rot-Schwingel Kurz-Schwingel Bastardraygras

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Lolium perenne Phleum hirsutum Phleum rhaeticum Trifolium pratense

Englisches Raygras Matten-Lieschgras Bündner Lieschgras Rot-Klee

Trisetum flavescens

Goldhafer

Abgabe von Vermehrungsmaterial Bei ausreichender Verfügbarkeit gibt es keine Einschränkung in der Abgabe. Fa 10 B, Landwirtschaftliches Versuchszentrum Referat für Spezialkulturen Wies Kontaktperson: DI Doris Lengauer Die Einrichtung der Sammlung begann 1991. Der Schwerpunkt liegt in der Erhaltung und Bearbeitung von Kräutern und Bohnen In Summe werden 407 Akzessionen erhalten, darin sind auch vegetativ vermehrte Arten, Färbepflanzen, Gemüse und Sonderkulturen enthalten. Die einzelnen Akzessionen werden je nach Bedarf, im Schnitt alle zehn Jahre, auf 50-m²-Parzellen zur Saatgutgewinnung angebaut. Das gereinigte und unbehandelte Saatgut wird bis zur Verwendung in Gläsern eingefroren gelagert. Derzeit wird die Sammlung nicht erweitert. Vermehrungsmaterial der Akzessionen wird auf Verlangen in Kleinstmengen und nach Maßgabe der Saatgutverfügbarkeit abgegeben. Universität für Bodenkultur Wien, Institut für Pflanzenbau und Pflanzenzüchtung Kontaktperson: Prof. Dr. Johann Vollmann Im Rahmen einer Initiative des Institutes für Pflanzenbau und Pflanzenzüchtung zur Züchtung von alternativen Ölpflanzen-Arten werden seit 1990 Sammlungen (working collections) bei verschiedenen Arten (Crambe, Öllein, Leindotter, Sojabohne) angelegt, aus denen später eine eigene Sammlung für Leindotter, Camelina sativa (L.) Crtz., mit 190 Akzessionen entstand. Derzeit ist keine Erweiterung der Sammlung geplant, repräsentative eigene Zuchtstämme werden aber in die Sammlung übernommen. Die Sammlung enthält vor allem Sommerformen, eine Ergänzung um Winterformen ist aus Kapazitätsgründen – und weil diese nicht züchterisch bearbeitet werden – nicht möglich. Die Vermehrung erfolgt im Abstand von etwa fünf Jahren, bei größerem Saatgutbedarf auch vorher. 1 m2 pro Akzession ist im Falle von Leindotter ausreichend. Saatgut wird vollreif geerntet und daher nur luftgetrocknet. Die Lagerung erfolgt in Papiersäcken bei Umgebungstemperatur (Zimmertemperatur). Das Institut hatte von 2001 bis 2004 die Präsidentschaft der EUCARPIA (Europ. Gesellschaft für Pflanzenzüchtungsforschung) inne; in diesem Zusammenhang wurden Bestand und Aktivitäten der dortigen Sektion für genetische Ressourcen gefördert. 6.5. Genbanken (Ex-Situ-Erhaltung) in Österreich

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Abgabe von Vermehrungsmaterial Vermehrungsmaterial der Akzessionen wird auf Verlangen gegen MTA und nach Maßgabe der Saatgutverfügbarkeit abgegeben. ARCHE NOAH – Gesellschaft zu Erhaltung der Kulturpflanzenvielfalt und ihre Entwicklung Kontaktperson: Dr. Michael Suanjak Die Sammlung besteht seit Gründung des Vereins ARCHE NOAH im Jahr 1990. Sie geht zurück auf Bestände der „Samenpflegevereinigung“ (Niederösterreich), „Fructus“ (Steiermark) und der privaten Sammlung von Nancy Arrowsmith. Sammelreisen in Niederösterreich, Kroatien und Rumänien wurden in den 1990ern durchgeführt. Seit 2000 werden Obstbestände in Niederösterreich pomologisch erfasst. Eine Sammlung mit Beerenobstsorten wurde 2002 bis 2004 aufgebaut. Der Schwerpunkt der Arche-Noah-Sammlung liegt bei Gemüsekulturen. In diesem Bereich werden aktuell wichtige Kulturarten erhalten sowie auch historisch kultivierte Gemüsearten, die heute selten sind. Erfasst sind ehemalige Handelssorten und Landsorten. Besonderes Augenmerk legt Arche Noah auf Akzessionen aus langjähriger, lokaler Vermehrung. Der geografische Schwerpunkt liegt auf Mittel- und Südosteuropa. Anzahl der Akzessionen (Stand November 2009): 6150. Diese Zahl unterliegt Schwankungen, da laufend Akzessionen aufgenommen und ausgemustert werden. Anzahl an Akzessionen wichtiger Kulturen im ARCHE-NOAH-Sortenarchiv 800 Bohnen 600 Tomaten 300 Kohlgewächse 150 Erbsen 150 Paprika & Chili 150 Salate 250 Weizen 190 Kartoffeln 120 Mais Die Sammlung wird unter kontrolliert-biologischen Bedingungen angebaut und vermehrt. Je nach Kulturart werden die Akzessionen in einem Abstand von drei bis zehn Jahren reproduziert. Die Fläche für die Vermehrungsbestände beträgt 1,5 bis ca. 10 Quadratmeter. Nach der Lufttrocknung wird das Saatgut über Silicagel nachgetrocknet, danach in luftdichte Flaschen abgefüllt, die bei „Kellertemperaturen“ gelagert werden. Ein Teil der Samen bestimmter Kulturen wird tiefgefroren (-18 Grad Celsius). Baumstandorte von rund 300 Obstsorten sind in ganz Niederösterreich erfasst. 80 seltene Sorten und Sorten mit besonderer Eignung für den Selbstversorgergarten werden über Baumschulen vermehrt und sind als Bäume im ARCHE-NOAH-Schaugarten und bei Vereinsmitgliedern abgesichert. Aus Platzgründen kann pro Obstsorte nur ein Baum

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am Standort Schiltern gehalten werden. Ziel ist, die Sorten an fünf weiteren Standorten abzusichern. Abgabe von Vermehrungsmaterial Vermehrungsmaterial ist prinzipiell frei zugänglich. Die Einschränkungen sind praktischer Natur: die Verfügbarkeit einzelner Akzessionen und mengenmäßige Beschränkungen (es können nur Klein- und Kleinstmengen abgegeben werden). Edelreiser werden erst nach einer Verifizierung der Jungbäume abgegeben. Universität für Bodenkultur, Institut für Garten-, Obst- und Weinbau Kontaktpersonen: Dr. Andreas Spornberger und Dipl.-Ing. Peter Modl Die Obstsortensammlung wurde 1960 parallel mit der Einrichtung der Obst-Versuchsanlage der BOKU durch Prof. Duhan angelegt. Zu Anfang stand eine Walnusskollektion, später kamen Apfel, Birne, Kirsche und Marille dazu. Unter der Institutsleitung von Prof. Pieber wurde die Sammlung erweitert, systematisch bewertet und beschrieben. Heute werden beim Apfel 290 Sorten, Birne 65 Sorten, Kirsche 49 Sorten und bei Walnuss 48 Sorten betreut. Die Marillensammlung zählt 60 Akzessionen, darunter zahlreiche Subtypen bzw. Selektionen von alten Lokalsorten. Bei Walnuss werden 1 bis 2 Bäume und bei den anderen Arten 2 bis 3 Bäume pro Akzession erhalten. Der Garten ist Genbank und Versuchsanlage, das Sortenspektrum umfasst daher alte Sorten, Marktsorten und Neuzüchtungen. Derzeit ist eine Erweiterung der Genbank nur in geringem Umfang (bei sehr interessanten und seltenen alten Sorten) möglich. Andreas Spornberger ist ein Vertreter der BOKU in der nationalen Fachbereichsarbeitsgruppe für genetische Ressourcen des BMLFUW. Abgabe von Vermehrungsmaterial Edelreiser werden vorzugsweise im Winter für Kopulationsveredelung abgegeben. Anfragen bis Anfang Jänner werden berücksichtigt. Abgabe für Okulationsveredelung im Sommer auch möglich. Für den Aufwand wird 1 €/Reis (+ Portospesen) in Rechnung gestellt. Lehr- und Forschungszentrum Klosterneuburg für Wein- und Obstbau Kontaktpersonen: HR DI Karl Vogl, Direktor des LFZ Klosterneuburg DI Dr. Lothar Wurm, Institutsleiter Obstbau/Obstverarbeitung, Leiter der Abteilung Obstbau Schon im Zuge der Gründung der „k.k. önologischen und pomologischen Lehranstalt“ wurde der Sortenvielfalt, damals im pomologischen Garten des Chorherrenstiftes Klosterneuburg, heutiger Kreindlhof, große Bedeutung zuerkannt. Die laufende Erforschung, Bewahrung und Vermehrung der Sortensammlungen zeigen den Fortbestand dieses Interesses. Die heutigen Genbank-Sammlungen am Versuchsgut Haschhof und im Erhaltungsgarten Kierling sind Anfang der 80er-Jahre vor allem durch die Bemühungen von Oberschulrat Ing. Rudolf Novak entstanden und bilden bis heute die Basis der Sortensammlungen des LFZ Klosterneuburg. Viele vom Verschwinden bedrohte Sorten wurden damals in die Erhaltungsarbeit aufgenommen und sind heute wertvolle Ressourcen, die gerne besichtigt und genutzt werden. 6.5. Genbanken (Ex-Situ-Erhaltung) in Österreich

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Das LFZ Klosterneuburg vertritt die österreichischen Interessen in der ECPGR18 Malus/Pyrus Working Group (Dr. Lothar Wurm) und der Prunus Working Group (NN). Weiters arbeitet das LFZ Klosterneuburg mit der ARGE Streuobst zur gemeinsamen Abstimmung und Intensivierung der nationalen Bestrebungen zur Erhaltung pflanzengenetischer Ressourcen im Bereich Kulturgut „Obst“ zusammen. Sammlungsschwerpunkte und Anzahl an Akzessionen: Forschungsprojekte zum Vergleich alter und neuer Sorten, Sortenverhalten unter verschiedenen Produktionsbedingungen, Streuobstanbau und Intensivobstbau, Projekte zur Inkulturnahme und Kultivierung von Wildobstspezialitäten und vieles mehr dienen der Erhaltung und Vermehrung des Wissens um Sortenvielfalt und Biodiversität in diesem Kulturbereich. Die Sammlung (Tab. 6.2) stellt den Anspruch, einen Überblick über die Biodiversität der Obstkulturen und Sorten mit österreichischem Schwerpunkt zu geben, und ist die Basis zur Erarbeitung von Kenntnissen zur Produktion gesunder pflanzlicher Lebensmittel unter der Prämisse der Nachhaltigkeit. Die Erhaltung von als wertvoll anerkannten Edelsorten und der Sortenvielfalt im Allgemeinen wird durch laufende Sammeltätigkeit und die Bewertung der Eigenschaften von Obstarten und -sorten bewerkstelligt. Es wird versucht, Wildobstarten durch die Entwicklung geeigneter wirtschaftlicher Anbauverfahren in Kultur zu nehmen und als pflanzengenetische Ressource nutzbar zu machen. Die Absicherung der Sorten wird mit mindestens zwei Bäumen in zwei unterschiedlichen Quartieren angestrebt. Ein Großteil der Sorten wird mit mindestens zwei, viele auch mit drei Standorten und mehreren Einzelpflanzen je Standort besichert. In einigen Fällen ist die Absicherung einer Sorte durch die große Vielzahl unterschiedlicher Typen, wie am Beispiel der ‚Klosterneuburger Marille‘ ersichtlich, auch im dreistelligen Bereich der Akzessionen. Angestrebt wird eine Ergänzung der Genbank mit Steinobst (Pfirsich und Nektarine), Beerenobst (Holundersorten und Typen), Wildobstspezialitäten (Elsbeere, Mispel, Apfelbeere, Schlehe) und Schalenobst (Walnuss und Edelkastanie). Die Genbank Klosterneuburg strebt eine Abstimmung mit allen österreichischen Genbanken und Interessenten an, um den Erhalt der Sorten durch verschiedene Erhaltungsstandorte und Sicherungssammlungen zu gewährleisten und das Wissen zu den Sorten zusammenführen. Das Potenzial autochthon entstandener Sorten ist noch lange nicht ausgeschöpft und erfordert verstärkt Bemühungen in der Auffindung des genetischen Materials, der Sicherung als pflanzengenetisches Erbe Österreichs und in der Bewertung der Obstkulturen und Sorten zum Nutzen aller. Schwerpunkt der Sammlung ist und wird der österreichische Anteil des europäischen Sortenpools. Die Förderung der Zusammenarbeit mit internationalen Genbanken zur gemeinsamen langfristigen Sicherung des Materials und zur Vermeidung von Mehrgleisigkeit in der Arbeit zur Sicherung pflanzengenetischer Ressourcen auf internationaler Ebene ist Schwerpunkt zukünftiger Unternehmungen. 18 European Cooperative Programm For Plant Genetic Ressources.

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Tab. 6.4: Obstsortensammlung am LFZ Klosterneuburg

Malus domestica

Apfel

Pyrus communis Prunus armeniaca

Birne

Cornus mas Cerasus avium

Marille

Breites Sortiment an Tafelund Mostapfelsorten mit österreichischer und internationaler Herkunft und Tradition. Sortiment mit Tafel- und Mostbirnensorten. Interessante Sammlung an Typen der ‚Klosterneuburger Marille‘ / ‚Ungarische Beste‘

Kornelkirsche Kirsche Alte Sorten wie ‚Kritzendorfer Einsiedekirsche‘ bis Sorten des modernen Erwerbsobstbaus wie ‚Canada Giant‘. Prunus domes­ Reineclaude Zwetschke, tica P. domestica ssp. Mirabelle, Pflaume domestica Sorbus domeSpeierling Sammlung heimischer stica Wildtypen Cerasus vulgaris Weichsel Cydonia oblon- Quitte gata Corylus avelHaselnuss Europäischer Querschnitt lana

Sorten Akz. ~ 380 Sorten inkl. Mutanten 1903 und Typen ~ 120 pomologisch nicht verifizierte österr. Spezialitäten ~ 44 Sorten

520

~ 25 Sorten

350

~ 10 Sorten ~ 48 Sorten und Typen

163 155

~ 24 Sorten

82

~ 50 Sorten und Typen

71

~ 20 Sorten ~ 8 Sorten

69 29

~18 Sorten

26

~ 750

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Abgabe von Vermehrungsmaterial Als öffentliche Genbank ist das LFZ Klosterneuburg im Rahmen des Standardisierten Material-Transfer-Übereinkommens (SMTA) bemüht, den Austausch von pflanzengenetischen Ressourcen zum Zweck der Züchtung, Forschung und Ausbildung zu ermöglichen. Nach Verfügbarkeit des Materials ist bei einer rechtzeitigen Anforderung jede Akzession in Form von Edelreisern erhältlich. Die Abgabemenge ist begrenzt durch die vorhandene Anzahl an Einzelpflanzen je Sorte.

6.5. Genbanken (Ex-Situ-Erhaltung) in Österreich

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Obstgenbank Ritzlhof Kontaktperson und Autor: HR Dr. Siegfried Bernkopf Beginn des Vorhabens: 1981 trat Dr. Schachl, Leiter der Sämereiengenbank des Bundesamtes für Agrarbiologie Linz, an mich heran, in Sachen Obstsortenerhaltung in Oberösterreich aktiv zu werden. Es folgten für einen Neueinsteiger in diese Materie sehr mühevolle pomologische Literaturstudien, Recherchen und Kartierungen in den bäuerlichen Obstgärten. Von 1984– 1988 wurde ein Forschungsprojekt des Landwirtschaftsministeriums über oberösterreichische Lokalobstsorten abgewickelt, das gleichzeitig meine Dissertation darstellte. Das umfangreiche Wissen über Sorten und deren Standorte war die Basis für die Errichtung einer Obstgenbank in Oberösterreich. Errichtung: Die unter meiner Leitung stehende Abteilung Pflanzenbiologie des Bundesamtes für Agrarbiologie Linz errichtete auf einem Pachtgrund des Landesgutes Ritzlhof auf einem Areal von 2,8 ha eine Obstsortenerhaltungsanlage. Die ersten Auspflanzungen erfolgten 1990. Es handelte sich um Apfel- und Birnbäume aus der Baumschule des Institutes. Später wurden die Bäume im Lohnverfahren von einer Innviertler Baumschule produziert. Die Edelreiser stammten fast zu 100 % aus eigenen Sortenkartierungen in Oberösterreich bzw. vereinzelt aus den angrenzenden Bezirken Amstetten und Liezen. Nach Maßgabe der Personal- und Zeitressourcen wurden in den Folgejahren weitere Bäume, darunter in geringerem Ausmaße auch Pflaumen- und Kirschbäume sowie Sämlingsbäume von Malus sylvestris und Pyrus pyraster, ausgepflanzt. Die Anlage beherbergt heute 244 Hochstammobstbäume, davon 224 Sorten und 20 Bäume der Wildspezies Malus sylvestris und Pyrus pyraster. Organisationstruktur: Die Obstgenbank wurde vom Bundesamt für Agrabiologie errichtet. 2002 wurde unser Bundesamt und somit auch die Genbank Teil der AGES. Als Reaktion auf das Bundesanstaltengesetz 2004, durch das die alleinige Obstbaukompetenz einschließlich der Sortenerhaltung dem BA und der Höheren Bundesversuchsanstalt für Wein- und Obstbau Klosterneuburg zufiel, wurde die Genbank 2007 an dieses Institut übergeben. Gleichzeitig begannen Verhandlungen über die weitere Zukunft der Genbank. Die Zeichen stehen gut, dass die Genbank mit Beginn 2010 in eine Landes-Genbank umgewandelt und von mir ehrenamtlich geleitet werden wird. Obstbauversuchsanlage der Landwirtschaftskammer Kärnten (OVA) Kontaktperson: Ing. Siegfried Quendler Die Sammlung wurde als Ergebnis einer Diplomarbeit (DI Auer-Welsbach) ca. 1989 auf Initiative des damaligen Leiters der OVA, Herrn Ing. Herbert Gartner, aufgebaut und wird seither kontinuierlich erweitert. Ein Großteil der erhaltenen Sorten wurde im Rahmen mehrerer INTERREG-Projekte in Zusammenarbeit mit slowenischen Partnern gesammelt und dokumentiert.

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Derzeit umfasst die Sammlung 176 Apfelsorten, 71 Birnensorten und einige wenige Steinobstsorten. Außerdem wird derzeit aktiv nach autochthonen Weinsorten gesucht. Bevorzugt werden in Kärnten und Slowenien entstandene bzw. in Kärnten/Slowenien weitverbreitete Sorten erhalten. Solche Sorten werden auch (nach Maßgabe des vorhandenen Platzes) neu in die Genbank aufgenommen. Weiter wird versucht, alle Sorten, welche für den Anbau in Kärnten empfohlen sind (siehe Obstsortenliste unter www.ova-online.at), in Form von Reiserschnittbäumen zur Verfügung zu haben. Die Absicherung erfolgt mit 2 bis 4 Bäumen pro Sorte. Es ist geplant, Teile der Sammlung auch bei Privaten (on farm) abzusichern. Abgabe von Vermehrungsmaterial Es gibt keine Abgabebeschränkungen. Ausnahme: Vorsichtsmaßnahmen im Zuge der Feuerbrandprävention. FA 10B – Landwirtschaftliches Versuchszentrum Referat Obst- und Weinbau Kontaktperson: Dr. Thomas Rühmer Mitte der Achtzigerjahre wurde mit der Sammlung alter Apfel- und Birnensorten aus steirischen Streuobstbeständen begonnen, die ältesten Bäume im Erhaltungsquartier wurden im Frühjahr 1988 auf Sämling gepflanzt und stehen noch immer in der Anlage am Standort in Wagersbach. Die erste Pflanzung umfasste 114 Apfel- und 13 Birnensorten. Ende der Achtzigerjahre wurden noch einmal Sorten gesammelt, 27 weitere Apfelsorten wurden dann im Frühjahr 1991 gepflanzt. Die nächste Sammel- und Pflanzaktion umfasste im Frühjahr 1999 weitere 24 Apfel­sorten. Die letzte Maßnahme zur Sammlung von Obstsorten in der Obersteiermark fand Anfang des neuen Jahrtausends statt. Im Frühjahr 2002 wurden weitere 122 Apfel- und 53 Birnensorten in die Sammlung integriert. Derzeit stehen also im Erhaltungsgarten des Landes Steiermark 295 Apfel- und 80 Birnensorten. Eine Aufnahme von weiteren Sorten und Herkünften ist derzeit nicht geplant. Durchschnittlich werden zwei Bäume pro Akzession auf Sämling am Standort Wagersbach gehalten, weitere zwei Bäume auf Sämling werden am Standort Hitzendorf gehalten, diese werden jährlich stark zurückgeschnitten, um für den Fall einer Bedrohung des Standortes Wagersbach (Feuerbrand etc.) ausreichend Reisermaterial zur Vermehrung zur Verfügung zu haben. Abgabe von Vermehrungsmaterial Derzeit wird aufgrund von Feuerbrandbefall kein Vermehrungsmaterial weitergegeben. Sortengarten Burgenland Der Sortengarten Burgenland ist ein Kooperationsprojekt zwischen dem Österreichischen Naturschutzbund Burgenland und dem „Obstparadies“ Standort: 8385 Neuhaus am Klausenbach, Kalch 39 Kontaktperson: DI Christian Holler, Güssing. Im Jahr 2005 wurde der Sortengarten Burgenland gegründet. Die Aufgaben sind Sortensichtung und Reisersammlung in den Streuobstgärten des Burgenlandes und Anlage eines Erhaltungsgartens. Die Arbeit basiert auf vorhergehenden Inventarisierungsprojekten. 6.5. Genbanken (Ex-Situ-Erhaltung) in Österreich

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Derzeit umfasst die Sammlung 265 Obstsorten (155 Apfelsorten, 34 Tafelbirnen, 18 Mostbirnen, 34 Kirschsorten, 10 Marillen sowie 14 Pflaumen- und Zwetschkensorten). Die Sorten stehen in Neuhaus am Klausenbach und Bäume wurden an weiteren Standorten zur Absicherung ausgepflanzt. Die 265 Sorten sind auf 800 Bäume verteilt. Aus Platzgründen kann die Sammlung nur beschränkt erweitert werden. Abgabe von Vermehrungsmaterial Abgabe von Edelreisern erfolgt erst nach nochmaliger Verifizierung der Jungbäume. Hortus – Gesellschaft zur Erhaltung, Entwicklung und Förderung von Kultur- und Wildpflanzen und Tierrassen Kontakt: Günter Linecker Der Verein wurde 1999 gegründet und hat ca. 120 Mitglieder. Der Verein betreibt auf einem Grundstück von einem Hektar auf dem Areal des ehemaligen Schlosses Ranshofen einen Sortengarten, der auf die Sammlung und Erhaltung alter, überwiegend regionaler Obst- und Rebsorten abzielt. Der Sortengarten umfasst derzeit 113 Äpfel- und Birnensorten, 33 Prunus-Sorten sowie 60 Weinstöcke mit 30 verschiedenen Rebsorten. 19 Walnusssorten stehen in einer Anlage an der Braunauer Umfahrung und 117 Bäume mit verschiedenen Arten aus der Pflaumenverwandtschaft wurden in Lohnsburger gepflanzt. Der Sammlungsschwerpunkt liegt auf oberösterreichischen Lokalsorten. Abgabe von Vermehrungsmaterial Abgabe von Vermehrungsmaterial von allen Akzessionen ist bis dato nicht möglich. Lediglich Edelreiser aus der Apfel-Spalieranlage werden abgegeben.

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6.6. Gentechnik und pflanzengenetische Ressourcen Beate Koller Dieses Kapitel behandelt die Frage, welche Auswirkungen die Forschung, die Züchtung, die Produktion und die Vermarktung von gentechnisch veränderten Organismen auf die In-situ- und Ex-situ-Erhaltung pflanzengenetischer Ressourcen haben. Einleitung

Gentechnische Verfahren werden zur Erforschung der Erbsubstanz von Mikroorganismen, Pflanzen, Tieren und Menschen und zu ihrer gezielten Veränderung eingesetzt. Im allgemeinen Sprachgebrauch bezeichnet der Begriff „grüne Gentechnik“ alle Gentechnikanwendungen im Landwirtschafts- und Lebensmittelbereich, im Gegensatz beispielsweise zur „roten Gentechik“ im Medizinbereich. Als „gentechnisch veränderte Organismen“ (GVO) werden Organismen bezeichnet, „deren genetisches Material so verändert wurde, wie dies unter natürlichen Bedingungen durch Kreuzen oder natürliche Rekombination oder andere herkömmliche Züchtungstechniken nicht vorkommt“ (Definition lt. § 4. Abs. 3 GTG). Mit der kommerziellen Nutzung und dem Versuchsanbau gentechnisch veränderter Pflanzen hat sich die Situation der Erhaltung pflanzengenetischer Ressourcen grundlegend geändert: Denn nicht nur die gentechnisch veränderten Pflanzen müssen unter strengen Sicherheitsvorkehrungen angebaut werden, sondern nunmehr auch die vor Einkreuzung zu schützenden Kulturpflanzen. Müssen Genbanken und Kulturpflanzensammlungen in Zukunft die Gentechnikfreiheit des von ihnen erhaltenen und weitergegebenen Saatgutes garantieren? Wer trägt den finanziellen Aufwand für Prophylaxe und Screenings, wer das Risiko? Zu betrachten sind dabei die Erhaltung ex situ in Sammlungen und Genbanken, die Erhaltung in situ/on farm auf landwirtschaftlichen Betrieben und in Gärten sowie das Themenfeld „Gentechnik neben Genbanken“. Zur Einschätzung von Kontaminationsrisiken ist zunächst eine Eingrenzung der betroffenen Kulturarten sinnvoll. Naturgemäß ist das Risiko bei jenen Arten am höchsten, von denen GV-Sorten bereits flächenhafte Verbreitung finden oder fanden. Nicht außer Acht zu lassen sind aber auch jene Kulturarten, an denen geforscht wird oder wurde. 99 % der weltweit zu kommerziellen Zwecken angebauten GV-Pflanzen sind Soja (51%), Mais (30%), Baumwolle (13%), Raps (5%).19 Von ihnen geht vor allem in den Ländern, in denen sie angebaut und/oder gehandelt werden, ein erhebliches Kontaminationsrisiko aus. In 23 Ländern werden gentechnisch veränderte Pflanzen kommerziell genutzt. Davon sind 12 Entwicklungsländer. Aber 99 Prozent des GVO-Anbaus beschränken sich auf acht Länder:20 50,5% auf die USA, auf Argentinien (16,70%), Brasilien (13,1%), Kanada (6,1%), Indien (5,4%), China (3,3%), Paraguay (2,3%) und Südafrika (1,6%). 19 Nach http://www.transgen.de/anbau/eu_international/531.doku.html, Zahlen von 2007 20 ISAAA Briefs No 37-2007 (executive summary), FAO 6.6. Gentechnik und pflanzengenetische Ressourcen

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Tab. 6.5: Anbaufläche GVO weltweit (Zahlen von 2007)

Pflanzenarten

Land

GVOFläche in Mio ha

GVO-Fläche in ha

USA

57,7

57.700.000

Anteil am weltweiten Anbau 50,45%

Argentinien

19,1

19.100.000

16,70%

S, M, B

Brasilien

15

15.000.000

13,12%

S, B

Kanada

7

7.000.000

6,12%

Indien

6,2

6.200.000

5,42%

China

3,8

3.800.000

3,32%

Paraguay

2,6

2.600.000

2,27%

Gesamtfläche in den 8 Ländern: B 113,2 B, Pappeln, Papaya, Mio. ha Tomaten, Sweet Pepper S

Südafrika

1,8

1.800.000

1,57%

M, S, B

  Uruguay Philippinen Australien Mexiko Kolumbien Chile

  0,5 0,3 0,1 0,1 0,05