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German Pages [400] Year 2016
JANUSZ KORCZAK
Wie man ein Kind lieben soll
Herausgegeben von Elisabeth Heim pel und Hans Roos Mit einer Einleitung von Igor Newerly
15. Auflage 16.
VANDENHOECK & RUPRECHT
© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525315101 — ISBN E-Book: 9783647315102
Aus dem Polnischen von Armin Droß
Umschlagabbildung: Gottfried Reichel, Pobershau – Janusz Korczak
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-31510-2 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2014, 1967, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, T heaterstr. 13, 37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT , U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
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IN H A LT
Vorbemerkung der H erau sg eb er......................................
V
Einleitung von Igor N e w e r ly ............................................... VII Das Kind in der F a m ilie ...................................................
1
Das I n te r n a t.............................................................................151 S om m erkolonien.................................................................... 234 Das W a is e n h a u s .................................................................... 279 Z e i t t a f e l .................................................................................35 ^ R egister.....................................................................................363
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V O R B E M E R K U N G DER H ERA U SG EBER
Im Nachlaß von Herman Nohl, Professor der Philosophie und Pädagogik an der Universität Göttingen, fand sich ein Brief von Dr. Elisabeth Blochmann aus dem Jahre 1928. Eine junge Psychologin bat um Rat. Sie sei in Warschau gewesen ״bei einem Dr. Corczak", der dort seit zwölf Jahren ein Waisenhaus leite, ״einen ganz konsequent durchgeführten KinderStaat, der sich hervorragend bewähren soll". Er habe darüber ein Buch geschrieben, ״das in Polen großes Aufsehen mache" ; sie wolle es übersetzen, wenn sie dafür einen Verlag und finanzielle Unterstützung fände. Der Plan gelang nicht. Vierzehn Jahre später ging das Heim mit seinen Kindern und seinem Leiter in der grauenvollen Herrschaft des Nationalsozialismus unter. Heute jedoch, fast vierzig Jahre nach jenem Brief, dürfen wir den deutschen Lesern jenes Buch vorlegen — als den ersten Band pädagogischer Schriften des polnischen Kinderarztes und Erziehers Janusz Korczak. Igor Newerly, der Herausgeber der polnischen ״Ausgewählten Werke" (vier Bände, Warschau 1957—1958), schrieb das Vorwort für diese erste deutsche Ausgäbe; er stellte auch die ״Zeittafel" zusammen. Kleinere Schriften und das Tagebuch Korczaks sowie ein ausführliches Nachwort der Herausgeber sollen in einem zweiten Bande folgen. Die im wesentlichen 1914—1916 verfaßte Studie ״Wie man ein Kind lieben soll", Korczaks Hauptwerk, ruht auf der Erfahrung, die er als Arzt, als Erzieher und als Leiter des Warschauer Heimes für jüdische Waisenkinder während der ersten Jahre nach der Übernahme des Heimes gemacht und verarbeitet hatte. Sie gehört zu den wenigen klassischen sozialpädagogischen Schriften, die mit dem Stanzer Brief Pestalozzis beginnen und bis zu Makarenkos ״Pädagogischem Poem" reichen. V
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Die Arbeiten Korczaks sind in der europäischen erziehungswissenschaftlichen Literatur nahezu unbekannt geblieben. Das hängt zusammen mit den politischen Ereignissen in Polen und Europa seit dem Beginn der Dreißiger Jahre, deren dunkelsten Schatten die nationalsozialistische Herrschaft warf — ein weiterer Grund, der uns diese Ausgabe angelegen sein läßt. Die mühevolle Übersetzung aus dem Polnischen verdanken wir Armin Droß. Ferner haben wir dem Korczak-Komitee in Warschau und Herm Igor Newerly für ihre Unterstützung besonders zu danken. Unser Dank gehört auch Frau Ruth Roos für ihre wertvolle Hilfe bei der Überarbeitung der schwierigen Übersetzung. Die polnische Ausgabe der ״Ausgewählten Werke", der unsere Übersetzung folgt, gibt den Text von ״Wie man ein Kind lieben soll" nach der zweiten Auflage vom Jahre 1929 wieder, der letzten Ausgabe, die zu Lebzeiten Korczaks erschien (siehe den dritten Band der polnischen Ausgabe, S.73 bis 329, 425). Die in der deutschen ebenso wie in der polnischen Ausgabe kursiv gedruckten Abschnitte, deren Entstehungszeit für die Herausgeber nicht mit völliger Genauigkeit feststellbar war, bezeichnen spätere Ergänzungen des ursprünglichen Textes. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sind diese von Korczak erst für die zweite Auflage von 1929 eingefügt worden. In die Anmerkungen der Herausgeber sind einige der (meist lateinische Ausdrücke oder Namen erläuternden) Anmerkungen der polnischen Ausgabe auf genommen worden.
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EINLEITUNG
Von Igor Newerly Wenn es um den Nachweis des Namens geht, so ist es Kraszewski1 und der Zerstreutheit eines Setzers zu verdanken, daß Janusz Korczak 1899 auf der Bildfläche erscheint. Als der zwanzigjährige Henryk Goldszmit seine Arbeit für einen Uterarischen Wettbewerb junger Autoren in Reinschrift übertrug, war sein Blick auf den neben ihm liegenden Roman von Kraszewski ״Die Geschichte von Janasz Korczak und der schönen Schwertfegerin" gefallen. Auf gut Glück erwählte er diesen Helden zum Kennwort für seine Wettbewerbsarbeit, und später irrte sich der Setzer, als er die Liste der Preisträger zusammenstellte, bei diesem Namen um einen Buchstaben. Die Persönlichkeit dagegen, die uns bekannt und die als Janusz Korczak lebendig ist, hat sich bedeutend später geformt, im Ablauf von vielfältigen, intensiv durchlebten Wandlungen in den Jahren 1898 bis 1904, und sie fand die endgültige Bestimmung des eigenen Lebensweges irgendwann vor dem Ersten Weltkrieg. Dem Anschein nach deutete nichts auf diesen Weg hin, nichts, außer einer gewissen ״Wunderlichkeit". Die Goldszmits, Herr Józef, der Advokat, und Frau Cäcilie geborene Gębicka, hatten ein eigenartiges Kind. Ein Kind, das stundenlang allein spielen konnte und dem die Welt der eigenen Beobachtungen und Träume genügte. Ein Träumer, pflegte der Vater zu sagen; ein Philosoph, konstatierte die Großmutter, wenn sie den ErÖffnungen ihres Enkels lauschte. Sie allein glaubte an seinen Stern. ״Ich habe einen Forschergeist, keinen Erfindergeist", schreibt Korczak in seinen Erinnerungen gegen Ende seines Lebens. ״Ich befragte meine Sternchen, Kinder und Erwachsene, wer 1 Józef Ignacy Kraszewski (1812—1887), vielgelesener polnischer Romanautor.
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sie seien. Mein Spielzeug blieb ganz. Es interessierte mich nicht sonderlich, warum eine Puppe die Augen schloß, wenn man sie hinlegte. Nicht der Mechanismus, sondern das Wesen einer Sache, das Ding an sich. . ." Seine angeborene Nachdenklichkeit und seine Vorstellungskraft wachsen im Widerstreit mit langweiligen, erlebnisarmen, in der schönen Wohnung der Kindheit hermetisch abgeschlossenen Eindrücken. Später kommt die Schule, wo er den Stock des Lehrers kennenlernt. Dann das Gymnasium, das man mit der Straßenbahn erreichte, die im Sommer mit einem, im Winter mit zwei Pferden bespannt war — ein humanistisches Gymnasium mit einem gedankenlosen, auf Gedächtnisübungen beschränkten Unterrieht, der mit reichlich Griechisch und Latein zu einem unerschütterlichen Block der antiken Welt zusammengeschweißt war, mit Maulkorbmethoden und Heuchelei, mit der aufgezwungenen fremden russischen Sprache. Obwohl er bereits weiß, daß er Jude ist, fühlt sich Henryk als Pole, kennt keine andere Kultur als die polnische und keine andere Sprache als die, die in seiner seit langem assimilierten Familie gesprochen wird. Alles das bedrängt ihn, zwingt zur Selbstverteidigung in unerreichbaren und lichten Regionen des Geistes. Krankheit und Tod des Vaters (nach längerem Aufenthalt in einer psychiatrisehen Klinik) bedeuten materiellen Ruin und belasten sein ganzes weiteres Leben. Armut folgt dem bürgerlichen Wohlstand, und dieser Zustand ist um so schmerzlicher, als er stolz und verzweifelt zugleich vor fremden Blicken verborgen gehalten wird. Es gibt keinen anderen Ausweg, er muß der Mutter helfen und nach einem Verdienst suchen. Er gibt Nachhilfestunden. Für Bücher, deren Inhalt er leidenschaftlich und bildungshungrig miterlebt, und für eigene literarische Versuche bleiben ihm nur die Nächte. Er schreibt eine Erzählung mit dem Titel ״Der Selbstmörder'׳, deren Held aus Furcht vor dem Wahnsinn auf das Leben verzichtet. Er verfaßt auch Gedichte. Endlich das Reifezeugnis, das er wie ein Hund einen Knochen aus einer Marktbude an sich reißt, und die Universitat. Davor aber noch zwei Episoden. Als Schüler der letzten Klasse faßt er Mut und begibt sich zur Redaktion der damals führenden politisch-literarischen VIII
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Wochenzeitung ״Prawda". Der Chefredakteur Aleksander Świętochowski empfängt ihn persönlich. Schlimmer hätte es Henryk nicht treffen können. Der ״Hetman des fortschrittliehen Denkens", wie Świętochowski genannt wurde, der Autor der dreibändigen, philosophierenden ״Geister", vornehm im Umgang, elegant in seinem Lebensstil, hatte derart erhabene Perspektiven, daß er Anfänger kaum bemerkte. Auch auf den jungen Sienkiewicz, den jungen Sieroszewski, auf Reymont und Żeromski war er nicht zur rechten Zeit aufmerksam geworden, und so hatte er sie für seine Zeitschrift verloren. Was hätte er also aus den Versen eines schüchternen Gymnasiasten heraus־ hören können? Sehr erregt und mit vibrierender Stimme liest ihm Henryk seine Elegie vor, und als er endet ״. . . nicht fühlen will ich, nicht leben mehr, ins dunkle Grab laßt mich gehn . . . " antwortet Świętochowski mit unerschütterlicher Ruhe: ״Das gestatte ich Ihnen gerne!" ״Ich habe keine Gedichte mehr gemacht", bemerkte Korczak später, als er mir diese Episode erzählte. Die zweite Episode ereignete sich nach dem Abitur. Als sich Henryk von dem einzigen Professor verabschiedete, den er im Gymnasium gern mochte und der ihn für die Dichtungen Homers zu begeistern gewußt hatte, beugte er sich überraschend über die Hand des verehrungswürdigen Philologen und küßte sie. So ist Henryk, ein Poet von farbiger Ausdruckskraft und starker Gefühlsmächtigkeit, zugleich ein forschender Geist, der nach dem rechten Inhalt des Lebens sucht, ein Angehöriger der Intelligenz in der dritten Generation (der Vater Jurist, der Großvater Arzt), als er sich in die medizinische Fakultät aufnehmen läßt. Seinen Vornamen hat er vom Großvater, und so entschließt er sich auch für dessen Beruf. Dies ereignete sich im Jahre 1898; es war das Jahr des Beginns auf dem Wege jenes Wandels von Henryk zu Janusz, und es war im sozialen Leben Polens ein so einschneidendes Jahr, daß die Politik, die sich lange Jahre hindurch in der Hand der Konservativen befunden hatte (der Kollaborateure, wie wir heute sagen würden), aus den Salons auf die Straße ging. IX
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In Warschau sind in diesem Triennium von 1898—1900 bereits die drei großen politischen Parteien in Aktion — die Polnische Sozialistische Partei, die Sozialdemokratie und die Nationaldemokratie. Ihre jungen Führer, deren Namen später in die Geschichte eingehen, Piłsudski, Dmowski, Marchlewski und Dzierżyński, setzen sich aktiv ein. Es kommt zu Reibereien zwischen diesen profilierten politischen Lagern, in den Hochschulen und besonders auf dem Gebiete der Universität, wo in großer Eile ״Verkehrsingenieure" für alle drei Richtungen der Massenbewegung engagiert werden. Die erste Berührung mit der Politik hatte Henryk auf dem Hofe der Universität, wo die Nationalen gegen die Sozialisten kämpften und Grüppchen von Sozialisten sich untereinander befehdeten. Es waren Kämpfe, von denen einer, der daran teilgenommen hatte, nach Jahren in seinen Erinnerungen sagt: ״Die damals noch so schwächlichen sozialistischen Parteien gingen erbarmungslos gegeneinander vor, und diese Kämpfe blieben vor allem auf die empfindlichen Gemüter der Jugend nicht ohne Eindruck." Drei große politische Aktionen erschüttern ein um das andere Mal das akademische Leben und das Leben des ganzen Landes: die Vertreibung einer Gruppe von kompromittierten Professoren von der Universität Warschau, was zu einer bis dahin unerhörten patriotischen, gegen den Zaren gerichteten Demonstration führte, und kurz darauf eine Kundgebung von Studenten, Intelligenz und einfachem Volk bei der Enthüllung des Mickiewicz-Denkmals ; schließlich erfolgte ein allgemeiner Studentenstreik, da als Antwort auf die brutale Auflösung einer Versammlung der akademischen Jugend in Petersburg sich alle Hochschulen auf dem ganzen Gebiet des Zarenreiches erhoben. In jenen stürmischen Tagen erkannte Henryk die Notwendigkeit der politischen Aktion, und er hat wohl auch die Macht der Masse richtig eingeschätzt; jedoch konnte ihm das Kulissengeplänkel zwischen den Parteien nicht verborgen bleiben, und er bemerkte die nicht immer richtigen Methoden, die Kompromisse und den Verrat von Prinzipien zugunsten kurzlebiger Parteiinteressen. Viel schlimmer noch war, daß er auf die Schändlichkeiten stieß, die auf dem politischen Leben des X
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damaligen Rußland und Polen zu lasten begannen. Um die immer kraftvolleren Befreiungs- und Revolutionsbewegungen besser bekämpfen zu können, bediente sich die zaristische politische Polizei in einem bis dahin unbekannnten Maße des Mittels der Provokation. Liquidationen bisher als Zugriffssicher geltender Organisationen und Massenverhaftungen erfolgten. Von Mund zu Mund wurden die Namen von Provokateuren weitergegeben, die bis vor kurzem noch Genossen, ja sogar geachtete und prominente Genossen, gewesen waren. Es herrschten Vernichtung, Verwirrung und Psychose. Keinem kann man mehr trauen, wachsam muß man seinen weiteren Weg suchen, ohne Sicht auf dem schmalen Grenzpfad zwischen Ideal und sumpfigem Unland. Aus dem Nebelschwaden dieses Sumpfes treten Gespenster hervor, unbestimmbar und trügerisch, so daß sich schwerlich erkennen läßt, ob es sich um wirkliche Gespenster handelt oder um Phantasmagorien. Da wird Henryks gleichaltriger Kollege, der zwanzigjährige Stanisław Brzozowski, der Provokation verdächtigt, und er versucht vergeblich, seine Unschuld zu beweisen. Henryk wird ihn später zusammen mit anderen Intellektuellen verteidigen; Brzozowski aber, der bedeutende Kritiker und Schriftsteller, der hervorragendste Kopf des Jungen Polen, erlischt schließlieh, ohne daß der Makel, ein Provokateur zu sein, von ihm genommen worden ist. Wenn man nach langen Jahren aus der erhellenden historischen Perspektive die Dinge betrachtet, nimmt man nur noch die großen Objekte, die Position von Gebirgsmassiven und die Richtung verschiedener Strömungen wahr. Aus der Nähe gesehen springt einem jeder ungestalt verdorrte WachholderStrauch in die Augen, und jeder Klumpen Dreck. Davon gab es genug, und das konnte unter so schwierigen, deformierenden Bedingungen auch gar nicht anders sein. Der damalige politische Kampf im zwielichtigen Untergrund vermochte Naturen wie Henryk schon abzuschrecken. Dieser Jüngling, der auf jede Gewalt und alles Unrecht, auf Verlogenheit und Betrug so empfindlich reagiert, dem es aber nicht an Mut fehlt, den er oftmals in seinem Leben bis zum freiwilligen Märtyrertod beweist — er wendet sich ab von der Politik. Zwar gibt er XI
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später mehr als einmal zu erkennen, auf welcher Seite er steht, und er kommt sogar für kurze Zeit ins Gefängnis — indessen verharrt er bis zu seinem Lebensende in einer entschieden unpolitischen Haltung, und er bleibt skeptisch gegenüber der Möglichkeit, ein Problem auf revolutionärem Wege zu lösen. Er sucht nach einem anderen ״Thema seines Lebens ", so wie er es in einem Brief an einen jungen Freund präzisiert hat: ״Wenn es das Thema des Lebens darstellt, physisch und geistig satt zu werden, dann droht immer der Bankrott: man erschöpft sich. Übersättigung oder das Gefühl der Leere. Wenn du dagegen nimmst, um zu geben, so hast du ein Ziel, und es ist notwendig, die Fülle zu haben. Das eigene Leid umschmelzen in eigenes Wissen und Freude für andere, aufgehen in den eigenen Lebenszielen. Mißerfolge sind dann zwar schmerz-* licher, aber sie demoralisieren nicht." Wenn der Mensch geistig heranreift, bevor er noch so oder anders das Thema seines Lebens gefunden hat, sucht er instinktiv nach einem Kontakt, nach einem Austausch mit einer kräftig profilierten und beunruhigenden, innerlich aber reichen Persönlichkeit. Die Professorenschaft der Warschauer Universität war in dieser Hinsicht wohl die ärmste von allen hohen Schulen Rußlands. Wer konnte, studierte lieber im Ausland oder in Petersburg, Moskau und Dorpat. Aber Warschau besaß noch eine andere Hochschule, die es sonst nirgendwo gab und die jeder Nation hätte zur Ehre gereichen können —die Fliegende Universität. Heimlicherweise, nach der Polizei ausschauend, in immer wieder anderen Privatwohnungen, hielten Gelehrte wie der bedeutendste polnische Soziologe Ludwik Krzywicki, der bekannte Geograph und Publizist Wacław Nałkowski, der Pädagoge Jan Władysław Dawid, der Philosoph Mahrburg, der Orientalist Radliński und viele andere ihre Vorlesungen — keine namenlosen Kathedergrößen, sondern originelle Individualisten, faszinierende Persönlichkeiten von großem Wissen und edlem Charakter. Die Jahre 1898 bis 1900 stellten in der Geschichte der Fliegenden Universität den Höhepunkt ihrer Entwicklung dar. Gleichzeitig ist es die Zeit, da sich der geheime Unterricht an XII
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den illegalen polnischen Volksschulen in voller Blüte befindet. Zahlreiche Angehörige der Intelligenz, jugendliche und ältere, arbeiten unter rein konspirativen Bedingungen, redlich und durchtrieben zugleich, und mit ganzer Hingabe, in einer Atmosphäre höchster Idealität. Henryk stellt sich in die Reihen dieser vielleicht schönsten Armee, die Polen jemals besessen hat. In diesem Zentrum der radikalen Intelligenz, bei seiner Arbeit im Rahmen der Fliegenden Universität, auf dem Gebiet der leihgebührfreien Volksbüchereien, bei patriotischen und allgemeinbildenden Aktionen, findet er wegweisende Geister, Leitbilder und Freundschaften, denen er bis zum Ende die Treue hält. Einige Jahre hindurch, etwa 1899 bis 1902, leben sie beide nebeneinander her: Henryk und Janusz. Henryk studiert Medizin, arbeitet, schafft den Lebensunterhalt für sich selbst, für Mutter und Schwester — als Hauslehrer und von den armseligen Honoraren für seine Feuilletons in der humoristischen Wochenzeitung ״Kolce" (Stacheln). Unter anderem beginnt er dort auch mit dem Abdruck des Sensationsromanes ״Der Lakai — Aus dem Tagebuch eines Entgleisten". Das Manuskript geht in der Redaktion von Hand zu Hand; auch Studenten und angehende Literaten schreiben nacheinander Kapitel um Kapitel, so daß die Handlung, die sich inhaltlich kaum zusammenfassen läßt, sich gänzlich unberechenbar entwickelt. Niemand weiß, worum es eigentlich geht, weder die Leser noch der Autor, der gerade an der Reihe ist und der nur deshalb zu schreiben scheint, um seinen Vorgänger vor Neid erblassen zu lassen und den Nachfolger in ein irritiertes Stöhnen zu versetzen. Manchmal verschwindet Henryk von der Universität und aus der Redaktion, und dann erscheint Janusz in der Altstadt. In den dämmerigen schmalen Straßen, in den blinden Sackgassen hallen seine Schritte dumpf auf dem ausgetretenen Pflaster, wenn er die Elendsbehausungen des Lumpenproletariates, die Zuhälterquartiere und die Diebeskneipen streift. Um die Mittagszeit besucht dieses Armenviertel der ״Suppentrompeter" einer Wohltätigkeitsgesellschaft: ein Koch mit weißer Schürze und weißem Käppchen ruft mit seinen TrompetenXIII
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Stößen die Hungrigen zu einem Kohlgericht oder einer Erbsensuppe für drei Kopeken herbei, und wenn man einen Teller mitbringt, braucht man nichts zu zahlen. Ein Schlupfwinkel des Elends und des Lasters, von obdachlosen Kindern und von Messerstechern. Manchmal erscheint ein Polizeimeister, revidiert die Passanten, und wenn er bei einem ein Messer findet, dessen Länge die Breite einer Hand überschreitet, so befiehlt er seinen Kosaken, den Betroffenen gleich auf dem Bürgersteig mit ihren Knuten zu verprügeln. Aber das geschieht nur bei Tage. Sobald der Abend dämmert, wagt es keine Amtsperson, kein Schutzmann, sich in diesem Viertel zu zeigen. Aber Janusz bewegt sich hier ganz ungeniert, hat auch hier seine Freunde, und niemand rempelt den wunderlichen Studenten an. ״Mit unvergleichlicher Meisterschaft rührt Janusz die Herzen an" — sagt sein Freund Liciński, ein junger Dichter der polnischen Dekadenz. Sogar die Messerstecher haben ihn gern. Eines Nachts wollten sie sich hinter einer Kneipe um seinetwillen duellieren, aber Janusz redete auf sie ein, umarmte einen von den Schlägern und gab ihm einen Kuß auf seine versoffene Verbrechervisage, bis dieser wütend wurde und unter Flüchen sein Messer auf den Boden schleuderte. Janusz selbst notiert in seinem Tagebuch: ״Die Jahre haben hier finstere und rachsüchtige Gewalten aufeinander getürmt, in diese Welt kann man nicht ungestraft Einblick nehm en. . . Ich beginne jetzt zu begreifen, wie man für einen Tagesverdienst von vier, drei oder gar nur zwei Zloty eine Familie erhalten, Miete, Lebensunterhalt, Kleidung, Wäsche, Petroleum, Doktor, Apotheke und den Pfarrer für das Begräbnis bezahlen und sich manchmal noch betrinken und einen Namenstag ausrichten kann. Ich verstehe jetzt, warum die Kinder hier eine erdige Gefängnishaut, entzündete Lider und krumme Beinchen haben, und warum von zehn nur vier am Leben bleiben. Ich kann es mir nur nicht erklären, wie diese vier groß werden können und Kraft zur Arbeit haben." ״Zu Ihnen, Herr Janek, kommen Kinderhorden aus der ganzen Straße" — verwundert sich die Frau des Droschkenkutschers, bei dem Janusz damals wohnt. XIV
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Er unterrichtet die Kinder, behandelt sie und nimmt sich ihrer an. Am Weihnachtsabend verkleidet er sich als Heiliger Nikolaus und zieht im Schafspelz, mit angeklebtem weißen Bart, mit dem Pilgerstock und einem Sack auf den Schultern von Haus zu Haus. Alle begrüßt er mit Namen, teilt kleine Gaben aus und hinterläßt den märchenhaften Glanz einer schönen Illusion und segnet aus traurig-mitfühlendem Herzen alles, was leidet und irrt. ״Eine Stunde lang war ich ein Heiliger" — denkt er, als er ins Stadtzentrum zurückkehrt, um wieder Henryk zu werden. So leben eine Zeitlang Henryk und Janusz nebeneinander her, bis im Zusammenleben mit dieser Welt der Armen, in der Arbeit für sie, in der ersten unguten Liebe (denn auch das macht er hier durch) der bisherige ״schwankende schmähliche Weltschmerz" umschlägt in die Glut der Selbstkritik, bis er seine Forderungen und Vorwürfe nicht mehr an Menschen, Institutionen und an die düstere Wirklichkeit, sondern an sich selbst richtet. ״Ich spüre, wie sich in mir unbekannte Kräfte sammeln, die wie ein helles Licht emporschießen, und dieses Licht wird mir leuchten bis zum letzten Atemzug. Ich fühle, wie ich mich dem Augenblick nähere, da aus den Abgründen meiner Seele das Ziel zum Vorschein kommt, aus dem das Glück erblüht. " Worte, die wie ein Gelöbnis klingen, sonderbar prophetisch und erhaben, wenn man an seinen weiteren Weg denkt: vierzig Jahre voller Arbeit und schöpferischer Tätigkeit für die Kinder bis zum Tod, dem entsetzlichen Tod in der Gaskammer des Vernichtungslagers1, und zugleich dem schönsten Tod — denn er entspringt dem eigenen Opferwillen. Diese Worte sagt Janusz, der aus den schmerzvollen, intensiv durchlebten Auseinandersetzungen und Erfahrungen Henryks geboren wird, nachdem dieser Henryk, gleichsam nach den Gesetzen einer Desintegration, sich aufgelöst hat. Das ist nun schon Janusz Korczak, der Verfasser des Romans ״Das Salonkind", im Jahre 1904. Das ist Janusz, der das System, die sittliche Verfassung, vor allem aber die bürgerliche Familie 1 Das Wort
״Vernichtungslager" steht deutsch im polnischen Original.
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anklagt und demaskiert in der ambitiösen Absicht, die ״Elen־ den", wie sie sich in Polen darbieten, im literarischen Zeugnis sichtbar zu machen. Die Bilder ballen sich in einer irritierenden Mischung von Halluzinationen, Grotesken und dokumentarischen Komponenten, durchtränkt von einem Gefühl der Mitschuld, ergreifend durch die Ungeheuerlichkeit des dargestellten Leidens. ״Seine Seele", sagt Brzozowski, ״entwickelte eine sublimierte Hellsichtigkeit für den Schmerz. Und zugleich treten bei Korczak humoristische Züge hervor. Nichts ist einfacher, als Welt und Menschen, Ereignisse und Meinungen mit den Augen dessen zu betrachten, der die Lächerlichkeit um sich wahrzunehmen versteht. Nichts ist leichter, man muß es nur mit dem Blick der Verzweiflung sehen. Auf ihrem düsteren Hintergrund zeichnet sich alles mit närrischer Genauigkeit ab. Verzweiflung gibt keinem Pathos Raum. Übrig bleibt allein die sich selbst in ihrer Ausdauer gegen die Nichtigkeit belächelnde Gestalt." Der Roman ״Das Salonkind" erscheint in Fortsetzungen im ״Glos" (Die Stimme), einer außerordentlich fortschrittliehen gesellschaftlich-literarischen Wochenzeitung; er wird zu einem literarischen Ereignis. Der Erfolg des Romans setzt die Verleger in Bewegung: die Leser verlangen nach Korczak. Aber Korczak ist nicht da, er ist im Krieg, irgendwo in einem Lazarett in der Mandschurei, und deshalb wird rasch eine Auswähl von Henryks Feuilletons und Novellen zusammengestellt. In Abwesenheit des Autors erscheinen die ״KoszałkiOpałki" (Albernheiten) mit dem Verfassernamen Janusz Korczak, in Klammern Henryk. Hier endet die Wandlung von Henryk zu Janusz. Zum letzten Mal begegnen hier einander die beiden Namen, um sich für immer zu trennen. Von nun an gibt es nur noch Janusz Korczak, der ein in sich ruhender Mensch und ein gereifter Schriftsteller von eigentümlicher Prägung ist. Jedes Leben läßt sich von einem bestimmten Orte her aus den ihm eigenen menschlichen Zügen — wenn man von den Einwirkungen des Zufalls und der Zwangssituation absieht — ohne Schwierigkeiten deuten. Wenn der Höhepunkt in der XVI
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Verdichtung seiner Möglichkeiten und seiner vorhandenen Kräfte richtig erfaßt wird, treten später kaum noch Undeutbarkeiten oder Diskrepanzen mit der psychologischen Wahrhaftigkeit oder mit dem intimen Imperativ des betreffenden Menschen auf. Janusz Korczak, wie er sich uns nach dem Jahre 1904 darstellt, ist vor allem ein guter Mensch, von jener schwer verständlichen Güte, die nicht nach allgemein menschlichen MaßStäben meßbar ist; er hat eine recht poetische Natur und einen forschenden Geist. An sich selbst stellt er ethische Maximalforderungen; er ist ein Fanatiker der Pflicht. Er ist sich dessen bewußt, daß alle unsere Ideale und Wahrheiten nur den Wert besitzen, den wir ihnen durch unser eigenes Leben verleihen. Und er hat das Thema seines Lebens bereits gefunden: das Kind. ״Ich habe es gelobt und will dabei bleiben: der Sache des Kindes bin ich verpflichtet/' Er versucht, ihr als Arzt zu dienen. In einem Warschauer Kinderkrankenhaus arbeitet er — mit Unterbrechungen während des russisch-japanischen Krieges — sieben Jahre lang; später verwendet er seine Ersparnisse für eine Reise ins Ausland: ein Jahr Praxis in den Kliniken von Berlin, ein halbes Jahr in Paris, einen Monat in London. In den Arbeitervierteln von Warschau, wo er wohnt, behandelt er die armen Leute kostenlos oder für einen symbolischen Betrag; dagegen läßt er sich in den Häusern der wohlhabenden Intelligenz, in den Palais von Industrie-Potentaten, wohin er immer öfter gerufen wird, Professorenhonorare zahlen. Der Verfasser des Romans ״Das Salonkind" ist in den Salons gesucht und gern gesehen. Der bekannte Literat und gute Arzt, der sich nach einer brillanten Praxis im Ausland der armen Leute in Warschau annimmt, erregt mit seinen rätselhaften Problemen aus dem Grenzbezirk von Evangelium und sozialer Utopie Neugier und Unruhe. Man möchte ihn entdecken und einen Modearzt aus ihm machen — aber was soll man tun, wenn er dies nicht will und sich selbst schadet? Er beginnt, sich unbefriedigt zu fühlen. Allmählich reift in ihm der Verrat an der Medizin, wie er es bezeichnet, der XVII
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״Scheidungsprozeß". Die Ursachen? Einmal genügt es ihm nicht, nur kranke Kinder zu betreuen. Ihn interessiert das Kind in seiner physischen und moralischen Gesundheit überhaupt, das Kind mit allen seinen Problemen und seiner Situation in der Gesellschaft. Zum anderen bedrückt ihn die Ratlosigkeit der Medizin gegenüber den sozialen Ursachen, die Krankheiten zur Folge haben. In der pädiatrischen Ambulanz, wo ihn scharenweise Mütter umringen, die einen Rat begehren oder Medikamente von ihm haben wollen, kann er Aufruhr und Protest in seiner eigenen Brust nicht mehr bändigen: ״Wann, zum Teufel, werden wir endlich aufhören, Salizyl gegen Elend, Ausbeutung, Unrecht, gegen Verwaisung und Verbrechen zu verschreiben? Wann, in Dreiteufels Namen?" Er gibt die Medizin und seine glänzende ärztliche Praxis auf — und er geht von der pädagogischen Problematik in seinen literarischen Werken zur praktischen Erziehungstätigkeit in dem Waisenhaus (Dom Sierot) über, das nach seinem eigenen Entwurf 1911 errichtet wurde. Trotz des Übermaßes an Arbeit und Erlebnissen in seiner Tätigkeit als Erzieher stellt er sein literarisches Schaffen nicht ein. In diesen Jahren verfaßt er Erzählungen aus den Ferienkolonien, ferner ״Bobo" (eine literarische Studie über das Kleinkind), ״Spowiedź motyla" (,Beichte eines Schmetterlings', Erinnerungen aus der Pubertätszeit), ״Feralny tydzień" (,Eine unglückliche Woche', Erzählung aus dem Schulleben) — vier abgerundete Arbeiten von dauerhaftem Wert in drei Jahren. Gleichzeitig ist er bemüht, Lücken in seiner pädagogischen Bildung auszufüllen. Nächtelang liest er, studiert und sinnt in seiner Dachstube im Waisenhaus einer Vision nach, die ihn schon seit Jahren nicht mehr losläßt: ״Die große Synthesis des Kindes — das war es, was mir als Zukunftsbild erschien, seit ich in einer Pariser Bibliothek mit großer Anteilnahme die erstaunlichen Werke der französischen Klassiker der Kinderheilkünde gelesen hatte." Als ausgereifte Persönlichkeit, mit dem bereits erwählten ״Thema seines Lebens" und einer eigenen, voll entwickelten, wenn auch noch unausgesprochenen Meinung über diese Thematík, geht er in den Krieg. Wenn er damals, 1914 in Ost XVIII
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preußen, irgendwo in der Nähe des damaligen Orteisburg gefallen wäre, so hätte man in den Uniformtaschen dieses Hauptmanns der russischen Armee das Manuskript gefunden: ״Jak kochać dziecko" (,Wie man ein Kind lieben soll'). Mit diesem Entwurf in der Tasche marschiert er mit der Armee Samsonow zu den masurischen Seen, schreibt während des Feldzuges selbstvergessen weiter, wo auch immer ein Halt eingelegt wird, an der Rawa, in der ukrainischen Steppe und bei Tarnopol. . . mit dem gesamten Wissen des Arztes und des Erziehers versehen, setzt er seine Fragezeichen hinter das Unerforschte und das Bekannte, Althergebrachte; er möchte den Leser, nachdem er dessen Forscherdrang geweckt hat, mit sich selbst konfrontieren und ihn damit zu eigener geistiger Anstrengung nötigen. Er macht sich frei von dem Übermaß an Leiden um ihn her, von der würgenden Einsamkeit, und er konzentriert sich auf die davon nicht betroffene Vernunft, auf die Dominante seiner Existenz: wie soll man ein Kind lieben? So vermag nur die Liebe zu sprechen, die verständige Liebe, die vieles weiß und noch mehr verlangt. Eine Liebe, die mit dem Blick des Psychologen den weit verzweigten Wandlungsprozeß von der Geburt bis in die Pubertätszeit durchforscht, die mit den Schwingungen dichterischer Vorstellungskraft in die Geheimnisse der Kindheit eindringt und dann wieder mit zupackender Satire Ignoranz und Egoismus der Erwachsenen, gängige Formeln und pseudo-wissenschaftlichen Schwindel demaskiert, mit einer Leidenschaft, die er selbst einmal beiläufig erklärt: ״Ich habe dieses Buch im Feldlazarett geschrieben, bei Geschützdonner, mitten im Kriege; ein Programm verständnisheischender Nachsicht allein genügte nicht." Pestalozzi, dem Korczak viel verdankte und dessen Kind· heit er in einem Roman nachzeichnen wollte, hatte durch ״Gertrud" seine Hauptaussagen gemacht. ״Wie Gertrud ihre Kinder lehrt" ist das für den großen Schweizer bezeichnendste Werk und für das pädagogische Denken klassisch zu nennen, da es voll von unzähligen Inspirationen für das gesamte 19. Jahrhundert ist. Korczaks Schrift ״Wie man ein Kind lieben soll" ist gleichsam seine ״Gertrud"; es ist seine XIX
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Synthesis des Kindes. Später hat er diese Synthesis präzisiert, und er hat sie im dritten Teil dieses Buches und in seiner Schrift ״Prawo dziecka do szacunku" (Das Recht des Kindes auf Achtung) mit Argumenten belegt. Er sollte diese Synthesis später in den ״Radioplaudereien des Alten Doktors" und in seiner ״Heiteren Pädagogik" populär machen, und er sollte neue künstlerische Erfolge mit seinen Erzählungen ״Wenn ich wieder klein bin" und ״König Hänschen" haben — zu dieser Grundkonzeption vom Kind und von dessen Welt aber sollte er nichts mehr hinzufügen noch abstreichen. Unschwer läßt sich hier eine gewisse Affinität zwischen Korczak und einer für das Königreich Polen zur Zarenzeit charakteristischen Kategorie von Wanderphilosophen entdecken, also von Gelehrten ohne Lehrstuhl wie Nałkowski, Radliński, Krzywicki (dieser vielleicht in geringerem Maße), Abramowski u. Brzozowski. . . Ohne wissenschaftliche Arbeitsstätte mit modernen Forschungsmitteln, ohne deren technische Bequemlichkeiten und deren Wechselbeziehungen von Versuchsreihen — dabei jedoch stark engagiert in aktuellen sozialen Fragen — tendieren sie alle zur Philosophie hin; sie neigen dazu, auf einem weit gespannten Problemhintergrund ihre Fragen zu stellen, nicht zuletzt solche einer übergreifenden Deutung von Grenzbezirken verschiedener Disziplinen. Jeder von ihnen ist durchweg originell und suggestiv, und jeder von ihnen hinterläßt Neuerungen, die eine längere Zeit hindurch beunruhigend wirken, jedoch nicht immer gründlich fundiert sind und daher oft erst einen Anfang darstellen. Noch ein weiterer Zug verbindet Korczak mit dem stürmischen Beginn unseres Jahrhunderts. Die Revolution und die Klassenkämpfe lehren ihn, obgleich er an ihnen nicht teilnimmt, das Kind unter dem Aspekt der Interessenkämpfe zu sehen, und er wird infolgedessen zum Kämpfer. ״Wollte man die Menschheit in Erwachsene und Kinder und das Leben in Kindheit und Reife einteilen, so gäbe es in der Welt und im Leben sehr viel Kindhaftes. Weil wir aber nur die eigenen Auseinandersetzungen und die eigenen Sorgen im Blick haben, nehmen wir es nicht wahr, so wie wir früher die Frauen, die Bauern, die unterdrückten Schichten und XX
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Völker nicht zu sehen vermochten. Wir haben uns so eingerichtet, daß die Kinder uns möglichst wenig stören, möglichst wenig ahnen, wer wir eigentlich sind und was wir wirklich tun." Die Kinder — sie sind für ihn eine unterdrückte Gesellschaftsschicht, ein Proletariat auf kleinen Füßen, das mit der mühseligen Arbeit des Wachsens beschäftigt ist. Er ist ihr Volks tribun, der um das Recht auf freie Entwicklung für sein kleines Volk kämpft und Forderungen oder Anklagen erhebt. Zwei Kriege, die er miterlebt, zwei Revolutionen, die Unabhängigkeit des Vaterlandes (von der man sich erträumt hatte, daß es in diesem neuen Vaterland verständiger und menschlieber zugehen würde als irgendwoanders, und das sich — wie überall auf der Welt — als von Gewalttat, Unrecht und Falschheit erfüllt erwiesen hatte), ferner zwielichtige Kollektive, Psychosen, die hier und da die Massen erfaßten — all diese modernen Erscheinungen, dramatischen Auseinandersetzungen und Gegensätzlichkeiten setzen sich für ihn zu einem wenig heiteren Bild von der Welt und vom Menschen zusammen, das er später in seinem ״Senat der Wahnwitzigen" szenisch dargestellt hat. Ihm stellt sich die Zukunft nicht so sehr in einer anderen, besseren Gesellschaftsordnung als vielmehr in einem besseren Menschen dar. Dummheit, Habgier, Lüge und Dieberei überwuchern wie eh und je die neuerrichteten Institutionen, die Primitiven verderben die Präzisionsgeräte, und hohe Ideale, die in der unreifen, übelgesinnten Masse wie Fermente wirken, schlagen schließlich in Schändlichkeit um. Es geht um die Veredelung der Art; aber das ist ein langer und komplizierter Prozeß, der sich in zwei Stadien vollzieht: in der E u g e n i k , die einen edleren menschlichen Grundstoff liefern soll, und in der E r z i e h u n g oder dem eigentlichen Bearbeitungsprozeß. Nicht alles in den pädagogischen Arbeiten Korczaks ist in unanfechtbarer Weise zu Ende geführt. Aber alles ist tief durchdacht, in einer logischen Konzeption verbunden und auf reiche Erfahrung gegründet. Man gewinnt den Eindruck einer so konsequenten Architektonik, daß man bei allgemeiner Kenntnis seiner Prinzipien die einzelnen Elemente mit ziemlicher XXI
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Genauigkeit ableiten und ihre Tragfähigkeit, ihre Rangfolge und funktionale Bestimmung festlegen kann. Wie sehen nun diese Prinzipien aus? Was hier vor allem in die Augen fällt, ist die in gewisser Hinsicht u n e i g e n n ü t z i g e medizinische Seite seiner erzieherischen Bemühungen. Korczak kennt keine anderen Gebote als die moralische und physische Gesundheit des Kindes, die Förderung all seiner positiven und die Zügelung seiner schlechten Eigenschaften. Seine Erziehungsarbeit geschieht nicht auf Empfehlung der Kirche, des Staates oder einer Gesellschaftsklasse, und sie ge־ schieht auch nicht im eigenen Interesse, sondern zum Wohl des Kindes selbst. In dieser Hinsicht postuliert er die katego־ rische Widerlegung Platos und die all seiner Epigonen durch zweitausend Jahre hindurch, namentlich für die Pädagogik totaler Staaten. Die Kinder mit Selbsterkenntnis ausrüsten, ihre Arbeitsgewohnheiten zu festigen, ihnen Selbstbeherrschung und einträchtiges Zusammenleben beibringen, irgendein Minimum an Menschenwürdigkeit — ihren weiteren Weg werden sie schon allein finden, und sie werden allein über sich selbst entscheiden. ״Eines geben wir euch mit — die Sehnsucht nach einem besseren Leben, das es noch nicht gibt, das aber einmal kommen wird, wenn ihr ein Leben der Wahrheit und Gerechtigkeit geführt habt", pflegte er damals zu seinen Zöglingen zu sagen, wenn sie sein ״Haus des Kindes" verließen. Jahre später, schon im Vorgefühl des nahenden Unterganges, schreibt er in sein Tagebuch, er wisse nicht, was er den Kindern eigentlich zum Abschied sagen solle: Bis zum äußersten wehrt er sich dagegen, die individuelle Persönlichkeit des Kindes nach eigenen Vorstellungen zu formen und ihm die eigenen Urteile und Programme aufzuzwingen. Ich muß dabei immer an Flaubert denken, dessen literarisches Ideal eine so objektive und natürliehe Prosa war, daß es gänzlich unmöglich schien, die Existenz des Autors auch nur zu ahnen. Das zweite, ebenso wichtige Prinzip Korczaks ist der a b s o l u t e W e r t der Kindheit. Nicht im Hinblick auf die Zukunft, auf einen Nutzen für irgend jemanden oder irgend etwas, sondern als Wert an sich. Er untersucht dieses Prinzip unter verschiedenen Aspekten und argumentiert: XXII
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״Ohne eine heitere vollwertige Kindheit verkümmert das ganze spätere Leben." ״Das Kind wird nicht erst ein Mensch, es ist schon einer." ״Es ist einer der schlimmsten Fehler zu meinen, die Pädagogik sei die Wissenschaft vom Kinde und nicht vom Mensehen." Daraus folgen zwei grundlegende Erkenntnisse: zum ersten die Achtung vor dem Kindheitsalter, das den anderen Lebensaltern des Menschen gleichberechtigt sein soll (eine für damalige Zeiten verwunderliche Forderung) — also G l e i c h b e r e c h t i g u n g d e s K i n d e s , Deklaration des ״Rechtes des Kindes auf Achtung", die ernsthafte Behandlung seiner Angelegenheiten und Erlebnisse, die Souveränität seiner Eigenart und ein gerechter Anteil an der Verteilung des SozialProduktes; zum andern die s o z i o l o g i s c h e B e g r i f f s b e s t i m m u n g d e s K i n d e s als einer unterdrückten und ungerecht behandelten Gesellschaftsschicht. Bezeichnend für Korczak ist seine ausgesprochen o b j e k t i ve d i a l e k t i s c h e B e t r a c h t u n g des Kindes. Für ihn gilt nicht das Kind im allgemeinen, sondern immer nur das Kind als Individuum. Nicht das Kind, wie es sein wird, sondern wie es ist — nicht wie es sein sollte, sondern wie es sein kann. Er will das Kind in dessen unaufhörlichem Wandlungsprozeß erfassen, und er sucht dabei nach wirksamen Mitteln, auf das einzelne Kind jetzt und unter den gegenwärtigen Bedingungen einzuwirken. Korczak sucht nach einem Mittelweg zwischen Zwang und Willkür, nach einem W e g d e r V e r e i n b a r u n g , d e r V e r s t ä n d i g u n g , wie es Maryna Falska in ihrem Berieht über die pädagogischen Prinzipien des Waisenhauses ״Nasz Dom" (Unser Haus) formuliert: ״An die Stelle des Zwanges ist die freiwillige und bewußte Anpassung des Individuums an die Formen des Gemeinschaftslebens gesetzt worden. Es gab nicht viele Worte, keine Moralpredigten: Aufbau und Atmosphäre des Internats sollten so beschaffen sein, daß die Kinder sich wohlfühlten, daß ihnen selbst daran gelegen war, sich nach allen ihren Kräften zu bemühen, um sich zu beherrschen und zu überwinden, sich zu fügen und sich an die Ansprüche und Bedürfnisse der Umwelt anzupassen." XXIII
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Dieses erzieherische Grundprinzip verwirklichte Korczak in den zwanzig Jahren seiner Tätigkeit in zwei Warschauer An־ stal ten, im ״Dom Sierot" (Waisenhaus), einem Internat für jüdische Kinder, und im ״Nasz Dom" (Unser Haus), einem Haus für polnische Kinder. Die Erzieherteams beider Häuser, die von ihm geleitet wurden, standen in sehr engem gegensei־ tigern Arbeitskontakt. Auch die Kinder beider Anstalten lebten in Freundschaft miteinander; manchmal kam eine Gruppe von Zöglingen für längere Zeit in das ״Dom Sierot" und umge־ kehrt. Das eine wie das andere Haus war in gleicher Weise organisiert, und beide hatten dasselbe erzieherische Klima und dieselben pädagogischen Methoden, die zu der Konzeption einer organisierten Kindergemeinschaft gehören. Diese Konzeption war im Grundsatz nicht neu, denn sie wurde auf unterschiedliche Weise und in verschiedenen Län־ dem zu der Zeit praktiziert und diskutiert, als Korczak sein System schuf. Es waren Zeiten einer pädagogischen Gärung und Krise, als immer neue Richtungen entstanden, die mit Donnerstimme dazu aufforderten, mit der alten Routine zu brechen. In der Pädagogik ging es heiß her, und immer deut־ licher war der Ruf nach der Selbstverwaltungsmethode zu vernehmen. Es war bereits nach der Zeit der ״Kleinen Republi־ ken", die nach dem Wesen von Homer Lane und William R. George in England und in den Vereinigten Staaten bestanden. Wickersdorf und Odenwald-Schule, ״die freien Schulgemein־ den" in Deutschland, existierten schon, auch die ״Ecole des Roches Demolins" in Frankreich, und auch die Sommerkolo־ nien, die Šackij auf den Prinzipien der Jugendselbstverwaltung in der Nähe von Moskau unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg leitete. Allen diesen pädagogischen Experimenten ist das Bestreben gemeinsam, ein Höchstmaß an Initiative, Selbständigkeit und einträchtigem Zusammenleben der Zöglinge in ihrer organisierten jungen Gemeinschaft zu erreichen, wie das seinerzeit Adolphe Ferrière begründet hat: ״Das Selbstverwaltungssystem ist eine Erziehungsmethode, und erziehen heißt, aus mangelndem Sachverstand zu Sachkundigkeit, aus Unbeholfenheit zu Geschicklichkeit, aus der XXIV
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Sphäre des Unbewußten zum Wissen, aus mangelnder Voraussicht zur Umsicht zu führen." Über dieses gemeinsame Prinzip hinaus nahm das Expertmentieren mit der Selbstverwaltungsmethode verschiedene Formen an, entsprechend den pädagogischen Traditionen in den einzelnen Ländern, ihrer Geschichte, ihrer Kultur und der Persönlichkeit derer, die sie schufen. Korczak knüpft in seinem System in einem gewissen Maße an vergessene, aber schöne Traditionen aus der Zeit der polnischen Aufklärung im 18. Jahrhundert an. Die Notwendigkeit einer inneren Erneuerung des Staates, der von der Eroberungssucht dreier mächtiger Nachbarn bedroht war, nötigte damals dazu, die Nation in einem patriotischen und staatsbürgerlichen Geiste zu erziehen, und so stieg die Pädagogik in Polen zur Staatsraison allerhöchsten Ranges auf. Das erste Kultusministerium der Welt entstand in Polen 1773 in Gestalt der ״Kommission für Nationale Erziehung"; man reformierte damals das mittelalterliche Programm und die Unterrichtsmethoden im Geiste der fortschrittlichsten Prinzipien der Epoche, zum ersten Mal führte man weltliche Ethik in den Schulen ein, die sogenannte ״Moral-Lehre", man legte besonderen Nachdruck auf die staatsbürgerliche Erziehung, und man begann unter anderem, die Selbstverwaltungsmethode einzuführen, indem man empfahl, Schüler-Kollegialgerichte zu bilden. Nun waren in Korczaks Anstalten alle, Zöglinge wie Erzieher, Bürger ihrer kleinen Republik, in der es öffentlich bekannte, genau umrissene Rechte und Pflichten für alle gab. Von den Prinzipien dieses weit verzweigten Systems lassen sich hier in Kürze nur die wichtigsten Elemente erwähnen. Vor allem geht es um die E i n w i r k u n g a u f d a s Ki nd d u r c h die M e i n u n g s e i n e r Umwel t . Alle Taten eines Kindes wurden mit den Kategorien der Anerkennung oder der Verurteilung durch seine Altersgenossen deutlich gemacht. Der Druck der öffentlichen Meinung der Kindergemeinschaft war um so stärker, als er auf unbestreitbare und eindeutige Art zum Ausdruck kam und durch ein Dokument, wie es eine Abstimmung darstellt, einsichtig gemacht wurde. XXV
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Diese Abstimmungen über den neueintretenden Zögling fanden nach einem Monat oder nach einem Jahr seines Auf enthaltes in der Anstalt statt, das heißt also vor der Zuerkennung des Ranges eines vollberechtigten ״Staatsbürgers"; ferner gab es sie in der Zeit der sogenannten Rehabilitierung, wenn einer der Zöglinge sich in seinem Verhalten gegenüber seinen Karneraden im Schulunterricht und in der Arbeit für sein Unterkunftshaus bessern wollte oder wenn er einen höheren staatsbürgerlichen Rang erlangen wollte. Die Abstimmung fand in solchen Fällen auf die Weise statt, daß jedes Kind drei Kartchen erhielt: auf der ersten stand ein Pluszeichen, das bedeutete ״ja, ich mag und schätze ihn"; auf der zweiten ein MinusZeichen oder ״nein, ich kann ihn nicht leiden, ich traue ihm nicht", und auf der dritten Karte stand eine Null, also ״ich weiß nicht, er ist mir gleichgültig". Eins von diesen Kärtchen wurde in eine Büchse geworfen, mit der der Erzieher an den Tischen entlang ging; denn gewöhnlich fand eine Abstimmung im Speiseraum während einer Mahlzeit statt. Ziemlich eindeutig und frappierend war die Aussage der Zahlen, wenn an der Tafel 80 Minuszeichen, 11 Nullen und nur 9 Plusvermerke erschienen. Oder umgekehrt. Das Verhältnis von Wohlwollen, Abneigung und Gleichgültigkeit der Gruppe stand weiß auf schwarz vor den Augen der Kinder und der Erzieher. Und darum ging es ja. Bloße Annahmen, Verdachtsmomente und Gutdünken sollte durch eine offenkundige Tatsache ersetzt werden. Es galt, die aktuelle Beurteilung der Umwelt ebenso wie die Körpertemperatur zu messen und anzugeben. Hervorgehoben zu werden verdient es, daß auch die neu hinzugekommenen Erzieher nach einer gewissen Probezeit sich einer Abstimmung unterziehen mußten. Die zweite sehr wesentliche und charakteristische Selbstverwaltungsinstitution in Korczaks Kinderhäusern war das K a m e r a d s c h a f t s g e r i c h t , das übrigens wie in jeder anderen Gemeinschaft ein wesentliches Kriterium für die Ausbildung der Bürgerrechte und den Grad der Demokratisierung ist. Korczak ging es jedoch dabei nicht um die Rechtspflege, sondern um die Bildung einer Erziehungsinstitution par excellence, welche die Kinder zum Nachdenken nötigte. Wenn sie sich kritisch selbst überprüften, dann sahen und verstanden XXVI
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sie auch sich selbst und ihre Altersgenossen besser, und sie beachteten die Regeln eines einträchtigen Zusammenlebens. Gleichzeitig ging es Korczak auch darum, dem Erzieher, der zugleich Sekretär dieses Gerichts war, noch ein Feld der engen Zusammenarbeit mit den Kindern und der Beobachtung zu eröffnen, damit er zum Sachkenner für kindliche Probleme werden sollte. Die A r b e i t für das Kinderhaus, für die Gemeinschaft, wurde als wichtiger Erziehungsfaktor betrachtet, und man bemühte sich darum, die Arbeit schließlich zu einer inneren Selbstverständlichkeit und zum Maßstab des eigenen Wertes zu machen. Diese Arbeit wurde in ein S y s t e m v o n e i n z e l n e n D i e n s t e n aufgegliedert. Die Kinder sorgten für Sauberkeit und Ordnung im Haus, halfen in der Küche, im Eßraum und in der Bibliothek, betreu־ ten die im Unterricht Schwächeren und die Kranken, und sie arbeiteten für den Bedarf der Anstalt in der Wäscherei, der Buchbinderei und in der Tischlerwerkstatt. Diese Dienstleistungen suchten sich die Kinder selbst aus. Die Meldungen der einzelnen wurden bei einer allgemeinen Versammlung unter dem Gesichtspunkt geprüft, ob dieser oder jene die vorgesehenen Arbeiten auch bewältigen könnten, und erst nach Abstimmung und Vereinbarung wurde schließlich die Liste der einzelnen Dienstleistungen und der Diensthabenden für den kommenden Monat aufgestellt. Und da es schwierige und leichtere Arbeit 1 gab, mehr oder weniger verantwortungsvolle, ergaben sich dabei für die Kinder deutlich erkenn־ bare Degradierungen oder auch Rangerhöhungen. Die Dienst־ leistungen wurden nach Arbeitseinheiten bewertet (eine halbe Stunde Arbeit für das Kinderhaus entsprach einer solchen Einheit) und von den Erziehern kontrolliert. Wenn jemand nach ein paar Monaten redlicher Arbeit 500 Arbeitseinheiten für sich verbucht hatte, erkannte ihm der Selbstverwaltungsrat eine Gedenk-Postkarte zu (bunte Reproduktionen von Blumen oder Früchten, mit einer entsprechenden Widmung auf der Rückseite, mit Korczaks Unterschrift und einem Abdruck des Ratsstempels). Korczak legte besonderes Gewicht auf solche Zeichen der Anerkennung und des Ansporns. ״Das Böse tut sich selbst XXVII
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kund", pflegte er zu sagen, ״es zwingt zur sofortigen Reaktion. Das Gute geht gewöhnlich auf leisen Sohlen, es macht kein Aufhebens, und so geht man an ihm vorüber, ohne es wahrzunehmen." Daher rührten Korczaks breit angelegte und auf verschiedene Weise vollzogene B e m ü h u n g e n , g u t e T a t e n d e n k w ü r d i g z u m a c h e n . Daher wurden Gedenk-Postkarten nicht nur für Arbeitsleistungen zuerkannt, sondern auch zur Erinnerung an eine Besserung, an ein besonders gutes Abstimmungsergebnis oder an gute Betreuung jüngerer und schwieriger Kinder. Diesem Zweck, gute Taten festzuhalten, dienten auch besondere Gedenktage, die in der Anstalt zur Erinnerung an ein erfreuliches Ereignis oder als Anerkennungszeichen für die Arbeit eines Teams bestimmt wurden (Tag der Küche, Tag der Wäscherei usw.), und schließlieh auch eine Liste der Danksagungen. Ein anderes Gebiet für derartige erzieherische Bemühungen, den Wunsch nach Selbsterziehung zu wecken und zu festigen, stellte die T e c h n i k d e r W i l l e n s b i l d u n g dar. Hier waren die für die Kinder attraktiven Einfälle Korczaks schier unerschöpflich. Manchmal nahm dieses Willenstraining die Form eines Wettkampfes an; wie beispielsweise mit der Liste der Frühaufsteher (Wer springt drei Monate lang beim ersten Gongschlag aus dem Bett?). Ein andermal wieder gab es ein Mittelding zwischen Spiel und Beichte: die Kinder bekannten Korczak ihre Fehler, die sie gern loswerden wollten, und wetteten mit ihm um zwei Bonbons, daß sie während einer oder zweier Wochen sich nur noch soundsovielmal und nicht öfter schlagen, zanken oder ausschimpfen würden; diese Wette wurde in ein besonderes Buch eingetragen. Leidenschaftlieh, verzweifelt und hoffnungsvoll gewannen oder verspielten die Kinder jene beiden billigen symbolischen Bonbons, und so verringerten sich dabei die Schwächeanfälle ihrer Natur bis auf ein Minimum. Indem dieses ganze System die Folgen und Konsequenzen jeder Tat auf zeigte, aber auch die Wandelbarkeit von Fehlern und Vorzügen, und endlich die Hilfen für die Selbstbeherrschung, sprach es zu dem Kind unaufhörlich im Geiste jener Mahnung Shakespeares: ״Einmal nur beherrsche dich! Das gibt dir Kraft für einen nächsten Sieg!" XXVIII
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So würde ich die Grundzüge von Korczaks Pädagogik, seinen Methoden und seinem System umreißen. Aber selbst wenn er in seinen Kinderhäusern keine Methode, kein System hinterlassen hätte, so würde er trotzdem heute im Kreis unserer Interessen und Taten weiterwirken. Denn er hat als Schriftsteiler unvergängliche Werte hinterlassen: er erzieht Erzieher und Eltern, er begründet eine in ihrer Innerlichkeit unvergleichliche Schule der Kinderpsychologie, er ergreift uns durch seine Humanität, und er festigt uns durch seine verantwortliehe, tätige Haltung dem Leben gegenüber. Korczaks Schriften richten sich an eine empfängliche, nachdenkliche Leserschaft. Das ist gerade heute nicht ohne Bedeutung, da wir mit einer Mischung von Angst und gewisser Hoffnung das Phänomen einer Massenkultur betrachten, einer Kultur, die weitgehend aus zweiter und dritter Hand übernommen wird, die in Auszügen, Zusammenfassungen oder anderen Trockendestillaten aus der Zentrifuge unserer Gegenwart und in einem schwindelerregendem Tempo unerprobte Gedanken, undurchdachte Erfahrungen, ungeordnete Kenntnisse von sich gibt, einen attraktiven und allen zugänglichen Brei, der wie jeder Ersatz Nährwerte vortäuscht. Eine Massenkultur gibt es heute auf der ganzen Welt; sie zeigt sich in der eigentümlichen Mentalität und im Typ des Menschen, in seiner Lebensweise, in seinen Geschmacksrichtungen, Gewöhn־ heiten und kollektiven Psychosen, am stärksten in Amerika, etwas schwächer noch bei uns ־־־־aber sie ist da und wird sich, ob wir nun wollen oder nicht, weiter entwickeln. Das ist keineswegs so schädlich wie manche glauben, wenn die Zahl derer, die sich authentische Kulturgüter leisten können, groß genug ist und sie sich beim Genuß von Kulturmargarine über deren Qualität klar sind. Pädagogik und Literatur sondern bei der Ordnung von Korczaks Nachlaß sein Erbe in veraltete, in aktuell bedeutsame und in noch nicht zeitentsprechende Werke. Die Kultur adoptiert den gesamten Korczak. Für sie ist er mit seinem gesamten Schaffen, mit seinem Leben und Sterben wertvoll und gegenwartsnah. Die Beweise von Ehrerbietung und Anerkennung, die Korezak heute in verschiedenen Ländern über trennende Grenzen, XXIX
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über die Unterschiede des nationalen Klimas und über politische Systeme hinweg erwiesen werden, zeugen davon, daß er heute besser bekannt ist und mehr benötigt wird als zu seinen Lebzeiten. In dem Landschaftsbild seiner Zeit zeichnet sich seine Silhouette als die eines sehr einsamen Wanderers ab. Er war allen fremd, wenn er auch überall als ein achtbarer Ausländer respektiert wurde. Die Polen aus dem nationalen und klerikalen Lager konnten ihm seine jüdische Herkunft nicht verzeihen. Die nicht assimilierten Juden sahen in ihm den polnischen Schriftsteller, den Repräsentanten der polnischen Kultur. Die soziale Linke, insbesondere die aktive revolutionäre Jugend, stieß er durch seinen Skeptizismus ab, aber auch dadurch, daß er die Kinderfrage nicht mit dem Kampf um die Änderung des Gesellschaftsaufbaus verband. Für die Konservativen war er ein Linker, fast schon ein Bolschewik. In der literarischen Welt stand er abseits von Riehtungen und Gruppen, wurde mit einem gewissen Bedauern bewundert: ein beachtliches Talent, aber illegitimer Herkunft, nämlich ״von dieser Pädagogik da" gezeugt. Die Pädagogen verwirrte er mit dem Temperament des Volkstribunen, indem er ihnen die Maske vom Gesicht riß und sie dem Zweifei aussetzte, ob ״denn dieser ganze Korczak vielleicht nicht doch nur Literatur sei?". In meiner Studentenzeit war ich sein Sekretär, und zwei Jahre hindurch Erzieher in seinen Kinderhäusern, in jeder Anstalt ein Jahr; dann übernahm ich die Redaktion der von ihm gegründeten Zeitschrift für Kinder und Jugendliche, und ich blieb bis zum Ende mit ihm in Verbindung. Ich kann also am Ende dieser Darlegungen Zeugnis ablegen von dem besten Menschen, den im Leben kennenzulemen mir vergönnt war. Er war ein Mensch von ungewöhnlicher Heiterkeit des Geistes und von großem Humor. Gewiß mußte ein Mensch von solcher Gewissenhaftigkeit, ein Künstler von so absorptiver, beinahe kindlicher Empfindsamkeit starke psychische Temperaturstöße und Momente schrecklicher Leiden und Erregungen durchmachen. Welche Zweifel ihn auch immer befielen — den Extrakt seiner Probleme und ihren emotionalen XXX
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Gehalt gab er in seinen Schriften und in den Briefen an seine Freunde wieder. Für seine Umgebung war er eine Verkörperung der Selbstdisziplin und der Ausgeglichenheit. In den sechzehn Jahren meiner Beziehungen und Beobachtungen gibt es nur wenige Augenblicke, in denen Korczak in Zorn aus־ brach, weil er sich in einem gereizten oder depressiven Zustand befand. Zerstreutheit, Mangel an visuellem Gedächtnis und ein Übermaß vielfältiger, manchmal miteinander kollidierender Beschäftigungen zwangen ihn dazu, eine Technik der Selbstkontrolle und einen Tagesplan auszuarbeiten, der von den frühen Morgenstunden an auch die geringfügigsten Tätigkeiten festlegte, bis zu seinen Telefongesprächen hin; diesen Tagesplan trug er in sein Notizbuch ein. Seine angeborene Gewissenhaftigkeit hieß ihn, jede Arbeit zunächst einmal selbst auszuprobieren und sie erst dann jemand anderem anzuvertrauen. Daher kamen seine scheinbar so sonderbaren und nichtigen Tätigkeiten, wie beispielsweise das Schuheputzen gemeinsam mit den Kindern, die Sauberkeitskontrolle in den Klosetts, das Einsammeln des Geschirrs im Speiseraum nach den Mahlzeiten oder auch die eigenhändige Niederschrift von Korrespondentenberichten für Kinder- und JugendzeitSchriften. Nach jeder derart einfachen Arbeit drängten sich ihm weitere Überlegungen auf, und er empfand die Notwendigkeit, sich in der Internatszeitung oder bei einer MitarbeiterverSammlung auszusprechen. Im Blick auf die Welt und die Menschen hatte er etwas von der barmherzigen Skepsis des Anatol France an sich, etwas aus jenen ״Ansichten des Pfarrers Hieronime Coignard": ״Wenn wir über diese unseren törichten Unternehmungen lachten, die uns so erhaben erschienen und doch oft blutig waren, wenn wir zu der Überzeugung gelangten, daß unsere heutigen Vorurteile ebenso lächerliche oder abscheuliche Folgen haben wie unsere früheren, wenn wir das eine wie das andere mit derselben barmherzigen Skepsis betrachteten wie er, es käme weniger oft zu Streitereien auf dieser schönsten aller Welten . . . " Seiner Skepsis ließ er freien Lauf, sein barmherziges Wesen verbarg er, wo er nur konnte, indem er seine lyrische VeránXXXI
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lagung verschwieg, und so wirkte er manchmal rührend komisch, wenn er den alten Zyniker spielte. Und dann sein wunderbarer Sinn für Humor. Das war ein höchst origineller Humor, dem er in seiner Jugend den Ruf eines guten Feuilletonisten zu verdanken hatte, ein Humor, der seine Erzählungen mit heiterem Glanz erfüllte und in Gesprächen überraschend zum Vorschein kam, wenn er mitten in sachlichen Überlegungen seine Ansicht mit einem karikierenden Aphorismus plastisch zu machen wußte. Sein Humor und seine entwaffnende Unmittelbarbeit ließen ein Gespräch mit Korczak so erfrischend wie ein Brausebad wirken. Mit der ernsthaftesten Miene konnte er, indem er sich über seinen skeptischen Zuhörer amüsierte, eine an sich vollkommen zutreffende Behauptung ad absurdum führen. Er verstand es, Arbeit wie ein anmutiges Vergnügen erscheinen zu lassen. Er liebte es, Streiche zu vollführen, und er liebte es auch, davon zu erzählen, denn er war ein exquisiter Plauderer, ein Kenner von Anekdoten, und er schätzte Volksweisheiten gerade um ihrer kernigen Ausdrucksweise willen. Übrigens war er selbst nicht selten Gegenstand mancher Anekdote, die damals in Warschau umlief. Er tat Gutes, ohne zu überlegen, unbewußt, in einer wunderbaren Übereinstimmung mit seiner Natur. Bei meinen letzten Besuchen bei ihm im Ghetto hätte er mit mir gehen können, denn ich hatte noch einen gefälschten Passierschein bei mir. Er lehnte ab. Mehr noch, er war überrascht. Er hatte ganz einfach nicht von mir erwartet, daß ich ihm einen so nichtswürdigen Vorschlag unterbreiten werde — die Kinder angesichts des Todes im Stich zu lassen! Später erhielt ich sein Tagebuch, das ich in Band IV seiner ausgewählten Schriften veröffentlicht habe. Auf den letzten Blättern finden wir ein mit halber Stimme gesprochenes Bekenntnis : ״Ich wünsche keinem Menschen etwas Böses. Ich kann das nicht, ich weiß nicht, wie man das m acht. . . " Seine Notizen enden mit einer unvollendeten Eintragung: ״Ich gieße die Blumen, die armen Pflanzen des Waisenhauses, eines jüdischen Waisenhauses . . . Ein Posten sieht mir bei dieser Arbeit zu. Ob ihn diese meine friedliche Tätigkeit XXXII
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in früher Morgenstunde wohl reizt oder rührt? Er steht und schaut. Die Beine hat er breit gespreizt. Meine Glatze im Fenster — das wäre ein gutes Ziel. Er hat einen Karabiner bei sich. Warum steht er da und betrachtet mich friedlich? Er hat keinen Befehl. Vielleicht war er in Zivil Lehrer auf einem Dorf, vielleicht Notar, Straßenkehrer in Leipzig oder Kellner in Köln? Was würde er tun, wenn ich ihm zunickte? Ob er wohl freundlich winken würde? Vielleicht weiß er gar nicht, daß er ist, wie er ist? Vielleicht ist er erst gestern von weither hier angekommen . . .״ In Majdanek und Auschwitz, in Oranienburg und BergenBelsen habe ich später manchmal mit diesem guten Schatten meiner Jugend in Gedanken diskutiert. Um nicht zu zerbrechen, um nicht wahnsinnig zu werden, floh ich, wo ich nur konnte, in die Welt des Geistes und der Phantasie, und oft war ich bei den Lagerappellen geistesabwesend, irgendwo weit fort in den Gefilden der Geschichte oder inmitten von abstrakten Überlegungen. Ja, ich hatte über mancherlei nachzudenken, und mein Horizont war weit gespannt. In Auschwitz verlor ich meinen Haß gegen das deutsche Volk; denn ich sah dort gute Menschen deutscher Nationalität, die sich lange vor mir in Lagern befanden. Ich vermochte also die Situation, in der ich mich befand, unter menschlichen Aspekten zu deuten, eine Situation, zu der Jahrhunderte eines langdauernden und allgemeinen Prozesses beigetragen hatten: dem der Aufspaltung des Menschengeschlechtes in zwei verschiedene Gattungen — in den ״homo sapiens" und in den ״homo rapax", wie Korczak es bezeichnete. Nicht in allen Dingen war ich mit meinem Meister einig gewesen; nun aber lauschte ich seiner Stimme in diesem Dialog. Ich erblickte ihn unter den Gestalten, die mit ihrem Pathos und ihrer Wärme die Geschichte der Menschheit erhellen. Einander unähnlich, aus verschiedenen Jahrhunderten, Nationen und sozialen Schichten stammend, wecken sie doch die gleichen Empfindungen. Warum wohl? Worin sind solche Menschen einander nahe, was verbindet sie? Doch wohl die Verwandtschaft ihrer sentimental-ethischen Konstitution (nicht die ihrer psyduschen, denn die ist ganz anderer Art). Aus der Identität des XXXIII
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Guten und des Schönen in ihnen selbst, aus ihrer subtilen poetischen Sentimentalität kommt ihre Empfindlichkeit gegen das Abscheuliche. Jede Verunstaltung, jedes Unrecht, jeder Betrug tut ihnen weh. Ihr Leiden setzt sich um in höchste ethische Forderungen, die sie an sich selbst und nur an sich selbst stellen. Dieses höchste Ethos heißt sie die Wahrheit bekennen, die bei jeder dieser Gestalten eine andere ist, und es heißt sie diese Wahrheit ohne Vorbehalte durch ihre ganze Existenz bestätigen und mit dem Tod besiegeln. Manchmal erscheinen sie uns in der Gestalt von Heiligen oder Revolutionären, die aus freiem Willen lange vor ihrer Exekution sterben; oft finden sie sich im Schaffen eines Kirnstlers, eines Philosophen, eines Entdeckers w ieder. . . Das ist nicht entscheidend. Wichtig allein ist, daß es in der Geschichte der Menschheit ohne ihr Dasein und Wirken nicht viel MenschIiches gäbe.
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DAS K IN D IN DER F A M IL IE Geboren werden ist nicht Auferstehen; das Grab gibt uns wieder, aber es blickt uns nicht an wie die Mutter. Anhelli1
1. Wie, wann, wieviel — warum? Ich ahne viele Fragen, die auf eine Antwort warten, Zweifel, die eine Erklärung suchen. Und ich antworte : Ich weiß nicht. Jedesmal, wenn du ein Buch fortgelegt hast und beginnst, den Faden eigener Gedanken zu spinnen, hat das Buch seinen beabsichtigten Zweck erreicht. Wenn du beim schnellen Blättern nach Vorschriften und Rezepten suchen solltest, wenn du unwillig darüber bist, daß es nur wenige sind - so wisse, wenn du Ratschläge und Hinweise findest: dies ist nicht mit dem Willen des Autors geschehen, sondern gegen diesen. Ich weiß nicht und kann nicht wissen, wie mir unbekannte Eltern unter unbekannten Bedingungen ein mir unbekanntes Kind erziehen können. Ich sage ausdrücklich nicht ״erziehen wollen" und nicht ״erziehen sollten". Dies ״Ich-weiß-Nicht" ist in der Wissenschaft der Ur־Nebel, aus dem neue Gedanken auftauchen. Für einen Verstand, der nicht an wissenschaftliches Denken gewöhnt ist, bedeutet ein ״Ich-weiß-Nicht" eine quälende Leere. Ich will lehren, das wunderbare, von Leben und faszinierenden Überraschungen erfüllte schöpferische ״Ich-weiß-Nicht" der modernen Wissenschaft in bezug auf das Kind zu verstehen und zu lieben. 1 Dichtung in rhythmisierter Prosa des polnischen Romantikers Juliusz Słowacki. Der Titelheld Anhelli durchwandert, in einer Anspielung an Dantes ״Göttliche Komödie", die sibirische Hölle.
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Es geht mir darum, daß man begreift: kein Buch und kein Arzt können das eigene wache Denken, die eigene sorgfältige Betrachtung ersetzen. Oft begegnet man der Meinung, daß die Mutterschaft eine Frau adelt, daß sie erst als Mutter geistig reift. Ja, die MutterSchaft läßt mit flammenden Buchstaben Fragen erscheinen, die alle Bereiche des äußeren und des geistigen Lebens umfassen; indessen kann man diese auch unbeachtet lassen, ihre Beantwortung feige in eine ferne Zukunft verschieben oder sich darüber entrüsten, daß man ihre Lösung nicht käuflich erwerben kann. Einem Menschen befehlen, er solle diese Gedanken zu Ende denken und eine fertige Lösung geben—das hieße, von einer fremden Frau zu verlangen, sie soll dein eigenes Kind zur Welt bringen. Es gibt Gedanken, die man selbst unter Schmerzen gebären muß, und sie gerade sind die kostbarsten. Sie entscheiden darüber, ob du, Mutter, deinem Kinde die Brust gibst oder das Euter, ob du es als Mensch oder als Weibchen erziehst, ob du es leiten oder am Halfter des Zwanges hinter dir herschleppen wirst, ob du mit ihm nur solange spielen wirst, wie es klein ist, und dabei im Austauschen von Zärtlichkeiten einen Ersatz findest für die spärlichen oder unwillkommenen Liebkosungen deines Ehegatten; später aber, wenn es herangewachsen ist, überläßt du es sich selbst oder stellst dich ihm feindlich gegenüber. 2. Du sagst: ״Mein Kind". Wann hast du das größte Recht darauf, wenn nicht in der Zeit der Schwangerschaft? Der Schlag des wie ein Pfirsichkem so kleinen Herzens ist das Echo deines Pulsschlages. Dein Atem läßt auch ihm den Sauerstoff der Luft zukommen. Ein Blutstrom kreist in ihm und in dir, und kein roter Blutstropfen weiß es jetzt schon, ob er bei dir bleibt oder bei ihm oder ob er vergossen wird und stirbt als Tribut, den das Geheimnis der Empfängnis und der Geburt fordert. Der Bissen Brot, den du kaust, ist für dein Kind Stoff zum Aufbau seiner Beine, mit denen es laufen, der Haut, die es kleiden, der Augen, mit denen es sehen, des Gehirns, in dem das Denken aufflackert,
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der Hände, die es nadi dir ausstrecken, des Lächelns, mit dem es ״Mutter" rufen wird. Miteinander sollt ihr den entscheidenden Augenblick erleben: Ihr werdet einen gemeinsamen Schmerz erleiden. Die Glocke schlägt, — die Losung heißt: — Seid bereit. Und zugleich wird es sagen: ״Ich will mein eigenes Leben leben", und du sagst: ״Lebe nun dein eigenes Leben." Unter krampfartigen Zuckungen deines Inneren wirst du es von dir geben, ohne dich um seinen Schmerz zu kümmern, kräftig und entschieden wird es sich hinausdrängen, ohne deiner Schmerzen zu achten. Ein brutaler Akt. Nein — sowohl du als auch dein Kind, ihr zittert Tausende von Malen auf nicht wahrnehmbare, subtile, wunderbar gewandte Weise, um euren Anteil am Leben zu beanspruchen und dabei nicht mehr zu nehmen, als euch von Rechts wegen gehört, nach allgemeinen, seit Urzeiten gültigen Gesetzen. ״Mein Kind". Nein, nicht einmal in den Monaten der Schwangerschaft und in den Stunden der Geburt gehört das Kind dir. 3. Das Kind, das du geboren hast, wiegt zehn Pfund. Davon sind acht Pfund Wasser und je eine Handvoll Kohlenstoff, Kalk, Stickstoff, Schwefel, Phosphor, Kalium und Eisen. Du hast adit Pfund Wasser und zwei Pfund Asche zur Welt gebracht. Und jeder Tropfen dieses d e in e s Kindes war einmal Dunst einer Wolke, ein Schneekristall, Nebel, Tau, ein Bach und das Abwasser eines städtischen Kanals. Jedes Atom Kohlenstoff oder Stickstoff war einmal Bestandteil von Millionen verschiedener Verbindungen. Du hast nur das alles zusammengefügt, was schon vorhanden war. Die Erde, schwebend im unendlichen Raum. Ihr naher Gefährte, die Sonne, fünfzig Millionen Meilen entfernt. Der Durchmesser unserer kleinen Erde, das sind nur dreitausend Meilen feurigglühender Masse mit einer dünnen, in einer Mächtigkeit von zehn Meilen erstarrten Schale. Auf 3
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dieser dünnen, mit Feuer erfüllten Schale, inmitten von Ozeanen, eine Handvoll festes Land. Auf dem Land, zwischen Bäumen und Sträuchern, Insekten, Vögeln, Tieren wimmelt es von Menschen. Und unter den Millionen von Menschen hast du noch ein — ja was denn? — Hähnchen, ein Stäubchen zur Welt gebracht, ein Nichts. Es ist so hinfällig, daß eine Bakterie, die erst in tausendfâcher Vergrößerung einen Punkt im Blickfeld darstellt, es töten kann .. . Aber dieses ״Nichts" ist ein leibhaftiger Bruder der Woge im Meer, des Sturmwindes, des Blitzes, der Sonne und der Milchstraße. Dieses Stäubchen ist ein Bruder der Getreideähre, des Grases, der Eiche, der Palme — des Gelbschnabels im Vogelnest, des Löwenjungen, des Füllen und des kleinen Hundes. In ihm ist etwas, das empfindet, untersucht — duldet, begehrt, sich freut, liebt, vertraut, haßt — glaubt, zweifelt, an sich zieht und abstößt. Dieses Stäubchen umfaßt mit seinen Gedanken alles: Sterne und Ozeane, Berge und Abgründe. Und was ist der Inhalt der Seele anders als das All, nur ohne Dimensionen. Das ist nun der Widerspruch im menschlichen, aus vergänglichem Staub entstandenen Wesen, in dem Gott Wohnung genommen hat. 4. Du sagst: ״Mein Kind." Nein, es ist ein gemeinsames Kind, ein Kind von Vater und Mutter, von Ahnen und Urahnen. Irgendein fernes ״Ich", das in einer Reihe von Vorfahren schlief, die Stimme aus einem morschen, längst vergessenen Sarge, spricht plötzlich aus deinem Kinde. Vor dreihundert Jahren, im Krieg oder im Frieden, hat irgendein Mensch Gewalt gewonnen über einen anderen, im Kaleidoskop sich kreuzender Rassen, Nationen, Klassen — im Einverständnis oder mit Gewalt, im Augenblick des Entsetzens oder der Liebestrunkenheit — hat er betrogen oder verführt, niemand weiß, wer und wann, aber Gott hat es im Buche der 4
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Vorherbestimmung verzeichnet, und die Anthropologen möchten es enträtseln aus Schädelform und Farbe der Haare. Manchmal phantasiert ein sensibles Kind, es sei ein Findelkind im Hause seiner Eltern. Das trifft zu: sein Erzeuger ist vor langen Zeiten schon gestorben. Ein Kind ist wie ein Pergament, dicht beschrieben mit winzigen Hieroglyphen, die du nur zum Teil zu entziffern vermagst; manche aber kannst du auslöschen oder nur durchstreichen und mit eigenem Inhalt erfüllen. Ein grausames Gesetz? Nein, eine gute Erkenntnis. Sie stellt in jedem Kind das erste Glied in der unendlichen Kette der Generationen her. Suche nach dem in deinem dir fremden Kinde schlummernden Teilchen von dir selbst. Vielleicht entdeckst du es, vielleicht kannst du es sogar zur Entfaltung bringen. Das Kind und die Unermeßlichkeit. Das Kind und die Ewigkeit. Das Kind — ein Stäubchen im unendlichen Raum. Das Kind — ein Moment in der Zeit. 5. Du sagst: ״Es so ll. . . Ich will, daß es . . ." Und du suchst nach einem Vorbild, dem es gleichen soll, nach einer Lebensform, die du für dein Kind begehrst. Es hat nichts zu bedeuten, daß ringsherum graue Mittelmäßigkeit herrscht. Die Menschen machen sich zu schaffen, wollen dies und das erreichen — kleinliche Sorgen, nichtiges Trachten, banale Ziele . . . Unerfüllte Hoffnungen, beißender Groll, ewige Sehnsucht. . . Das Unrecht herrscht. Frostige Gleichgültigkeit läßt zu Eis erstarren, Heuchelei erstickt den Atem. Was Klauen und Zähne hat, greift an, was von stiller Gemütsart ist, zieht sich in sich selbst zurück. Und sie leiden nicht nur, sondern sie nehmen auch Schaden. Was soll aus dem Kinde werden? Ein Krieger oder nur ein Arbeiter, ein Feldherr oder ein gemeiner Soldat? Oder soll es nur glücklich werden? 5
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Wo ist das Glück und was ist es? Kennst du den Weg? Gibt es überhaupt jemanden, der ihn kennt? Wirst du damit fertig werden? Wie kann man in die Zukunft schauen und wie es beschützen? Ein Schmetterling über dem schäumenden Wildbach des Lebens. Wie soll man ihm Beständigkeit verleihen, ohne seinen Flug zu beschweren, wie ihn abhärten und doch seine Flügel nicht ermüden? Durch das eigene Beispiel also, durch Hilfestellung, Ratschlage und gute Worte? Und wenn es sie verwirft? In fünfzehn Jahren wird es den Blick fest in die Zukunft richten, und du in die Vergangenheit. In dir Erinnerungen und Gewohnheiten — in ihm Wankelmut und trotzige Hoffnung. Du bist von Zweifeln befallen, und dein Kind hegt Erwartungen und vertraut, du fürchtest dich, und dein Kind ist ohne Angst. Die Jugend, wenn sie nicht spottet, verdammt und verachtet, will immer die mit Mängeln behaftete Vergangenheit verändern. So sollte es auch sein. Und dennoch . . . Mag es suchen, wenn es nur nicht fehlgeht, mag es klettern, wenn es nur nicht stürzt, mag es roden, wenn es sich nur nicht die Hände blutig reißt, mag es seine Kräfte gebrauchen, aber vorsichtig — vorsichtig. Es sagt: ״Ich bin anderer Meinung. Genug mit der Fürsorge." Du hast also kein Vertrauen? Du brauchst mich nicht mehr? Meine Liebe ist dir lästig? Uneinsichtiges Kind, das vom Leben nichts weiß, armes Kind, undankbares Kind! 6. Undankbares: Ist denn die Erde der Sonne dankbar, daß sie scheint? Dankt der Baum dem Samen, weil er aus ihm hervorgegangen ist? Singt die Nachtigall ihrer Mutter ein Lied, weil deren Brustgefieder sie gewärmt hat? Gibst du deinem Kinde weiter, was 6
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du von deinen Eltern empfangen hast, oder borgst du es ihm nur, tun es wieder an dich zu nehmen, indem du geschäftig alles anschreibst und Zinsen berechnest?. Ist denn die Liebe ein Verdienst, für das du Bezahlung for־ derst? ״Die Krähen-Mutter flattert wie irrsinnig hin und her, setzt sich dem Buben fast auf die Schultern, beißt sich an seinem Stock fest, hängt dicht über ihm in der Luft und schlägt mit dem Kopf wie mit einem Hammer gegen den Baumstamm, hackt kleine Zweige ab und krächzt mit der heiseren, ange־ strengten, trockenen Stimme der Verzweiflung. Als der Bengel eins von ihren Jungen aus dem Nest wirft, läßt sie sich zur Erde fallen mit schleppenden Flügeln, öffnet den Schnabel, will krädizen, hat aber keine Stimme mehr, schlägt also mit den Flügeln und hüpft wie toll, lächerlich anzusehen, zu den Füßen des Jungen hin. (. . .) Als man alle ihre Kinder getötet hat, fliegt sie auf den Baum zurück, betrachtet das leere Nest, und während sie über ihm kreist, denkt sie über etwas nach." (Żeromski*) Die Mutterliebe ist elementar. Die Menschen haben sie nach ihrer Art verändert. Die ganze zivilisierte Welt — mit Ausnähme der von der Kultur unberührten Massen ־־־praktiziert den Kindermord. Ein Ehepaar, das zwei Kinder hat, wo es doch zwölf hätte haben können, ist des Totschlags schuldig an zehn Kindern, die nicht geboren wurden und unter denen das eine, gerade ״ihr Kind" hätte sein können. Unter den Ungeborenen haben sie vielleicht das wertvollste umgebracht. T ö rich te A u f g e b la s e n h e it. L an ge w o llte ich n ich t b e g r e ife n , d a ß m a n rech nen m u ß u n d b e s o r g t sein u m d ie K in d e r , d ie g e b o r e n w e r d e n . în d e r U n fr e ih e it u n te r d en T e ilu n g sm ä c h te n , als U n te r ta n , n ich t als S ta a ts b ü r g e r , h a b e ich m id i n ich t d a ru m b e k ü m m e r t u n d n ich t b ed a ch t , d a ß g le ic h ze itig auch S ch u len , W e r k s tä tte n , K r a n k e n h ä u ser u n d k u ltu re lle D a se in sb e d in g u n g e n e n tste h e n m ü sse n . Eine u n b ed a ch te V e rm e h ru n g e m p fin d e ich h e u te als U n rech t u n d leich tsin n ig en F revel. — W ir b efin d en u n s v ie lle ic h t a m 1 Ungenau wiedergegebenes Zitat des polnischen Dichters Stefan Żeromski (1864—1925).
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V o r a b e n d ein e r n eu en G e s e tz g e b u n g , d ie v o n d en G esich tsp u n k te n d er E u g en ik u n d d e r B e v ö lk e r u n g s p o litik b e s tim m t is t .
7. Ob es wohl gesund ist? Noch ist es für die Mutter verwunderlich, daß ihr Kind nicht mehr mit ihr identisch ist. Bis vor kurzem noch war in ihrem zwiefachen Leben die Sorge um das Kind ein Teil des sorgliehen Umgangs mit sich selbst. So sehr hat sie die Zeit herbeigesehnt, da alles vorüber wäre und sie diesen Augenblick hinter sich hätte. Sie hatte gemeint, dann von Sorgen und Nöten frei zu sein. Und nun? Sonderbar: früher war ihr das Kind näher, es gehörte enger zu ihr, sie war seiner Sicherheit gewisser, selbstverständlicher erschien sie ihr. Mit dem Augenblick, da fremde Hände — erfahrene, entlohnte, selbstsichere — es in Pflege genommen hatten, fühlte sie sich allein, beiseite geschoben, beunruhigt. Die Welt nimmt es bereits in Beschlag. Und in den langen Stunden einer erzwungenen Untätigkeit stellen sich manche Fragen ein: was habe ich ihm mitgegeben, habe ich es auch mit allem Notwendigen ausgestattet, wie habe ich für seine Sicherheit gesorgt? Ist es auch wirklich gesund? Warum weint es denn? Warum ist es mager, saugt schlecht, schläft nicht, schläft zuviel, warum hat es ein so großes Köpfchen, krumme Beinchen, geballte Fäustchen, warum eine so rote Haut, weiße Pustelchen auf der Nase, warum schielt es wohl, hat den Schluckauf, niest, muß würgen, ist heiser? Das muß so sein? Vielleicht sagt man ihr die Unwahrheit? Sie betrachtet das Kleine, Hilflose, gänzlich unähnlich allen ebenso Kleinen und Zahnlosen, denen sie auf der Straße und im Garten begegnet. Ob es wohl möglich ist, daß auch ihr Kind in drei oder vier Monaten . . . ? Aber vielleicht täuschen sich alle? Vielleicht nehmen sie es nicht ernst? Die Mutter lauscht mißtrauisch auf die Stimme des Arztes, verfolgt ihn mit ihren Blicken: sie möchte aus seinen Augen, seinem Achselzucken, dem Hochziehen der Augenbrauen, den 8
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Stirnfalten ablesen, ob er die Wahrheit sagt, ob er unschlüssig ist, ob er sich ausreichend konzentriert? 8. ״Ob es hübsch ist? Daran liegt mir nichts." So reden unaufrichtige Mütter, welche die Ernsthaftigkeit ihrer Ansichten über Erziehungsfragen gern unterstreichen möchten. Schön־ heit, Anmut, Statur, eine angenehm klingende Stimme, das ist ein Kapital, das du deinem Kinde mitgegeben hast; wie die Gesundheit, wie der Verstand ist es ihm eine Hilfe auf dem Lebensweg. Man sollte die Schönheit nicht überbewerten, und wenn sie nicht mit anderen Gaben verbunden ist, kann sie sogar schädlich sein. Um so notwendiger ist es, sie mit wacher Aufmerksamkeit im Blick zu behalten. Ein hübsches Kind ist anders als ein häßliches zu erziehen. Aber da es keine Erziehung ohne Teilnahme des Kindes gibt, sollte man die Fragen von Schönheit und Anmut nicht schämhaft vor dem Kinde verschweigen; denn gerade das ist ihm schädlich. Diese vorgebliche Nichtachtung der Schönheit ist ein Relikt des Mittelalters. Sollte der Mensch, der so empfänglich ist für die Schönheit einer Blume, eines Schmetterlings, eines Landschaftsbildes, sich der Schönheit des Menschen gegenüber gleichgültig verhalten? Du willst vor deinem Kinde verborgen halten, daß es hübsch ist? Wenn ihm das keiner von den vielen Menschen sagt, die es im Hause umgeben, so werden es ihm fremde Leute sagen, auf der Straße, im Laden, im Garten, überall — mit einem Ausruf, einem Lächeln, einem Blick, Erwachsene oder Gleichaltrige. Es erfährt etwas davon, wenn es die Benachteiligung der häßlichen und garstigen Kinder sieht. Es begreift, daß Wohlgestalt Vorrechte verleiht, wie es auch versteht, daß diese Hand seine Hand ist, der es sich bedienen kann. So wie ein schwächliches Kind gut gedeihen kann und ein gesundes einem Unglücksfall zum Opfer fallen, so kann ein hübsches unglücklich sein, aber ein mit dem Panzer der Häßlichkeit bewehrtes, das sich nicht hervortut und unbemerkt bleibt, glücklich dahinleben. Denn du mußt, mußt daran denken, daß das Leben jede Begünstigung, die es als wertvoll erkannt hat, abzukaufen, abzulisten oder zu entwenden begehrt. In dieser Gleichgewichtslage mit ihren Tausenden von Vibra9
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tionen kommt es zu Überraschungen, die die Erzieherin oftmais die schmerzliche Frage stellen lassen: ״Warum?" ״Mir liegt nichts an der Schönheit!" Du stehst in der Gefahr, mit einem Fehler und einer UnWahrheit zu beginnen. 9. Ist es gescheit? Wenn die Mutter zunächst nur ängstlich diese Frage stellt, bald wird sie verlangen, daß es so sei. Iß, auch wenn du satt bist, auch wenn dich der Ekel überkommt, geh schlafen, und wenn es unter Tränen geschieht und du eine Stunde lang aufs Einschlafen wirst warten müssen. Du mußt, ich will es so, damit du gesund bleibst. Spiel nicht im Sand, trag eng anliegende Höschen, zerzause dir nicht die Haare, denn ich will, daß du hübsch aussiehst. ״Es spricht noch immer nicht. . . Es ist älter als .. . und trotzdem — Es lernt schlecht. . . " Anstatt zu beobachten, um zu erkennen und zu wissen, nimmt man das erste beste Beispiel eines ״wohlgeratenen Kindes" und fordert von seinem eigenen Kind: diesem Vorbild sollst du ähnlich sein. Es darf nicht sein, daß vermögender Eltern Kind ein Handwerker wird. Es mag lieber ein unglücklicher und demoralisierter Mensch aus ihm werden. Keine Liebe zum Kind, sondem Egoismus der Eltern, nicht das Wohl des Einzelnen, sondem die Ambitionen des großen Haufens, kein Suchen nach gangbaren Wegen, sondern die Fessel der Schablone. Es gibt aktive und passive Geister, lebendige und apathische, ausdauernde und launenhaft wechselnde, nachgiebige und widerspenstige, schöpferische und auf Nachahmung bedachte, blendende und solide, sachlich bestimmte und literarisch begab te Geister; es gibt ein hervorragendes und ein mäßig durchschnittliches Gedächtnis; Esprit in der Verwendung erworbenen Wissens und redliches Bedenken, angeborenen Despotismus und Reflexion, und Kritizismus; es gibt Frühund Spätentwicklung, einseitige oder vielfältige Interessiertheit. Aber wen geht das schon etwas an? 10
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״Soll es doch wenigstens vier Klassen beenden", so spridit die elterliche Resignation. In Vorahnung einer glänzenden Renaissance physisdier Arbeit sehe ich ihre Anwärter in allen Klassen der Gesellschaft. Derweilen schlagen sich Eltern und Schule mit jeder ungewohnlichen, untypischen, schwachen oder unausgeglichenen Intelligenz herum. Es geht nicht darum, ob es gescheit, sondem vielmehr wie klug das Kind ist. Ein n a iv e r A p p e ll an d ie F a m ilie , f r e iw illig ein sc h w ere s O p fe r a u f sich z u n e h m e n . I n te llig e n z-U n te rsu c h u n g e n u n d p s y d io te c h n is d ie V ersu ch e w e r d e n e g o istisc h e A m b itio n e n w ir k s a m ein sc h rä n k e n . Eine fe rn e Z u k u n fts h o ffn u n g , w ie sich v e r s te h t.
io. Ein gutes Kind. Man sollte sich davor hüten, gut mit bequem zu verwechsein. Es weint kaum, weckt uns in der Nacht nicht auf, ist zutraulich, heiter ־־־also gutartig. Es ist bösartig — launisch, schreit ohne sichtbaren Grund, löst bei der Mutter mehr verdrießliche als liebevolle Empfindüngen aus. Unabhängig von ihrem Befinden sind Neugeborene von ihren ererbten Eigenschaften her mehr oder weniger geduldig. Hier reicht eine Einheit Schmerz aus, um zehn Einheiten Geschrei als Reaktion auszulösen, dort reagiert ein anderes auf zehn Einheiten von Unpäßlichkeiten mit einer Einheit Weinen. Das eine ist verschlafen, bewegt sich träge, saugt langsam, schreit ohne lebendige Spannung, ohne deutlich spürbaren Affekt. Das andere ist reizbar, von lebhaften Bewegungen, leichtem Schlaf, es saugt heftig und schreit, bis es bläulich anläuft. Es hat Keuchhusten, erstickt beinahe, man muß es wieder zu sich bringen, manchmal kehrt es nur mühsam zum Leben zurück. Ich weiß, das ist eine Krankheit, die man mit Lebertran, Phosphor und milchloser Diät heilen kann. Aber diese Krankheit hatte einen Säugling zu einem reifen Mann von mächtiger Willenskraft, einer elementaren Vitalität und genialen Geistes11
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gaben heranwachsen lassen. Napoleon litt im Säuglingsalter an Keuchhusten. Die ganze moderne Pädagogik trachtet danach, bequeme Kinder heranzubilden, sie strebt konsequent und Schritt für Schritt danach, alles einzuschläfern, zu unterdrücken und aus־ zumerzen, was Willen und Freiheit des Kindes ausmacht, seine Seelenstärke, die Kraft seines Verlangens und seiner Absichten. Artig, gehorsam, gut, bequem, aber ohne einen Gedanken daran, daß es innerlich unfrei und lebensuntüchtig sein wird. 11. Eine schmerzliche Überraschung für die junge Mutter ist das Schreien ihres Kindes. Sie hat gewußt, daß Kinder weinen, aber bei dem Gedanken an das eigene Kind hatte sie das nicht bedacht; sie erwartete nur sein bezauberndes Lächeln. Sie wird seine Bedürfnisse genau beachten, sie wird es vernünftig aufziehen, modern, unter Anleitung durch einen erfahrenen Arzt. Ihr Kind wird nicht weinen müssen. Aber es kommt die Nacht, da sie wie betäubt daliegt, den lebendigen Widerhall der schweren Stunden, die Ewigkeiten dauerten, noch immer verspürend. Kaum hat sie die Süße einer sorglosen Ermattung, einer Trägheit ohne inneren Vorwurf, eines Ausruhens nach getaner Arbeit, nach verzweifelter Anstrengung, der ersten in einem verzärtelten Leben, verspürt. Kaum ist sie der Täuschung erlegen, daß alles vorüber sei, weil dieses andere nun schon selbständig atmet. In sich selbst versunken, vermag sie nur der Natur geheimnisvoll flüsternde Fragen zu stellen, ohne überhaupt eine Antwort zu verlangen. Da plötzlich . .. Das despotische Schreien des Kindes, das etwas verlangt, sich über etwas beklagt, Hilfe fordert — aber sie versteht es nicht. Gib acht! ״Wo ich doch nicht kann, nicht will, nicht weiß, was ich tun soll!" Dieses erste Schreien beim Schein der Nachtlampe ist die Ankündigung eines Kampfes des nun zweigeteilten Lebens: das eine reife Leben, zum Nachgeben, zu Entsagungen, zu 12
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Opfern gezwungen, setzt sich zur Wehr; das andere, neue, junge erkämpft sich seine eigenen Rechte. Heute klagst du es nicht an; es begreift nicht, leidet. Aber auf dem Ziffernblatt steht die Stunde, da du einmal sagen wirst: ״Audi ich fühle, auch ich leide.״ 12. Es gibt Neugeborene und Kleinkinder, die wenig weinen — um so besser. Aber es gibt auch solche, denen beim Schreien die Adern auf der Stirn anschwellen; die Fontanelle tritt hervor, Gesicht und Kopf laufen dunkelrot an, die Lippen färben sich blau, die zahnlosen Kiefer beben, der Bauch bläht sich auf, die Fäustchen krampfen sich zusammen, und die Beine schlagen in der Luft herum. Plötzlich läßt die Kraft nadi, und es hört auf, sieht die Mutter mit dem Ausdruck vollkommener Ergebung ״vorwurfsvoll" an, versucht die Augen zu schließen und will schlafen, aber nach ein paar hastigen Atemstoßen kommt es wieder zu einem ähnlichen oder sogar noch stärkeren Schreianfall. Ist es wohl möglich, daß die feinen Lungen, das kleine Herz, das junge Gehirn das aushalten? Hilfe, einen Arzt ! Ewigkeiten vergehen, bis er kommt, mit nachsichtigem Lächeln ihre Befürchtungen anhört, so ein Fremder, Unzugänglicher, Berufsmäßiger, für den dieses Kind nur eines von tausend ist. Er ist gekommen, um sich gleich wieder anderen Leiden zuzuwenden, andere Klagen anzuhören, jetzt ist er gekommen, bei Tag, da alles heiterer erscheint: die Sonne am Himmel, Menschen gehen auf der Straße, er ist gekommen, als das Kind gerade schläft, gewiß erschöpft nach den schlaflosen Stunden und als kaum noch geringe Spuren der gespenstischen Nacht wahrzunehmen sind. Die Mutter hört ihm zu, manchmal etwas unaufmerksam. Ihr Traum von dem Arzt, dem Freund und Führer auf dem mühseligen Reiseweg, ist unwiederbringlich dahin. Sie händigt ihm das Honorar aus und bleibt allein zurück mit der bitteren Überzeugung, daß der Arzt ein gleichgültiger, fremder Mensch ist, der nicht begreift, worum es geht. Auch er war unsicher, auch er hat nichts Bestimmtes ausgesagt.
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13· Wenn die junge Mutter wüßte, wie entscheidend diese ersten Tage und Wochen sind, nicht so sehr für die Gesundheit des Kindes heute, als vielmehr für ihrer beider Zukunft. Und wie leicht kann man diese Zeit vertun! Anstatt sich mit dem Gedanken abzufinden, daß ihr Kind für den Arzt nur insoweit Gegenstand seines Interesses ist, als es ihm etwas einbringt oder seine Ambitionen befriedigt; daß es auch für die Welt wenig bedeutet, nur für sie selbst kostbar i s t . . . Anstatt sich mit dem modernen Stand der Wissensdiaft vertraut zu machen, die Mutmaßungen anstellt, um Erkenntnis bemüht ist, forscht und vorwärts schreitet — Wissen erwirbt, aber keine Gewißheit, Hilfe zuteil werden läßt, aber keine Garantie . . . Anstatt der Erkenntnis tapfer zu begegnen: das Aufziehen eines Kindes ist keine Spielerei, sondern eine Aufgabe, an die man die Bemühungen schlafloser Nächte, die Summe schwerer Erlebnisse und viele Gedanken wenden muß . . . Anstatt all dies im Feuer eines großen Gefühls zu einem gediegenen Bewußtsein zusammenzuschmelzen, ohne Selbsttäuschung, ohne kindisches Schmollen und selbstsüchtige Bitterkeit, ist sie in der Lage, das Kind zusammen mit seiner Pflegerin in ein abgelegenes Zimmer einzuquartieren, weil sie nicht mitansehen kann, wie das Kleine leidet, weil sie seine schmerzlichen Hilferufe nicht mehr anzuhören vermag, kann sie den einen Arzt und auch andere wiederholt herbeirufen, ohne dabei auch nur eine Erkenntnis zu gewinnen; sie wird nur gequält, betäubt und halb von Sinnen. Wie naiv ist doch die Freude einer Mutter darüber, daß sie das erste undeutliche Gerede ihres Kindes versteht, die verdrehten und verstümmelten Ausdrücke errät. Jetzt erst?. .. Nur soviel? . .. Nicht mehr? . . . Und die Sprache des Weinens und des Lachens, die Sprache der Augen und der Mundstellung, der Bewegungen und des Saugens?. . . Verzichte nicht auf diese Nächte. Sie können dir geben, was kein Buch, kein Ratschlag zu geben vermögen. Denn hier liegt der Wert nicht mehr im Wissen allein, sondern in dem tiefen seelischen Umschwung, der nicht mehr zu jenen unfruchtbaren *4 © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525315101 — ISBN E-Book: 9783647315102
Erwägungen zurückzukehren gestattet: ״Was könnte sein, was sollte sein, was wäre gut, w e n n . . .", sondern unter den gegebenen Bedingungen zu handeln lehrt. In diesen Nächten kann dem Kind ein wunderbarer, schützengelgleicher Verbündeter erstehen — die Intuition des mütterlichen Herzens, jene Hellsichtigkeit, die besteht aus dem forschenden Willen, der wachen Vernunft und einem ungetrübten Gefühl. 14. Einmal ließ midi eine Mutter rufen. ״Mein Kind ist eigentlich gesund, ihm fehlt nichts. Ich möchte nur, daß Sie es ansehen." Ich sehe es mir an, gebe ein paar Anweisungen, beantworte einige Fragen. Es ist ja gesund, lieb und fröhlich. ״Auf Wiedersehen/' Noch an demselben Abend oder am anderen Tag: ״Herr Doktor, mein Kind hat Fieber." Die Mutter hat bemerkt, was ich als Arzt bei einer oberflächlichen Untersuchung während der kurzen Visite nicht entdecken konnte. Stundenlang über das Kleine gebeugt, ohne Kenntnis von Beobachtungsmethoden, weiß sie nicht, was sie wahrgenommen hat, sich selbst mißtrauend, wagt sie es nicht, sich zu ihren eigenen subtilen Beobachtungen zu bekennen. Und sie war darauf aufmerksam geworden, daß das Kind, ohne eigentlich heiser zu sein, doch eine etwas mattere Stimme hatte. Es plapperte seltener und auch ein bißchen leiser. Einmal zuckte es im Schlaf ein wenig heftiger als sonst. Es lächelte wohl nach dem Erwachen, aber etwas schwächer. Es saugte ein bißchen langsamer, vielleicht öfter pausierend, als sei es zerstreut. Ob seinem Lachen ein schmerzlicher Zug beigemischt war oder ob es nur den Anschein hatte? Sein Lieblingsspielzeug hatte es zornig zurückgewiesen — warum wohl? Mit hundert Regungen, die ihr Auge, ihr Ohr, ihre Brustwarzeń wahrnahmen, mit hundert kleinsten Klagen sagte es: ״Ich bin indisponiert. Heute fühle ich mich nicht gut." Die Mutter glaubte nicht an das, was sie sah; denn sie hatte von keiner ähnlichen Erscheinung etwas in einem Buch gelesen. 15
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15· Eine Tagelöhnerin bringt ihren einige Wochen alten Säugling in die Ambulanz. ״Es will nicht trinken. Kaum nimmt es die Brust, dann läßt es sie auch schon wieder los. Aus dem Löffelchen trinkt es gut. Manchmal schreit es plötzlich auf, im Schlaf oder auch im Wachen." Ich untersuche den Mund, den Rachen und kann nichts feststellen. ״Bitte geben Sie ihm die Brust." Das Kind berührt nur mit den Lippen die Brustwarze, es will nicht saugen. ״Es ist so mißtrauisch geworden." Endlich nimmt es die Brust, hastig, zieht ein paarmal wie aus Verzweiflung und läßt sie mit einem Aufschrei wieder los. ״Sehen Sie doch einmal hin, es hat etwas am Gaumen." Ich untersuche noch einmal — eine Rötung, aber sonderbarerweise nur an einem Gaumen. ״Oh, hier etwas Schwarzes, ein Zähndien oder was sonst?" Ich sehe etwas Hartes, Gelbliches, oval mit einem dunklen Strich am Rand. Ich rühre daran, es bewegt sich, ich nehme es ab, darunter eine kleine rötliche Vertiefung, blutig umrandet. Schließlich halte ich dieses Etwas in der Hand: es ist eine Samenhülse. Über der Wiege des Kindes hängt ein Vogelbauer mit einem Kanarienvogel. Der Vogel hatte die Hülse beim Fressen herausgeschleudert, sie war dem Kind auf das Bäckchen gefallen und dann in den Mund gerutscht und hatte sich in den Gaumen gebohrt. Mein Gedankengang: stomatitis catarrhalis, soor, stom. aphtosa, gingivitis, angina usw. Die Mutter: es hat Schmerzen, irgend etwas im Mund ist nicht in Ordnung. Ich habe es zweimal gründlich untersucht. . . Und sie? 16. Wenn den Arzt manchmal die genaue und bis ins einzelne gehende Beobachtung in Erstaunen versetzt, so kann er andererseits mit gleicher Verwunderung feststellen, daß Mütter das einfachste Symptom oft nicht mehr verstehen, ja nicht einmal mehr wahrzunehmen vermögen. 16
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Das Kind weint seit seiner Geburt, etwas anderes kenne ich gar nicht. Immerzu weint es ! Bricht es plötzlich in Weinen aus und hat sein Schreien gleich den Höhepunkt erreicht oder geht sein schmerzliches Klagen allmählich in Schreien über? Beruhigt es sich schnell, unmittelbar nachdem es Stuhlgang gehabt oder uriniert oder gespuckt hat, oder schreit es plötzlich und gewaltsam auf, beim Baden, beim Anziehen oder wenn man es anhebt? Oder weint es ständig klagend vor sich hin, ohne plötzliche Ausbrüche? Wie bewegt es sich dabei? Reibt es sein Köpfchen am Kopfkissen oder bewegt es saugend die Lippen? Beruhigt es sich wieder, wenn man es aufnimmt, wenn man es wickelt, es auf den Bauch legt, öfter seine Lage wechselt? Schläft es nach dem Weinen tief und lange oder wacht es bei jedem Geräusch auf?Weint es mehr vor oder nach dem Trinken, öfter morgens, abends oder nachts? Beruhigt es sich beim Trinken? Für wie lange? Oder will es nicht trinken, und wie äußert sich das? Läßt es die Brust los, kaum daß es sie genommen hat, oder erst beim Trinken selbst, plötzlich, oder nach einer gewissen Zeit? Weigert es sich entschieden, oder kann man es zum Trinken überreden? Wie saugt es? Warum saugt es nicht? Wenn es Schnupfen hat, wie wird es trinken? Gierig und intensiv, weil es Hunger hat, dann wieder schnell und fladi, ungleichmäßig, mit Pausen, weil es keine Luft bekommt. Und weiter, Schluckschmerzen, was mag es wirklich sein? Nicht nur Hunger oder ״Bauchweh" bringen es zum Schreien, sondern auch wenn ihm Lippen, Gaumen, Zunge, Rachen und Nase wehtun, wenn es Finger, Ohren oder Knochen schmerzen, wenn der After durch die Klistierspritze gereizt ist, wenn es Schmerzen hat beim Urinieren, bei Übelkeit, Durst, Überhitzung, Hautjucken, das einen Monate später erst auftretenden Ausschlag ankündigt — es weint wegen eines aufgerauhten Wäschebändchens, wegen einer Windelfalte, eines Watteflöckchens wegen, das sich im Hals festgesetzt hat, und eben auch wegen einer Samenhülse aus dem Kanarienvogelbauer. Ruf den Arzt für zehn Minuten, aber beobachte es auch selbst, zwanzig Stunden lang.
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17· Das Budi mit seinen fertigen Formeln hat den Blick abgestumpft und das Denken träge gemacht. Von den Erfahrungen, Beobachtungen und Ansichten anderer lebend, ist das Vertrauen zu sich selbst so sehr verlorengegangen, daß man nicht mehr aus eigener Perspektive sehen will. Als ob das gedruckte Wort eine Offenbarung wäre und nicht das Forschungsprodukt irgendeines Menschen, nur nicht mein eigenes, erzielt irgendwo und an irgendeinem Menschen, nur nicht heute und am eigenen Kind. Und die Schule hat diese Feigheit auch noch gefördert, die Furcht, die eigene Unwissenheit offenbar werden zu lassen. Wie oft schon hat eine Mutter nicht gewagt, Fragen zu stellen, die sie sich für den Arzt notiert hatte. Und wie selten nur überreicht sie dem Arzt ihren Fragezettel, angeblich weil sie darauf nur ״dummes Zeug" notiert hat. Indem sie selbst verschweigt, daß sie unwissend ist, zwingt sie den Arzt oft dazu, seine Zweifel, seine Unschlüssigkeit zu verbergen, um eine entschiedene Diagnose stellen zu können. Wie ungern nimmt sie unbestimmte Antworten zur Kenntnis, wie wenig schätzt sie es, wenn der Arzt am Kinderbettchen laut denkt, und wie oft ist ein Arzt gezwungen, zum Scharlatan zu werden, um Prophet zu sein. Manchmal wollen die Eltern nicht wissen, was sie wissen, und nicht sehen, was sie sehen. Eine Niederkunft in einer Sphäre fanatischer Bequemlichkeit ist etwas so Einzigartiges und verdrießlich Ungewöhnliches, daß die Mutter von der Natur kategorisch reichlichen Lohn erwartet. Wenn sie schon die Entsagungen, Unannehmlichkeiten und Beschwerden der Schwangerschaft und die Schmerzen der Geburt auf sich genommen hat, dann sollte das Kind wenigstens so sein, wie sie es gern haben möchte. Noch schlimmer: daran gewöhnt, daß für Geld alles zu haben ist, will sie sich nicht damit abfinden, daß es etwas gibt, was ein armer Teufel bekommen kann, ein Großmächtiger aber nicht einmal zu erbetteln vermag. Wie oft fallen Eltern auf unnütze Mittel oder gar auf Falsifikate herein, wenn sie auf dem Markt nach einer Ware suchen, die mit dem Etikett ״Gesundheit" versehen ist. 18
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18. Für den Säugling die Mutterbrust — ohne Rücksicht darauf, ob er geboren wurde, weil Gott die Ehe gesegnet oder weil ein Mädchen seine Unschuld verloren hat; ob die Mutter flüstert: ״Mein Liebling!", oder ob sie seufzt: ״Was fang ich nur an, mein Gott", ob man einer hochgebildeten Dame mit aller Ehrerbietung gratuliert und einem Mädchen vom Dorf nachruft: ״Pfui, du Schlampe." Die Prostitution, die dem Gebrauch der Männer dient, findet ihre gesellschaftliche Vervollständigung im Ammentum, das zum Nutzen der Frauen da ist. Man sollte sich des sanktionierten schweren Verbrechens an dem armen Kind voll bewußt sein — das nicht einmal dem Reichen zum Guten anschlägt. Denn eine Amme kann zwei Kinder ernähren: das eigene und das fremde. Die Milchdrüsen geben soviel Nahrung, wie von ihnen verlangt wird. Und die Amme verliert gerade dann die Nahrung, wenn das Kind weniger trinkt, als die Brust hergibt. Die Formel: im Überfluß strömende Nahrung, ein schwäch־ liches Kind — Verlust der Nahrung. Sonderbar: in weniger wichtigen Fällen sind wir geneigt, den Rat vieler Ärzte einzuholen; bei einer so folgenschweren Frage aber, ob die Mutter nähren kann, lassen wir es bei einem manchmal sogar unaufrichtigen, von irgend jemandem eingeflüsterten Rat bewenden. Jede Mutter kann nähren, jede hat Nahrung genug; nur die Unkenntnis der Nährtechnik beraubt sie der ihr angeborenen Fähigkeit. Brustschmerzen, wundgesaugte Brustwarzen stellen ein gewisses Hindernis dar; aber hier wird der Schmerz durch das Bewußtsein verdrängt, daß die Mutter die ganze Zeit der Schwangerschaft durchgehalten hat, ohne auch nur eine dieser Lasten den Schultern einer gekauften Sklavin aufzubürden. Das Nähren ist nämlich die Fortsetzung der Schwangerschaft, ״nur hat sich das Kind von innen nach außen begeben, hat, losgelöst von seinem Nährboden, nach der Brust gelangt, trinkt nicht mehr rotes, sondern weißes Blut". Trinkt Blut? Ja, das der Mutter, denn das ist das Recht der Natur; es trinkt nicht das Blut des umgebrachten Milchbruders, was nach dem Recht der Menschen möglich wäre.
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Ein W id e r h a ll d er le b h a fte n A u s e in a n d e r s e tz u n g ü b e r d a s R ech t d es K in d e s a u f d ie M u tte r b r u s t. H e u te h a t sich d ie W o h n u n g s fr a g e in d en V o r d e r g r u n d g esch o b en . W a s w i r d es m o rg e n s e in ? S o is t d ie A n te iln a h m e d e s A u to r s v o m g e g e n w ä r tig e n A u g e n b lic k a b h ä n g ig .
19. Vielleicht würde auch ich ein ägyptisches Traumbuch der Hygiene zum Gebrauch für Mütter schreiben. ״Dreieinhalb Kilo Geburtsgewicht bedeuten Gesundheit und Wohlergehen." ״Grün-schleimiger Stuhlgang: Unruhe, unangenehme Nachrichten." Vielleicht würde auch ich ein Liebesschatzkästlein mit Ratschlagen und Hinweisen verfassen. Aber ich habe mich davon überzeugt, daß es keine Vorschrift gibt, die unkritischer Extremismus nicht ad absurdum führen würde. Das alte System: Dreißigmal in vierundzwanzig Stunden die Brust geben, abwechselnd mit Rizinus. Der Säugling wird von einem Arm zum anderen weitergereicht, wird gewiegt und geschwenkt von allen verschnupften Tanten. Er wird zum Fenster getragen, vor den Spiegel gehalten, man schnalzt, klappert, singt ihm etwas vor — ein Jahrmarkt. Das neue System: Alle drei Stunden die Brust. Wenn das Kind die Vorbereitungen zur Mahlzeit sieht, wird es unruhig, ärgerlich, es weint. Die Mutter blickt auf die Uhr: noch vier Minuten. Das Kind ist eingeschlafen, die Mutter weckt es; denn nun ist es an der Zeit, hungrig wird es von der Brust gerissen, weil die Minuten vorbei sind. Es liegt — nicht daran rühren. Nicht an ein Herum-Tragen gewöhnen! Gebadet, trockengelegt, satt — soll es schlafen. Es schläft nicht. Man muß auf den Zehen gehen, die Fenster verhängen. Ein Krankenhaussaal, ein Leichenhaus. Nein — der lebendige Gedanke arbeitet, aber die Vorschrift befiehlt. 20. Nicht ״zu welchen Zeiten soll man nähren", sondern ״wievielmal am Tage". So gestellt schränkt diese Frage die Freiheit der Mutter nicht ein: sie selbst soll die Zeiten bestimmen, so wie es für sie und das Kind am besten ist. 20
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Wievielmal sollte ein Kind in vierundzwanzig Stunden trinken? Vier- bis fünfzehnmal. Wie lange soll es an der Brust liegen? Von vier Minuten bis zu dreiviertel Stunden und länger. Es gibt Brüste, die leicht und schwer Milch geben, solche mit dürftiger und reichlicher Nahrung, solche mit gutausgebildeten und schwach entwickelten Brustwarzen, abgehärtete und empfindliche. Manche Kinder saugen kräftig, andere launisch-unregelmäßig und faul. Es kann also keine allgemein-gültigen Vorschriften geben. Schlecht entwickelte, aber strapazierfähige Brustwarzen; dazu ein munteres Neugeborenes. Mag es oft und lange saugen, um die Brust richtig ״auszubilden". Eine mit Nahrung reichlich versehene Brust, ein schwächlieber Säugling. Vielleicht empfiehlt es sich, einen Teil der Nahrung vor dem Trinken abzuspritzen, um das Kind dazu zu bringen, sich anzustrengen. Es kann das vielleicht nicht schaffen? Dann also die Brust geben und den Rest abspritzen. Die Brust gibt schwer Milch, das Kind ist träge. Nach zehn Minuten erst beginnt es zu trinken. Eine Schluckbewegung kommt vielleicht auf eine, zwei, fünf Saugbewegungen. Die Milchmenge kann bei einem Schluck geringer oder größer sein. Es nimmt die Brust, zieht, aber schluckt nicht, schluckt seiten, oft. ״Es läuft ihm übers Kinn." Vielleicht, weil reichlich Nahrung, vielleicht auch, weil wenig Nahrung vorhanden ist, weil das Kind, ausgehungert, kräftig zieht und sich verschluckt, aber nur bei den ersten Zügen. Wie kann man Vorschriften machen, ohne Mutter und Kind vor sich zu haben? ״Fünfmal in vierundzwanzig Stunden, je zehn Minuten" — das wäre ein Schema. 21. Ohne Waage gibt es keine Technik des Nährens. Alles was wir ohne diese unternähmen, wäre ein Blinde-KuhSpielen. 21
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Ohne Waage läßt sich nicht feststellen, ob das Kind drei oder zehn Löffel Milch getrunken hat. Aber davon hängt ab, wie oft es, wie lange es, ob es aus beiden Brüsten oder nur aus einer trinken sollte. Die Waage kann ein untrüglicher Ratgeber sein, wenn sie den wirklichen Sachverhalt anzeigt; sie kann zum Tyrannen werden, wenn wir von ihr das Schema eines ״normalen" Wachstums des Kindes haben wollen. Daß wir aus dem Vorurteil über die ״grünlichen Stuhlgänge" nicht in den Aberglauben an die ״idealen Kurven" verfallen möchten. Wie sollte man wiegen? Es ist bemerkenswert, daß es Mütter gibt, die viele Stunden mit Tonleitern und Etüdenüben verbringen, aber die Mühe, sich mit einer Waage vertraut zu machen, für allzu beschwerlieh halten. Vor und nach dem Trinken wiegen? Welch ein Aufwand! Es gibt andere, die nicht nur sorgfältig, sondern geradezu zärtlich mit der Waage umgehen, diesem hochgeschätzten Hausarzt. Billige Säuglingswaagen und ihre Verbreitung bis in jede Hütte, das wäre eine soziale Aufgabe. Aber wer nimmt sich ihrer an? 22. Woher kommt es wohl, daß eine Generation unter der Parole: Milch, Eier, Fleisch aufgewachsen ist und die andere Grütze, Gemüse und Obst bekommt? Ich könnte antworten: Fortschritte in der Chemie, Ergebnisse der Stoffwechsel-Forschung. Nein, das Wesen dieses Wandels liegt tiefer. Die neue Diät ist ein Ausdruck des Vertrauens der Wissenschaft zum lebendigen Organismus, ein Zeichen der Toleranz seinem Willen gegenüber. Wenn man Eiweiß und Fette verabfolgte, wollte man den Organismus durch eine speziell zusammengestellte Diät zur Entwicklung zwingen, heute geben wir alles: mag der lebendige Organismus doch selbst auswählen, was er braucht, was ihm nützlich ist, mag er selbst im Rahmen seiner Kräfte, der Aktivitäten der mitgebrachten Gesundheit, der potentiellen Entwicklungsenergie seine Anordnungen treffen. 22
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Nicht das, was wir dem Kinde geben, sondern was es sich aneignet, ist entscheidend. Denn jeder Zwang und jedes Übermaß ist ein Ballast, jede Einseitigkeit ist ein möglicher Fehlgriff. Selbst wenn wir uns ganz in der Nähe der Wahrheit befinden, können wir einen gering erscheinenden Fehler machen; aber indem wir ihn Monat für Monat wiederholen, richten wir Schaden an oder erschweren die Arbeit. Wann, wie, womit soll man zufüttern? Wenn dem Kind der eine Liter Milch nicht mehr ausreicht, den es saugend zu sich nimmt, sollte man allmählich, immer unter Beachtung der Reaktion des Organismus, alles geben, was dem Kinde bekommt. 23. Und wie steht es mit Stärkepräparaten? Man sollte die Wissenschaft von der Gesundheit und den Handel mit der Gesundheit auseinanderhalten. Haarwuchsmittel, Zahnpflegemittel, Hautverjüngungspuder, Stärkepräparate zur Erleichterung des Zahnens sind hundertmal eine Schändung der Wissenschaft, spiegeln aber niemals ihren Stolz und ihr begeistertes Streben wider. Der Fabrikant, der durch seine Präparate sowohl einen normalen Stuhlgang als auch imponierende Gewichtszunahmen garantiert, liefert, was die Mutter erfreut und dem Kinde schmeckt. Aber er kann den Geweben keine Aufnahmefähigkeit verleihen, er verlangsamt diese womöglich, er kann keine Lebenskraft vermitteln, er mindert sie vielleicht sogar durch Überfettung; er bietet keine Widerstandsfähigkeit gegen Seuchen. Immer wieder aber setzt er die Kraft der Mutterbrust herab — umsichtig und verstohlen zwar, indem er nur beiläufig Zweifei weckt, lockt und die Schwächen der Massen befriedigt. Nun könnte jemand sagen: in aller Welt berühmte Namen haben ihre Anerkennung ausgesprochen. Aber auch Gelehrte sind nur Menschen: unter ihnen gibt es mehr oder weniger scharfsinnige, vorsichtige und leichtfertige, Rechtschaffene und Fälscher. Wieviel Wissenschaftler gibt es doch, die nicht wegen ihrer genialen Begabung, sondern wegen ihrer Pfiffigkeit oder des Privilegs von Vermögen und Geburt führend sind! Die Wissenschaft bedarf kostspieliger Werkstätten, und 23
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diese werden nicht allein durch wirkliche Leistung, sondern auch durch Geschmeidigkeit, Fügsamkeit und Intrige erworben. Ich habe an einer Sitzung teilgenommen, in der ein dreister Frechling sich die gewissenhafte, in zwölf Jahren geleistete Forschungsarbeit eines anderen aneignete. Ich kenne eine Entdeckung, die für eine bedeutende internationale Tagung bestimmt war. Das Belebungspräparat, dessen Wert ein gutes Dutzend von Kapazitäten bestätigt hatte, erwies sich als ein Falsifikat; es gab einen Prozeß: der Skandal wurde eilig vertuscht. Nicht auf den, der Stärkepräparate rühmt, sondern auf den, der sie trotz aller Bemühungen von Agenten und Fabrikanten nicht lobend erwähnen will, kommt es an. Und diese verstehen es schon, sich angelegentlich zu bemühen und in einen zu dringen. Millionenunternehmungen besitzen schon einen beträchtlichen Einfluß; das ist eine Macht, der nicht jeder Widerstand leistet. M a n ch e G e d a n k e n g ä n g e in d ie se n A b s c h n itte n s in d ein W id e r h a ll m e in e s T r e n n u n g sp ro ze sse s v o n d e r M e d iz in . Ich h abe m a n g e ln d e F ü rso rg e u n d P fu sch erei b ei H ilfe le istu n g e n erleb t. (N e b e n d e m o ft u n te r s d m tz te n K a m ie ń s k i h a t als e r ste r B r u d z in s k i1 die G leich b ere ch tig u n g fü r d ie K in d e rh e ilk u n d e g e fo r d e r t u n d e r z w u n g e n .) D ie a u slä n d isch e S p e z ia litä te n in d u s tr ie fin g a n , E len d u n d V e rn a c h lä ssig u n g w e id lic h a u s z u n u tze n . H e u te g ib t es b e i u n s F ü rso rg e sta tio n e n , K in d e r k r ip p e n in d en F a b rik en , S o m m e r k o lo n ie n , K u r o r te , G e su n d h e itsa u fsich t in d en Schulen u n d K r a n k e n k a sse n . N och g e h t es nich t im m e r o rd e n tlich z u , u n d es g ib t m an ch e M ä n g e l, a b e r w ir h a b en es doch e r le b t, d a ß ein A n f a n g g e m a c h t w u r d e . H e u te d a rf m a n an d ie W ir k s a m k e it v o n S tä rk e p r ä p a ra te n u n d A r z n e im itte ln g la u b e n , ih re A u f g ä b e is t es, H y g ie n e u n d ö ffe n tlich e F ü rsorge fü r das K in d z w a r z u u n te r s tü tz e n , n ich t a b e r z u ers e tz e n .
24. Das Kind hat eine fiebrige Erkältung. Ist es nicht ernstlich bedroht? Wann wird es wieder gesund? Unsere Antwort hängt von manchen Urteilen ab, die sich auf 1 Józef Brudziński, Arzt und Gelehrter, Organisator und erster Rektor der 1915—1918 wiedererstandenen Universität Warschau. 24
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das stützen, was wir wissen und was wir wahrzunehmen vermochten. Ein kräftiges Kind also überwindet eine nicht so heftige Ansteckung im Laufe von ein, zwei Tagen. Wenn der Anfall stärker ist und das Kind schwächer, so dauert die Unpäßlichkeit eine Woche. Das sehen wir ja. Oder: das Leiden ist gering, aber das Kind ist noch sehr klein. Eine Erkältung bei Säuglingen geht oft von einer NasenVerstopfung auf den Rachen über, auf die Luftröhre und die Bronchien. Das müssen wir feststellen. Schließlich enden neunzig von hundert ähnlichen Fällen mit einer raschen Gesundung des Kindes, in sieben Fällen halten die Beschwerden länger an, bei dreien entwickelt sich eine richtige Krankheit, und es kann sogar der Tod eintreten. Ein Vorbehalt: vielleicht verbirgt sich hinter einer leichten Erkältung ein anderes Leiden? . . . Aber eine Mutter will Gewißheit haben, nicht auf Vermutungen angewiesen sein. Man kann die Diagnose ergänzen durch eine Untersuchung der Ausscheidungen der Nase, durch Untersuchungen des Urins, des Blutes, der Gehirnflüssigkeit, man kann durchleuchten und Spezialisten heranziehen. Der Wahrscheinlichkeitsfaktor bei der Diagnose und sogar bei der Therapie wird größer werden. Aber ob dieses Plus nicht von dem Schaden oftmaliger Untersuchungen aufgewogen wird, durch die AnWesenheit vieler Ärzte, von denen jeder in seinen Haaren, in den Falten seiner Kleidung, in seinem Atem eine weit gefährlichere Krankheit mitbringen kann. Wo hat sich das Kind nur erkälten können? Es wäre gewiß zu verhindern gewesen. Aber macht dieses geringfügige Übel das Kind nicht widerstandsfähig gegen heftigere Infektionen, die es in einer Woche, in einem Monat befallen könnten, vervollkommnet es nicht den Abwehrmechanismus: im Wärmezentrum des Gehirns, in den Drüsen, in den Bestandteilen des Blutes? Können wir das Kind denn von der Luft isolieren, die es einatmet und von der ein Kubikzentimeter Tausende von Bakterien enthält?. . . Ist diese Diskrepanz zwischen unseren Bestrebungen und dem notwendigen Nachgeben nicht eine erneute Probe dafür, 25
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ob die Mutter audi ausreichend gewappnet ist, nicht so sehr von ihrer Ausbildung als vielmehr von ihrer Einfühlung her, ohne die sie ein Kind nicht auf ziehen kann? 25. Solange der Tod noch Wöchnerinnen in großer Zahl dahinraffte, dachte man nicht so sehr an das Neugeborene. Es wurde erst entdeckt, als Asepsis und die Technik der Geburtshilfe das Leben der Mutter garantierten. Solange die Säuglingssterblichkeit so erschreckend hoch war, mußte sich die Wissenschaft ganz auf Fläschchen und Windeln konzentrieren. Jetzt werden wir vielleicht schon in kurzer Zeit neben der reinen Existenz auch das Antlitz, das Leben und die psychisehe Entwicklung des Kindes im ersten Lebensjahr deutlich wahrnehmen. Was bisher auf diesem Gebiet getan worden ist, stellt erst einen Anfang dar. Unendlich ist die Zahl psychologischer Probleme und der Folgen, die auf der Grenze zwischen Soma und Psyche des Säuglings stehen. Napoleon litt als Kind an Krämpfen. Bismarck war rachitisch, und ganz zweifellos sind alle Propheten und Verbrecher, Helden und Verräter, Große und Kleine, Athleten und Kümmerlinge einmal Säuglinge gewesen, bevor sie reife Menschen wurden. Wenn wir die Urformen von Gedanken, Gefühlen und Bestrebungen kennenlernen wollen, bevor sie sich entwickeln, differenzieren und definieren, müssen wir uns ihm, dem Säugling, zuwenden. Nur grenzenlose Ignoranz und Oberflächlichkeit können übersehen, daß ein Säugling eine bestimmte, deutlich umrissene Individualität verkörpert, die sich aus seinem angeborenen Temperament, aus Kraft, Intellekt, Selbstgefühl und Lebenserfahrungen zusammensetzt. 26. Einhundert Kleinkinder. Ich beuge mich über jedes einzelne Bettchen. Da gibt es einige, deren Leben nach Wochen und Monaten zählt, von unterschiedlichem Gewicht und mit sehr verschiedenartigem Verlauf ihrer ״Kurve", kranke, genesende, gesunde und einige, die sich kaum noch an der Oberfläche des Lebens halten. Mich treffen mannigfaltige Blicke, halb erloschene, verschleierte, ohne Ausdruck, dann wieder eigensinnige und schmerzlich gesammelte, lebendige, herzliche, aggressive. Ihr Begrüßungslächeln ist spontan, freundlich; oder 26
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es löst sidi erst nach einem Moment aufmerksamer Beobachtung, als Antwort auf mein Lächeln und ein zärtliches, aufmunterndes Wort. Was mir zunächst zufällig erschien, wiederholt sich im Verlauf vieler Tage. Ich notiere, unterscheide vertrauensvolle und mißtrauische, gleichmütige und launische, heitere und düstere, unsichere, erschrockene und ablehnende Kleinkinder. Ein ständig heiteres: es lächelt vor und nach dem Trinken; ob man es aufweckt, ob es in tiefem Schlafe liegt — es hebt die Lider, lächelt und schläft wieder ein. Ein immer grämliches: unruhig, dem Weinen nah, begrüßt es mich und hat in drei Wochen nur einmal flüchtig gelächelt. .. Ich untersuche seinen Rachen. Lebhafter, stürmischer, leidenschaftlicher Protest. Oder auch nur ein verdrießliches Zucken, eine ungeduldige Kopfbewegung und schon wieder ein wohlwollendes Lächeln. Oder ein argwöhnisches Aufmerken auf jede Bewegung der fremden Hand, ein Zornesausbruch, noch bevor ihm etwas geschehen war . . . Eine Massenimpfung gegen Pocken; fünfzig in der Stunde. Das ist schon ein Experiment. Wiederum bei manchen eine spontane und entschiedene, bei anderen eine stufenweise und ungewisse Reaktion, bei den dritten Passivität. Eines kommt über das Staunen nicht hinaus, das zweite wird langsam unruhig, das dritte schlägt Alarm; das eine gewinnt schnell sein Gleichgewicht wieder, das andere merkt es sich lange, kann es nicht verzeihen . . . Man könnte sagen, das ist eben das Säuglingsalter. Das stimmt nur bis zu einem gewissen Grad. Die rasche Orientierung, die Erinnerung an frühere Erlebnisse. Wir kennen Kinder, die schmerzhafte Erfahrungen mit einem Chirurgen gemacht haben, wir wissen, daß es Kinder gibt, die Milch ablehnen, weil man ihnen eine weiße Emulsion mit Kampfer verabfolgt hat. Aber haben denn seelische Äußerungen des erwachsenen Menschen andere Ursachen? 27. Das eine Kind: Es ist zur Welt gebracht worden, und es hat sich bereits mit der kühlen Luft, der rauhen Windel, der Unruhe verschiedener 27
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Geräusche und der Tätigkeit des Saugens abgefunden. Es trinkt fleißig, berechnend und dreist. Schon lächelt es, lallt vor sich hin und kann, seine Hände bewegen. Es wächst, untersucht seine Umgebung, krabbelt, läuft, plappert und spricht. Wie und wann ist das vor sich gegangen? Eine heitere ungestörte Entwicklung . . . Ein anderes Kind. Eine Woche ist vergangen, ehe es das Saugen gelernt hat. Ein paar unruhige Nächte. Eine Woche ohne Sorgen, und dann ein ganzer Tag voller Sturm. Die Entwicklung vollzieht sich etwas träge, das Zahnen ist beschwerlich. Es treten Sdtwankungen ein, aber nun ist alles in Ordnung: das Kindchen ist friedlich, lieb, lustig. Vielleicht ist es ein geborener Phlegmatiker, die Betreuung wird nicht überlegt gehandhabt, die Brust ist nicht leistungsfähig genug, und die Entwicklung ist doch glücklich. Ein drittes Kind: Es ist ungestüm. Fröhlich und leicht erregbar, kämpft es verzweifelt und ohne seine Energievorräte zu schonen, wenn es von unguten Eindrücken äußerlich oder innerlich bedrängt wird. Lebhafte Bewegungen, plötzliche Veränderungen, heute ganz anders als gestern. Es lernt und vergißt auch wieder. Eine Entwicklung in gebrochener Linie mit steilen Anstiegen und Abfällen. Überraschungen, angefangen von den liebenswertesten bis zu den scheinbar bedrohlichen. Man kann nie behaupten, es geschafft zu haben. Ein leicht erregbares Kind, ein Trotzkopf, ein launisches Geschöpf, vielleicht für die Zukunft wertvoll . . . Wollte man die Sonnen- und die Regentage berechnen, es gäbe nicht viele heitere Stunden. Unzufriedenheit als grundlegender Charakterzug. Es gibt keinen großen Schmerz, aber unliebsame Überraschungen; es gibt keinen Lärm, aber Unruhe. Gut wäre es, wenn .. . Niemals bleiben Vorbehalte aus. Das ist ein Kind mit Mängeln, unvernünftig erzogen . . . Die Zimmertemperatur, hundert Gramm Milch zuviel oder hundert Gramm Trinkwasser zu wenig, das sind nicht nur hygienische, sondern auch erzieherische Faktoren. Das kleine Kind, das so vieles zu erforschen, zu ahnen, kennenzulernen, sich anzueignen, lieb zu gewinnen und abzulehnen, vernünftig abzuwehren 28
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und zu verlangen hat, muß ein gutes Selbstgefühl besitzen, unabhängig von seinem angeborenen Temperament, seiner schnellen oder schläfrigen Intelligenz. Statt des aufdringlichen Neologismus ״osesek" (Säugling) gebrauche ich das alte Wort ״niemowlę" (Kleinkind, das noch nicht sprechen kann). Die Griechen sagten ״népios", die Römer ״infans". Wenn es die polnische Sprache so will, warum dann das häßliche deutsche Wort ״Säugling" übersetzen. Man sollte im Wörterbuch alter und wichtiger Ausdrücke nicht ohne sorgfähige Überlegung herumwirtschaften. 28. Die Sehkraft. Licht und Finsternis, Nacht und Tag. Schlafen — etwas kaum Wahrnehmbares geschieht; Wachen - ־die Regungen werden kräftiger; etwas Gutes (die Mutterbrust), etwas Böses (der Schmerz). Das Neugeborene blickt die Lampe an. Nein, es sieht noch nicht, die Augäpfel gehen in verschiedene Richtungen auseinander und kommen wieder zusammen. Später, wenn es einen langsam bewegten Gegenstand mit seinem Blick verfolgt, fixiert es ihn und verliert ihn jeden Augenblick wieder aus den Augen. Konturen von Schatten, der Aufriß erster Linien, und alles noch ohne Perspektive. Die Mutter, einen Meter entfernt, ist schon ein ganz anderer Schatten als nahe über das Bettchen gebeugt. Das Profil des Gesichtes wie eine Mondsichel, nur das Kinn und der Mund, wenn ihr Kind sie von unten betrachtet, dasselbe Gesicht, diesmal mit den Augen, wenn sie auf den Knien liegt, und wieder anders, auch das Haar ist zu sehen, wenn sie sich noch weiter herabbeugt. Aber Gehör und Geruch sagen, daß es dasselbe sei. Die Brust, eine helle Wolke, wohlschmeckend, duftend, Wärme und Güte. Das Kindchen läßt die Brust fahren und schaut, prüft mit seinen Blicken dieses sonderbare Etwas, das ständig über der Brust zu sehen ist, woher die Laute kommen und der warme Strom des Atems weht. Das Kleine weiß nicht, daß Brust, Gesicht und Hände eine Einheit bilden — die Mutter. Ein Fremder streckt die Hände aus. Getäuscht durch die vertraute Gebärde, das Bild, läßt es sich gern auf den Arm nehmen. Jetzt erst bemerkt es seinen Fehler. Diesmal entfernen 29 © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525315101 — ISBN E-Book: 9783647315102
es die Hände von dem vertrauten Schatten, führen es zu etwas Fremdem, Furchterweckendem hin. Spontan wendet es sich der Mutter zu, und, wieder in Sicherheit, schaut es verwundert oder versteckt sich hinter der Schulter der Mutter, um der Gefahr zu entrinnen. Endlich ist das Gesicht der Mutter nicht mehr nur ein Schatten, den man mit den Händchen untersucht. Das Kleine hat oft schon nach ihrer Nase gegriffen, das sonderbare Auge berührt, das abwechselnd aufblitzt und dann wieder unter der Hülle des Lides matt schimmert; es hat das Haar betastet. Und wer hat noch nicht gesehen, wie es die Lippen zurückschiebt, die Zähne betrachtet, in den Mund blickt, gesammelt, ernst, mit einer tiefen Stirnfalte. Nur daß es dabei durch törichtes Geplapper, Küsse, allerlei Späße gestört wird — wir sprechen dann vom ״Zeitvertreib" des Kindes. Wir aber sind es, die spielen, das Kleine studiert. Es kennt bereits Axiome, Hypodiesen und Probleme im Verlauf seiner Forschungen. 29. Das Gehör. Vom Straßenlärm hinter den Fensterscheiben, dem Widerhall weit entfernter Geräusche, dem Ticken der Uhr, Gesprächen und Gepolter bis zu den unmittelbar an das Kind gerichteten Flüsterworten bildet das alles ein Chaos von Reizen, das es unterscheiden und verstehen lernen muß. Hier seien noch die Laute erwähnt, die das Kleine selbst hervorbringt, der Schrei also, das Plappern und Brummein. Bis es begreift, daß es selbst und kein Unsichtbarer vor sich hin lallt und schreit, vergeht viel Zeit. Wenn es daliegt und sein ״Aba, abb, ada" sagt, horcht es und prüft die Empfindungen beim Bewegen der Lippen, der Zunge, des Kehlkopfes. Ohne über sich selbst Bescheid zu wissen, stellt es nur die willkürliche Hervorbringung dieser Laute fest. Wenn ich das Kindchen in seiner eigenen Sprache anrede, ״aba, abb, adda", betrachtet es mich erstaunt — ein geheimnisvolles Wesen, das ihm wohlbekannte Laute hervorbringt. Wenn wir uns tiefer in die Art des Bewußtseins eines Kleinkindes hineinversetzten, würden wir weit mehr darin finden, als wir meinen — nur nicht das, und nur nicht so, wie wir es annehmen. Armes Purzeichen, hungriges Kleines, armes, will es Pappchen machen, will es Mili. Das Kleine ver30
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steht das gut, es wartet darauf, daß seine Ernährerin die Bluse öffnet und ihm ein Tüchlein unters Kinn gelegt wird, es wird unruhig, wenn sich die Erfüllung seiner Erwartung verzögert. Und doch hat die Mutter diese ganze lange Tirade an sich selbst, nicht an das Kind gerichtet. Es würde sich eher die Laute einprägen, mit denen eine Hausfrau das Geflügel herbeilockt: ״tschip, tschip." Das Kleine denkt in den Kategorien der Erwartung angenehmer Empfindungen und der Furcht vor unliebsamen Eindrücken; daß es nicht nur in Bildern, sondern auch in Lauten denkt, kann man ja doch aus dem alarmierenden Charakter des Schreiens ablesen: ein Schrei kündet Unheil an, oder er setzt automatisch den Apparat in Bewegung, der Unzufriedenheit ausdrückt. Betrachtet doch einmal aufmerksam ein Kleinkind, wenn es jemanden weinen hört. 30. Das Kleine gibt sich alle Mühe, die Außenwelt zu beherrschen: es will die schlechten feindlichen Mächte in seiner Umgebung niederkämpfen und die guten, fürsorglichen Geister dazu zwingen, seinem Wohlbefinden zu dienen. Das Kleinkind kennt zwei Zauberformeln, deren es sich bedient, bevor es das dritte wunderbare Werkzeug seines Willens erobert: die eigenen Hände. Diese beiden Zauberformeln heißen: schreien und saugen. Wenn das Kleine anfangs schreit, w e il ihm etwas weh tut, so lernt es auch bald zu schreien, d a m it ihm nichts weh tun soll. Allein gelassen, weint es, aber es beruhigt sich wieder, wenn es die Schritte der Mutter hört; es will trinken und weint, aber es hört zu weinen auf, wenn es bemerkt, daß die Mutter sich anschickt, es zu stillen. Es disponiert im Bereich seiner Kenntnisse (es sind nur wenige) und der verfügbaren Mittel (sie sind erst schwach entwickelt). Es begeht Fehler, indem es einzelne Erscheinungen verallgemeinert und aufeinanderfolgende Vorgänge als Ursache und Wirkung miteinander verbindet (post hoc, propter hoc1). Ob die Aufmerksamkeit und Sympathie für seine 1 Post hoc (ergo) propter hoc (lat.) ־־wörtlich: ״danach, also infolgedessen". Eine philosophische Formel, die den Trugschluß bezeichnet, daß von zwei wahrgenommenen Ereignissen das erste zwingend die Ursache des zweiten ist. 31
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Schuhe nicht darauf zurückzuführen sind, daß es den Schuhen seine Fähigkeit zu gehen zuschreibt? Ebenso ist das Mäntelchen jener Zauberteppich aus dem Märchen, der es in die Welt der Wunder hineinführt, zum Spazierengehen. Auch ich habe das Recht, so etwas anzunehmen. Wenn ein Literaturhistoriker das Recht hat, Spekulationen darüber anzustellen, was Shakespeare beabsichtigte, als er seinen Hamlet schuf, so darf ein Pädagoge Vermutungen wagen, die sogar fehlerhaft sein können, ihm aber doch praktische Ergebnisse vermitteln. Das sieht so aus: Im Zimmer ist es schwül. Das Kind hat trockene Lippen, nur wenig dickschleimigen Speichel, es ist mißmutig. Milch ist ein Nahrungsmittel, aber es ist durstig, also muß man ihm Wasser geben. Doch ״es will nicht trinken": es wendet das Köpfchen weg und schlägt den Löffel aus der Hand. Es möchte wohl trinken, kann es aber noch nicht. Wenn es die erwünschte Flüssigkeit auf seinen Lippen spürt, wirft es seinen Kopf herum und sucht nach der Brustwarze. Ich halte sein Köpfchen mit der linken Hand fest und halte den Löffel an seine Oberlippe. Es trinkt nicht, sondern es saugt das Wasser ein, gierig hat es fünf Löffelchen Wasser zu sich genommen und ist dann eingeschlafen. Wenn ich ihm aber ein- oder zweimal Flüssigkeit ungeschickt mit dem Löffel gebe, verschluckt es sich und wird verdrießlich, und dann will es wirklich nicht mehr aus dem Löffel trinken. Ein anderes Beispiel: Ein ständig mißmutiger, unzufriedener Säugling beruhigt sich an der Brust, beim Wickeln und Baden und bei einer öfteren Änderung seiner Lage. Dieser Säugling hat einen juckenden Ausschlag. Man sagt mir, davon sei nichts zu sehen. Aber er wird mit Sicherheit in Erscheinung treten. Und tatsächlich — nach zwei Monaten ist der Ausschlag da. Ein drittes Beispiel: Das Kindchen saugt an seinen Händen, wenn ihm etwas wehtut, alle unangenehmen Empfindungen, also auch die Unruhe ungeduldiger Erwartung, möchte es mit dem wohltätigen, vertrauten Saugen befriedigen. Es saugt an seinen Fäustchen, wenn es hungrig oder durstig ist, wenn es überfüttert ist, 32
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wenn es einen üblen Geschmack im Mund verspürt, wenn es Schmerzen hat, wenn ihm zu warm ist oder wenn ihm Haut oder Gaumen jucken. Woher mag es wohl kommen, daß der Arzt ankündigt, es werde nun zahnen, und das Kleine schon einen lästigen Druck im Kiefer oder im Gaumen verspürt, wenn die Zähne noch wochenlang auf sich warten lassen? Reizt nicht ein durchbrechender Zahn die kleinen NervenVerästelungen schon im Knochen selbst? Hier sei bemerkt, daß ein Kalb ähnliche Schmerzen leidet, bevor ihm die Hörner wachsen. Und hier nun dieser Weg: der Sauginstinkt, die Saugbewegungen, um den Schmerz zu mindern, und das Saugen als Vergnügen und Gewohnheit. 31. Ich betone: Grundton und Inhalt des psychischen Lebens eines Kleinkindes ist das Bestreben, die unbekannten Eiemente, die Geheimnisse seiner Umwelt zu beherrschen, aus denen Gutes und Böses hervorgeht. Mit der Betätigung dieses Willens ist ein starker Wissensdrang verbunden. Ich betone: ein ausgewogenes Wohlbefinden erleichtert ein objektives Erkennen, alle unangenehmen Empfindungen, die aus seiner inneren Verfassung kommen, also in erster Linie Schmerzen, beeinträchtigen sein noch ungefestigtes Bewußtsein. Um sich davon zu überzeugen, muß man es im gesunden Zustand, in Schmerzen und in Krankheitszeiten beobachten. Wenn es Schmerzen empfindet, schreit das Kleine nicht nur, sondern es hört auch den Schrei, verspürt ihn in der Kehle, erblickt ihn durch die halbgeschlossenen Lider hindurch in verschwommenen Bildern. Das alles ist mächtig, feindselig, bedrohlich, unfaßbar. Es muß sich dieser Augenblicke wohl gut erinnern und sie fürchten; und weil es sich selbst noch nicht kennt, verbindet es sie mit jenen Zufallsbildern. Hier liegt gewiß die Ursache für manche unverständlichen Sympathien, Antipathien, Befürchtungen und Wunderlichkeiten in den Reaktionen eines Kleinkindes. Die intellektuelle Entwicklung eines Kleinkindes zu ergründen, ist unendlich schwierig, denn es lernt immer Neues und vergißt das Gelernte: es ist eine Entwicklung in vielen Phasen, die mit Stillständen und Rückschritten verbunden ist. Viel 33
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leicht spielt die mangelnde Fertigkeit des Selbstgefühls dabei eine wichtige Rolle — vielleicht sogar die wichtigste. Das Kleine untersucht seine Hände. Es streckt sie aus, bewegt sie nach rechts und nach links, von sich fort und wieder zurück, spreizt die Finger, ballt sie zur Faust, spricht zu ihnen und wartet auf eine Antwort, ergreift mit der rechten die linke Hand und zieht, nimmt die Klapper und betrachtet das sonderbar veränderte Aussehen der Hand, legt das Spielzeug aus einer Hand in die andere, steckt es prüfend in den Mund, nimmt es sofort wieder heraus und besieht es sich, gemächlich und aufmerksam. Es wirft die Klapper weg, zieht an einem Knopf der Bettdecke und untersucht die Ursache des soeben erfahrenen Widerstandes. Es spielt nicht etwa, seht doch einmal richtig hin und gebt auf die Willensanstrengung acht, die etwas erkennen möchte! Das ist ein Gelehrter in seinem Laboratorium, in eine sehr wichtige Frage vertieft, deren Lösung sich seinem Verständnis entzieht. Das kleine Kind tut anfangs seinen Willen durch Schreien kund, später durch das Mienenspiel seines Gesichtes und durch Gesten seiner Hände und endlich durch die Sprache. 32. Früher Morgen, sagen wir fünf Uhr. Das Kleine ist fröhlich aufgewacht, plappert, greift mit seinen Händchen hierhin und dorthin, richtet sich auf, stellt sich hin. Die Mutter will noch schlafen. Ein Konflikt zweier Wünsche, zweier Bedürfnisse, zweier widerstreitender Egoismen; die dritte Phase desselben Prozesses: die Mutter leidet Schmerzen, und das Kind wird zur Welt gebracht; die Mutter möchte sich nach der Geburt ausruhen, das Kind fordert Nahrung; die Mutter will schlafen, das Kind möchte wach sein; so wird das weitergehen. Das ist keine Bagatelle, sondern ein Problem; steh doch zu deinen eigenen Gefühlen und sage, wenn du dein Kind einer bezahlten Pflegerin übergibst, eindeutig: ״Ich will nicht" ־־־auch wenn dir der Arzt bestätigt hat, daß du nicht kannst. Das sagt er nämlieh immer in der Beletage, niemals aber im Dachgeschoß. Es kann auch so sein: die Mutter opfert dem Kinde ihren Schlaf, aber sie fordert dafür ihren Lohn; sie küßt und liebkost 34
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das warme, rosige, zarte kleine Wesen und drückt es an sich. Nimm dich in acht: das ist ein zweifelhafter Akt exaltierter Sinnlichkeit, verdeckt, aber auf der Lauer liegend in der Mutterliebe, nicht des Herzens, sondern des Leibes. Wisse, das Kind wird sich gern an dich schmiegen, errötet von hundert Küssen, mit freudig glänzenden Augen, und das bedeutet, daß deine Erotik einen Widerhall in ihm gefunden hat. Also sollte man darauf verzichten? Das kann ich nicht verlangen, weil ich vernünftige Liebkosungen für einen wertvollen Erziehungsfaktor halte; ein Kuß lindert den Schmerz, er nimmt einem Wort der Ermahnung die Schärfe, er weckt Reue und belohnt für Bemühungen ־־־er ist ebenso ein Symbol der Liebe, wie das Kreuz ein Symbol des Glaubens ist, und er wirkt auch als solches; ich meine, er ist es und nicht, daß er es sein sollte. Im übrigen jedoch, wenn dieser seltsame Wunsch, das Kind an sich zu drücken, zu streicheln, seinen Atem zu spüren und ganz in sich aufzunehmen, keinen Einwand in dir hervorruft, dann gib ihm nach. Ich verbiete nichts, noch schreibe ich etwas vor. 33. Wenn ich einem Kindchen zuschaue, wie es eine Schachtel öffnet und schließt, ein Sternchen hineinlegt und wieder herausnimmt, sie schüttelt und dem Geräusch nachlauscht; wenn ein Einjähriges sein Tischchen hinter sich her zieht oder unter einer Last auf unsicheren Beinchen schwankt; wenn ein Zweijähriges, dem man bedeutet, eine Kuh sei eine ״muu", dem hinzufügt: ״ada—muu", und ״ada" der Name des Haushundes ist — dann begeht es sprachliche Fehler von höchster Logik, die man sich merken und veröffentlichen sollte. Wenn ich unter dem Kram eines kleinen Kerls Nägel, Schnüre, Läppchen, Glasscherben bemerke, weil man das brauchen kann, um hundert Vorhaben auszuführen; wenn man ausprobiert, wer weiter springt, arbeitet, sich tummelt, um ein gemeinsames Spiel zu organisieren, wenn eins fragt ״ob ich wohl im Kopf ein ganz kleines Bäumchen habe, wenn ich an einen Baum denke"; wenn es einem alten Manne nicht einen Dreier gibt, um dafür gelobt zu werden, sondern sechsundzwanzig Groschen, sein ganzes Vermögen (״denn der Mann ist schon so alt und arm und wird bald sterben"). 35
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Wenn ein Halbwüchsiger seinen Schopf mit Spucke glättet, weil die Freundin seiner Schwester kommt. Wenn mir ein Mädchen schreibt, die Welt sei nichtswürdig und die Menschen glichen Tieren, und sie verschweigt das Warum; wenn ein Jüngling stolz einen aufrührerischen, reichlieh abgeklapperten und überständigen Gedanken wie eine Herausforderung von sich g ib t. . . Oh, ich liebkose diese Kinder mit meinen Blicken, mit meinen Gedanken und der Frage: wer seid ihr, wunderbares Geheimnis, und was verbirgt sich in euch? Ich bin ihnen gut in dem Bemühen: womit kann ich euch helfen? Ich küsse sie so, wie ein Astronom einen Stern küßt, der war, der ist und der sein wird. Dieser Kuß sollte die Mitte halten zwischen der Ekstase des Gelehrten und einem demütigen Gebet; wer soeben auf der Suche nach der Freiheit im Getümmel Gott verloren hat, der wird seinen Zauber nie erfahren. 34. Das Kind spricht noch nicht. Wann wird es damit beginnen? Das Sprechen ist zwar ein Maßstab für die Entwicklung des Kindes, aber weder der einzige noch der wichtigste. Das ungeduldige Warten auf das erste Wort ist ein Fehler, ein Beweis für mangelnde erzieherische Reife der Eltern. Wenn ein Neugeborenes im Badewasser zusammenzuckt und mit den Händchen herumfährt, weil es das Gleichgewicht verloren hat, dann sagt es: ״Ich habe Angst." Und diese Reflexbewegung der Furcht bei einem Wesen, das von Gefahr noch nichts weiß, ist höchst bemerkenswert. Du gibst ihm die Brust — es nimmt sie nicht und sagt dir damit: ״Ich will nicht." Es streckt die Hände aus nach einem begehrten Gegenstand: ״Gib mir's." Mit zum Weinen verzogenem Mund und abwehrenden Bewegungen sagt es zu einem Fremden: ״Ich trau' dir nicht", und manchmal fragt es auch die Mutter: ״Kann man ihm wohl trauen?" Was besagt der forschende Blick eines Kindes anders als die Frage: ״Was ist das?" Es langt nach einem Gegenstand, bekommt ihn mit großer Mühe zu fassen, seufzt tief auf, und mit diesem Seufzer der Erleichterung sagt es: ״Endlich!" Ver36
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sudi einmal, diesen ihm wieder wegzunehmen, und auf mancherlei Weise wird es dir sagen: ״Ich gebe ihn nicht wieder her." Es hebt das Köpfchen, setzt sich hin, steht auf: ״Ich hab' zu tun." Was anders bedeuten seine lachenden Augen und der lachende Mund als dies: ״Ach, wie geht's mir gut!" Es spricht in der Sprache des Mienenspiels, in der Sprache von Bildern und von Gefühlserinnerungen. Die Mutter zieht ihm das Mäntelchen an, es freut sich, wendet sich zur Tür, wird ungeduldig und drängt zur Eile. Es denkt in den Bildern des Spaziergangs und in der Erinnerung dabei erlebter Gefühle. Das Kindchen ist dem Arzt freundlich gesonnen; sobald es aber den Löffel in seiner Hand erblickt, erkennt es in ihm den Feind. Es versteht nicht die Sprache der Worte, sondern die des Mienenspiels und die der Klangfarbe einer Stimme. ״Wo hast du dein Naschen?" Ohne einen dieser drei Ausdrücke zu verstehen, weiß es aus der Stimmlage, der Bewegung der Lippen und dem Gesichtsausdruck zu entnehmen, daß man von ihm eine ganz bestimmte Antwort erwartet. Das Kindchen weiß ein sehr kompliziertes Gespräch zu führen, ohne sprechen zu können. ״Laß das", sagt die Mutter. Trotzdem langt es nach dem verbotenen Gegenstand, neigt anmutig das Köpfchen, lächelt, wartet ab, ob die Mutter das Verbot in strengerem Ton wiederholt oder ob sie — durch die raffinierte Koketterie entwaffnet — nachgibt. Ohne ein einziges Wort zu sagen, vermag es zu lügen, schamlos zu lügen. Um eine unerwünschte Person loszuwerden, gibt es das verabredete Zeichen, das Warnsignal, und wenn es auf dem bewußten Topf Platz genommen hat, blickt es triumphierend und spöttisch auf seine Umgebung. Wenn du versuchst, es zu necken, indem du ihm einen Gegenstand, den es haben will, gibst und wieder wegnimmst, so wird es nicht immer ärgerlich werden und nur manchmal beleidigt sein. Das Kleine kann auch ohne Worte ein Despot sein, einem aufdringlich zusetzen und seine Umgebung tyrannisieren. 37
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35· Wenn der Arzt fragt, wann das Kind zu sprechen und zu laufen angefangen hat, gibt die verlegene Mutter sehr häufig schüchtern die ungenaue Antwort : Zeitig, spät, normal. Sie meint, das Datum einer so wichtigen Tatsache müsse genau sein, und jeder Zweifel werfe in den Augen des Arztes ein schlechtes Licht auf sie. Ich erwähne das zum Beweis, wie unpopulär im allgemeinen das Bewußtsein ist, daß selbst eine streng wissenschaftliche Beobachtung nur mit Mühe eine annähernd richtige Entwicklungslinie des Kindes anzugeben vermag, und wie allgemein verbreitet der törichte Wunsch ist, diese Unkenntnis zu verbergen. Wie kann man erkennen, wann das Kind anstatt ״am, an und ama" zum erstenmal ״mama", anstatt ״abba" ״baba" (Großmutter) gesagt hat. Wie läßt sich bestimmen, wann die Bezeichnung ״mama" in seiner Vorstellung mit dem Bilde der Mutter und nicht einem anderen eng verbunden ist? Das Kindchen rutscht auf den Knien, es steht, wenn man es festhält oder es sich selbst auf die Bettkante stützt, es hält sich aufrecht ohne fremde Hilfe, es hat ein paar Schritte auf dem Fußboden und viele in der Luft gemacht, es schiebt sich vorwärts, kriecht, robbt, schiebt einen Stuhl vor sich her, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, es wird immer sicherer, bis es richtig laufen kann. Und urplötzlich — gestern noch, die ganze Woche, ist es gelaufen, und nun kann es das nicht mehr. Es ist ein wenig überdrüssig, es hat die Lust verloren. Es ist hingefallen und hat sich erschreckt, nun ist es ängstlich — zwei Wochen Pause. Wenn das Köpfchen kraftlos auf die Arme der Mutter sinkt, so ist das kein Zeichen für ein schweres Leiden, sondern für jede Art von Unpäßlichkeit. Das Kind ähnelt in jeder neuen Phase seiner Bewegungen einem Pianisten, der ein gutes Selbstgefühl haben und vollkommen ausgeglichen sein muß, um eine schwierige Komposition spielen zu können. Manchmal ״fühlte sich das Kind schon nicht wohl, aber es gab nicht nach und lief vielleicht noch mehr herum, spielte und sprach"; hier folgt nun die Selbstanklage: ״ich dachte also, daß ich mir nur eingebildet hatte, ihm sei nicht gut; also ging ich mit ihm spazieren"; als 38
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Rechtfertigung: ״es war so schönes W etter ״, und die Frage: ״hat ihm das wohl schaden können?״ 36. Wann sollte ein Kind laufen und sprechen? Dann, wenn es läuft und spricht. Wann sollten die Zähnchen durchbrechen? Eben dann, wenn sie sich zeigen. Auch die Fontanelle sollte dann Zuwachsen, wenn sie sich eben von selbst schließt. Und das Kind sollte solange schlafen, bis es ausgeschlafen ist. Wir wissen doch, wann das gemeinhin eintritt. In jeder populärwissenschaftlichen Broschüre sind, aus dickleibigen Handbüchern übertragen, diese kleinen Wahrheiten enthalten, die für Kinder im allgemeinen gelten, für ein Kind jedoch sich gerade als falsch erweisen können. Denn es gibt Kleinkinder, die mehr, und andere, die weniger Schlaf brauchen, es gibt ein frühzeitiges Zahnen, bei dem die Zähnchen schon beim Durchbrechen schlecht sind, und gesunde, kräftige, intakte aber spät durchbrechende Zähne gesunder Kinder; die Fontanelle wächst bei gesunden Kindern schon im neunten oder auch erst im vierzehnten Monat ihres Lebens zu; Dummerchen fangen manchmal früher zu pappein an, kluge Kinder sprechen bisweilen erst sehr spät. Droschkennummern, Sitzreihen im Theater, Mietzahlungstermine, alles was Menschen zur Aufrechterhaltung ihrer Ordnungen erdacht haben, kann beachtet und eingehalten werden; wer aber mit seinem gemäß den Polizeiverordnungen erzögenen Verstände nach dem lebendigen Buch der Natur greifen wollte, dem stürzt eine ganze Last von Beunruhigungen, Enttäuschungen und Überraschungen auf den Kopf. Ich rechne es mir als Verdienst an, daß ich auf die zuvor gestellten Fragen nicht mit einer Reihe von Klischees, die ich als kleine Wahrheiten bezeichnete, geantwortet habe. Denn es ist unwichtig, ob die oberen oder die unteren, die Schneide- oder die Backenzähne zuerst durchbrechen. Das kann jeder beobachten, der einen Kalender und Augen im Kopf hat; was aber ein lebendiger Organismus ist und wessen er bedarf, das ist eine große Wahrheit, die sich aber erst im Laufe der Zeit, aus Beobachtungen ergibt. Selbst untadelige Ärzte müssen ihr Verhalten variieren: verständigen Eltern gegenüber sind sie Naturwissenschaftler, 39
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haben ihre Zweifel, Vermutungen, schwierigen Probleme und interessanten Fragen; unvernünftigen Eltern treten sie als wortkarge Vorgesetzte entgegen: so und nicht anders, und genau nach dem Buchstaben muß es geschehen. ״Alle zwei Stunden einen Teelöffel. Ein Ei, ein halbes Glas Milch und zwei Biskuits." 37. Achtung! Entweder wir verständigen uns jetzt, oder wir trennen uns für immer. Jeder Gedanke, der sich heimlich davonstehlen und verbergen will, jedes sich selbst überlassene, ungebundene Gefühl sollte zur Ordnung gerufen und durch den gebietenden Willen gezügelt werden. Ich fordere die Magna Charta Libertatis1, als ein Grundgesetz für das Kind. Vielleicht gibt es noch andere — aber diese drei Grundrechte habe ich herausgefunden: 1. Das Recht des Kindes auf seinen Tod, 2. Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag, 3. Das Recht des Kindes, so zu sein, wie es ist. Man muß die Kinder kennen, um bei der Gewährung dieser Rechte möglichst wenig falsch zu machen. Irrtümer müssen sein. Seien wir nicht ängstlich: das Kind selbst wird sie mit erstaunlicher Wachsamkeit korrigieren, wenn wir seine unschätzbaren Fähigkeiten und mächtigen Abwehrkräfte nicht schwächen. Wir haben ihm zu viel oder Ungeeignetes zu essen gegeben: zuviel Milch — ein nicht mehr frisches Ei — es hat erbrochen. Wir haben ihm ein unverdauliches Wissen zu vermitteln versucht — es hat es nicht begriffen; einen nutzlosen Rat gegeben — es hat ihn nicht verstanden und ihn nicht befolgt. Es ist keine leere Phrase, wenn ich sage: zum Glück für die Menschheit können wir Kinder nicht dazu zwingen, erzieherischen Einflüssen und didaktischen Anschlägen auf ihren gesunden Menschenverstand und ihren Willen nachzugeben. Es h a tte s iđ i b ei m ir noch n ich t d ie E insich t h era u s g e b ild e t u n d b e s tä tig t , d a ß es d a s e rste u n d u n b e stre itb a re R ech t d es K in d e s is t , se in e G e d a n k e n a u szu sp rec h e n u n d a k tiv e n A n te il 1 Magna Charta Libertatum (lat.) — Große Charta der Freiheiten; Privilegium, das vom Schwertadel und der Geistlichkeit Johann ohne Land 1215 abgenötigt wurde; Grundlage des englischen Parlamentarismus. 40
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an u n seren Ü b e rle g u n g e n u n d U rte ile n ü b e r se in e P erso n z u n eh m en . W e n n w ir ih m A c h tu n g u n d V e rtra u e n e n tg e g e n b r in g en u n d w e n n es s e lb s t V e rtra u e n h a t u n d sich a u ssp ric h t, w o z u es d a s R ech t h a t — ־w i r d es w e n ig e r Z w e if e l u n d F ehler geben .
38. Die heiße, einsichtige und ausgeglichene Liebe der Mutter zu ihrem Kinde muß diesem das Recht auf einen frühzeitigen Tod zugestehen, das Recht zur Beendigung seines Lebenslaufes nicht nach sechzig Umdrehungen der Erde um die Sonne, sondern nach einem oder auch nur drei Frühjahren. Ein grausames Ansinnen an jene, die Mühen und Kosten eines Kindbettes nicht öfter als ein- oder zweimal auf sich nehmen wollen. ״Der Herr hat's gegeben — der Herr hat's genommen", sagt das natürlich empfindende, einfache Volk, das weiß, daß nicht jedes Samenkorn eine Ähre hervorbringt, nicht jedes Küken lebensfähig zur Welt kommt, nicht jeder Setzling zu einem Baum heranwächst. Die Meinung besteht, daß eine um so kräftigere Generation am Leben bleibt und heranwächst, je größer die Kindersterblichkeit unter dem Proletariat ist. Nein: die schlechten Lebensbedingungen, die schwachen Kindern den Tod bringen, schwächen auch die kräftigen und gesunden. Wahr scheint mir dagegen zu sein, daß ein Kind um so ungünstigere Bedingungen für seine körperliche und geistige Entwicklung vorfindet, je mehr eine Mutter aus vermögenden Kreisen durch den Gedanken an einen möglichen Tod des Kindes erschreckt wird. Wie oft habe ich in einem mit weißer Ölfarbe gestrichenem Zimmer inmitten von weißlackiertem Gerät, weiß gekleidet und von weißem Spielzeug umgeben ein blasses Kind gesehen, und ich habe dabei quälend empfunden: in diesem unkindliehen Zimmer, das eher einem Operationssaal gleicht, muß ja eine blutleere Seele in einem blutarmen Körper aufwachsen. ״In diesem weißen Salon mit elektrischen Lampen in jeder Ecke muß man ja epileptisch werden", sagt Claudina1. Vielleicht weisen exaktere Untersuchungen nach, daß ein zuviel an 1 Claudina: Titelheldin von Erzählungen der französischen Schriftstellerin Sidonie-Gabrielle Colette. 41
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hellem Licht für Nerven und Gewebe ebenso schädlich wie der Lichtmangel im düsteren Souterrain ist. Wir verfügen (in der polnischen Sprache) über zwei Ausdrücke (für den Begriff ״Freiheit"): ״swoboda" (Ungebundenheit) und ״wolność" (Autonomie). ״Swoboda", so meine ich, bezeichnet ein Besitzverhältnis : ich verfüge über meine Person. In ״wolność" aber steht ״Wola" (der Wille), also der aus Willensdrang geborenen Tat. Unsere Kinderzimmer mit ihren symmetrisch gestellten Möbeln, unsere blankgefegten städtisehen Gärten sind weder der Ort, wo sich die ״swoboda" offenbaren könnte, noch die Werkstatt, in welcher der aktive Wille des Kindes die Mittel zu seiner Verwirklichung fände1. Das Zimmer für das Kleinkind hat sich aus der Entbindungsklinik entwickelt, und diese ist nach den Vorschriften der Keimfreiheit eingerichtet. Achten wir darauf, das Kind in dem Bestreben, es vor Diphtheriebakterien zu schützen, nicht in die muffige Atmosphäre von Langeweile und Willenlosigkeit zu versetzen. Der üble Geruch von übergetrockneten Windeln ist heute kaum noch anzutreffen; aber der Ruch des Jodoforms ist oft zu verspüren2. V ie le s h a t sich h ier v e r ä n d e r t. N idn t a lle in w e iß la c k ie r te M ö b e l , so n d e rn auch B a d e stra n d , A u s flü g e , S p o r t , S c o u tin g . A u ch k a u m e r st ein A n fa n g . E tw a s w e n ig e r B in d u n g , a b er das K in d e rle b e n is t im m e r noch b ed rü c k t u n d b e d rä n g t.
39. Kuku, armes Pummelchen, wo hast du dein Wehweh? Das Kind sucht angestrengt nach den kleinsten Spuren von alten Kratzern, zeigt die Stelle an, wo ein blauer Fleck sein könnte, wenn es sich stärker angeschlagen hätte; es bringt es zu einer gewissen Meisterschaft, wenn es darum geht, Pickel, Hautflecke und Narben aufzufinden. Wenn jedes ״Wehweh" im Ton, Gebärde und dem Mienenspiel hilfloser Ratlosigkeit und hoffnungsloser Resignation begleitet wird, so verbindet sich das ״Pfui, wie häßlich" mit dem 1 In diesem Absatz ging es darum, dem deutschen Leser die beiden polnischen Ausdrücke ״swoboda" und ״wolność", für die es im Deutsehen nur das Wort ״Freiheit" gibt, zu erklären. Die eingeklammerten ( ) Worte sind vom Übersetzer hinzugefügt worden. 2 Der polnische Originaltext enthält hier das ins Deutsche nur schwer übertragbare Wortspiel von ״zaduch" (übler Geruch) und ״duch" (Geist). 42 © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525315101 — ISBN E-Book: 9783647315102
Ausdruck des Abscheus und des Ekels. Man muß nur einmal zuschauen, wie ein Kind seine mit Schokolade beschmierten Händchen von sich streckt, seinen ganzen Widerwillen und seine Ratlosigkeit mit ansehen, bis die Mutter sie mit ihrem Batisttüchlein wieder sauber wischt — und man wird die Frage stellen: ״Wäre es nicht besser, das Kerlchen würde dem Stuhl eine Ohrfeige geben, wenn es sich an ihm gestoßen hat; und wenn es beim Waschen Seife in die Augen bekommt, spucken und nach dem Kindermädchen mit den Füßen stoßen? .. ." Die Tür - es quetscht sich den Daumen, das Fenster — es lehnt sich hinaus und fällt, ein Obstkern — es bekommt keine Luft mehr, ein Stuhl — es kippt ihn um und gerät unter ihn, eine Schere — es verletzt sich schwer, ein Stock — es sticht sich ein Auge aus, es hat eine Schachtel aufgehoben — es infiziert sich, ein Streichholz — Feuer, es brennt sich. ״Du wirst dir die Hand brechen, man wird dich überfahren, der Hund wird dich beißen. Iß keine Pflaumen, trink kein kaltes Wasser, geh nicht barfuß, lauf nicht in der brennenden Sonne herum, knöpf den Mantel zu, bind den Schal um. Siehst du, warum hast du nicht gefolgt. Nun mußt du hinken, nun tun dir die Augen weh. Um Gottes willen! Du blutest ja! Wer hat dir denn ein Messer gegeben?" Ein Schlag verursacht nicht nur eine Beule, sondern läßt auch eine Gehirnentzündung befürchten, Erbrechen zeugt nicht von der Unverdaulichkeit einer Mahlzeit, sondern weist auch auf eine nahende Scharlacherkrankung hin. Überall lauern Fallen und Gefahren, alles ist bedrohlich und unheilverkündend. Und wenn nun ein Kind das alles glaubt und nicht heimlich ein Pfund unreife Pflaumen ißt oder irgendwo in einem Winkel — mit klopfendem Herzen — mit Streichhölzern spielt, nachdem es die Wachsamkeit der Erwachsenen eingeschläfert hat, wenn es gehorsam, passiv und vertrauensvoll sich der Forderung unterwirft, jeder Erfahrung aus dem Wege zu gehen, jedem Wagnis zu entsagen und die Mühen jeder Willensregung zu vermeiden, was wird es dann tun, wenn es in seinem Inneren etwas verspürt, was verwundet, brennt und beißt? 43
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Habt ihr eine feste Vorstellung davon, wie man ein Kind vom ersten Lebensjahre an über die verschiedenen Zwischen־־ Stadien bis in die Reifezeit hinein geleiten kann, wenn das Mädchen blitzartig von der ersten Menstruation, der Junge von Erektionen und Pollutionen überfallen wird? So ist das; noch liegt es an der Mutterbrust, und ich frage bereits, wie es zeugen und gebären wird. Das ist nämlich eine Frage, über die nachzudenken zwei Jahrzehnte nicht zu lang sind. 40. Aus Furcht, der Tod könnte uns das Kind entreißen, entziehen wir es dem Leben; um seinen Tod zu verhindern, lassen wir es nicht richtig leben. Selbst in der verderblichen Atmosphäre lähmenden Wartens auf das, was kommen soll, aufgewachsen, eilen wir ständig einer Zukunft voller Wunder entgegen. Träge wie wir sind, wollen wir das Schöne nicht heute und hier suchen, um uns zum würdigen Empfang des morgigen Tages zu rüsten: Sondern das Morgen selbst soll uns neuen Aufschwung bringen. Bedeutet denn jenes: ״Ach, wenn es doch schon laufen und sprechen könnte" etwas anderes als hysterisches Warten? Es wird laufen, es wird sich an den harten Kanten von Eichenholzstühlen stoßen. Es wird sprechen, es wird mit seiner Sprache das Stroh des grauen Alltags dreschen. Warum sollte denn das ״Heute" des Kindes schlechter und wertloser als sein ״Morgen" sein? Wenn es um die Mühen geht — das Morgen wird noch mehr davon bringen. Und wenn dieses Morgen endlich da ist, warten wir erneut; denn die grundsätzliche Meinung, das Kind sei noch nichts, sondern es werde erst etwas, es wisse noch nichts, sondern es werde erst etwas wissen, es könne noch nichts, sondern werde erst etwas können, zwingt uns ja zu ständigem Warten. Die Hälfte der Menschheit ist nicht im vollen Sinne existent; ihr Leben ist ein Geschwätz, ihre Bestrebungen sind naiv, ihre Gefühle vergänglich, ihre Ansichten lächerlich. Kinder unterscheiden sich von den Erwachsenen; es fehlt etwas in ihrem Leben, und doch ist in ihrem Dasein ein unbestimmbares ״Mehr" als in unserem, aber dieses von unserem Dasein unterschiedene Leben ist Wirklichkeit, nicht Vorausschau. Was 44
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haben wir denn dazu getan, um es zu erkennen und die Bedingungen zu schaffen, unter denen es bestehen und reifen kann? Das Bangen um das Leben des Kindes verbindet sich mit der Furcht, es könnte sich verletzen. Und diese Furcht wiederum ist mit der Sorge um die zur Aufrechterhaltung der Gesundheit notwendige Sauberkeit verknüpft. Hier nun wird die Laufkette der Verbote auf ein neues Schwungrad übertragen: Sauberkeit und Unversehrtheit des Kleides, der Strümpfe, der Krawatte, der Handschuhe und der Schuhe; schon geht es nicht mehr um das Loch in der Stirn, sondern um das in der Hose. Nicht Gesundheit und Wohl des Kindes, sondern unser Ehrgeiz und unser Geldbeutel spielen die Hauptrolle. Eine neue Laufkette von Verboten und Geboten setzt das Rad unserer eigenen Bequemlichkeit in Gang. ״Lauf nicht so, du gerätst noch unter die Pferde. Lauf nicht, denn du kommst ins Schwitzen. Lauf nicht, denn du machst dich schmutzig. Lauf nicht, denn mir tut der Kopf weh!" (Und doch gestatten wir den Kindern grundsätzlich das Laufen: es ist die einzige Lebensäußerung, die wir zulassen.) Diese ganze monströse Maschine ist Jahr für Jahr in Tätigkeit, um den Willen zu zerstören, die Energie zu zermahlen und die Lebenskraft des Kindes in Rauch aufgehen zu lassen. Um der Zukunft willen wird gering geachtet, was es heute erfreut, traurig macht, in Erstaunen versetzt, ärgert und interessiert. Für dieses Morgen, das es weder versteht, noch zu verstehen braucht, betrügt man es um viele Lebensjahre. ״Kinder und Fische haben keine Stimme. — Du hast Zeit, warte, bis du groß wirst. — Oho, hast ja lange Hosen an, du hast ja schon eine Uhr. Laß mal sehen, dir wächst ja schon der Bart." Und das Kind denkt: ״Ich bin nichts — aber was sind die Erwachsenen! Nun bin ich schon ein bißchen älter und immer noch nichts. Wieviel Jahre soll ich noch warten? Wenn ich nur erst erwachsen w äre. . ." Es wartet und lebt so vor sich hin, es wartet und kann nicht frei atmen, es wartet und erwartet etwas, es wartet und schluckt seinen Speichel herunter. Die schöne Kindheit — nein, 45
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sie ist nur langweilig; und wenn es ein paar schöne Augenblicke gibt, dann sind sie ertrotzt und öfter noch erlistet. K e in W o r t v o m a llg e m e in e n U n te rric h t , v o n D o rfsc h u le n , v o n G a r te n s tä d te n , v o n d en P fa d fin d ern . D a s w a r a lles noch so u n w irk lic h u n d h o ffn u n g slo s fe rn . Ein Buch le b t d a v o n , in w elch en K a te g o rie n v o n E rleb n isse n u n d E rfa h ru n g en d e r A u to r s id i b e w e g t , w ie se in g e is tig e r Bereich u n d se in e W e r k s ta t t a u sseh en u n d w ie d e r N ä h rb o d e n se in e s G e is te s b e s d ia ffen ist. D e sh a lb sto ß e n w i r so o ft a u f d ie n a iv e n A n sic h te n v o n A u to r itä te n , d ie u n s ü b e rd ie s fr e m d sin d .
41. Also sollte man alles erlauben? Durchaus nicht: Wir würden aus einem sich langweilenden Sklaven nur einen blasierten Tyrannen machen. Durch Verbote stärken wir immerhin seinen Willen, wenn auch nur in der Selbstbeherrschung und Entsagung, wir entwickeln seine Phantasie, auf engem Raume tätig zu sein, seine Fähigkeit, sich einer Kontrolle zu entziehen; und wir wecken seine Fähigkeiten zur Kritik. Auch das hat seinen Wert als eine — allerdings einseitige — Vorbereitung für das Leben. Geben wir acht, daß wir, indem wir alles erlauben, nicht um so nachdrücklicher die Willenskraft drosseln, je mehr wir den Gelüsten nachgeben. Hier schwächen wir den Willen, dort vergiften wir ihn. Damit ist es nicht getan, mit diesem: ״Mach, was du willst" und dem ״Ich tu, ich kaufe, ich gebe dir alles, was du magst, aber fordere nur das, was ich dir geben, kaufen und für dich tun kann. Ich zahle, damit du selbst nichts unternimmst, ich zahle, damit du mir gehorchst." ״Wenn du das Kotelette ißt, kauft dir die Mama ein Büchlein. Geh nicht hinaus, dann geb ich dir auch Schokolade." Das kindliche ״Gib her", und sogar die nur wortlos ausgestreckte Hand müssen auf unser ״Nein" stoßen; und von diesem ersten ״Du bekommst es nicht", ״das kann man nicht", ״das ist verboten" hängt ein sehr großes Stück Erziehung ab. Die Mutter will diese Frage beiseiteschieben; sie möchte das alles — bequem und schwachherzig — lieber auf die lange Bank schieben, auf später vertagen. Sie möchte nicht wahrhaben, daß sich in der Erziehung der tragische Zusammenstoß von unbilligen, nicht realisierbaren und unreifen Wünschen 46
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mit einem auf Erfahrung beruhenden Verbot nicht vermeiden läßt; und ebensowenig kann der noch weit tragischere Zusammenprall von zwei verschiedenen Wünschen, von zwei Rechten auf einem gemeinsamen Aktionsfeld vermieden werden. Das Kind möchte eine brennende Kerze in den Mund nehmen — ich darf das nicht zulassen, es will ein Messer haben —, ich fürchte, es könnte sich verletzen, es streckt die Hände nach einer Vase aus, um die es mir leid wäre, es möchte mit mir Ball spielen — aber ich will ein Buch lesen. Wir müssen die Grenzen seiner und meiner Rechte abstecken. Das Kleine langt nach einem Glas, die Mutter küßt die ausgestreckte Hand. Das nützt nichts, sie gibt ihm die Klapper. Und als auch das nicht weiterhilft, läßt sie das verführerische Objekt verschwinden. Wenn nun das Kleine die Hand wegzieht, die Klapper fortwirft, mit seinen Blicken nach dem versteckten Gegenstände sucht und die Mutter ärgerlich ansieht, dann frage ich mich, wer nun recht hat: die Mutter, die ihr Kind überlistet, oder das Kind, das ihr trotzt? Wer die Frage von Verboten und Geboten nicht gründlich durchdenkt, solange es nur wenige sind, ist verloren, sobald ihre Zahl größer wird. 42. Jędrek (Andreas), das Dorfkind, kann schon laufen. Es hält sich am Türrahmen fest und steigt vorsichtig über die Schwelle aus dem Zimmer in den Hausflur. Von dort krabbelt es auf allen vieren über zwei Steinstufen ins Freie. Vor der Hütte begegnet ihm die Katze: sie starren einander ein Weilchen an und wenden sich dann wieder ab. Jędrek stolpert über eine kleine Unebenheit, hält inne, schaut sich um. Er findet ein Stöckchen, hockt sich hin und stochert im Sand herum. Da liegt ein Stück Kartoffelschale, er steckt es zwischen die Zähne, verzieht das Mäulchen, spuckt und wirft das erdige Zeug fort. Wieder auf seinen Beinen, stößt er im Laufen mit dem Hund zusammen, der ihn rücksichtslos umwirft. Schon will er losheulen, aber nein: da fällt ihm etwas ein, und er schluchzt bloß. Die Mutter geht Wasser holen; er hält sich an ihrem Rock fest und läuft nun schon sicherer. Ein paar ältere Kinder mit einem Wägelchen; er guckt: sie jagen ihn weg, er bleibt abseits stehen und schaut wieder hin. Zwei Hähne 47 © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525315101 — ISBN E-Book: 9783647315102
kämpfen miteinander, er schaut zu: Die Kinder setzen ihn in das Wägelchen, ziehen los und werfen es um. Die Mutter ruft. Das ist die erste halbe Stunde von den insgesamt sechzehn Stunden des Tages. Niemand sagt ihm, daß er ein Kind ist; er fühlt selbst, was über seine Kräfte geht. Niemand sagt ihm, daß die Katze kratzt und daß er die Stufen noch nicht aufrecht hinabsteigen kann. Niemand erklärt ihm sein Verhältnis zu älteren Kindem. ״Je größer Jędrek wurde, desto weiter führten ihn seine Streifzüge von der Hütte weg7' (Witkiewicz)l. Er irrt sich, macht oft Fehler; die Folge: eine Beule, eine noch größere Beule, eine Wunde. Es ist nun nicht etwa so, daß ich es gutheiße, ein Übermaß an Fürsorge durch einen gänzlichen Mangel an Aufsicht zu ersetzen. Ich weise nur darauf hin, daß ein Einjähriges vom Lande bereits lebt, während bei uns erst der herangereifte Jüngling zu leben beginnt. Aber wann denn, um Gottes Willen, ist er soweit? 43. Bronek möchte die Tür öffnen. Er rückt einen Stuhl heran. Er bleibt stehen und ruht sich aus, bittet aber nicht um Hilfe. Der Stuhl ist schwer, er hat sich sehr geplagt. Jetzt zerrt er abwechselnd an dem einen und dann wieder an dem anderen Stuhlbein. Das geht langsamer, ist aber leichter. Schon steht der Stuhl ganz nahe an der Tür, Bronek meint, nun wird er die Türklinke packen können, er krabbelt rauf und steht. Ich halte ihn am Kittelchen fest. Er schwankt unsicher, erschrickt, steigt herunter, schiebt den Stuhl ganz dicht an die Tür, aber seitlich von der Türklinke. Der zweite mißlungene Versuch. Keine Spur von Ungeduld. Er müht sich weiter ab, nur die Ruhepausen sind länger. Zum drittenmal klettert Bronek hinauf; ein Bein hoch, ein Handgriff, und, auf sein abgewinkeltes Knie gestützt, versucht er, das Gleichgewicht zu halten; eine neue Anstregung, die Hand umklammert die Kante, er liegt auf dem Bauch; wieder eine Pause, er wirft den Körper vor, kniet, verfängt sich mit den Beinen in seinem Kittelchen und steht wieder. Wie arm sind diese Liliputs im 1 Zitat aus der Novellensammlung ״Aus der Tatra" von Stanislaw Witkiewicz (1851—1915). 48
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Lande der Riesen. Immer hoch den Kopf, um etwas zu sehen. Das Fenster irgendwo, ganz da oben, wie im Gefängnis. Um sich auf einen Stuhl zu setzen, muß man ein Akrobat sein. Alle Muskelkraft und die ganze Intelligenz müssen aufgeboten werden, um endlich die Türklinke packen zu können. Nun ist die Tür offen — er seufzt tief. Dieses tiefe Aufseufzen der Erleichterung beobachten wir schon bei Kleinkindem nach jeder Willensanstrengung und nach anhaltender Konzentration. Wenn du ein spannendes Märchen beendet hast, seufzt das Kind ebenso auf. Es geht nur darum, dies richtig zu verstehen. Ein solch tiefes, einmaliges Aufseufzen zeigt an, daß das Atmen zuvor verlangsamt, flach und nicht ausreichend war. Das Kind guckt mit angehaltenem Atem, wartet, beobachtet, strengt sich an, bis der Sauerstoffvorrat erschöpft ist und im Gewebe Vergiftungserscheinungen auftreten. Der Organismus alarmiert unverzüglich das Atemzentrum; ein tiefer Seufzer folgt, der das Gleichgewicht wiederherstellt. Wenn ihr die Freude des Kindes und seinen Eifer zu deuten versteht, dann kann euch nicht verborgen bleiben, daß das Vergnügen über eine bezwungene Schwierigkeit, ein erreichtes Ziel, ein entdecktes Geheimnis die größte Freude darstellen, die Freude des Triumphes und das Glücksgefühl der Selbständigkeit, der Beherrschung der Umwelt und des Umgangs mit den Dingen. ״Wo ist die Mama? Sie ist nicht mehr da! Nun, such sie doch!" Es hat sie gefunden. Warum freut es sich so? ״Lauf weg, Mama hascht dich! O je, sie kann dich nicht fangen!" Ach, wie ist es glücklich! Warum nur? Warum will es plötzlich auf allen vieren kriechen oder allein gehen und reißt sich los? Eine Szene, wie man sie jeden Tag beobachten kann: es tappelt, strebt weg von dem Kindermädchen, bemerkt, daß sie hinter ihm herläuft; es läuft also weg, verliert das Gefühl für die Gefahr und läuft blindlings in einem überschäumenden Freiheitsgefühl davon — oder es legt sich so lang wie es ist auf die Erde, oder es reißt sich, endlich eingefangen, wieder los, stößt mit den Füßen und brüllt. 49
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Ihr werdet sagen: ein Übermaß an Energie; das wäre die physiologische Seite, aber ich suche nach dem psychophysiologischen Faktor. Ich frage, warum will es beim Trinken das Glas selbst halten, während die Mutter das Glas nicht einmal berühren darf; warum will es nicht mehr essen, ißt aber gleich weiter, wenn man ihm erlaubt, den Löffel selbst zu halten? Warum bläst es fröhlich ein Streichholz aus, schleppt Vaters Pantoffeln herbei, bringt der Großmutter den Fußschemel? Ist das bloßer Nachahmungstrieb? Nein, es ist viel mehr, das ist etwas sehr Kostbares. ״Ich allein!" — ruft es tausendmal mit Gebärden und Blikken, mit seinem Lachen und seinem Flehen, zornig und unter Tränen. 44. ״Kannst du die Tür allein aufmachen?" fragte ich einen kleinen Patienten, dessen Mutter mir zuvor gesagt hatte, daß er sich vor Ärzten fürchte. ״Sogar im Klosett" — antwortete er schnell. Ich mußte lachen. Der Bub schämte sich, aber ich schämte mich noch mehr. Ich hatte ihm das Bekenntnis eines heimlichen Triumphes entlockt und ihn dann ausgelacht. Es läßt sich unschwer ahnen, daß es eine Zeit gegeben hatte, da er schon alle Türen öffnen konnte, die Toilettentür seinen Anstrengungen jedoch noch widerstand und darum das Ziel seines Ehrgeizes war; darin ähnelte er einem jungen Chirurgen, der von der Durchführung einer schwierigen Operation träumt. Er hatte sich keinem Menschen anvertraut, denn er wußte, daß er bei der Umwelt kein Verständnis für die Dinge seiner Innenwelt erwarten konnte. Vielleicht hatte man ihn manchmal hart angefahren oder mit einer mißtrauischen Frage zurückgewiesen. ״Warum drückst du dich da herum, was machst du dir ständig da zu schaffen? Laß das, du richtest nur Schaden an. Geh sofort ins Zimmer!" So hatte er also heimlich und verstohlen herumprobiert, bis die Tür endlich offen war. 50 © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525315101 — ISBN E-Book: 9783647315102
Habt ihr schon einmal darauf geachtet, wie oft ein Kind, wenn im Vorflur die Klingel geht, bittend ruft: ״Ich mach' schon auf!"? Zum einen ist das Schnappschloß der Eingangstür nicht ganz leicht zu öffnen, und zum anderen ist es das Gefühl, daß dort vor der Tür ein Erwachsener steht, der sich nicht zu helfen weiß und darauf wartet, daß er — der Kleine — ־ihm hilft. Solche kleinen Triumphe feiert ein Kind, das schon von weiten Reisen träumt und sich in seinen Träumen in die Rolle des Robinson auf einer menschenleeren Insel hineinversetzt; und in Wirklichkeit doch schon glücklich ist, wenn man ihm nur erlaubt, aus dem Fenster zu schauen. ״Kannst du schon selbst auf einen Stuhl steigen? ־־־־Kannst du auf einem Bein hüpfen? Kannst du mit der linken Hand einen Ball auffangen?" Und das Kind vergißt, daß es mich nicht kennt, daß ich ihm in den Hals schauen und ihm Arznei verschreiben werde. Ich spreche von Dingen, die stärker sind als das Gefühl der Verlegenheit, der Angst, der Unlust, und so antwortet es frohlieh: ״Das kann ich." Habt ihr schon einmal gesehen, wie ein kleines Kind lange, geduldig, mit unbewegtem Gesicht, halboffenem Mund und gesammeltem Blick seine Strümpfe oder die Pantoffeln anzieht und wieder abstreift? Das ist weder gedankenlose Spielerei noch bloße Nachahmung, sondern Arbeit. Welche Nahrung werdet ihr seinem Willen bieten, wenn es drei, fünf, zehn Jahre alt ist? 45. Ich!
Wenn ein Neugeborenes sich mit dem eigenen Fingernagel kratzt; wenn ein Kleinkind im Sitzen sein Beinchen zum Mund führt, sich überschlägt und ärgerlich ringsherum nach dem Schuldigen sucht; wenn es sich an den Haaren zieht, vor Schmerz das Gesicht verzieht, aber den Versuch wiederholt; wenn es sich mit dem Löffel auf den Kopf schlägt, nach oben guckt, was es denn dort gibt, was es nicht wahrnimmt, aber doch fühlt — dann kennt es sich noch nicht. 51
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Wenn es die Bewegungen seiner Hände untersucht; wenn es an seinen geballten Händchen lutscht und sie aufmerksam betrachtet; wenn es an der Brust plötzlich zu saugen auf hört und sein Bein