Wie ein Landtag laufen lernte: Erinnerungen eines westdeutschen Aufbauhelfers in Thüringen 9783412212834, 9783412204686


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German Pages [244] Year 2010

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Wie ein Landtag laufen lernte: Erinnerungen eines westdeutschen Aufbauhelfers in Thüringen
 9783412212834, 9783412204686

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Joachim Linck Wie ein Landtag laufen lernte

Joachim Linck

Wie ein Landtag laufen lernte Erinnerungen eines westdeutschen Aufbauhelfers in Thüringen

2010 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Der Gebäudekomplex des Thüringer Landtags in Erfurt. © Thüringer Landtag © 2010 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Finidr s.r.o., Český TěŠín Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the Czech Republic ISBN 978-3-412-20468-6

Für Inge, die mir in Vielem eine große Hilfe war

Inhalt Vorwort........................................................................................................... Einleitung........................................................................................................ 1. Der Fall der Mauer – und der Entschluss zur Aufbauhilfe................... 2. Der Neubeginn........................................................................................

Erste Initiativen zum Aufbau Ost durch den Politisch Beratenden Ausschuss . ....... Organisation der Aufbauhilfe aus dem Westen........................................................

3. Abgeordnet nach Thüringen – Aufbauhelfer für den „Ressortbeauftragten Landtag“............................................................. 4. Anreise mit Hindernissen – und der Konflikt der Wessis um die Federführung der Aufbauhilfe............................................................... 5. Die Wohnungsmisere – Vom „Jugendtouristhotel Völkerfreundschaft“ über die Mietwohnung zum eigenen Haus ohne die Gunst der Modrow-Gesetze................................................... 6. An die Arbeit – Ein Gebäude für den Landtag wird gesucht, gefunden und ausgestattet................................................................... 7. Vielfältige Probleme um die Einstellung und Besoldung des Personals..................................................................................................







Die schwierige Rekrutierung für die Landtagsverwaltung........................................ Probleme mit dem Personal der Fraktionen............................................................ Stasi-Überprüfung – Das „Gaucken“ des Personals................................................. Schulung des Personals – Von der Kreisklasse in die Bundesliga.............................. Besoldung und Finanzierung ................................................................................. Die Abzocker – Buschzulage und Trennungsgeld....................................................

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8. Erste grundlegende Rechtsvorschriften – Ihre Vorbereitung und informelle politische Abstimmung vor der konstituierenden Sitzung....................................................................... 118 Normative Vorgaben der demokratischen Volkskammer für die . Parlamente der neuen Länder................................................................................. Vorbereitung der ersten Verfassung – Die „Vorläufige Landessatzung“ ................... Vorbereitung der „Vorläufigen Geschäftsordnung des Landtags“............................. Vorklärungen im Vorfeld der konstituierenden Sitzung...........................................

118 119 126 128 9. Die konstituierende Sitzung und deren Vorbereitung........................ 131 Konstituierung auf geschichtsträchtigem Boden – Im Deutschen . Nationaltheater Weimar.......................................................................................... 131 Probleme bei der Vorbereitung – Die Fahne, das Buffet, die . musikalische Umrahmung...................................................................................... 136 Der Ablauf der Sitzung........................................................................................... 144

10. Startprobleme bei der praktischen Einführung der parlamentarischen Demokratie................................................................... 149



Fehlende Erfahrung und unterentwickeltes Bewusstsein zum . Parlamentarismus.................................................................................................... 149

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Inhalt

Unkenntnis von parlamentarischen Verfahrensabläufen.......................................... 152 Der Petitionsausschuss und das Eingabewesen der DDR ....................................... 157

11. Parlamentarischer Blitzstart ................................................................. 160 Ein fleißiger Landtag, wenn auch – unvermeidbar – als Plagiator............................ 160 Die Verabschiedung der Vorläufigen Geschäftsordnung.......................................... 161



Beratung, Verabschiedung und Verkündung der Vorläufigen . Landessatzung......................................................................................................... Bildung der ersten Regierung und deren Umbildung nach einer . schweren Regierungskrise........................................................................................ Die jährliche Anpassung der Abgeordnetendiäten – Eine thüringische . Innovation mit Vorbildcharakter............................................................................. Demonstrationen vor dem Thüringer Landtag und das Bannmeilengesetz..............

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12. Demonstrationen und Störungen in und vor dem Thüringer Landtag..................................................................................................... 182 Nächtliche „Besetzung“ des Landtags...................................................................... 182 Die PDS-Fraktion feiert den Nationalfeiertag der DDR......................................... 183 Missbrauch des Landtags als parteipolitische Litfasssäule........................................ 186

Thesenanschlag von Bündnis 90/Die Grünen im Gewand Martin Luthers . und Katharina von Boras am Hauptportal des Thüringer Landtags......................... 190 Nonverbale Demonstrationen im Plenum des Thüringer Landtags: . PDS-Abgeordnete gegen den Irakkrieg................................................................... 192 Der Landtagsdirektor als Zielscheibe der PDS-Fraktion.......................................... 193

13. Die Stasi-Überprüfung der Abgeordneten des Thüringer Landtags..... 197 14. Die endgültige Verfassung des Freistaats Thüringen und ihre feierliche Verabschiedung auf der Wartburg....................................... 200 Die Verfassungsberatungen..................................................................................... 200 Spezifika der Thüringer Verfassung......................................................................... 201

Geschichten um die feierliche Verabschiedung der Verfassung auf der . Wartburg................................................................................................................ 203

15. Die Entwicklung des Parlamentarismus und der Aufbauhilfe – Eine Bilanz................................................................................................ 213 Das durch die Regierung dominierte Fraktionenparlament..................................... 213 Ein Parlament von Berufsabgeordneten.................................................................. 214 Geheime Wahlen als eherne Regel........................................................................... 217 Parlamentarische Unkultur bei Ausschussüberweisungen........................................ 218 Die politische Kultur im Thüringer Landtag........................................................... 219

Entwicklungstendenzen im parlamentarischen Bewusstsein und Verhalten. von Abgeordneten................................................................................................... 223 Entwicklungstendenzen in Amtsverständnis und Leistungsniveau. beim Verwaltungspersonal...................................................................................... 224

16. Eine persönliche Bilanz........................................................................... 228 Anmerkungen................................................................................................. 235 Personenregister............................................................................................ 241 Bildnachweis................................................................................................... 243

Vorwort Über die außenpolitische Vorgeschichte und den innerdeutschen Prozess zur Wiedervereinigung Deutschlands sind sowohl aus politischer, zeitgeschichtlicher, politologischer als auch staatsrechtlicher Sicht schon zahlreiche Abhandlungen erschienen. Was jedoch weitgehend fehlt, sind ausführliche authentische Beschreibungen von westdeutschen Aufbauhelfern, welche, mit viel Insiderwissen ausgestattet, am Aufbau neuer staatlicher Strukturen und Kodifikationen für ein parlamentarisches, rechtsstaatliches Regierungssystem konkret und hautnah an führender Stelle mitgewirkt haben und dabei auch auf symptomatische Geschichten im dienstlichen und privaten Bereich eingegangen sind, die sich um die Aufbauhilfe rankten.1 In diesem Buch werden daher diese dienstlichen und privaten Erlebnisse eines westdeutschen Aufbauhelfers erzählt. Seine Aufgabe bestand darin, in einer ostdeutschen Landeshauptstadt ein Verfassungsorgan, nämlich ein Landesparlament mit dessen Verwaltung tatsächlich aus dem Nichts heraus aus dem Boden zu stampfen und zum Laufen zu bringen – und zwar ohne Blaupause und unter einem enormen Zeitdruck. Denn niemand war auf die Wiedervereinigung wirklich vorbereitet – auch nicht die Bundesregierung. Helmut Kohl hat in seinen Erinnerungen eingestanden: „Wir hatten keinen Masterplan für die deutsche Einheit.“2 Ebenso hat Richard von Weizsäcker festgestellt: „In Wirklichkeit war ja niemand auf der Welt – vor allem auch die Deutschen selbst nicht – politisch auf diesen Tag vorbereitet.“3 Und der erste Ministerpräsident der DDR der Nachwendezeit, Lothar de Maizière, lästert so treffend voller Ironie: „Das Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen“ wäre besser ein „Bundesministerium für Gesamtdeutsche Antworten“4 gewesen. Die Geschichte der hier beschriebenen Aufbauleistung und die Geschichten um diese Aufgabe ranken sich zwar um den Thüringer Landtag in Erfurt. Diese spezielle Aufbauhilfe steht jedoch in vielerlei Hinsicht beispielhaft für die Aufbauhilfe von ca. 35.000 westdeutschen Verwaltungshelfern,5 die sich in staatliche und kommunale Verwaltungen oder auch in sonstige öffentliche Einrichtungen, z.B. der Telekom oder der Bundesversicherungsanstalt, eingebracht hatten. Aber nicht nur sie, auch mancher Helfer aus der Privatwirtschaft wird sich beim Lesen dieses Buches an eigene, ähnlich gelagerte Erlebnisse erinnern. Entscheidungen in der Aufbauphase liefen oft ohne große Vorbereitungen in wenig geordneten Bahnen, manches Mal geradezu chaotisch und zumeist ohne die übliche bürokratische Dokumentation ab, auf die sich Historiker bei einer späteren Geschichtsschreibung über einzelne Phasen der konkreten Verwirklichung der Wiedervereinigung hätten stützen können. Es ist daher auch für die Geschichtsschreibung von Wert, dass sich Zeitzeugen noch rechtzeitig erinnern und das Geschehene dokumentieren; insofern bemüht sich dieses Buch auch, einen Beitrag zur „Oral History“ zu liefern. Das ist der Grund, warum an einigen Stellen auf Details eingegangen wird, die mehr an den wissenschaftlich arbeitenden Historiker oder Politologen und weniger

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Vorwort

an den politisch interessierten Leser gerichtet sind. Letztere bitte ich dafür um Verständnis, aber es gibt ja schließlich die Möglichkeit, z.B. über juristische oder historische Details hinwegzulesen. Darüber hinaus möchte dieses Buch allen westdeutschen Aufbauhelfern, die nicht als raffgierige Heuschrecken und Absahner in die neuen Länder ein- und über die Ossis herfielen, sowie allen an dieser Aufbauhilfe beteiligten Ossis, die ebenfalls in patriotischer Pflichterfüllung und mit hehrem Amts- bzw. Berufsethos ihre Aufgaben unter oft schwierigsten Bedingungen gemeinwohlorientiert wahrgenommen haben, auch ein – sicherlich nur bescheidenes – Denkmal setzen. Nimmt man die Aufbauhilfe insgesamt in den Blick, so müsste man der deutschen Verwaltung für diese nach Anlass, Qualität und Umfang einzigartigen Leistungen sogar ein riesiges Denkmal setzen, selbst wenn im Einzelfall – wie könnte das auch anders sein – manches schief gelaufen ist. Denn leider lagen über der personellen Aufbauhilfe auch dunkle Schatten und insoweit hat dieses Denkmal manch einen hässlichen Sprung. Nicht alle westdeutschen Aufbauhelfer strömten mit glühendem Enthusiasmus und aufgekrempelten Ärmeln uneigennützig an die Arbeit. Viele mussten erst durch finanzielle Anreize dazu motiviert werden. Die „Buschzulage“ steht dafür als trauriger Beweis und beschämendes Beispiel. Manche westdeutschen Verwaltungen entsorgten sogar unfähige oder missliebige Mitarbeiter in den Osten. Die Aufbauhelfer sollen also in diesem Buch keinesfalls durchgehend glorifiziert werden. Es gab nicht nur einige wenige schwarze Schafe, sondern davon gab es ganze Herden, wenn auch gottlob nur kleine. Die „Buschzulage“ war bei weitem nicht das einzige Skandalon. Hier werden einige weitere Skandale in Erinnerung gerufen oder neu aufgedeckt. In deren Mittelpunkt standen nicht nur Politiker oder Verwaltungshelfer aus dem Westen, auch Ossis haben heftig mitgemischt. Ich zähle mich zu denjenigen Aufbauhelfern, die weder finanzielle Köder noch dienstliche Marschbefehle benötigten, sondern denen die Aufgabe Anreiz genug war. Hinzu kam bei mir eine stark geprägte Motivation durch vielfältige, enge familiäre und freundschaftliche Bindungen nach „drüben“, die trotz deutscher Teilung all die Jahre hindurch eng geblieben sind und lebhaft gepflegt wurden. Die auf diesen persönlichen Kontakten beruhenden jahrelangen konkreten Erfahrungen mit der DDR und den dort lebenden Menschen verhalfen mir im Übrigen auch dazu, als Aufbauhelfer nach der Wiedervereinigung nicht in eine fremde Welt einzutreten, sondern vielen Problemen mit einer großen Portion realistischer Nüchternheit zu begegnen. Darüber hinaus widme ich dieses Buch auch ganz speziell meinen thüringischen Freunden sowie den ehemaligen Präsidenten und Ost-Kollegen im Thüringer Landtag. Wir waren ein Team ohne besondere Ossi-Wessi-Probleme. Dass meine Frau und ich auch nach unserem Ruhestand in Thüringen geblieben sind, ist der zwingende Beweis dafür, dass inzwischen zwar nicht alle Vorbehalte und Differenzen abgebaut sind, aber doch ein hohes Maß an Normalität zwischen „Ossis“ und „Wessis“ eingezogen ist. Das spüre ich insbesondere bei meiner Arbeit als Honorarprofessor mit

Vorwort 

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den Studenten der neuen Generation an der Universität Jena, die sich zur Zeit der Wende noch im Säuglingsalter befanden oder noch gar nicht geboren waren. Für sie sind manche hier geschilderten Ossi-Wessi-Konflikte historische Relikte aus grauer Vorzeit. Das Themenspektrum dieses Rückblicks ist relativ breit. Die Aufbauhilfe für den Thüringer Landtag bezog sich zwar auch auf die Errichtung einer Verwaltung mit exekutiven 08/15-Aufgaben. Eine Parlamentsverwaltung unterscheidet sich jedoch von den üblichen Verwaltungen grundlegend. Ihr obliegt eine sehr spezielle Service- und Beratungsfunktion gegenüber allen Fraktionen und Abgeordneten bei der Wahrnehmung ihrer vielfältigen parlamentarischen Aufgaben. Die hier beschriebene Aufbauhilfe hatte darüber hinaus ein weitergehendes, äußerst ambitioniertes Ziel: den Aufbau einer parlamentarischen Demokratie in einem der neuen Länder. Dazu mussten nicht nur die faktischen, organisatorischen und strukturellen Voraussetzungen für die parlamentarische Arbeit geschaffen werden, sondern auch die verfassungs- und parlamentsrechtlichen Grundlagen. Schließlich stellte sich die äußerst schwierige Aufgabe, das erforderliche Verständnis für ein parlamentarisches Regierungssystem sowie seine Abläufe und inneren Gesetzmäßigkeiten zu entwickeln.

Einleitung Die Aufbauhilfe des Bundes und der alten Länder zugunsten der neuen Länder sollte auf der Grundlage von Artikel 15 Absatz 2 des Einigungsvertrages dazu beitragen, den mit der Wiedervereinigung verbundenen Systemwechsel zu befördern. Es war eine Aufgabe, die ob ihrer Komplexität, ihres Umfangs und des damit verbundenen Einsatzes an finanziellen, sachlichen und personellen Ressourcen nicht nur in der deutschen Geschichte ihresgleichen sucht. Auch die europäischen Hilfen für den Transformationsprozess in sämtlichen ehemals kommunistischen Ostblockstaaten erreichten nicht annähernd die deutschen Dimensionen. Für jeden daran beteiligten Aufbauhelfer war das – zumindest potentiell – die größte berufliche Chance und Herausforderung seines Lebens. Man besaß ein hohes Maß an Initiativmöglichkeiten und Gestaltungsfreiheit, ohne durch die unsägliche Bürokratenmaxime „das haben wir schon immer so gemacht, da könnte ja jeder kommen“ gegängelt zu werden. Man konnte voller Befriedigung auf den sichtbaren Erfolg seiner Arbeit blicken und stolz sein, am Prozess der Wiedervereinigung aktiv beteiligt gewesen zu sein. Welcher Verwaltungsbeamte konnte sich eine faszinierendere Aufgabe wünschen? Es galt, von einem Tag auf den anderen aus dem Stand heraus, ohne jede Vorbereitung auf den bröckeligen Fundamenten der staatlichen Konkursmasse DDR neue demokratische und rechtsstaatliche Strukturen aufzubauen. Nur bei reinen Fachverwaltungen gab es bereits fachlich solide Fundamente, die allerdings mehr das Personal als die Unterbringung und sächliche Ausstattung der Behörden betrafen. Das Kören von Pferden oder anderen für die Zucht bestimmten Haustieren erfolgte eben in Ost wie West nach denselben Kriterien und mit demselben Fachwissen. Mir war schon sehr früh bewusst, dass die vielfältigen persönlichen und fachlichen Erfahrungen und Erlebnisse eines Aufbauhelfers festgehalten werden müssten. Daher sah ich mit Beginn meiner Zeit als Aufbauhelfer die Notwendigkeit, die täglichen Erlebnisse wenigstens in Stichpunkten auf Tonbändern oder Zetteln im Gedächtnis zu bewahren. Doch die extreme, schon allein zeitliche Arbeitsbelastung von täglich morgens 7.00 Uhr bis abends 22.30 Uhr (ab 22.45 Uhr schloss die Küche in meinem „Jugendtouristhotel Völkerfreundschaft“), die sich anschließend noch oft genug bis nach Mitternacht hinauszog, ließ derartige Nebenbeschäftigungen einfach nicht zu. An dieser Ausnahmesituation sollte sich in der gesamten ersten Legislaturperiode des Thüringer Landtags kaum etwas ändern. Insoweit hat sich die Prophezeiung des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl von den in kurzer Frist realisierbaren „blühenden Landschaften“ auch beim Aufbau der neuen staatlichen Strukturen als Illusion erwiesen. Die hier niedergeschriebenen Erlebnisse stützen sich daher auf die eigenen, nach der Pensionierung aus dem Gedächtnis zusammengeklaubten Erinnerungen und die Einsicht in Akten der Landtage, Staatskanzleien, Ministerien und der Hauptarchive

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Einleitung

der Länder Thüringen, Hessen, Rheinland-Pfalz. Für die Kooperation sei allen genannten Institutionen vielmals gedankt, insbesondere den ehemaligen Kolleginnen und Kollegen im Archiv und in der Bibliothek des Thüringer Landtags. Alle Bemühungen um eine Einsichtnahme in die Akten der Clearingstelle von Bund und Ländern, auf deren Bedeutung noch später eingegangen wird, schlugen bis zur Erstellung des Manuskripts leider fehl. Das zuständige Bundesinnenministerium hielt es nicht einmal für nötig, auf mehrere Anfragen und Mahnungen auch nur mit einer Zeile zu reagieren. Ein beispielloser Vorgang, der nach meinen Informationen bei Anfragen um Akteneinsicht durchaus kein Einzelfall, sondern leider die Regel sein soll. Die Aktenlage ist allerdings für die Aufbauphase vor der Amtsübernahme des am 3. September 1990 von dem Landesbevollmächtigten Josef Duchač eingesetzten Aufbaustabs für den Thüringer Landtag, also insbesondere für die allererste Aufbauhilfe durch den Hessischen Landtag und die Aktivitäten des Politisch Beratenden Ausschusses (PBA), sehr dünn und lückenhaft. Zur Aufbauhilfe des Hessischen Landtags soll es zwar in der Hessischen Landtagsverwaltung einen Ordner gegeben haben, der aber inzwischen verschwunden sei. Ein Gerücht lautet, ein potentieller literarischer Zeitzeuge habe an diesem Ordner ein seine Exklusivität sicherndes Interesse gehabt. Zur Arbeit des PBA gibt es keine Akten im Hauptarchiv des Freistaats Thüringen, wohin inzwischen nach dem Archivgesetz alle die in der Staatskanzlei oder in sonstigen Behörden zur Wendezeit angefallenen Akten gelangt und dort archiviert sein müssten. Beim PBA und dessen Mitgliedern gab es offensichtlich keinerlei Gespür dafür, dass ihre Arbeit als eine – wenn auch sehr spezielle – Art von öffentlichem Handeln zu qualifizieren war. Dementsprechend behandelte man die im PBA anfallenden Papiere so, als stünden sie im Privateigentum von dessen Mitgliedern. Die Unterlagen wurden daher zum Teil privat aufgehoben, oder sie wurden einfach vernichtet. Nachdem mir das bekannt wurde, sah ich die große Gefahr, dass die erste informelle Aufbauphase unter der Regie des PBA wegen fehlenden Archivmaterials schon bald nicht mehr aufgearbeitet werden und für die Nachwelt in Vergessenheit geraten könnte. Ich bemühte mich daher, wenigstens die für den Aufbau des Landtags relevanten Unterlagen für die Historiker zu sichern. Meine erste Kontaktaufnahme galt dem ersten Geschäftsführer der NachwendeCDU, Hans-Georg Rosenstock, weil ich annahm, mein gleichfarbiges Parteibuch würde meinem Anliegen förderlich sein und Türen öffnen. So war es denn auch. Ich traf auf einen sehr freundlichen, hilfsbereiten Menschen. Er lud mich in die Geschäftsstelle des CDU-Landesverbandes ein, die in der Bezirksgeschäftsstelle der Ost-CDU in Erfurt in der Heinrich-Mann-Straße residierte, um zu recherchieren. Dort verwies er mich auf einen ca. 1,50 Meter hohen Stapel von völlig ungeordneten Papieren in einer Zimmerecke mit folgender Bemerkung: „In diesem Stapel müssten Sie fündig werden. Suchen Sie sich raus, was Sie brauchen.“ Ich fand tatsächlich eine ganze Reihe von Unterlagen, so zum Beispiel Einladungen und insbesondere Vorlagen und Protokolle, die den PBA betrafen. Ich nahm sie an mich mit dem stolzen Gefühl, späteren historischen Forschungen einen guten Dienst erwiesen zu haben.

Einleitung 

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Parallel dazu hatte ich unseren damaligen Archivar, der zu „seinem“ Archiv eine geradezu innige Beziehung zu haben schien und eine hingebungsvolle Sammelleidenschaft besaß, gebeten, bei ehemaligen Mitgliedern des PBA ebenfalls nach Dokumenten des PBA zu forschen. Wir stießen mit unserem Anliegen zum Teil auf schroffe Ablehnung, jedenfalls nicht auf offene Kooperationsbereitschaft. Dabei spielte sicherlich eine Rolle, dass die teilweise sehr aufwendigen Vorbereitungen des PBA zum Aufbau des Landes Thüringen, insbesondere des Thüringer Landtags, nur zu einem geringen Teil in der späteren Aufbauphase aufgegriffen wurden und man daher der zweiten westdeutsch geprägten Generation von Aufbauhelfern nicht gerade wohlgesonnen gegenüberstand. Wir waren dann aber doch noch relativ erfolgreich. Der „Leiter der Arbeitsgruppe Koordination“, eine Art Geschäftsführer des PBA, Thomas Göpfarth, war noch im Besitz zahlreicher Unterlagen des PBA, die er uns im Original oder in Ablichtungen zur Verfügung stellte. So befinden sich wohl nur im Archiv des Thüringer Landtags Materialien, welche die Arbeit des PBA betreffen. Sie sind dort auch für die Öffentlichkeit und Wissenschaft zugänglich. Mein Beobachtungs-, Erlebnis- und Berichtszeitraum betrifft in erster Linie die „heiße“ Phase der Verwaltungshilfe. Sie begann für mich mit meiner Abordnung ab dem 24.9.1990, die ursprünglich bis zum 30.6.1991 befristet war, dann jedoch noch zweimal bis Ende 1994 verlängert wurde. Erfasst werden jedoch auch noch einige spätere signifikante Vorgänge, wenn sie noch der Aufbauphase zuzurechnen sind, zumal sich das tatsächliche Ende der Aufbauzeit sowieso nicht exakt bestimmen lässt. Ich erlebte diese Zeit zuerst ab dem 24.9.1990 als Verwaltungshelfer, doch übernahm ich zunehmend die Funktionen eines Landtagsdirektors neben dem am 1.11.1990 zum „Geschäftsführenden Direktor“ ernannten Eberhardt Ott, der nur für bauliche und technische Fragen zuständig war. Meine formelle Ernennung zum Landtagsdirektor erfolgte am 1.12.1992 und ich versah dieses Amt bis zu meiner Pensionierung am 30.8.2005. In der Einleitung muss noch abschließend etwas zu der in diesem Buch verwendeten Terminologie gesagt werden, die sich in drei Fällen nicht von selbst versteht und auch durchaus problematische Züge trägt. Es geht dabei um den Begriff „Wende“, das Begriffspaar „Ossis – Wessis“ sowie die Bezeichnung „Aufbauhelfer“. Zu dieser Wortwahl bedarf es einer besonderen Erklärung und Rechtfertigung, denn sie entspricht nach verbreiteter Auffassung nicht der „political correctness“. Dieser Sprachgebrauch wird sogar aus unterschiedlichen Gesichtspunkten von mancher Seite heftig angegriffen. Von einer „Wende“ sprach im Zusammenhang mit den Ereignissen in den Jahren 1989/1990 wohl als erster Egon Krenz in seiner Antrittsrede am 18.10.1989 als Nachfolger von Erich Honnecker in der Funktion des Generalsekretärs des ZK der SED. Er führte darin u.a. aus: „Mit der heutigen Tagung werden wir eine Wende einleiten, werden wir vor allem die politische und ideologische Offensive wiedererlangen.“ Zu dieser Art von Wende im Krenz’schen Sinne ist es – Gott sei Dank – nicht gekommen, vielmehr fand ein grundlegender Systemwechsel von einem kommunistischen Unrechtsregime zu einer freiheitlichen Demokratie statt.

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Einleitung

Die Kritik von Eppelmann und Grünbaum an der Verwendung des Begriffs der „Wende“ für den Systemwechsel 1989/90 ist in der Sache daher verständlich, wenn sie dazu ausführen: „Die Bezeichnung „Wende“ ist in jeder Hinsicht unhistorisch. Sie beschreibt die Vorgänge von 1989/90 nur unzulänglich und wird dem Geschehen und seinen Protagonisten nicht gerecht. Ihr Gebrauch deutet insofern darauf hin, dass die ostdeutsche Revolution fundamental missverständlich wird. Vor 15 Jahren wurde eine unnachgiebige Diktatur durch Massenproteste friedlich gestürzt, der Übergang zur Demokratie eingeleitet. Die Revolution mündete in Freiheit und Demokratie und dann in die nationale Einheit. Was 1989 und 1990 in Ostdeutschland geschah, war ein grundlegender Wandel der politischen Machtverhältnisse, getragen durch eine breite Volksbewegung. Das bedeutete einen radikalen Umsturz der bisherigen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Ordnung. Der Wandel war so tiefgreifend, dass das gegenwärtige System auf dem Gebiet Ostdeutschlands nichts mehr mit dem seines Vorgängers gemeinsam hat. Eine solche radikale Umwälzung – auch wenn sie weitgehend gewaltfrei ablief – muss man Revolution nennen.“1 Auch Ehrhart Neubert qualifiziert den Systemwechsel von 1989/90 als eine Revolution in seinem umfänglichen Werk über die Geschichte der Jahre 1989/90, dem er daher auch folgerichtig den Titel „Unsere Revolution“ gibt.2 Diese politischen Wertungen werden auch aus staatsrechtlicher Sicht gestützt. Mein verehrter akademischer Lehrer Prof. Dr. Helmut Quaritsch konstatiert mit strenger juristischer Prägnanz zutreffend: „Der Wechsel der Staatsform ist der Wechsel des Inhabers der Staatsgewalt und dieser Sachverhalt lässt sich ohne Parteinahme und Werturteile feststellen – wie es sich für einen juristischen Begriff gehört. Der Wechsel des Souveräns, hier der Übergang von der Minderheitsherrschaft zur Mehrheitsherrschaft, fand aber in der DDR zwischen dem 1.12.1989 und dem 18.3.1990 zweifelsfrei statt. Der fundamentale Wandel der politischen Verfassung und danach der ökonomischen Verfassung hat den Namen „Revolution“ mehr als verdient.“3 Wenn demgegenüber Uwe Thaysen, der insbesondere als Beobachter der Arbeit des Zentralen Runden Tisches der DDR vom 18.11.1989 bis 18.3.1990 großen Einblick in die Ereignisse von 1989/1990 erhalten hatte, deren revolutionären Charakter verneint und sogar von einem „Mythos“ und „Hirngespinst“ sowie von unangebrachter „Revolutionsromantik“ spricht, so ist ihm entgegenzuhalten, dass er von einem zu engen Revolutionsbegriff ausgeht, da Revolutionen für ihn „fälschlicherweise“ mit dem „Fallbeil der Guillotinen“ verbunden sind.4 Allerdings ist der Begriff „Revolution“ auch nicht völlig unproblematisch. Die friedlichen Massenproteste in der DDR waren nicht singuläre Ursache für den Systemwechsel, sondern nur – wenn auch ein ganz wesentliches – Glied in einer langen vielfältigen Ursachenkette, die bis zu den Protesten der polnischen Werftarbeiter unter Führung von Lech Walesa und deren Unterstützung durch den späteren Papst Johannes Paul II. in das Jahr 1980 zurückreicht. Außerdem fügten sich die bisherigen Machthaber, für echte Revolutionen relativ untypisch, widerstandslos ihrem Schicksal, und deren zweite Garnitur versuchte sogar, noch rechtzeitig auf den neuen politischen Zug aufzuspringen.

Einleitung 

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Diesem Streit um Begriffe soll hier nicht weiter nachgegangen werden. Über Begriffe, die nicht normativ oder in ständiger Übung festgeschrieben sind, lässt sich immer trefflich streiten; für die Wissenschaft5 liegt darin oft eine geradezu unbändige Lust und manchmal erschöpft sie sich sogar darin. Wenn daher hier der Begriff der „Wende“ öfter verwendet wird, dann gibt es dafür nur einen – rein pragmatischen – Grund. „Wende“ ist Teil der heute weit verbreiteten Umgangssprache, wird als Synonym für den Systemumbruch in der DDR in den Jahren 1989/90 gebraucht und wird von jedermann auch so verstanden. Das räumt im Übrigen auch Ehrhart Neubert ein.6 Die Verwendung der Begriffe „Wessis“ und „Ossis“ ist nicht weniger problematisch als der Begriff der „Wende“, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Beide Begriffe verweisen einerseits objektiv auf das jeweilige örtliche Herkommen von Personen: „Ossis“ sind Menschen, die bis zur Wende in der DDR und „Wessis“ solche, die bis zur Wende in der Bundesrepublik Deutschland gelebt haben. Mit den Begriffen „Wessis“ und „Ossis“ verbindet man andererseits aber oft nicht nur ihr landsmannschaftliches Herkommen, sondern auch bestimmte Eigenschaften. Wenn „Wessis“ auch heute noch von „Ossis“ sprechen, so werden mit diesem Begriff oft zugleich gewisse – zumeist – negative Eigenschaften insinuiert oder sogar eine gewisse Art von Stigmatisierung vorgenommen; dasselbe gilt umgekehrt. Selten personifiziert man mit „Wessis“ oder „Ossis“ Menschen mit liebenswerten, regionaltypischen Eigenschaften. Das war nicht immer so. Unmittelbar nach der Wiedervereinigung gab es zwischen „Wessis“ und „Ossis“ ein hohes Maß an Nähe und wechselseitiger Sympathie, die jedoch nach den Umfragen des Instituts für Demoskopie Allensbach und dem Emnid-Institut von Ende 1990 bis 1993 kontinuierlich abnahmen. Diese abnehmende Wertschätzung traf auch die Verwaltungshelfer. 1991 meinten die Ossis noch, dass es zu wenige seien, 1993 hingegen, es seien viel zu viele.7 Da es in den neuen Ländern (außer in Berlin) so gut wie keine Türken gab, gehört allerdings die Aussage von Siegfried Grundmann: „Im November 1992 sind die Beamten aus den ‚alten‘ Bundesländern ebenso(wenig) beliebt wie die Türken – ein Trost für die Türken“8 eher auf die Bühne des politischen Kabaretts als in eine ernst zu nehmende Untersuchung. Der „Wessi“ oder „Ossi“ fand auch Eingang in die politischen Auseinandersetzungen. Die Begriffe wurden sogar zu Mitteln im parteipolitischen Kampf. So wurde dem Spitzenkandidat der Linken für die Landtagswahl 2009 in Thüringen, Bodo Ramelow, bei dessen Wahlkampfveranstaltung von Mitgliedern der Jungen Union ein Plakat entgegengehalten mit dem Text: „Ein Wessi erklärt uns den Kommunismus“. Bodo Ramelow reagierte genervt und erhob den Vorwurf „latenter Fremdenfeindlichkeit“; in seiner für ihn zuweilen typischen Rage entfuhr ihm sogar das Wort „Rassismus“. Der alleinige Grund für seinen Ärger lag offensichtlich darin, dass er vom parteipolitischen Gegner als „Wessi“ abgestempelt wurde, was ihm im Blick auf seine „ostalgische Wählerschaft“ rein gar nicht in sein Wahlkampfkonzept passte. Die CDU muss aber aufpassen, mit derartigen Ost-West-Attacken nicht in eine Glaubwürdigkeitsfalle zu tappen. Sie hatte mit Bernhard Vogel für den Posten des

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Einleitung

Regierungschefs einen Westimport geholt und entsprechende Rückgriffe sind bei ihrer äußerst dünnen Personaldecke auch künftig nicht ganz auszuschließen. Abwägende Politiker plädieren daher dafür, beide Begriffe gar nicht zu verwenden, weil die „Wessi“-„Ossi“-Terminologie diskriminiere, spalte und nicht versöhne. Damit lassen sich jedoch typisierende Vergleiche zwischen „Ossis“ und „Wessis“ nicht generell aus der öffentlichen Diskussion verbannen, andernfalls würde sich die Vielzahl von Ost-West-Vergleichen seriöser Meinungsforschungsinstitute schon von vornherein verbieten. Sie weisen aber gerade unangreifbar nach, dass signifikante Unterschiede zwischen „Ossis“ und „Wessis“ nicht zu leugnen sind, ohne dass es natürlich den „Ossi“ oder den „Wessi“ gibt. Politiker, die „Ossis“ und „Wessis“ ganz und gar aus dem allgemeinen Sprachgebrauch verbannt wissen möchten, unterliegen daher zu leicht der von Christian Morgenstern karikierten Denkschablone aus den Palmström-Liedern, „dass nicht sein kann, was nicht sein darf“. Hier sollen die Begriffe „Ossis“ und „Wessis“ nur aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung für die jeweilige Herkunft von Menschen verwendet werden, ohne dass damit schon von vornherein inhaltliche Wertungen oder sogar Stigmatisierungen verbunden sind. In diesem Buch wird schließlich immer wieder der Begriff des „Aufbauhelfers“ benutzt. Auch dafür bedarf es einer rechtfertigenden Erklärung. Denn der Begriff könnte falsche Assoziationen wecken und Unfrieden stiften. „Aufbauhilfe Ost“ klingt bis heute in den Ohren vieler Ossis nach Hilfe beim Aufbau eines in Konkurs geratenen Entwicklungslandes, das auf allen Ebenen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens auf einen leidlich mitteleuropäischen Stand gebracht werden musste. Die DDR war jedoch in den Augen der Ossis und auch objektiv bei allen Mängeln und Schwächen, speziell im staatlichen Bereich, kein jammervolles Entwicklungsland. Es wäre unproblematischer, in Anlehnung an Artikel 15 Absatz 2 des Einigungsvertrages, der von der „Verwaltungshilfe beim Aufbau der Landesverwaltung“ spricht, generell die Bezeichnung „Verwaltungshelfer“ zu verwenden. Damit wäre klar, dass es sich bei der personellen Hilfe aus dem Westen um eine Hilfe beim Aufbau von Verwaltungen gehandelt hatte. Wenn der Begriff „Aufbauhelfer“ hier dennoch immer wieder an Stelle des „Verwaltungshelfers“ verwendet wird, dann soll damit die von den Wessis geleistete Hilfe, um die es in diesem Buch ja schließlich geht, präziser umschrieben werden. Die Aufgaben, die beim Aufbau eines Parlaments wahrzunehmen waren, lassen sich nämlich mit dem Begriff der „Verwaltungshilfe“ nur sehr unzulänglich beschreiben. Beim Thüringer Landtag musste – wie bereits dargestellt – nicht nur eine typische Verwaltung, sondern darüber hinaus ein Verfassungsorgan mit seinen verfassungs- und parlamentsrechtlichen Rechtsgrundlagen und einem fähigen Personal aufgebaut werden. Helfer beim Aufbau von Landesparlamenten lassen sich daher nur schwerlich unter den Begriff des „Verwaltungshelfers“, sondern weit treffender unter den des „Aufbauhelfers“ fassen, ohne dass damit auch nur der Anflug von Überheblichkeit und Arroganz eines Wessis assoziiert werden darf.

1.  Der Fall der Mauer – und der Entschluss zur   Aufbauhilfe „DDR-Bürger können von sofort an über alle Grenzübergänge in das Bundesgebiet und nach Westberlin ausreisen. Die amtliche Nachrichtenagentur ADN meldete am Abend, dies habe der Ministerrat beschlossen. Die Regelung sei bis zum Inkrafttreten des neuen Reisegesetzes gültig, das noch von der Volkskammer in Ostberlin verabschiedet werden muss. Unter Berufung auf Regierungssprecher Meyer heißt es bei ADN weiter, Privatreisen ins Ausland könnten jetzt ohne Vorliegen der bisher notwendigen Voraussetzungen, wie besondere Anlässe und Verwandtschaftsverhältnisse, beantragt werden. Die Genehmigungen würden kurzfristig erteilt. Diese könnten nur in Ausnahmefällen versagt werden. Außerdem seien die Pass- und Meldestellen bei der Volkspolizei angewiesen worden, auch bei Anträgen auf Übersiedlung unverzüglich Visa zu erteilen. Die Ausreise könne über alle Grenzübergangsstellen zum Westen erfolgen. Damit entfalle der Umweg über Drittländer.“ Diese Auftaktmeldung des Deutschlandfunks hörte ich am 9. November 1989 im Autoradio auf der A 61 bei der Heimfahrt entlang des Rheins vom Landtag Rheinland-Pfalz in Mainz in meinen damaligen rheinhessischen Wohnort Ockenheim in der Nähe von Bingen. Mir war sofort klar: Das war nicht nur die Wiedervereinigung, das war ein politischer Urknall, der die Welt nachhaltig verändern würde. Ich verharrte in andächtiger Stille, noch gepaart mit einer gewissen Portion ungläubigen Staunens. Politischer Jubel war und ist mir fremd. Als Angehöriger des Jahrgangs 1940 lebe ich bis heute mit einem Trauma, das jubelnde politische Massen in mir auslösen. Sofort sind mir die Bilder der Menschen vor Augen, die auf Josef Goebbels Frage im Berliner Sportpalast am 18.2.1943, ob sie den totalen Krieg wollten, in blindem Fanatismus ihr zustimmendes „Ja“ herausgebrüllt hatten. Ich zeigte keine Regung und setzte meine Fahrt ganz ruhig und still fort. Doch nach wenigen hundert Metern brachen auch meine Emotionen aus mir heraus: ich heulte wie ein Schlosshund. Anders konnte ich diese emotionale Spannung nicht beherrschen. Meine innige Freude galt jedoch weniger der nationalen Wiedervereinigung als solcher, als vielmehr der absehbaren Freiheit der Menschen hinter Mauer und Stacheldraht. Mir schossen blitzartig die Bilder aus meinen Berliner Jahren nach dem Mauerbau durch den Kopf mit vielen tränenreichen Abschiedsszenen von lieben Menschen, dazu kam die damit jedesmal verbundene ohnmächtige Wut auf dieses menschenverachtende System. All das sollte endlich und doch so plötzlich ein Ende haben. Ein mit der Wiedervereinigung verbundenes nationales Pathos konnte ich durchaus nachvollziehen, mir persönlich war es jedoch schon immer fremd. Nationale Ge-

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fühle oder gar nationaler Überschwang waren bei mir nur wenig ausgeprägt. Mir ging es gerade auch bei meiner politischen Arbeit für die Berliner CDU in den Jahren 1960 – 1973 um konkrete Verbesserungen für die Menschen. Für mich war es daher eher zweitrangig, in welchen staatlichen Strukturen dieses Ziel erreicht werden konnte. Das konnte auch durchaus ein europäisches Dach sein. Daher war ich im Grundsatz ein Anhänger der Ost- und Deutschlandpolitik Willy Brandts und dessen Chefdenkern, wie Egon Bahr und Peter Bender. Doch zurück zum Abend des 9. November 1989. Die Tränen meiner Freude ergossen sich so reichlich, dass ich – zumal als Brillenträger – eine Gefahr für den starken abendlichen Pendlerverkehr auf der Autobahn zu werden drohte. Immer wieder musste ich auf den Standstreifen fahren, um mir die Tränen abzuwischen und mir klare Sicht zu verschaffen. In Ockenheim dennoch endlich heil angekommen, stürzte ich hinauf ins Haus, um meiner Frau, die vom Fall der Mauer noch nichts vernommen hatte, die neuesten Nachrichten in heller Aufregung mitzuteilen, uns gemeinsam darüber zu freuen und auch schon einen Blick in die Zukunft zu werfen, welche Veränderungen die Wiedervereinigung für uns ganz persönlich bringen würde. Wir sahen im Fall der Mauer nicht nur die weitreichenden politischen Auswirkungen dieses Ereignisses für Deutschland sowie für das Ost-West-Verhältnis. Wir freuten uns ganz besonders auch über die konkreten humanitären Auswirkungen des Mauerfalls für unsere Familie. Nun würden bald wechselseitige Besuche aus selbstbestimmten Anlässen ohne langwierige bürokratische Verfahren, ohne die lästigen Kontrollen, den Geldumtausch und die örtlichen „Rotlichtbestrahlungen“ möglich sein und wir würden dabei Geschenke nach freier Wahl mitnehmen können. Damals ahnten wir noch nicht, dass sich unsere familiären Beziehungen zu unseren Ostverwandten mit der Wiedervereinigung schon bald erheblich ändern würden: das Augenfälligste war der Wandel im Atmosphärischen bei den Besuchen der „Brüder und Schwestern“, denen wir bisher emotional gerade wegen ihrer begrenzten Freiheitsräume so stark verbunden waren. Aus den Besuchen bei den Verwandten im Osten wurden schon sehr bald ziemlich normale Verwandtenbesuche. Das spezifische trennungsverursachte gegenseitige Interesse und die dadurch bedingte beiderseitige Emotionalität verblassten. Aber an dem Abend der Maueröffnung gingen uns nicht nur Gedanken zu den politischen Auswirkungen der Wiedervereinigung sowie den neuen Perspektiven für unsere künftigen familiären Kontakte durch den Kopf. Wir fragten uns auch, welche Auswirkungen dieses Ereignis mit seinen absehbaren Folgen für die deutsch-deutschen Beziehungen für uns ganz persönlich, sowohl privat als auch beruflich, haben könnte. Für mich stand schon an diesem Abend sehr schnell felsenfest: ich werde „in den Osten“ gehen und mich dort für den Aufbau der parlamentarischen Demokratie und von rechtsstaatlichen Strukturen engagieren. Zwar stand es am Tag des Mauerfalls noch in den politischen Sternen, in welcher Weise und in welchen staatlichen Strukturen eine Wiedervereinigung Realität werden würde. Ich war mir jedenfalls ganz sicher, dass alle Überlegungen zu einer Konföderation zwischen der Bundesrepublik Deutschland und einer zentralistischen DDR schon sehr bald als politische

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Eintagsfliege durch den ganz überwiegenden Willen der Deutschen von den Tischen der Politiker und Diplomaten gefegt würden. Es würde kein Weg an einem vereinigten Deutschland in der Form eines Bundesstaats vorbeiführen. Im Osten würden die alten Länder, in welchen Grenzen auch immer, neu entstehen. Dabei wollte ich am liebsten beim Aufbau eines Landesparlaments helfen, denn dafür hielt ich mich für am besten geeignet und fachlich ausgewiesen. Ich hatte mich schon während meines Studiums auf das Öffentliche Recht und die Politischen Wissenschaften konzentriert und in der Referendarzeit in Berlin sowohl als Assistent an der Freien Universität als auch in besonderem Maße in Ausbildungsstationen in der Verwaltung des Berliner Abgeordnetenhauses sowie in hervorgehobener Stellung bei der dortigen CDU-Fraktion auf das Verfassungs- und Parlamentsrecht spezialisiert. Die Konzeption der parlamentarischen Demokratie und das konkrete Parlamentsleben lernte ich in diesen wissenschaftlichen und beruflichen Stationen aus den verschiedensten Blickwinkeln sehr gründlich kennen: – aus wissenschaftlicher Sicht bei meinen Arbeiten an einer staatsrechtlichen Dissertation mit dem Titel „Zulässigkeit und Grenzen der Einflussnahme des Bundestages auf Regierungsentscheidungen“; – in der politischen Praxis als oft frustrierter Assistent einer Oppositionsfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus wegen der zumeist fehlenden sichtbaren Erfolge der Oppositionsarbeit; – aus der Sicht der Exekutive als Referatsleiter in der Staatskanzlei Rheinland-Pfalz unter den Ministerpräsidenten Kohl und Vogel mit der Zuständigkeit für die Kabinetsvorbereitungen und die Kontakte zum Landtag; – aus dem Blickwinkel einer Parlamentsverwaltung als stellvertretender Leiter der Abteilung „Wissenschaftlicher Dienst und Parlamentsdienst“ im Landtag Rheinland-Pfalz; – und schließlich hatte ich aufgrund einer eigentümlichen Besonderheit des „rheinlandpfälzischen Landrechts“ als Landtagsbeamter zugleich die Funktion eines sogenannten Vertrauensmanns der CDU Fraktion; als solcher hatte ich an deren Fraktions- und an ausgewählten Arbeitskreissitzungen teilgenommen.

Neben dieser hauptamtlichen Tätigkeit hatte ich zusätzlich immer auch ein Spielbein in der Wissenschaft. Dort habe ich stets versucht, meine praktischen Parlamentserfahrungen in die wissenschaftliche Lehre und Forschung einzubringen. In dieser Weise praktisch und theoretisch in den Grundlagen und der Praxis des Parlamentarismus ausgewiesen, wurde noch am späten Abend im Familienkreis beschlossen, dass ich mich als Aufbauhelfer für ein deutsches Parlament bewerben würde. Uns war bewusst, dass dieser Entschluss für einige Zeit eine Wochenendehe zur Konsequenz haben würde; wir waren uns aber einig, diese Belastung in Kauf zu nehmen. Schon am nächsten Tag wollte ich bei meinem Dienstherrn meine Chancen ausloten, ob ich als Aufbauhelfer in den Osten abgeordnet werden könnte.

2. Der Neubeginn Erste Initiativen zum Aufbau Ost durch den Politisch Beratenden Ausschuss Der Aufbau der neuen staatlichen Strukturen und der erforderlichen rechtlichen Grundlagen wurde überall in der DDR Ende 1989/Anfang 1990 von den sog. „Runden Tischen“ in Angriff genommen. Der zentrale Runde Tisch in Berlin trat erstmals am 7.12.1989 zusammen. In der übrigen DDR bildeten sich Runde Tische in den Kommunen, Kreisen und Bezirken. In Thüringen entstanden sie auf Bezirksebene in Erfurt, Gera und Suhl1, die sich u.a. auch mit der Umwandlung dieser Bezirke in ein Land Thüringen befassten. Dazu sollte ein zentraler Runder Tisch für die drei Bezirke eingesetzt werden. Die Initiative dazu ging am 9.4.1990 vom evangelischlutherischen Landesbischof Werner Leich mit der Anregung aus, dieses Gremium am 18.4.1990 in Weimar zu konstituieren. Doch dazu kam es nicht. Dagegen wandten sich insbesondere die CDU und der Demokratische Aufbruch. Sie strebten ein politisches Gremium zur Vorbereitung des neuen Bundeslandes Thüringen an, das sich nicht paritätisch aus den verschiedenen Wendeakteuren, sondern vielmehr aus Vertretern der Parteien und Gruppierungen zusammensetzen sollte, die bei den Volkskammerwahlen am 18.3.1990 und den Kommunalwahlen am 6.5.1990 erfolgreich waren. Die Initiative zur Errichtung dieser thüringischen Variante zum „Runden Tisch“ ergriff der damalige Landesvorsitzende der CDU, Uwe Ehrlich. In einem Schreiben vom 9.5.1990 an alle bei den oben genannten Wahlen erfolgreichen Parteien und Wählervereinigungen schlug er die Bildung eines Politisch Beratenden Ausschusses (PBA) vor.2 In diesem Schreiben wurden die Zielsetzung der Initiative und die Aufgabenstellung des PBA wie folgt begründet: „Die Wiederherstellung des Landes Thüringen stellt einen wichtigen Auftrag bei der weiteren Verwirklichung der Demokratie in unserem Lande dar, dessen Erfüllung sich alle in den Volkskammer – und Kommunalwahlen dieses Jahres durch die Wähler in die Verantwortung gerufenen Parteien stellen müssen. Um eine breite Basis für die Vorbereitung zu schaffen, halte ich es für erforderlich, den Parteien, die bei den oben genannten Wahlen eine größere Zahl von Wählerstimmen auf sich vereinigen konnten, den Vorschlag zu unterbreiten, einen Politisch Beratenden Ausschuss zur Gründung des Landes Thüringen zu bilden.“ Außerdem wurde in diesem Schreiben auf der Grundlage der Volkskammer- und Kommunalwahlergebnisse ein Schlüssel vorgeschlagen, nach dem sich der PBA zusammensetzen sollte. Die Vorschläge Ehrlichs fanden breite Zustimmung, und so konstituierte sich der „Politisch Beratende Ausschuss zur Bildung des Landes Thüringen“ am 16.5.1990 in Erfurt im Sitzungssaal des Bezirkstags, dem späteren ersten Plenarsaal des Thüringer Landtags unter Vorsitz des Landesvorsitzenden der CDU,

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Uwe Ehrlich. Der PBA beendete seine Tätigkeit mit Beschluss vom 21.9.1990. Für ihn gab es nach der Volkskammerwahl am 18.3.1990 und der Ernennung des Regierungsbevollmächtigten (Landessprecher) für das neu zu bildende Land Thüringen, Josef Duchač, durch den Ministerrat der DDR am 29.8.1990 keine demokratische Existenzberechtigung mehr. War es ein Zeichen von Geschichtslosigkeit oder politischer Blindheit, dass man für dieses gesellschaftlich breit legitimierte Nachwende-Gremium keinen unverfänglicheren als gerade den historisch belasteten Namen des Politisch Beratenden Ausschusses wählte? Der „Politisch Beratende Ausschuss“ war nämlich das höchste Organ der Staaten des Warschauer Paktes, das die Grundlinien für die Arbeit aller seiner Organe festlegte, an dem die Generalsekretäre bzw. Ersten Sekretäre der Zentralkomitees der kommunistischen und Arbeiterparteien sowie die Ministerpräsidenten des Warschauer Paktes teilnahmen. An diese Tradition wollten die Akteure der Wende mit Sicherheit nicht anknüpfen. Der PBA setzte sich wie folgt zusammen: CDU

13 Sitze

SPD PDS

6 3

BFD (Bund Freier Demokraten) DSU (Deutsche Soziale Union) Grüne/UFV (Unabhängiger Frauenverband)

2 2

DA (Demokratischer Aufbruch) NF (Neues Forum) DBD (Demokratische Bauernpartei Deutschlands) Bauernverband

1 Sitz

DFD (Demokratischer Frauenbund Deutschlands)

1

2 1 1

1

Darüber hinaus machte der PBA von der in Nr. 2 seiner Geschäftsordnung vom 30.5.1990 vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch, auf Beschluss «weitere Teilnehmer als Gäste» zuzulassen. Er beschloss in seiner 2. Sitzung am 30.5.1990, zu seinen Beratungen Vertreter der evangelisch-lutherischen Kirche Thüringen, der evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen, der römisch-katholischen Kirche sowie der jüdischen Gemeinde als Gäste einzuladen. Außerdem nahmen die drei Regierungsbevollmächtigten (Josef Duchač, Erfurt; Werner Ulbrich, Suhl; Peter Lindlau, Gera) an den Sitzungen teil, bis sie in der 7. Sitzung am 10.8.1990 hiervon ausgeschlossen wurden, „da sie nicht zu dem ursprünglich abgestimmten Teilnehmerkreis gehörten.“ In derselben Sitzung wurde die beratende Mitgliedschaft von Vertretern des Landkreistags, des Städte- und Gemeindebundes sowie der Landkreise Altenburg, Schmölln und Artern beschlossen. Seine grundsätzliche Aufgabenstellung legte der PBA in Nr. 1 seiner Geschäftsordnung vom 30.5.1990 wie folgt fest: «Der Politisch-Beratende Ausschuss ist ein Gremium, dessen Arbeit darauf gerichtet ist, die strukturelle und technisch-organisatorische Vor-

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bereitung der Bildung des Landes Thüringen zu sichern. Seine Beschlüsse tragen Empfehlungscharakter, ihr Adressat ist der künftige Landtag bzw. die Landesregierung.“ Demgemäß bestimmte Nr. 10 der GO folgerichtig: «Der Politisch-Beratende Ausschuss übt seine Tätigkeit bis zur Wahl des thüringischen Landtags aus.“ Nach den Erfordernissen des demokratischen Prinzips, wonach alle Staatsgewalt vom Volk auszugehen hat und es eine ununterbrochene Legitimationskette vom Volk zu den mit staatlichen Aufgaben betrauten Organen und Amtswaltern geben muss, war der PBA nicht demokratisch legitimiert. Ob er es hätte sein müssen, ist insofern zweifelhaft, als die Qualifizierung seiner Tätigkeit als «Staatsgewalt» fraglich ist. Nicht unter den Begriff der Staatsgewalt fällt nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts eine nur vorbereitende oder konsultative Tätigkeit. Da nach Nr. 1 der GO des PBA dessen Aufgabe nur darin bestand, Beschlüsse mit «Empfehlungscharakter» an den künftigen Landtag und die künftige Landesregierung zu richten, spricht viel dafür, seine Tätigkeit nicht unter den Begriff der Staatsgewalt zu fassen. Andererseits ist zu bedenken, dass die Grenzen zwischen einem «rein» konsultativen Wirken und einer Landtag und Landesregierung faktisch präjudizierenden Tätigkeit fließend sein können und sich das Erfordernis demokratischer Legitimation umso mehr stellt, je stärker ein – zwar rechtlich unverbindlicher –, aber faktisch präjudizierender Einfluss vorhanden ist. Nach Nr. 4 der Geschäftsordnung hatte der PBA „zur inhaltlichen Vorbereitung der Landesbildung Arbeitsgruppen zu bestimmen, die gegenüber dem Ausschuss berichts- und rechenschaftspflichtig» sein sollten. Aufgrund dieser Verpflichtung wurden in der 3. Sitzung des PBA am 15.6.1990 insgesamt 17 Arbeitsgruppen gebildet, darunter auch die 13 köpfige Arbeitsgruppe Nr. 15 «Bildung Landtag». Sie setzte sich aus Vertretern aller im PBA repräsentierten Parteien und Wählervereinigungen, je einem Vertreter der drei Bezirksverwaltungsbehörden sowie zwei Vertretern der Kirchen zusammen. Im Einzelnen gehörten ihr an: Frank Heilmann Carl-Heinz Grabe Reinhold Mau Dr.Reinhard Koch Dr.Roland Süße Dr. Thümmler Rolf Böttcher Christa Beschel Christine Lieberknecht Gabriele Gerhardt Stefan Große Ursula Hartmann Lieselotte Langenhan Klaus Schlehstein Dieter Witter

SPD Grüne Partei Neues Forum DBD BFD PDS (ab August Rainer Vogel) DSU DFD CDU DA Ev.-Luth. Kirche Kath. Kirche Bezirksverwaltungsbehörde Erfurt Bezirksverwaltungsbehörde Gera Bezirksverwaltungsbehörde Suhl

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In der 4. Sitzung des PBA am 26.6.1990 wurde Frank Heilmann zum Leiter der AG 15 bestellt und zugleich wurde beschlossen, ihn bei der Bezirksverwaltungsbehörde anzustellen, um ihm die hauptamtliche Leitung der Arbeitsgruppe zu ermöglichen. Heilmann, der später Referatsleiter in der Landtagsverwaltung wurde, war zu DDRZeiten als Dipl.-Ingenieur in der Gießerei des Büromaschinenwerks Sömmerda von Robotron beschäftigt. Zur Wendezeit wurde er in Thüringen eines der ersten Mitglieder der neu entstandenen SDP, der späteren SPD. Er war ein loyaler, unbelasteter und unbeschadet seines SPD-Parteibuches ein seine Ämter überparteilich ausübender Ossi. Heilmann hatte um sich eine kleine Gruppe von insgesamt vier Mitarbeitern geschart. Drei Mitarbeiterinnen entstammten dem vierköpfigen sog. „Abgeordnetenkabinett“, das den Erfurter Bezirkstag betreut hatte. Bei diesem 225-köpfigen Gremium mit seinen 15 ständigen Kommissionen handelte es sich um eine Art Pseudoparlament, das auf Bezirksebene ohne Macht und Einfluss neben der Partei und dem Rat des Bezirks angesiedelt war. Der Bezirkstag tagte ca. alle drei Monate, die Kommissionen ca. zehnmal im Jahr. Mit Beschluss vom 18. 5. 1990 hatte der Bezirkstag seine Legislaturperiode vorzeitig mit Wirkung zum 31.5.1990 folgerichtig beendet, nachdem die Volkskammer am 17. 5. 1990 beschlossen hatte, die Bezirke zu diesem Termin abzuschaffen. Die Mitglieder des „Abgeordnetenkabinetts“ hatten immerhin gewisse Kenntnisse über Verfahrensabläufe in einem größeren parlamentsähnlichen Gremium. Heilmann und seine Mitarbeiter hatten außerdem aufgrund von Besuchen im Hessischen und Bayerischen Landtag erste Eindrücke über das Innenleben von Landtagen erhalten. Sie wurden – jeweils in einer Sitzungswoche – vom 3. bis 5. Juli 1990 vom Hessischen Landtag betreut und vom 16. bis 20. Juli von der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildung zu einem Parlamentarismus-Seminar in den Bayerischen Landtag eingeladen. Es ist schon beachtlich, welch umfangreiche Vorarbeiten diese Arbeitsgruppe des PBA zum Aufbau des Thüringer Landtags geleistet hatte. Die 1. Sitzung der Arbeitsgruppe fand am 11.7.1990 statt, die letzte, die 6. Sitzung am 9.10.1990. Über die 1. bis 5. Sitzung liegen Protokolle vor; über die letzte Sitzung wurde keines mehr erstellt. In der 1. Vorlage vom 23.7.1990 wurden das Arbeitsprogramm und ein Terminplan der Arbeitsgruppe festgelegt sowie die Einrichtung des „Büro des Landtags“ ab dem 1.9.1990 empfohlen, was vom PBA am 27.7.1990 „bestätigt“ wurde. Dieser Forderung nach der Einrichtung eines „Büro des Landtags“ wurde durch die Bestellung des „Staatlichen Beauftragten für die Errichtung des Thüringer Landtags“ seitens des Landessprechers Duchač am 3.9.1990 entsprochen. Staatlicher „Aufbauleiter“ für den Landtag wurde Eberhard Ott, der zuvor das Ressort „Tourismus- und Erholungswesen“ im Rat des Bezirks Erfurt geleitet hatte. In der 2. Vorlage teilte die Arbeitsgruppe „Bildung Landtag“ der Arbeitsgruppe 6 „Justiz“ für ein Gesetzgebungsprogramm des künftigen Landtags die ihrer Ansicht nach erforderlichen parlamentsbezogenen Rechtsetzungsvorhaben mit (u.  a. Geschäftsordnung, Geheimschutzordnung, Bannmeilengesetz, Untersuchungsausschussgesetz, Abgeordnetengesetz). Eine 3. und 4. Vorlage befasste sich im Wesentlichen mit der Aufgabenstellung und Organisation der Landtagsverwaltung („Büro des Landtags“).

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Die Vorlage zu Aufgabenstellung und Organisation des Landtags, die vom PBA am 10.8.1990 angenommen wurde, war bereits ziemlich detailliert. Vorgeschlagen wurden in Anlehnung an die in den Landtagen von Bayern und Hessen gewonnenen Erfahrungen neben den Büros von Landtagspräsident und Landtagsdirektor drei Abteilungen: Abteilung A „Parlamentsdienst“ mit 5 Referaten, Abteilung B „Öffentlichkeitsarbeit und Information“ mit 3 Referaten und Abteilung C „Personal und Verwaltung“ mit 6 Referaten. Die weiteren Vorschläge der Arbeitsgruppe, wie zum Namen und dem Sitz des Landtags sowie zu den Entwürfen für eine Geschäftsordnung, sollen an späterer Stelle gesondert behandelt werden. Ob der PBA bei seiner sich selbst gesetzten Aufgabe, den neuen Staat Thüringen mit seinen einzelnen Staatsorganen vorzubereiten, das Ausmaß der damit verbundenen Probleme überschaut hat, soll hier, gerade auch im Hinblick auf seinen in Fragen der Staatsorganisation nur sehr laienhaften Sachverstand, dahingestellt bleiben, muss aber ernstlich bezweifelt werden. Allen Beteiligten war jedenfalls klar, dass es die Ossis allein nicht schaffen würden. Ohne die Aufbauhilfe aus dem Westen war kein Staat zu machen.

Organisation der Aufbauhilfe aus dem Westen Die Bundesrepublik Deutschland war auf die Wiedervereinigung Deutschlands – wie bereits im Vorwort hervorgehoben – und damit auf eine Aufbauhilfe Ost in keiner Weise vorbereitet. In den Ministerien und allen sonstigen von einer Wiedervereinigung berührten Stellen, wie zum Beispiel der Bundesversicherungsanstalt, lagen keinerlei Pläne, geschweige denn konkrete Konzeptionen vor, wie praktisch „zusammenwachsen sollte, was zusammengehört“. Spätestens mit dem Fall der Mauer am 9. November 1989 wurde jedoch allen staatlichen und öffentlichen Stellen sowie gesellschaftlichen Einrichtungen schlagartig bewusst, welche Unmengen verschiedenster Aufgaben gerade auch auf den westlichen Teil Deutschlands mit der Integration der DDR in ein wiedervereinigtes Deutschland zukommen würden. Knapp vier Wochen nach dem Fall der Mauer befasste sich der Landtag RheinlandPfalz am 7.12.1989 in einer eindrucksvollen, von großer Gemeinsamkeit geprägten Debatte mit der neuen politischen Lage in Deutschland und Europa und initiierte die ersten Hilfsprogramme für die damals noch bestehende DDR. In einem von CDU, SPD und FDP – gegen die Stimmen der Grünen – angenommenen Antrag wurde die Landesregierung aufgefordert, das 10-Punkte-Programm der Bundesregierung durch eine Rheinland-Pfalz-Hilfe zu flankieren. Man wollte dazu beitragen, u.a. folgende Ziele zu verwirklichen: „Freiheit der Menschen durch Selbstbestimmung, wirtschaftliche, soziale und ökologische Wohlfahrt und Bereitstellung von Mitteln für Projekte der Dorferneuerung, Stadtsanierung.“ „Dabei wird eine Partnerschaft mit einer Region in der DDR angestrebt“3; von einer Partnerschaft mit Thüringen war noch nicht die Rede.

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Die ersten normativen Vorbereitungen für eine Aufbauhilfe liefen ebenfalls schon Ende 1989 noch vor der Wiedervereinigung an, also zu einem Zeitpunkt, als es die DDR noch als selbstständigen Staat gab, man von deren Fortbestand ausging und sich damit das Ziel einer Konföderation setzte. Folglich wurden die ersten einschlägigen Vereinbarungen noch in einem völkerrechtlichen Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 18. Mai 1990 getroffen4 und zwar „über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion“. In Art. 5 dieses Staatsvertrags hieß es zur Aufbauhilfe: „Die Behörden der Vertragsparteien leisten sich nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts bei der Durchführung dieses Vertrages Amtshilfe“. Diese Regelung wurde später mit den weitergehenden Regelungen über eine Verwaltungshilfe von Bund und alten Ländern zugunsten der neuen Länder im späteren Einigungsvertrag obsolet. Parallel zu dieser Entwicklung begann geradezu ein Wettlauf der westdeutschen Länder um eine Patenschaft mit den sich am politischen Horizont abzeichnenden neuen Ländern, obwohl der Zentralstaat DDR mit seiner Bezirksstruktur immer noch existierte. Es ist hier nicht der Ort, die Rechtsgrundlage für diese Aktivitäten der westdeutschen Bundesländer im Detail kritisch zu hinterfragen. Dieses Thema ist von Robert Kaufmann sehr zu Recht unter föderalen Gesichtspunkten problematisiert worden.5 Der kooperative Föderalismus wurde arg strapaziert. Anstatt einer – zulässigen – Länderkooperation hatten es die neuen Länder in ihrer Gründungsphase mit einer übermächtigen Dominanz der Exekutiven westdeutscher Partnerländer zu tun. Selten hatte die Normativität des Faktischen eine so große Bedeutung. In den hektischen Anfängen dieser einmaligen unvorbereiteten Umbruchsituation handelte man nach dem Motto „Not kennt kein Gebot“. Kaum einer hätte für juristische Spitzfindigkeiten in Fragen einer Kompetenzverteilung zwischen Exekutive und Legislative oder zwischen Bund und Ländern Verständnis gehabt. Das Volk wollte schnelle praktische Lösungen und keine endlosen Diskussionen mit und zwischen juristischen Bedenkenträgern. In dieser ziemlich chaotischen, kompetenzfreien Zwischenphase vor der Wiedergründung der neuen Länder und dem Einigungsvertrag gab es auch schon die ersten zaghaften Ansätze einer Aufbauhilfe für den Thüringer Landtag. Bereits oben wurde erwähnt, dass Mitglieder einer Arbeitsgruppe des PBA, der für den Aufbau des Thüringer Landtags zuständig war, zu Informations – und Fortbildungsveranstaltungen in den Hessischen und Bayerischen Landtag eingeladen wurden. Das Schwergewicht dieser noch zu DDR-Zeiten angelaufenen Aufbauhilfe lag allerdings im kommunalen Bereich, sei es aufgrund alter oder auch neu gegründeter kommunaler Partnerschaften. Zu jedem der künftigen ostdeutschen Länder, damals noch auf der Ebene der Bezirke, bauten westdeutsche Bundesländer Partnerschaften auf. Wer dabei mit wem kooperierte, dafür gab es keine einheitlichen objektiven Kriterien. Vieles entsprang dem Zufall. Eine wichtige Rolle spielten jeweils die örtliche Nähe bzw. die gemeinsamen Grenzen zu den Partnerländern. Auch schon lange vor

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der Wende entstandene kommunale Partnerschaften oder neu aufkeimende Beziehungen auf der parteipolitischen oder sogar rein persönlichen Ebene gaben Initialzündungen. So kam z.B. das Partnerschaftsverhältnis zwischen Nordrhein-Westfalen und Brandenburg maßgeblich durch die persönlichen Kontakte auf kirchlicher Ebene zwischen Johannes Rau und Manfred Stolpe zustande. Die Partnerschaft zwischen Rheinland-Pfalz und Thüringen wurde vorrangig durch vielfältige kommunale Partnerschaften, wie insbesondere zwischen Mainz und Erfurt oder Trier und Weimar, angestoßen. Die Beziehungen zwischen Mainz und Erfurt gingen dabei auf uralte historische Wurzeln zurück, die bis in das Jahr 755 zurückreichen, als das Bistum Erfurt mit dem Erzbistum Mainz vereinigt wurde. Da-. rüber hinaus wurde Erfurt zwischen 1664 und 1802 im Auftrag des Erzbistums Mainz von Kurmainzer Statthaltern verwaltet, die ab 1699 in der Kurmainzischen Statthalterei residierten, einem barocken Gebäudekomplex, in dem seit 1994 der Thüringer Ministerpräsident seinen Amtssitz hat. Von erheblichem Einfluss auf die Kontaktanbahnung waren daneben die parteipolitischen Avancen der damaligen rheinland-pfälzischen Regierungspartei CDU, die auf höchster Ebene (Ministerpräsident Dr. Wagner, die Minister Geil und Dr. Gölter, CDU-Fraktionsvorsitzender Wilhelm) im Januar 1990 mit dem Demokratischen Aufbruch in Fischbach im Thüringer Wald und mit der Ost-CDU in Weimar anliefen. Die Initialzündung für ein Partnerschaftsprogramm für Thüringen gab Hessen. Nachdem es am 25.11. und 2.12.1989 zu ersten Treffen zwischen hochrangigen Vertretern der hessischen Regierung und der CDU (Ministerpräsident Dr. Wallmann, den Ministern Milde und Trageser, Generalsekretär Jung) mit Reformkräften der Ost-CDU (Martin Kirchner, Christine Lieberknecht) in Thüringen gekommen war, beschloss die hessische Landesregierung bereits am 5.12.1989 das Aktionsprogramm „Hessen-Thüringen“. Es hatte ein Finanzvolumen für die Jahre 1990 bis 1994 von jährlich 50 Millionen DM und somit ein Gesamtvolumen von 250 Millionen DM; hinzu kam ein Bürgschaftsprogramm über nochmals die gleiche Summe. Hessen hatte damit das erste und umfangreichste Hilfsprogramm eines westdeutschen Bundeslandes für Thüringen aufgelegt und beanspruchte damit auch eine Art Federführung im Kreis der drei Thüringer Partnerländer, wozu auch Rheinland-Pfalz und Bayern gehörten. Der sehr machtbewusste Chef der Hessischen Staatskanzlei, Alexander Gauland, – so wird vielfach kolportiert – verstieg sich sogar zu der Formulierung „Thüringen gehört uns“, was in Thüringer Ohren schon damals den unschönen Beiklang von Kolonialismus und Imperialismus hatte. Die größeren Sympathien in dieser partnerschaftlichen Viererkonstellation genossen daher die Rheinland-Pfälzer, die im Vergleich zu den Hessen deutlich zurückhaltender auftraten. Ende 1989/Anfang 1990 gab es von hessischer Seite ernst zu nehmende Bestrebungen, Thüringen mit Hessen zu einem Bundesland zu vereinigen. Diese hessischen Avancen stießen in Thüringen dennoch durchaus auf Interesse, da man sich durch eine Länderfusion mit dem wirtschaftlich starken Hessen eigene Vorteile versprach. Diese ersten Bemühungen um eine Landesehe sollten aber sehr schnell gerade von Thüringer Seite beendet werden.

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Nicht nur Hessen sondern auch Rheinland-Pfalz leistete für Thüringen in den Jahren 1990 bis 1994 in erheblichem Umfang personelle und sachliche Verwaltungshilfe. Insgesamt wurden rund 1380 Aufbauhelfer nach Thüringen entsandt; der größte Teil im Wege der Abordnung, 75 Beschäftigte wurden versetzt. Die dafür aufgewandten Kosten betrugen für diesen Zeitraum (abzüglich der hälftigen Erstattung durch den Freistaat Thüringen in den Jahren 1993/94) insgesamt 81,1 Mio DM. Dazu kamen für die Jahre 1990 bis 1993 Projekthilfen von 32,9 Mio DM. Die Aufbauhilfe des Landes Rheinland-Pfalz (ohne die Kommunen) belief sich also auf insgesamt 114,00 Mio DM. Der Umfang der Verwaltungshilfe des Freistaats Bayern zwischen 1990–1994 lässt sich u.a. an der Zahl der entsandten Bediensteten ablesen, sie betrug 791 Personen. Diese Hilfen der drei westdeutschen Partnerländer liefen bereits Anfang des Jahres 1990 an, also lange vor der Gründung des Freistaats Thüringen noch zu Zeiten der Runden Tische. So legten der hessische Finanzminister Manfred Kanther und der Wirtschafts- und Verkehrsminister von Rheinland-Pfalz, Rainer Brüderle, am 17.1.1990 dem Runden Tisch des Bezirks Erfurt Hilfsprogramme für Thüringen vor. Sie wurden in Besuchen des Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz, Dr. Carl-Ludwig Wagner, am 21.2.1990 beim Runden Tisch des Bezirks Erfurt und des Ministerpräsidenten des Freistaats Bayern, Max Streibl, am 1.3.1990 in Erfurt und Weimar weiter konkretisiert.6 Zu diesen bilateralen Hilfen der Partnerländer – jeweils ohne die ebenfalls erheblichen kommunalen Hilfen – kamen noch ihre Zuschüsse an den Fonds „Deutsche Einheit“ hinzu. Das Fondsvolumen betrug für die Jahre 1990-1994 insgesamt ca. 160,7 Milliarden DM, und aus diesem Bund-Länder-Topf erhielt das Land Thüringen (ohne die Kommunen) einen Anteil von insgesamt über 13,5 Milliarden DM. Der Fonds „Deutsche Einheit“ hatte seine Rechtsgrundlage in dem Gesetz zum Staatsvertrag vom 18. 5. 1990 über die Schaffung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion und die Funktion eines vorweggenommenen Finanzausgleichs, in den die neuen Länder erst 1995 integriert wurden. Ihre weitere konkrete rechtliche Grundlage erhielt die westdeutsche Aufbauhilfe in dem Einigungsvertrag (EinV) vom 31.8.19907, wenn auch nur in ziemlich kursorischer Form. Das war durchaus verständlich, denn dieser Vertrag wurde in einem geradezu mörderischen Tempo vorbereitet, verhandelt und zum Abschluss gebracht. Er stellt dennoch und gerade deshalb eine herausragende Leistung der westdeutschen Verwaltungselite unter Federführung des damaligen Bundesinnenministers Wolfgang Schäuble dar. In Art. 15 Abs. 2 EinV wurden der Bund und die westlichen Bundesländer zur Aufbauhilfe zugunsten der durch das Ländereinführungsgesetz vom 22. Juli 1990 gebildeten ostdeutschen Länder verpflichtet: „Die anderen Länder und der Bund leisten Verwaltungshilfe beim Aufbau der Landesverwaltung“. Diese Bestimmung wurde ergänzt durch eine Protokollnotiz, in der es hieß: „Die Verwaltungshilfe des Bundes und der Länder beim Aufbau der Landesverwaltung und bei der Durchführung bestimmter Sachaufgaben werden in einer Clearingstelle abgestimmt, die von Bund und Ländern gebildet wird.“

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Eine darüber hinausgehende verfassungsrechtliche Pflicht zur Amts- und Rechtshilfe ergab sich mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland nach Art. 23 (alter Fassung) GG am 3. Oktober 1990, auch aus Art. 35 GG, da nach Art. 5 und 8 EinV das Grundgesetz von diesem Tag an auch für die ehemalige DDR galt. Die Clearingstelle als die zentrale Koordinierungsstelle für die Verwaltungshilfe Ost wurde in einer Besprechung von Bundeskanzler Kohl mit den Regierungschefs der Länder am 29. August 1990 eingesetzt und beim Bundesinnenministerium angesiedelt.8 Sie setzte sich zusammen aus: – je einem Vertreter aller alten und neuen Länder, – dem Chef des Bundeskanzleramts sowie – den Bundesministern des Inneren, der Finanzen, für Wirtschaft und für Arbeit und Sozialordnung.

Ihre Aufgaben bestanden in der

a) „Entwicklung von Musterstellenplänen und Personalabbauplänen für die Verwaltung der neuen Länder, b) Unterstützung der neuen Länder bei der Umsetzung der Musterstellenpläne und Personalabbaupläne mit Mitteln der Verwaltungshilfe; Ziel ist, dass der den Musterstellenplänen zugrundegelegte Personalbestand bis zum 31. Dezember 1991 erreicht wird, c) Abstimmung der Qualifizierungs- und Weitervermittlungsmaßnahmen mit der Arbeitsverwaltung, d) Abstimmung der Verwaltungshilfe des Bundes und der Länder beim Aufbau der Landesverwaltung (Art. 15 Abs. 2 des Entwurfs des Einigungsvertrages), einschließlich der Bereitstellung von Beraterstäben, e) Abstimmung der Verwaltungshilfe bei der Durchführung bestimmter Sachaufgaben durch Bund und Länder (Art. 15 Abs. 3 des Entwurfs des Einigungsvertrages), einschließlich der Bereitstellung von Personal, f ) Abstimmung der Aufgabenstellung und Arbeitsweise von gemeinsamen Einrichtungen der Länder, die übergangsweise Aufgaben der Länder erfüllen (Art. 14 des Entwurfs des Einigungsvertrages).“9

Die Verpflichtung des Bundes und der alten Länder nach Art. 15 Abs. 2 EinV „Hilfe beim Aufbau der Landesverwaltung“ zu leisten, umfasste Sach- und Personal- sowie Ausbildungshilfen. Nach Art. 15 Abs. 3 EinV sollte das Ersuchen um Verwaltungshilfe an den Bund oder die alten Länder von den jeweiligen Ministerpräsidenten der neuen Länder ausgehen. Diese Verfahrensregelung war aber für die ersten Aufbauhelfer, insbesondere für diejenigen, welche beim Aufbau der Landtage helfen sollten, völlig unrealistisch, da der Aufbau der Landtage lange vor der Wahl eines Ministerpräsidenten durch den Landtag in Angriff genommen werden musste. Da sich die am 14.10.1990 zu wählenden Landtage (§ 2 Länderwahlgesetz) bis spätestens am 28.10.1990 zu konstituieren hatten (§ 23 Abs. 2 Ländereinführungsgesetz), mussten die Aufbauhelfer

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für die Landtage zumindest im September 1990 bestellt werden, damit ihnen für die vielfältigen Vorbereitungen für die konstituierenden Sitzungen wenigstens ein Monat zur Verfügung stand – eine sowieso schon unvorstellbar kurze Frist. Das Bestellungsverfahren für die Aufbauhelfer im Thüringer Landtag lief folglich außerhalb der Kompetenzregelungen von Art. 15 EinV aufgrund dieses extremen Zeitdrucks in sehr pragmatischer Weise ab. Es wurde eingeleitet von dem „Landessprecher“ für Thüringen, Josef Duchač. Die Einrichtung sogenannter Landessprecher, die auch als „Regierungsbevollmächtigte“, „Landesbeauftragte“ oder „Landesbevollmächtigte“ firmierten, hatten ihren Ursprung in einem Beschluss der Volkskammer der DDR. Sie beschloss am 17.5.1990 das Ende der Bezirkstage mit Wirkung vom 31.5.1990. Zugleich wurde der damalige Ministerpräsident de Maizière beauftragt, zur „Sicherung der Regierbarkeit des Landes bis zur Länderbildung in den Bezirken Regierungsbevollmächtigte einzusetzen“. Außerdem wurde in diesem Volkskammerbeschluss angeordnet, dass „beratende Gremien gebildet werden, die sich aus den Abgeordneten der Volkskammer des jeweiligen Bezirkes zusammensetzen“ (GBl. I S. 269). Dieses „beratende Gremium“ trat in Thüringen nur einmal am 2.7.1990 zusammen (zu zwei weiteren Sitzungen wurde zwar ein-, aber wieder ausgeladen) und hatte anders als der PBA nie eine besondere politische Bedeutung erlangt. Aus dem Kreis der am 5./6.6.1990 ernannten drei Regierungsbevollmächtigten der drei Thüringer Bezirke (Josef Duchač, Erfurt; Werner Ulbrich, Suhl; Peter Lindlau, Gera) wurde vom Ministerrat der DDR am 29.8.1990 der „Sprecher“ bestellt. Für Thüringen war dies der Regierungsbevollmächtigte für den Bezirk Erfurt, Josef Duchač, der später auch der erste Thüringer Ministerpräsident nach der Wende wurde. Duchač, wandte sich in einem Schreiben vom 12.9.1990 an den Ministerpräsidenten des Landes Rheinland-Pfalz mit der Bitte um Hilfe beim Aufbau bestimmter Ministerien sowie der Landtagsverwaltung. Ein weiteres Schreiben richtete er am 14.9.1990 an den Präsidenten des Hessischen Landtags, Hans-Peter Möller, indem er diesen ebenfalls – und zwar ziemlich detailliert – um Unterstützung beim Aufbau des Thüringer Landtags durch den Hessischen Landtag bat. Erbeten wurden ein Berater für den Ressortbeauftragten Ott sowie drei Berater für den Aufbau von drei Abteilungen. Weitere Ersuchen von Duchač um eine Aufbauhilfe für Thüringen im September 1990 an die Staatskanzleien der Partnerländer Hessen, Rheinland-Pfalz und Bayern führte zwischen diesen Staatskanzleien zu Gesprächen, welches westdeutsche Land die Federführung beim Aufbau der einzelnen Ressorts erhalten sollte. Diese Abstimmung verlief nicht gerade harmonisch; man haderte zum Teil miteinander als Konkurrenten um die einzelnen Ressorts. Der Amtschef der Bayerischen Staatskanzlei trat einer – angeblich abgestimmten – Zuordnung der Geschäftsbereiche durch den Chef der Hessischen Staatskanzlei zwischenzeitlich sogar „mit Nachdruck entgegen“, da der Freistaat Bayern bei ersten Kompetenzverteilungen gänzlich unberücksichtigt geblieben war. Schließlich einigte man sich ausweislich eines Schreibens des Chefs

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der Hessischen Staatskanzlei, Alexander Gauland, vom 26.9.1990 an den Bundesinnenminister sowie die Bund- Länder-Clearingstelle, das den Staatskanzleien von Rheinland-Pfalz und Bayern sowie dem Landessprecher für Thüringen nachrichtlich zuging, einvernehmlich auf folgende Zuordnung: „Staatskanzlei: Hessen Finanzen: Hessen Inneres: Hessen und Bayern Arbeit und Soziales: Hessen Wirtschaft und Verkehr: Hessen und Bayern Umwelt: Hessen Wissenschaft und Kunst: Hessen Justiz: Rheinland-Pfalz Kultus und Schulwesen: Rheinland-Pfalz Landwirtschaft: Rheinland-Pfalz Landesvertretung beim Bund: Rheinland-Pfalz Landtagsverwaltung: Rheinland-Pfalz“.

Für den Aufbau des Thüringer Landtags wurde also der Landtag Rheinland-Pfalz von den Staatskanzleien, also durch ein Exekutivorgan, für zuständig erklärt, ohne dass es dazu mit dem Landtag Rheinland-Pfalz zuvor eine förmliche Absprache gegeben hatte; in normalen Zeiten ein kaum vorstellbarer Vorgang.10 Schließlich wurde in den einzelnen ostdeutschen Ländern jeweils ein zentraler Aufbaustab unter der Regie des Landessprechers gebildet, welcher die Aufbauhilfe innerhalb des Landes in Angriff nehmen und koordinieren sollte. In Thüringen geschah dies im September 1990. Dem thüringischen Aufbaustab gehörten an: Mitarbeiter der „Bezirksverwaltung Erfurt“, dem ehemaligen Rat des Bezirks, die von dem Landesbevollmächtigten Duchač als „Aufbauleiter“ für die künftigen Ressorts und die Landtagsverwaltung eingesetzt wurden, sowie die jeweils federführenden Aufbauhelfer aus Thüringens Partnerländern Hessen, Rheinland-Pfalz und Bayern. Dieses Gremium tagte wöchentlich – jedoch ohne jeden nachhaltigen Nutzen. Die regelmäßigen Berichte aus den Aufbaustäben der Ressorts waren alles andere als zielführend. Niemand trauerte dem zentralen Aufbaustab nach, als er sich schließlich selbst auflöste. Für den Aufbau der einzelnen Thüringer Ressorts wurden spezielle Aufbaustäbe gebildet. Der Landessprecher Josef Duchač berief dazu am 3.9.1990 aufgrund einer vorherigen Abstimmung mit dem PBA den Leiter des Ressorts „Tourismus und Erholungswesen“ im Rat des Bezirks Erfurt, Eberhard Ott, zum „Staatlichen Beauftragten für die Einrichtung des Thüringer Landtags“, der in Kurzform auch als „Ressortbeauftragter“ oder „Aufbauleiter“ für den Thüringer Landtag bezeichnet wurde. Seine Aufgabe wurde wie folgt umschrieben: „…..in Zusammenarbeit mit dem Leiter der entsprechenden Arbeitsgruppe des Politisch-Beratenden Ausschusses, Herrn Heilmann, auf der Grundlage der von dieser Arbeitsgruppe erarbeiteten und vom Politisch-Beratenden Ausschuss bestätigten Materialien bis zur Landtagswahl am 14.10.1990 die räumlich-funktionelle Arbeitsfähigkeit des Landtags zu gewährleisten.“

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Ott bildete im September 1990 dazu eine 6 köpfige Arbeitsgruppe von Ossis, die sich vornehmlich aus der Arbeitsgruppe „Thüringer Landtag“ des PBA zusammensetzte (Heilmann, Langenhan, Franke, Ruthe, Purkert, Katzenberger), deren Dienstherr die Bezirksverwaltungsbehörde Erfurt war, also die Nachfolgeeinrichtung des Rates des Bezirkes, die auch die Besoldung übernahm. Zu dieser Gruppe traten Ende September 1990 die zwei vom Landtag Rheinland-Pfalz abgeordneten Beamten als Aufbauhelfer hinzu. Damit gab es für den Thüringer Landtag einen Aufbaustab aus sechs Ossis und zwei Wessis. Wie es zu der Berufung der beiden Aufbauhelfer – und zwar nur zu diesen zweien – aus Rheinland-Pfalz kam, wird in den folgenden Kapiteln näher beschrieben.

3.  Abgeordnet nach Thüringen – Aufbauhelfer für den  „Ressortbeauftragten Landtag“ Nachdem die Entscheidung gefallen war, dass das Land Rheinland-Pfalz beim Aufbau des Thüringer Landtags helfen sollte, verstand es sich von selbst, dass dafür vorrangig nur Personal aus der Verwaltung des Landtags Rheinland-Pfalz in Frage kommen würde. Dort waren das Interesse und damit der Andrang, nach Thüringen abgeordnet zu werden, allerdings nicht gerade groß. Es gab sogar erhebliche Vorbehalte: Thüringen und die Thüringer waren den „Linksrheinischen“ ziemlich fremd. Die Aufgabe erschien gigantisch und man hatte große Bedenken, sie ohne persönlichen Kollaps meistern zu können. Hinzu kamen die miserablen Arbeitsverhältnisse, die extreme zeitliche Inanspruchnahme, die Gefahr, bei Beförderungen in der Heimatdienststelle abgehängt zu werden und die beschwerlichen Wochenendfahrten. Auch Probleme, welche sich eventuell aus den Wochenendehen ergeben könnten, schreckten ab. Es gab somit eine ganze Reihe beachtlicher Gründe für diese Zurückhaltung, sich als Aufbauhelfer zu bewerben. So wie ich heute noch mit viel Begeisterung und Engagement Gastprofessuren in ehemaligen oder immer noch kommunistischen Staaten, wie z.B. in Russland und der Ukraine oder in China, wahrnehme, so war für mich die Hilfe beim Aufbau des Thüringer Landtags in gleicher Weise sowohl ein gewisses Abenteuer als auch eine fast missionarische Aufgabe, Demokratie und Rechtsstaat zu „predigen“ und zu verbreiten sowie bei der praktischen Verwirklichung dieser Grundprinzipien auf der parlamentarischen Ebene gestaltend zu helfen. Als in der Landtagsverwaltung von Rheinland-Pfalz gefragt wurde, wer bereit sei, beim Aufbau des Thüringer Landtags zu helfen, gab es für mich kein Zögern, ich stand bereit. Da es keine Konkurrenten gab, erübrigte sich auch ein Auswahlverfahren. Mein bereits oben beschriebener Werdegang, meine spezifische „Ostalgie“ (ein Begriff, der später eine ganz andere Bedeutung erhalten sollte), überzeugten Präsident und Direktor des Landtags Rheinland-Pfalz. Sie gaben mich frei; die Wiedervereinigungs-Euphorie ließ bei ihnen die eigennützigen Interessen, die Arbeitskraft eines Mitarbeiters temporär zu verlieren, zurücktreten. Vor den riesigen Problemen, die mich als Aufbauhelfer für ein Parlament erwarten würden, hatte ich keine Furcht. Ich war davon überzeugt, meiner Aufgabe auf allen Arbeitsebenen bestens gewachsen zu sein – bis auf den Bereich der EDV, den ich mir erst nach der Pensionierung mühsam punktuell erschließen sollte. Allerdings sollte diese Lücke, wie sich später herausstellte, das geringste Problem sein. Erfurt war nämlich ein Schwerpunkt der Mikroelektronik innerhalb des RGW1. Dort gab es keinen Mangel an EDV-Leuten höchster Qualifikation, sie benötigten keine „Aufbauhilfe“ – ganz im Gegenteil, eher übernahmen sie für uns Verwaltungshelfer die EDV-Aufbauhilfe.

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Alles ging dann rasend schnell: Am 24. September, einem Montag, fiel im Landtag Rheinland-Pfalz im Laufe des Tages die Entscheidung über meine Abordnung zum Thüringer Landtag. Noch am selben Tag lernten ich sowie die übrigen rheinlandpfälzischen Aufbauhelfer aus der Exekutive und Judikative bei einem abendlichen Treffen in Mainz die sog. Ressortbeauftragten bzw. „Aufbauleiter“ für den Aufbau der einzelnen Ressorts in der thüringischen Landesverwaltung kennen. Dabei traf ich erstmals mit Eberhard Ott, dem Ressortbeauftragten für den Aufbau des Thüringer Landtags, zusammen, mit dem ich für die nächste Zukunft ein enges Team bilden sollte. Ott war von seiner Ausbildung her Landwirt und zu DDRZeiten zuerst LPG-Vorsitzender und danach bis zum Ende der Bezirke Mitglied im Rat des Bezirkes Erfurt, dort zuständig für Fremdenverkehr und Tourismus. In dieser Eigenschaft war er u.a. auch für die Erteilung von Touristenvisa für DDR-Bürger ins befreundete Ausland zuständig. Aber nicht nur diese Zuständigkeit, sondern allein schon die Funktion eines Mitglieds im Rat des Bezirkes wurde gerade von Wendeaktivisten als erhebliche Belastung für eine Führungsrolle beim Aufbau des Thüringer Landtags angesehen. Es kam hinzu, dass seine bisherigen Funktionen ihn nun nicht gerade als kompetenten Aufbauhelfer für den Thüringer Landtag auswiesen. Ihm waren jedoch seine Mitgliedschaft, seine Funktionen und Kontakte in und über die Bauernpartei für seine Nachwendekarriere sehr hilfreich. Ott war seit 1953 ein thüringisches Urgestein der Bauernpartei und er gehörte auch deren Bezirksvorstand an. Die Bauernpartei war zwar zu DDR-Zeiten die strammste Blockpartei, aber sie war dennoch eine Partei, welche die CDU nach der Wende unbedingt „schlucken“ wollte (was später auch geschah), wozu man sich u.a. auch von Ott eine dahingehende Unterstützung erhoffte. So vermochte diese besondere parteipolitische Konstellation augenscheinlich den Mangel an Parlamentserfahrung beiseite zu schieben. Ich habe mich in die Diskussion über die politischen Altlasten von Ott aus DDR-Zeiten nie eingemischt. Zum einen war Ott über eine hinreichende demokratische Legitimationskette (demokratische Volkskammer, Ministerpräsident de Maizière , Landessprecher Duchač) in sein Amt berufen worden und zum anderen habe ich ihn als ausnahmslos loyalen Kollegen erlebt, der ohne Vorbehalte mit vollem Engagement am Aufbau der neuen rechtsstaatlichen Demokratie im Freistaat Thüringen mitwirken wollte. Ich traf an jenem Abend auf einen kleinen dickbäuchigen, mehr bäurisch als intellektuell aussehenden Mann, Jahrgang 1936, mit schon schütterem Haar, der zwar wenig Charme und Selbstsicherheit ausstrahlte, eher ziemlich spröde und unbeholfen wirkte, mir jedoch sehr freundlich und aufgeschlossen begegnete. Ich hatte den Eindruck, dass er heilfroh war, einen tatkräftigen, optimistischen und in Theorie und Praxis des Parlamentswesens gleichsam versierten Mann an die Seite zu bekommen. Wir wurden uns daher auch ohne jedes Kompetenzgezerre einig, dass ich für alle Aufgaben zuständig sein würde, die unmittelbar oder mittelbar mit den Aufgaben des Parlaments und der Parlamentsverwaltung im engeren Sinne zu tun haben würden. Ott sollte alle Aufgaben übernehmen, welche die räumliche Unterbringung des Landtags und seine büromäßige und technische Ausstattung betrafen.

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Abgeordnet nach Tübingen

Wir verabredeten uns gleich für den nächsten Tag in Erfurt, um die ersten grundlegenden Aufgabenstellungen näher zu erörtern: Die Suche nach einem geeigneten Gebäude für den Landtag, den Aufbau einer ersten kleinen Mannschaft für die Landtagsverwaltung und deren Unterbringung sowie die Vorbereitungen der ersten notwendigen Normen, um den Landtag zum Laufen zu bringen. Eiligst fuhr ich nach diesem ersten „Schnupperkurs“ nach Hause, um den Koffer für die erste Woche Thüringen zu packen.

4.  Anreise mit Hindernissen – und der Konflikt der   Wessis um die Federführung der Aufbauhilfe Am 25. September 1990 startete ich von Rheinland-Pfalz aus in mein Thüringer Abenteuer. Der Tag war grau und wolkenverhangen, es nieselte. Das Wetter animierte nicht gerade dazu, sich voller Begeisterung und Tatendrang zu neuen Ufern aufzumachen. Zusätzlich würde dieses miese Wetter den üblichen sowieso schon zähen Verkehrsfluss behindern, angefangen beim Frankfurter Kreuz über die Abkürzung auf der ehemaligen Bundesstraße B 40, an Hanau und Fulda vorbei zum Hattenheimer Dreieck auf die A7. Die schlimmsten Staus gab es dann später im ehemaligen Grenzbereich am so genannten „Thüringer Zipfel“. Beim „Thüringer Zipfel“ handelte es sich um einen ca. 11 km langen Engpass auf der A4 zwischen Obersuhl und Wommen, der heute sinnigerweise „Erlebnisstraße Deutsche Einheit“ heißt. Auf diesem Streckenabschnitt war die Autobahn im Dritten Reich nicht fertiggestellt worden, es fehlte insbesondere an einer langen Talbrücke und zu DDR-Zeiten bestand kein Interesse an einer vier-spurigen Autobahn in diesem Grenzbereich. Erst Jahre nach der Wiedervereinigung wurde die Lücke 1995 geschlossen. Meiner Stimmung tat das jedoch keinen Abbruch. Ich stieg voller Tatendrang in meinen alten VW Käfer, dessen vorrangiger Vorteil darin bestand, dass er so viele Beulen und Schrammen hatte, dass mich weitere Blechschäden herzlich wenig störten. Wenn mich andere Verkehrsteilnehmer leicht touchierten, hielt ich es zumeist – zu deren großem Erstaunen – nicht einmal für nötig anzuhalten, um nach dem Schaden zu sehen oder sogar die Polizei zu holen. Ich hielt es auch insoweit – neben dem Essen und Trinken – mit der französischen Lebensart, einen „petit claque“ locker wegzustecken. So brauchte ich auch die später leider zunehmenden mutwilligen Kratzer von aggressiven oder frustrierten Ossis an westdeutschen Nobelkarossen nicht zu fürchten. Diese Reaktionen erinnerten mich irgendwie an Parolen aus der Nachkriegszeit, wie „Ami go home“, die in Westdeutschland an viele Mauern und Hauswände geschmiert waren. Die reißerische Reklame der Autoindustrie suggeriert den Eindruck, dass ihre rasanten Nobelkarossen das Gefühl von Freiheit vermitteln würden. Ich sah das als stolzer Besitzer einer Schrottlaube ganz anders, gerade sie schenkte mir ein Stück Freiheit im Straßenverkehr. Die erwarteten Staus blieben natürlich nicht aus und nervten fürchterlich. Für die ca. 300 km von Ockenheim in der Nähe von Bingen bis nach Erfurt, die man heute auf der A4 in ca. dreieinhalb Stunden schafft, benötigte man damals üblicherweise sechs Stunden, in ungünstigen Fällen bis zu acht Stunden. Die „Eierkiste“, in der ich mich mit Eberhard Ott, dem Ressortbeauftragten für den Landtag verabredet hatte, war kaum zu verfehlen: sie liegt nach der Autobahnausfahrt Erfurt-West unübersehbar am Stadteingang, angrenzend an das damals noch so benannte Georgi-Dimitroff-Stadion, das heutige Steigerwaldstadion.

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Anreise mit Hindernissen

Beim Ausstieg aus dem Auto empfing mich unüberriechbar der würzige Duft der braunkohlegeschwängerten Luft. Subjektiv roch ich sie richtig gern. Und ich bin mir noch heute sicher, dass sie mich in meiner Erfurter Zeit als Aufbauhelfer vor Erkältungen und Halsschmerzen bewahrt hat. Sie brannte einfach radikal alle einschlägigen Bakterien weg. Hätte man die mit Braunkohle befeuerten Heizungen überhaupt nicht umgestellt, dann hätte es für Erfurt die Perspektive eines Kurortes zur Bekämpfung von Erkältungskrankheiten, insbesondere von Halsschmerzen, gegeben. Gewisse Lungenkrankheiten hätte man allerdings als Kollateralschäden in Kauf nehmen müssen. Trotz der durchlittenen Staus war ich überpünktlich. Ich war früh genug gestartet, um ja nicht unpünktlich zum ersten verabredeten Termin um 12.00 Uhr zu erscheinen. Damit wollte ich meine erste Duftmarke der mir eigenen preußischen Tugenden setzen: Pünktlichkeit, eine der von dem unsäglichen Lafontaine gegenüber dem von mir hochverehrten früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt verächtlich gemachten „Sekundärtugenden“, die einen nach der Auffassung Lafontaines durchaus befähigen würden, ein Konzentrationslager zu leiten. Man konnte nach mir die Uhr stellen. Als Aufbauhelfer habe ich später jede von mir einberufene Sitzung auf die Minute begonnen. Das hatte den vorzüglichen erzieherischen Nebeneffekt, dass zu spät kommende Gesprächsteilnehmer immer etwas bedeppert in die bereits laufende Sitzung kamen und mühsam den Anschluss an den Beratungsstand finden mussten. Dieser für sie so peinlichen Situation, verstärkt durch meine hämischen Willkommensgrüße, wollten sie sich nicht noch einmal aussetzen und kamen daher fortan lieber pünktlich. In dem bescheidenen Büro des Ressortbeauftragten für den Aufbau des Landtags saßen bereits zwei Herren, die mir Ott zu meiner großen Überraschung als meine Kollegen Aufbauhelfer aus dem Westen vorstellte. Ich war bisher davon ausgegangen, allein verantwortlicher Aufbauhelfer zu sein. Aus der Verwaltung des Hessischen Landtags waren der stellvertretende Direktor, zugleich Leiter der Parlamentsabteilung, Dr. Dietrich Schnellbach und der Sekretär des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestags, Ministerialrat Dr. Dietrich Lemberg anwesend. Lemberg leitete seine Legitimation als Aufbauhelfer aus Art. 15 Abs. 2 des Einigungsvertrages mit den dort verbrieften Kompetenzen des Bundes und seiner Abordnung durch den deutschen Bundestag nach Thüringen ab. Formal gab es damit gegen seine Anwesenheit keine Vorbehalte. Schnellbachs Legitimation stand hingegen auf recht wackeligen Füßen. Die oben wiedergegebene Absprache zwischen den Chefs der Staatskanzleien von Hessen, Rheinland-Pfalz und Bayern über die Aufbauhilfe für den Thüringer Landtag hatte diese ausdrücklich nur dem Landtag Rheinland-Pfalz zugewiesen. Die hessische Präsenz ließ sich damit nicht mehr mit dem bereits erwähnten „vorangegangenen Tun“, nämlich der zweitägigen Schulung der Mitglieder der Arbeitsgruppe „Thüringer Landtag“ des PBA sowie mit dem Hilfsersuchen des Landessprechers Duchač vom 14.09.1990 gegenüber dem Hessischen Landesparlament, begründen. Für mich ergab sich somit zwar eine überraschende Situation, aber die Zuständigkeiten waren eigentlich klar geregelt: Die Federführung bei der Aufbauhilfe für den Thüringer Landtag lag jedenfalls bei mir; ich hatte den „Hut auf“ (so hieß das

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in der DDR). Welche Kompetenzen hatte aber der Bund bei der Aufbauhilfe für die Landtage? Besaß er insoweit Zuständigkeiten nach dem Einigungsvertrag? Ich beantwortete diese Frage, wenn auch juristisch durchaus zweifelhaft, aber dennoch bestimmt und offensiv: Bei der Abgrenzung von Zuständigkeiten habe das Bundesverfassungsgericht immer auch funktionell darauf abgestellt, welche Organe für den jeweils in Frage stehenden Kompetenzbereich „dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügen“1, und das – so meine Schlussfolgerung – seien beim Aufbau eines Landesparlaments und seiner Verwaltung zweifelsohne die Beamten von Landesparlamenten. Der Vertreter des Bundes fand sich mit dieser „Degradierung“ stillschweigend ab, ohne dagegen zu protestieren oder Vorbehalte zu Protokoll zu geben. Er war eben „nur“ Sekretär des Verteidigungsausschusses, der sich in ganz anderen Sphären der Verwaltung und des Rechts bewegte, und eben nicht der bei allen Landtagsverwaltungen beliebte und hoch angesehene Sekretär des Geschäftsordnungsausschusses des Bundestags, Dr. Gerhard Kretschmar, ein ausgewiesener Parlamentsrechtler, den man aber dort augenscheinlich für unabkömmlich hielt. Aus meiner Sicht stellten sich in der ersten Aufbauphase folgende zwei Hauptaufgaben: Erstens mussten alle Rechtsnormen vorbereitet werden, die für die Bildung und den Aufgabenzuschnitt der Staatsorgane zwingend erforderlich waren und vom Landtag möglichst schnell verabschiedet werden sollten. Dazu gehörten zuvörderst zumindest eine vorläufige Rumpfverfassung, eine Geschäftsordnung für das Parlament sowie ein Abgeordnetengesetz. Zweitens mussten die praktischen Voraussetzungen geschaffen werden, damit das Parlament seine Arbeit aufnehmen konnte. Dabei ging es primär um die Suche und Ausstattung eines für die Parlamentsarbeit funktionstüchtigen Plenarsaals und von Sitzungsräumen für die Ausschüsse sowie die Fraktionen. Weiterhin mussten eine Parlamentsverwaltung aufgebaut und die erforderlichen Sachmittel angeschafft werden, angefangen von Telekommunikationsanlagen, Kopierern und Computern bis hin zum Papier. Ich erklärte mich bereit, die nötigen Rechtsnormen vorzubereiten und an allen parlamentsrelevanten Aufgaben mitzuwirken. Der hessischen Seite schlug ich vor, mit dem Ressortbeauftragten Eberhard Ott die Verwaltungsaufgaben zu übernehmen. Denn auch wenn die Hessen die Federführung bei der Aufbauhilfe verloren hatten, war deren Mitwirkung höchst willkommen. Der Vertreter des Hessischen Landtags schien damit auch einverstanden zu sein. Damit blieb aber für den Bundesvertreter kein angemessener Aufgabenbereich mehr übrig. Er verstand die Signale und verabschiedete sich mit den besten Wünschen. Später fand er beim Aufbau des Finanzministeriums in Immobilienangelegenheiten seine Aufgabe. Für Ott als einem in einem Zentralstaat gelernten Ossi war diese erste Arbeitssitzung mit Bundes- und Landeswessis ein Erlebnis ganz besonderer Art. Er hatte jahrelang im Rat des Bezirkes gesessen, einer in der DDR besonders verhassten Behörde, de-

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ren Aufgabe darin bestand, die Entscheidungen der Berliner Zentrale im Land zu exekutieren. Sie war in dem zentralstaatlichen System der DDR nach den ab 1952 schleichend aufgelösten föderalen Strukturen2 die maßgebliche dezentrale Behörde mit der Funktion eines „Beschleunigers“ (so eine der üblichen Qualifizierungen dieser Behörde in der DDR-Bevölkerung). Die bei den Räten der Kreise und Kommunen in gewissem Umfang vorhandenen Gestaltungsräume – die allerdings oft nur notgedrungen entstanden waren, um Lücken wegen fehlender Ressourcen zu schließen –. fehlten bei den Räten der Bezirke weitgehend. Was Berlin befahl, wurde geradezu sklavisch vollzogen. Ott erlebte daher bei seinem ersten Kontakt mit einem westdeutschen Aufbauhelfer das Gegenteil einer zentralen Kommandoverwaltung und das Beispiel eines gelebten selbstbewussten Föderalismus. Die Länder und nicht der Bund beanspruchten das Sagen, hatten das Kommando an sich gezogen und den Bund „ausgebootet“. Die mit Hessen am 25. September vereinbarte Aufgabenteilung sollte jedoch schon nach wenigen Tagen platzen: man war plötzlich nicht mehr bereit, Aufgaben im Verwaltungsbereich zu übernehmen. Über die Gründe dieses Rückzugs lässt sich nur spekulieren. War es die Enttäuschung darüber, dass nicht ihnen, sondern Rheinland-Pfalz „der Hut aufgesetzt“ wurde und für Hessen „nur“ der Verwaltungsbereich übrig blieb? Empfand man dies als eine undankbare Rückstufung nach den vorangegangenen Aufbauleistungen? Oder hatte man ganz einfach aufgrund der nicht sehr üppigen personellen Ressourcen in der hessischen Landtagsverwaltung angesichts der Fülle und Schwierigkeiten der anstehenden Aufgaben inzwischen Angst vor der eigenen Courage bekommen? Vielleicht spielten aber auch ganz eigennützige Erwägungen eine Rolle. In der hessischen Landtagsverwaltung stand ein Wechsel in der Chefposition bevor, und da empfiehlt es sich, bei dem damit verbundenen üblichen Postengerangel nicht nur in der Politik, sondern auch in der Verwaltung vor Ort präsent zu sein. Denn kaum hat man den Rücken gekehrt, treffen einen vergiftete Pfeile rücklings von konkurrierender Seite. War man also im Geheimen ganz dankbar, nicht fernab im Osten sein zu müssen, wo der Aufwind für Karrieren nur äußerst flau säuselte und die Kungelei um Posten weitaus schwieriger war? Sollte Schnellbach diese Erwägungen angestellt haben, dann ist seine Rechnung in jedem Falle voll und ganz aufgegangen: er wurde bald darauf Direktor beim Hessischen Landtag. Aber ich konnte Dietrich Schnellbach auf meine dringliche Bitte hin zuvor noch zu einer konkreten abgegrenzten Aufbauhilfe der Hessischen Landtagsverwaltung überreden: den Entwurf eines Abgeordnetengesetzes durch die Hessische Landtagsverwaltung zu erarbeiten und dessen spätere parlamentarische Beratung zu begleiten. Diese Aufgabe wollte ich nämlich keinesfalls übernehmen, obwohl ich an der späteren bundesweit beachteten so genannten thüringischen Indexregelung maßgeblich mitwirken sollte – doch dazu später Näheres. Meine reservierte Zurückhaltung gegenüber dieser speziellen Aufgabe lag darin begründet, dass ich bei dem Thema „Diäten“ einige grundlegend andere Vorstellungen hatte, die vom allgemein üblichen Abgeordnetenrecht in den Ländern abwichen. So vertrete ich bis heute die bei Landtagsabgeordneten alles andere als populäre Auf-

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fassung, dass Landesparlamente nach einer grundlegenden Parlamentsreform wieder „Feierabendparlamente“ werden und deren einfache Abgeordnete durch eine massive Kürzung der Diäten wieder den Status von Teilzeit- oder sogar ehrenamtlichen Abgeordneten erhalten sollten3. Damit sollte vorrangig den Gefahren einer zu starken Eigennützigkeit und mangelnder Gemeinwohlbindung der parlamentarischen Arbeit von Berufsabgeordneten gegengesteuert werden. Auch sollte damit die Bereitschaft zur Kandidatur beruflich stark angespannter Persönlichkeiten gefördert werden, die sich aus zeitlichen Gründen in Parlamenten mit Berufsabgeordneten kein Mandat leisten können. Mir war natürlich klar, dass diese Zielsetzung für die überaus intensive erste Legislaturperiode in den Parlamenten der neuen Länder nicht gelten konnte. Der Trend ging allerdings schon damals generell in eine ganz andere, gegenläufige Richtung, nämlich hin zum reinen Berufsabgeordneten. Ich konnte mir somit lebhaft vorstellen, wie ich mit den Abgeordneten in diesen Fragen aneinander geraten und damit das Vertrauen und den Zugang zu ihnen als Berater ganz schnell einbüßen würde. Denn wenn es um das eigene Geld geht, da hört bekanntlich nicht nur die Freundschaft auf, da verlaufen Kontroversen nicht mehr sachlich, sondern hoch emotional, oft sogar feindselig. Nach der Wende gab es einen regen Gedankenaustausch zwischen den Abgeordneten der ost- und der westdeutschen Landesparlamente und im Zentrum dieser Gespräche stand auch immer wieder die sachliche und finanzielle Ausstattung der Abgeordneten und der Fraktionen. Leider sollte nach dieser „westdeutschen Fortbildung“ in Diätenangelegenheiten die allgemein übliche Rosinenpickerei das Abgeordnetenund insbesondere das Diätenrecht im Osten maßgeblich bestimmen. Die Thüringer Abgeordneten interessierte in besonderem Maße Hessen als Vorbild, da sich dort die meisten und dicksten Rosinen im Diätenkuchen befanden. Bäckermeister dieses so überaus nahrhaften Kuchens war der Präsident des Hessischen Landtags, Jochen Lengemann, der daher wegen des in der Öffentlichkeit so apostrophierten „Hessischen Diätenskandals“ 1988 zurücktreten musste. Der hessische Aufbauhelfer für das Abgeordnetenrecht wurde der damalige Leiter der Abteilung für Presse- und Öffentlichkeit im Hessischen Landtag, Ministerialrat Bernd Friedrich. Er war nicht nur ein ob seiner Freundlichkeit bei den Abgeordneten sehr geschätzter Beamter, sondern auch ein höchst willkommener Aufbauhelfer, weil er aus Hessen das aus der Sicht der Abgeordneten lukrativste Diätenrecht Deutschlands mitbrachte. Es war daher nicht weiter verwunderlich, dass über den Entwurf eines Abgeordnetengesetzes in relativ kurzer Zeit Einigkeit erzielt werden konnte. Offen blieben nur die konkreten Zahlen für die Höhe der Grunddiäten, der Aufwandsentschädigung und der Altersversorgung (dazu später mehr). Aufgrund der hessischen Weigerung, neben dem „Beauftragten für den Aufbau des Thüringer Landtags“, Ott, Hilfe im Verwaltungsbereich zu leisten, ergab sich eine schmerzliche Lücke. Ich erklärte mich bereit, sie im Wesentlichen zu füllen, bestand aber darauf, dass mir ein in der Praxis eingefuchster Beamter als Leiter des Parlamentssekretariats an die Seite gestellt würde. Hierbei handelt es sich nämlich um eine Aufgabe, die für die Funktionstüchtigkeit eines Parlamentsbetriebs gar nicht hoch ge-

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nug eingeschätzt werden kann, die dennoch weitgehend im Verborgenen bleibt. Das Parlamentssekretariat hat dafür zu sorgen, dass alle in einem Parlament eingehenden Initiativen, insbesondere Gesetzentwürfe und sonstige Anträge, in der richtigen Form rechtzeitig an die richtigen Adressaten gelangen. Dasselbe gilt für alle im Laufe der parlamentarischen Beratungen anfallenden Parlamentaria, von Änderungsanträgen über Beschlussempfehlungen bis hin zu den vom Landtag beschlossenen Anträgen und Gesetzentwürfen. Eine Landtagsverwaltung bezieht heftige Prügel von der Regierung, den Fraktionen oder von Abgeordneten – manches Mal auch noch begleitet von hämischen Kommentaren in der Presse – wenn parlamentarische Verfahrenswege durch bürokratische Mängel, egal ob von ihr verschuldet oder nicht, gestört werden. Diese Prügel landen letztlich zumeist beim Chef einer Landtagsverwaltung, dem Landtagsdirektor. Ein Parlamentssekretariat muss daher penibel, zuverlässig, schnell und flexibel arbeiten. Ich bat daher die Landtagsverwaltung von Rheinland-Pfalz, mir einen Beamten aus der Leitung des Parlamentssekretariats so lange abzuordnen, bis er eine funktionstüchtige Truppe im Thüringer Landtag aufgebaut haben würde. Schweren Herzens wurde mein Wunsch – wenn auch mit einer viel zu engen zeitlichen Befristung von einem Monat – erfüllt. Dafür musste allerdings ein gewisses Verständnis aufgebracht werden, da die Abordnung in einer doch relativ kleinen Landtagsverwaltung ein fühlbares Loch riss, das von anderen Kollegen mit nicht unerheblichem zusätzlichem Einsatz gefüllt werden musste. Die ursprünglich sehr kurze Abordnung wurde jedoch mehrfach verlängert, bis sie schließlich in eine Versetzung mündete. Noch in derselben Woche reiste mein für das Parlamentssekretariat abgeordneter Kollege aus Rheinland-Pfalz, Oberamtsrat Klaus-Dieter Steinmetz, in einem alten, vom Landtag Rheinland-Pfalz ausgemusterten Opel an, den er als Geschenk des rheinland-pfälzischen Landtagspräsidenten für den Thüringer Landtag mitbrachte. Ihm war es sichtlich peinlich, Überbringer dieses so „großherzigen“, doch schon sehr in die Jahre gekommenen Geschenks zu sein. Wichtiger für die Vorbereitung eines arbeitsfähigen Landtags war allerdings die Ladung des Opels: Je ein Satz aller nur denkbaren Vorlagen, Materialien und Muster, die in einem Landtag üblicherweise anfallen, angefangen von drei Arten von Umlaufmappen (für einen normalen, eiligen und vertraulichen Inhalt) über die verschiedenen Drucksachen (Gesetzentwürfe, Anträge der unterschiedlichsten Art, Beschlussempfehlungen von Ausschüssen, Beschlüsse des Landtags), Vorlagen und Zuschriften für Ausschüsse und vieles andere mehr. Bei diesen erprobten Mustern von Parlamentaria und Materialien aller Art wurde nur der Kopf ausgetauscht: Statt Landtag Rheinland-Pfalz hieß es nun Thüringer Landtag – bis zum heutigen Tag. Steinmetz sollte aber schon nach nur ca. drei Wochen (er blieb vom 4.10. bis 24.10.1990), gesundheitlich angeschlagen und frustriert von den immensen Problemen bei der Aufbauarbeit sowie den schwierigen allgemeinen Lebensbedingungen, das Handtuch werfen. Er wurde von seinem Stellvertreter in der rheinland-pfälzischen Landtagsverwaltung abgelöst, dem Amtsrat Karl Doppler, der für den Stress und die anfangs schwierige Zusammenarbeit mit den Ossis die nötige Lockerheit

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und sein stets sonniges rheinhessisches Wesen mitbrachte und in seiner Einsatzfreude kaum zu übertreffen war. Er diente dem Thüringer Landtag vom 21.10.1990 bis zum 30.06.1993. Nach weiteren Stationen in der Thüringer Landesverwaltung sollte aber auch er am Ende kapitulieren und völlig ausgelaugt mit seiner Familie den Rückzug in die alten heimischen Gefilde antreten. Der Aufbaustab für den Thüringer Landtag war damit vorerst mit sechs Ossis und zwei Wessis komplett, so dass mit der konkreten Aufbauhilfe begonnen werden konnte. Doch zuvor musste noch eine private Unterkunft gefunden werden.

5.  Die Wohnungsmisere – Vom „Jugendtouristhotel   Völkerfreundschaft“ über die Mietwohnung zum   eigenen Haus ohne die Gunst der Modrow-Gesetze Nach der ersten dienstlichen Runde mit der Aufgabenverteilung zwischen dem „Beauftragten des Landesbevollmächtigten für den Aufbau des Thüringer Landtags“, Eberhard Ott, und den westlichen Aufbauhelfern, von denen im Wesentlichen nur die Rheinland-Pfälzer übrig bleiben sollten, fuhr mich Ott zu meiner ersten Bleibe. Sie sollte die nächsten acht Monate meine Anlaufstelle für die vormitternächtliche „Essensversorgung“ und die Schlafstatt für ziemlich kurze Nächte werden: das „Jugendtouristhotel Völkerfreundschaft“ am nördlichen Ende des Juri-Gagarin-Rings. Das Hotel gibt es heute nicht mehr. Es nahm ein unrühmliches Ende: Zuerst gab es Querelen um seine Privatisierung, mit denen sich später sogar ein Untersuchungsausschuss des Landtags beschäftigten sollte, dann wurde es abgerissen, sehr zu Recht, denn es war eine kaum sanierungsfähige Bruchbude.

Abb. 1  Das „Jugendtouristhotel Völkerfreundschaft“

Der Empfang durch einen vierschrötigen, kahlgeschorenen Herrn mittleren Alters, der sich als Geschäftsführer gerierte, war nicht gerade freundlich. Offensichtlich behagte ihm die Invasion der Wessis von der Telekom, von Versicherungsvertretern und

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allen möglichen Glücksrittern in sein Hotel so gar nicht. Ich war augenscheinlich auch kein willkommener Gast. Denn schon nach der Rückkehr von meiner ersten Wochenendheimreise ins Hotel musste ich am Montagmorgen erleben, dass das von mir auf Monate im Voraus durchgehend gemietete Zimmer während meiner Abwesenheit am Wochenende weitervermietet worden und immer noch belegt war. Auf meine Beschwerde wurde ich patzig belehrt, „man habe uns aus dem Westen ja schließlich nicht gerufen“. Ich speicherte diese Bemerkung im Hinterkopf. Vielleicht könnte ich sie ihm eines Tages unter veränderten Bedingungen, wenn ich nicht mehr so dringend auf ihn angewiesen war, heimzahlen. Er lief mir jedoch später nicht mehr über den Weg. Nachdem ich das Zimmer besichtigt hatte, wollte ich kaum glauben, dass es 80,00 DM pro Nacht kosten sollte. Die Heizung ließ sich nicht abstellen, noch viel weniger regulieren. Zwar gab es Dusche und Toilette, aber was war das für ein Loch! Die Krönung des Zimmers war das Fenster. Es ließ sich mit dem dazu vorgesehenen Griff nicht öffnen, der steckte nämlich nur ganz locker und funktionsuntüchtig im Rahmen. Ich musste einen Ausweg finden, um vor dem Einschlafen das völlig überheizte Zimmer wenigstens einmal kurz durchzulüften. Mehr an frischer Luft war nicht drin, da das Hotel zwischen zwei Straßen lag, auf denen Trabbis und Wartburgs nicht nur einen höllischen Lärm, sondern auch noch einen bestialischen Gestank verbreiteten. Meine Hoffnung ruhte auf meinem Korkenzieher, der mich als großem Weinliebhaber auf längeren Reisen immer begleitet. Diesen bohrte ich in den Holzrahmen – und tatsächlich ließ sich das Fenster nach heftigem Gezerre öffnen. Da ich in den nächsten Monaten den Korkenzieher auch zu seiner eigentlichen Bestimmung nutzen wollte, konnte ich ihn nicht im Fensterflügel stecken lassen, sondern musste das Fenster jedes Mal neu anbohren, was ihm gar nicht gut bekam. Zum Ende meines Aufenthalts hatte die Stabilität des Rahmens arg gelitten, wohl durchaus ein Fall von Sachbeschädigung. Aber lag hier nicht ein übergesetzlicher Notstand vor, der meine Tat rechtfertigte, jedenfalls aber entschuldigte? Der Preis des Zimmers ließ sich weder mit dem Hinweis auf dessen Mängel noch mit dem Argument herunterhandeln, dass man für eine mehrmonatige Anmietung doch gewiss einen Nachlass beanspruchen könne. Oh ja, mancher Ossi hatte nach der Wende sehr schnell einige Grundregeln der freien Marktwirtschaft gelernt, besonders diejenige zum Verhältnis von Nachfrage und Preis. In Erfurt waren nämlich Hotelzimmer knapp und die Zahl der nach Zimmern suchenden Gäste groß. Dazu zählten Aufbauhelfer sowie Geschäftsleute, von denen sicher nicht wenige damals den größten Reibach ihres Lebens gemacht haben, wie manche Versicherungsvertreter oder Autohändler und eine Zimmernachbarin im Hotel, die vielen Menschen Lexika mit dem Argument andrehte, nur mit diesem Wissen den Übergang in die neue Zeit erfolgreich meistern zu können. Als ich mir anstelle meines wenig komfortablen, dafür aber umso teureren Hotelzimmers eine kleine Wohnung suchen wollte, nahm die Wohnungsmisere ihren Fortgang: Es gab überhaupt keinen Wohnungsmarkt, freie Wohnungen wurden einfach nicht angeboten und die extrem seltenen Angebote hatten horrende Preise. Die lokale

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Presse, heute seitenlang mit Immobilienangeboten gespickt, enthielt immer nur die Anzeige einer einzigen Immobilienmaklerin: Frau Simmen. Sie war sehr freundlich und zeigte sich durchaus hilfsbereit, aber Angebote hatte sie leider nicht. Ich versuchte es dennoch zuerst einmal mit einer Anzeige in der örtlichen Presse und – wie in Studentenzeiten – mit Suchanzeigen, die ich an Straßenbäume pinnte. Dabei strich ich besonders den Beamten als soliden und zahlungskräftigen Mieter heraus. Die Reaktionen waren dennoch kümmerlich und deprimierend. Das erste Angebot war nach mitteleuropäischen Maßstäben völlig unzumutbar und hinsichtlich seines Preis-Leistungs-Verhältnisses eine Frechheit sondergleichen. Es handelte sich um einen kleinen Container von ca. 20 qm. Telefonisch wurde ein Zimmer mit Bad, Toilette und Küche angeboten. Dieser Komfort sollte sich bei näherer Besichtigung als absonderliches Unikat entpuppen: Dusche, Toilette und Kochgelegenheit waren in einem kleinen Kabuff auf engstem Raum zusammengepfercht. Sehr originell: Toilette mit integrierter Kochgelegenheit – oder umgekehrt. Der Clou dieses Anwesens war sein Preis: 2.000,00 DM – im Monat. Auch dieser Vermieter, ein Ossi, hatte die Grundregel der freien Marktwirtschaft, wonach sich Preise nach Angebot und Nachfrage bestimmen, schnell kapiert. Auf meine Anzeige meldete sich auch eine Dame per Telefon. Sie habe mir etwas anzubieten, ich möge bei ihr vorbeikommen. Dieses Angebot sollte dann einige Überraschungen bieten. Die Adresse war eine Platte in Erfurt-Süd. Ich klingelte und mir öffnete zu meiner großen Verwunderung eine ansehnliche, wohlproportionierte Dame in einem ziemlich durchsichtigen schwarzen Negligee. Es folgte die nächste Überraschung: Sie führte mich in ein kleines Wohnzimmer mit einem reich gedeckten Tisch. Ich wusste nicht richtig, wie ich das Gespräch beginnen sollte. War ich vielleicht in einem falschen Film gelandet? Sie bot mir Wein und Gebäck an, wobei sie sich so geschickt und zielführend nach vorne beugte, dass ihr sowieso nur spärlich bedeckter Busen vollends Gefahr lief, aus dem Ausschnitt ihres Negligees herauszukullern. Der Wein war kaum genießbar so wie alle Weine, die man in den neuen Ländern damals vorgesetzt bekam. Das galt sowohl für die Saale-Unstrut-Weine als auch die Weine, die geschäftstüchtige Winzer aus der Pfalz oder Rheinhessen ankarrten, die allenfalls zur Versprittung mit EU-Mitteln getaugt hätten. Als Jurist und Politikberater hatte ich es gelernt, zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen Amt und Privatem zu trennen, und so gab ich mir einen kräftigen Schubs, kehrte streng und entschieden die Amtsperson hervor und kam sogleich auf das von mir anvisierte Geschäft zu sprechen: ob sie mir eine Wohnung vermitteln könne. Sie bejahte mit süßlicher Stimme. Ihre Schwester arbeite im Westen und deren Wohnung sei die ganze Woche über frei. Es handele sich um eine 2-Zimmer-Wohnung in einer Platte am Wiesenhügel. Durch Erfahrungen anderer Aufbauhelfer gewieft, fragte ich sofort nach den Bedingungen. Ich wusste, dass viele, die in den Westen pendelten, ihre spottbilligen KoWo-Wohnungen – ohne Zustimmung der KoWo (Kommunalen Wohnungsbaugenossenschaft) – zu horrenden Preisen untervermieteten. Für Wohnungen, die 50,00 DM Miete kosteten, wurden von den Wessis bis zu 500,00 DM

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verlangt. Mancher Wessi fühlte sich ausgebeutet. Ich nahm diese kapitalistisch inspirierte Mentalität der Vermietungshaie mit einer gewissen Genugtuung zur Kenntnis, wurde mir doch bestätigt, dass die staatliche Umerziehung zum neuen, besseren, sozialistischen Menschen an dem augenscheinlich naturgegebenen Streben nach Eigennützigkeit dieser Spezies auch in der DDR ganz offensichtlich gescheitert war. Mich überraschte ihr Angebot sehr: Die Miete sollte monatlich nur 150,00 DM betragen. Ich fragte weiter, ob es für eine Untervermietung auch eine Zustimmung der KoWo geben würde. Auch das bejahte sie. Ob die Verhandlungen mit der KoWo wohl auch in dem von mir vorgefundenen Rahmen stattgefunden haben, schoss es mir durch den Kopf. Auf eine Zustimmung der KoWo legte ich deshalb so großen Wert, weil ich es mir als Aufbauhelfer zum ehernen Prinzip gemacht hatte, immer Vorbild zu sein und nicht den geringsten Anlass für eine – später sehr verbreitete – Pflege eines Zerrbildes von den Wessis als eigensüchtigen Kolonialisten abzugeben. Ich blieb skeptisch: Eine preiswerte Wohnung mit genehmigter Untervermietung? Daran musste irgendein Haken sein. So war es dann auch: Der Mann meiner Wohnungsvermittlerin war Fahrer beim sowjetischen Militär, und das würde doch bald zurück in die SU abziehen. Er brauchte folglich eine neue Stelle. Und der Landtag brauche doch sicherlich viele Fahrer. Ich sei dort schließlich ein ganz hohes Tier und könne ihm bestimmt eine Anstellung zusichern. Nun war es heraus. Sollte ich mehr die Raffinesse meiner Gastgeberin oder ihre aufopferungsvolle Liebe zu ihrem von Arbeitslosigkeit bedrohten Ehemann bewundern? Ich war nach Thüringen gekommen, um rechtsstaatliche Strukturen aufzubauen und dazu gehörte es schließlich auch, den Rechtsstaat vorzuleben. Also reagierte ich wie ein ordentlicher Jurist und Beamter und bemühte mich, meiner Gastgeberin möglichst schonend beizubringen, dass ich ihren Mann als Fahrer nicht einstellen könne, da es keine freie Stelle gebe. Zwar würde es an allen Ecken und Enden an qualifiziertem Personal für die Verwaltung mangeln, Fahrer gebe es jedoch wie Sand am Meer. Es folgt die Wohnmisere für Aufbauhelfer 3. Teil: Die Anmietung einer Wohnung in der Iderhoffstraße, in die auch meine Frau mit einziehen sollte. Erfurtern, denen wir unsere neue Adresse nannten, rümpften ob des zweifelhaften Rufs dieser Wohnlage verdutzt die Nase. Einen Grund erfuhr ich von dem Taxifahrer, der mich zum Besichtigungstermin fuhr. Als ich ihm das Ziel der Fahrt nannte, fragte er vorsichtig neugierig nach dem Grund meines dortigen Besuchs. Als ich ihm sagte, ich sei auf Wohnungssuche, fragte er nach der Lage der angebotenen Wohnung. Darauf seine Reaktion in schönstem Thüringisch: „Ach da, wo die Buff war.“ Die Verwendung der Vergangenheitsform war immerhin beruhigend: „die Buff“ hatte den Betrieb inzwischen wohl eingestellt. Das – so sollte sich später nach meinem Einzug herausstellen – hatte sich allerdings noch nicht bei allen Interessenten der käuflichen Liebe in Erfurt herumgesprochen. Regelmäßig klingelte das Telefon, das überhaupt die Attraktion und der ausschlaggebende Grund für die Anmietung der Wohnung war, denn wir lebten noch in der einerseits schrecklichen, aber andererseits auch glücklichen handylosen Zeit. Die An-

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rufe kamen leider bevorzugt zu nachtschlafender Zeit. Männliche Stimmen erkundigten sich nach den gewöhnlichen Angeboten der käuflichen Dienste, teils auch nach bizarren Varianten, die meinen Horizont über das menschliche Liebesleben erheblich erweiterten, und schließlich fragten sie nach den jeweiligen Preisen. Meistens jedoch legten die Anrufer sofort auf, wenn sie meine männliche Stimme hörten. Ich habe die Anrufe mangels adäquater Alternativen auf dem Erfurter Wohnungsmarkt ertragen und langsam sprach sich wohl auch herum, dass das Gewerbe unter der Telefonnummer gewechselt hatte und so ließ die Häufigkeit der Anrufe langsam nach. Bei der Besichtigung der Wohnung, die als frisch renoviert angepriesen war, stellte sich heraus, dass die Renovierung aus folgenden qualitäts- und mietpreissteigernden Maßnahmen bestand: Auf die an sich schönen hölzernen Dielen, die man hätte abschleifen und lasieren können, hatte man einfach einen billigen Teppichboden locker darauf gelegt, ohne ihn zu verkleben, exakte Abschlüsse an Wänden und Türen fehlten durchgängig. Die Fenster waren neu, aber so schief eingebracht, dass die Schalldämmung nur sehr gering war und die permanente Lüftung mir zum Winter hin trotz leidlicher Zentralheizung zunehmend eine zu frische Raumtemperatur bescherte. Ich kaufte mir also Wolldecken, die ich zwischen die Wände und Fensterfassungen stopfte. Außer dem Telefonanschluss, den wir uns aber mit weiteren Nebenanschlüssen im Haus teilen mussten, hatte die Wohnung auch noch weitere Vorteile: Ein Duschbad, eine davon getrennte (!) – in der Wohnung und nicht etwa auf halber Treppe gelegene –. Toilette; so etwas gibt’s schließlich nicht einmal in alten Komfortwohnungen. Auch eine leidlich ausgestattete Küche war vorhanden. Mietpreisverhandlungen waren aussichtslos. Unter Hinweis auf die Vielzahl von Mietinteressenten gab es ein Preisdiktat: 24,50 DM pro Quadratmeter Kaltmiete. Ich akzeptierte den Preis zähneknirschend mangels Alternativen. Die Immobilienhaie, auf denen ich nun schon mehrfach herumgehackt habe, sollen sich aber dadurch nicht einseitig stigmatisiert fühlen, obwohl die schwarzen Schafe unter ihnen geradezu herdenweise auftraten. Derartige Turbokapitalisten tummelten sich auch in anderen Branchen. Aber – und dieses „aber“ ist ganz fett zu unterstreichen – man erlebte im Geschäftsleben auch die absolut gegenteilige Haltung: Viele Ossis traten ihren Kunden gegenüber derart liebenswert und hilfsbereit auf, dass Zweifel aufkamen, wie sie mit einer solchen Einstellung künftig überleben könnten. Diese beiden so extrem unterschiedlichen neuen und alten Typen von Geschäftsleuten mögen auch folgende Beispiele illustrieren : Das kapitalistische Virus machte selbst vor einer Berufsgruppe, die in allen Umfragen regelmäßig das größte Vertrauen in der Bevölkerung genießt, nicht ganz halt: Den Ärzten. Als leidenschaftlicher Freizeitsportler litt ich permanent unter irgendwelchen Verletzungen. Die Wartezimmer von Orthopäden waren mir daher sehr vertraut. Jahrelange Erfahrungen mit dieser Ärztegruppe im Rhein-Main-Gebiet ließen mich langsam an deren Kunst verzweifeln und schließlich resignieren. Außer langfristig

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wirkungslosen Cortisonspritzen fiel ihnen kaum etwas ein. Jetzt setzte ich all meine Hoffnungen auf die Sportärzte im Osten. Trugen sie doch einen gehörigen Anteil – welcher auch immer das gewesen sein mag – daran, dass die kleine DDR in den meisten Sportarten absolute Weltspitze war. Es gab für mich keine bessere Adresse. Da Erfurt für manche olympischen Disziplinen Kaderschmiede war, erkundigte ich mich nach Orthopäden, welche die Top-Athleten fit und schmerzfrei hielten – noch mehr wollte ich ja gar nicht. Ich geriet an Herrn Dr. X., dem ich meine Leidenstouren durch westdeutsche Sportärztepraxen erzählte und schloß mit den Worten : „Meine zahllosen Sportverletzungen rühren auch daher, dass ich Sport zu ehrgeizig und verbissen und nicht mit der nötigen Lockerheit betreibe.“ Dr. X. schaute mich verständnisvoll an, gab mir völlig überraschend sogleich zum Abschied die Hand und sagte nur einen Satz: „Genau, Herr Linck, beim Sport nicht verkrampfen, immer locker bleiben.“ Das war ebenfalls Weltspitze : Diagnose und Therapie zugleich in einem einzigen Satz von zehn Wörtern und das zusammen in unglaublicher Weltrekordzeit. Meine Überraschung sollte sich noch steigern, als ich einige Tage später die Rechnung für eine ausführliche psychotherapeutische Beratung erhielt. Ich schwankte zwischen amüsierter Verwunderung über soviel Chuzpe und heiligem Zorn über so eine Unverschämtheit, die schließlich den Straftatbestand des Betrugs erfüllte. Sein Honorar hätte er wenigstens mit mir teilen können, denn schließlich hatte ich ihm selbst Diagnose und Therapie in den Mund gelegt. Ich wagte nicht, diese Rechnung bei der Beihilfestelle des Landes einzureichen, um beim Thüringer Landtag nicht womöglich den Eindruck zu erwecken, dass die Rheinland-Pfälzer einen „Psycho“ als Aufbauhelfer entsorgt hätten. Aber, wie schon gesagt, gab es auch Ossis, die in ihrer ganzen Hilfsbereitschaft und Liebenswürdigkeit so gar nicht kapitalismustauglich waren. In der unmittelbaren Nachwendezeit gab es noch viele kleine Läden, deren Betreiber fähig waren, z.B. Haushaltsgeräte zu reparieren, wie Bügeleisen, Kaffeemaschinen oder auch Radios. Die westdeutsche Wegwerfgesellschaft sollte erst später Einzug halten. Am verblüffendsten aber war neben der Fähigkeit, Haushaltsgeräte überhaupt noch reparieren zu können, die Beratung. Man versetzte sich dabei in die Lage des Kunden, ohne primär an den eigenen Gewinn zu denken. Die Beratung mündete zumeist in der konkreten Empfehlung, daß eine Reparatur preisgünstiger wäre als ein Neukauf. Bis heute ist diese kundenfreundliche Einstellung selbst in großen Kaufhäusern anzutreffen, so z.B. wenn eine Verkäuferin auf günstigere Alternativangebote oder -lösungen aufmerksam macht. Doch zurück in meine neue Mietwohnung : Nach dem Einzug stellte ich mich den Nachbarn im Haus vor. Mir war bewusst, dass es sich bei dieser von mir gepflegten Anstandspflicht um das Relikt einer vergangenen bürgerlichen Gesellschaftsepoche handelt, das im Westen weitgehend, im Osten aber durch den Verlust von rund vier Millionen, zumeist dem bürgerlichen Milieu entstammenden Republikflüchtigen nahezu völlig ausgestorben war.

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Ich klingelte also bei den ersten Nachbarn. Die Tür wurde einen kleinen Spalt geöffnet, durch den ich schemenhaft einen Mann in Trainingshose und weißem gerippten Unterhemd erkennen konnte. Auf meine Begrüßung: „Mein Name ist Linck, ich bin Ihr neuer Nachbar und wollte mich Ihnen vorstellen“ gab er nur ein mir unverständliches Gemurmel zur Antwort und zu war die Tür. Auch die künftigen Begegnungen mit diesen Nachbarn, einem Ehepaar mit zwei Kindern, blieben einseitig und einsilbig. Bei Begegnungen im Treppenhaus gab es auf meinen Gruß keine Reaktion. Eines späten Abends, es war schon nach 23.00 Uhr, gab es jedoch eine Ausnahme. Es klingelte an der Tür und vor mir stand meine Nachbarin. Ohne Gruß und Einleitung sagte sie: „Ham Sie en Telefon ? Ich brauch mal en Taxi.“ Nicht mehr und nicht weniger. Ich rief das Taxi und sie zog ohne Dank und Gruß wieder los. In welche Welt bis Du gezogen, fragte ich mich. Die nächste Vorstellung bei den Nachbarn eine Etage tiefer verlief ähnlich. Von ihnen haben wir im Übrigen kaum etwas vernommen, außer regelmäßig an jedem Freitagnachmittag. Nachdem die „Stütze“ abgeholt und zu einem beachtlichen Teil in Alkohol umgesetzt war, gab es in der Wohnung eine lautstarke Feier, die jedoch jedes Mal – wie bei einem ordentlichen norddeutschen Schützenfest – in einer heftigen, für alle übrigen Mitbewohner hörbaren Prügelei endete. Ich machte mir Sorgen; müsste man nicht eingreifen, vielleicht sogar die Polizei verständigen? Als neu eingezogener Mieter, dazu noch als Wessi, wollte ich aber nicht vorschnell reagieren. Der darauf angesprochene Vermieter riet dringend davon ab, irgendetwas zu unternehmen. „Die Assis“ würden sich sofort gegen mich verbünden. Im Übrigen verliefen diese Freitagsfeiern schon seit langem in diesen Bahnen, ohne erkennbar nachhaltige Schäden oder Folgen für die Beteiligten. Das war dann doch nicht das erstrebenswerte zu Hause, weder die Wohnung noch das Umfeld. So ging ich auf die Suche nach dem Erwerb eines separaten Einfamilienhauses oder eines Baugrundstücks, um zu bauen. Nachmieter wurde durch meine Vermittlung ein Pressereferent der CDU-Fraktion, der heute Pressesprecher eines Weltkonzerns ist. So begann manche spätere steile Karriere, in diesem Fall nicht gerade in einem Stall, aber doch in den sehr bescheidenen vier Wänden eines ehemaligen „Buffs“. Die Haus- und Grundstückssuche erwies sich unmittelbar nach der Wende als ein schier unmögliches Unterfangen. Sofern überhaupt ein Haus angeboten wurde und die Eigentumsverhältnisse geklärt waren, war es mit Sicherheit zumindest teilweise vermietet. Damit war das Objekt für mich als Käufer tabu. Ich sah schon die Schlagzeile der örtlichen Presse vor mir: Wessi klagt alte Witwe wegen Eigenbedarfs aus Wohnung, in der sie schon seit 20 Jahren lebt und wo sie in ihr soziales Umfeld integriert ist. Eine Horrorvorstellung für mich. Ich wollte das schon früh aufkeimende Zerrbild eines Wessis mit kolonialer Siegermentalität, und das auch noch als hoher Beamter in der Landtagsverwaltung, keinesfalls vergrößern. Also ging’s auf die Suche nach einem Grundstück. Erste Anlaufstelle war die Stadt Erfurt. Sie hatte sich zur Verbesserung ihrer Chancen, Landeshauptstadt zu werden,

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bereits frühzeitig verpflichtet, Aufbauhelfern bei der Suche nach Wohnraum und Grundstücken behilflich zu sein. Durch Vermittlung des Ressortleiters Eberhard Ott meldete ich mich beim Finanzdezernenten an, dem auch das Liegenschaftsamt unterstellt war. Pünktlich klopfte ich an dessen Vorzimmer zum vereinbarten Termin, wurde jedoch gebeten, erst einmal vor der Tür Platz zu nehmen. Nachdem der gewichtige Herr Amtsleiter mehrfach sein Büro verlassen hatte und an mir ohne jede Reaktion vorbeigelaufen war, sprach ich ihn nach ca. 20-minütiger Wartezeit an, stellte mich vor und wollte ihm mein Anliegen vortragen. Obwohl ich schließlich offiziell angemeldet war, wurde ich mit zwei kurzen, unhöflichen, patzigen Bemerkungen abgefertigt: „Ich habe keine Zeit, im Übrigen haben wir keine Grundstücke zum Verkauf.“ Die zweite Aussage war objektiv falsch. Die Stadt besaß eine Vielzahl bebauter und unbebauter Grundstücke. Diese wurden allerdings bevorzugt unter alten Seilschaften zu Spottpreisen verhökert. Für einen Interessenten aus dem Westen war kein Platz in diesen Seilschaften, der konnte nur stören. Ich kochte vor Wut. Unverrichteter Dinge wurde ich aus dem Rathaus gejagt, als wäre ich ein räudiger, um einen Knochen bettelnder Hund. Na warte, dachte ich mir im Stillen, wir begegnen uns bestimmt wieder. Ott stellte nach diesem Fehlschlag einen Kontakt zum Büroleiter des Oberbürgermeisters her, einem äußerst angenehmen, freundlichen und hilfsbereiten Herrn, doch leider ohne Macht und Einfluss. Übergangszeiten in einem noch stark hinkenden Rechtsstaat, wie in der damaligen Zeit im wilden Osten, sind eben die Stunde der Rambos und gerade nicht der hilfsbereiten Menschenfreunde. Nach dieser Pleite auf der kommunalen Schiene nahm ich zwei Tage Urlaub und machte mich privat auf Grundstückssuche. Zuerst fuhr ich zum Bauordnungsamt in der Hoffnung, dort den einen oder anderen Tipp zu erhalten. Ich hatte großes Glück. Ich traf auf den stellvertretenden Leiter des Amtes, einen stattlichen Kerl mit riesigen Händen, prädestiniert für einen Handballer, was er, wie sich dann herausstellte, früher auch tatsächlich war. Er ging zur Mittagspause, hörte sich auf dem Weg zu seinem Auto mein Anliegen sehr freundlich an und reagierte ganz spontan: „Steigen Sie ein. Ich lade Sie zu einer Metzgerei nach Hochheim ein, wo es eine der besten Bratwürste in Erfurt gibt, natürlich vom Holzkohlengrill. Und dann zeige ich Ihnen in Hochheim, Erfurts bester Wohnlage, einige freie Baugrundstücke, für die es nach dem Baurecht im Rahmen einer Lückenbebauung eine Baugenehmigung geben kann.“ Ich war von der Freundlichkeit und zupackenden Art dieses Hünen hellauf begeistert. Die Bratwurst war fantastisch, wie so ziemlich alle damals noch von Metzgern in der eigenen Fleischerei produzierten Bratwürste. Es gab keine besseren in dieser Welt als in Thüringen. Das sollte sich später leider ändern, als die Bratwürste in genormter Größe in Plaste verpackt aus Großschlachtereien angekarrt wurden, so dass man seine aus dem Westen angereisten Freunde, die natürlich an diesem besonderen Genuss teilhaben mussten, nicht mehr an jeden Stand führen konnte. Selbstverständlich musste jedem dieser Freunde der Domplatz gezeigt werden, damit sie die einmalige Kulisse von Dom und St. Severi bewundern konnten. Die zahlreichen Bratwurststände auf dem Domplatz musste man jedoch zunehmend meiden und Geheimtipps aufsuchen.

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Mein Drängen, die drei Bratwürste – ich hatte gleich noch eine weitere nachbestellt – bezahlen zu wollen, wurde abgelehnt, ich sei eingeladen. In der damaligen Zeit übrigens ein preiswertes Vergnügen. Alle drei kosteten zusammen 1,50 DM. Nach dieser köstlichen Mahlzeit fuhr mich mein neuer Freund durch Hochheim und zeigte mir einige attraktive Grundstücke, die in Baulücken gelegen waren. Ich notierte eifrig. Doch wie – fragte ich meinen Begleiter – finde ich die Eigentümer dieser Grundstücke heraus? Da müsse ich mich bei Nachbarn oder auf dem Katasterbzw. Grundbuchamt erkundigen. Dieses Beispiel großer Hilfsbereitschaft sollte ich später noch mehrfach erleben, insbesondere wenn Ossis nicht bereits schlechte Erfahrungen mit geschäftstüchtigen Wessis gemacht hatten. Ich erlebte es immer wieder: der Schlüssel, um als Fremder Thüringer Herzen zu öffnen, war eine höfliche Bitte um Hilfe („Darf ich Sie um eine Hilfe bitten“). Der Grund für diese für mich beeindruckende ungewöhnliche Hilfsbereitschaft war wohl auch darin zu suchen, dass man in einer Mangel- und Tauschwirtschaft gelebt hatte, in der gegenseitige Hilfe einen ganz anderen Stellenwert als im Westen hatte. Meine Grundstückssuche begann also in Erfurt-Hochheim. Dieser nach Erfurt eingemeindete Ort war sehr zu Recht eine bevorzugte Wohnlage. Er hatte einen alten, allerdings wenig attraktiven Ortskern und ein Neubaugebiet, das sich bis an die Grenze der Innenstadt hinzog und an der anderen Seite durch den ega-Park begrenzt wurde. Die ega war ursprünglich das mit viel „freiwilligen“ Aufbauleistungen 1959 errichtete Areal einer Gartenbauausstellung und hieß daher auch ursprünglich „iga“ – Internationale Gartenbauausstellung“. Nun war es ein schöner ca. 100 Hektar großer Park mit viel Grün und Blumen, ein Ausweis Erfurts als traditionelle Blumenstadt, höher gelegen als Erfurt und somit außerhalb des klimatisch problematischen Kessels der Stadt und dennoch stadtnah. Weil Hochheim eine so begehrte Wohnlage war, hatte sich dort viel DDR-Elite angesiedelt. Es gab aber keine protzigen Prunkbauten, auch keine interessanten architektonisch herausragenden Gebäude. Die Bausubstanz hatte eher einen kleinbürgerlichen, bescheidenen, unauffälligen Zuschnitt. Meine Suche galt also Baulücken. Da es noch keine Bebauungspläne gab und deren Aufstellung in nicht absehbarer ferner Zukunft lag, konnte man am ehesten dafür eine Baugenehmigung erhalten. Hatte ich eine Baulücke entdeckt, klingelte ich an der Tür eines benachbarten Hauses, stellte mich vor, sagte, dass ich berufsbedingt nach Erfurt umziehen und dort bauen wolle und ein Grundstück suche. Ob sie vielleicht wüssten, wer Eigentümer des ihnen benachbarten, unbebauten Grundstücks sei. Die Reaktionen der so angesprochenen Erfurter überraschten mich sehr. Mein bisheriges Bild von den freundlichen, hilfsbereiten Erfurtern kam dabei heftig ins Wanken. Die Reaktionen reichten von einem grußlosen Zuknallen der Tür über ein knappes „keine Ahnung, wer Eigentümer ist“ bis hin zu einer aggressiven Aufforderung, das Grundstück schleunigst zu verlassen, in einem Fall mit dem höhnisch hinterhergerufenen Satz „wenn Sie 900 DM pro Quadratmeter zahlen, können wir darüber reden“. Es hat

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mir weh getan, mit einem doch alles andere als illegitimen Anliegen eines Aufbauhelfers wie ein räudiger Hund vom Hof gejagt zu werden. Lag es wohl daran, dass viele Bewohner Hochheims in der DDR-Hierarchie relativ hoch angesiedelt waren und in mir den Klassenfeind sahen, der nun nach der Wende mit dazu beitrug, sie ihrer Privilegien zu berauben? Sicherlich war das ein Grund, aber es gab einen weiteren. Ihn erfuhr ich von einem liebenswürdigen Herrn, bei dem ich ebenfalls geklingelt hatte und der sich als Architekt entpuppte. Er bat mich freundlich in sein kleines Haus und bot mir seine Hilfe an – ohne eigennützige Interessen als Architekt, denn er war schon Rentner. Als ich ihm über meine deprimierenden Erfahrungen mit seinen Nachbarn berichtete, bat er um Verständnis. Tagtäglich kämen Immobilienhändler vorbei, die sich nach bebaubaren Grundstücken erkundigen würden und es kursierten die ersten Geschichten von üblen Immobilienhaien, welche unerfahrene Ossis über den Löffel balbiert hätten. Und dann berichtete er mir noch, welche Funktionen einige der von mir aufgesuchten Nachbarn im DDR-Regime bekleidet hatten. Mir ging ein doppeltes Licht auf. Ich musste einsehen, dass meine Grundstückssuche so wohl kaum Erfolg versprach. Es mussten andere Wege eingeschlagen werden. So machte ich mich auf zum Kataster- und zum Grundbuchamt, um die Eigentümer der von mir präferierten Baulücken zu ermitteln. In meiner Referendarzeit hatte ich in grauer Vorzeit solche Ämter kennengelernt und wusste, mich in den Akten und Büchern zurechtzufinden, um zielgerichtet auf die Eigentümer von Grundstücken zu stoßen. Diese Erfahrungen mit westdeutschen Kataster- und Grundbuchämtern konnte ich jedoch in Erfurt ohne weiteres vergessen. Nachdem ich den Bediensteten mein Interesse an einer Akteneinsicht vorgetragen hatte und dieses auch als berechtigt anerkannt wurde, erhielt ich zu meiner großen Überraschung keine der in westlichen Behörden damals vor der EDV-Ära noch üblichen riesigen handgeschriebenen Folianten. Vielmehr händigte man mir einen ganz normalen Karteikasten mit teils bleistiftbeschriebenen Karteikarten aus, auf denen bei allen mich interessierenden Grundstücken ohne jeden weiteren Zusatz durchweg nur schlicht als Eigentümer vermerkt war „Rat der Stadt“. Dieser Eintrag signalisierte für den kundigen Kaufwilligen ein Problem: Auf diesem Grundstück lastete in aller Regel ein Rückübertragungsanspruch, weil es unrechtmäßig enteignet worden oder der Eigentümer „rübergemacht“ war. Ich habe es einfach probiert und die Stadt als Eigentümerin eines in Hochheim, im Wachsenburgweg gelegenen 931 Quadratmeter großen Grundstücks gebeten, mir dieses zu verkaufen, da es sich laut Grundbuchamt im Eigentum der Stadt befände. Selbstverständlich sei ich bereit, den aktuellen ortsüblichen Marktpreis zu zahlen. Nachdem ich innerhalb eines Monats auf mein Angebot keine Antwort bekam und eine Reaktion anmahnte, erhielt ich, wie schon bei meiner damaligen Vorsprache beim Finanzdezernenten, die Antwort, die Stadt habe in Hochheim keine Grundstücke zu verkaufen. Mir schwante Böses. In Erfurt kursierten viele Geschichten und Gerüchte, dass früher im Volks-, später im kommunalen Eigentum befindliche Grundstücke zwischen alten und neuen Seilschaften zu Spottpreisen zwischen 2,00 und 8,00 DM untereinander verschoben wurden. Später sollte sich herausstellen,

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dass es sich dabei keinesfalls nur um Gerüchte, sondern um erschreckende Realitäten handelte. Was passierte also tatsächlich in dieser Schnäppchenzeit? Rechtlich wurde sie geebnet durch das noch zu DDR-Zeiten beschlossene Gesetz mit der missverständlichen Bezeichnung „Gesetz über den Verkauf volkseigener Gebäude“, das sogenannte „Modrow-Gesetz“ vom 7.3.1990 sowie die dazu ergangene 1. und 2. Durchführungsverordnung vom 15.3.19901. Ein grundsätzliches rechtspolitisches Anliegen dieser Rechtsetzung war eigentlich nicht zu beanstanden: Mit Blick auf den sich abzeichnenden Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland sollte das Immobilienrecht der DDR an jenes der Bundesrepublik Deutschland angeglichen werden, indem das Eigentum an Grundstücken und den darauf errichteten Häusern (als wesentliche Bestandteile des Grundstücks nach § 94 BGB) zusammengeführt werden sollten. Dazu sollte es den Inhabern von dinglichen Nutzungsrechten an volkseigenen Grundstücken, die ein Haus auf diesem Grundstück errichtet hatten, ermöglicht werden, das Grundstück zu erwerben – und das zu einem sozial verträglichen Preis. So weit, so gut. Der Pferdefuß des „Modrow-Gesetzes“ und seines praktischen Vollzugs lag in den extrem niedrigen Kaufpreisen für die Grundstücke. Es war der ausdrückliche Wille der damaligen DDR-Regierung, den Grundstückserwerb den dazu Berechtigten zu den extrem günstigen Preisen des DDR-Rechts zu ermöglichen. Die lagen weit unter dem realen Verkehrswert. Üblich waren ca. 5 bis 10 Prozent des damaligen Verkehrswertes; in Einzelfällen gingen auch Grundstücke mit nur 1 DM pro Quadratmeter über den Tisch. Preise von 2 Ost-Mark, später nach der Währungsunion am 1. Juli 1990 von 1 DM, waren durchaus üblich. Dieser DDR-Schlussverkauf von Immobilien ging eigentlich aus rechtlichen Gründen am Tag der Wiedervereinigung, also am 3. Oktober 1990, zu Ende, da das „Modrow-Gesetz“ mit seinen Kaufpreisregelungen spätestens zu diesem Zeitpunkt außer Kraft trat; danach durften kommunale Grundstücke nicht mehr unter Wert verkauft werden. Das scherte die Kommunen in den neuen Ländern jedoch überhaupt nicht; sie verlängerten willkürlich den DDR-Schlussverkauf, die Schnäppchenzeit ging unvermindert weiter. Wildwest im Osten. Die Parallelen zu den Privatisierungen der Industriekombinate in den ehemaligen Ostblockstaaten, insbesondere in der JelzinÄra in Russland sowie in der Volksrepublik China unter Deng Xiaoping sind offensichtlich. Der gravierende Unterschied war nur, dass sich die wundersame Vermehrung einiger individueller Vermögen in den neuen Ländern anders als bei russischen Oligarchen, wie z.B. Abramowitsch, Beresowski, Deripaska, Luschkow, Prochorow, Potanin oder Wechselberg, auf vergleichsweise niedrigem Level und mit anderen Methoden abgespielt hat. Immerhin soll nach Insiderkenntnissen von Immobilienmaklern in Erfurts Spitzenlage, dem „Anger“, ein bekanntes Grundstück an einen ehemaligen Spitzenfunktionär der FDJ für einen sechsstelligen DM-Betrag verscherbelt worden sein, der es bald darauf mit einem zweistelligen Millionengewinn weiterveräußert haben soll. Außerdem soll es in Erfurt die berühmte Liste des Runden Tisches mit Namen gegeben haben, denen der Verkauf kommunaler Grundstücke zum Freundschaftspreis versprochen worden war; an diese Grundstücke kam kein Außenstehender heran.

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Für die Verschleuderung von Volksvermögen nach dem Modrow-Gesetz gab es vorerst nach dem Tag der deutschen Einheit keine Rechtsgrundlage mehr; Verkäufe nach diesen gesetzlichen Vorzugsbedingungen waren eindeutig rechtswidrig. Der „wilde Osten“ hatte aber noch weitere Sumpfblüten sprießen lassen. Das „Modrow-Gesetz“ wurde trotz seines Außerkrafttretens nicht nur bis in das Jahr 1994 weiter als gültig behandelt, es wurde auch in zahllosen Fällen zu Lasten des Kommunalvermögens schlicht und ergreifend bewusst falsch angewandt. So wurden Grundstücke an Hausbesitzer veräußert, die kein dingliches Nutzungsrecht besaßen. Der Gipfel des Missbrauchs waren aber die Verkäufe von Grundstücken, auf denen überhaupt kein Gebäude stand, nicht einmal eine kleine Datsche; das waren die berühmt berüchtigten Grundstücke mit den sogenannten „Modrow-Häusern“. Nach einer internen Untersuchung des Thüringer Landesverwaltungsamtes, die auf der Basis einer Umfrage in 613 Gemeinden und Landkreisen erhoben und auf das Land Thüringen hochgerechnet wurde, gab es zwischen dem 1. 7. 1990 und dem 30.9.1994 insgesamt 14.326 Schnäppchenverkäufe. Den daraus für die Kommunen entstandenen Gesamtschaden bezifferte das Landesverwaltungsamt auf 247.462.547,82 DM. Allein in der Landeshauptstadt Erfurt wurden 1.081 dubiose Geschäfte mit einem Einnahmeverlust von ca. 42 Mio. DM und in Weimar 1.061 Geschäfte mit einem Verlust von über 33 Mio. DM aufgelistet. Gab es gegen diese Praxis der missbräuchlichen Verschleuderung kommunalen Vermögens denn gar keinen Aufschrei der Empörung aus Kreisen der nicht privilegierten, quasi enteigneten Bürger oder in der Presse – und wo blieben die staatliche Kommunalaufsicht sowie die parlamentarische Kontrolle? In der thüringischen Presselandschaft, die weitgehend aus den von der WAZGruppe übernommenen ehemaligen DDR-Parteiblättern – samt deren Personal – bestand, ragte in diesem Fall als einzige Zeitung die Thüringische Landeszeitung (TLZ) mit einer immer wieder kritischen und den Finger in die Wunde legenden Berichterstattung heraus. Es war durchaus symptomatisch für die Nachwendezeit, dass für diese kritische, zum Teil investigative Berichterstattung zu einem typischen Ostthema mit Steffen Winter, einem erst 1969 geborenen Ossi, ein Journalist verantwortlich war, der sich bereits in der Wendezeit als junger Mann aktiv an der friedlichen Revolution beteiligt hatte. Er entwickelte sich bei der TLZ sehr schnell zu einem Vollblutjournalisten mit investigativen Qualitäten, so dass er später geradezu folgerichtig beim „Spiegel“ landete. Zur Ehrenrettung der Verwaltung muss erwähnt werden, dass auch der zuständige Referatsleiter im Thüringer Innenministerium sowie die Kommunalaufsicht im Thüringer Landesverwaltungsamt die Schnäppchenpraxis kritisch untersuchten und dabei zu dem Ergebnis kamen, dass eine Vielzahl von Grundstücksverkäufen eindeutig rechtswidrig war und die Kommunalaufsicht einschreiten müsse. Die Politik stellte sich jedoch vorerst taub. Thüringens Innenminister Franz Schuster (CDU) und dessen Staatssekretär Dr. Michael Lippert wollten diese heiße Kartoffel nicht anfassen. In deren Amtszeit verschwanden zu allem Glück oder Unglück – je nach Sichtweise – spurlos zwei Aktenordner mit den Vermerken, welche die kommunale Praxis

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der Verkäufe nach dem Modrow-Gesetz als rechtswidrig bewerteten. Ein Schelm, der Böses dabei denkt. Dazu Lippert gegenüber der TLZ: „Wir hatten damals eine gute Registratur, ich weiß nicht, wie das passieren konnte.“2 Mit dem Regierungswechsel 1994 zur großen Koalition von CDU und SPD und der neuen politischen Führung im Thüringer Innenministerium unter zwei Westjuristen, dem Minister Dr. Richard Dewes (SPD) und seinem Staatssekretär Peter Krämer, wehte ein neuer Wind. Es gab erste Überlegungen, ob und gegebenenfalls wie man die faulen Grundstücksgeschäfte bereinigen könnte. Es gab auch erste zaghafte Anstösse im parlamentarischen Bereich, den Immobiliensumpf in einem Untersuchungsausschuss zu durchleuchten. Diese Initiativen lösten jedoch in der Regierung, den Fraktionen und innerhalb der Parteien große Bedenken, zum Teil sogar einen Sturm der Entrüstung aus. Dafür gab es zwei Gründe: Im Hinblick auf die große Zahl der Betroffenen fürchtete man massiven politischen Ärger, man wollte daher das heiße Eisen der „Modrow-Grundstücke“ tunlichst nicht anfassen. Und dann gab es noch die breite, bunt gefächerte Allparteienkoalition der Profiteure der DDR-Immobilienschlussverkäufe, die sich gegenseitig deckten. Der zuvor erwähnte Journalist der Thüringischen Landeszeitung, Steffen Winter, hatte in den ihm vorliegenden Listen über Schnäppchenverkäufe der Landeshauptstadt einige Politpromis entdeckt. Folgende zwei Fälle wurden daraufhin mit vom Thüringer Landesverwaltungsamt bestätigten Zahlen von der thüringischen Presse aufgegriffen:3 Der ehemalige CDU-Kreisvorsitzende und Ratspräsident KarlHeinz Kindervater hatte 1991 auf der Basis von preisrechtlichen Vorschriften der DDR für ein 34 Quadratmeter großes Grundstück in absoluter Spitzenlage bei einem Quadratmeterpreis von 35,00 DM insgesamt nur 1.190 DM gezahlt. Dessen Verkehrswert wurde bereits 1996 auf 600 bis 800 DM pro Quadratmeter geschätzt. Ebenfalls 1991 hatte Norbert Otto, CDU-Landesgruppenchef im Bundestag, von der Stadt Erfurt ein 1.228 Quadratmeter großes Grundstück für 10,00 DM pro Quadratmeter zu 12.280 DM gekauft, dessen Verkehrswert schon damals bei 85.960 DM lag, was ihm zu einem schönen Reibach von 73.680 DM verhalf. Das Thüringer Verwaltungsamt beanstandete daher diese sowie weitere 208 Grundstücksverkäufe in Erfurt im April 1998 im Wege der Rechtsaufsicht wegen des extremen Missverhältnisses zwischen dem Verkaufspreis und dem Verkehrswert. Da die Politik keinen Ärger mit den Schnäppchenjägern haben wollte, insbesondere nicht mit jenen aus den eigenen Reihen, wurde also nach einer Lösung des leidigen Problems gesucht, wie die privilegierten Verkäufe von „Modrow-Grundstücken“, die nach dem 3. Oktober 1990 wegen fehlender gesetzlicher Grundlage rechtswidrig waren, nachträglich legitimiert werden könnten. Dazu fand man folgende gesetzliche Lösung: In § 67 der Kommunalordnung wurde bestimmt, dass alle Grundstücksverkäufe, die bis zum 2. Oktober 1990 nach dem „Modrow-Gesetz“ beantragt und bis zum 30. September 1994 abgeschlossen wurden, nachträglich gesetzlich sanktioniert werden. Faktisch wurde das „Modrow-Gesetz“ damit um zirka vier Jahre verlängert und damit auch die Verschleuderung von öffentlichem kommunalen Eigentum. Die zahllosen Fälle missbräuchlicher Anwendung des „Modrow-Gesetzes“ wurden in der

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kommunalen Praxis in aller Regel zugleich mit unter den Teppich gekehrt – Friede, Freude, Eierkuchen. Der Rechtsstaat und der immense Vermögensverlust der öffentlichen Hand wurden in den Skat gedrückt. Das war ein düsteres Kapitel der deutschen Einheit, das es wert wäre, für ganz Ostdeutschland einmal genauer unter die Lupe genommen zu werden. Ich selbst hatte von dieser goldenen Zeit für Käufer kommunaler Grundstücke erstmals Näheres von einem Notar erfahren, der später meinen Grundstückskauf beurkundet hat. Als ich ihm nämlich den Preis des städtischen Grundstücks von 300,00 DM pro Quadratmeter nannte, schaute er mich verdutzt an und fragte mich, wieso ich einen so hohen Preis zahlen würde, ich sei doch weit oben in der politischen Hierarchie angesiedelt. In diesen Kreisen würde er in der entsprechenden Gegend nur Verkaufspreise der Stadt zwischen 9,00 und 15,00 DM pro Quadratmeter beurkunden. Ich legte dem erstaunten Notar meine Beweggründe dar: Ein gutes Gewissen sei ein gutes Ruhekissen und stärke die eigene Unabhängigkeit. Als Vorgesetzter dürfe man nie Wasser predigen und selbst Wein trinken, sonst verliere man Führungsautorität. Und zuletzt verwies ich auf mein demokratietheoretisches Credo für eine repräsentative Demokratie: Der Bürger müsse darauf vertrauen können, dass seine demokratischen Repräsentanten und somit auch die Beamten ihr Amt gemeinwohlorientiert und nicht eigennützig wahrnehmen und sich auch nicht außerdienstlich konträr verhalten dürften. Nur dann könne der Bürger staatliche Herrschaft freiwillig akzeptieren. Es gab also viele gute Gründe, dass ich mein Grundstück ohne Modrows und seiner Gesinnungsgenossen Hilfe zum echten Marktpreis bezahlen wollte. Damit wieder zurück zu meinen Bemühungen, in Erfurt ein Grundstück zu erwerben: Erst nachdem sich der damalige Landtagspräsident Dr. Gottfried Müller an den Erfurter Oberbürgermeister Manfred Ruge unter Hinweis auf dessen Zusage wandte, Aufbauhelfer bei der Grundstückssuche zu unterstützen, entdeckte man im Finanzdezernat von Erfurt, dass die Stadt entgegen früherer Aussagen nun doch Grundstücke in Hochheim besaß. So kamen die Kaufverhandlungen endlich in Gang und wurden schließlich auch erfolgreich abgeschlossen. Mit dem Kauf des Grundstücks und seiner Eintragung ins Grundbuch war aber erst der erste, wenn auch ein sehr wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer festen Bleibe in Erfurt getan. Die Probleme wollten jedoch nicht enden. Zuerst musste das Haus in Rheinland-Pfalz in Ockenheim verkauft werden. Für meine Frau war das eine schwere Entscheidung und ein schmerzvoller Abschied. Aber ohne diesen Verkauf hätten wir das Haus in Erfurt nicht finanzieren können. Außerdem sollte damit sowohl nach innen als auch nach außen die eindeutige und überzeugende Entscheidung für einen neuen Lebensabschnitt in Thüringen und Erfurt getroffen werden. Und zwar zu einem gemeinsamen neuen Beginn, denn wir wollten keine Wochenendehe auf Dauer führen. Das hieß für meine Frau somit auch Abschied nehmen von einer Karriere im Öffentlichen Dienst, die sie nach ihrer HNO-Praxis über die Leitung eines Gesundheitsamtes sehr bald in die mit A 16 gut dotierte Leitung des Gesundheitsreferats im Sozialministerium in Rheinland-Pfalz geführt hatte und die Aussichten auf eine B3-Stelle waren gut. Sie schied aus dem gesicherten und gut besoldeten Beamtenver-

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hältnis aus und stürzte sich ebenfalls in ein Abenteuer. Sie wurde freie Journalistin und arbeitete für das Fernsehen und den Hörfunk des Mitteldeutschen Rundfunks; schwerpunktmäßig widmete sie sich dabei Gesundheitsthemen. Das Haus in Ockenheim hatte eine unbeschreiblich schöne Lage über den Weinbergen mit Blick auf den Rhein, den Rheingau und das Niederwald-Denkmal oberhalb von Rüdesheim mit der Germania, welche die Wacht am Rhein symbolisiert und an die Gründung des Deutschen Reiches 1871 erinnert. Oberhalb des Grundstückes schloss sich ein verwildertes Weinberggelände an, das unter Naturschutz stand und das an ein Benediktinerkloster grenzte. Wir waren uns sehr sicher, im Hinblick auf diese einmalige Lage und die reizvolle Architektur des Hauses würden wir bald einen Interessenten finden, der sich in dieses Anwesen verlieben und auch einen guten Preis zahlen würde. So war es dann auch: Wir waren sicher, damit nicht nur ein adäquates Haus in Erfurt bezahlen zu können, sondern auch noch einiges übrig zu behalten. Doch wie sehr hatten wir uns mit dieser Kalkulation getäuscht. Das Erfurter Haus sollte – mit Grundstück und Erschließungsbeiträgen – erheblich mehr kosten, als wir für unser Ockenheimer Haus erlöst hatten. Anstelle des erwarteten Überschusses mussten wir sogar einen Kredit aufnehmen. Und das für ein Haus, das eher etwas weniger Platz und Komfort als unser Haus im Westen bot. Ich will nur einige wenige Gründe anführen, warum das Erfurter Haus – zum Teil bedingt durch spezielle Umstände der Wendezeit – so teuer wurde: Wir hatten zuerst einmal mit einem geringeren Grundstückspreis gerechnet. Da wir möglichst schnell aus unserer teuren und alles andere als komfortablen Wohnung in der Iderhoffstraße aus- und in ein Haus nach eigenen Vorstellungen umziehen wollten, kam dafür nur ein Fertighaus in Betracht. Zwar wurden auch in Thüringen Fertighäuser angeboten, aber sie entsprachen so gar nicht unseren Vorstellungen, architektonisch ohne jeden Pfiff, klein und spießig. Trotz besten Willens, bei eigenen Investitionen die ostdeutsche Wirtschaft zu präferieren, mussten wir uns im Westen umschauen und wurden dort auch fündig – bei einem HUF-Haus aus dem fernen Westerwald. Das aber hatte auch finanzielle Konsequenzen, die Kosten stiegen mit der besonderen Qualität des Hauses und der Entfernung zwischen Erfurt und dem Produktionsstandort. Aber wir gingen wenigstens einen Kompromiss ein: Das Soutteraingeschoss, auf welches das Fertighaus gesetzt wurde, die Garage und die Gartenanlage ließen wir von einheimischen Firmen zu unserer besten Zufriedenheit errichten. Auch unsere Befürchtungen, dass das Fertighaus wegen mangelhafter Kooperation zwischen den Ost- und Westbauleuten nicht exakt auf das Souterraingeschoss passen würde, erwiesen sich als unbegründet. Ein riesiger Kostenfaktor war auch die Erschließung des gesamten Geländes mit weiteren vier Baugrundstücken. Die Erschließungskosten von knapp über 100.000 DM allein für unser Grundstück waren unter anderem darin begründet, dass das Bauland – obwohl mitten in einem geschlossenen Wohngebiet gelegen – in einer Wasserschutzzone lag. Die DDR hatte sich nach außen sehr umweltbewusst geriert und riesige Flächen auf dem Papier zu Wasserschutzzonen deklariert, ohne daraus aber

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zum Beispiel im Baurecht die erforderlichen Konsequenzen zu ziehen. Das geschah dann mit dem Einigungsvertrag. Die ursprünglich nach DDR-Recht light ausgewiesenen Wasserschutzzonen wurden mit dem Einigungsvertrag dem strengen bundesdeutschen Recht unterstellt, was für Bauherren in diesen Wasserschutzgebieten sehr teuer werden sollte. So kostete zum Beispiel die Installation eines einzigen Knies der Abwasserleitung nach Angaben der Bauleute über 70,00 DM statt zirka 7,00  DM außerhalb von Wasserschutzzonen. Es war mit geradezu hundertprozentiger Sicherheit abzusehen, dass diese inmitten seit Jahrzehnten bebauter Wohngebiete gelegenen Wasserschutzzonen aufgehoben oder zumindest gravierend reduziert werden würden. Konnte man diese absurde Rechtslage nicht zügig ändern und die künftige Rechtslage bei der Baugenehmigung bereits im Vorgriff berücksichtigen? Meine entsprechenden Interventionen, die unsinnigen, höchst kostspieligen Umweltauflagen zu dispensieren, blieben jedoch bei einer absolut überforderten Stadtverwaltung mit weitgehend sachunkundigem Personal erfolglos. Die Verwaltung war unfähig, sachgerecht Verantwortung zu übernehmen. So gab es in der Wendezeit zum Teil eine völlig frei schwebende Bauverwaltung, die in Ortschaften um Erfurt herum den tollsten baulichen Wildwuchs zuließ. Und es gab Verwaltungen, die sich in dieser Übergangszeit ängstlich an unpassende Paragrafen oder an eine, durch die Wiedervereinigung bedingte und noch nicht bereinigte absurde Rechtslage klammerten, ohne nach deren Sinn und Zweck und deren Auswirkungen im konkreten Einzelfall zu fragen. Wir besitzen heute demzufolge ein teures Haus, das zwar keine goldenen Wasserhähne im Badezimmer vorweisen kann, aber tief im Erdreich versteckte „goldene“ Abwasserleitungen. Wir hatten eben zu früh gebaut. Das Wasserschutzgebiet wurde im Jahr 2004 vernünftigerweise endlich aufgehoben und damit auch alle dadurch ursprünglich bedingten kostspieligen Auflagen für Bauherren.

6.  An die Arbeit – Ein Gebäude für den Landtag wird gesucht, gefunden und ausgestattet Nochmals zur Erinnerung: Ich traf am 25. September 1990 in Erfurt ein. Das Länderwahlgesetz der DDR vom 22. Juli 1990 schrieb in § 2 vor, dass die Wahlen zu den ostdeutschen Parlamenten und damit auch zum Thüringer Landtag am 14. Oktober 1990 stattzufinden hätten. Und am 25. Oktober 1990 sollte bereits die konstituierende Sitzung des Thüringer Landtags stattfinden. Es musste also ein geradezu höllisches Tempo vorgelegt werden, um innerhalb von ca. vier Wochen die räumlichen, rechtlichen, personellen und sächlichen Voraussetzungen für die Konstituierung des Landtags sowie für die Aufnahme seiner parlamentarischen Arbeit zu schaffen. Ich legte meinen ganzen Ehrgeiz hinein, dieses Ziel möglichst frühzeitig zu erreichen. Mir war bewusst, dass die Bevölkerung darauf brannte, dass der Systemwechsel auf allen Ebenen so schnell wie möglich vollzogen und damit zur Realität würde. Man hätte gerade in Thüringen mit seinen Schaffern und Rackerern nicht das geringste Verständnis für endlose Debatten um den Erlass von Rechtsvorschriften, die Abgrenzung von Kompetenzen oder ähnlichem – in den Augen der Bevölkerung – juristischen Formelkram gehabt, der sie nur daran gehindert hätte, die Ärmel hochzukrempeln. Ein Artikel von Johann Michael Möller, der am Vortag meines Einsatzes in Thüringen am 24.09.1990 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen war, stachelte meinen Ehrgeiz zusätzlich an. Dort stand unter der Überschrift „Der schwierige Weg zum eigenen Land“ zu lesen, dass Thüringen in dem Prozess seiner Staatswerdung zeitlich hinter allen anderen neuen Ländern hinterherhinken würde. Das sollte sich für den von mir zu verantwortenden Parlamentsbereich schleunigst ändern; das waren zumindest mein Ziel und mein fester Wille. Die Suche nach einem geeigneten Landtagsgebäude sollte sich dabei als die erste schwierige Hürde erweisen. Es musste ein Gebäude gefunden werden mit Sitzungsräumen für das Plenum, die Ausschüsse und Fraktionen sowie mit Arbeitsräumen für die Abgeordneten und die Landtagsverwaltung. Die Suche nach einem dafür geeigneten Gebäude oder Gebäudekomplex bedingte an sich eine vorherige Entscheidung über die Hauptstadt Thüringens, zumindest aber über den Sitz des Landtags. Darüber gab es zur damaligen Zeit jedoch noch einen heftigen Streit; insofern standen alle Planungen und Vorentscheidungen für einen Standort des Thüringer Landtags auf etwas unsicherem Boden. Ich setzte allerdings voll und ganz darauf, dass Erfurt Landeshauptstadt und sowohl Sitz der Landesregierung als auch des Landtags werden würde. Maßgeblicher Motor bei der Suche und den Verhandlungen zum Landtagsgebäude war Eberhard Ott als Ressortbeauftragter. Er kannte die Örtlichkeiten, hatte Einblick in die oft sehr komplizierten Eigentumsverhältnisse und wusste, wer unsere Ansprechpartner waren. Meine Aufgabe bestand primär darin, die Funktionalität der

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in Betracht kommenden Objekte unter die Lupe zu nehmen. Wir waren ein gutes Team, das sich insoweit erfolgreich ergänzen sollte. Zuerst aber blätterte ich in der Parlamentsgeschichte Thüringens, ob sich vielleicht ein traditionsreicher Sitz des Parlaments reaktivieren ließe.1 Als erstes – beginnend mit dem Jahr 1920, dem Geburtsjahr des Freistaats Thüringen – fiel mein Blick auf das Fürstenhaus in Weimar, das heute die Hochschule für Musik „Franz Liszt“ beherbergt. Dort fand nach der Wahl des ersten gesamtthüringischen Parlaments am 20. Juli 1920 dessen konstituierende Sitzung statt und dort residierte es auch bis zu seiner Auflösung durch die Nationalsozialisten. Seine letzte Sitzung fand am 16. Mai 1933 statt. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg hatte der Thüringer Landtag vorerst seinen Sitz in Weimar. Am 21.11.1946 konstituierte er sich im Hotel „Elephant“, zog Anfang 1947 ins Kreishaus in die Schwanseestraße; die letzte Sitzung fand dort am 19.12.1950 statt. Nachdem die Regierung 1950 ihren Sitz nach Erfurt verlegt hatte, beschloss auch der Landtag am 15.03.1951, nach Erfurt umzuziehen; zunächst ab dem 1. Mai 1951 in das Behördenhaus am Beethovenplatz, und schließlich – was kaum bekannt ist – im Mai/Juni 1952 in die umgebaute „Ostrowski-Schule“, die Landesschule der FDJ in der Blosenburgstraße, einem 1937 als Offizierskasino errichteten Bau, doch nur für kurze Zeit. Denn schon am 4. Juli 1952 tagte er zum letzten Mal. Mit dem „Gesetz über die weitere Demokratisierung des Ausbaus und der Arbeitsweise der staatlichen Organe in den Ländern der DDR“ vom 23.7.1952 (GBl. S. 613) wurde den Ländern vorgeschrieben, sich in Bezirke und Kreise umzustrukturieren. Das Land Thüringen erließ demgemäß am 25.7.1952 ein dahingehendes Gesetz (Regierungsblatt 1952 I, S. 177), mit dem die Bezirke Erfurt, Gera und Suhl gebildet wurden, und damit hörte der Thüringer Landtag auf zu existieren. In Erfurt gab es ab dem 01.8.1952 fortan als pseudoparlamentarisches Gremium den Bezirkstag für den Bezirk Erfurt, der jährlich nur ca. viermal tagte und dessen Aufgaben im Wesentlichen darin bestanden, Entscheidungen der SED und des Rats des Bezirks „abzunicken“. Die aktuelle politische Diskussion um einen Standort des Thüringer Landtags in Erfurt kreiste zur Wendezeit hauptsächlich um drei Alternativen, die von der Arbeitsgruppe des PBA „Bildung Landtag“ erwogen wurden: Die SED-Bezirksparteischule in der Werner-Seelenbinder-Straße 14, das Behördenhaus am Beethovenplatz, in dem zuvor der Rat des Bezirks seinen Sitz hatte und der nach der Wende in „Bezirksverwaltungsbehörde“ umfirmiert worden war, und schließlich das Gebäude des FDGBBezirksvorstands am Juri-Gagarin-Ring, dem früheren Mao-Tse-Tung-Ring. Nach Abwägung aller Vor- und Nachteile empfahl die Arbeitsgruppe des PBA das Gewerkschaftshaus als Sitz des Landtags. Für das mit Anklängen an den Klassizismus 1955 fertiggestellte Gewerkschaftshaus sprachen das große Bauvolumen mit 180 Büroräumen, einem relativ großen Sitzungssaal für 350 Personen, einer Kantine mit 250 Plätzen sowie die zentrale Lage in der Stadt. Gegen die anderen beiden Objekte bestanden im Hinblick auf deren vormalige politische Funktion erhebliche Vorbehalte. Man wollte den Neubeginn eines demokratisch-parlamentarischen Re-

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gierungssystems mit seinem obersten Organ der demokratischen Willensbildung (so Art. 48 Abs. 1 der späteren Landesverfassung) nicht auf den steinernen Relikten einer kommunistischen Diktatur errichten. Dieser Gesichtspunkt galt sowohl für die kommunistische Kaderschmiede, die Bezirksparteischule, als auch für den Rat des Bezirks. Der Rat des Bezirks war in der Bevölkerung – wie bereits an anderer Stelle erwähnt – gefürchtet und verhasst. Im zentralistischen System der DDR hatte er als staatliche Mittelinstanz die Funktion einer „Beschleunigungsbehörde“, welche die zentralen Weisungen und Vorgaben aus Berlin im Bezirk umzusetzen hatte. Wie miserabel der Ruf des Rats des Bezirks in der Bevölkerung war, habe ich später an den „Tagen der offenen Tür“ des Landtags immer wieder gehört. An diesen Tagen öffnete der Landtag seine Türen ohne jede Kontrolle für die Bürger, gewährte ihnen Einblick in Büros und Sitzungssäle, erläuterte seine Aufgaben, und die Fraktionen und Abgeordneten standen den Bürgern Rede und Antwort. Es strömten viele tausend Bürger mit Kind und Kegel in den Landtag. Ich wurde, durch ein entsprechendes Schild am Revers meines Jacketts als Landtagsdirektor erkennbar, immer wieder auf den Unterschied zwischen einst und jetzt angesprochen: Wenn man früher zum Rat des Bezirks musste – freiwillig ging man dort sowieso nicht hin – dann tat man das mit einem schlechten Gefühl, mit Zagen und Bangen. Demgegenüber sei die Atmosphäre heute völlig entspannt, ganz locker und fröhlich. Im Hinblick auf die Präferenz der Arbeitsgruppe des PBA „Bildung Landtag“, über die der PBA zwar auch diskutiert, aber nicht abgestimmt hatte, fuhr ich mit Ott zum Gewerkschaftshaus in den Juri-Gagarin-Ring 150. Ich wollte mir das Gebäude und besonders seinen Saal im Hinblick auf dessen Funktionalität als Plenarsaal für einen Landtag ansehen. Ott hatte Zugriff auf den Fahrdienst der Bezirksverwaltungsbehörde, und so fuhren wir mit Fahrer ganz offiziell nach vorheriger Anmeldung in einem etwas altersschwachen Lada vor das Portal des Gewerkschaftshauses, wo wir erwartet wurden. Als erstes wollte ich den großen Saal sehen. Dort ging ich folgende Checkliste durch: Die nach § 3 des Länderwahlgesetzes grundsätzlich vorgesehenen 88 Abgeordneten – ggf. vermehrt durch Überhangmandate – mussten nicht nur mit Stühlen, sondern auch mit Arbeitspulten unterzubringen sein. Das war zwar nicht in einem inzwischen bevorzugten Rundbau möglich, aber der Zuschnitt des Saales, der die traditionelle frontale Sitzordnung von Regierung und Parlament ermöglichen würde, war insoweit zumindest für eine Übergangszeit akzeptabel. Für den Sitzungsvorstand, also den Präsidenten, seine zwei Beisitzer und den hinter ihnen sitzenden zwei hilfreichen Geistern sowie die Protokoll führenden Mitarbeiter der Landtagsverwaltung müsste zwar ein etwas erhöhtes Podest geschaffen werden, aber das müsste sich einfach und relativ schnell machen lassen. Mit einem ausreichenden Platzangebot für die Regierung würde es allerdings schon schwierig, zumal nicht nur für die Regierungsmitglieder – ich ging von zehn bis zwölf Personen aus – sondern auch für die Staatssekretäre und die „Zuschläger“, wie persönliche Referenten und Landtagsreferenten oder ggf. auch Abteilungsleiter, Stühle mit Pulten für die Akten bereitzustellen waren. Und dann kam das schwierigste Problem: Der Saal hatte weder eine Tribüne noch sonst

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einen geeigneten Platz für Zuhörer, die an den Plenarsitzungen teilnehmen würden; außerdem musste die Presse untergebracht werden. Diesen Erfordernissen eines Plenarsaals hatte man bei den bisherigen Vorüberlegungen im PBA wohl augenscheinlich nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei sind nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts „öffentliches Verhandeln von Argument und Gegenargument, öffentliche Debatte und öffentliche Diskussion wesentliche Elemente des demokratischen Parlamentarismus“.2 Ich überlegte also, wie man für die Regierung, die Öffentlichkeit und die Presse den nötigen Platz ggf. durch Umbauten schaffen könnte. Mein Blick fiel auf zwei Türen am Kopfende des Saals. Ich fragte meine Begleiter aus dem Hause, was sich dahinter verbergen würde und ob man den Saal dahin ggf. erweitern könnte. Die Antwort war äußerst knapp und bestimmt: Diese Möglichkeit bestünde nicht. Ich bestand dennoch darauf, mir ein eigenes Bild zu machen, und bat, die Türen, die verschlossen waren, zu öffnen. Erst nach einem längeren, mir gänzlich unverständlichen Disput ließ man sich darauf ein und holte die Schlüssel. Ich trat durch die Tür, und sofort wurde mir klar, warum man dem westdeutschen Aufbauhelfer, als der ich von Ott vorgestellt worden war, diesen Anblick verheimlichen wollte: Es öffnete sich ein großer, hoher Raum, der vollgestopft war mit Transparenten, beschrifteten oder bebilderten Schildern und mit diversen „Winkelementen“, alles völlig ungeordnet, wild durch- und übereinander gestapelt. Auf den Bildern prangten vornehmlich Erich Honecker, Harry Tisch, sogar noch Erich Mielke und auch schon Egon Krenz. Auf Schildern und Transparenten waren die obligatorischen Sprüche über die Liebe zur Partei, zur Arbeit oder zur Sowjetunion zu lesen, oder es wurde der Aufbau des Sozialismus und manches mehr gepriesen. Das also war das Arsenal des FDGB, das bei Demonstrationen hervorgeholt, den angekarrten und bestellten Massen in die Hände gedrückt wurde – ja, wozu eigentlich? Wer von den Marschierern glaubte denn an diesen propagandistischen Schwachsinn? Meine Reaktion beim Anblick dieses ideologischen Schrotts einer jämmerlich zu Ende gegangenen Staatsmacht schwankte zwischen sarkastischem Amüsement und befreitem Seufzen, dass die einstmals stolz zur Schau getragenen Insignien von Macht und Gesinnung nur noch für den Sperrmüll taugten. Doch dann gewann in mir der nie ganz verschüttete kapitalistische Adam ganz urplötzlich wieder ein Stückchen Auferstehung, der sich nach meinem durch den Tod meines Vaters bedingten Abstecher in die Holzhändlerbranche nur noch ab und an rudimentär meldete. Sollte ich diesen ganzen sozialistischen Schlamassel nicht für ein paar D-Mark aufkaufen und zu Geld machen? Dafür könnte es doch viele – ganz unterschiedliche – Interessenten geben. Unverbesserliche Genossen und Ostalgiker, die damit, wenn nicht sogar ihre ganze Wohnung, so doch durch den Sozialismus verwaiste Herrgottswinkel zu einem sozialistischen „DDR-Winkel“ ausschmücken könnten. Witzbolde oder Karnevalisten könnten damit ihre Spottverse realistisch untermalen, einigen Wessis könnten sie als Siegertrophäen dienen, oder vielleicht wären – ganz seriös – Museen an Ausstellungsstücken oder Theater an Requisiten interessiert. Der Markt schien mir also

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durchaus da zu sein. Doch so sehr mir Geld als Grundlage für meine Freiheit und Unabhängigkeit wichtig sind, so sehr hatte ich dem Geldverdienen als Sinnerfüllung meines Lebens und damit dem Beruf des Holzhändlers abgeschworen und mich lieber dem Recht und der Politikberatung verschrieben. Und so begrub ich meine aufkeimenden Vermarktungsstrategien wieder ganz schnell. Mich holten die realen, aktuellen Probleme meiner Funktion als Aufbauhelfer zurück in die Wirklichkeit und ich überlegte, ob und ggf. wie man diesen Raum umbauen und in den großen Saal einpassen könnte, um dort eine Zuschauertribüne und Arbeitsplätze für die Medien zu schaffen. Das durfte notfalls auch eine nur provisorische Zwischenlösung sein. Ich beschloss, unverzüglich die Eigentumsverhältnisse und eventuelle Nutzungsmöglichkeiten für den Landtag zu klären. Vielleicht konnte ich dabei auf Vorarbeiten des PBA und dessen Arbeitsgruppe „Bildung Landtag“ aufbauen. Der FDGB war wohl grundsätzlich bereit, den Gebäudekomplex an die öffentliche Hand herauszurücken. Er wollte aber die Interessen der zahlreichen Mieter in dem Gebäude und deren Arbeitsplätze gesichert sehen. Von diesen wollte jedoch kaum einer das Gebäude freiwillig räumen. Da stellte sich das erste Problem: Ich konnte nicht noch langwierige Prozesse mit Mietern führen. Der Termin der nahen konstituierenden Sitzung verlangte einen geeigneten Sitzungssaal mit einer Mindestzahl von angegliederten Arbeitsräumen für die Fraktionen und die Landtagsverwaltung. Und dann trat auch noch der hessische DGB als Aufbauhelfer für die thüringischen Gewerkschaften als gewichtiger Bremsklotz auf den Plan, der durch unsere Besichtigung des Gewerkschaftshauses inzwischen hellhörig geworden war. Der DGB distanzierte sich zwar vehement vom FDGB und dessen Ideologie, aber in gut kapitalistischer Manier beanspruchte die Vermögensgesellschaft der Gewerkschaften, vertreten durch den DGB Hessen als Rechtsnachfolger des FDGB, dessen Eigentum. Ich war nicht übermäßig überrascht. So war das in der Wendezeit: Ideologisch wollte man mit den Besitzern von Eigentum rein gar nichts zu tun haben, aber Ansprüche auf das Eigentum versuchte man teilweise mit den abenteuerlichsten Begründungen durchzusetzen. Und so wurde mir in meinen Telefonaten mit Vertretern des hessischen DGB, die sich als Verfügungsberechtigte gerierten, sehr deutlich gemacht, dass ich mich keinesfalls an ihrem Eigentum vergreifen solle, ansonsten hätte ich sofort eine einstweilige Verfügung auf dem Tisch und in der Folge mit jahrelangen Prozessen zu rechnen. Es wurde keinerlei Kompromissbereitschaft signalisiert und mein Hinweis auf unsere Notsituation und Art. 14 Abs. 2 des Grundgesetzes, wonach Eigentum auch verpflichte, wurde eher als jämmerlicher, untauglicher Versuch bewertet, altes sozialistisches Eigentumsdenken noch in die neue Zeit hinüber zu retten. Nach diesem Telefonat war für mich klar: Das Gewerkschaftshaus konnte weder vorübergehend noch endgültig Sitz des Landtags werden. Somit stellten sich bei realistischer Betrachtung nur noch die Alternativen SEDBezirksparteischule und Behördenhaus am Beethovenplatz. Beide Gebäude atmeten im Hinblick auf ihre bisherigen Funktionen alles andere als den Geist von Demokratie und Parlamentarismus. Für die SED-Parteischule war das so offensichtlich, dass es

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dazu keiner weiteren Worte bedarf. Das Behördenhaus war aus politischer Sicht sogar in doppelter Weise belastet. Es wurde in den Jahren 1936 bis 1938 von der Preußischen Regierung zur Unterbringung der Regierung und von Polizeidienststellen im Regierungsbezirk Erfurt errichtet. Beim ersten Spatenstich wurde hervorgehoben, dass der Bau „ein würdiges Spiegelbild der nationalsozialistischen Baugesinnung“ sei und damit „äußerlich Zeugnis ablegen soll für den Nationalsozialismus“3. In DDRZeiten beherbergte der Gebäudekomplex den Rat des Bezirks, über dessen Funktion und besondere „Beliebtheit“ im Staatssystem der DDR bereits oben berichtet worden ist. Aus rein historisch-politischer Sicht hatte man die Entscheidung zwischen Pest und Cholera.

Abb. 2  Das ehemalige Behördenhaus – heute Teil des Thüringer Landtags

Bei dieser Ausgangslage war mein ausschlaggebendes Kriterium für die Auswahl des Gebäudes dessen Funktionalität als Parlament. Die dafür relativ besten Voraussetzungen bot zweifelsfrei der Gebäudekomplex des ehemaligen Rats des Bezirks. Im Hinblick auf die ungeklärten Eigentumsverhältnisse beim Gewerkschaftshaus wollte ich allerdings vorab Gewissheit haben, dass das Behördenhaus wenigstens Eigentum der öffentlichen Hand war, wer das auch immer sein mochte. Und tatsächlich wiesen die Grundbuchakten folgenden Eintrag aus: „Eigentum des Volkes; Rechtsträger: Rat des Bezirks Erfurt in Erfurt, Johann-Sebastian-Bach-Straße 1“. Später wurde das Grundstück durch Bescheid der Oberfinanzdirektion Erfurt vom 15.1.1993 Eigentum des Freistaats Thüringen.

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Abb. 3  Der Gebäudekomplex des Rats des Bezirks – nach 1990 Sitz des Thüringer Landtags

Die Eigentumsfrage stand der Widmung zum Thüringer Landtag also nicht im Wege. Der Gebäudekomplex um das Behördenhaus hatte im Übrigen den unschätzbaren Vorzug, einen großen Saal zu beherbergen, der sich als Plenarsaal nutzen ließ. Es handelte sich dabei um einen ehemaligen Schwurgerichtssaal, der 1951 mit dem so genannten Justizanbau fertiggestellt wurde und ab 1952 auch als Sitzungssaal für den Bezirkstag fungierte. Er entsprach zwar nicht dem modernen Architekturverständnis von parlamentarischen Sitzungssälen. Er war weder rund noch oval, sondern ließ nur eine traditionell schulklassenähnliche Sitzordnung zu, bei der die Regierung und der Sitzungsvorstand vor den Abgeordnetenreihen platziert waren. Darüber hinaus gab es auch eine Tribüne für die Öffentlichkeit mit immerhin 40 bis 50 Plätzen. Hier sollten später auch die Vertreter der Medien ausreichend Platz finden. Dem Fernsehen mussten jedoch an den Seiten des Plenarsaals feste Kamerastandorte bereitgestellt werden, weil die Tribüne beim Betreten durch Besuchergruppen so sehr schwankte, dass die Fernsehbilder verwackelten. Im Plenarsaal waren nur geringfügige Umbauten nötig. Für den Sitzungsvorstand mussten noch zur besseren Übersicht für die Sitzungsleitung ein erhöhtes Podium und unmittelbar dahinter Arbeitsplätze für einen bis zwei Mitarbeiter der Landtagsverwaltung geschaffen werden, um gerade zu Beginn der Legislaturperiode dem in den Anfängen natürlich noch sehr ungeübten Vorstand möglichst unbemerkt von der Öffentlichkeit mit Rat und Tat hilfreich zur Seite zu stehen. Die äußeren Voraussetzungen für Parlamentssitzungen waren also gegeben oder ließen sich relativ unschwer schaffen. Nur die Heizung bzw. die Klimaanlage sollte

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Abb. 4  Blick in den Plenarsaal und auf die Besucher- und Pressetribüne des ersten Thüringer Landtags

sich im darauf folgenden Winter als ausgesprochene Schwachstelle entpuppen. Die großen Seitenfenster waren undicht und so saßen manche, insbesondere weibliche Abgeordnete im Winter mit dicken Wollmänteln im Plenum. Die Vorschläge von Berlins ehemaligem Finanzsenator Thilo Sarazin zur Einsparung von Heizkosten wurden – wenn auch gezwungenermaßen – im Thüringer Landtag bereits damals verwirklicht. Außerdem hingen über jeder Plenarsitzung zwei Damoklesschwerte, die uns alle, besonders aber meine Mitarbeiter im Bereich der Haustechnik immer wieder in Angst und Schrecken versetzen sollten. Das marode Stromnetz der DDR bescherte uns laufend stark schwankende Spannungen und ab und zu leider sogar totale Stromausfälle. Wir mussten daher im Hof des Landtags ein Stromaggregat für Notfälle installieren, was zwar die Durchführung von Plenarsitzungen absicherte, jedoch kurze Sitzungsunterbrechungen und abstürzende Computer nicht gänzlich verhindern konnte. Ott und ich waren entschieden: Der Thüringer Landtag zieht in das Behördenhaus sowie in die sonstigen Gebäude des ehemaligen Rats des Bezirks. Eine andere

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Alternative gab es nicht – wenigstens nicht kurzfristig. Doch wir beide waren schließlich nicht entscheidungsbefugt. Und es gab noch keinen Landtag, der dafür die Entscheidungskompetenz hatte. Es musste also eine vorläufige Entscheidung eines dazu Legitimierten her und das konnte nur der Landesbevollmächtigte Josef Duchač sein. Wir beschlossen, ihm umgehend eine Beschlussvorlage zur unverzüglichen Entscheidung zu unterbreiten. Da sich jedoch der im Länderwahlgesetz für den 14.10.1990 festgelegte Wahltermin und damit auch der Zeitpunkt für die konstituierende Sitzung immer drohender näherte, beschlossen wir, auch ohne Legitimation auf eigene Kappe sofort mit den erforderlichen Um- und Ausbauarbeiten für den Plenarsaal zu beginnen. „Planungsunterlagen Bau, Planungsunterlagen Gerät“ und vieles mehr, was eine Landtagsverwaltung dem Bauministerium üblicherweise zur Genehmigung vorlegen musste, all das durfte uns in dieser angespannten Situation nicht weiter kümmern. Wir legten einfach nach eigenem Gutdünken los. Gefragt waren in jener Zeit entscheidungsfreudige Beamte und keine verantwortungsscheuen Bedenkenträger. Und von diesem Zeitpunkt an lernte ich die besonderen Qualifikationen von Ossis, so auch die des ehemaligen LPG-Vorsitzenden Ott kennen. Die ewige Mangelsituation in der DDR hatte die Menschen zwangsläufig dazu erzogen und befähigt, für Probleme pragmatische Lösungen zu finden und dabei zu improvisieren. Ott lief zu Hochform auf und war mir ein unentbehrlicher Partner. Ziemlich erstaunt, teilweise sogar entsetzt war ich allerdings über den Stil und den Ton, in dem die Aufgaben im Verbund mit Mitarbeitern erledigt wurden. Wendungen wie „bitte“, „ich wäre dankbar, wenn Sie…“ – solche Töne hörte man weder im mündlichen noch im schriftlichen Verkehr. Da wurde befohlen und angeordnet: „Sie haben bis…“. Für das gesamte Baugeschehen, insbesondere die Neu- und Ausbauten sowie die Renovierungen, stand Ott der spätere Oberbaurat Gottfried Langelotz als Architekt zur Seite. Er war ein äußerst liebenswürdiger, ideenreicher, engagierter Mitarbeiter, der den oft arg rustikalen Stil des ehemaligen LPG-Vorsitzenden mit freundlicher Gelassenheit an sich abprallen ließ. Er war aber auch ein Künstler und damit, wie es Künstler oft an sich haben, in Verwaltungsangelegenheiten ein Chaot, was mich trotz seiner ausgesprochenen Liebenswürdigkeit nicht selten zur Verzweiflung brachte. In der Sitzung des Regierungsbevollmächtigten Duchač am 26.09.1990 mit den acht Ressortleitern und den westdeutschen Beratern gab es immer noch keine Entscheidung zum (vorläufigen) Sitz des Landtags. Sie wurde dann aber aufgrund unserer Vorlage immerhin am 1. Oktober 1990 von Duchač zugunsten des Behördenkomplexes am Beethovenplatz getroffen. Damit waren unsere bereits angelaufenen Vorbereitungen für einen funktionstüchtigen Plenarsaal nachträglich legitimiert. Aber es galt ja nicht nur einen Plenarsaal für die Sitzungen des Landtags herzurichten, sondern es mussten auch dessen Ausschüsse untergebracht werden. Darüber hinaus mussten die Fraktionen und die Abgeordneten sowie die Verwaltung geeignete Räume erhalten. An Büroräumen mangelte es in dem Gebäudekomplex nicht, denn außer dem in den 30er Jahren errichteten preußischen Verwaltungsbau mit ca. 220 Büroräumen stand dafür weiterhin ein 9-geschossiges Hochhaus, die so genannte „Eierkiste“, zur Verfügung. Dabei handelte es sich um das erste nach dem Krieg in Erfurt nach einjäh-

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riger Bauzeit 1951 fertiggestellte Hochhaus mit ca. 110 Büroräumen. Die Büroräume waren zwar nur winzige „Beamtenwaben“, so dass beim späteren Umbau der „Eierkiste“ Räume zusammengelegt wurden, aber Büroräume gab es jedenfalls genug. Dass das Hochhaus im Volksmund den Namen „Eierkiste“ verpasst bekam, hatte wohl mit seiner besonderen architektonischen Gestaltung zu tun und weniger mit darin arbeitenden intellektuellen „Eierköpfen“. Es handelte sich um einen uniformen Kasten mit einer skelettartigen Rasterfassade aus kleinen gleichförmigen Fenstern. Dadurch ergab sich wohl die optische Assoziation zu einer Eierkiste. Die Denkmalschützer hielten dieses – in meinen Augen hässliche – architektonische „Prachtwerk“, und sei es auch nur wegen seiner DDR-typischen Gesichtslosigkeit, mit großem Rückhalt in der Erfurter Bevölkerung für schützenswert. Es durfte daher nicht abgerissen werden, um für einen Neubau den nötigen Platz zu schaffen. Das wäre später, als es um die Neugestaltung des gesamten Landtagsareals ging, meine Präferenz gewesen, zumal die Umbaukosten durch die spezifische Architektur dieses Hochhauses mit ca. 14 Mio. DM enorm hoch waren, ohne dass dabei etwas Funktionstüchtiges herausgekommen ist. Räume gab es im Behördenhaus also reichlich, aber sie waren noch vollständig von den in der Warteschleife hängenden Mitarbeitern der Bezirksverwaltungsbehörde belegt. Es mussten also als nächstes die erforderlichen Räumlichkeiten für den Landtag freigezogen und hergerichtet werden. Nicht ohne Überraschung lief das in den Räumen der vormaligen Betriebskampfgruppen ab. Entlang einer Längswand befanden sich in den ohnehin schmalen Räumen deren Waffenschränke. Im September 1990 lagerten darin allerdings keine Waffen mehr, denn schon am 06.12.1989 hatte der neue Innenminister der DDR die Entwaffnung der Betriebskampfgruppen angeordnet. Die Waffenschränke wurden herausgerissen und durch Aktenregale ersetzt („Waffenschränke zu Aktenregalen“). Ein weiteres ziemlich umfangreiches – inzwischen allerdings auch geräumtes – Waffendepot befand sich in einem schwer armierten unterirdischen Bunkersystem im Hof des Gebäudekomplexes. Diese Bunker waren für die Mitglieder des Rats des Bezirks angelegt worden, in die sie sich im Ernstfall zur weiteren Wahrnehmung ihrer Funktionen zurückziehen konnten. Der spätere Abbruch dieses Bunkersystems stellte wegen seiner außergewöhnlichen Stabilität an die dabei eingesetzte Technik höchste Anforderungen. Das angrenzende Hochhaus, die „Eierkiste“, wurde insbesondere in den oberen Etagen derart in Schwingungen versetzt, dass die dort arbeitenden Mitarbeiter in Angst und Schrecken versetzt wurden und erst durch Gutachten über die unverminderte Stabilität der „Eierkiste“ beruhigt werden konnten. Die DDR, ihre Organe und ihre Amtsträger fühlten sich augenscheinlich von allen Seiten, und zwar nicht nur von außen, sondern auch von innen bedroht. Es gab geradezu ein verbreitetes Sicherheitstrauma. Über weiten Bereichen des staatlichen Handelns lag zudem der Schleier des Geheimen. Akten mussten sicher verwahrt und geschützt, Dienstzimmer verschlossen werden. Sichtbarer, geradezu lächerlicher Ausdruck dieser Phobie war das penible Versiegeln der Amtszimmer, selbst wenn man das eigene Zimmer nur für eine kurze Zeit

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verließ. Es gab allerdings auch Behörden, deren Mitarbeiter das Gebot der Versiegelung ihrer Türen weniger streng nahmen. Der Vorgang der Versiegelung bestand darin, dass man mit einer dünnen Kordel ein Türblatt mit dem Türrahmen dadurch sicherte, dass man sie auf eine Knetmasse legte und mit einem Stempel, der sogenannten Petschaft, in die Knetmasse drückte. Jeder Bedienstete hatte „seine“ Petschaft, die er morgens von der Dienststelle aus sicherer Verwahrung erhielt und abends dorthin wieder abliefern musste. Auf diese Weise konnte man feststellen, ob die Tür des Amtszimmers geöffnet worden war und wer sie versiegelt hatte. Ich ordnete als erstes an, dass bei der Renovierung der Büroräume die Siegelvorrichtungen zu entfernen seien und die Dienstzimmer nur bei Dienstende oder Zimmer mit sicherheitsempfindlichen Vorgängen, zum Beispiel mit Personalakten, bei längerer Abwesenheit abgeschlossen werden sollten. Doch auch in diesem Bereich ließen sich über Jahre hin eingetrichterte Muster nicht so leicht ausrotten. Es gab noch lange Zeit Ossis, die es nicht fertig brachten, ihre Dienstzimmer auch nur für wenige Minuten unverschlossen zu lassen. Als besonderes Problem erwies sich die Bereitstellung der erforderlichen Sitzungsräume für die Ausschüsse des Landtags und die Fraktionen. Denn sowohl das Behördenhaus als auch das Hochhaus waren als Bürogebäude konzipiert und beherbergten fast ausschließlich kleine, bescheidene Büroräume. Auch der spätere in dem Komplex untergebrachte Bezirkstag benötigte im Wesentlichen nur einen Saal. Dort nahmen die Bezirkstagsabgeordneten die von der SED inhaltlich vorgegebenen Berichte und Vorlagen vom Rat des Bezirks entgegen und „nickten sie ab“. So lautete der allgemein gebräuchliche – und durchaus zutreffende – Ausdruck für die Funktion dieses Pseudoparlaments. Vorbereitender Sitzungen in Ausschüssen und Fraktionen, welche die Bezirkstagungen vorzubereiten hatten, bedurfte es nicht, somit fehlten die entsprechenden Sitzungsräume und -säle. Es gab nur eine Ausnahme: Eine Holzbaracke im Innenhof hatte einen größeren Raum. Derartige primitive hölzerne Dauerprovisorien waren übrigens typisch für die DDR. Sie gruppierten sich überall in ihrer unübersehbaren architektonischen Hässlichkeit um öffentliche Bauten, auch ein Zeichen für die Mangelwirtschaft. Es hieß also, aus kleinen Büroräumen Sitzungsräume für Ausschüsse mit wenigstens ca. 15 Ausschussmitgliedern und ca. fünf Regierungsvertretern sowie für unterschiedlich große Fraktionsvertretungen zu schaffen. Das erwies sich als kaum möglich. Man konnte nur die Zwischenwände von Büroräumen einreißen und schmale, lange, schlauchartige Gebilde schaffen. Die Säle waren so schmal, dass zwar Abgeordneten und Ministern noch gerade ein Stückchen Tischplatte als Arbeitsplatz zur Verfügung stand. Deren Mitarbeiter („Zuschläger“) mussten hingegen ihre Akten und Unterlagen auf den Knien balancieren und auf dem Boden ablegen. Von akzeptablen Arbeitsbedingungen war man meilenweit entfernt. An öffentliche Ausschusssitzungen war unter diesen Umständen schon allein aus Platzmangel nicht zu denken, weil Zuhörer einfach nicht untergebracht werden konnten. Da das Behördenzentrum dem Landtag nicht in Gänze zur Verfügung stand, sondern außerdem die Staatskanzlei und das Finanz- und Wirtschaftsministerium beher-

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bergte, mussten für Zwecke des Landtags zusätzlich auswärtige Räume angemietet werden, so in Erfurt-Südost in der Heinrich-Wolff-Straße ein ehemaliges Arbeiterwohnheim des Kombinats für Mikroelektronik, das bis zum 1.10.1990 freigezogen und innerhalb von 14 Tagen zu einem provisorischen „Haus der Abgeordneten“ umfunktioniert wurde. Dort erhielten je zwei Abgeordnete ein Arbeitszimmer. Da die Hotelkapazitäten in Erfurt äußerst begrenzt und zumeist langfristig durch Aufbauhelfer aller Art ausgebucht waren, wurden dort auch für wenigstens 48 Abgeordnete, die nicht in der Nähe von Erfurt zu Hause waren, Übernachtungsmöglichkeiten geschaffen.

Abb. 5  Das „Haus der Abgeordneten“ – die Schlafstätte der Abgeordneten

Doch schon im August/September 1990 begannen die Planungen, die provisorische Unterbringung der Abgeordneten durch eine großzügige und komfortable Lösung zu ersetzen. Zum 1.9.1990 wurde von der Stadt Erfurt in der Friedrich-Ebert-Straße 59 ein Sportlerheim angemietet, das zuvor der Unterbringung von Spitzensportlern der Kaderschmiede Erfurt gedient hatte. Dort standen siebenundfünfzig Zimmer und sechs Sitzungsräume mit einer kleinen Gaststätte zur Verfügung. Das Gebäude, eine unschöne Platte, wurde aufwändig und geschmackvoll bis 1994 saniert und stand danach für Abgeordnete mit neunundfünfzig Einzimmerappartements zum Übernachten zur Verfügung. Zusätzlich wurde für jeden Abgeordneten im Landtagsgebäude ein Arbeitszimmer eingerichtet. Ich wandte mich intern gegen diese im Vergleich zu einigen westdeutschen Landesparlamenten kostspielige Luxuslösung und plädierte dafür, Abgeordneten zwar

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ein Arbeitszimmer bereitzustellen, sie aber im Bedarfsfall in Hotels übernachten zu lassen, die schon bald mit ausreichenden Kapazitäten auf dem Markt waren. Als Alternative empfahl ich, für die Abgeordneten nur ein Appartement als kombiniertes Arbeits- und Schlafzimmer anzubieten. Ich hielt diese deutlich preiswerteren Varianten für angemessen und mahnte mehr Bescheidenheit an, solange der Thüringer Haushalt maßgeblich aus dem Westen finanziert wurde und manches westdeutsche Landesparlament noch nicht solche großzügigen Arbeitsräume und Übernachtungsmöglichkeiten aufweisen konnte. Wie kaum anders zu erwarten, konnte ich mich mit meinen Vorstellungen nicht durchsetzen und bezog zusätzlich ordentlich Prügel, natürlich vorrangig von „meinem speziellen Freund“ und ständigen Widerpart, dem CDU-Fraktionsvorsitzenden Jörg Schwäblein: Über die Ausstattung der Thüringer Abgeordneten würden diese ganz allein entscheiden. Der Landtagsdirektor würde sich wieder einmal Urteile und Kritik anmaßen, die ihm als Verwaltungsbeamten überhaupt nicht zustünden. Diese mangelnde Sensibilität und Bescheidenheit wurde zusätzlich dadurch überboten, dass der vermögenswerte Vorteil eines Einzimmerappartements bei der Höhe der Aufwandsentschädigung nicht berücksichtigt wurde. Den „jungfräulichen“ Thüringer Landtag mag es entschuldigen, dass die Pauschalierung von Aufwandsentschädigungen für Abgeordnete in noch keinem deutschen Parlament nach objektiven Kriterien vorgenommen worden ist, wies dies an sich geboten wäre. Das mit Abstand sowohl baulich, funktionell als auch „qualitativ herausragendste Prunkstück“ in der Konkursmasse des Rats des Bezirks war dessen Bibliothek. Eigentlich verbietet es sich, diesen ehrbaren Begriff für das von mir vorgefundene jammervolle, finstere Loch zu verwenden: Im Keller des Behördenhauses fand ich einen durch Holzlatten abgeteilten Verschlag mit einigen wenigen Regalen vor, in dem eine herzensgute, überaus freundliche Frau mit ihren wenigen Büchern ohne jedes natürliche Licht vegetierte. Man musste den Eindruck haben, in dieses Verließ sei jemand strafversetzt worden. In den Regalen befanden sich einige wenige Bände mit bebilderter Literatur über Erfurt und Thüringen, Kinderbücher, etliche Bände mit den Klassikern des Marxismus-Leninismus mit zahllosen Überstücken und als wertvollster Bestand die Gesetzbücher der DDR. Rechtswissenschaftliche, ökonomische und sonstige Fachliteratur war nur in einigen wenigen Exemplaren vorhanden. Das Personal des Rats des Bezirks brauchte augenscheinlich keine Literatur als Hilfe für die Lösung anstehender Probleme. Wer sich zur eigenen Entscheidungsfindung abwägend mit Fachliteratur beschäftigte, war den Vorgesetzten vermutlich eher suspekt. Thüringens ehemaliger Landesbischof Kähler hat diese Lage der Juristen in der DDR treffend zusammengefasst: „…sie haben das Recht immer so gelehrt, dass es immer die eine eindeutige Lösung gab. Die Diskussion einer herrschenden Meinung und einer begründeten Mindermeinung oder gar die Erklärung, dass eine rechtliche Frage umstritten sei, das gab es überhaupt nicht im Rechtsdenken der DDR.“4 Die Gesetzessammlungen sicherte ich umgehend, weil mir klar war, dass sie von den Gerichten der Nachwendezeit auch künftig in Fällen benötigt würden, in denen

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sie altes, nach dem Einigungsvertrag fortgeltendes Recht anzuwenden hätten. Die Justiz zeigte sich für diese Voraussicht später äußerst dankbar. Der bedauernswerten Bibliothekarin kündigte ich an, dass wir eine vergleichsweise große Bibliothek in schönen funktionsgerechten Räumen aufbauen, sie aus ihrem Loch herausholen und sie in ein kleines Team von Bibliothekaren und Archivaren eingliedern würden. Dieses Team mussten wir zwar aus der fachfremden Bibliothek der Medizinischen Akademie gewinnen und für die Bedürfnisse einer Landtagsbibliothek qualifizieren, aber es wurde am Ende eine wunderbare, hoch motivierte Truppe, die in der neuen Verwaltung einen ganz anderen, viel höheren Stellenwert haben sollte. Die Bibliothekarin aus dem Rat des Bezirks konnte ihr neues Glück kaum fassen. Die Marxismus-Leninismus-Klassiker wurden nicht etwa entsorgt. Als jemand, der zu Büchern ein nahezu erotisches Verhältnis hat, habe ich mich strikt dagegen gewandt, sie auf den Müll zu werfen oder sie gar zu verbrennen. Je ein Exemplar steht noch heute in der Landtagsbibliothek. Die Überstücke wurden verkauft. Interessierte Abnehmer waren insbesondere Wessis; für Ossis gab es keinen Markt, deren Bedarf war dafür offensichtlich in jeder Hinsicht für alle Zukunft reichlich gedeckt. Hübsche Kinderbücher wurden an Kindergärten verschenkt. Die räumlichen Verhältnisse und Arbeitsmöglichkeiten für einen Landtag waren katastrophal und nur für eine kurze Übergangszeit gezwungenermaßen tolerabel. Es mussten also Neubauten her, wobei am dringendsten ein Gebäude mit ausreichend großen Sitzungsräumen gebaut werden musste. Die damit verbundenen Planungen wurden aber erst sehr viel später, im Jahre 1996, aufgenommen. Die Pläne für Neuund Erweiterungsbauten lösten allerdings schon frühzeitig sowohl zwischen den Fraktionen im Landtag als auch in der Öffentlichkeit heftige kontroverse, zumeist ablehnende Stellungnahmen aus. Es gab sogar Protestdemonstrationen vor dem Landtag. In vorderster Front standen eine Arbeitsloseninitiative, die PDS-Fraktion, und es protestierten auch einige evangelische Pfarrer. Der Protest der PDS-Fraktion brachte mich besonders in Harnisch, da ich von ihren Abgeordneten ständig Klagen und von ihrer Geschäftsführung noch zuvor ein Schreiben erhalten hatte, in dem die unzureichenden räumlichen Verhältnisse kritisiert wurden und von mir Abhilfe gefordert wurde. Ich beschloss daher, eine Gegendemonstration zu organisieren, sicherlich ein sehr ungewöhnliches Unternehmen von einer Landtagsverwaltung und vermutlich ein einmaliger Sonderfall in der Parlamentsgeschichte. Ich entwarf Flugblätter, in denen ich die katastrophale Unterbringung der Ausschüsse und Fraktionen beschrieb und dazu einlud, sich konkret vor Ort darüber schlau zu machen. Jeder könne sich dazu bei mir telefonisch anmelden. Gesegnet mit einer lauten Stimme brüllte ich in der Demonstration meine Argumentation gegen die mit Megafonen ausgestattete PDS an. Einigen auch mir bekannten Protestlern, insbesondere zwei Pfarrern, überreichte ich zusätzlich persönliche schriftliche Einladungen für einen Informationsbesuch vor Ort. Darauf erhielt ich nie eine Reaktion. Offensichtlich sahen sie die Gefahr, durch einen erweiterten Kenntnisstand der eigenen Protestaktion den Boden zu entziehen und sich selbst unglaubwürdig zu machen.

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Mir war schon bewusst, dass sich diese Demonstration hart an der Grenze des beamtenrechtlichen Mäßigungsverbots bewegte, obwohl sie mit der Funktionstüchtigkeit des Thüringer Landtags eine dezidiert gemeinwohlorientierte Zielrichtung gegenüber wohlfeilem Populismus verfolgte. Die Beschwerden der PDS beim Landtagspräsidenten gegen mich folgten natürlich auf dem Fuß; sie hatten jedoch für mich letztlich keine nachteiligen Folgen, hinter vorgehaltener Hand wurde ich eher gelobt. Die Büro- und Sitzungsräume konnten vorerst zwar nur spartanisch mit abgewetzten, aber immerhin leidlich funktionellen Büromöbeln ausgestattet werden – alle Stühle übrigens im vorherrschenden DDR-Design: Stahlrohrgerüst mit gepolsterter Sitzfläche und Rückenlehne. Es fehlte jedoch darüber hinaus in den Büros an einer gerade für Abgeordnete essentiell wichtigen Einrichtung: einer funktionierenden Telekommunikationsanlage oder – bescheidener ausgedrückt – an Anlagen und Leitungen, über die man sich in das öffentliche Telefonnetz einwählen konnte. Zwar stand auf jedem Schreibtisch ein voluminöser grauer Telefonkasten, dessen Nutzungsmöglichkeiten nicht einmal mitteleuropäischem Mindeststandard entsprachen. Sobald man begann, die ersten Ziffern, zum Beispiel einer westdeutschen Nummer, einzuwählen, erklang das nervende „Tut, tut, tut“ – Besetztzeichen. Da ich keine Sekretärin und der Telefonapparat keine Wiederholungstaste hatte, vergeudete ich viel der so kostbaren, knappen Zeit mit der Anwahl dringend benötigter Gesprächspartner. Im Schnitt war man selten vor dem 20. Versuch erfolgreich. Das machte mich ungeduldigen Menschen fast krank. Aber ich konnte auf manches Telefonat einfach nicht verzichten. Zwar prahlte ich immer damit, alle Aufgaben einer Parlamentsverwaltung zu beherrschen, mit Ausnahme meiner bereits beschriebenen Mängel bei der EDV-Nutzung, aber es gab doch immer wieder Fragen, die ich mit einem kompetenten Gesprächspartner nur einfach einmal erörtern und mit meiner Auffassung gegenchecken wollte. Und das waren zu juristischen Fragen meine beiden Freunde, die Professoren Christoph Trzaskalik und Siegfried Jutzi in Mainz. Der erstere, leider viel zu früh verstorbene, war ein scharfsinniger Rechtswissenschaftler und der zweite ein hochintelligenter, u.a. an späterer Stelle im Zusammenhang mit der Erarbeitung des Caesar’schen Verfassungsentwurfs erwähnter Jurist, der sowohl als Wissenschaftler als auch als Praktiker hervorragend ausgewiesen war. Beide dachten blitzschnell und waren verlässlich. Sie wählten nie den sehr verbreiteten Schmuseweg, mich nur zu bestätigen und mir anerkennend auf die Schulter zu klopfen; mit beiden Freunden konnte ich immer Klartext reden und sie mit mir. Darüber hinaus brauchte ich oft Hilfe in mir nicht vertrauten technischen Detailfragen, und auch das ging im Allgemeinen nur über das Telefon. Zur Lösung der leidigen Telefonprobleme bat ich den für Telekommunikationsfragen zuständigen Mitarbeiter zu mir, um mit ihm alle Möglichkeiten zu erörtern, wie wir uns schneller insbesondere in das westdeutsche Leitungssystem einwählen könnten. Er war schon in DDR-Zeiten für die Telefonanlage des Rats des Bezirks zuständig. Mit einer Mischung aus Stolz, Nostalgie und Wehmut führte er mich in einen großen Raum, in dem ein riesiges Ungetüm aus Blechen und Leitungen stand, in welchem Relais mit einigem Getöse in unregelmäßigen Abständen rasselten. Das

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sei eine „Großwählnebenstellen(GWM-50)“-Telefonanlage aus Mitte oder Ende der 50er Jahre, die nun wohl bald einer neuen technologischen Entwicklung weichen müsse. So war es denn auch. Im November 1991 wurde sie durch eine digital arbeitende Anlage mit ISDN-Anschlussmöglichkeit ersetzt. Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie die ehemalige DDR nach der Wiedervereinigung mit westdeutscher Hilfe auf allen möglichen Gebieten technologisch auf höchstes Niveau gebracht wurde. Mancher Westkollege beneidete mich schon bald ob unserer supermodernen Ausstattung. Obwohl diese Entwicklung auch viele Neider im Westen auf den Plan rief, war sie im Grundsatz – von einigen fehlgeleiteten, überproportionalen Übertreibungen und Ausrutschern einmal abgesehen – der einzig richtige Weg. Es wäre völlig unwirtschaftlich gewesen, uralte Anlagen durch alte zu ersetzen, um sie dann in wenigen Jahren doch auf den modernen Stand der Technik zu bringen. Alle waren von der neuen Anlage und den technischen Möglichkeiten, die sie bot, hellauf begeistert. Nur einer fand ein Haar in der Suppe, und das auch noch mehrfach: mein besonderer „Freund“, der Abgeordnete und CDU-Fraktionschef Jörg Schwäblein. Er fühlte sich anscheinend von der nach seiner Überzeugung noch immer agierenden Stasi verfolgt. Immer wenn es einmal in seinem Telefonhörer knackte, vermutete er dahinter einen Lauschangriff der Stasi, die nach seinen Vermutungen immer noch im Geheimen auf der Lauer liege. Er verlangte eine genaue Überprüfung der Telefonleitungen auf Wanzen. Wir mussten daher das „Abhörschutzteam Mitte“ der Deutschen Bundespost-Telekom aus Darmstadt anreisen lassen, was uns die horrende Summe von 16.146,07 DM gekostet hat. Ich fühle noch heute den teils unverständigen, teils wohl um meine Psyche besorgten Blick der Techniker ob meiner Stasiängste auf mir ruhen, den ich stellvertretend für den misstrauischen Abgeordneten ertragen musste. Das Ergebnis der Prüfungen war jedesmal dasselbe: Guck und Horch waren nicht die Knacker. Ich wollte die alte Telefonanlage, dieses gute alte Stück, noch zu Geld machen, sie zum Beispiel an ein technisches Museum verkaufen, aber was könnte eine Kultureinrichtung schon zahlen. Uns fiel noch rechtzeitig eine – zugegeben etwas trickreiche – Lösung ein, die sich als äußerst lukrativ erweisen sollte: In die Ausschreibung für die neue Telefonanlage nahmen wir die Bedingung auf, uns die alte Anlage abzukaufen. DTW war diese „Kröte“ die stolze Summe von 200.000 DM wert. Wo die alte Anlage schließlich gelandet ist, weiß ich nicht, vermutlich auf einem Schrottplatz. Ich selbst konnte als vielbeschäftigter Aufbauhelfer nicht auf die Aufbauhilfe der Telekom, die mit ihren Technikern in relativ kurzer Zeit eine herausragende Leistung erbracht hatte, mit der neuen Anlage warten. Ich brauchte hier und heute ein funktionstüchtiges Telefon. Als Alternative wäre ein Funktelefon im C-Netz der Telekom in Betracht gekommen. Das waren zur damaligen Zeit große, schwere, unhandliche Kisten, die nur in Erfurt und entlang der Autobahn A4 funktionierten. Außerdem waren die damaligen Kosten aus heutiger Sicht horrend: die Geräte kosteten zwischen 3.000 und 4.000 DM und das Telefonieren pro Minute ca. 3 DM.

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Unser Telekommunikationsfachmann erhörte mein Flehen und wusste Rat. Es war eine für mich völlig verblüffende Lösung: Ich erhielt eine Geheimnummer, mit der ich in Berlin in der Schaltzentrale des ehemaligen Ministerrats der DDR landete. Von dort wurde ich per Hand in das westdeutsche Telefonnetz weitervermittelt. Die wie bei allen Handvermittlungen plärrende Anrede „Teilnehmer“ klingt mir heute noch im Ohr, aber ich war der realen Wiedervereinigung, diesmal auf dem Gebiet des Fernmeldewesens, ein großes Stück näher gerückt. So wurde ich insoweit zu einem äußerst privilegierten Aufbauhelfer. Ein weiteres drängendes Problem war die rechtzeitige Anschaffung von Kopierern und Druckern zur konstituierenden Sitzung. Wir mussten fähig sein, alle anfallenden Drucksachen in der in der Anfangsphase erforderlichen Zahl von ca. 430 Exemplaren fristgerecht zu drucken. Das musste bei Änderungsanträgen während einer Plenarsitzung manchmal in wenigen Minuten geschehen. Die Ankäufe oder Leasingverträge erfolgten natürlich ohne jede vorherige Ausschreibung, denn diese Verfahren dauerten viel zu lang. Ott rief ein paar Firmen an und bat sie, uns beiden am nächsten Tag Angebote zu unterbreiten. Ich erwartete äußerst günstige Angebote, weil ich von der sicheren Annahme ausging, alle Firmen seien daran interessiert, mit dem Land als solventem Dauerkunden langfristig ins Geschäft zu kommen. Sicherheitshalber erkundigte ich mich aber noch vorher bei meinen Mainzer Kollegen nach den üblichen Konditionen von Leasingverträgen, vor allem nach den so genannten Klickkosten, also den Kosten für eine einzelne Kopie. Für meinen in der Planwirtschaft aufgewachsenen Kollegen sollten die Verhandlungen um die Anmietung bzw. den Ankauf diverser Büromaschinen eine interessante und aufregende Lehrstunde im marktwirtschaftlichen Verhalten werden. Alle eingeladenen Firmen unterbreiteten nacheinander erheblich überhöhte Angebote, bis zum Dreifachen der Mainzer Preise. Auch das war ein unrühmliches Beispiel für westdeutsche Heuschrecken im Osten während der Wendezeit. Ich fühlte mich fast in meiner Ehre gekränkt. Meinten die, ich sei ein in Fragen des Kapitalismus unerfahrener Ossi? Wahrscheinlicher war aber wohl, dass ich als ein weltfremder, dem Wirtschaftsleben ferner Jurist eingeschätzt wurde. Ich verabschiedete mich abrupt von allen Vertretern verbunden mit der Empfehlung, am nächsten Tag mit deutlich reduzierten, am westdeutschen Preisniveau orientierten Angeboten wiederzukommen. Ott war entsetzt, und ihm wurde angst und bange, ob wir die Kopierer und Drucker noch rechtzeitig vor dem Start des Landtags erhalten würden. Ich beruhigte ihn mit der Versicherung, dass alle Vertreter sehr bald wieder zur Tür herein kommen würden. Und so war es dann auch. Der Erste kam schon zwei Stunden später mit akzeptablen Konditionen; er sollte viele Jahre unser Partner bleiben. So hatte die telefonische Kommunikation über die Klickkosten noch rechtzeitig vor festen Vertragsabschlüssen dazu geführt, dass der Haushalt zwar nicht mit großen Summen entlastet wurde – aber Kleinvieh macht bekanntlich auch Mist. Aber es war nicht alles vorsintflutlich, was man in den Büros vom Rat des Bezirks an Büroausstattung vorfand. Es gab auch ein regelrechtes Highlight, und das waren

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die Computer samt den EDV-Fachleuten. Wir hatten den Leiter der EDV-Abteilung mit einem kleinen Mitarbeiterstab vom Rat des Bezirks übernommen. Und als mit der Auflösung des Rats des Bezirks und der späteren Bezirksverwaltungsbehörde deren Inventar regelrecht gefleddert wurde, sicherte dieser Stab die EDV-Anlagen und brachte sie mit in die Landtagsverwaltung ein. Wir hatten also nicht nur ausreichend Computer auf einem aus damaliger Sicht relativ guten technischen Stand, sondern zusätzlich die Creme de la Creme der EDV-Fachleute im Bezirk. Und das hieß etwas, da Erfurt und Sömmerda im RGW-Bereich schwerpunktmäßig für die Mikroelektronik zuständig waren. Diese Fachleute sollten später bei der Abstimmung und Entwicklung gemeinsamer einheitlicher EDV-Vorhaben aller deutschen Landesparlamente eine führende innovative Rolle spielen. Die hohe Qualifikation der EDV-Mannschaft sollte sich auch für den Staatshaushalt positiv auszahlen. Die Industrie versuchte, die Landtagsverwaltung – wie auch die übrigen Verwaltungsbehörden – ständig davon zu überzeugen, dass sie ihren Bestand an EDV-Soft- und Hardware laufend auf dem neuesten Stand halten müsse, um nicht dem Fortschritt hinterherzuhinken. Zusätzlich entwickelte sie ihre Produkte so, dass Reparaturen schon nach kurzer Zeit nicht mehr möglich, zumindest aber finanziell nicht mehr lohnend waren. Um dieser üblen Abzockerei von Monopolisten wie Microsoft wenigstens etwas kostendämpfend entgegentreten zu können, bedurfte es auf Seiten der Verwaltung annähernd gleichwertiger Kontrahenten. Da die öffentliche Verwaltung für die EDV-Branche eine permanent sprudelnde Geldquelle war, versuchte sie, sich diese Quelle nicht nur zu erschließen, sondern auch auf Dauer zu sichern. Die Mittel, die sie dabei anwandte, waren jedoch alles andere als fein. Ich kannte die unseriösen Methoden schon aus der rheinland-pfälzischen Verwaltung, in der früher jedes Jahr ein mit Beamten voll besetzter Bus, mit einem Staatssekretär auf dem Frontsitz, für ein verlängertes Wochenende nach Paris zur Fortbildung mit attraktivem Beiprogramm fuhr. Daher war ich nicht besonders verwundert, als meine EDV-Leute eines Tages freudestrahlend mit einer Einladung zu einer ebensolchen Fortbildungsveranstaltung bei mir aufkreuzten, und zwar sogar alternativ nach Paris oder an die Côte d‘Azur. Es gab zuerst etwas betretene Gesichter, dann aber doch verständnisvolle Einsicht, als ich für die Thüringer Landesverwaltung ein für allemal festlegte, dass, wenn eine auswärtige Fortbildung überhaupt erforderlich sei, der Landtag dafür die Kosten trage. Damit war klar: Landtagsmitarbeiter lassen sich von Lobbyisten nicht einladen und schon gar nicht über als Dienstreisen getürkte Lustreisen einkaufen. So laut ich das Lob auf die vorgefundene EDV-Ausstattung mit großer Überzeugung – wenn auch zugegebenermaßen mit relativ geringem Sachverstand – singen will, so vermag ich bei einem weiteren in einem Landtag erforderlichen Investitionsbereich, nämlich dem Aufbau eines kleinen Fuhrparks, nur mit Hohn und Spott sowie als Steuerzahler zusätzlich mit einiger Verärgerung zu reagieren. Es ging um die Anschaffung akzeptabler PKWs für den Landtagspräsidenten, die Vizepräsidenten, die Fraktionsvorsitzenden und die Verwaltung. Aus der Konkursmasse des Rats des Bezirks standen uns dafür allein ein altersschwacher Lada und unser peinliches Mit-

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bringsel vom Landtag Rheinland-Pfalz, ein alter ausrangierter Opel, zur Verfügung. Ich ahnte es schon im Voraus: Die Neuanschaffung von Dienstwagen, das wird ein ganz heißes Thema werden. Dieses sekundäre Geschlechtsmerkmal und Prestigeobjekt deutscher Männer musste mit äußerstem Fingerspitzengefühl behandelt werden. Das war und ist nicht gerade eine meiner hervorragendsten Eigenschaften. Daher gab es auch einigen Ärger und ich verscherzte mir bei diesem Thema die ersten Sympathien. Nur mit dem Landtagspräsidenten geriet ich nicht aneinander, obwohl Gottfried Müller ein begeisterter und rasanter Autofahrer war. Aber er war auch ein in materiellen Dingen bescheidener Pfarrer geblieben, der sehr nah an Volkes Stimme war und schon daher jede Protzerei – zumal auf Staatskosten – vermied. Er akzeptierte meine Linie: Der Thüringer Landtag kauft nur Opel, denn Opel war zu der damaligen Zeit der einzige große Investor aus der Automobilbranche in Thüringen. Opel hatte allerdings keine repräsentativen PKWs. Flaggschiff war ein Omega. Gottfried Müller fand sich damit aber ab. Auch Thüringens Ministerpräsident Bernhard Vogel fuhr bis zu seinem Rücktritt einen Opel, wenn auch nur als Zweitwagen neben einem standesgemäßen Mercedes. Den Opel nutzte der mit allen Wassern gewaschene politische Fuchs nur, wenn er in Thüringen über die Dörfer oder als armer Ossi zu Finanzverhandlungen nach Bonn oder Brüssel fuhr. So richtig diese Präferenz aus politischer Perspektive für den Opel war, so verfehlt war sie aus praktischer Sicht. Der Omega war technisch eine Katastrophe, ständig streikte dessen komplizierte, wohl zu hoch gezüchtete Elektronik. Die Karre blieb bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten stehen, musste mehrfach abgeschleppt werden und war mehr in der Werkstatt als im Einsatz. Privat kaufte ich mir trotz dieser schlechten Erfahrungen dennoch einen Opel, da mein stark in die Jahre gekommener VW Golf – schon aus Sicherheitsgründen – einen Nachfolger brauchte. Die politische Präferenz des Landtagsdirektors für die Marke Opel galt konsequenterweise auch für die Privatperson. Opel hat es ihm mit seinem Astra gedankt. Zuverlässig, wenn auch etwas bieder, erfüllt er mit seinen inzwischen 20 Jahren immer noch treu und zuverlässig seinen Dienst. Bei den anderen potentiellen vorrangigen Nutzern der Dienstwagen des Landtags, den Landtagsvizepräsidenten und den Fraktionsvorsitzenden, stießen meine Vorstellungen über die Nutzung von Dienstwagen und deren Marke und Ausstattung auf wenig Gegenliebe. Ein zentraler Dienstwagenpool mit einem vorrangigen Zugriffsrecht der Spitzenpolitiker wurde vehement abgelehnt; gefordert wurde demgegenüber ein personengebundenes Fahrzeug mit Fahrer. Ein Opel – wohl eingedenk der verbreiteten Volksweisheit „Jeder Popel fährt nen Opel“ und der jahrzehntelangen wenig erfreulichen Erfahrungen mit Trabbis, Ladas und Wartburgs, beanspruchte man endlich eine Luxuskarosse von hohem Imagewert. Dafür kamen nur die Marken Mercedes, BMW oder Audi in Frage. Ein Fraktionsvorsitzender – natürlich mein besonderer Freund Jörg Schwäblein – kam zusätzlich mit einer Reihe von Sonderwünschen. Er forderte einen BMW unter anderem mit besonderer Motorisierung, in schneeweißer Farbe und mit schwarzen Ledersitzen und Aluminiumfelgen, die nachgerüstet werden mussten. Meine Hinweise, dass in vielen westdeutschen Landtagen

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die Ausstattung mit Dienstwagen viel bescheidener sei, zum Beispiel für Vizepräsidenten überhaupt keine personenbezogenen Fahrzeuge zur Verfügung stünden, wurden als wenig hilfreich empfunden, weil sie nur eigene politische und haushälterische Bösgläubigkeit erzeugen; so etwas wollte man gar nicht hören. Von der Verwaltung wurden demgegenüber Argumente zur Legitimierung der eigenen Wünsche verlangt, zumindest aber erwartet. Mich hat diese Grundhaltung enttäuscht und deprimiert. Jeder mochte privat die tollsten Luxuslimousinen fahren, aber doch bitte nicht auf Kosten der Steuerzahler, zumal nicht in den neuen Ländern, die damals noch mit nahezu 100 Prozent vom westdeutschen Steuerzahler finanziert wurden. Natürlich konnten auch Landtagsdirektoren nach den üblichen bundesdeutschen Haushaltsstandards eine personengebundene Staatskarosse samt Fahrer beanspruchen, allerdings mit etwas weniger Hubraum. Dieses Privileg wurde selbst in den neuen Ländern eifrig in Anspruch genommen. Bei Konferenzen der Landtagsdirektoren waren die Parkplätze der Tagungshotels regelmäßig mit dicken schwarzen Mercedes- oder BMW-Limousinen vollgeparkt. Ich verzichtete jedoch von Anfang an auf einen Dienstwagen. „Mein“ Fahrer und „mein“ Pkw standen dem Landtag als Aushilfen zur Verfügung. Ich benutzte für kurze örtliche Dienstfahrten meinen Privatwagen auf eigene Kosten und ließ mir diese Dienstfahrten nur aus Versicherungsgründen generell genehmigen. Sonstige Dienstfahrten machte ich 2. Klasse mit der Bahn. Diese Genügsamkeit führte manchmal zu Kommunikationsstörungen, die sich nach gemeinsamen Besprechungen mit anderen Landtagsdirektoren ergaben, wenn diese ausnahmsweise auch einmal mit der Bahn fuhren, dann aber standesgemäß und durch das Reisekostenrecht ausdrücklich abgedeckt in die 1. Klasse einstiegen. Das Baugeschehen lief unter der Leitung des Ressortbeauftragten ab. Da war Ott in seinem Element. Darum musste ich mich nicht kümmern, ich hatte dafür auch gar keine Zeit. Es gab insofern nur eine Ausnahme von grundsätzlicher ordnungspolitischer Bedeutung: Der Rat des Bezirks war zu einem nicht unerheblichen Teil ähnlich autonom organisiert wie die Kombinate in der DDR. So gab es in dem Behördenhaus unter anderem folgende Einrichtungen: eine Sauna (übrigens ein düsteres, pilzverkeimtes dunkles Loch), eine Krankenstation mit Schwester, einen Frisör, eine Sparkasse und ein Lebensmittelgeschäft. Nach meinen ordnungspolitischen Vorstellungen von den Aufgaben des Staates und der Abgrenzung von Staat und Gesellschaft hatten diese Einrichtungen im staatlichen Bereich nichts zu suchen und gehörten geschlossen. Deren Schließung war auch deshalb geboten, weil sie ein illegitimes Privileg für das beim Rat des Bezirks beschäftigte Personal darstellten. Ein weiteres Privileg gab es übrigens für die Bezirksbediensteten in dem schräg gegenüber liegenden Hallenschwimmbad – nämlich speziell für sie reservierte Bahnen. Das „gemeine Volk“ musste mit dem Rest des Schwimmbeckens vorlieb nehmen. Ganz so einfach war das jedoch mit dem ordnungspolitischen Auskehren von DDR-typischen Privilegien nicht. Es gab erste unüberhörbare Kritik an dem Wessi, der mit lieb gewonnenen Gewohnheiten aufräumen wollte. Ich warb

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gegenüber Ott und dem Personal, später auch gegenüber den Abgeordneten, die zumindest Geldautomaten im Landtag wünschten, für meine rigorose Haltung mit dem Argument, öffentliche Amtsträger dürften keine Privilegien genießen, und der Staat dürfe nicht den freien wirtschaftlichen Wettbewerb verzerren. Mit der schrittweisen Renovierung und Umgestaltung der bisher vom Rat des Bezirks genutzten, ziemlich verschlampten Räumlichkeiten verbanden sich manch heitere, manchmal allerdings auch ziemlich unappetitliche Geschichten, von denen abschließend noch zwei erwähnt werden sollen: Die DDR war ein Staat, der von seinen Machthabern ob seiner Einzigartigkeiten auf deutschem Boden ständig in höchsten Tönen stolz gepriesen wurde. Es gab aber auch gewisse DDR-typische Eigenheiten, derer man sich eigentlich hätte schämen müssen. Eine dieser Einzigartigkeiten bestand darin, dass man mit der DDR ganz spezifische Gerüche verband. Näherte man sich ihr, dann lieferten bereits die ersten Atemzüge durch die Nase den untrüglichen Beweis: jetzt bist du in der DDR. Egal ob man mit der Bahn, dem Flieger oder dem Auto anreiste, schon in allen Grenzabfertigungsstellen, Bahnhöfen oder Zugabteilen sowie in allen sonstigen öffentlichen Räumen empfing den Besucher der typische unverkennbare Geruch eines Gemisches aus einem Desinfektionsmittel und Linoleum bzw. Plaste und Elaste; bei dem Desinfektionsmittel handelte es sich wohl um ein Produkt aus Wolfen – Wofasept. Dieses Zeug roch alles andere als angenehm, aber es war immerhin noch erträglich. Ganz anders war dies mit den bestialischen Gerüchen, die in der DDR aus jeder öffentlichen Toilette einschließlich sämtlicher Toiletten in öffentlichen Gebäuden krochen. Sie verursachten regelrecht Übelkeit. Diesen ekelerregenden Geruch verbreiteten auch alle Toiletten im Rat des Bezirks in Erfurt. Näherte man sich auf einem Flur einem Toilettentrakt, musste man den Atem rechtzeitig anhalten, den Schritt beschleunigen und durfte erst nach 20 Metern wieder einatmen. Nichts für Asthmatiker, man brauchte schon eine kräftige Lunge. Eine solch übel riechende Toilettenanlage befand sich auch auf dem Flur gegenüber den Räumen des Landtagspräsidenten, der „Präsidentenetage“. Es begab sich zu der Zeit, dass der Bundespräsident, damals Richard von Weizäcker, dem Freistaat und dem Präsidenten des Thüringer Landtags seinen Antrittsbesuch abstatten wollte. Mein lieber Ott geriet darüber in hellste Aufregung, unter anderem auch deswegen, weil man es dem Bundespräsidenten doch kaum zumuten könne, auf dem Weg in das Zimmer des Präsidenten den kloakigen Abschnitt des Flurs zu durchschreiten. Eine Problemlösung, nämlich dem Protokoll des Bundespräsidenten unter der Hand zuzuflüstern, der Präsident möge ca. 20 Meter vor dem Zimmer des Landtagspräsidenten die Luft anhalten, wurde schnell verworfen. Der findige und tatkräftige Ott schlug daher vor, die gesamte Toilettenanlage noch rechtzeitig vor dem Eintreffen des Bundespräsidenten zu sanieren. Das traute ich ihm durchaus zu, ich war aber trotzdem dagegen. Der Bundespräsident sollte mit seiner Nase realitätsnah auf nur eines der zahlreichen sanierungsbedürftigen Objekte aus DDR-Zeiten gestoßen werden. Die neuen Länder sollten insbesondere nicht mehr typisch nach DDR riechen. Damit sollte zugleich im Kleinen für die Notwendigkeit

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und um Verständnis für die milliardenschweren Hilfspakete aus dem Westen für den Aufbau Ost geworben werden. Zu den eher lustigen Geschichten um die Restaurierung des Landtagsgebäudes gehörte die Renovierung der Treppe im alten Behördenhaus. Im Hinblick auf die jahrelangen Renovierungs-, Aus- und Neubauarbeiten hatten wir in der Verwaltung die Stelle für einen Baurat geschaffen, die mit dem bereits oben erwähnten Gottfried Langelotz besetzt wurde. Da ich in die Diskussion um die architektonische Gestaltung des Landtags nur meine durch Erfahrungen gestützte funktionale Sichtweise eingebracht habe und mich in allen ästhetischen Fragen – mangels eigener Kompetenz – sehr zurückgehalten hatte, war es Langelotz, der nach vorangegangenen eigenen bauhistorischen Studien maßgeblich allein bestimmte, dass die vorrangige Farbgebung im alten Behördenhaus Grün und Gold geprägt sein sollte. So wurden zum Beispiel die Türen grün gestrichen und die Türklinken blitzten goldgelb in Messing. Dementsprechend sollte auch das Geländer der Haupttreppe in Gold erstrahlen. Ich war mit dieser Farbgebung sehr einverstanden, bekam aber später von modernen Architekten viel Kritik ob dieser „altbackenen“ Farbkombination zu hören. Gleich zu Beginn der Arbeiten an der „goldigen“ Treppe gab es Ärger: Es war meine „allerliebste“ PDS-Abgeordnete, nämlich Tamara Thierbach, welche die Chance sah, dem von ihr so ungeliebten Landtagsdirektor eins auszuwischen. Sie lief mit einem „goldigen“ bei den Arbeiten abgefallenen Blättchen zur Bild-Zeitung. Am nächsten Tag konnte man unter deren Glosse „Guten Morgen“ dort folgendes lesen: „Guten Morgen! Ein goldiges Blättchen liegt auf dem Redaktionstisch. Zugegeben – es ist aus dem Landtag geklaut. Dort wird damit das Geländer beklebt. Da freut sich die öffentliche Hand beim Treppensteigen. „Gold“, schimpft Kollegin Klaudia (die Klauerin, Name geändert). „Gold, obwohl die Staatskasse leer ist!“ „Kein Gold, sondern Messing-Zink-Legierung“, kontert Landtagsdirektor Joachim Linck. Also: Materialtest bei Goldschmied Karl-Heinz Glaser. Ergebnis: „Blattgold“. Atmen Sie die Wahrheit? Thüringer haben den Traum der Alchimisten realisiert: Gold aus Zink und Messing.“

Wäre das wirklich die Wahrheit gewesen, hätte ich sofort den Landtagsdirektor an den Nagel gehängt und wäre Goldmacher geworden. Doch die Wahrheit sah anders aus: Es war tatsächlich kein Blattgold, sondern eine Messing-Zink-Legierung. Mein Dementi entsprach den Tatsachen. Doch dieses Dementi war eine „Bahrheit“. Hinter diesem Begriff verbirgt sich eine spezifische Darstellung von Tatsachen, die ich von Egon Bahr gelernt hatte, diesem großen Politikberater, der mit Peter Bender der geistige Vater der Brandt’schen Ostpolitik war, der auch ich – wie bereits erwähnt – mit großer Überzeugung anhing. Bahr war auch schlitzohriger Diplomat und so verbreitete er manchmal bestimmte Wahrheiten, dabei aber weitere verschweigend, die damit in engem Zusammenhang standen, so dass das Gesamtbild nicht ganz der

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vollen Wahrheit entsprach. Hier sei nun die volle Wahrheit um die „goldige“ Treppe gebeichtet: Die Legierung und deren Befestigung am Treppengeländer (im Fachjargon: „Schlagmetall-Beschichtung“) war im Ergebnis nahezu genauso teuer wie eine echte Vergoldung der Treppe.

7.  Vielfältige Probleme um die Einstellung und   Besoldung des Personals Die schwierige Rekrutierung für die Landtagsverwaltung Nach den Empfehlungen der beim Bundesinnenministerium gebildeten, bereits oben erwähnten Clearingstelle wurden dem Thüringer Landtag ca. 120 Stellen zugebilligt. Dieser Personalumfang entsprach in etwa dem üblichen Schlüssel in Relation zur Zahl der Abgeordneten in den alten Flächenländern, sofern sie einen Wissenschaftlichen Beratungsdienst unterhalten, was nicht in allen Landesparlamenten der Fall ist. Ich setzte mich aufgrund meiner praktischen Erfahrungen mit Wissenschaftlichen Beratungsdiensten im Bundestag, im Abgeordnetenhaus von Berlin und im Landtag Rheinland-Pfalz für den Aufbau eines derartigen Beratungsorgans ein. Dafür sprachen folgende wesentliche Gründe: Die Parlamente sind ihren Regierungen, was die fachliche Manpower anbelangt, hoffnungslos unterlegen. Landesparlamente haben in der Regel gerade einmal so viel Personal wie die kleinste Regierungsbehörde, die Staatskanzlei. Den Ministerien mit ihren großen Personalkörpern stehen in den Landtagsverwaltungen lediglich ein Spiegelreferent aus der Landtagsverwaltung und je ein weiterer aus den Fraktionsgeschäftsstellen gegenüber, die allerdings in der Regel nicht nur für den Fachbereich eines Ministeriums, sondern mindestens für zwei Ressorts zuständig sind. Mit dem Wissenschaftlichen Dienst versuchen die Parlamente, das fachliche Übergewicht der Ministerien wenigstens ein bisschen abzumildern. Mir war bei der Etablierung eines Wissenschaftlichen Dienstes beim Thüringer Landtag sehr daran gelegen, dessen Beratungsfunktion nicht nur auf juristische Fragestellungen zu fokussieren und ihn schon gar nicht zu einer Behörde von Bedenkenträgern verkommen zu lassen. Soweit es allerdings zu bestimmten Vorhaben begründete Bedenken gab, mussten den politischen Entscheidungsträgern vertretbare Alternativen angeboten werden, also Brot statt Steine. Da die Wissenschaftlichen Dienste – im Gegensatz zu dem Personal der Fraktionen – amtsbezogen und somit politisch neutral arbeiten sollten, können durch ihre Arbeit in politischen Konfliktsfällen sachgerechte Kompromisse befördert und damit auch mancher Gang zum Verfassungsgericht verhindert werden. Für den Aufbau von Wissenschaftlichen Diensten gerade in den Landtagen der neuen Länder sprachen auch die dortigen völlig unzulänglichen juristischen Kapazitäten im öffentlichen Recht, das in den Parlamenten die größte Bedeutung hat. Nach meiner Pensionierung wurde der „Wissenschaftliche Dienst“ in „Juristischer Dienst“ umbenannt. Dahinter verbarg sich natürlich mehr als ein schlichter Austausch von Begriffen. Entweder wollte oder konnte man die hohen Ansprüche eines üblichen Wissenschaftlichen Dienstes von Parlamenten nicht mehr erfüllen. Diese „Degradierung“ des Wissenschaftlichen Dienstes hatte jedoch keine Auswirkungen auf die Einstufung des Personals, die hoch dotierten A16-Stellen blieben unverändert erhalten.

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Die Thüringer Landtagsverwaltung begann in der Vorbereitungsphase noch unter der Ägide des „Beauftragten für die Einrichtung des Landtags“, Eberhard Ott, mit einer bereits am Ende des zweiten Kapitels erwähnten Kernmannschaft von sechs Ossis und zwei Aufbauhelfern aus der Landtagsverwaltung Rheinland-Pfalz. Die Aufbaumannschaft wurde schon am 5.11.1990 durch einen dritten Wessi, Dr. Sebastian Dette, ergänzt. Ihn, den ich schon während seiner Ausbildung im Landtag RheinlandPfalz kennen und schätzen gelernt hatte, hatte ich aus dem rheinland-pfälzischen Umweltministerium abgeworben, um ihm die Abteilung „Wissenschaftlicher Dienst und Parlamentsdienst“ zu übertragen; deren Leiter blieb er bis zu seiner Versetzung als Bundesrichter an das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig am 2.11.2003. Er brachte für die Abteilungsleitung Voraussetzungen mit, die ihn zu einer wichtigen Säule der Landtagsverwaltung werden ließen; außer seinen guten juristischen Qualifikationen war das eine ostasiatische Lebens- und Geisteshaltung, die er im Aikido-Kampfsport trainierte. Dabei handelt es sich allerdings mehr um eine Kampfkunst, deren Wesensmerkmal vor allem darin besteht, die Energie gegnerischer Angriffe abzuwehren und diese letztlich für Zusammenspiel und Harmonie zu nutzen. Es war daher immer wieder hilfreich, im parlamentarischen Boxring Sebastian Dette als ein deeskalierendes Element einsetzen zu können.

Abb. 6  Die erste Kernmannschaft der Landtagsverwaltung. Von links nach rechts: Dr. Dette (mit Ehefrau), Ruthe, (Frau Dr. Linck), Ott, Langenhahn, Dr. Linck, Heilmann. Nicht im Bild: Doppler, Purkert

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Der weitere personelle Aufbau der Landtagsverwaltung erfolgte ziemlich zügig. Zum Zeitpunkt der Konstituierung des Landtags waren bereits 37 Bedienstete – wenn auch vorerst nur vorläufig – eingestellt. Zum 1.1.1991, dann schon aufgrund einer öffentlichen Ausschreibung, waren es 55 und am 1.7.1991 schon 108. Dieser Personalaufbau war mit einer personalpolitischen Richtungsentscheidung verbunden. Am 15.3.1991 ernannte der Präsident des Thüringer Landtags die ersten beiden Beamten des Freistaats Thüringen, welche die Funktion von Referatsleitern in der Abteilung „Wissenschaftlicher und Parlamentsdienst“ ausübten. Ich hatte mich in der nach der Wiedervereinigung kontrovers geführten Diskussion, ob man in den neuen Ländern das – in der DDR abgeschaffte – Beamtentum wieder aufleben lassen sollte, sowohl aufgrund der verfassungsrechtlichen Vorgaben von Art. 33 Abs. 4 Grundgesetz (vgl. auch Art. 20 Abs. 2 Einigungsvertrag) als auch aus rechtspolitischen Gründen vehement dafür eingesetzt, die Ausübung hoheitlicher Befugnisse Beamten zu übertragen. Gerade in einer Parlamentsverwaltung, deren neutrale Funktionen sich in einem sehr oft durch parteipolitische Kontroversen geprägten Umfeld zu bewähren haben, war die Absicherung der Unabhängigkeit des Führungspersonals durch den Beamtenstatus von überragender Bedeutung. Dabei war ich mir durchaus bewusst, dass ich mich später als Chef der Verwaltung in der Praxis noch manches Mal darüber ärgern würde, dass ich gerade in der Umbruchphase gezwungenermaßen auch nicht besonders qualifizierte Mitarbeiter einstellen musste, die ich später unter veränderten Bedingungen gern wieder los geworden wäre – doch das verbot das Beamtenrecht. Die Ernennung der beiden ersten Beamten stieß in der Presse allerdings nicht wegen der Wiedereinführung des Beamtentums auf Kritik, sondern weil es sich dabei um zwei Wessis handelte. Die in der Nachwendezeit konkurrierende Boulevardpresse bediente – auf einer Anti-Wessi-Welle schwimmend – ihr spezifisches Klientel mit der Schlagzeile: „Ärger im Landtag: Die ersten Beamten sind Wessis.“1 Eine ähnliche journalistische Begleitmusik gab es auch zu meiner förmlichen Ernennung zum Landtagsdirektor. Das „Thüringer Wort“ titelte vorab: „Wieder Wessi auf einem Chefposten?“ und der Artikel schloss mit dem Satz: „In Landtagskreisen stellt man sich die Frage, ob für diese wichtige Verwaltungsfunktion nicht doch ein Thüringer gefunden werden könnte.“2 Ich reagierte öffentlich und offensiv: Jeder, der glaube, für den Posten des Landtagsdirektors eine höhere Qualifikation mitzubringen als ich, möge sich umgehend beim Landtag melden. Es hat sich niemand gemeldet. Im Übrigen gab es den Wunsch nach einem Thüringer als Landtagsdirektor aus „Landtagskreisen“ auch gar nicht. Das war eine reine Erfindung des „Thüringer Wortes“. Der Ruf der Fraktionen nach einem parlamentserfahrenen Wessi war nahezu einhellig. Dieses Personaltableau besaß Mitte 1991 schon eine förmliche Grundlage in dem ersten vom Thüringer Landtag beschlossenen Haushalt und Stellenplan. Für die Landtagsverwaltung musste Personal für eine parlamentsspezifische Abteilung gesucht werden, den „Wissenschaftlichen Dienst und Parlamentsdienst“, für eine Verwaltungsabteilung mit den für Verwaltungen typischen Sachbereichen wie Personal, Haushalt, EDV, Kommunikationstechnik, Organisation, Innerer Dienst sowie auch für die parla-

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Abb. 7  Das erste Organigramm der Landtagsverwaltung

mentsspezifischen Sachbereiche wie Abgeordnetenangelegenheiten und Informationsdienste (Bibliothek, Archiv, Parlamentsdokumentation) und für ein Büro des Präsidenten (Reden, Protokoll, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit). Die Entscheidungskompetenz für Einstellungen lag förmlich beim Präsidenten. Er hatte nach § 4 Abs. 2 S. 2 der Vorläufigen Landessatzung die alleinige Entscheidungsbefugnis und war

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nur gezwungen, im Vorstand des Landtags, also mit seinen zwei Vizepräsidenten, ein „Benehmen“ herzustellen. In anderen Parlamenten gab es Regelungen, die eine erheblich stärkere Mitwirkung des Vorstands oder des Ältestenrats bis hin zu deren Einvernehmen (bzw. deren Zustimmung) vorsahen. Ich hatte mich bei der Erarbeitung der Vorläufigen Landessatzung für ein Alleinentscheidungsrecht des Präsidenten entschieden, weil ich zumindest für die Anfangsphase schnelle Entscheidungsprozesse gesichert haben und – aufgrund meiner Erfahrungen aus Rheinland-Pfalz – einen unerfreulichen Parteischacher mit einer Postenverteilung nach dem Stärkeverhältnis zwischen den Fraktionen verhindern wollte. Diese Regelung wurde übrigens bis heute beibehalten und hat sich in meiner Zeit als Landtagsdirektor sehr bewährt. Ich hatte folgendes verwaltungsinterne Auswahlverfahren eingeführt: Nach einer Stellenausschreibung kamen alle – in der Regel sechs bis acht – Bewerber in die engere Wahl, welche gute oder befriedigende Noten hatten, letztere mussten allerdings eine Zusatzqualifikation nachweisen. An den Vorstellungsgesprächen für den höheren und gehobenen Dienst nahmen außer mir noch die zuständigen Abteilungsleiter, Referatsleiter und der Personalreferent teil. Nachdem alle Bewerbergespräche durchgeführt waren, gab es ein Ranking, und der Rangniedrigste in der Auswahlrunde musste mit seiner Bewertung beginnen, bis ich mich als letzter äußerte. Das Ergebnis war verblüffend: In all den Jahren mit einer Vielzahl von Einstellungsverfahren erzielten wir immer sofort ein einstimmiges Ergebnis. An diesem einstimmigen Ergebnis kam der jeweilige Landtagspräsident faktisch nicht vorbei. In keinem einzigen Fall wich er folglich davon ab. Und so gelangte man – wenigstens unter meiner Ägide – zu einer Landtagsverwaltung, bei der die – jeweils relative – Qualität der Bewerbung den Ausschlag gab und nicht zum Beispiel ein Parteibuch. Von manchem Kollegen, so auch beim heutigen Thüringer Justizminister, erfuhren wir in der Regel erst viel später, oft per Zufall – und dann manches Mal mit ungläubigem Staunen, – dass er ein Parteibuch besaßen. Der Landtagspräsident vertraute seiner Verwaltung und unterschrieb alle ihm vorgelegten Ernennungen im Vertrauen auf ein qualifiziertes Auswahlverfahren. In der Anfangsphase, als Einstellungen noch ohne Ausschreibung und Personalrat vorgenommen wurden, war Ott für die Personalauswahl unterhalb der Schwelle höherer und gehobener Dienste grundsätzlich zuständig. Er rekrutierte die neuen Mitarbeiter vornehmlich aus dem ehemaligen Personal des Rats des Bezirks. Das war einerseits nachvollziehbar, denn dieses Personal war sofort verfügbar. Es befand sich in der so genannten Warteschleife. Über diesem Personal hing das Damoklesschwert der Entlassung und es war deshalb dringend an einer Einstellung im Landesdienst interessiert. Außerdem waren Eberhard Ott als ehemaligem Mitglied des Rats des Bezirks in aller Regel die Stärken und Schwächen der Bewerber bekannt. Die Resultate dieser Personalrekrutierung waren durchwachsen, es gab Licht und Schatten. In drei Sachgebieten fielen sie allerdings hervorragend aus: Es wurde bereits erwähnt, dass für die Landtagsverwaltung nicht nur die beim Rat des Bezirks vorhandenen Computer handstreichartig in einem Akt behördlicher Leichenfledderei annektiert wurden, sondern die EDV-Elite gleich mit übernommen wurde. Weiterhin

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konnten die besten Kräfte aus dem zentralen Schreibbüro vom Rat des Bezirks für die Landtagsverwaltung gewonnen werden. Einige von ihnen wurden dezentral auf die Abteilungen und Referate verteilt, und mit anderen wurde ein Sachgebiet aufgebaut, das für die Protokollierung der Plenar- und Ausschusssitzungen zuständig war. Auch das gelang sowohl funktionell als auch personell optimal. Im Bundestag und den westdeutschen Landesparlamenten obliegt die Aufgabe der Protokollierung der parlamentarischen Verhandlungen üblicherweise Stenografen. Sie stenografieren das gesprochene Wort (zur Sicherheit läuft noch ein elektronisches Aufnahmegerät mit) und fertigen auf dieser Grundlage die der Öffentlichkeit unbeschränkt zugänglichen Wortprotokolle über die Plenarsitzungen an sowie die begrenzt einsehbaren Wortund Ergebnisprotokolle über die Ausschusssitzungen. Da man in Thüringen keine Stenografen auftreiben konnte, musste ein anderes System aufgebaut werden: die Erstellung der Protokolle mit Hilfe von Tonbandredakteuren. Das System funktionierte in folgender Weise: Die Reden der Abgeordneten wurden mit Tonträgern aufgenommen, die Tonbandredakteure saßen zwar in den Sitzungen dabei, sie bedienten aber nur die Tonträger und protokollierten Zwischenrufe. Auf dieser Grundlage wurden von ihnen später die Protokolle erstellt. Die Einführung und Schulung dieser Protokollanten verlief frappierend schnell. Ich redigierte zirka fünf Protokolle gemeinsam mit der Leiterin des Sachgebiets, danach lief die Protokollierung bereits in deren Verantwortung wie am Schnürchen und ohne wesentliche Probleme. Ich war begeistert. Dieser erfolgreiche Start in ein neues Metier war neben den qualifizierten Damen maßgeblich deren Chefin zu verdanken, Angelika Knaupp, die außer ihrer Fachkompetenz – schon rein äußerlich und stimmlich – exzellente Führungsqualitäten besaß. Sie löste, ohne sich dafür Rückendeckung von oben zu holen, sogar die oft unangenehmen Probleme mit Abgeordneten, die in den Protokollen so manches Mal in unzulässiger Weise den Versuch unternahmen, ihre Reden inhaltlich zu ändern. Ich brauchte mich um die Protokollierung von Sitzungen kaum mehr zu kümmern. Die Tonbandredakteure arbeiteten aber nicht nur qualifiziert, sie erstellten die Protokolle außerdem genau so schnell wie die Stenografen in anderen Parlamenten. Sie waren für den Steuerzahler schließlich fast um die Hälfte billiger als die Stenografen, die üblicherweise im höheren Dienst eingestuft sind bzw. dorthin aufsteigen; in der Führungsebene erreichen sie sogar die lukrative B-Besoldung. Ich pries auf Direktorenkonferenzen diese optimale Struktur im Thüringer Landtag den westdeutschen Landesparlamenten als geradezu vorbildlich an. Hier hätten die Wessis mal etwas von den Ossis lernen können. Aber die Wessis wollten oder konnten es nicht; ihre Strukturen waren zu festgefahren und gewachsene Besitzstände waren einfach nicht zu knacken, zumindest scheute man davor wegen des damit verbundenen Ärgers zurück. Bei der Personalrekrutierung unterhalb der Ebenen des höheren und gehobenen Dienstes stellte sich ein erhebliches Problem in der Person des Entscheiders. Das war nämlich Eberhard Ott, der zuvor Mitglied des Rats des Bezirks war, einer Behörde, die besonders linientreu besetzt war. Dadurch war die Gefahr der Pflege alter

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Seilschaften offensichtlich. Diese Gefahr wurde zusätzlich dadurch erhöht, dass Ott schwerpunktmäßig nicht nur die ihm vertrauten und genehmen Genossen aus dem Rat des Bezirks anheuerte, sondern zusätzlich auf seine Parteifreunde aus der Bezirksgeschäftsstelle der Bauernpartei zurückgriff. Eine schwerwiegende Fehlentscheidung konnte man ihm aber wohl kaum subjektiv anlasten. Die gab es allerdings objektiv bei der Auswahl des Personalreferenten. Für diese Stelle wurde ihm durch die CDU – hinter meinem Rücken – ein ehemaliger Kaderleiter der Block-CDU aufgenötigt. Dessen spätere Stasiüberprüfung ergab, dass er als IM im Dienst des Ministeriums für Staatssicherheit gestanden hatte. Er wurde zwar sofort entlassen, aber sein zuvor ausgeübter Einfluss war kaum zu revidieren. Der Personalauswahl hing auch der Ruch einer closed-shop-artigen Rekrutierung an, bei der die Chancen Außenstehender, insbesondere früherer Regimegegner, äußerst gering waren. Von deren Seite hörte ich mehrfach die Kritik: Früher wurden wir ausgegrenzt und jetzt auch wieder. Diese Kritik der Wendeaktivisten konnte ich bestens nachvollziehen, wollte mich aber in diese Diskussion als „Wessi“ nicht einmischen und verwies darauf, dass diese Kontroverse von den Ossis ausgetragen werden sollte. Schließlich gab es ja auch seitens der Abgeordneten und Fraktionen, insbesondere über den Ältestenrat und den Vorstand, ausreichend effektive Kontrollmöglichkeiten gegenüber der Personalpolitik der Landtagsverwaltung. Ich selbst übernahm die Aufgabe, Interessenten für den höheren Dienst zu suchen, in dem oben beschriebenen Verfahren auszuwählen und sie dem Landtagspräsidenten zur förmlichen Ernennung vorzuschlagen. Das war unmittelbar nach der Wende ein äußerst schwieriges Geschäft, insbesondere was die Suche nach guten Juristen anbetraf. Nach der Wiedervereinigung war dieser Markt einfach leergefegt. Meine Präferenz für Juristen in einer Parlamentsverwaltung entsprach meinen Erfahrungen in meinen bisherigen beruflichen Stationen. Die meisten Aufgaben eines Parlaments sind rechtlich durchwirkt; das gilt in besonderem Maße für die Gesetzgebung, aber auch für die parlamentarische Kontrolle. Die unter Juristen verbreitet anzutreffenden Bedenkenträger sind allerdings besonders in Parlamentsverwaltungen fehl am Platz. Sie müssen den Politikern Brot statt Steine liefern, indem sie diesen Spielräume und Alternativen sowie deren rechtliche Grenzen aufzeigen, in welchen sie sich kreativ nach eigenem politischem Ermessen bewegen können. Juristen mit politischem Fingerspitzengefühl, ordnungspolitischer Grundauffassung, wirtschaftlichem Verstand und historischem Background haben das ideale Anforderungsprofil als Mitarbeiter in Parlamentsverwaltungen; politiknahe Zusatzqualifikationen sind natürlich Gold wert. Den Politologen, die sich den Parlamentsverwaltungen als in der Politikberatung besonders versierte Bewerber anpreisen, fehlt leider zu oft der Zug zum operativen Ergebnis (Kohl: „Wichtig ist, was hinten rauskommt“). Das Reflektieren von Problemen allein reicht nicht, zumal man auch das schlichte juristische Handwerkszeug beherrschen muss. Ich hatte im Hinblick auf meine früheren beruflichen Tätigkeiten in verschiedenen Hochschulen, Staatsorganen und ob diverser privater Kontakte eine Menge Ansprechpartner für mein Anliegen, interessante Bewerber für die Landtagsverwaltung in Thüringen benannt zu bekommen. Meine Werbetour war aber dennoch nur

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wenig erfolgreich. Zum Schluss bin ich manchmal geradezu auf den Knien guten Juristen hinterher gerutscht. Mir war diese Immobilität vieler von mir angesprochener Juristen unbegreiflich. Der Osten bot in der damaligen Zeit nicht nur eine einmalige spannende Aufgabe mit großen Gestaltungsmöglichkeiten, auch die Beförderungs- und Aufstiegschancen waren vorzüglich. Für Berufsanfänger gab es schon in Kürze die Besoldungsgruppe A14 und für gestandene Beamte nicht nur eine schnelle Beförderung sowie den Aufstieg vom gehobenen in den höheren Dienst, sondern dazu auch noch Umzugskosten, Trennungsgeld und die so genannte Buschzulage. Selbst mit der Aussicht auf eine sichere Beamtenstelle, die im Stellenplan mit A16 ausgewiesen und somit für ledige Ostbeamte einer mittleren Dienstaltersstufe mit einem Grundgehalt plus Ostzuschlag von damals 3.530,83 DM (das waren 60 Prozent Westgehalt) vergleichsweise gut besoldet war, konnte man manchen Prädikatsjuristen nicht locken. Ich hatte diese hohe Einstufung von Referenten im Wissenschaftlichen Dienst des Landtags gegen erheblichen Widerstand des Rechnungshofs durchgesetzt, obwohl es sich weitgehend nur um Ein-Mann-Referate handelte. Mein Argument war, dass nur hochqualifizierte, breit gebildete Juristen in der Lage seien, sich als Generalisten in die vielfältigen Aufgaben einer Rechts- und Politikberatung einzuarbeiten und in den zahlreich auftretenden Konfliktsfällen zwischen Abgeordneten und Fraktionen einerseits und der mit Spezialisten vollgestopften Regierung andererseits bestehen zu können. Diese Grundentscheidung für A16-Stellen für die Referatsleiter im Wissenschaftlichen Dienst und Parlamentsdienst hatte nicht nur Folgewirkungen für die Stellenbewertung von dessen Abteilungsleiter, sondern auch für den Direktor des Thüringer Landtags. Diese Abteilung bedurfte eines entsprechend hochqualifizierten und höher dotierten Leiters. Er wurde somit in die Besoldungsgruppe B6 eingestuft und gemäß der Ausschreibung dieser Stelle wurden von ihm unter anderen folgende Qualifikationen verlangt: – Befähigung zum Richteramt mit mindestens einem, möglichst mit zwei Prädikatsexamen, Promotion erwünscht, – Befähigung zur wissenschaftlichen Arbeit durch Vorlage einer Literaturliste, – Verständnis für politische Zusammenhänge, – soziale Kompetenz, Führungsgeschick und -stärke, – mehrjährige Verwaltungs- und Leitungserfahrung.

Die Einstufung der ersten Landtagsdirektoren für die Parlamente der neuen Länder wurde von der Clearingstelle im Bundesinnenministerium mit der Besoldungsgruppe B9 empfohlen, allerdings mit einem so genannten „KW-Vermerk“. Man war also der Auffassung, dass die Qualifikation und Belastung eines Landtagsdirektors in der Aufbauphase diese auch nach westdeutschen Maßstäben hohe Besoldung rechtfertigen würde; aber eben nur für diese erste Generation, für dessen Nachfolger sollte es diese hohe Einstufung nicht mehr geben. Meine – in den Stellenplan auch übernommene – Empfehlung für die Einstufung des Direktors beim Thüringer Landtag lautete: zwei Stufen über dem Abteilungsleiter,

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also – zu meinem eigenen Nachteil – nicht B9, sondern B8. Ich habe dabei insbesondere an viele schlechter besoldete westdeutsche Landtagsdirektoren und die Tatsache gedacht, dass die Personalkosten für ostdeutsche Beamte zum weit überwiegenden Teil vom westdeutschen Steuerzahler finanziert wurden. Diese Überlegungen gab es augenscheinlich in den anderen ostdeutschen Parlamenten nicht, zumindest wurden daraus keine entsprechenden besoldungsmäßigen Konsequenzen gezogen. Die Besoldung nach B8 ließ sich darüber hinaus mit folgender Überlegung als angemessen rechtfertigen: Der Landtagsdirektor sollte etwas tiefer als die beamtenrechtlich als politische Beamte in B9 eingestuften Staatssekretäre angesiedelt werden. Die Staatssekretäre konnten nämlich wegen ihres beamtenrechtlichen Sonderstatus als sogenannte politische Beamte jederzeit ohne Angabe von Gründen in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden. Diese im Vergleich zum Status des Landtagsdirektors erheblich höhere Unsicherheit musste sich gerechterweise auch auf die Höhe der Besoldung auswirken. Der Chef der Landtagsverwaltung erhielt in Thüringen nicht die Amtsbezeichnung „Direktor des Thüringer Landtags“, was der Praxis in einigen westdeutschen Landtagen entsprochen hätte, sondern er war „Direktor beim Thüringer Landtag“. Mit dieser Namensgebung hatte ich zwei Ziele verbunden: Ich wollte damit grundsätzlich die dienende Funktion – auch eines leitenden Beamten – herausstellen, und ich wollte speziell den Abgeordneten signalisieren, dass der Landtagsdirektor keinesfalls eine sie beherrschende, sondern nur eine dienende, wenn auch einflussreiche Funktion inne haben darf. Ich hatte mich damals entschieden gegen den Direktor als politischen Beamten ausgesprochen, weil dessen Unabhängigkeit und neutrale Servicefunktion gegenüber allen Fraktionen auf diese Weise erheblich geschwächt würde. Dieser Auffassung bin ich nach wie vor, und daher halte ich die in Deutschland inzwischen eingerissene gegenläufige Tendenz für einen schweren Fehler. Sie hat unter anderem dazu geführt, dass ehemalige Geschäftsführer von Regierungsfraktionen zu Landtagsdirektoren hochgehievt wurden. Ich frage mich, wie die anderen Fraktionen das nötige Vertrauen in die Unabhängigkeit und Neutralität eines Mannes haben sollen, der zuvor ein maßgeblicher politischer Büchsenspanner des politischen Gegners war. Leider hat man später auch in Thüringen durch eine entsprechende Änderung von § 188 Abs. 2 des Landesbeamtengesetzes den Landtagsdirektor zum politischen Beamten gemacht. Für diese Gesetzesänderung war ich der Auslöser. Und das kam so: Mein ursprünglich hervorragendes Verhältnis zu allen Fraktionen kühlte sich gerade zu „meiner“ Fraktion, der CDU – deren Parteimitglied ich war – zunehmend ab und sollte schließlich zu heftigen Auseinandersetzungen führen, die zum Teil auch in der Presse und über sie ausgefochten wurden. Für diese äußerst unerfreuliche Entwicklung gab es mehrere Gründe: Es gab schlicht und einfach erhebliche persönliche Spannungen, die auf gravierende Unterschiede in der Persönlichkeitsstruktur der Akteure zurückzuführen waren, insbesondere zum damaligen CDU-Fraktionsvorsitzenden Jörg Schwäblein. Zu meiner Ehrenrettung kann ich aber immerhin anführen, dass dieser wohl von kaum jemandem, nicht einmal von den eigenen Parteifreunden als Sympathieträger angesehen wurde. Intelligenz und eine gute Rhetorik konnte man ihm

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allerdings nicht absprechen. Aber es ging nicht nur um persönliche Befindlichkeiten. Weite Teile der CDU und speziell deren Funktionäre aus der Zeit, als die CDU noch Blockpartei war, hatten zur Wendezeit überhaupt noch nicht politisch verinnerlicht, was die Grund- und die Spielregeln einer pluralistischen Demokratie ausmachten. Für sie galt die Richtschnur: Früher hatte die SED die Macht, jetzt haben wir die Macht, und die gebrauchen wir. Ich möchte dieses Bewusstsein, das jeden pluralistischen Ansatz vermissen ließ, an zwei Beispielen verdeutlichen: Zu Beginn der zweiten Plenarsitzung stürzte einer der mächtigsten CDU-Abgeordneten, der damalige Landesvorsitzende Willibald Böck, aufgebracht mit rotem Kopf auf mich zu und herrschte mich mit seinem bekannt explosiven Temperament an, einen Antrag der PDS-Fraktion wild in seinen Händen schwingend: „Wie können Sie es als Landtagsdirektor zulassen, dass so ein Antrag überhaupt als Drucksache verteilt wird und heute über dessen Aufnahme in die Tagesordnung abgestimmt werden soll? Dieser Antrag enthält so viel politischen Schwachsinn, er gehört in den Papierkorb.“ Er zerknüllte ihn und warf ihn auf den Boden, mir vor die Füße. Ich musste unwillkürlich lachen, denn ich hatte immer wieder Spaß an den theaterreifen Wutausbrüchen oder parlamentarischen Attacken dieses homo politicus. Als alter Hase im politischen Geschäft war ich wieder um eine Wendeerfahrung reicher. Ruhig und höflich versuchte ich, dem Abgeordneten zu erklären, dass die Zulassung von Anträgen nicht in der Kompetenz des Landtagsdirektors, sondern allenfalls in der des Landtagspräsidenten liege und dass dieser Anträge nur in ganz engem Rahmen als unzulässig zurückweisen könne, so wenn sie zum Beispiel einen strafbaren oder ordnungswidrigen Inhalt hätten. Anträge mit – nach der Bewertung der Regierungsfraktion – „politisch blödsinnigem Inhalt“ würden jedoch nicht darunter fallen. Jede Fraktion habe grundsätzlich einen Anspruch darauf, dass ihre Anträge im Landtag behandelt würden. Es gäbe keine Zensur; über den politischen Wert parlamentarischer Initiativen entscheide letztlich der Wähler. Mit dieser Stellungnahme erntete ich nur Blicke der Missachtung und des Unverständnisses. Das andere Beispiel: Ich sitze in der Kantine beim Essen, und der Wut schnaubende Vorsitzende der FDP-Fraktion, Dr. Andreas Kniepert, setzt sich grußlos dazu, knallt mir ein Stück Papier auf den Tisch und schnauzt mich mit schneidender Stimme an: „Sie haben es mir abgelehnt, mit einem Dienstwagen des Landtags zum Bundesparteitag meiner Partei zu fahren. Ich erwarte, dass Sie Ihre Ablehnung sofort revidieren.“ Und dann folgte ein Satz, den man gut und gerne als den Versuch einer Nötigung werten konnte: „Sie sind in Ihr Amt mit dem Segen unserer Partei gekommen. Sie könnten sehr schnell wieder weg vom Fenster sein.“ Ich reagierte ganz sachlich, aber mit ähnlich schneidender Stimme: „Ich werde meine Entscheidung nicht revidieren. Im Übrigen setzen Sie sich nie wieder unaufgefordert in der Mittagspause an meinen Tisch.“ Zum Hintergrund dieser Kontroverse bedarf es natürlich des Hinweises, dass in der ersten Legislaturperiode ein Zugriff von Abgeordneten auf den Dienstwagenpool des Landtags nur für Fahrten zur Erfüllung von Aufgaben des Landtags, aber nicht zu

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reinen Parteiaufgaben gestattet war. Das Grundprinzip wurde erst später erheblich – entsprechend der Praxis auf Ministerebene – durchlöchert. Diese kleinen, aber sehr symptomatischen Beispiele zeigen, dass die Landtagsverwaltung und vornehmlich ihr Direktor besonders durch „dessen gleichfarbige“ Fraktion als „Huren der Politik“ betrachtet wurden, was sie leider Gottes ja auch oft genug sind. Abgeordnete hatten die völlig verquere Vorstellung, dass die Verwaltung mit zusammengeknallten Hacken ihre Befehle entgegenzunehmen sowie sklavisch und willenlos auszuführen hätte. Dies – so Vorstellungen bei dem CDU-Fraktionsvorstand –. gelte erst recht für den Landtagsdirektor mit demselben Parteibuch. Bei den meisten Abgeordneten mit Blockparteienvergangenheit war noch nicht angekommen und verinnerlicht, dass mit der Geltung des Grundgesetzes in der ehemaligen DDR gewaltenteilende Strukturen eingeführt wurden und insbesondere eine Beamtenschaft, die verfassungs- und beamtenrechtlich keiner Partei, sondern unparteilich dem Gemeinwohl verpflichtet war. Die Fälle parteiegoistischer Zumutungen gegenüber der Verwaltung, die ich immer mit großer Entschiedenheit abzuwehren versuchte und die natürlich immer wieder direkt an mich gerichtet wurden, verstärkten sich in der ersten Legislaturperiode nach Zahl und Intensität mit der Entwicklung eines immer stärker werdenden Selbstbewusstseins auf Seiten der Abgeordneten. Ein Amtsverständnis der Abgeordneten, also das Bewusstsein, das Mandat gemeinwohlorientiert ausüben zu müssen, entwickelte sich nur zögerlich. Für mich war es ein leidvoller, mit viel Ärger verbundener Prozess. Das ursprünglich so enge, freundschaftliche und produktive Band zwischen mir und den Abgeordneten der CDU zerfaserte mehr und mehr und stand schließlich vor der Zerreißprobe. Die Vorwürfe wurden immer lauter und heftiger: Ich würde mir Rechte anmaßen, die mir nicht zustünden, sei arrogant und belehrend gegenüber Abgeordneten, und aus CDU-Kreisen wurde mir sogar in Einzelfällen vorgeworfen, ein Freund der Kommunisten zu sein – in völliger Verkennung meines Bemühens, als Beamter meine neutrale Servicefunktion gegenüber allen Fraktionen zu erfüllen. Die PDS-Abgeordneten hätten sich über diesen Freund ebenso schön bedankt wie ich selbst im umgekehrten Fall. Doch bei aller persönlich-privater Distanz zur Politik der PDS gebot es das Amt eines Landtagsdirektors, ein sachliches Verhältnis zu einigen Funktionsträgern dieser Fraktion aufzubauen und zu pflegen. Diese Beziehungen verdichteten sich mit der Zeit in einzelnen Fällen sogar zu ziemlich vertrauensvollen Verhältnissen. Ohne diese Beziehungspflege wäre es oft kaum möglich gewesen, die normativ angelegten Verfahrensabläufe in der parlamentarischen Praxis effektiv umzusetzen. Auf dieser Schiene konnte man auch manches Problem schnell und geräuschlos lösen. Man diente damit dem parlamentarischen System und nicht etwa einer politischen Partei. Es ist eigentlich müßig, diese selbstverständliche Sichtweise überhaupt hervorzuheben. In diesem eskalierenden Konflikt mit den Regierungsfraktionen habe ich meinen Chef, den ersten Thüringer Landtagspräsidenten Dr. Gottfried Müller, oft bedauert. Ihm galt mit zunehmender Schärfe der Vorwurf, er habe den Landtagsdirektor „nicht im Griff“. Und manches Mal, wenn er missmutig aus der CDU-Fraktion kam, war

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ich der eigentliche Grund seiner Missstimmung, weil er sich der Kritik an „seinem“ Direktor stellen musste, der ich gern und mit Überzeugung und Kampfesmut selbst entgegengetreten wäre. Der Landtagspräsident tat mir in solchen Situationen immer sehr leid. Dieser gütige, weise, tolerante und humorvolle Mann wollte seinen Direktor gar nicht „im Griff haben“. Er wollte sich gar nicht in die vielfältigen Aufgaben der Landtagsverwaltung im Detail hineinhängen. Er sah seine Aufgaben in erster Linie darin, an Stelle des ersten Ministerpräsidenten nach der Wende, Josef Duchač, und später neben dessen Nachfolger, Bernhard Vogel, den neuen Freistaat zu repräsentieren, und er wollte seinen Thüringer Landsleuten Mut machen und Selbstbewusstsein vermitteln. Ihn verband mit Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidenten Rau zudem die politische Maxime: nicht spalten, sondern versöhnen. Dabei handelte es sich um eine eminent wichtige Aufgabe in dieser konfliktbeladenen Nachwendezeit: Wessis gegen Ossis, Wendegewinner gegen Wendeverlierer, Altkader gegen Wendehälse und Opfer des DDR-Regimes. Der Konflikt zwischen mir und den beiden Regierungsfraktionen kulminierte auf Initiative von CDU und FDP in einer Änderung des Thüringer Beamtengesetzes, wonach der Landtagsdirektor zum politischen Beamten bestimmt werden konnte. Er sollte demzufolge jederzeit „ohne Angabe von Gründen“ in den einstweiligen Ruhestand verabschiedet werden können (§ 118 Abs. 2 ThürBG). Ich nahm dagegen – auch öffentlich – den Kampf auf, und das aus zwei Gründen: Zum einen gab es einen ganz persönlichen, eigennützigen Grund. Ich wollte mich nicht von der CDUFraktion aus unsachlichen Motiven aus dem Amt jagen lassen. Daher wählte ich mir aus der Bonner Rechtsanwaltskanzlei Heinle Baden Redeker + Partner einen Spitzenanwalt und Spezialisten im Beamtenrecht als Rechtsbeistand, der meine Interessen gegebenenfalls auch gerichtlich vertreten sollte. Gemeinsam bereiteten wir einen Antrag auf Erlass einer Einstweiligen Anordnung vor, der sofort auf Knopfdruck beim Verwaltungsgericht landen sollte, um meine Versetzung in den einstweiligen Ruhestand und insbesondere eine – später aus juristischen Gründen nicht mehr reversible –. Ernennung eines Nachfolgers rechtzeitig zu verhindern. Des Weiteren schrieb ich als schlichtes Parteimitglied einen Brief an „meinen“ CDULandesvorsitzenden Bernhard Vogel, in dem ich ihn bat, auf meine „speziellen Freunde“ in der CDU einen mäßigenden Einfluss zu nehmen. Die öffentliche Diskussion um die Stellung des Landtagsdirektors sei schließlich auch für die Partei nicht gerade förderlich. Die Presse stellte sich nämlich in diesem Konflikt nahezu einmütig auf meine Seite, indem sie der CDU-Fraktion vorwarf, einem unabhängigen, kritischen Beamten einen politischen Maulkorb verpassen zu wollen. Hierzu nur einige Schlagzeilen aus der Thüringer Presse: „Landtagsdirektor soll an die Leine“3, „Eine Abfuhr für die Machtbesessenen“, „Die Attacke der Hard-Liner in der CDU-Fraktion ist gescheitert“4, „SPD beschwert sich über Politisierung der Landtagsverwaltung“5. „SPD- Opposition: Der Direktor werde von einem neutralen Verwaltungsleiter zu einem politischen Beamten und Erfüllungsgehilfen, der von den Regierungsfraktionen unter Druck gesetzt werden könne“6. Auch hier erwies sich Bernhard Vogel als politischer Profi sine ira et studio. Er konnte oder wollte die schon weit fortgeschrittenen Planungen zur Änderung des Be-

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amtenrechts nicht verhindern, bemühte sich aber ziemlich erfolgreich, die Diskussion zu versachlichen und die persönlichen Schärfen aus der Diskussion herauszunehmen. Er versicherte mir, es werde zu keiner „lex Linck“ kommen. Das Gesetz könne schon aus rechtsstaatlicher Sicht keine Rückwirkung für mich als Amtsinhaber, sondern nur Wirkung für die Zukunft, also für meine Nachfolger entfalten. Entsprechende Erklärungen gaben auch der innenpolitische Sprecher der CDU-Fraktion, Wolfgang Fiedler, und der CDU-Vorsitzende Jörg Schwäblein in der abschließenden Beratung des Gesetzentwurfs im Plenum des Thüringer Landtags ab.7 Gegen die Proteste weiter Teile der Opposition und auch des Landtagspräsidenten Gottfried Müller, der sich damit ausdrücklich gegen „seine“ Fraktion stellte, wurde der neue beamtenrechtliche Status des Landtagsdirektors als politischer Beamter in dem noch heute geltenden § 118 Abs. 2 des Thüringer Beamtengesetzes festgeschrieben. Die Gegner dieser Regelung sahen damit die Neutralität der Landtagsverwaltung zu Recht bedroht. Der Landtagspräsident fasste in der parlamentarischen Aussprache seine dahingehenden Befürchtungen wie folgt zusammen: „Ich unterstelle ja nicht, dass es Absicht war ..., eine Parteipolitisierung der Landtagsverwaltung und ihrer Spitze herbeizuführen ..., aber objektiv gesehen ist die Formulierung zu wenig gegen den Missbrauch geschützt. Sie stellt versucherisch geradezu eine Einladung dar, nach einem Wechsel der Mehrheiten aus ungenannten, aber politischen Gründen den Landtagsdirektor auszuwechseln. Bereits die Drohung, es zu tun, oder die Andeutung könnte parteipolitisch disziplinierend wirken.“8 Angewandt wurde § 118 Abs. 2 des Thüringer Beamtengesetzes mir gegenüber allerdings nie; kein Landtagspräsident sah dafür einen Anlass. Ich empfand Dankbarkeit und Genugtuung, dass Landtagspräsident Gottfried Müller in der Plenardebatte um diese Regelung ausdrücklich feststellte: „Auch meinerseits kann ich Herrn Dr. Linck nur meines Vertrauens versichern. Sein stetes Bemühen um parteipolitische Neutralität und Unabhängigkeit der Landtagsverwaltung wird von mir mitgetragen und verantwortet.“ Ich hätte an sich mit den Erklärungen im Landtag, keine „lex Linck“ verabschieden zu wollen, zufrieden sein können, aber abgesehen von der zweifelhaften rechtlichen Relevanz solcher Erklärungen ging es mir bei meinem Kampf gegen die Politisierung des Landtagsdirektors und damit auch mittelbar der Landtagsverwaltung nicht nur um meine persönlichen Interessen, sondern um eine Frage, welche die Grundfesten des Beamtentums betrafen: Wie unabhängig sollte ein Landtagsdirektor sein? Darf über ihn, der sich berufsbedingt ständig zwischen den Fronten der Fraktionen bewegen musste, permanent das Damoklesschwert der jederzeitigen Entfernung aus dem Amt hängen? Und schließlich: Wenn der Grund für eine einfache Trennungsmöglichkeit vom politischen Beamten darin liegt, dass sie nicht „in fortdauernder Übereinstimmung mit den grundsätzlichen politischen Ansichten und Zielen der Regierung stehen“ (§ 31 Abs. 1 S. 1 BRRG), dann ist das zum Beispiel für Staatssekretäre nachvollziehbar. Aber dass auch für Landtagsdirektoren diese Treuepflicht zu einer bestimmten politischen Richtung gelten sollte, ist geradezu abwegig. Anders als ein Regierungschef, ein Minister oder deren Staatssekretäre haben Parlamentspräsidenten und deren

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Direktoren ihr Amt überparteilich zu führen. Gerade Direktoren und deren Verwaltung haben allen Abgeordneten und Fraktionen zu dienen, ob ihnen deren politische Ausrichtung schmeckt oder nicht. Ich hätte durchaus Verständnis für eine Regelung gehabt, der zufolge sich ein Landtagspräsident im Falle einer unheilbaren Zerrüttung des Verhältnisses zu seinem Direktor von diesem trennen können muss, insbesondere wenn diese gravierende Auswirkungen auf die Funktionstüchtigkeit der Verwaltung haben sollte. Diese eingeschränkte Konditionierung wollte man aber gerade nicht, man wollte auch einen Beamten entfernen können, der nicht der Mehrheitsfraktion pariert und politisch nicht in ihrem Sinne funktioniert. Hierin kam ein verwerflicher omnipotenter Machtanspruch zum Ausdruck. Eine Änderung des Beamtenrechts mit dieser Intention stellte die Grundideen des deutschen Beamtentums auf den Kopf und musste verhindert werden. Dieser Kampf ging leider nicht nur für Thüringen verloren. Die Überleitung des Thüringer Landtagsdirektors in ein politisches Beamtenverhältnis hatte sogar fatale bundesweite Folgen. Die Regelung wurde von anderen Landtagen als Vorbild betrachtet und in den Ländern Sachsen und Nordrhein-Westfalen übernommen.9 Diese Entwicklung ist eine weitere Bestätigung für die These von Richard von Weizsäcker: „Die Parteien machen sich den Staat zur Beute.“10 Für die spezielle thüringische Entwicklung der repräsentativen parlamentarischen Demokratie kann man allerdings mit einiger Genugtuung feststellen, dass viele Fehlentwicklungen aus der ersten Legislaturperiode sicherlich auf Unerfahrenheit, mangelhafte Lernprozesse mit der neuartigen Staatsform und der unglücklichen personellen Zusammensetzung des CDU-Fraktionsvorstandes der ersten Legislaturperiode beruhten. Im Verlauf der weiteren Legislaturperioden wurden diese Mängel – durchaus bezogen auf den gesamten Thüringer Landtag – zwar nicht gänzlich abgestellt, aber doch zumindest abgeschwächt, so dass man ihm inzwischen ein Niveau attestieren kann, das dem durchschnittlichen Standard anderer Landesparlamente entspricht, unabhängig davon, ob dieser Durchschnitt bereits ein erstrebenswertes, optimales Niveau erreicht hat. Dieser goldene, wilde Osten lockte natürlich auch ein Volk von Juristen an, derer man sich als Wessi nur schämen konnte: Glücksritter mit unverschämten Forderungen, überall sonst gescheiterte Juristen, die sofort eine Abteilungsleiterstelle forderten, Juristen, die nur ihren Marktwert nach oben schrauben wollten, Juristen mit einem dürftigen „Ausreichend“ in den Examina, die plötzlich ihre Chance witterten. Hinzu kam, dass die Konkurrenz gering war, weil nicht nur der öffentliche Dienst, sondern auch große Anwaltskanzleien, Versicherungen und Banken, die sich mit westdeutschen Dependancen in die neuen Länder ausweiteten, den Markt an Juristen leergefegt hatten. Mit letzteren konnte ich trotz meiner Beförderungszusagen finanziell einfach nicht mithalten. Natürlich gab es auch leuchtende Gegenbeispiele, insbesondere unter fit gebliebenen Pensionären, speziell mit familiären Beziehungen im Osten Deutschlands. Im Übrigen waren die qualifizierten Patrioten aber doch ziemlich rar gesät.

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Personalchefs in Ministerien waren davon überzeugt, dass man bei der Rekrutierung qualifizierter Mitarbeiter das meiste Glück mit solchen Beamten habe, die aus ihrer Ehe fortlaufen wollten, zumal die Chancen, im Osten besten weiblichen Ersatz zu finden, unmittelbar nach der Wende hervorragend gewesen seien. Die Ostfrauen seien selbstbewusste, gute Partnerinnen und „scharf“ auf Wessis, mit denen sie hofften, ein Stück große, luxuriöse weite Welt erleben zu können. Auch würden sie z.T. höfliche, im Vergleich zu den männlichen Ossis geradezu galante Herren der guten alten Schule erleben, die im Westen noch nicht ganz aus der Mode gekommen seien. Und – so fuhren sie fort – die Ost-Frauen kennten keine sexuellen Verdrückungen, ganz im Gegenteil, Sex sei eben „eine gute Gabe Gottes“, den man unter jedem politischen System ausleben könne – darin habe man reichlich Erfahrung und sei den Wessi-Frauen insoweit deutlich überlegen. All das qualifiziere jede Ossi gegenüber den sexuell verklemmten Feministinnen der verqueren 68er Generation aus dem Westen. Ich glaube, an dieser Einschätzung ist vieles richtig. Selbstverständlich hatte ich meinen Blick nicht nur auf Westjuristen gerichtet. Ich hatte so lange, wie nur eben vertretbar, zumindest zwei bis drei Stellen für Ostjuristen offen gehalten. Meine Zielgruppe waren Diplomjuristen aus dem Osten, die von den Angeboten westdeutscher Bundesländer Gebrauch gemacht hatten, um dort als „Rechtspraktikanten im besonderen juristischen Vorbereitungsdienst“ die Befähigung zum Richteramt nach § 5 des Deutschen Richtergesetzes zu erwerben und damit Volljuristen wurden. Aus Thüringen befanden sich 1990 allein 40 Praktikanten in diesem Vorbereitungsdienst. Ostjuristen ohne diese Zusatzqualifikation hielt ich für ungeeignet, eine Tätigkeit im Landtag zu übernehmen, weil sie nur wenig Kenntnisse im öffentlichen Recht hatten. Dieses Rechtsgebiet hatte, abgesehen von begrenzten Ansätzen in der Endphase der DDR – schon deswegen keine Bedeutung, weil es ideologisch per se keine rechtswidrig handelnden Staatsorgane geben konnte, gegen die sich Bürger vor Gerichten hätten zur Wehr setzen müssen. Um für die Landtagsverwaltung möglichst die besten Absolventen zu gewinnen, setzte ich mich mit den Leitern der Prüfungsämter von Bayern, Hessen und Rheinland-Pfalz in Verbindung und bat sie, mir so bald wie möglich die neuen Volljuristen zu benennen, die ihre Westausbildung mit einem Prädikatsexamen abgeschlossen hätten. Die gab es durchaus, wenn auch – wie bei Juristen üblich – nicht in großer Zahl. Sie wurden mir nach entsprechender vorheriger Rücksprache mit ihnen von den Prüfungsämtern benannt; es waren etwa fünf bis sechs Bewerber. Diese Zielgruppe war für mich aus einer Reihe von Gründen besonders wichtig. Selbstverständlich gab es dafür allgemeinpolitische Gründe: Soweit es die Gebote des Leistungsprinzips und das tatsächliche Angebot auf dem Arbeitsmarkt zuließen, durften die höheren Positionen in der Landtagsverwaltung nicht nur von Wessis besetzt werden, vielmehr mussten auch die Ossis ihre gerechten Chancen erhalten. Es war auch aus Gründen einer gedeihlichen Atmosphäre und Kommunikation innerhalb des Thüringer Landtags wichtig, dass die Abgeordneten es nicht nur mit Juristen aus dem Westen, sondern auch mit Juristen zu tun hatten, deren Wurzeln und Lebenserfahrungen im Osten lagen. Da die Politik für den Menschen da ist und nicht

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etwa umgekehrt, ist es so wichtig, dass Politiker und deren Berater die Interessen und Gefühlslage der Menschen möglichst gut kennen. Eine geradezu überragende Bedeutung erlangte diese spezifische Ostanbindung des Landtagspersonals bei der Behandlung von Petitionen. Der erfahrenen Leiterin des Referats Petitionen konnte daher auch tatsächlich ein ostdeutscher Volljurist zur Seite gestellt werden. Ich war an den ostdeutschen Diplomjuristen mit westdeutscher Nachschulung auch deswegen sehr interessiert, weil ich von der Annahme ausging, dass sich dahinter besonders leistungsbereite, dynamische und flexible Persönlichkeiten verbergen würden. In dieser Annahme wurde ich jedoch in einer Hinsicht ziemlich enttäuscht. Das lag an ihrer damals noch sehr mangelhaften Mobilität; heute hat sich insoweit einiges verändert. Bei aller Sympathie für eine gewisse Bodenständigkeit empfand ich diese Unbeweglichkeit unter dem Gesichtspunkt beruflicher Mobilität doch eher als eine negative Eigenschaft. Dass ich als damaliger, Arbeitskräfte suchender Arbeitgeber für diese Immobilität so wenig Verständnis hatte, lag sicherlich auch daran, dass ich ausbildungs- und berufsbedingt sechsmal umgezogen bin und Heimat für mich dort ist, wo ich Freunde habe. Daher war ich nahezu fassungslos, als mir doch ein Südthüringer die angebotene Stelle schlicht mit der Begründung ablehnte, er würde nicht nach Erfurt ziehen, selbst wenn ihm dadurch eine sichere mit A16 im Endamt ausgewiesene Beamtenstelle durch die Lappen ginge. Und ein anderer – auch ein Südthüringer – erklärte mir seine Absage mit dem für mich geradezu unfassbaren Argument, er habe eine Freundin, und die würde wahrscheinlich (!) ein Grundstück erben und darauf wollten sie gemeinsam ein Haus bauen – und dieses Grundstück liege leider nicht in Erfurt, sondern in der Nähe von Suhl. Meine Suche nach hochqualifizierten Prädikatsjuristen erwies sich im Ergebnis leider sowohl im Westen als auch im Osten als wenig erfolgreich. Zumeist musste ich mich mit Juristen mit „befriedigendem“ Examen begnügen, wobei zweimal „befriedigend“ schon die Ausnahme war. Bei der heutigen Arbeitsmarktlage für Juristen wäre mancher damalige Bewerber nicht eingestellt worden. Ist aber ein Beamter erst einmal ernannt, dann muss er aus beamtenrechtlicher Sicht schon die berühmten silbernen Löffel stehlen, um ihn wieder los werden zu können. Für Angestellte und Arbeiter war die tarifvertragliche Rechtslage nach 15 Dienstjahren rechtlich nicht viel anders und bei weniger Dienstjahren rein faktisch auch nicht. Immerhin hatte ich das große Glück, zwei ausgesprochene Nieten wieder los zu werden, die uns von außen aufgedrückt worden waren. Nachdem auch die erste am 18.3.1990 frei gewählte demokratische Volkskammer mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland nicht mehr existent und damit auch deren Parlamentsverwaltung überflüssig geworden war, versuchte die Bundestagsverwaltung, das nunmehr frei gewordene Personal in den im Aufbau befindlichen Landtagsverwaltungen der neuen Länder unterzubringen. Mit einigem politischem Druck und herzzerreißenden Solidaritätsappellen der ersten Volkskammerpräsidentin nach der Wende, Sabine Bergmann-Pohl, und des für die personelle Abwicklung zuständigen Ministerialrats Drescher wurden wir nahezu genötigt, zwei Ossis in den Wissenschaftlichen Dienst und Parlamentsdienst speziell für die Ausschussbetreuung einzustel-

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len. Schon nach kurzer Zeit mussten wir mit einigem Schrecken feststellen, was wir uns da eingefangen hatten. Die fachliche Kompetenz fehlte nahezu völlig und ihre Amtsauffassung und soziale Kompetenz mögen zwei Begebenheiten erhellen: Der eine betreute einen Ausschuss im Kulturbereich. Als ich mir dessen konkrete Arbeit einmal anhörte, fiel mir der Unterkiefer herunter, als er die Abgeordneten eingangs seiner zahlreichen Interventionen in den Ausschussberatungen, die jede Distanz und Zurückhaltung vermissen ließen, immer wieder als „meine lieben Kinder“ ansprach. Der andere Volkskammersekretär saß im Personalrat der Landtagsverwaltung, der am 24.7.1991 nach dem Einigungsvertrag auf der Grundlage des Bundespersonalvertretungsgesetzes als erster Personalrat zumindest einer obersten Thüringer Landesbehörde gewählt worden war. Dem Personalrat wurde von der Dienststelle Gelegenheit gegeben, Vorschläge für die Gestaltung der ersten Weihnachtsfeier zu machen. Diese Aufgabe hatte man innerhalb des Personalrats dem aus der Verwaltung der Volkskammer zu uns gestoßenen Kollegen übertragen. Ich konnte es kaum fassen, was er mir als Schwerpunkt für die Weihnachtsfeier unterbreitete: eine Dessousschau. Selbst als provokanter Witz wäre das reichlich niveaulos gewesen. Aber es war völliger Ernst. Es bedarf keiner näheren Ausführungen, dass der Plan natürlich im Papierkorb landete. Die erste im Landtag geplante Weihnachtsfeier erhielt immerhin noch den Charakter einer akzeptablen Jahresabschlussfeier mit weihnachtlichen Einsprengseln. Das war durchaus vertretbar, zumal man davon auszugehen hatte, dass der Anteil der Christen unter den Bediensteten der Landtagsverwaltung demjenigen aller Thüringer entsprach, nämlich knapp 30 Prozent. Gewehrt hatte ich mich nur gegen die Argumentation, dass eine Ausgrenzung aller christlich-weihnachtlichen Anklänge einem verfassungsrechtlichen Gebot für einen religiös neutralen Staat entsprechen würde. Ich hielt dagegen, dass der religiös neutrale Staat des Grundgesetzes auch im staatlichen Bereich durchaus nicht Orientierungen am christlich-abendländischem Wertesystem verbieten würde. Daraufhin wurden sogar zu der Feier Texte mit Weihnachtsliedern zusammengestellt und ausgeteilt. Doch mein Erstaunen war groß: Ich kannte als begeisterter Sänger traditioneller Weihnachtslieder nicht ein einziges Lied. Des Rätsels Lösung: Sie waren von einer ehemaligen – damals völlig arglosen – Pionierleiterin ausgesucht worden. Sie verbreiteten auch durchaus weihnachtliche Stimmung, die Texte ließen aber jeden christlichen Bezug vermissen. In den Folgejahren sollte sich die Bedeutung christlichen Gedankenguts in Weihnachtsfeiern des Thüringer Landtags merklich ändern; bis hin zu einer zwar fulminanten, aber die Grenzen staatlicher Neutralität erheblich strapazierenden, missionarischen Predigt des Theologen und Ehegatten der späteren Landtagspräsidentin (und Theologin) Christine Lieberknecht, die ihn in das Programm der Weihnachtsfeier eingebunden hatte. Bei der Trennung von den beiden Kollegen aus der Volkskammer hatte uns die Stasi – mittelbar – geholfen. Bei ihnen ergab nämlich die Stasiüberprüfung, dass sie als Informelle Mitarbeiter gearbeitet hatten. So konnten wir sie ohne große Probleme schnell wieder los werden. Die Rekrutierung von geeignetem Personal für die Landtagsverwaltung war also eine schwierige Aufgabe, die mit manchen Tücken verbunden war und die den

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Dienstherrn ein um das andere Mal in eine verzwickte Entscheidungslage brachte. In eine derartige Situation kam ich unter anderem durch ein Angebot des Erfurter Eissportclubs, diesem berühmten mit Weltmeistern gespickten Verein, dessen Trainingsgelände, nur durch eine Straße getrennt, unmittelbar an den Thüringer Landtag angrenzte. Eines Tages erschien in meinem Büro ein hoher Funktionär dieses Vereins und unterbreitete mir folgenden Vorschlag: Der Landtag möge Eisschnellläufer der Spitzenklasse mit der Maßgabe einstellen, dass sie genug Zeit zu ihrem täglichen, intensiven Training haben könnten. Als interessierter Sportfan, der sich früher auch aktiv in mehreren Sportarten betätigt hatte, wenn auch nur mit relativ bescheidenen überregionalen Erfolgen, hatte ich dafür durchaus ein offenes Ohr. So habe ich mich auch sonst immer für flexible Arbeitszeiten oder Teilzeitarbeitsplätze, zum Beispiel für Mütter mit kleinen Kindern, eingesetzt. Dem bereits oben erwähnten Abteilungsleiter für den Wissenschaftlichen Dienst und Parlamentsdienst hatte ich konsequenterweise sogar ein Jahr Vaterschaftsurlaub genehmigt, das war zumindest in der damaligen Zeit ein wohl in ganz Deutschland einmaliger Fall. Ich zeigte mich also offen für entsprechende Angebote an Spitzensportler. Mit der Bereitschaft, diesen in flexibler Weise Teilzeitarbeitsplätze anzubieten, befand ich mich aber augenscheinlich weit entfernt von den Realitäten des Profisports. Mein Gegenüber präzisierte sein erheblich weitergehendes Anliegen in erstaunlicher Offenheit: Der Landtag möge bis zu drei Spitzensportler auf gut dotierte Stellen setzen und natürlich auch entsprechend bezahlen, aber eine Arbeitsleistung im Landtag könnten sie natürlich nicht erbringen, denn sie müssten schließlich trainieren. Ihre Gegenleistung könnten wir darin sehen, dass sich der Landtag mit dem Namen international bekannter Eisschnellläufer schmücken könnte. Mir wurde schnell klar, dass es hier nicht um die Absprache flexibler Arbeitszeiten für günstige Trainingszeiten ging, sondern um reines staatliches Sponsoring. Obwohl ich natürlich von den „Staatsamateuren“ in der DDR, aber auch von quasi Berufssportlern beim westdeutschen Militär und Zoll wusste, war ich dazu nicht bereit und lehnte das Angebot mit der nur virtuellen Gegenleistung ab, die mir doch als zu gering und dem Steuerzahler gegenüber als unvertretbar erschien. Der Eislauffunktionär schien die „neue Welt“, die in den Rat des Bezirks eingezogen war, nicht mehr zu verstehen. Statt mit offenen Armen hofiert zu werden, stieß er auf – wenn auch freundliche, Verständnis erbittende – Ablehnung. Dabei waren es doch gerade die hochgezüchteten DDRSportler, die mit ihren Titeln und Medaillen maßgeblich zum Ansehen der DDR in der Welt beigetragen hatten – und dieser Imagegewinn für den Landtag wurde schnöde abgelehnt. Diese Entscheidung hatte mir auch bei einigen Sportfunktionären mit Landtagsmandat – und davon gibt es in allen Parlamenten reichlich – einige Kritik eingebracht, aber letztlich größeren Ärger erspart. Der Eissportclub war nämlich bei seinen Bemühungen, seine Cracks im Öffentlichen Dienst unterzubringen, in anderen Behörden weit erfolgreicher. So wurde die berühmte Gunda Niemann (damals noch ohne „Stirnemann“) im Innenministerium als Bibliothekarin für viele Jahre eingestellt, ohne dass sie dort je auch nur eine Minute gearbeitet hätte. Doch statt dem Dank des Vaterlandes Thüringen ernteten die verantwortlichen Innenmi-

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nister den „Undank“ der Staatsanwälte. So leitete die Staatsanwaltschaft Erfurt 2006 gegen den damaligen Innenminister Richard Dewes (SPD) ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Untreue ein. Dessen Vorgänger Willibald Böck (CDU) und Franz Schuster (CDU) blieben davor nur wegen Verjährung verschont und Richard Dewes Nachfolger Christian Köckert (CDU) genoss wegen seines Landtagsmandats Immunität, die nicht aufgehoben wurde. Das Ermittlungsverfahren gegen Richard Dewes wurde allerdings eingestellt. Ich war dennoch im Nachhinein froh, in meiner Einstellungspraxis nicht nur in diesem speziellen Fall nie dem Vorwurf strafbaren oder sonstigen rechtswidrigen Verhaltens ausgesetzt worden zu sein; mit den Vorwürfen, dabei zu wenig partei- oder sportpolitisches Fingerspitzengefühl gezeigt zu haben, konnte ich demgegenüber sehr gut leben.

Probleme mit dem Personal der Fraktionen Nicht nur der Landtag hatte Probleme bei der Rekrutierung von Personal für den höheren Dienst; bei fast allen Fraktionen gestaltete sich die Suche sogar noch schwieriger – mit Ausnahme der PDS-Fraktion. Eine wesentliche Ursache für das relativ geringe Interesse, sich bei einer Fraktion zu verdingen, lag in der mangelhaften Sicherheit dieser Arbeitsplätze begründet. So war nach der ersten Wahl schwer abzusehen, welche Fraktion auch in der nächsten Wahlperiode dem Landtag überhaupt und gegebenenfalls in welcher Stärke angehören würde. Eventuell würde der bisherige Arbeitgeber vollständig wegfallen oder erheblich schrumpfen, mit den entsprechenden Konsequenzen für das aus dem Landdeshaushalt finanzierte Personal in den Fraktionsgeschäftsstellen, das abgebaut werden müßte. Fraktionsreferenten sollte man nach meinen eigenen knapp fünfjährigen Erfahrungen als Fraktionsassistent sowieso nur zeitlich begrenzt, zum Beispiel für fünf bis sieben Jahre, einstellen. Diese Funktion ist nicht auf Dauer angelegt und schon gar nicht für Beamte auf Lebenszeit gedacht. Eine Fraktion braucht immer wieder frisches Blut und neue Ideen. Dieser Grundsatz wurde im Thüringer Landtag in seinen Anfängen leider nicht hinreichend beachtet, zumindest nicht ausreichend realisiert. Da die Fraktionen als Arbeitgeber Fraktionsreferenten keine sicheren Dauerarbeitsplätze anbieten und daher nicht genügend qualifiziertes Personal anwerben konnten, kamen sie auf die Idee, dass der Thüringer Landtag die benötigten Fraktionsreferenten auf ihre Vorschläge hin einstellen möge – und das absurderweise als Beamte. Sie könnten dann vom Landtag zu den Fraktionen abgeordnet werden. Diese Konzeption war natürlich aus der Sicht des Landtags und letztlich auch des Steuerzahlers ein personal- und haushaltspolitischer Wahnsinn. Ich malte mir die Extremsituation aus, dass mir nach jeder Wahl vielleicht zehn bis fünfzehn „rote oder grüne“ Fraktionsreferenten auf der Matte stehen würden mit dem Anspruch, im Landtag beschäftigt zu werden. Die Regierungsfraktion konnte bei der damaligen parteipolitischen Lage noch am ehesten in den Ministerien „Schwarze“ unterbringen. Zur Ehrenrettung der Thüringer Fraktionen muss aber gesagt werden, dass es derartige

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inakzeptable Modelle auch in westdeutschen Landtagen gab (so zum Beispiel in Hessen oder Baden Württemberg, wenn auch als Auslaufmodelle), von wo man sie abgekupfert hatte. Ich konnte mich mit meinen Argumenten gegen die einmütige Macht der Fraktionen leider nur insoweit durchsetzen, als wenigstens keine Beamten, sondern „nur“ Angestelltenstellen im Haushalts- und Stellenplan des Landtags ausgewiesen wurden. Immerhin kam dabei die stolze Zahl von 25 Referentenstellen mit Bewertungen entsprechend A13 bis B3 zusammen. Diese Stellen wurden nach einem vom Ältestenrat beschlossenen Schlüssel auf die Fraktionen verteilt. Daneben konnten die Fraktionen zusätzliches Personal einstellen und aus den allgemeinen Fraktionszuschüssen finanzieren. Es kam natürlich so, wie ich es vorausgesehen und befürchtet hatte: Schon während der ersten Legislaturperiode gab es die ersten Fälle von irreparablen Zerwürfnissen zwischen Fraktionen und Fraktionsreferenten, so dass sie uns zur weiteren Verwendung zurückgereicht wurden. Unser Boot wurde erst so richtig nach dem Ende der ersten Wahlperiode voll, als zwei Fraktionen den Wiedereinzug in den Landtag verpassten (FDP und Bündnis 90/Die Grünen). Obwohl ich jedes Jahr anlässlich der Haushaltsberatungen drängte, die Fraktionen mögen die beim Landtag angebundenen Fraktionsreferenten übernehmen, wurde die Lösung dieses Problems erst im Jahr 2004 endgültig angegangen. Wie sollten wir mit dem uns aufgedrängten Personal verfahren? Selbstverständlich versuchten wir, es in der Landtagsverwaltung oder in anderen Bereichen außerhalb der Landtagsverwaltung unterzubringen. Das gelang jedoch nur in einigen wenigen Einzelfällen. Es fehlte einfach an geeigneten Stellen für dieses zumeist mehr politisch als fachlich ausgewiesene Personal. In einem Fall hatte der Landtag sogar großes Glück: Ein Fraktionsassistent beleidigte in einer Presseerklärung den Landtagsdirektor so massiv, dass wir ihn fristlos kündigen konnten. Ich hoffte auf weitere Beleidigungen, die ich zu Gunsten des Gemeinwohls tapfer ertragen wollte, leider jedoch vergebens. Als preußisch auf Effizienz und Sparsamkeit gepolte Verwaltung lehnten wir es ab, für das objektiv überzählige Personal irgendwelche Nischen zu schaffen. Wir sprachen ordentliche Kündigungen aus, was leider in den meisten Fällen zu arbeitsgerichtlichen Auseinandersetzungen führte. Die waren gerade in der damaligen Aufbauphase der Arbeitsgerichtsbarkeit mit einem hohen Prozessrisiko besonders für den Arbeitgeber verbunden. Die alte römische Juristenweisheit „coram judice et in alto mare in manu dei soli sumus“ (vor Gericht und auf hoher See sind wir allein in Gottes Hand) galt damals in diesem Gerichtszweig in hohem Maße. Man traf in den Arbeitsgerichten erster Instanz zumeist auf frisch examinierte junge Frauen ohne jede richterliche Erfahrung, aber mit großem sozialem Herzen. Das verbreitete Niveau der Aufbauphase vermag folgender Disput zwischen mir und einer Richterin zu illustrieren: Im Falle einer Kündigung wurde von mir als Arbeitgeber – als ultimo ratio völlig zu Recht – gefordert, für die Betroffene zuvor möglichst eine andere Beschäftigung in der Landtagsverwaltung zu finden. Wir versuchten das übrigens – ohne Rechtspflicht – immer auch in der übrigen Landesverwaltung. Die Richterin vertrat darüber hinaus die Rechtsauffassung, dass unsere Unterbringungspflicht für die gesamte

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Landesverwaltung bestehen würde. Mein Einwurf, dass es im Freistaat Thüringen eine Gewaltenteilung mit getrennter Personalhoheit gäbe, wurde von ihr mit dem für gestandene Juristen kaum fassbaren Argument gekontert: „Der Ministerpräsident stehe schließlich über allem und daher habe man von nur einem einheitlichen Personalkörper auszugehen.“ Wir siegten erst in zweiter Instanz. Auch die anderen Kündigungsschutzklagen haben wir sämtlich gewonnen, aber ebenfalls zum Teil erst nach langer kostenträchtiger Dauer in der zweiten Instanz vor dem Landesarbeitsgericht, in dem nicht nur junge Richterinnen, sondern auch gestandene Arbeitsrichter saßen. Mir wird noch heute bei der Vorstellung ganz mulmig zumute, wenn wir die Prozesse verloren hätten und Bezüge in sechsstelliger Höhe hätten nachzahlen müssen. Wie bereits eingangs angedeutet, gab es aus der Sicht der Landtagsverwaltung, abgesehen von dem Fall einer Stasibelastung, auf den ich noch zurückkommen werde, mit der PDS-Fraktion die wenigsten Probleme. Sie gliederte die ihnen anteilig zustehenden Fraktionsreferenten frühzeitig aus der Landtagsverwaltung aus und überführte sie vollständig in die eigene Personalhoheit; die dafür eingesetzten Finanzmittel der Landtagsverwaltung wanderten selbstverständlich mit in die Fraktion. Damit finanzierte die PDS-Fraktion erheblich mehr Personal als die anderen Fraktionen, indem sie die Stellen geringer dotierte und auf mehr Teilzeitkräfte verteilte. Das war kein schlechter Schachzug. Das Mehr an personellen Ressourcen kam Umfang und Qualität ihrer Oppositionsarbeit zugute, zumal sie damit auch manchen qualifizierten „Turborentner“ aus der alten DDR-Elite aktivieren konnte.

Stasi-Überprüfung – das „Gaucken“ des Personals Von allen Bediensteten, die in den Landtag eingestellt wurden, egal ob Beamte, Angestellte oder Arbeiter, wurde eine Erklärung abverlangt, dass sie weder hauptamtliche noch Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit waren, das nach der Regierungserklärung Modrows am 17.11.1989 in Amt für Nationale Sicherheit umbenannt wurde. Dabei wurden sie auch darauf hingewiesen, dass eine falsche Erklärung ein Entlassungsgrund sei.11 Diese Erklärung hatte ihre rechtliche Rechtfertigung in der im Beamten- und Tarifrecht vorgeschriebenen Einstellungsvoraussetzung, wonach jeder im Öffentlichen Dienst Beschäftigte die dafür erforderliche Eignung besitzen müsse. Bei stasibelasteten Bewerbern wurde vermutet, dass diese Eignung fehle. Diese Vermutung war jedoch im Einzelfall widerlegbar. Die Stasiüberprüfungen konnten allerdings erst ab Anfang 1992 vorgenommen werden. Voraussetzungen waren das „Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (Stasi-Unterlagen-Gesetz)“ vom 20.12.1991 und die Einrichtung der auf diesem Gesetz fußenden Behörde des „Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR“, die im allgemeinen Sprachgebrauch nach ihrem damaligen Leiter nur „Gauck-Behörde“ genannt wurde.

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Das Überprüfungsverfahren lief in folgender Weise ab: Alle erforderlichen Daten des Landtagsbediensteten, wobei übrigens zu Recht kein Unterschied zwischen Ossis und Wessis gemacht wurde, wurden an die Gauck-Behörde mit dem Ersuchen geschickt, anhand der Unterlagen dieser Behörde zu überprüfen, ob der Bedienstete stasibelastet sei. Nach einigen Monaten erhielten wir von der „Gauck-Behörde“ die Nachricht, dass wir das Ergebnis ihrer Überprüfung in der örtlichen Landesbehörde abholen könnten. Diese Aufgabe hatte ich mir selbst vorbehalten. Mein gewisses Misstrauen, das darin gegenüber meinen Ost-Kollegen zum Ausdruck kam, weil sie überwiegend aus dem Rat des Bezirks stammten, sollte sich im Nachhinein als berechtigt erweisen, nachdem der Personalreferent (wie bereits oben erwähnt) als Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi enttarnt wurde. Die Auskünfte lauteten in über 90 Prozent der Anfragen, dass nach derzeitigem Stand keine Erkenntnisse über eine Stasiverstrickung vorlägen. Diese nur vorläufige Auskunft beruhte darauf, dass die Stasiunterlagen im Jahr 1990 – im Übrigen auch noch Jahre später – noch nicht einmal annähernd vollständig gesichtet waren, was in der Landtagsverwaltung konsequenterweise – anders als in anderen Behörden – nochmalige Überprüfungen zur Folge hatte. Gab es positive Erkenntnisse über eine Stasibelastung, wurden diese von der „GauckBehörde“ in einem Vermerk aufgelistet und mit Ablichtungen aus den Personal- und Sachakten des Betroffenen belegt. Mir wurde zusätzlich die Möglichkeit gegeben, die vollständigen Akten einzusehen, von der ich in aller Regel Gebrauch gemacht habe. Ich empfand die Fokussierung des Überprüfungsverfahrens auf eine Stasibelastung unter dem Aspekt der Eignung für den Öffentlichen Dienst als viel zu kurz gegriffen. Nach meiner Überzeugung hätten hochrangige politische Verstrickungen in das System, wie zum Beispiel die Mitgliedschaft im Rat des Bezirks oder die Funktion eines Politoffiziers, ebenfalls Ausschlusskriterien für Funktionen in einer Landtagsverwaltung sein müssen. Aber für die Aufklärung derartiger Fälle einer besonderen Systemnähe gab es nicht die schematische, bürokratisch ziemlich einfach zu handhabende Abfragemöglichkeit aus den vorliegenden Stasiakten. Ich selbst hatte mir in dieser Diskussion ein hohes Maß an Zurückhaltung auferlegt. Unabhängig davon, wie sich meine Biografie in einem System wie der DDR abgespielt hätte, hatte ich großes Verständnis für Menschen, die in einem aus damaliger Sicht auf viele Jahre hinaus politisch fest im Sattel sitzenden System zu gewissen Kompromissen mit ihm bereit waren, um für sich selbst oder für ihre Kinder Lebenschancen nicht zu verbauen. Meine moralische Rigorosität als Schüler und Student gegenüber den Verstrickungen der Generation unserer Eltern in die Nazidiktatur hatte ich hinter mir. Außerdem hatte ich in unzähligen Gesprächen mit teilweise hitzigen Diskussionen über die Problematik des Lebens und Überlebens in einer Diktatur die Erkenntnis gewonnen, dass jeder Einzelfall differenziert zu betrachten und zu bewerten war. Das galt im Übrigen auch für die Urteile der Ossis selbst zum Thema Stasiverstrickung. Es gab einerseits rigorose und kompromisslose Gegner des DDR-Systems und andererseits die überzeugten Ideologen sowie die Mitläufer, die für Milde, Vergebung und „Schwamm drüber“ plädierten. Aber dann gab es noch angepasste Profiteure des

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DDR-Systems (Wendehälse), die sich nach der Wende plötzlich als die schärfsten Systemkritiker und als unnachsichtige Scharfrichter gegenüber allen systemnahen Personen aufspielten. Derartige moralische Metamorphosen gab es bei eiskalten Rechnern, die sich damit selbst reinigen wollten. Mancher war sich der eigenen Metamorphose jedoch gar nicht bewusst; hierfür müssen wohl Tiefenpsychologen Erklärungen liefern. Man findet diese gewendeten Typen übrigens bis in die Führungsebene der Thüringer Landtagsfraktion hinein. Bei meiner Bewertung der Stasifälle im Landtag stand ich schließlich vor einem tatsächlichen Problem: Als Wessi war ich mit den Aufgaben und Befugnissen von DDR-Funktionsträgern nicht wirklich eng vertraut. Ich erinnere mich noch lebhaft an den Fall einer Dame, die bei der Stasiüberprüfung in ihrem Fragebogen angab, „Propagandistin“ gewesen zu sein. Meine erste Reaktion: Das muss ja eine knallrote Überzeugungstäterin gewesen sein. Die dürfte doch wohl untragbar sein. Dann habe ich aber erfahren, welch unterschiedliche Figuren sich unter den „Propagandisten“ verbargen; mancher konnte sich einer derartigen „Berufung“ nicht entziehen und nahm sie nur formal wahr. Die Stasiüberprüfungen habe ich daher nicht allein durchgeführt, sie vielmehr nur vorbereitet, und ich habe die Entscheidungen über den Verbleib belasteter Bediensteter in der Landtagsverwaltung nicht allein vorgenommen. Mir standen so unterschiedliche Ratgeber zur Seite wie der Ressortbeauftragte Ott, der seinerseits als ehemaliges Mitglied des Rats des Bezirks ein intimer Kenner des Systems war, sowie der rundherum integere, unbelastete Personalratsvorsitzende Heilmann, den ich ebenfalls stets konsultierte. Schließlich traf der damalige Präsident Gottfried Müller die Letztentscheidung, wobei er meinen Vorschlägen aber immer zustimmte. Insgesamt gab es in meiner Zeit als Aufbauhelfer und später als Landtagsdirektor zirka 12 Fälle, in denen uns die „Gauck-Behörde“ Informationen über eine frühere IM-Tätigkeit von Mitarbeitern des Landtags übermittelt hatte. In allen Fällen lag eine Verpflichtungserklärung vor, die mit wenigen Abweichungen im Allgemeinen folgenden Wortlaut hatte: Hiermit erkläre ich mich freiwillig bereit, das Ministerium für Staatssicherheit bei der Erfüllung seiner Aufgaben zum allseitigen Schutz der DDR zu unterstützen. Ich verpflichte mich, die mir vom MfS übertragenen Aufgaben zur Bekämpfung des Feindes entsprechend meinen Möglichkeiten nach besten Kräften zu erfüllen. Ich werde das MfS über alle interessierenden Probleme umgehend und wahrheitsgemäß informieren. Mir ist bewusst, dass meine Zusammenarbeit mit dem MfS ein aktiver Beitrag zum Schutz unserer Republik und zur Erhaltung des Friedens ist. Im Rahmen dieser Tätigkeit bin ich bereit, bei der Sicherung und Kontrolle von Korrespondenten und aus privat-touristischen Gründen einreisende Journalisten und deren Kontaktpartner aktiv mitzuwirken. Es ist daher erforderlich, dass ich die mir übertragenen Aufgaben mit hoher Einsatzbereitschaft, Verantwortungsbewusstsein und unter Einhaltung der Regeln der Konspiration löse.

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Über die Zusammenarbeit mit dem MfS werde ich gegenüber jedermann Stillschweigen bewahren. Mir ist bekannt, dass ich anderenfalls zur Verantwortung gezogen werden kann. Für die Lösung der Aufgaben im Rahmen der Zusammenarbeit mit dem MfS wähle ich den Decknamen …

Art und Unrechtsgehalt der Stasi-Mitarbeit waren in den zirka 12 den Thüringer Landtag betreffenden Fällen sehr unterschiedlich. Zwei Betroffene hatten nur die Verpflichtungserklärung unterschrieben, jedoch weder mündliche noch schriftliche Berichte geliefert. In der einen Akte war sogar vermerkt, dass der Informelle Mitarbeiter die verabredeten Trefftermine entweder überhaupt nicht oder nur äußerst unpünktlich eingehalten habe, so dass man die Zusammenarbeit mit ihm wegen permanenter Unzuverlässigkeit eingestellt habe. Noch etwas war an diesem Fall bemerkenswert: Die Verpflichtungserklärung, die immer handschriftlich erstellt wurde, war in einem derart gestelzten bürokratischen Jargon abgefasst, dass man mit Sicherheit davon ausgehen musste, dass sie dem Informellen Mitarbeiter diktiert worden war. Da es sich in beiden Fällen auch noch um Mitarbeiter handelte, die weder zu DDR-Zeiten gehobene Positionen innehatten noch solche in der Landtagsverwaltung einnahmen, beließen wir sie ungeschoren auf ihren Arbeitsplätzen. In der Mehrzahl der Fälle hatten die Informellen Mitarbeiter Berichte oder bei Treffen mit ihren Führungsoffizieren mündliche Berichte geliefert, die protokolliert wurden. Einige beschränkten sich darauf, die Stimmung in der Bevölkerung über die allgemeine Versorgungslage zu beschreiben, ohne dabei die Namen von Kritikern zu nennen. Es gab aber auch ganz üble Berichte, in denen konkrete Verhaltensweisen von Arbeitskollegen, Nachbarn oder sonstigen Bekannten beschrieben wurden. Angeschwärzt wurden zum Beispiel Arbeitsmoral, „negativ-destruktive“ Äußerungen über die Politik der DDR-Regierung, exzessiver Alkoholkonsum oder das außereheliche Liebesleben. Ein Fall war besonders gravierend: Ein sogar relativ hochrangiger Bediensteter hatte nicht nur DDR-Bürger angeschwärzt, die illegal über die Grenze fliehen wollten, sondern auch geholfen, eine Schleuserorganisation auffliegen zu lassen. Beides hatte nachweisbar zur Folge, dass Flüchtlinge und Fluchthelfer zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Ich hatte eine klare Vorstellung, wie diese Stasifälle sowohl verfahrensrechtlich als auch in der Sache zu lösen waren, davon konnte ich auch den Landtagspräsidenten überzeugen: 1. Aus rechtsstaatlichen Gründen erhielt jeder Betroffene die ihn diskriminierenden Unterlagen und konnte sich dazu in angemessener Frist äußern. 2. An die Eignung und Integrität der Mitarbeiter des Thüringer Landtags als dem „obersten Organ der demokratischen Willensbildung“ waren mit dem staatlichen Neubeginn Thüringens hohe Anforderungen zu stellen und demgemäß ein strenger Maßstab an deren Eignung anzulegen. Dennoch sollte eine nur verschwiegene Verpflichtungserklärung aus Gründen der Verhältnismäßigkeit noch kein ausreichender Entlassungs-

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grund sein, sofern es sich um Mitarbeiter des unteren oder mittleren Dienstes handeln sollte. Diese Rechtsposition wurde später in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestätigt. 3. Allen stasibelasteten Bediensteten, die der Stasi Berichte geliefert hatten, die nicht in die Persönlichkeitsrechte von Mitbürgern eingriffen, insbesondere sie nicht persönlich belastet hatten, wurde nach dreimonatiger bezahlter Karenzzeit ein Aufhebungsvertrag – ohne jedes öffentliche Aufheben – angeboten. Dadurch sollten die Fälle möglichst schnell im Einvernehmen gelöst und Prozesse vermieden werden.

Meine Rechnung, damit zu einer schnellen, schonenden und im Endergebnis kostengünstigen Lösung der Stasifälle zu kommen, ging erfolgreich auf. Alle Betroffenen ließen sich auf den „Deal“ ein. Es musste kein einziger Prozess geführt werden, ganz im Gegensatz zu Ministerien, insbesondere dem für den Schulbereich zuständigen Kultusministerium, und anderen Behörden, deren oft reichlich ungeschicktes juristisches Vorgehen den Steuerzahler hohe zweistellige Millionensummen kosten sollte. Es gab allerdings einen Problemfall, der sich nicht so einfach lösen ließ. Dabei handelte es sich um einen Referenten, der arbeitsrechtlich ausnahmsweise nicht direkt bei der PDS-Fraktion, sondern formell immer noch beim Landtag angestellt war. Er wurde somit in gleicher Weise wie alle Landtagsbediensteten „gegauckt“. Diese Prüfung ergab eine Stasibelastung, was zur Folge hatte, dass wir ihn kündigten. Hiergegen klagte der Betroffene mit dem Argument, dass er zwar eine Verpflichtungserklärung unterschrieben, aber nie für die Stasi gearbeitet, sondern sogar eine kritische Position zur herrschenden Rechtspolitik des DDR-Regimes eingenommen habe. Der Prozess ging schließlich in zweiter Instanz zwar zu Gunsten des Landtags, letztlich aber nicht zu Lasten des Betroffenen aus. Dieser wurde nämlich danach auch formell in die Dienste der PDS-Fraktion übernommen, weil er deren eigene Stasiprüfung, auf die noch eingegangen werden muss, schadlos überstand. Mitarbeiter mit sehr geringer Belastung, die sich zudem glaubwürdig und engagiert in die neue Zeit eingebracht hatten, mussten in der unmittelbaren Nachwendezeit nur im Hinblick auf unsere besonders strengen Maßstäbe aus den oben beschriebenen Gründen der Staatsräson gehen. Dieser harte Schritt hat mich menschlich ziemlich belastet. Und dann gab es noch die Entlassung des schlimmsten – zuvor beschriebenen – Stasizuträgers, der sogar den Freiheitsentzug von Menschen auf dem Gewissen hatte. Ich hätte die Entlassung schriftlich verfügen können. Aber ich wollte ihm in Gegenwart des Landtagspräsidenten von Angesicht zu Angesicht in aller Deutlichkeit meine Meinung sagen. Das geschah dann auch. Ob ich dabei hart, aber doch sachlich blieb, weiß ich nicht mehr, beschwören will ich es nicht. Jedenfalls löste meine geharnischte Anklage bei dem Adressaten eine für mich ziemlich überraschende, unverschämte Reaktion aus, zumal ich sein früheres Auftreten mir gegenüber als fast unterwürfig erlebt hatte. Er warf mir alle möglichen Verbalinjurien an den Kopf: „arroganter Wessi, schlimmer Jurist“ usw. Beim „Verleumder“ reichte es mir. Ich lehne es an sich vehement ab, verbale Dispute in gewalttätige Auseinandersetzungen eskalieren zu lassen.

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Dass der Stasispitzel auch noch unverschämt und beleidigend wurde, war jedoch zu viel. In dieser konkreten Situation erinnerte ich mich zumal an eine meiner ersten Vorlesungen im Strafrecht. Unser Professor erläuterte uns die Ausnahmefälle, in denen gewalttätiges Handeln entweder nicht rechtswidrig, nicht schuldhaft oder auch sonst straffrei bleiben konnte. Dabei verwies er unter anderem auf § 233 StGB, der von ihm sehr anschaulich als „Klatsch-Klatsch-Paragraph“ bezeichnet wurde. Danach konnte ein Strafrichter von einer Strafe absehen, wenn ein Beleidigter dem Beleidiger sofort eine klebte. Es fand also eine Art strafrechtliche Aufrechnung statt. Dieser § 233 StGB wurde zwar durch das 6. Strafrechtsreformgesetz vom 26.1.1998 aufgehoben, aber 1990 galt er noch. Und ich war mir sicher, dass jeder weise Strafrichter für meine Reaktion großes Verständnis haben würde. Ich sprang, in meiner Ehre gekränkt, wütend auf und wollte ihm eine kleben. Doch meine beabsichtigte Reaktion blieb schon im Versuchsstadium stecken. Ich hatte nicht mit dem Landtagspräsidenten und Pfarrer von hünenhafter Gestalt gerechnet. Er warf sich dazwischen und mahnte mit ganz ruhiger und wie immer freundlicher Stimme: „Aber meine Herren, doch nicht in den Räumen des Präsidenten“. Grußlos verließ mein Kontrahent das Zimmer ohne Abreibung, die er an sich verdient gehabt hätte. Es wurde aber nicht nur das Personal der Landtagsverwaltung einschließlich der bei ihr formell eingestellten Fraktionsreferenten, sondern auch das Personal der Fraktionen „gegauckt“, und zwar auf der Grundlage von § 48 des Abgeordnetengesetzes. Dafür gab es aber eine spezielle Regelung, die dem besonderen Status der Fraktionen Rechnung trug. Die Besonderheit dieser Stasiprüfung lag darin12, dass die Fraktionen und nicht die Landtagsverwaltung für die Prüfung zuständig waren. Damit diese Prüfung jedoch einer gewissen Kontrolle unterlag, hatten die Fraktionen „dem Präsidenten verbindlich mitzuteilen,

a) dass sie ihre Mitarbeiter auf eine Zusammenarbeit mit dem Staatssicherheitsdienst vom Bundesbeauftragten haben überprüfen lassen, b) dass sie bei der Beurteilung der Überprüfungsergebnisse die für Beschäftigte des öffentlichen Dienstes geltenden Kriterien für die Bewertung einer Zusammenarbeit mit dem Staatssicherheitsdienst entsprechend angewendet haben, c) wie ihre Gesamtbewertung aller Umstände des jeweiligen Einzelfalles ausgefallen ist, d) dass sie die Arbeitsverhältnisse mit nach vorerwähnten Kriterien als belastet geltenden Mitarbeitern aufgelöst haben und e) dass sie im Übrigen nur Personen beschäftigen, die erklärt haben, nicht wissentlich als hauptamtliche oder inoffizielle Mitarbeiter mit dem Staatssicherheitsdienst zusammengearbeitet zu haben, und deren diesbezügliche Erklärung durch die Überprüfung und Bewertung nach Buchstaben a und b – durchgeführt auf der Grundlage der zum Prüfungszeitpunkt erschlossenen Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes – bestätigt worden ist. Die Fraktionen haben diese Mitteilungen im Falle eines Personalwechsels zu aktualisieren. Der Präsident des Landtags berichtet dem Ältestenrat über die Realisierung der nach den obigen Buchstaben a) bis d) getroffenen Aktivitäten der Fraktionen.“

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Bei diesen Überprüfungen hatte es nur bei Mitarbeitern der PDS-Fraktion positive Auskünfte der Gauck-Behörde gegeben. Sie hatten jedoch keine Entlassungen zur Folge, weil sie nach der Bewertung der PDS-Fraktion keine Auflösung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigen würden. Wie problematisch es war, die Bewertung von Stasibelastungen ins freie Ermessen der Fraktionen zu stellen, beweist der oben geschilderte Fall eines Mitarbeiters der PDS-Fraktion, der – formal beim Thüringer Landtag angestellt – von diesem wegen seiner Stasibelastung gekündigt worden war, was vor Gericht rechtskräftig bestätigt wurde. Anschließend wurde er von der PDS-Fraktion eingestellt, die in seiner Stasibelastung im Gegensatz zur Landtagsverwaltung jedoch kein Einstellungshindernis sah. Die PDS-Fraktion sprang somit als Fallschirm für beim Staat rechtskräftig geschasste inoffizielle Mitarbeiter ein, die dann auch noch aus den staatlichen Fraktionszuschüssen bezahlt wurden. Die Stasiüberprüfung der Mitarbeiter von Abgeordneten erfolgte aufgrund entsprechender Empfehlungen des Ältestenrats nur durch die Abgeordneten selbst. Der Ältestenrat bat aber zugleich alle Abgeordneten, den Landtagspräsidenten darüber zu informieren, dass sie die Stasiüberprüfung ihrer Mitarbeiter eingeleitet hatten und welches Ergebnis diese Überprüfung hatte; der Landtagspräsident informierte hierüber wiederum seinerseits den Ältestenrat. Durch dieses Verfahren wurde – ganz bewusst – ein nicht unerheblicher Druck auf alle Abgeordneten ausgeübt, ihre Mitarbeiter zu „gaucken“, was auch ausnahmslos geschah. Mit welcher Akribie und gegebenenfalls welchen Konsequenzen die einzelnen Abgeordneten diese Stasiüberprüfungen ihrer Mitarbeiter vorgenommen haben, blieb jedoch dem Landtag und der Landtagsverwaltung verborgen.

Schulung des Personals – Von der Kreisklasse in die Bundesliga Eine Parlamentsverwaltung besitzt in weiten Bereichen ein sehr spezielles Profil mit besonderen Anforderungen. Fertiges, eingefuchstes Personal lässt sich dafür kaum gewinnen, anders als zum Beispiel in anderen obersten Landesbehörden, die auf Spitzenleute aus nachgeordneten Behörden zurückgreifen können. Gutes, für die allgemeine Verwaltung ausgebildetes Personal vermag sich jedoch auch in Spezialbehörden mit entsprechender Anleitung des vorhandenen Stammpersonals nach einer gewissen Anpassungszeit gut einzuarbeiten. Beim Aufbau der Landtagsverwaltung standen wir aber vor dem Nichts, wir mussten bei Null beginnen: Es fehlte zu Anfang, abgesehen von den drei Wessis, sowohl erfahrenes Stammpersonal als auch für eine demokratisch-rechtsstaatliche allgemeine Verwaltung ausgebildetes Personal, das verfügbar gewesen wäre. Wie bei einem Ball musste man eben mit den Frauen tanzen, die sich auf dem Parkett eingefunden hatten. Das potentielle Personal rekrutierte sich, wie bereits dargestellt, aus westdeutschen Juristen von durchwachsener Qualität, dazu aus Bediensteten der oberen, mittleren und unteren DDR-Verwaltung, vornehmlich aus dem Rat des Bezirks mit der oben bereits beschriebenen Problematik. Die oberste Funktionärsebene kam wegen

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ihrer starken politischen Belastung natürlich nicht in Betracht. Hinzu kamen Seiteneinsteiger aus den verschiedensten Fachgebieten, wie zum Beispiel Lehrerinnen für die Protokollierungen der Reden im Plenum und in den Ausschüssen. Es galt also, dieses weitgehend fachfremde Personal auf ein fachliches Niveau zu bringen, mit dem die Funktionstüchtigkeit der Parlamentsverwaltung und damit auch des Parlaments selbst hergestellt und gesichert werden konnte. Ich wählte immer das Bild, dass ich mich als Trainer verstand, der eine Kreisklassenelf in das oberste Drittel der Bundesliga führen wollte. Das war nicht nur eine Floskel, sondern mein erklärtes eisernes Ziel. Der Weg dorthin war jedoch dornig und mit einem harten Stück Arbeit verbunden. Aber am Ende haben wir es – und ich betone wir alle gemeinsam – geschafft. Die fachliche Qualifizierung des Personals musste gerade in der Anfangszeit neben der anfallenden kaum zu bewältigenden Arbeit durch learning by doing stattfinden. Das war insbesondere für die ersten drei in einer Parlamentsverwaltung erfahrenen Aufbauhelfer eine wahre Herkulesaufgabe. Ich konnte allerdings auch noch später als Landtagsdirektor von den vielfältigen angenehmen Seiten dieses Amtes nur träumen. Ich war bis zu meiner Pensionierung – wenn auch mit abnehmender Tendenz – Direktor, Oberabteilungsleiter und teilweise sogar Oberreferent in einer Person. Neben dieser landtagsspezifischen Aus- und Fortbildung wurde darüber hinaus eine grundlegende Schulung von der Staatskanzlei für alle Landesbediensteten zentral organisiert, und zwar in einer abgeschiedenen Fortbildungsstätte im Thüringer Wald, in Tambach-Dietharz. In drei einwöchigen Blöcken, im Wesentlichen konzipiert durch die Bundesakademie für öffentliche Verwaltung, wurden eine allgemeine Ausund Fortbildung („Grundlehrgang“) sowie spezielle Fachkurse für öffentlich Bedienstete angeboten, die alle Mitarbeiter durchlaufen mussten. Zusätzlich hielt ich Seminare zum Parlamentsrecht und zur Parlamentspraxis. Allen ostdeutschen Mitarbeitern im höheren Dienst hatte ich außerdem in Absprache mit der Fernuniversität Hagen ein Fernstudium angeboten, dessen Kostenübernahme aus öffentlichen Mitteln von mir zugesagt wurde. Dieses Angebot hatten jedoch nur zwei Mitarbeiter angenommen, aber auch das nur für kurze Zeit, dann mussten sie aufgeben. Ich hatte dafür Verständnis, weil im Hinblick auf die immense Arbeitsbelastung in der Anfangsphase einfach keine Zeit mehr für ein Fernstudium übrig blieb. Wir waren nur deswegen so erfolgreich bei der Qualifizierung des Personals, weil es bei dem ganz überwiegenden Teil der Ossis eine unglaubliche Bereitschaft und einen unbändigen Willen gab, das Bundesliganiveau zu erreichen. Ich habe in der Thüringer Landtagsverwaltung nie anderes erlebt. Es gab dennoch immer wieder im Westen Berichte, welche die Mitarbeiter aus dem Osten in ein schiefes oder sogar schlechtes Bild rückten. So beobachtete der ehemalige aus Hessen stammende Thüringer Justizminister Prof. Dr. Hans-Joachim Jentsch: „Die Thüringer verließen pünktlich zum Dienstschluss das Ministerium, von vorwurfsvollen Blicken ihrer Kollegen aus dem Westen begleitet, die bis tief in den Abend arbeiteten. Montags und freitags hingegen waren die Thüringer irritiert, wenn sie von ihren westlichen Kollegen weit und breit nichts sahen, weil diese die Dienstag-Mitt-

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woch-Donnerstag-Woche pflegten, also erst am Montagnachmittag anreisten und bereits am Freitagmorgen die Heimreise antraten.“13

Weder das eine noch das andere war im Thüringer Landtag üblich. Es gab sogar regelrecht gehässige Berichte von westdeutschen Aufbauhelfern, zum Beispiel in Gewerkschaftszeitungen, in denen es hieß, dass die Westbeamten im Schnitt bis zu 16 Stunden arbeiten würden, „die Ossis aber ließen täglich pünktlich um 16.00 Uhr den Griffel fallen.“14 Ich habe daraus in einem Leserbrief unter anderem wie folgt reagiert: „Anmaßend, arrogant und objektiv falsch ist es jedoch, den allgemeinen Eindruck zu vermitteln, als handele es sich bei den „Ossis“ insgesamt oder überwiegend um Faulenzer ohne Engagement. Wer solche Vorurteile aufbaut oder fördert, reißt Gräben auf, trennt und verletzt. Das ist die Denkweise und Sprache der drüben so beliebten „Besserwessis“. Meine Erfahrungen sind völlig andere: Ich habe es selbst bei mehr als 18stündigem Dienst nicht ein einziges Mal erlebt, dass ich von meinen Thüringer Kollegen bei Bedarf allein gelassen worden bin. Sie hätten sich geradezu geschämt, so etwas zu tun. Das galt selbst für Mitarbeiterinnen, die zu Hause eine Familie mit kleinen Kindern zu versorgen hatten.“15

Weder den Dienstherrn noch die Bediensteten sowie den in dieser Zeit äußerst kooperationswilligen Personalrat kümmerte es groß, dass für die tägliche Arbeitszeit arbeitsrechtlich eine Höchstdauer von dreizehn Stunden vorgeschrieben war. Es regierte ausnahmsweise nicht das Arbeits- bzw. Beamtenrecht, sondern die Normativität des Faktischen. Den Ossis der ersten Stunde in der Landtagsverwaltung waren auch ein starres Statusdenken oder eitle Allüren gänzlich fremd. Keiner war sich zu schade, dort präsent zu sein und die Ärmel hochzukrempeln, wo er gebraucht wurde oder Not am Mann war – egal ob man nach dem Geschäftsverteilungsplan formal zuständig war oder nicht. Man fühlte sich im Team dem Aufbruch zu neuen Ufern gemeinsam verpflichtet. Dieses Engagement habe ich damals bei allen Ossis erlebt, so auch bei meiner langjährigen treuen Sekretärin Elke Schmidt. Obwohl sie zwei Kinder zu Hause zu versorgen hatte und ihr Mann zumeist auf Montage im Westen unterwegs war, hat sie mich nicht ein einziges Mal hängen lassen oder mürrisch das Klima vergiftet. Sie hatte auch keinerlei Allüren, die so mancher Chefsekretärin im Westen zu eigen sind. Sie empfand es niemals unter ihrer Würde, anderen Kolleginnen als schlichte Schreibkraft notfalls hilfreich unter die Arme zu greifen. Es gab allerdings auch einige „soziale Errungenschaften“ aus DDR-Zeiten, die ich als nicht akzeptable Unsitten empfand: Der Arbeitstag begann bei vielen mit einem Frühstück, und es wurde am Vormittag eine zusätzliche Frühstückspause eingelegt. Nach dem Mittagessen gab es dann noch eine Kaffeepause. Die Kantine war jedes Mal gut gefüllt. In diesen gemeinsamen, zum privaten Plaudern einladenden Arbeitspausen sowie in vielen gemeinsamen Unternehmungen auch außerhalb der Arbeitszeit kam ein kollektives Gemeinschaftsgefühl zum Ausdruck, das mir als Wessi

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ziemlich fremd war. Man verstand sich wie zu DDR-Zeiten immer noch ein bisschen nicht nur als ein „Arbeitskollektiv“, sondern als ein „Kollektiv“, in dem sich auch ein wesentlicher Teil des eigenen privaten Lebens abspielte, in dem man sich zu Hause und geborgen fühlte. Mir war bewusst, dass ich dazu beitrug, dieses Kollektiv zu zerstören, in dem ich eine Information über die Arbeitszeiten in der Landtagsverwaltung zirkulieren und abzeichnen ließ, in der nur noch eine Mittagspause vorgesehen war. Danach erschien ich demonstrativ zweimal zu den früher üblichen Pausen in der Kantine. Das reichte bereits zur Abschaffung dieser „sozialen DDR-Errungenschaften“ zur kollektiven Pflege, ohne dass es Proteste gab. In ähnlicher Weise regelte ich die in – allerdings auch in westlichen – Amtsstuben oft exzessiv gefeierten Geburtstage, Eheschließungen, Elternschaften oder ähnliches, die ausnahmslos auf die späten Nachmittage außerhalb der Arbeitszeit verbannt wurden. Es war mir eine fürchterliche Vorstellung, dass ein Bürger mit einem Anliegen in den Landtag kam, womöglich ein in soziale Not geratener Petent, und dort auf eine laute, fröhliche, alkoholisierte, vom Steuerzahler besoldete Gesellschaft stoßen könnte.

Besoldung und Finanzierung Die öffentlich Bediensteten (Beamte, Arbeitnehmer) in den neuen Ländern wurden unterschiedlich besoldet, je nachdem, ob es sich um Wessis oder Ossis handelte. Die abgeordneten Wessis – egal, ob Beamte oder Arbeitnehmer – erhielten weiterhin ihre Westbesoldung, die in der unmittelbaren Nachwendezeit noch zu 100 Prozent von den jeweils abordnenden Stellen im Bund oder in den Ländern gezahlt wurde. In der Ministerpräsidentenkonferenz vom 25.6.1992 einigte man sich allerdings schon darauf, dass sich die neuen Länder mit mindestens einem Drittel an diesen Personalkosten beteiligen sollten. 1993 und 1994 trugen Rheinland-Pfalz und Thüringen die Kosten sogar je zur Hälfte, bis die personelle Verwaltungshilfe 1994 ganz auslief. Wurden Wessis versetzt, erhielten sie zum einen die geringere Ostbesoldung von ihrem neuen Dienstherrn, zusätzlich aber noch zur Wahrung ihres Besitzstandes einen entsprechenden Ausgleich, so dass sie weiterhin im bisherigen Umfang besoldet wurden und keine Abstriche hinnehmen mussten. Die Differenz zahlte der Bund in der Form von Personalkostenzuschüssen, die an die Dienstherren gingen. Die in der öffentlichen Verwaltung der DDR beschäftigten Ossis befanden sich nach der Wiedervereinigung auf der Basis des Einigungsvertrages (Art. 20 Abs.  1 in Verbindung mit Anlage I, Kapitel XIX, Sachgebiet A, Abschnitt III, Nummer 1 Abs. 2 – BGBL. II, S. 1140) vorerst in der so genannten Warteschleife, das heißt, dass die Arbeitsverhältnisse ruhten, weil die DDR als Arbeitgeber weggefallen war. Sie erhielten jedoch anstelle einer Vergütung ein so genanntes monatliches Wartegeld, das 70 Prozent des durchschnittlichen monatlichen Arbeitsentgeltes der letzten sechs Monate entsprach. Die Warteschleifenregelung lief nach sechs Monaten, für über 50-jährige Arbeitnehmer nach neun Monaten aus; sie wurden „abgewickelt“. Wer das

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Glück hatte, in die Öffentliche Verwaltung übernommen zu werden, erhielt zuerst ab dem 1. Juli 1991 als Beamter 60 Prozent des Westgehalts nach dem einschlägigen Besoldungsrecht und als Arbeitnehmer ebenfalls 60 Prozent der Westvergütung auf tarifvertraglicher Grundlage. Die Vergütungen der Beamten und Arbeitnehmer im Öffentlichen Dienst erhöhten sich in der Aufbauzeit stufenweise im Gleichklang, bis sie ab dem 1. Juli 1993 80 Prozent des Westniveaus erreichten. In der Zeit unmittelbar nach der Wende wurden die Vergütungen für die Landesbediensteten in den neuen Ländern zuerst noch bis zum 31.12.1990 aus den Haushalten der Bezirke und danach aus Gründungshaushalten finanziert, die ein Volumen von je 10 Mio. DM pro Land besaßen. Diese Gründungshaushalte wurden als vorläufige Haushalte durch die Finanzministerien in Kraft gesetzt. Am 1.7.1991 trat für den Freistaat Thüringen der erste vom Thüringer Landtag verabschiedete Haushalt in Kraft, der künftig die Grundlage für die Finanzierung des Landespersonals darstellte.

Die Abzocker – Buschzulage und Trennungsgeld Die unterschiedliche Besoldung zwischen den Ossis (nach BAT-Ost bzw. Bundesbesoldungsordnung Ost) und den Wessis im öffentlichen Dienst barg von Beginn an einiges Konfliktpotential in den Verwaltungen der neuen Länder in sich, insbesondere wenn Ossis und Wessis zum Teil zusammenarbeiteten, dazu auch noch am selben Schreibtisch saßen und mit derselben Arbeit betraut waren. Die Ossis fühlten sich verständlicherweise benachteiligt, wenn sie – wie insbesondere in technischen Bereichen – dieselben Qualifikationen besaßen und dieselben Leistungen erbrachten wie Wessis. Diese Ungleichbehandlung, die von den Gewerkschaften und Personalräten immer wieder bei Tarifverhandlungen mit der Forderung nach gleicher Besoldung für gleiche Leistung kritisiert wurde, weitete sich allerdings zu keinem schwerwiegenden Ossi-WessiKonflikt aus. Das hatte einen wesentlichen Grund: Der Öffentliche Dienst bot sichere Arbeitsplätze, und das war in einer Zeit, in der im Osten Zigtausende von Industriearbeitsplätzen wegbrachen, ein so großer Vorteil, dass man die mangelnde Besoldungsangleichung ohne größere Proteste duldend in Kauf nahm, zumal eine Besoldungsangleichung zeitlich – wenn auch erst mittelfristig – absehbar war. Ganz anders als bei den unterschiedlichen Gehältern stellte sich der Konflikt bei der so genannten Buschzulage dar. Dabei handelte es sich um eine pauschalierte – steuerfreie – Aufwandsentschädigung auf der Basis von § 17 des Bundesbesoldungsgesetzes, das damals noch für alle Beamten von Bund und Ländern galt, ergänzt durch Richtlinien der Regierungen. Für Angestellte galten entsprechende Regelungen. Diese Zulage wurde in Thüringen vom Bund und den Partnerländern Hessen, Rheinland-Pfalz und Bayern ursprünglich in voller Höhe für von ihnen abgeordnete oder versetzte Beamte gezahlt. 1993/94 teilten sich zum Beispiel Rheinland-Pfalz und Thüringen die Kosten fifty-fifty, und ab 1995 übernahm Thüringen die Kosten in vollem Umfang. Die Höhe der Aufwandsentschädigung war nach der Besoldungs-

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gruppe der Beamten gestaffelt. Spitzenbeamte (zum Beispiel Abteilungsleiter in der Besoldungsgruppe B6) erhielten ursprünglich monatlich ca. 2.500,00 DM; später wurden die Beträge kontinuierlich abgeschmolzen, bis die Zulage schließlich ab dem 1.1.1995 ganz abgeschafft wurde. Neben dieser Buschzulage erhielten die Aufbauhelfer Trennungsgeld nach dem Reisekostenrecht. Der Staat übernahm für die Aufbauhelfer danach zum Beispiel die Kosten für die Unterbringung und die Heimfahrten. Da nach § 17 Bundesbesoldungsgesetz in Verbindung mit § 3 Nr. 12 des Einkommensteuergesetzes steuerfreie Aufwandsentschädigungen nur für finanzielle Aufwendungen gezahlt werden dürfen, die dienstlich veranlasst sind und der Mehraufwand tatsächlich objektivierbar ist, war die Gewährung einer Buschzulage – zumal in dieser Höhe – rechtlich äußerst problematisch. Die dafür einschlägigen Richtlinien waren wohl kaum durch § 17 des Bundesbesoldungsgesetzes gedeckt. Denn welcher objektivierbare besondere Mehraufwand soll den Aufbauhelfern überhaupt entstanden sein, wenn deren Unterkunft und Heimfahrten schon gesondert abgegolten wurden. Ihnen war sogar ein finanzieller Vorteil durch das vergleichsweise im Osten günstigere Preisniveau Anfang der 90er Jahre entstanden. Das Fläschchen Mineralwasser gab’s schon zu 15 Pfennig, eine Mahlzeit zu 3,50 DM und einen Haarschnitt zu 4,00 DM. Die Buschzulage war somit gar keine Aufwandsentschädigung, sie diente vielmehr – ohne gesetzliche Grundlage und damit rechtswidrig – als finanzieller Anreiz dazu, westdeutsche Beamte für eine Tätigkeit in den neuen Ländern im Rahmen der Aufbauhilfe zu gewinnen und darüber hinaus die angeblich mangelnde Lebensqualität im Osten auszugleichen. Das Bundesverfassungsgericht hat der Buschzulage später in einer Entscheidung vom 28.1.1999 (Aktenzeichen 2 BvL 10/95) die Qualität einer steuerfreien Aufwandsentschädigung zu Recht abgesprochen und ihre Zahlung an Angehörige des öffentlichen Dienstes als Verstoß gegen das aus Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz folgende Gebot der Steuergerechtigkeit bewertet. Aus Gründen des Vertrauensschutzes musste jedoch kein Aufbauhelfer seine Buschzulage zurückzahlen. Sie war aber nicht nur rechtswidrig, sondern politisch mehr als eine unsensible Stillosigkeit. Sie wurde im Osten zu Recht als diskriminierend empfunden. Als „Buschzulagen“ wurden nämlich ursprünglich Zulagen bezeichnet, die kaiserlichen Beamten gewährt wurden, die in den deutschen Kolonien Dienst taten. „Busch“ stand somit für eine trostlose, unzivilisierte Gegend und kolonialen Hochmut. Die Deutsche Gesellschaft für Deutsche Sprache erkor demzufolge die Buschzulage 1994 zum „Unwort des Jahres“. Es handelte sich aber nicht nur um ein Unwort, sondern auch um eine Instinktlosigkeit. Die Einführung dieser Buschzulage war nämlich insofern eine schlimme Fehlentscheidung der Bundesregierung, weil sie damit den Niedergang von Ethos im deutschen Beamtentum förderte. Das Beamtenrecht hätte fraglos die rechtliche Möglichkeit geboten, Beamte in den Osten abzuordnen. Dazu hätte es keiner besonderen finanziellen Anreize bedurft. Man hätte nur geltendes Recht durchsetzen müssen, wie dies zum Beispiel in vorbildlicher Weise im alten Preußen geschah, wo Landräte von Westfalen nach Ostpreußen versetzt wurden und wie es auch heute noch bei der Bundeswehr bei Versetzungen im Inland durchaus üblich ist. Bundesregierung, Gewerkschaften und Beamtenvertretungen und auch die Beamten

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selbst haben im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung eine einmalige Chance verpasst, das arg zerzauste Image von Beamten nachhaltig zu verbessern. Leider siegte eigensüchtiger Krämergeist über Ethos und Gemeinwohl. Ich hatte aus all diesen Gründen von vornherein auf die mir anfangs als Leitender Ministerialrat in Höhe von monatlich 2.254,00 DM zustehende Buschzulage verzichtet. Es hätte nur noch gefehlt, dass irgendein penibler Besoldungsrechtler diesen Verzicht besoldungsrechtlich für unwirksam erklärt und daher die Buschzulage gegen meinen Willen angewiesen hätte. Das passierte jedoch glücklicherweise nicht, somit war es nicht nötig, sich auch noch gegen eine aufgedrängte Buschzulage mit Rechtsmitteln zu wehren. Leider gab es aber nicht nur die Beamten, welche die ihnen vom Staat angebotene Buschzulage ohne Bedenken oder vielleicht auch mit etwas schlechtem Gewissen kassierten, sondern auch Abzocker, die dafür nicht einmal die Voraussetzungen nach den einschlägigen Richtlinien erfüllten. Es war ein Skandal sondergleichen mit verheerenden, weitergehenden Folgewirkungen, dass zu diesen selbstsüchtigen Beamten mit dem Präsidenten Wolfgang Ibel (CDU) und der Vizepräsidentin Christa Vennegerts (Bündnis 90/Grüne) die Spitze des Thüringer Rechnungshofs gehörte, also die obersten Hüter über die Sparsamkeit und Ordnungsmäßigkeit der Landesfinanzen. Wolfgang Ibel war ein aus Hessen nach Thüringer importierter CDU-Abgeordneter des Hessischen Landtags, der es zuvor im gehobenen Dienst bis zum Amtmann gebracht hatte. Präsident und Vizepräsidentin hatten jeder zwischen 1991 und 1994 eine Buschzulage von über 70.000,00 DM zu Unrecht kassiert, die daher von der Oberfinanzdirektion zurückgefordert wurde. Dagegen erhoben beide Klage. Wolfgang Ibel ließ sich auf einen gerichtlichen Vergleich ein und zahlte die Hälfte der Zulage zurück. Die Vizepräsidentin lehnte demgegenüber einen Vergleich ab, verlor jedoch ihre Klage überwiegend und musste 63.300,00 DM zurückzahlen. Da der Landtagspräsident über die Rechnungshofspitze die Disziplinargewalt hatte, war für mich klar, dass gegen beide oberste Rechnungsprüfer ein Disziplinarverfahren eröffnet werden musste. Die entsprechenden Vorprüfungen in der Landtagsverwaltung kamen folgerichtig auch zu diesem Ergebnis. Doch als wir drauf und dran waren, die förmlichen Vorermittlungen einzuleiten, befürchtete man in der politischen Führung des Landes das Schlimmste: Vorermittlungen in der Hand dieser unnachsichtigen hyperkorrekten Landtagsverwaltung könnten die Rechnungshofspitze zu Fall bringen. Sie wurde daher aus dem Verfahren ausgebootet. Es musste ein einerseits untadeliger und ausgewiesener Fachmann gesucht werden, der aber darüber hinaus auch die Güte eines „Papa Gnädig“ besaß, vielleicht auch eine besondere Loyalität gegenüber der politischen Führung des Landes. Den mit all diesen Qualitäten gesegneten Mann fand man mit dem ehemaligen Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Franz Kroppenstedt. Seine Ermittlungen führten beim Rechnungshofpräsidenten dann auch erwartungsgemäß zu einem Freispruch, wenn auch eher dritter als zweiter Klasse: Die Buschzulage habe er zu Unrecht kassiert, aber Schuld sei dem bedauernswerten Mann nicht anzulasten, er habe die Sach- und Rechtslage in dieser komplizierten Aufbauphase einfach nicht überschaut. Man bedenke: Freispruch für

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den obersten Rechnungsprüfer, bei dem eigentlich besonders strenge Maßstäbe in der Schuldfrage anzulegen sind; die unverzeihliche Unbedarftheit eines Rechnungshofpräsidenten wurde also auch noch privilegiert. Das Verfahren gegen die Vizepräsidentin konnte in Thüringen nicht fortgesetzt werden, weil sie Regierungspräsidentin in Nordrhein-Westfalen wurde und ihr neuer Disziplinarvorgesetzter, der dortige Innenminister, kein Interesse hatte, die Ermittlungen fortzusetzen. Welch verheerende Folgen schlechte Vorbilder auf der Führungsebene, speziell auf die Untergebenen in ihrer eigenen Verwaltung, aber nicht nur dort, haben, sollte sich auf einem weiteren, in der Aufbauphase bevorzugten Terrain erweisen: dem hemmungslosen missbräuchlichen Abgreifen von Trennungsgeld. Wenn man noch für jene Beamten Verständnis haben konnte, welche die Buschzulage – sei es mit gutem oder etwas schlechtem Gewissen gegenüber ihren ostdeutschen Kollegen – unwidersprochen kassierten, so gleichen die – durchaus nicht wenigen – Abzocker von Trennungsgeld fast einer kriminellen Bande. Sie wurden dabei vom Staat, sprich den vorgesetzten Stellen, nicht nur langmütig unbehelligt geduldet, sondern zum Teil durch schlechte Vorbilder von Vorgesetzten sogar noch zu ihrem Fehlverhalten animiert. Es gab nämlich leider auch Abzocker, die sich als Minister, Staatssekretäre oder Präsidenten an der Spitze von Ministerien und Behörden befanden. Damit waren natürlich den Schleusen für einen missbräuchlichen Bezug von Trennungsgeld bei den untergebenen Bediensteten in weitem Umfang Tür und Tor geöffnet. Der Fisch stinkt bekanntlich vom Kopf her. Denn wenn sich schon Minister, Staatssekretäre und Präsidenten über die Voraussetzungen für die Gewährung von Trennungsgeld hinwegsetzten, warum sollten dann Abteilungsleiter, Referenten oder Sachbearbeiter dahinter zurückstehen. Wie der Herr, so’s Gescherr. Eine einkömmliche Allianz der Gleichheit im Unrecht. Und das Allerschlimmste: An der Spitze dieses Kartells befand sich auch wieder der oben im Zusammenhang mit der Buschzulage unrühmlich erwähnte Präsident des Thüringer Rechnungshofs Wolfgang Ibel. Wie spielte sich nun dieser schamlose Griff in die öffentliche Tasche ab? Nach dem – insoweit bundesweit einheitlichen – Umzugskostenrecht, das für Minister entsprechend gilt (§ 2 Thüringer Verordnung zu § 8 Abs. 2 des Ministergesetzes), gibt es für die Gewährung von Trennungsgeld unter anderem zwei Voraussetzungen (vgl. § 10 Abs. 2 Thüringer Umzugskostengesetz). Erstens: Der Beamte muss uneingeschränkt umzugswillig sein und zweitens: Er kann „nachweislich wegen Wohnungsmangels am neuen Dienstort einschließlich des Einzugsgebiets nicht umziehen.“ Zumindest die zweite Voraussetzung hat nach einer – zugegebenermaßen – schwierigen Anfangszeit auf dem Immobiliensektor später in einer Reihe von Fällen nicht mehr vorgelegen. So konnte der Präsident des Rechnungshofs, Wolfgang Ibel, zwischen 1991 und Sommer 1995 über ganze vier Jahre wegen eines angeblichen Wohnungsmangels an seinem Dienstort Rudolstadt keine Wohnung für sich finden und damit nicht umziehen. Ein Skandal und ein für den Steuerzahler teurer obendrein. In der Landtagsverwaltung gab es demgegenüber eine klare und strikte Regelung: Jedem Beamten wurde schon bei den Einstellungsgesprächen unmissverständlich klar gemacht, dass er innerhalb von drei Monaten umziehen müsse, nur so lange gäbe es

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Trennungsgeld. Davon gab es nur zwei Ausnahmen, wenn sich der Neu- oder Umbau eines neuen Domizils in Erfurt und Umgebung unverschuldet verzögerte oder wenn es Umzugsprobleme mit schulpflichtigen Kindern gab, weil diese zum Beispiel kurz vor dem Abitur standen. Dieses strenge Umzugsgebot wurde im Übrigen allen Landtagsmitarbeitern generell – unabhängig von den Regeln des Umzugskostenrechts – auferlegt und auch erfolgreich durchgesetzt. Sie sollten nicht nur Gäste in Thüringen sein, sondern sie sollten dieses Land zu ihrem neuen Lebensmittelpunkt machen. Es ist demgegenüber ein Skandal, dass es insbesondere an Thüringer Universitäten Professoren gibt, die sich seit vielen Jahren bis zum heutigen Tag mit einer Di-Mi-Do-Arbeitswoche begnügen und das mit staatlicher Duldung. Wie sich gute und schlechte Vorbilder in der Führungsetage auf ihre Verwaltung auswirken, mögen folgende Zahlen verdeutlichen: Im Thüringer Rechnungshof wurden bei 190 Beschäftigten im Jahr 1995 (bis Ende Oktober) fast 400.000 DM Trennungsgeld gezahlt, in der Landtagsverwaltung mit 120 Mitarbeitern im gleichen Zeitraum 12.800 DM. Der bereits mehrfach zitierte Journalist der Thüringischen Landeszeitung, Steffen Winter, der nicht nur die Missstände bei der Gewährung von Buschzulagen, sondern auch von Trennungsgeld in seiner Zeitung geißelte, brachte die Wut der Thüringer über die Riege „abzockender“ Westbeamter in einem Kommentar mit folgenden Worten auf den Punkt: „Kleinlich sind die Prüfer, wenn sie in den Amtsstuben des Freistaates nach Landesgeldern fahnden. Dafür werden sie auch bezahlt. Inzwischen scheint jedoch eine Prüfung im eigenen Haus nötig zu sein. Denn gezahlt werden horrende Summen an Trennungsgeld – die gut bezahlten Experten ziehen nicht nach Thüringen um. Keine Frage: Beim Aufbau der wichtigen Kontrollbehörde war externes Fachwissen nötig, mussten Prüfer aus den alten Bundesländern für den Osten gewonnen werden. Inzwischen sind aber sechs Jahre seit der Wende vergangen, der Wohnungsmarkt hat sich beruhigt, gerade gut verdienenden Beamten sollte der Umzug in den Freistaat längst möglich sein. Kulante Auslegungen – in den Aufbaujahren tragbar – passen angesichts der Kassenlage im Land nicht mehr in die Zeit. Wer in Thüringen aufgestiegen ist und ordentlich Geld verdient, kann auch in Thüringen wohnen. Gerade dem Rechnungshof, durch verspätete Prüfberichte und die Gehälteraffäre der Hausspitze ohnehin schon beschädigt, stünde Bescheidenheit bei den Trennungsgeldern ausnehmend gut zu Gesicht.“16

Bleibt abschließend zu diesem Kapitel noch zu erwähnen, dass die Skandale um die Besoldung von Amtsträgern durch westdeutsche Importe angereichert wurden, die statt eines Ostgehalts unberechtigt ein Westgehalt bezogen. Dieser Vorwurf traf den Thüringer Innenminister Franz Schuster, einen Vogel-Import aus der Konrad-Adenauer-Stiftung. Durch ein Gutachten des Thüringer Rechnungshofs wurde der Nachweis geführt, dass er ca. 80.000 DM zu viel kassiert hatte. Es blieb ihm daraufhin nichts anderes übrig, als dieses unberechtigte, komfortable Zubrot an die Staatskasse zurück zu zahlen.

8.  Erste grundlegende Rechtsvorschriften –   Ihre Vorbereitung und informelle politische   Abstimmung vor der konstituierenden Sitzung Normative Vorgaben der demokratischen Volkskammer für die Parlamente der neuen Länder Die demokratische Volkskammer der DDR war nach der friedlichen Revolution von 1989 ihr erstes und zugleich letztes am 18.3.1990 frei gewähltes Parlament. Sie stellte die maßgeblichen Weichen für den Prozess der Staatswerdung in den neuen Ländern mit dem „Verfassungsgesetz zur Bildung von Ländern in der DDR“ (Ländereinführungsgesetz) vom 22.7.1990; dessen § 1 Abs. 1 schrieb vor, „mit Wirkung vom 3. Oktober 1990 werden in der DDR folgende Länder gebildet: – … – Thüringen durch Zusammenlegung der Bezirksterritorien Erfurt, Gera und Suhl zuzüglich der Kreise Altenburg, Artern und Schmölln“.

Darüber hinaus bestimmte § 23 Abs. 2 dieses Gesetzes: „Der erstgewählte Landtag, dem zugleich die Aufgabe einer verfassungsgebenden Landesversammlung obliegt, tritt spätestens am 14. Tag nach der Wahl zusammen. Spätestens am 20. Tag nach seinem Zusammentritt hat er eine vorläufige Landesregierung zu bilden.“ Da das ebenfalls am 22.7.1990 verabschiedete „Gesetz über die Wahlen zu Landtagen in der DDR“ in § 2 bestimmte: „Die Wahlen zu den Landtagen finden am 14.10.1990 statt“, musste die konstituierende Sitzung des Thüringer Landtags somit spätestens am 28.10.1990 stattfinden. Für die erste Sitzung des Landtags waren also vorrangig zumindest die für dessen Arbeitsfähigkeit erforderlichen Vorschriften in einer Geschäftsordnung so rechtzeitig vorzubereiten, dass sie der Landtag unmittelbar nach der Konstituierung und der Feststellung der Tagesordnung beschließen konnte. Außerdem waren für die Bildung der Regierung, die spätestens am 20. Tag nach der Konstituierung des Landtags anstand, die dafür erforderlichen verfassungsrechtlichen Normen rechtzeitig vorzubereiten und vom Landtag zu beschließen. Mein erklärter Ehrgeiz bestand darin, Entwürfe für eine komplette Geschäftsordnung und darüber hinaus eine Rumpfverfassung mit all denjenigen Artikeln vorzubereiten, die für ein funktionierendes demokratisch-parlamentarisches Regierungssystem als normatives Minimum zwingend erforderlich waren. Mein weiteres Ziel war, diese Entwürfe so schnell wie möglich noch vor der Konstituierung des Landtags mit allen maßgeblichen politischen Kräften abzustimmen, um bereits im Vorfeld der späteren parlamentarischen Beratungen wenigstens über eine vorläufige Verfassung und eine vorläufige Geschäftsordnung einen möglichst breiten Konsens zu erzielen. Denn es durfte nicht dazu kommen, dass sich die Abge-

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ordneten zum parlamentarischen Start über jede einzelne Formulierung beider Kodifikationen in heftigen Disputen die Köpfe heiß reden und ihnen die Zeit davon eilen könnte – und das schon gar nicht bei der hohen Erwartungshaltung der Bevölkerung, die kein „parlamentarisches Palaver“, sondern Taten sehen wollte. In dieser Situation lag es nahe, zuvörderst auf Vorentwürfe zurückzugreifen, die in Thüringen in der Wendezeit, insbesondere vom Politisch Beratenden Ausschuss bzw. seinen Arbeitsgruppen ausgearbeitet worden waren. Praxiserprobte Rechtspolitiker vermeiden es tunlichst, das Rad neu zu erfinden.

Vorbereitung der ersten Verfassung – Die „Vorläufige   Landessatzung“ Doch gab es qualifizierte Vorbilder, auf denen man eine neue Verfassung für Thüringen überhaupt aufbauen konnte – und sei es auch nur in Teilen? Sieht man einmal von den historischen Thüringer Verfassungen von 1921 und 1946 ab, lagen mit Blick auf die erforderliche Verfassungsgebung für das neu entstehende Bundesland Thüringen drei Entwürfe vor:1 Der erste Entwurf wurde von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Gerhard Riege am „Lehrstuhl Staatsrecht der Sektion Staats- und Rechtswissenschaften“ der Universität Jena als „Privatentwurf“ vorgelegt.2 Gerhard Riege war von 1965 bis zu seiner Abwicklung 1990 ordentlicher Professor für Staatsrecht in Jena. Er gehörte dem 11.  Bundestag ab dem 3.10.1990 als einer der 144 von der Demokratischen Volkskammer auf der Grundlage von Artikel 42 des Einheitsvertrages gewählten Abgeordneten an, danach dem 12. Bundestag bis zu seinem Freitod am 15.2.1992. Ein weiterer – mit Alternativen versehener – Entwurf war von dem Unterausschuss „Landesverfassung“ des Politisch Beratenden Ausschusses (PBA) erarbeitet3 und der Öffentlichkeit am 30.8.1990 mit folgender Vorbemerkung vorgestellt worden: „Als Grundlage dienten die Thüringer Verfassungen von 1921 und 1946 sowie die Entwürfe aus dem Frühjahr 1990 des Lehrstuhls Staatsrecht der Juristischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena und des Runden Tisches in Berlin. Zu interessierenden Fragen wurden ebenfalls die Verfassungen einiger Bundesländer sowie die Entwürfe der anderen neu entstehenden Länder herangezogen. Der vorliegende Entwurf enthält in einigen Artikeln Varianten und Zusätze. Besonders hier sollen die Bürger Thüringens zur Meinungsbildung herangezogen werden. Nach breiter Aussprache in der Bevölkerung wird der überarbeitete Entwurf dem am 14.10.1990 zu wählenden Landtag vorgelegt. Dieser Landtag hat in einer seiner ersten Sitzungen zu befinden, ob ein Volksentscheid zur Annahme der Verfassung durchgeführt werden soll. Wir würden dies begrüßen und als Termin den 2.12.1990, den Tag der gemeinsamen Bundestagswahlen vorschlagen.“ Dieser Arbeitsgruppe gehörten folgende Mitglieder an: Ortwin Migge (NF, Vertreter der Bezirksverwaltungsbehörde Suhl, als Vorsitzender); Klaus Schuster (CDU, Rechtsanwalt, Sonneberg); Peter Lenk (DSU, Gera); Johannes Hoefert (Die Grünen,

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Ilmenau); Matthias Ladstätter (NF, Ingenieur, Erfurt); Regina Roth (Demokratische Bauernpartei – DBD, Molschleben); Rolf Mühling (Bund Freier Demokraten – BFD, Jena); Dr. Hans-Jürgen Kulke (PDS, Staats- und Rechtswissenschaftler an der Universität Jena und Mitautor des Entwurfs von Prof. Riege); Renate Kinzel (Demokratischer Frauenbund – DFD, Dipl.-Staatswissenschaftlerin, Worbis); Frau Giesler (Bezirksverwaltungsbehörde Suhl, Leiterin der dortigen Rechtsabteilung); Wolfgang Martin (Demokratischer Aufbruch – DA, Jurist, Gera); Müller (Oberkonsistorialrat, Evangelische Kirche der Kirchenprovinz Sachsen); Frau Dr. Riege (Vertreterin der Bezirksverwaltungsbehörde Gera); Hans Schäfer (Oberkirchenrat, Vertreter der evangelischen Kirche); Dr. Hartmut Storz (SPD, Jena); Winfried Weinrich (Vertreter der katholischen Kirche, Erfurt). Das Plenum des PBA hatte den Entwurf zwar auf der Tagesordnung seiner abschließenden Sitzung am 21.9.1990 stehen; er wurde von ihm allerdings nicht beschlossen, sondern nur noch zur Kenntnis genommen. Der dritte Entwurf entstammte der Feder des damaligen Leiters der öffentlichrechtlichen Abteilung des rheinland-pfälzischen Justizministeriums, Ministerialdirigent Dr. Siegfried Jutzi, der als Aufbauhelfer zugleich amtierender Leiter der öffentlich-rechtlichen Abteilung im Thüringer Justizministerium war. Dieser Entwurf wurde vom rheinland-pfälzischen Justizminister Peter Caesar (FDP) am 5.10.1990 in einer Pressekonferenz in Eisenach vorgestellt. Wer diesen Entwurf initiiert hatte und wie es zu der Pressekonferenz in Eisenach gekommen war, darüber ranken sich bis heute einige, sich widersprechende Gerüchte und Spekulationen. Diese mit letzter Sicherheit aufzuklären, erweist sich wegen des frühen Todes Caesars am 30.12.1999 als schwierig. Eine spezifische, die Thüringer Version lautet etwas überspitzt: Der unsensible Wessi Caesar sei in geradezu kolonialistisch-imperialistischer Manier in Erfurt eingefallen und habe dem Landesbevollmächtigten Duchač seinen Entwurf mit den Worten auf den Tisch geknallt, das sei jetzt die Verfassung von Thüringen. Daraufhin sei der Entwurf postwendend als Einmischung in die inneren Angelegenheiten Thüringens zurückgewiesen worden (so in etwa die späteren Thüringer Minister Karl Heinz Gasser und Marion Walsmann). Man kann sich leider nicht des Eindrucks erwehren, dass dies eines der ersten Beispiele war, sich durch eine Distanzierung von Wessi-Einflüssen oder gar eine Herabsetzung von Aufbauhelfern aus dem Westen mit einem Seitenblick auf die ostdeutschen Wähler politisch zu profilieren. Die andere, die rheinland-pfälzische Version sah demgegenüber ganz anders aus: Nachdem sich die CDU am 21.9.1990 im PBA von dessen Verfassungsentwurf distanziert hatte und der Landesbevollmächtigte Duchač in einer Presseerklärung vom selben Tag diesen Entwurf als nicht konsensfähig und in vielen Punkten als verfassungswidrig bezeichnet hatte sowie einen eigenen Entwurf ankündigte, musste so schnell wie möglich ein neuer her. Dieser Verlauf der Dinge spricht dafür, dass Caesar nicht nur ein Hilferuf aus Thüringer Regierungs- und CDU-Kreisen erreicht hatte, bei der Erarbeitung eines CDU-Entwurfs – das ist ziemlich unbestritten – mitzuwirken, sondern wegen der Eilbedürftigkeit darüber hinaus gebeten worden war, einen möglichst vollständigen, der Öffentlichkeit sofort präsentierbaren Entwurf zu erarbeiten. Wer hätte denn schon aus

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der Regierungs- oder CDU-Riege, selbst bei Hilfestellung der Wessis, in kürzester Zeit einen kompletten Verfassungsentwurf auf die Beine stellen können? Da alle anderen Fraktionen eigene vollständige Verfassungsentwürfe präsentieren konnten und nur die CDU mit leeren Händen dastand, spricht alles dafür, dass sich der Hilferuf an Caesar eben nicht nur auf eine mitwirkende Hilfestellung, sondern einen kompletten Verfassungsentwurf bezog, den man aus Prestigegründen schleunigst vorweisen musste. Das geschah dann auch, wie es Johann Michael Möller in seinem Beitrag zur Hessenhilfe für Thüringen beschrieb4, durch Caesars „fähigsten Mann in Mainz“, eben Siegfried Jutzi, und zwar unter extremem Zeitdruck innerhalb eines verlängerten Wochenendes. Grundlage war natürlich die Verfassung von Rheinland-Pfalz. Doch wie kam es dazu, dass sich die CDU-Führung so unvermutet von jeder Form der Beteiligung an dem Zeugungsvorgang des Caesar-Entwurfs distanzierte und ihn fortan als Kuckucksei bezeichnete, das Caesar den Thüringern ins Nest gelegt hatte? Es lag an der nach der Maueröffnung doch relativ schnell aufkeimenden Stimmung gegen die „Wessis“ einerseits und einem zunehmend verbreiteten – oft übersteigerten und rational kaum nachvollziehbaren – Selbstbewusstsein der Thüringer andererseits. Es war diese sich mehr und mehr verbreitende „Anti-Wessi-Stimmung“, die natürlich bei – von Wessis so empfundener – Undankbarkeit entsprechende Gegenreaktionen hervorrief. Dass Caesar über seine Abfuhr und die – aus seiner Sicht – Verlogenheit seiner christlich-demokratischen Auftraggeber in höchstem Maß verärgert war und seinen Verfassungsentwurf nun erst recht der Presse vorstellte, heizte zwar die Ossi-WessiSpannungen um die Thüringer Verfassung weiter an, doch verstehen konnte man Caesar schon. Welche politische Situation stellte sich für mich bei dieser vorgefundenen Sachlage dar? Denn ich musste schleunigst wenigstens den Entwurf einer Rumpfverfassung erarbeiten und darüber Konsens herstellen, um über die Konstituierung der Thüringer Staatsorgane das neue Bundesland möglichst schnell zum Laufen zu bringen. Nachdem ich mir anhand von Protokollen und Gesprächen mit Mitgliedern des PBA ein Bild über den aktuellen Stand der Verfassungsberatungen in Thüringen gemacht hatte, gab es aus kurz- bzw. mittelfristiger Sicht kaum Alternativen: Die Ausarbeitung des Entwurfs einer Vollverfassung mit der realistischen Chance, sie in kürzester Zeit mit breiter (möglichst einer 2/3-) Mehrheit verabschieden zu können, war völlig illusorisch. Die schnelle Verabschiedung einer Vollverfassung wäre nur durch eine pauschale, nahezu blinde Übernahme einer westdeutschen Landesverfassung realistisch gewesen. Das aber wollte man gerade nicht. Man wollte sich nicht einfach eine westdeutsche Verfassung überstülpen lassen, sondern ein Thüringer Eigengewächs schaffen. Der Konflikt um den Caesar-Entwurf sprach insoweit eine deutliche Sprache. Außerdem war man sich der besonderen Bedeutung einer Verfassunggebung für das wiedergeborene Bundesland Thüringen sehr bewusst. Verfassunggebung konnte und sollte kein Schnellschuss werden. Außerdem sprachen die sachlichen Unterschiede zwischen den politischen Lagern gegen eine schnelle Verabschiedung mit breiter Mehrheit.

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Im April 1990 wurden die politischen Weichen für eine Wiedervereinigung nach Artikel 23 a.F. GG durch die Koalitionsvereinbarung der Regierung de Maizière gestellt und mit der Ablehnung des Verfassungsentwurfs des Zentralen Runden Tisches durch die Volkskammer am 28.4.1990 wurde einer Verfassung „des Dritten Wegs“ politisch der Boden entzogen. Dieser „Anschluss der DDR an die BRD“ löste in einigen politischen Lagern auf Landesebene eine Art „verfassungsrechtliche Gegenreformation“ aus. Nicht nur im Lager der PDS, sondern auch innerhalb anderer Gruppierungen im PBA, insbesondere im Neuen Forum, erwuchsen große Sympathien für die Aufrechterhaltung zahlreicher „sozialer Errungenschaften der DDR“, für eine basisdemokratische Ausrichtung des Staates und möglichst signifikante Emanzipationen vom Grundgesetz. Ob damit zum Teil gegen bundesverfassungsrechtliche Vorgaben verstoßen würde, interessierte kaum. Man fühlte sich umfassend legitimiert, denn „Wir sind das Volk“. Einige wenige Kostproben aus dem Verfassungsentwurf des PBA mögen dessen politische und verfassungsrechtliche Problematik belegen:

– Das unbegrenzte Recht von Frauen auf einen Schwangerschaftsabbruch (Art. 6 Abs. 1, 1. Var.). – Ein Wahlrecht von Ausländern für den Landtag (Art. 13 Abs. 2, 2. Var.). - Die unklare Durchmischung von Staatszielen und sozialen Grundrechten beim Recht auf Arbeit, Wohnung etc. (Art. 20 Abs. 1; 22 Abs. 1). – Die Unzulässigkeit der Aussperrung und von Schadensersatzforderungen gegen organisiert Streikende (Art. 23 Abs. 3, 1. Var.). – Eine Privilegierung von Landeskindern (Art. 36 Abs. 1). – Eine uferlose plebiszitäre Einbeziehung der Bürger in die gesamte Staatstätigkeit von Legislative und Exekutive (Art. 37, 38). – „Die Errichtung atomarer Anlagen ist unzulässig“ (Art. 41 Abs. 5). – Die Enteignungen von Bodenreform und Großbetrieben vor 1949 sollten unangetastet bleiben (Art. 45 Abs. 1 S. 1). – Der Landtag habe die Grundsätze der Regierungspolitik zu beschließen (Art.  57 Abs. 1) und die Landesregierung habe die Landespolitik im Auftrag des Landtags zu leiten (Art. 75 Abs. 1). – Das Gesetzesinitiativrecht sollten auch Ausschüsse haben (Art. 69 Abs. 2). – Zur Annahme von Volksentscheiden zu einfachen Gesetzen reiche die „Mehrheit der abgegebenen Stimmen“ (Art. 74 Abs. 1).

Der bereits erwähnte Leiter der öffentlich-rechtlichen Abteilung des Justizministeriums Rheinland-Pfalz und spätere amtierende Leiter der entsprechenden Abteilung im Thüringer Justizministerium, Siegfried Jutzi, hatte in einem ersten kursorischen 36-seitigen Papier vom 11.9.1990 darüber hinaus eine Fülle von Mängeln aufgelistet, hauptsächlich weil zahlreiche vom PBA vorgeschlagene Artikel gegen Bundesrecht verstoßen würden. Bei dieser Ausgangslage bot sich als einzig realistischer Weg die zügige Einigung auf eine Rumpfverfassung bzw. ein Organisationsstatut an, das nach Georg Jellineks Definition einer Verfassung zum Inhalt haben müsste: „Rechtssätze, welche die obers-

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ten Organe des Staates, die Art ihrer Schöpfung, ihr gegenseitiges Verhältnis und ihren Wirkungskreis festlegen“. Geboten war also ein normatives Minimum. Darüber hinaus durften in den Entwurf möglichst keine Bestimmungen mit politisch-ideologischem Sprengstoff aufgenommen werden. Ich wollte möglichst eine breite Mehrheit für diese Linie auch mit dem Argument gewinnen, dass man die Vorläufigkeit der Verfassung hervorhob und alle Initianten mit gravierenden Änderungs- und Ergänzungswünschen auf die Beratungen zur endgültigen Verfassung verweisen würde. Innerhalb eines Wochenendes, dem ersten im Oktober 1990, erarbeitete ich den Entwurf einer „Vorläufigen Landessatzung“ (Vorl. LS), die diesen Vorgaben Rechnung trug. Dabei wählte ich den Namen „Vorläufige Landessatzung“, um damit nicht nur die Vorläufigkeit, sondern auch die Unvollständigkeit der Verfassung herauszustreichen. Dass es sich trotz dieser Namensgebung um eine Verfassung im formalen Sinn handeln würde, war unzweifelhaft. Der Entwurf bestand aus 15 Paragrafen und hatte folgenden wesentlichen Inhalt:

– Regelungen zum Landtag, der Stellung seiner Abgeordneten, seinen Aufgaben, insbesondere seinen Gesetzgebungskompetenzen, seinen Organen und Verhandlungsgrundsätzen sowie seine besonderen Kontrollbefugnisse im Petitions- und Untersuchungsausschussrecht (§§ 1 – 8) – Die Zusammensetzung, die Bestellung und Abberufung der Landesregierung sowie deren Kompetenzen (§§ 9 – 13) – Die Grundzüge des Haushaltsrechts (§ 14) – Die Ausfertigung und Notverkündung der Vorl.LS (§ 15)

Auf einen Grundrechtsteil konnte man zumindest vorerst verzichten, weil das Grundgesetz nach dem Beitritt der DDR auf der Grundlage von Artikel 23 a.F. GG zur Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 3 des Einigungsvertrages ab dem 3.10.1990 auch für Thüringen galt. Ob und inwieweit man über die Grundrechte des Grundgesetzes hinausgehen wollte – was verfassungsrechtlich zulässig ist, sofern Landesgrundrechte den Grundrechten des Grundgesetzes nicht widersprechen (Artikel 142 GG) – sollte den späteren Beratungen zur endgültigen Verfassung vorbehalten bleiben. Die Erarbeitung des Entwurfs für eine Rumpfverfassung war keine besonders schwere Aufgabe. Man brauchte dafür „das Rad nicht neu zu erfinden“, sondern konnte auf Vollverfassungen als geeignete Vorbilder zurückgreifen, die man auf einen Kernbereich des Staatsorganisationsrechts zurückschneiden konnte. In der westlichen Hemisphäre gibt es auf der Grundlage der ersten nordamerikanischen Verfassungen (Virginia Declaration of Rights 1776, die Verfassung der USA von 1787) sowie der französischen Verfassung von 1789 inzwischen sogar weltweit bis hin nach Russland – wenigstens in der Theorie – weitgehend einen allgemeinen Verfassungskonsens und innerhalb der Bundesrepublik Deutschland in Bund und Ländern relativ einheitliche Verfassungsstandards. Weit schwieriger waren die nächsten zwei Schritte zu bewältigen: Ich musste zum einen die Arbeitsgruppe des PBA, die einen Entwurf zur Thüringer Landesverfassung

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erarbeitet hatte, davon überzeugen oder zumindest bei ihr dafür um Verständnis werben, dass ich nicht ihren Vollentwurf, sondern meinen Entwurf einer Rumpfverfassung in die Beratungen des Landtags einspeisen wollte. Vor dieser Begegnung hatte ich einen Mordsbammel. Da hatte sich eine Arbeitsgruppe seit über drei Monaten mit der Erarbeitung eines Verfassungsentwurfs beschäftigt und dabei sehr bewusst auf externe Berater aus den alten Ländern verzichtet sowie einen – trotz aller Mängel – höchst beachtlichen Entwurf erarbeitet, und dann kommt da ein Wessi, der sich erheischt, seine eigenen Vorstellungen über den Inhalt und die taktische Marschroute der Verfassungswerdung auf den Weg zu bringen. Mir war es furchtbar peinlich, dieses Bild des unsympathischen Besser-Wessis abzugeben. Ich argumentierte ehrlichen Herzens mit Engelszungen: Mir sei das alles sehr unangenehm, ich könnte ihre Enttäuschung verstehen, aber ich sähe keine realistische Alternative. Schließlich könnten ihre Reformideen in die endgültigen Verfassungsberatungen eingebracht und sie daran als Sachverständige beteiligt werden. Ich war dann ziemlich überrascht, dass mir nach meinem Plädoyer weder Missfallen, noch Kritik oder aggressive, eisige Ablehnung entgegenschlugen. Es gab eigentlich nur resignierende Reaktionen, die sich nicht gegen mich als Person oder Wessi richteten. Den Mitgliedern des PBA war zwischenzeitlich die neue Rechtslage bewusst geworden, dass mit dem Beitritt zum Grundgesetz nach Artikel 23 (alte Fassung) GG eine eigenständige Verfassungsgebung als ein „Dritter Weg“ neben dem oder gegen das Grundgesetz ausgeschlossen war. Wir gingen also friedlich auseinander. Mir war ein dicker Stein vom Herzen gefallen. Damit stand der zweite schwierige Schritt bevor: Möglichst noch im Vorfeld der Konstituierung des Landtags für den Verfassungsentwurf einen breiten Konsens zwischen denjenigen politischen Gruppierungen Thüringens herbeizuführen, die voraussichtlich in den Thüringer Landtag einziehen würden. Dazu musste ich mit den Politikern sprechen, die nach den Wahlen voraussichtlich die maßgeblichen Entscheidungsträger in ihren Fraktionen werden würden. Diese Politiker im Vorfeld von Wahlen in einer unübersichtlichen, teilweise noch chaotischen Parteienlandschaft ausfindig zu machen, glich damals einem politischen Lotteriespiel und erforderte neben viel politischem Gespür letztlich auch eine gehörige Portion Glück. Ich begann also meine diesbezüglichen Konsensgespräche noch vor den Wahlen am 14.10.1990. Dazu begab ich mich in die einzelnen Parteizentralen, um dort nach kompetenten und potentiell einflussreichen Politikern zu forschen. Inhaltlich brachten diese Gespräche nur wenig, zumal allen Politikern verständlicherweise in dieser heißen Phase des Wahlkampfes das erstrebenswerte Mandat ein weit größeres Anliegen war als eine vorläufige Landesverfassung. In der CDU traf ich mit Dr. Gottfried Müller zusammen, dem späteren ersten Präsidenten des Thüringer Landtags, und mit Willibald Böck, dem damaligen Landesvorsitzenden der CDU. In der SPD konnte ich mit dem damaligen hessischen SPD-Aufbauhelfer und späteren Abgeordneten Berthold Klein sowie dem aus Nordrhein-Westfalen angeworbenen SPD-Kandidaten

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für den Posten des Ministerpräsidenten, Friedhelm Farthmann, sprechen, dem damaligen SPD-Fraktionsvorsitzenden im Landtag Nordrhein-Westfalen. Aus dem Neuen Forum standen mir Siegfried Geißler und aus der PDS Klaus Höpcke als Ansprechpartner zur Verfügung, die später ebenfalls ein Mandat im ersten Thüringer Landtag erhalten und in ihren Fraktionen führende Positionen, Höpcke sogar als Fraktionsvorsitzender, einnehmen sollten. In diesen Gesprächen konnte ich zumindest einen ganz wichtigen Konsens in einer Verfahrensfrage erzielen: Unmittelbar nach den Wahlen am 14.10.1990, aber noch vor der konstituierenden Sitzung des Landtags, sollte ein 11-köpfiger „Vorläufiger Ältestenrat“ gebildet werden, der die ersten Sitzungen des Landtags in allen wesentlichen Punkten vorbereiten sollte. Die Parteien sollten mir dafür die ihnen nach dem Wahlergebnis verhältnismäßig zustehenden Mitglieder benennen. Den Vorsitz in diesem Gremium sollte dessen ältestes Mitglied übernehmen. Das sollte der Abgeordnete Siegfried Geißler (NF/GR/DJ) werden, auf dessen Persönlichkeit ich im Zusammenhang mit seiner späteren Funktion als erster Alterspräsident des Thüringer Landtags noch zu sprechen kommen werde. Als weitere Mitglieder dieses Gremiums wurden nach den Wahlen von allen Fraktionen folgende Spitzenpolitiker benannt: Willibald Böck (CDU), Dr. Hans-Peter Häfner (CDU), Johanna Köhler (CDU), Jörg Schwäblein (CDU), Gert Wunderlich (CDU), Andreas Enkelmann (SPD), Irene Ellenberger (SPD), in der 2. Sitzung vertreten durch Dr. Gerd Schuchardt (SPD), Dr. Roland Hahnemann PDS), in der 2 Sitzung vertreten durch Peter Dietl (PDS), Dr. Andreas Kniepert (FDP), Siegfried Geißler (NF/GR/DJ), Christine Grabe (NF/ GR/DJ). Mit diesen Abgeordneten hatte sich bereits unmittelbar nach den Wahlen ein Großteil der politischen Elite der Thüringer Parteien herausgemendelt. Fünf von den elf Mitgliedern des „Vorläufigen Ältestenrats“ wurden später immerhin Fraktionsvorsitzende oder Minister, die übrigen schafften es wenigstens in die Vorstände ihrer Fraktionen. Diese hochkarätige Besetzung des „Vorläufigen Ältestenrats“ hatte den unschätzbaren Vorteil, dass die dort vor- und abgesprochenen Festlegungen in den anschließenden offiziellen parlamentarischen Beratungen Bestand haben sollten. Ich bereitete die Sitzungen des Gremiums förmlich und inhaltlich vor und nahm auf dessen Beratungen und Beschlussfassungen maßgeblichen Einfluss. Diese anfänglich starke Stellung der parlamentserfahrenen Aufbauhelfer gegenüber den parlamentarischen Laienspielern der ersten Stunde, die allenfalls als Volkskammerabgeordnete gewisse Erfahrungen im parlamentarischen Getriebe gesammelt hatten, sollten sich jedoch bald, spätestens nach einem bis anderthalb Jahren – zum Teil sogar dramatisch – relativieren. Einflussnahmen des Landtagsdirektors und seiner Verwaltung wurden mit zunehmendem Selbstbewusstsein der Abgeordneten äußerst kritisch zur Kenntnis genommen und oft sogar als anmaßende Manipulationsversuche empfunden und zurückgewiesen. Mit meinem ersten quasi Ausschussvorsitzenden Siegfried Geißler und auch den Mitgliedern des „Vorläufigen Ältestenrats“ ergaben sich damals allerdings keine Span-

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nungen, ganz im Gegenteil. Man war dankbar für meine Initiativen, schätzte meine Kompetenz und Erfahrung und vertraute darauf, dass man mit meiner Hilfe die konstituierende Sitzung des Landtags und die weiteren parlamentarischen Hürden erfolgreich und mit Anstand im Lichte der Öffentlichkeit meistern würde. Das sollte dann auch der Fall sein. Der „Vorläufige Ältestenrat“ tagte insgesamt nur zweimal. Der Entwurf der Vorläufigen Landessatzung wurde von ihm in seiner zweiten Sitzung am 22.10.1990 erstmalig beraten. Dabei wurde er zwar formal in fünf Punkten verändert, inhaltlich wesentliche Bedeutung hatte jedoch nur die Regelung über ein Misstrauensvotum des Landtags mit einer Rücktrittspflicht der Regierung: Ein derartiges Misstrauensvotum sollte – entgegen dem ersten Entwurf – nicht gegenüber jedem Mitglied der Regierung, sondern nur gegenüber der Regierung als Ganzes ausgesprochen werden können. Diese Änderung sollte der Stabilität der Regierung dienen, was in der damaligen Umbruchsituation zweifellos eine richtige Entscheidung war. Der so geänderte Entwurf wurde noch in derselben Sitzung verabschiedet. Mit welcher Mehrheit dies geschah, lässt sich nicht mehr feststellen. Man kam überein, dass er von der CDU- und der FDP-Fraktion in den Landtag eingebracht werden sollte, was noch am Tag darauf, dem 23.10.1990, geschah. Der Gesetzentwurf erhielt die Drucksachennummer 1/3.

Vorbereitung der „Vorläufigen Geschäftsordnung des Landtags“ Der Thüringer Landtag musste in seiner ersten Sitzung nach den ersten Tagesordnungspunkten „Konstituierung des Thüringer Landtags“ und „Feststellung der Tagesordnung“ als nächstes über seine Geschäftsordnung beschließen, um auf dieser normativen Verfahrensordnung seine weitere Arbeit, wie zum Beispiel den nächsten Tagesordnungspunkt, die Wahl des Landtagspräsidenten, vornehmen zu können. Mein Ehrgeiz bestand auch hier darin, dass der Landtag möglichst bereits in der konstituierenden Sitzung eine komplette – wenn auch nur vorläufige – Geschäftsordnung beschließen möge und dies möglichst im breiten Konsens, ohne große kontroverse Debatte. Bei der Erwartungshaltung breiter Bevölkerungsschichten gegenüber den neuen demokratischen Institutionen hätte der parlamentarische Neubeginn mit langen kontroversen Geschäftsordnungsdebatten einen verheerenden, kontraproduktiven Eindruck hinterlassen. Und da den Deutschen eine unausrottbare Sucht nach Disziplin, Ordnung und Konsens zu eigen ist, durfte man antidemokratischen Tendenzen, welche Parlamente in pluralistischen Demokratien als „Quasselbuden“ diskreditieren, keinerlei Vorschub leisten. Die informellen Konsensgespräche sollten ebenfalls in dem zuvor schon beschriebenen „Vorläufigen Ältestenrat“ stattfinden. Ebenso wie für eine Landesverfassung gab es auch für eine Geschäftsordnung vorbereitende Arbeiten im PBA, und zwar in dessen bereits oben erwähnter Arbeits-

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gruppe 15 „Bildung Landtag“. Die Arbeitsgruppe befasste sich in ihrer vierten Sitzung am 11.9.1990 eingehend mit einem ersten Entwurf einer Geschäftsordnung für den Landtag, der nach einer Überarbeitung als zweiter Entwurf verabschiedet wurde. Diese Entwürfe wurden auf der Grundlage der Geschäftsordnungen der Landtage von Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, SchleswigHolstein, des Bundestages und der Geschäftsordnung des Thüringer Landtags vom 1.12.1950 erarbeitet. Nach den Intentionen der Arbeitsgruppe sollte eine ausführliche Geschäftsordnung geschaffen werden, um im Hinblick auf das „entwicklungsbedingt mangelhafte Wissen um eine geordnete parlamentarische Tätigkeit“ dem Abgeordneten eine umfassende Handlungsanweisung zur Verfügung zu stellen, in der möglichst alle Fragen und Probleme geklärt werden sollten. Die normativen Überreglementierungen sollten nach der Vorstellung der Arbeitsgruppe später von Legislaturperiode zu Legislaturperiode kontinuierlich zurückgenommen werden. Aber auch der zweite Entwurf war noch nicht vollständig, sondern wies ausdrücklich eine Reihe offener Fragen und Alternativen auf. Er wurde jedoch vom PBA nicht mehr beraten. Dieser löste sich am 21.9.1990 auf und beauftragte die einzelnen Arbeitsgruppen, ihre Aufgaben selbständig zu Ende zu führen. Dieser Geschäftsordnungsentwurf konnte nach meiner Überzeugung nicht zur Grundlage parlamentarischer Beratungen gemacht werden, weil es erheblicher zeitaufwendiger Beratungen bedurft hätte, ihn an die Vorschriften der Vorläufigen Landessatzung anzupassen, seine Lücken zu ergänzen und seine vielfältigen systematischen und inhaltlichen Mängel zu beseitigen; außerdem barg er reichlich politischen Zündstoff in sich. Für langwierige Geschäftsordnungsberatungen fehlte die nötige Zeit, da der Landtag mit seiner Sach-, insbesondere auch Gesetzgebungsarbeit unverzüglich beginnen wollte, und dafür war eine Geschäftsordnung zwingende Voraussetzung. Wichtig war zudem, mit einer in der Praxis erprobten Geschäftsordnung zu beginnen, die zumindest von einigen Beratern des Landtags von Beginn an souverän beherrscht wurde. Es waren somit gänzlich pragmatische Gründe, die dazu führten, dass ich den Entwurf einer Geschäftsordnung erarbeitete, der sich verständlicherweise eng an die Geschäftsordnung des rheinland-pfälzischen Landtags anlehnte und nur in einigen Vorschriften Anpassungen an die Vorläufige Landessatzung und die spezifischen Bedingungen der thüringischen Aufbausituation enthielt. Der Rückgriff auf die Geschäftsordnung eines westdeutschen Landes erschien den ansonsten sehr auf ihre Eigenständigkeit bedachten Thüringer Abgeordneten vertretbar, weil es sich bei der Geschäftsordnung des rheinland-pfälzischen Landtags durchaus nicht um ein spezifisches Eigenprodukt handelte. Vielmehr lässt sich diese Geschäftsordnung, wie auch die Geschäftsordnungen der übrigen Landtage der alten Länder, in ihrer Grundstruktur auf die Geschäftsordnung des Bundestages und diese wiederum auf die des Deutschen Reichstages zurückführen, womit sie – von gewissen Besonderheiten abgesehen – weitgehend ein gemeindeutsches Parlamentsrecht verkörpert. Ich legte allen Mitgliedern des Vorläufigen Ältestenrats einen Tag vor dessen erster Sitzung, somit am 17.10.1990, diesen 125 Paragrafen umfassenden Geschäftsord-

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nungsentwurf (E-GO) vor. Er stand dann auch bereits in der ersten Sitzung dieses Gremiums am 18.10.1990 auf der Tagesordnung. Die Beratungen waren relativ intensiv, insgesamt wurden allein 29 Änderungen erörtert. In der zweiten Sitzung des Vorläufigen Ältestenrats am 22.10.1990, also drei Tage vor der konstituierenden Sitzung des Thüringer Landtags, wurde der Geschäftsordnungsentwurf abschließend beraten. Gegenüber dem von mir vorgelegten Entwurf wurden nur elf politisch unbedeutende Änderungen vorgenommen, von denen allenfalls zwei erwähnenswert sind:

– Die Wahlen zum Vorstand sollten – wie allgemein üblich – nicht nur geheim, sondern auch ohne Aussprache durchgeführt werden (§ 2 Absatz 1 E-GO). – Das Minderheitenrecht zur Erzwingung von Anhörungen in den Ausschüssen sollte nicht bei einem Viertel, sondern bei einem Drittel der Ausschussmitglieder liegen (§ 78 Abs 1 E-GO).

Die Fraktionen von CDU, SPD und FDP erklärten sich bereit, den Entwurf in die konstituierende Sitzung des Landtags einzubringen. Das geschah am 15.10.1990 mit der Drucksache 1/2. Nachdem über die Entwürfe zur Vorläufigen Geschäftsordnung und zur Vorläufigen Verfassung im politischen Vorfeld der konstituierenden Sitzung ein so breiter Konsens erzielt werden konnte, fiel mir ein riesiger Stein vom Herzen. Damit schienen ganz wesentliche Voraussetzungen für einen erfolgreichen Start des Thüringer Landtags geschaffen, und zwar in angemessenem Rahmen, ohne nervende Debatten oder etwaige Eklats.

Vorklärungen im Vorfeld der konstituierenden Sitzung Der Name des Landtags Wie sollte das „oberste Organ der demokratischen Willensbildung“ (so Artikel 48 Absatz 1 der späteren Verfassung) in Thüringen heißen? Dazu hatte der PBA aufgrund einer entsprechenden Vorlage seiner Arbeitsgruppe „Bildung Landtag“ in seiner achten Sitzung am 24.8.1990 einstimmig die Bezeichnung „Thüringer Landtag“ empfohlen. Dieser Name wurde in der Folgezeit ohne jede kontroverse Diskussion zwar nicht in den Text der Landesverfassung (dort ist immer nur von dem „Landtag“ die Rede), aber in sonstige Rechtsvorschriften, wie zum Beispiel in die „Geschäftsordnung des Thüringer Landtags“ oder in das „Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Abgeordneten des Thüringer Landtags“ sowie in die Drucksachen, Briefköpfe oder Namensschilder des Landtags übernommen. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist die Namensgebung „Thüringer Landtag“ durchaus korrekt. Doch es hätte auch Alternativen gegeben, so zum Beispiel die Bezeichnung „Thüringischer Landtag“. Dementsprechend ist man in den Bundesländern Bremen, Hamburg oder Schleswig-Holstein verfahren. Dort tragen die Landesparla-

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mente offiziell die Namen „Bremische Bürgerschaft“, „Hamburgische Bürgerschaft“ oder „Schleswig-Holsteinischer Landtag“. Eine weitere – ebenfalls korrekte – Namensgebung wäre eine Verbindung des Begriffs Landtag mit dem offiziellen Namen des Bundeslandes, also „Landtag des Freistaates Thüringen“ gewesen, wie dies zum Beispiel in Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland oder Sachsen-Anhalt in entsprechender Weise erfolgt ist. Aber das sollen nur einige rückblickende Randbemerkungen zur Namensgebung sein. Die Bezeichnung „Thüringer Landtag“ ist heute nach 20-jähriger Staatspraxis kein politisch relevantes Thema.

Die Sitzordnung im Landtag Es fehlte ein Konsens über die im Thüringer Landtag – auch später immer wieder umstrittene – Sitzordnung. Auch darüber sollte es vor den Augen der Öffentlichkeit zu Beginn der konstituierenden Sitzung, die im MDR-Fernsehen direkt übertragen wurde, keine kontroverse Geschäftsordnungsdebatte und schon gar keine physische Rangelei geben, indem einzelne Fraktionen schon vor Sitzungsbeginn einfach die von ihnen bevorzugten Plätze besetzen würden, wie dies später zum Beispiel bei der konstituierenden Sitzung des zweiten Thüringer Landtags geschehen sollte. Die SPD-Fraktion beanspruchte, im Plenarsaal ganz links zu sitzen („Es gibt keine Fraktion links neben der SPD“). Denselben Anspruch erhob allerdings auch die PDS. In der ersten Sitzung des „Vorläufigen Ältestenrats“ am 18.10.1990 konnte nach zum Teil heftiger Diskussion auch ein Konsens über die Sitzordnung, und zwar in folgender Weise erzielt werden: Die PDS-Fraktion fand sich schließlich damit ab, zwischen die SPD-Fraktion und die CDU-Fraktion, die mit 43 Abgeordneten den Mittelblock stellte, platziert zu werden. Die FDP-Fraktion (neun Sitze) saß ganz rechts, und die Fraktion NF/GR/DJ (später Bündnis 90/Die Grünen) wurde mit sechs Sitzen aus unumgänglichen räumlichen Gründen – ohne Repräsentanten in der ersten Reihe – hinter die PDS-Fraktion gequetscht.

Der Termin für die konstituierende Sitzung Für die Terminierung (DDR-thüringisch: „Terminisierung“) gab es sowohl rechtliche als auch faktische Vorgaben. Nach § 23 Absatz 2 Ländereinführungsgesetz in Verbindung mit § 2 Länderwahlgesetz mussten sich die Parlamente der neuen Länder spätestens am 14. Tag nach der Wahl am 14.10.1990 konstituieren, somit also spätestens am 28.10.1990. Mein persönlicher Ehrgeiz bestand darin – und insoweit war ich mir mit dem Vorläufigen Ältestenrat völlig einig – dass sich der Thüringer Landtag als erstes Par-

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lament der neuen Länder konstituieren sollte. Bis zu diesem Termin mussten im politischen Vorfeld alle dazu notwendigen Normen, wie insbesondere die Vorläufige Geschäftsordnung und die sonstigen personellen, sachlichen, wie auch die räumlichen Voraussetzungen konsensfähig vorbereitet sein. Das gelang nach den Wahlen am 14. Oktober – wie bereits dargestellt – in einem Rekordtempo von acht Tagen. Dem Landtag lagen zur konstituierenden Sitzung die beschlussreifen Drucksachen mit den Entwürfen zur Vorläufigen Landessatzung und zur Vorläufigen Geschäftsordnung vor. Außerdem waren die wichtigsten in den ersten Sitzungen erforderlichen Personalentscheidungen vorbereitet (Bestimmung des Alterspräsidenten, Wahl des Landtagspräsidenten und der Schriftführer). Die konstituierende Sitzung konnte also rechtzeitig vor dem letztmöglichen Zeitpunkt, dem 28. Oktober, bereits am 25. Oktober stattfinden. Damit hatten wir auch die anderen Parlamente mit knappem zeitlichen Abstand geschlagen. Eine kleine Genugtuung war das schon. Der 25. Oktober wurde vom Vorläufigen Ältestenrat in seiner ersten Sitzung aufgrund vorangegangener informeller Absprachen förmlich bestätigt. Der konstituierenden Sitzung des ersten Thüringer Landtags nach der Wende stand somit nichts mehr im Wege.

9.  Die konstituierende Sitzung und deren Vorbereitung Konstituierung auf geschichtsträchtigem Boden – Im Deutschen Nationaltheater Weimar Zwischen allen am 14.10.1990 in den Thüringer Landtag gewählten Parteien1 bestand Einigkeit, dass die konstituierende Sitzung des Landtags – wie bereits dargestellt –. möglichst schnell und außerdem an einem würdevollen Ort stattfinden sollte. Im Vorläufigen Ältestenrat einigte man sich nicht nur einmütig auf den 25.10.1990 als Termin, sondern auch auf den Ort der konstituierenden Sitzung: das geschichts- und symbolträchtige Deutsche Nationaltheater in Weimar. Im Deutschen Nationaltheater trat die Deutsche Nationalversammlung erstmals am 6.2.1919 zusammen und verabschiedete dort am 11.8.1919 die Weimarer Reichsverfassung (WRV). Die WRV konstituierte die erste parlamentarisch-demokratische Republik, und insofern gab es keinen geeigneteren Ort für den parlamentarischen Neubeginn in Thüringen als eben das Deutsche Nationaltheater.

Abb. 8  Auf dem Weg zur konstituierenden Sitzung des Thüringer Landtags im Deutschen Nationaltheater Weimar am 25.10.1990

Es galt nun, Rahmen und Inhalt der konstituierenden Sitzung so vorzubereiten, dass der Start in die neue parlamentarische Zukunft in Würde und mit ersten zügigen

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Ergebnissen gelingen würde, damit der Landtag sogleich bei den Bürgern Thüringens Achtung und Vertrauen gewinnen konnte. Dieser besonderen prägenden Bedeutung der ersten Sitzung waren sich die Fraktionen und die Landtagsverwaltung voll bewusst. Über die Tagesordnung der konstituierenden Sitzung des Thüringer Landtags konnte auf der Grundlage entsprechender Vorschläge der Landtagsverwaltung im Vorläufigen Ältestenrat ebenfalls schnell und einmütig Einigkeit erzielt werden: TOP 1: Eröffnung durch den Alterspräsidenten TOP 2: Ernennung der jeweils jüngsten Abgeordneten zu vorläufigen Schriftführern und Wahlhelfern TOP 3: Konstituierung durch Namensaufruf und Feststellung der Beschlussfähigkeit TOP 4: Feststellung der Tagesordnung TOP 5: Beschlussfassung über die Vorläufige Geschäftsordnung TOP 6: Wahl des Präsidenten TOP 7: Amtsübernahme und Antrittsrede des Präsidenten TOP 8: Ansprachen von Vertretern der Fraktionen Die einzelnen Tagesordnungspunkte mussten vor der konstitutionellen Sitzung penibel vorbereitet werden, da die meisten Abgeordneten überhaupt noch nie an der Sitzung eines Parlaments und schon gar nicht an dessen Konstituierung teilgenommen hatten. Gewisse Erfahrungen mit einem demokratischen Parlament hatten nur 12 Abgeordnete, die so genannten „Volkskameraden“, die bereits Mitglieder der am 18.3.1990 gewählten demokratischen Volkskammer waren. Diese Erfahrungen durften aber keinesfalls – schon gar nicht in Gänze – in den Thüringer Landtag eingebracht werden; dafür versuchte ich, meinen ganzen Einfluss geltend zu machen. Den Verhandlungen der demokratischen Volkskammer konnte man Spontaneität, Pragmatismus und einen zuweilen hohen Unterhaltungswert nicht absprechen, sie verliefen besonders unter der durchaus geschickten Leitung ihres Vizepräsidenten Reinhard Höppner zwar immer wieder amüsant und extrem pragmatisch ab, oft aber auch derart chaotisch, dass ich mir als Aufbauhelfer geschworen hatte, dass der Thüringer Landtag zumindest in seinen Verfahrensabläufen ein qualifizierteres Niveau erreichen musste als die demokratische Volkskammer. Die viel belächelte und oft sogar gescholtene parlamentarische Laienspielerschar hatte aber auch durchaus sympathische, ja sogar liebenswerte Seiten. Zumindest in einem Punkt waren die ersten ostdeutschen Parlamente den westdeutschen Parlamenten deutlich überlegen: in ihrer pluralistischen Zusammensetzung. Ein Parlament muss zwar aus verfassungsrechtlicher Sicht zum Nachweis seiner demokratischen Legitimation kein genaues Spiegelbild des Volkes abgeben. Aber es ist in einer repräsentativen Demokratie schon problematisch, dass dem Bundestag heute nur noch eine verschwindend geringe Zahl von Arbeitern (im 16. Bundestag, Stand 1.1.2006, gerade einmal drei, somit 0,5 Prozent), als Abgeordnete angehören. Zudem setzt sich

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dieser Bundestag zu 40,2 Prozent aus Angehörigen des Öffentlichen Dienstes zusammen – und zählt man noch die 40 Angestellten von Parteien und Fraktionen hinzu, dann stellt die Fraktion öffentlich Bediensteter knapp 47 Prozent der Abgeordneten2 und darunter befinden sich wiederum in manchen Landesparlamenten bis zu 50 Prozent Lehrer. Die Soziologie der ersten Parlamente im Osten unterschied sich davon grundlegend: der erste Thüringer Landtag ergab nach der Berufszugehörigkeit seiner Abgeordneten ein buntes Bild, das sich wie folgt zusammen setzte: Akademiker

Sonstige

10 Pädagogen

9 Ingenieure

19 Diplomingenieure

2 Ökonomen

4 Humanmediziner

1 Unterstufenlehrer

1 Apotheker

2 Heimerzieher

2 Veterinärmediziner

1 Staatswissenschaftler

4 Theologen

1 Hygieneinspektor

2 Philosophen

1 Student

3 Rechtsanwälte

1 Maler und Grafiker

1 Staatswissenschaftler

8 Facharbeiter

2 Wirtschaftswissenschaftler

8 weitere, beruflich nicht spezifizier-

4 Diplomlandwirte 1 Germanist

bare Abgeordnete

2 Journalisten 1 Sprachmittler 7 Naturwissenschaftler 1 Konzertpianist/Musikpädagoge 1 Dirigent und Komponist

Die schwierigste und wichtigste normative Aufgabe hatten die Abgeordneten und Fraktionen unter maßgeblicher Hilfe der Landtagsverwaltung mit der Erarbeitung des Entwurfs einer Vorläufigen Geschäftsordnung bestens vorbereitet. Sie war schließlich die Grundlage für die weitere Arbeit des Thüringer Landtags. Dazu gab es noch Vorabsprachen zum Verfahren: Der Alterspräsident sollte nach Aufruf dieses Tagesordnungspunktes darauf hinweisen, dass es zwischen den Fraktionen zwar eine weitgehende Einigkeit über die Vorläufige Geschäftsordnung gegeben habe, aber auch abweichende Vorstellungen; sie seien jedoch zurückgestellt worden und würden in die Beratungen zur endgültigen Geschäftsordnung eingebracht. Daher solle auf eine Aussprache verzichtet werden. Ich war sehr gespannt, ob sich alle Fraktionen und Abgeordneten an diese Absprachen auch tatsächlich halten würden. Das kann nämlich in der Regel nur funktionieren, wenn zwischen den maßgeblichen Akteuren der Fraktionen, hier also deren Parlamentarischen Geschäftsführern, ein gewisses Vertrauensverhältnis aufgebaut worden ist – und das braucht Zeit und Erfahrungen, die es

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bisher noch nicht ausreichend gab. Meine Zweifel wurden speziell mit Blick auf die Fraktion NF/GR/DJ genährt. Bei dieser Fraktionsgemeinschaft handelte es sich um eine ziemlich bunte, inhomogene Truppe, die daher fast zwangsläufig später (1992) auseinanderbrechen sollte. Ihr buntester Vogel war Olaf Möller. Er war ein hochintelligenter sympathischer Mensch mit Ideen, Witz, Charme und einer guten Rednergabe, aber sein oft überschäumendes Temperament, seine Lust an Provokationen und eigener Selbstdarstellung machten ihn zuweilen unberechenbar; und das nicht nur für seine Fraktion, sondern auch für mich als Berater des Landtags und später als Landtagsdirektor, sodass ich manchen Strauß mit ihm ausfechten musste – was unserer gegenseitigen stillen Sympathie jedoch keinen Abbruch tat. Weniger Zweifel hatte ich an der Verlässlichkeit der Fraktionen von CDU, SPD und FDP. Sie gaben sich staatstragend und erstrebten parlamentarische Normalität. Gar keine Zweifel hegte ich an der PDS-Fraktion, wenigstens nicht zur damaligen Zeit – und dies aus ganz anderen Gründen. Bei ihr saßen noch die kommunistisch gut geschulten Kader in den Führungspositionen. Da herrschte noch statt pluralistischem Demokratieverständnis kommunistischer Kadergehorsam, den man lange genug gelernt und trainiert hatte. Für meine Arbeit als Landtagsdirektor war es äußerst hilfreich, mich auf das Wort der damaligen PDS-Repräsentanten fast immer verlassen zu können. Diese Verlässlichkeit sollte sich allerdings in den späteren Jahren zunehmend ändern, nachdem in die PDS-Fraktion junge Abgeordnete einzogen, welche die DDR nur noch als Schüler erlebt hatten. Sie wiesen viele Ähnlichkeiten mit den 68er Aktivisten im Westen auf, wie ich sie in meiner Berliner Zeit insbesondere an der Freien Universität erlebt hatte. Meine Zweifel an der Verlässlichkeit der Absprachen zwischen den Fraktionen über das Beratungs- und Abstimmungsverfahren zur Vorläufigen Geschäftsordnung sollten sich jedoch als unbegründet erweisen: Sie wurde ohne Aussprache mit breiter Mehrheit verabschiedet. Bei der Vorbereitung der konstituierenden Sitzung warteten auf die Landtagsverwaltung noch eine ganze Reihe weiterer, zum Teil schwieriger Hausaufgaben: Die Ausgestaltung des Deutschen Nationaltheaters für die Zwecke einer konstituierenden Sitzung eines Parlaments, die Vorbereitung eines anschließenden Empfangs, die Organisation einer passenden musikalischen Einleitung der feierlichen Sitzung und schließlich die Vorbereitung einiger Abgeordneter auf spezifische, gerade in einer konstituierenden Sitzung anfallenden Aufgaben. Zu meiner gelinden Überraschung stellte sich allerdings als erstes im Zusammenhang mit der Einladung zu der konstituierenden Sitzung ein Kompetenzproblem: Wer war dazu legitimiert, die Abgeordneten einzuladen, oder noch genauer: Wessen Name durfte oder sollte unter der Einladung stehen? Ich präferierte den Alterspräsidenten Siegfried Geißler. Dagegen gab es aus den Reihen der CDU-Fraktion Bedenken, die offensichtlich einen gewissen „politischen Futterneid“ zum Hintergrund hatten. Dieser einmalige historische Akt sollte nicht von einem Politiker aus den Reihen der kleinen und etwas chaotischen Fraktion NF/GR/DJ vollzogen werden. Natürlich hatte man für die Argumentation nach außen gleich noch eine juristische Begründung

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parat: Der Alterspräsident sei für diesen wichtigen Staatsakt nicht ausreichend demokratisch legitimiert. Abwegig war diese Argumentation durchaus nicht; daher werden die konstituierenden Sitzungen des Thüringer Landtags nach heute geltendem Geschäftsordnungsrecht nicht vom Alterspräsidenten des neuen Landtags, sondern vom Präsidenten des alten Landtags einberufen (§ 1 Abs. 1, S. 2 Geschäftsordnung). Aber den gab es beim „Urknall“ des Thüringer Landtags nach der Wende nun einmal nicht. Alternativ kam der Regierungsbeauftragte Josef Duchač (CDU) in Betracht, zumal er die Aufgabe hatte, den Aufbau der Landesinstitutionen – und somit auch des Thüringer Landtags – vorzubereiten. Es musste ein Kompromiss gefunden werden. Und wie kann dieser aussehen, wenn sich zwei um eine Kompetenz streiten? Man beteiligt beide. So einigte man sich auf folgenden Kompromiss: Der Regierungsbevollmächtigte ersuchte in einem offiziellen Schreiben den Alterspräsidenten, die Abgeordneten zur konstituierenden Sitzung einzuladen. So geschah es dann auch. Die Umwandlung des großen Theatersaals im Deutschen Nationaltheater in einen Plenarsaal schuf, mit einer Ausnahme, wenig Probleme: Die Abgeordneten wurden im Parkett platziert, deren Angehörige und sonstige Zuhörer im ersten Rang, denn sie vermittelten die für Parlamentssitzungen zwingend vorgeschriebene Öffentlichkeit. Für die Presse wurden vorrangig spezielle Arbeitsplätze und -möglichkeiten geschaffen. Auf die Bühne kam ein Stehpult mit Mikrofon für die Redner und ein Tisch für das Präsidium, dahinter ein weiterer Tisch für mich als ihm zur Seite stehendem Aufbauhelfer sowie für einen weiteren Mitarbeiter. Wie auch später im Plenarsaal in Erfurt habe ich großen Wert darauf gelegt, dass die Landtagsverwaltung immer in unmittelbarer Flüsterweite hinter dem Sitzungsvorstand platziert wurde, damit es möglichst nicht auffallen sollte, wenn der amtierende Präsident von der Landtagsverwaltung korrigiert wird oder er sich von dort Rat holt. Um im Bild des Theaters zu bleiben: Eine Parlamentsverwaltung agiert nicht auf der Bühne, sondern schiebt im Hintergrund möglichst unsichtbar die Kulissen.3 Die Landtagsverwaltung war selbstverständlich immer darum bemüht, jeden Landtagspräsidenten bestmöglich auf den üblichen, voraussehbaren Ablauf einer Parlamentssitzung vorzubereiten. Das geschah durch einen schriftlichen Rollenplan, der von den Eröffnungsworten über den Aufruf jedes Tagesordnungspunktes und dessen voraussichtlichen Beratungsverlauf bis zur abschließenden Bekanntgabe der nächsten Sitzung wortwörtlich jeden verfahrensleitenden Beitrag des Landtagspräsidenten als Empfehlung antizipierte. Mancher Landtagspräsident hielt sich daran sklavisch, mancher agierte souverän. Aber da der Ablauf von Plenarsitzungen niemals exakt im Voraus geplant werden kann, galt es, auf veränderte Situationen – mit oder ohne Hilfe der Berater – schnell zu reagieren. In der ersten Legislaturperiode gelang das dem Landtagspräsidenten Gottfried Müller und den Vizepräsidenten Peter Backhaus und insbesondere Peter Friedrich oft mit viel Witz, Sachkunde und erstaunlicher Souveränität, manches Mal zur großen Gaudi der Versammelten.

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Probleme bei der Vorbereitung – Die Fahne, das Buffet, die   musikalische Umrahmung Bei der Einrichtung des Plenarsaals im Deutschen Nationaltheater gab es für mich ein peinliches Problem zu lösen. Es verstand sich von selbst, dass auf der Bühne neben dem Tisch des Vorstands drei Fahnen aufgepflanzt werden mussten: Die Europa-, die Deutschland- und die Thüringenfahne; sie sollten jeweils an Fahnenmasten senkrecht hängen. Die Europa- und die Deutschlandflagge waren uns selbstverständlich bekannt und standen uns zur Verfügung. Hatte aber das Bundesland Thüringen überhaupt schon eine Landesflagge und wie sah sie aus? In Thüringen flatterten unmittelbar nach der Wende an Gebäuden, insbesondere aber an Autos, weiß-rote Fahnen des neuen Bundeslandes. Hierin kam unübersehbar zum Ausdruck, dass Thüringen von seinen Bürgern als neues Bundesland angenommen wurde und dass man sich auf alte Traditionen besann: Nach der Gründung des Freistaats Thüringen im Jahr 1920 wurde in § 2 des „Gesetzes über Wappen und Landesfarben Thüringens“ festgelegt: „Die Landesfarben sind weiß-rot.“4. Die Landesfarben weiß-rot erlangten unmittelbar nach der Wende in einem informellen plebiszitären Prozess quasi Normativität, die vom Gesetzgeber 19915 und vom Verfassungsgeber in Art. 44 Abs. 2 S. 1 ThürLV verfassungsrechtlich normativ bestätigt wurde. Wir fühlten uns trotz fehlender rechtlicher Vorgaben aufgrund dieses Quasiplebiszits für weiß-rot dazu legitimiert, zur Feier der Konstituierung des Landtags eine weiß-rote Fahne zu hissen. Allerdings blieb noch die Frage offen, ob mit oder ohne Wappen. Über die Form und farbliche Gestaltung des Landeswappens gab es nämlich eine heftige kontroverse Debatte: Sollte man einen rotsilber gestreiften oder den goldenen „hessischen“ Löwen in das Wappen aufnehmen?6 Letztlich entschied sich der Gesetzgeber mit § 1 des „Gesetzes über die Hoheitszeichen des Landes Thüringen“ vom 30.01.1991 (GVBl. S. 1) für den „aufrecht stehenden, achtfach rot-silber gestreiften, goldgekrönten und goldbewehrten Löwen auf blauem Grund, umgeben von acht silbernen Sternen“. Dieses Wappen wurde später verfassungsrechtlich bestätigt (Art. 44 Abs. 2, S. 2). Im Hinblick auf die zum Zeitpunkt der Konstituierung des Landtags noch heftig geführte Kontroverse um das Wappen beschlossen wir, eine Landesflagge ohne Wappen zu hissen. Die Landtagsverwaltung erhielt im Übrigen von privaten Fahnenherstellern damals ständig Anfragen, wie denn nun die Landesflagge und das Landeswappen künftig aussehen würden, damit man sich bei der Produktion der von den Thüringern vielbegehrten entsprechenden Staatssymbole darauf einstellen konnte. Doch mit der Entscheidung, eine Flagge in den Farben weiß und rot zu hissen, blieb ein Problem immer noch ungelöst. Die Preisfrage war: weiß links und rot rechts oder umgekehrt? Ich wusste es zu meiner Schande nicht, war aber etwas getröstet, dass meine thüringischen Mitarbeiter es auch nicht wussten und auch nicht auf die Schnelle klären konnten. So musste eine pragmatische Lösung herbeigeführt werden. Ich habe den hängenden Fahnenstoff mehrfach vertörnt, so dass man nicht mehr erkennen konnte, ob die Fahne mit weiß links und rot rechts (wie es richtig gewesen wäre) senkrecht hing.

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Den Vorschlag für das sich an die konstituierende Sitzung anschließende Buffet mit den Getränken ließ ich mir vorher sicherheitshalber zeigen. Die Pausenschnittchen in der Gastronomie des Deutschen Nationaltheaters mit Käsescheibletten, die sich am Rande pappiger Toastbrotscheiben bräunlich kringelten, waren mir anlässlich meines ersten Theaterbesuchs Warnung genug. Auch der heute zum Teil hervorragende thüringische Wein war damals kaum genießbar (doch dazu später im Zusammenhang mit dem Empfang zur Verabschiedung der Landesverfassung Näheres). Bei dem Angebot von Schnittchen fielen mir sofort die „Kaviar-Häppchen“ in den Blick. Diese auch schon damals sehr teure Delikatesse empfand ich im Hinblick auf den allgemeinen Lebensstandard in den neuen Ländern geradezu als eine Provokation und als sparsamer Haushälter völlig überzogen. Oder sollte es sich vielleicht um alte Bestände aus dem Weimarer Offizierskasino der Sowjettruppen handeln, die bei ihrem Abzug aus Deutschland vergessen worden waren? Nichts von alledem. Meine Aufregung war völlig überflüssig: Es handelte sich nämlich nicht um den extrem teuren Kaviar vom Stör, sondern um den schwarz gefärbten preiswerten Rogen des Seehasen, missverständlich zumeist als „Deutscher Kaviar“ bezeichnet. Diese Delikatesse war vertretbar. Die feierliche konstituierende Sitzung sollte natürlich musikalisch umrahmt werden. Zum Abschluss sollte die dritte Strophe des Deutschlandlieds gesungen werden, die damals noch nicht die offizielle Nationalhymne war – das wurde sie erst 1991, aber nur sie wurde aufgrund eines Schriftwechsels zwischen dem damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer und dem Bundespräsidenten Theodor Heuss aus dem Jahr 1952 bei offiziellen Anlässen gesungen. Mit welchem Orchester aber sollte die Sitzung eingeleitet und welches Stück sollte gespielt werden? Die erste Frage war schnell und eindeutig entschieden: Dafür kam nur „das Hausorchester“ des Deutschen Nationaltheaters in Betracht, die herausragende Staatskapelle Weimar, das einzige thüringische A-Orchester. Zur Beratung und Entscheidung der zweiten Frage bedurfte es nicht des westdeutschen Aufbauhelfers, der zwar ein Freund klassischer Musik war und ist, der es aber musikalisch gerade einmal so weit gebracht hatte, dass er zu Weihnachten im Familienkreis mehr schlecht als recht Lieder mit der Blockflöte intonieren konnte. Konnte man sich einen qualifizierteren Experten wünschen als den Vorsitzenden des Vorläufigen Ältestenrats und späteren Alterspräsidenten, den Abgeordneten Siegfried Geißler? Geißler war bis 1980 in Suhl Chef der von ihm aufgebauten Thüringen-Philharmonie und danach freischaffender Komponist. So war es vorgezeichnet, dass er die Fäden in die Hand nahm. Die Auswahl des Eröffnungsstücks sollte dennoch einige Probleme bereiten. Wie konnte es bei den manchmal sogar übertrieben patriotischen Thüringern auch anders sein; das Stück musste von einem thüringischen Komponisten stammen, zumindest aber einem, der mit Thüringen eng verbunden war. Klar, dass man zuerst an Johann Sebastian Bach dachte, der 1685 in Eisenach geboren wurde und seine Jugend und erste Schaffensperiode bis 1717 (mit einer Zwischenstation von 1700 bis Ostern 1702 in Lüneburg) in den thüringischen Städten Ohrdruf, Weimar, Arnstadt und Mühlhausen verbracht hatte. Er wird, trotz seiner großen Schaffensperiode in

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Sachsen, von den Thüringern als einer der ihren und – natürlich neben Goethe – als bedeutendster Sohn Thüringens vereinnahmt. Doch welches Pech: Es gab nichts von Bach im aktuellen Repertoire der Staatskapelle – und für ausgiebige Proben reichte der enge Zeitrahmen nicht aus. Als Alternative wurde Franz Liszt präferiert, der von 1847 bis 1861 in Weimar lebte und bis 1859 als Hofkapellmeister am Deutschen Nationaltheater wirkte. Liszts sinfonische Dichtung „Les Préludes“ aus dem Jahr 1854 bot sich aus musikalischer Sicht mit ihren Fanfaren anlassbezogen als hervorragend geeignet an. Aber dieses Werk war als so genannte „Russland-Fanfare“ durch die Nazis politisch diskreditiert, da sie vor jeder Rundfunkmeldung über den Russlandfeldzug im Zweiten Weltkrieg erklungen war und somit die Gefahr bestand, dass damit völlig unbeabsichtigt Assoziationen und Kontroversen ausgelöst würden. Ähnliches traf auf die „Tannhäuser-Ouvertüre“ von Richard Wagner zu, zumal Wagners Verbindung zu Thüringen nur sehr locker war: durch Besuche bei Liszt in Weimar und die Einbeziehung von Thüringens bedeutsamstem Wahrzeichen, der Wartburg, in sein musikalisches Ouevre. So einigte man sich schließlich mit dem Generalmusikdirektor der Staatskapelle, Hans-Peter Frank, auf Beethovens „Egmont-Ouvertüre“. Beethoven hatte zwar nie einen Fuß auf Thüringer Boden gesetzt, aber er war politisch unverdächtig. Außerdem verkörpert die Egmont-Ouvertüre Programmmusik zum Trauerspiel des größten – vereinnahmten – Thüringers, Johann Wolfgang von Goethe, und damit war immerhin ein, wenn auch sehr mittelbarer, Bezug zu Thüringen hergestellt. Viel wichtiger aber war, dass die Ouvertüre inhaltlich ganz vorzüglich zur Vorgeschichte und zum Anlass dieses Tages passte. „Beethoven schildert nämlich in seiner Ouvertüre nicht Egmonts Einzelschicksal, sondern malt in großen Zügen das Leiden des Volkes (die langsame, schwere Einleitung) und den Kampf gegen die Bedrücker (das leidenschaftlich bewegte Allegro). Dieser Hauptteil der Ouvertüre schließt hart und kämpferisch ab; aus den zarten Klängen der Holzbläser steigt dann in den Streichern ein Siegesjubel auf, der in strahlendem Glanz die Verklärung des Heldentodes symbolisiert und gleichzeitig auf die spätere Befreiung vom Joch der Bedrücker hindeutet.“7 Zusätzlich gab es einen ganz pragmatischen Gesichtspunkt bei der Entscheidung für die Egmont-Ouvertüre: Die Staatskapelle hatte die Egmont-Ouvertüre „drauf“. Sie konnte ohne zeitverzögernde Proben zur konstituierenden Sitzung dargeboten werden. Diese Fähigkeit zur Improvisation sollte auch später eine der wichtigsten Voraussetzungen bleiben, um seitens der Fraktionen und der Verwaltung die immensen Schwierigkeiten in der Anlaufphase des Parlamentarismus in Thüringen meistern zu können. Weitere wichtige Vorbereitungen für die konstituierende Sitzung, die noch abschließend erwähnt werden sollen, bestanden darin, alle Akteure dieser Sitzung auf ihren darin absehbaren Part vorzubereiten. Das begann mit dem Alterspräsidenten. Einer musste schließlich die Sitzung eröffnen und sie bis zur Übernahme der Amtsgeschäfte durch den gewählten ersten Landtagspräsidenten leiten. Die Bestimmung eines Alterspräsidenten erfolgt in den Parlamenten immer nach denselben Regeln, so auch in diesem Fall. Bereits in Vorbereitung der Sitzung wird zwischen dem Lan-

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deswahlleiter, der als erster im Besitz der persönlichen Daten aller Abgeordneten ist, und der Landtagsverwaltung abgeklärt, wer der älteste Abgeordnete ist. Das war der bereits erwähnte Siegfried Geißler. Er musste über diese Tatsache nicht benachrichtigt werden, denn er wusste es schon, schließlich hatte ihm bereits sein Alter die Legitimation für den Vorsitz im Vorläufigen Ältestenrat verschafft. Aber er musste über das Ritual informiert werden, wie er sich seine Legitimation als Alterspräsident zu verschaffen hatte: auf der Bühne an das Mikrofon zu treten und dem Plenum bekannt zu geben, wann er geboren sei, wie alt er folglich sei und ob sich jemand unter den Abgeordneten befinde, der älter sei, was natürlich, wie die vorherigen Recherchen ergeben hatten, nicht der Fall war. Damit setzt sich ein Alterspräsident selbst „die Krone auf“. Es ist eine in der Demokratie gänzlich ungewöhnliche, geradezu archaische Form der Legitimation, für die es bei der Bestellung demokratischer Amtsträger keine Parallelen gibt. Aber wie sollte man in der Stunde Null sonst beginnen? Folglich wurde dieses Verfahren vom Vorläufigen Ältestenrat zustimmend zur Kenntnis genommen. Dem künftigen Alterspräsidenten wurde auch gesagt, dass und wie er die Sitzung nicht nur zu eröffnen, sondern die jeweils jüngsten Abgeordneten zu vorläufigen Schriftführern und Wahlhelfern zu ernennen habe sowie die Konstituierung durch den Aufruf aller Abgeordneten vornehmen und die Beschlussfähigkeit des Landtags feststellen müsse. So wie in allen Parlamenten üblich, waren diese einzelnen Schritte in einem sogenannten Rollenplan festgehalten, der dem Alterspräsidenten rechtzeitig vor Sitzungsbeginn von der Landtagsverwaltung zugearbeitet wurde. Er brauchte ihn nur wortwörtlich vorzulesen. Der Alterspräsident musste auch eine Eröffnungsrede halten, die natürlich zur Konstituierung des ersten Thüringer Landtags nach der Wende eine besondere Bedeutung hatte und an die einige Erwartungen geknüpft wurden. Einige Alterspräsidenten lassen sich von den Parlamentsverwaltungen Redeentwürfe zuarbeiten, andere verzichten darauf. Es hängt sehr von der Persönlichkeit, dem Format und der Erfahrung eines Alterspräsidenten ab, in welchem Maße er eine Parlamentsverwaltung dafür in Anspruch nimmt. Siegfried Geißler freute sich trotz einer nicht zu verheimlichenden Aufgeregtheit auf seinen Auftritt und er war zu stolz und selbstsicher, als dass er von der Landtagsverwaltung einen Redeentwurf erbeten hätte, obwohl wir ihm die Zuarbeit natürlich angeboten hatten. Diese Rede konnte er schließlich aufgrund seines politischen Lebenswegs selbst viel besser konzipieren als Beamte aus dem Westen. Er war bis kurz vor der Wende Mitglied der SED. Ende September 1989 hatte er sich aber dem Neuen Forum angeschlossen und am 4.12.1989 die Bezirkszentrale der Stasi in Suhl, die sogenannte Burg, mit gestürmt. Danach war er maßgeblich an der Auflösung der dortigen Stasi beteiligt. Siegfried Geißler benötigte auch keine dezenten Hinweise auf eine der Bedeutung des Amtes und des besonderen Anlasses angemessene Kleidung. So ganz abwegig war es nicht, sich in dem Parlament eines neuen Landes auch mit einer parlamentarischen Kleiderordnung zu befassen. Die männlichen Ossis liebten in der Wendezeit sehr

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verbreitet ihre Jeansanzüge oder die beigen Hosen mit grauer Windjacke (Blouson) sowie die grauen Schuhe oder Sandalen. Für vornehme oder offizielle Anlässe waren fliederfarbene Anzüge Favoriten und Renner. Verschlamperte Klamotten, die insbesondere bei der westdeutschen Jugend hoch im Kurs standen, sah man hingegen so gut wie nicht. Die Tage eines Parlamentspräsidenten Dr. Eugen Gerstenmaier mit seinen überaus strengen Maßstäben an die parlamentarische Etikette gehörten allerdings der Vergangenheit an. Er brachte es noch fertig, die Bundestagsabgeordnete Frau von Bothmer 1970 allein deswegen aus dem Plenarsaal zu verweisen, weil sie sich „erdreistet“ hatte, dort in einem Hosenanzug zu erscheinen. Ich hatte es allen meinen Mitarbeitern zur Auflage gemacht, im Plenum und in den Ausschüssen stets in gedecktem Anzug mit Schlips und Kragen bzw. im dezenten Kostüm oder Hosenanzug zu erscheinen. Wie gesagt, Siegfried Geißler benötigte weder Vorgaben noch dezente Hinweise zur Kleiderordnung. Er präsidierte in seiner früheren Berufskleidung, einem schwarzen Dirigentenrock. Dieser Aufzug verlieh ihm eine beeindruckend feierliche Würde, außerdem beflügelte er lebhafte Assoziationen zwischen den Funktionen eines Dirigenten und eines Parlamentspräsidenten. Mit der Einweisung der Schriftführer in ihre Arbeit als Gehilfen des Alterspräsidenten und des späteren Präsidenten bei der Führung einer Rednerliste und der Registrierung von Redezeiten sowie als Wahlhelfer beim Einsammeln und Zählen der Stimmen (unter Mithilfe der Landtagsverwaltung) sollten eigentlich alle Vorbereitungen abgeschlossen sein. Doch dann platzte mir am Vorabend der Plenarsitzung eine ziemliche Überraschung ins Haus. Gegen jeden parlamentarischen Brauch signalisierte die sechsköpfige Fraktion von NF/GR/DJ zum Tagesordnungspunkt 6, der Wahl des Präsidenten, ihr Fraktionsmitglied Siegfried Geißler ins Rennen schicken zu wollen. Die CDU-Fraktion hatte zuvor bereits angekündigt, als stärkste Fraktion ihr Mitglied Gottfried Müller vorzuschlagen. Es sollte also zu einer Kampfkandidatur zwischen Gottfried Müller und Siegfried Geißler kommen. Eine derartige Kampfkandidatur ist nach parlamentarischem Brauch die absolute Ausnahme. Üblicherweise schlägt die stärkste Fraktion den Präsidenten vor, der dann in aller Regel nicht nur mit den Stimmen der Mehrheitsfraktion, sondern auch mit Stimmen aus den Reihen der Oppositionsfraktionen gewählt wird; zumindest enthalten sie sich der Stimme, Gegenstimmen sind die seltene Ausnahme. Selbst wenn die größte Fraktion nicht die absolute Mehrheit hat und die anderen Fraktionen mit ihrer absoluten Mehrheit eine Regierung bilden wollen, respektieren sie es, dass die stärkste Fraktion den Präsidenten stellt. Ich neige dazu, dass es sich hierbei nicht nur um einen parlamentarischen Brauch ohne rechtsverbindliche Wirkung, sondern sogar um verbindliches Recht, nämlich um den seltenen Fall von verfassungsrechtlichem Gewohnheitsrecht handelt. Dessen Voraussetzungen, nämlich eine lang andauernde tatsächliche Übung und die Überzeugung, damit bestehendes Recht zu befolgen, lagen meines Erachtens nach vor. Doch ich hielt meine Meinung zurück und plädierte nicht für die verfassungsrechtliche Unzulässigkeit des Wahlvorschlags der Fraktion NF/GR/DJ. Dazu bewogen mich

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zwei Gründe: Meine Rechtsauffassung war eine Einzelmeinung und von einer allgemeinen oder herrschenden Meinung konnte man nicht ausgehen. Außerdem wurde der Gegenvorschlag mit einem gerade in der Wendezeit mir äußerst sympathischen Argument begründet: „Wir präsentieren einen Gegenkandidaten, damit die Wahl wirklich zu einer Wahl wird.“8 Meine verfassungsrechtliche Gegenposition hätte in jener Zeit politisch den Geruch von mangelnder demokratischer Pluralität gehabt oder einer Gängelung eines freien Parlaments durch bürokratische Juristen der Landtagsverwaltung. Die Gegenkandidatur von Siegfried Geißler um das Präsidentenamt brachte allerdings unsere perfekten Vorbereitungen der konstituierenden Sitzung in einem Punkt arg ins Wanken. Für mich war das wieder einmal ein treffliches Beispiel dafür, dass das Parlament aufgrund seiner pluralistischen Struktur und oftmals kaum planbaren Dynamik immer wieder für unvorhersehbare Überraschungen gut ist, auf die es – dann auch für die Landtagsverwaltung – gilt, sehr schnell und mit Fantasie zu reagieren. Die Kandidatur von Siegfried Geißler hatte nämlich zur Folge, dass er als Alterspräsident die Wahl des Präsidenten nicht mehr leiten konnte. Auch dazu gibt es zwar keine ausdrückliche Rechtsvorschrift, dafür aber sprechen allgemeine Inkompatibilitätserwägungen. An der Neutralität des Wahlleiters in einem objektiven, durch keinerlei eigennützige Interessen beeinflussten Wahlverfahren dürfen keine Zweifel aufkommen, nicht einmal der böse Schein. Hierüber gab es allgemeinen Konsens – auch mit Geißler selbst – der allerdings sogleich bei der CDU-Fraktion ins Wanken kam, als sie vernehmen musste, wer Geißler als Alterspräsident zu Tagesordnungspunkt 6, der Wahl des Präsidenten, nachfolgen sollte: Es war der Abgeordnete Klaus Höpcke aus der PDS-Fraktion, von 1973 bis 1989 stellvertretender Minister für Kultur in der DDR, zuständig für Verlage und Buchhandel. In dieser Funktion war er auch oberster Zensor der DDR. Sofort gab es die ersten unkeuschen Überlegungen innerhalb der CDU-Fraktion und deren Ansinnen an mich, diese Nachfolge mit Klaus Höpcke zu verhindern. Ich bin selten um Ideen verlegen, wenn es gilt, eine Kuh vom Eis zu bringen. In diesem Fall sperrte ich mich aber aus prinzipiellen Gründen dagegen. Nicht politische Opportunität, sondern das Recht sollte regieren. Außerdem wollte ich gleich zu Beginn keine Zweifel über die neutrale, sachbezogene Funktion einer Landtagsverwaltung aufkommen lassen. Deren Rechtsbindung und Neutralität verboten es ihr, sich an rechtlich unzulässigen, zumindest aber problematischen Manipulationen zu beteiligen. Die Landtagsverwaltung war allen Fraktionen in gleicher Weise zur Loyalität verpflichtet. Bei der Führung der CDU-Fraktion stieß ich mit dieser Einstellung erstmals – zahlreiche weitere Kontroversen sollten folgen – auf wenig Verständnis. Es ist offensichtlich Schicksal und Last aller Parlamentsdirektoren, sofern sie einer Partei angehören und mit der Zustimmung der gleichfarbigen Parlamentsfraktion ins Amt gekommen sind, dass von diesen eigennützige Erwartungen gegenüber „ihren“ Parlamentsdirektoren gehegt werden. Im schlimmsten Fall wünschen sie ihn sich als willfährigen Helfershelfer ihrer eigenen Politik: Er soll als Jurist helfen, politisches Ungemach von der Fraktion abzuwenden und sie mit juristischen Gutachten und

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Argumenten gegen den politischen Gegner zu munitionieren. In der Nachwendezeit war eine derartige Erwartungshaltung, gerade bei einer Fraktion wie der CDU, teilweise noch stark ausgeprägt. Ihr gehörten nicht nur zahlreiche ehemalige Mitglieder der Blockpartei CDU an, die sich durch den Eintritt in die Ost-CDU nicht nur unter anderem dem Zugriff der SED zu entziehen versucht hatten, sondern auch Mitglieder, die auf Funktionärsebene den Sozialismus vollmundig gepriesen hatten. Das galt in besonderem Maße auch für die von der CDU vereinnahmten Mitglieder der Bauernpartei. Nach dem Verständnis dieser „Blockflöten“ hatten Parteimitglieder Vorgaben der Partei umzusetzen. Der trotz Parteibuch dem Staat loyal dienende Beamte war ihnen noch ziemlich fremd. Erschwerend kam hinzu, dass das politische Klima im Thüringer Landtag zwischen Teilen der CDU-Fraktion und Teilen der Fraktion der PDS geradezu hoffnungslos vergiftet war. Redner der PDS wurden mit unflätigen Injurien bedacht, und das Missachten ihnen gegenüber gipfelte darin, dass der „Stahlhelmflügel“ der CDU den Plenarsaal verließ, wenn zum Beispiel der PDS-Abgeordnete Klaus Höpcke das Rednerpult betrat. Diesem „Stahlhelmflügel“ der CDU gehörten entschiedene Gegner des Kommunismus mit teilweise leidvollen Erfahrungen in der DDR-Diktatur an. Zu dieser Gruppe zählten aber auch Mitglieder der ehemaligen Block-CDU, die unter dem SED-Regime durchaus eine gewisse politische Karriere gemacht hatten oder auf dem Weg dorthin waren und sogar auch solche, die eine wundersame Wandlung von wohlwollenden Verteidigern des SED-Regimes zu unnachsichtigen aggressiven Kämpfern gegen alle SED-nahen Tendenzen und Personen vollzogen hatten. Zu letzteren zählt auch mein schon mehrfach angesprochener „Freund“ Jörg Schwäblein, der damalige CDU-Fraktionsvorsitzende. Er wurde bereits 1986 Nachfolgekandidat für den Bezirkstag Erfurt, dem er dann vom 6.12.1989 als Vollmitglied angehörte. Beleg für seine frühere wohlwollende Einstellung zur SED ist sein Auftritt auf der großen Versammlung des Neuen Forums mit anderen oppositionellen Gruppen, insbesondere dem Demokratischen Aufbruch, in der Erfurter Augustinerkirche am 26.9.1989 mit ca. 1000 Teilnehmern. Dort soll er noch den Führungsanspruch der SED und Segnungen des SED-Staates verteidigt haben. Ich hatte über diesen Vorgang von verschiedenen Seiten Kenntnis erhalten. Dazu gibt es auch eine sog. „ Rückflußinformation“ der Stasi vom 27.9.1989 (Tagebuch Nr. 563/89). Dieses Dokument ist mir auf meine Bitte von dem Erfurter Freiheitsarchiv zur Verwendung überlassen worden. Es handelt sich dabei um einen Bericht „ zur politisch-operativen Lage unter feindlichnegativen Kräften im Verantwortungsbereich der BV Erfurt im Zusammenhang mit den gegenwärtig republikweit durchgeführten feindlich-negativen Aktivitäten zur Schaffung sog. Sammlungsbewegungen politisch-oppositionell eingestellter Personen“, der die Unterschrift des Chefs der Bezirksverwaltung des MfS, Generalmajor Josef Schwarz trägt. Derartige Berichte sind nicht gleichzusetzen mit Berichten einzelner Hauptamtlicher oder Informeller Mitarbeiter der Stasi, vielmehr liegen ihnen Recherchen auf der Grundlage mehrerer aufgearbeiteter Quellen zu Grunde, die nach Expertenmeinung einen relativ hohen Wahrheitsgehalt besitzen. In diesem Doku-

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ment heißt es zu der Wortmeldung von Jörg Schwäblein u.a. wörtlich: „Seiner Ansicht nach müssten mehr Möglichkeiten für eine breite Diskussion über anstehende Probleme in unserer Gesellschaft geschaffen werden. Dennoch sei er nicht der Ansicht seiner Vorredner, die die führende Rolle der SED in Frage stellten. Dabei verwies er auf das in 14 Jahren DDR geschaffene, was ohne führende Rolle der Partei nicht möglich gewesen wäre.“ Diese Intervention löste in dem oppositionellen Publikum einigen Unmut aus. Da Schwäblein auch noch mit einer Lederjacke bekleidet auftrat, vermuteten einige Zuhörer – allerdings zu Unrecht –, dass er ein Mann der Stasi war und brachten dies auch zum Ausdruck. Es verwundert schon sehr, dass es gerade Schwäblein war, der nach der Wende im Thüringer Landtag gegenüber Mitgliedern der SED- Nachfolgepartei nach Form und Inhalt oft maßlose Attacken ritt. Wollte er damit regimenahe Auftritte wie am 26.9.1989 in der Augustiner Kirche vor ca. 1000 Zeugen vergessen machen oder verdrängen, wie dies bei so manchem Wendehals der Fall war? Rückblickend noch ein persönliches Wort zu Klaus Höpcke: Ich habe ihn zu Beginn meiner Tätigkeit im Thüringer Landtag als Fraktionsvorsitzenden der PDS erlebt und mit ihm vielfältigen dienstlichen Kontakt gehabt. Er war für mich – auch was ich von und über ihn zusätzlich gelesen und gehört habe – eine äußerst zwiespältige und schillernde Persönlichkeit: intelligent, mit guten Manieren ausgestattet, gebildet und ein Mann von Kultur. Aber da gab es auch den unsäglichen kommunistischen Funktionär, besonders während der 60er Jahren in Leipzig. Zwiespältig ist er auch in seiner Funktion als Zensor zu beurteilen. Doch selbst oppositionelle Literaten berichten von wundersamen Einzelfällen relativ großzügiger Liberalität. Ein Beispiel war 1985 seine Genehmigung für die Veröffentlichung von Volker Brauns „Hinze-Kunze-Roman“, ein anderes die Unterstützung einer Protestresolution des PEN-Zentrums der DDR gegen die Verhaftung von Vaclav Havel in Prag. Ich selbst wollte meinen Augen nach einer Lesung von Günter Kunert im Deutschen Nationaltheater nicht trauen, als ich zufällig beobachtet hatte, wie Höpcke und Kunert in einem Lokal zusammentrafen und es ein freudiges Hallo gab. Beide lagen sich zur Begrüßung freundschaftlich in den Armen, Küsschen links und Küsschen rechts. Der Oberzensor Höpcke und der Schriftsteller Kunert Arm in Arm. Das überraschte schon sehr. Kunert kam wegen seiner regimekritischen Haltung mehrfach mit dem DDR-Regime über Kreuz. 1976 gehörte er zu den Erstunterzeichnern der Petition gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann. Daraufhin wurde er aus der SED ausgeschlossen. 1979 verließ er schließlich entnervt die DDR und ließ sich in Schleswig-Holstein nieder. So hatte es Klaus Höpcke nicht immer leicht mit seiner Partei und diese nicht mit ihm. Da ich ein neugieriger Mensch bin und keine Berührungsängste kenne, schlug ich meiner Frau eines Tages vor, Herrn Höpcke zu einem Abendessen mit einer ordentlichen Flasche Rheingauer Weines zu uns nach Hause einzuladen. Da hatte ich aber bei meiner Frau in ein Wespennest gestochen. Sie erklärte mir sofort definitiv, dass sie

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daran jedenfalls nicht teilnehmen würde. Es hätte nur noch die Ankündigung gefehlt, hernach einen Exorzisten zum Ausräuchern der Wohnung bestellen zu wollen. Zu dieser Reaktion muss man allerdings wissen, dass ihre durch Mauer und Stacheldraht getrennte Familie einiges an Leid und Unrecht ertragen musste, was meine Frau der DDR und ihren Funktionären wohl nie vergessen kann. Die Einladung Höpckes fiel damit aus; meine Neugier unterlag, der häusliche Frieden hatte Vorrang. Da sich erst am Abend vor der konstituierenden Sitzung herausstellte, dass der Abgeordnete Klaus Höpcke als neuer Alterspräsident die Wahl des Landtagspräsidenten durchzuführen hatte, galt es, auch ihn darauf vorzubereiten. Mir gelang es tatsächlich, Höpcke noch am Abend des 24.10.1990 telefonisch zu erreichen und ihn über „sein Glück“ zu informieren. Ich bat ihn dringend um ein Treffen, um mit ihm seine Aufgaben als „zweiter Alterspräsident“ durchzusprechen. Er sagte pflichtbewusst sofort zu und wir trafen uns in der „Eierkiste“ in meinem Büro zu mitternächtlicher Stunde. Danach war ich sicher: es dürfte nichts schief gehen. Das war jedoch ein – Gott sei Dank folgenloser – Irrtum. Doch dazu später mehr.

Der Ablauf der Sitzung Die konstituierende Sitzung lief Tagesordnungspunkt für Tagesordnungspunkt programmgemäß ohne Probleme ab. Das galt auch für die Vorläufige Geschäftsordnung, die ohne Debatte mit breiter Mehrheit von CDU, SPD und FDP angenommen wurde. Damit hatte sich der Landtag eine solide, verbindliche Verfahrensordnung für seine weiteren Verhandlungen gegeben. Danach wurde der Wechsel in der Sitzungsleitung vom Alterspräsidenten Siegfried Geißler auf den nächstältesten Abgeordneten Klaus Höpcke vollzogen. Vereinzelt befürchtete Proteste, insbesondere aus den Reihen der CDU-Fraktion, blieben erfreulicherweise aus. Höpcke rief sodann als Tagesordnungspunkt 6 die Wahl des Landtagspräsidenten auf. Entsprechend der bereits vorher verlautbarten Ankündigungen wurden von der CDU-Fraktion der Abgeordnete Dr. Gottfried Müller und von der Fraktion NF/GR/ DJ der Abgeordnete Siegfried Geißler mündlich vorgeschlagen. Höpcke erläuterte danach auf der Grundlage des ihm von der Landtagsverwaltung erstellten Rollenplans das Wahlverfahren und führte dabei unter anderem aus: „Die Wahl werden wir in folgender Weise vornehmen: Die Abgeordneten werden in alphabetischer Reihe aufgerufen, wie bei der Konstituierung. Jeder Abgeordnete und jede Abgeordnete erhält vor Eintritt in die Wahlkabine von einem der Abgeordneten, die vorhin zu Wahlhelfern bestellt worden sind, einen Stimmzettel mit den Namen der beiden Kandidaten. Sie haben selbstverständlich eine Stimme, bitte kreuzen Sie in der Wahlkabine die Kästchen „Ja“, „Nein“ oder „Enthaltung“ hinter einem der Kandidaten an, werfen Sie den verschlossenen Wahlumschlag – aus technischen Gründen füge ich hinzu: nicht unbedingt zukleben – in die Wahlurne. Das ist der Vorgang, der

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jetzt stattfinden soll. Irgendeine Frage dazu? Scheint nicht der Fall. Dann bitte ich die Wahlhelfer, in Aktion zu treten und Sie beide wieder um Namensaufruf.“9

Nach dem Wahlvorgang verkündete der amtierende Alterspräsident Klaus Höpcke laut Sitzungsprotokoll10 das Ergebnis der Abstimmung mit folgenden Worten: „Meine Damen und Herren, ich hatte mich bei einem Satz vorhin etwas geniert, nämlich als ich mitgeteilt hatte: Bitte kreuzen Sie in der Wahlkabine die Kästchen „Ja“, „Nein“ oder „Enthaltung“ hinter einem der Kandidaten an. 17 Abgeordnete hat dieser Aufruf offensichtlich nicht erreicht. Oder haben sie ihrer Lust nachgegeben, zwei Präsidenten haben zu wollen? Abgegebene Stimmzettel 89, gültige Stimmzettel 72 und ungültige Stimmzettel 17 dadurch. (Unruhe) Bitte richten Sie Ihren Unmut nicht gegen mich. Ich referiere hier nur etwas. Von den abgegebenen gültigen Stimmzetteln entfielen auf den Abgeordneten Müller, Gottfried 58 Ja-Stimmen. (Lang anhaltender, starker Beifall) Auf den Abgeordneten Geißler, Siegfried entfielen 13 Ja-Stimmen und eine NeinStimme. (Beifall) Damit ist der Abgeordnete Dr. Gottfried Müller als Präsident des Thüringer Landtags gewählt.“11

Die im Protokoll verzeichnete Unruhe bei der Bekanntgabe von 17 ungültigen Stimmen war mehr als verständlich. Ursache für diese hohe Zahl ungültiger Stimmen war ein falsches Wahlverfahren, das wir dem amtierenden Alterspräsidenten in das Rollenbuch geschrieben hatten und das dieser auch treu und brav vorgetragen hatte, ohne dass sich dazu Widerspruch im Plenum erhoben hätte. Der Fehler lag darin, dass ein Stimmzettel mit den Namen beider Kandidaten ausgeteilt worden war, soweit zwar noch richtig, dass dann aber – und das war der schwerwiegende Fehler – hinter jedem Namen drei Kästchen mit „Ja“, „Nein“ und „Enthaltung“ platziert worden waren und vorgegeben worden war, dass jeder Abgeordnete nur eine Stimme habe. Stimmzettel mit diesen drei Kästchen hinter dem Namen des Wahlbewerbers sind richtig, wenn sich nur ein Bewerber zur Wahl stellt; dadurch erzielt man ein differenziertes, aussagekräftiges Votum zu dem Kandidaten. Stellen sich allerdings zwei Kandidaten zur Wahl, dann kann mit der einen Stimme entweder nur Kandidat 1 oder nur Kandidat 2 angekreuzt werden. Jede weitere Differenzierung – wie bei der Wahl des ersten Thüringer Landtagspräsidenten vorgegeben – war überflüssig und fehlerhaft. Das wurde mir nach der Wahl – leider zu spät – klar. Es war ein peinlicher Fehler, unter dem ich lange gelitten habe. Und dieser Fehler passierte dazu noch in der konstituierenden Sitzung vor aller Öffentlichkeit! Ich war daher erstaunt, dass das Wahlverfahren – bis auf eine Ausnahme – weder kritisiert noch kritisch hinterfragt wurde, obwohl es dafür allein schon im Hinblick auf die 17 ungültigen Stimmen genügend Anlass gegeben hätte. Nur ein „alter Fuchs“ der Parlamentspraxis hatte

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den Fehler sofort bemerkt: der ehemalige Präsident des Hessischen Landtags Jochen Lengemann, später „Minister für besondere Aufgaben“ in der ersten Landesregierung. Er kam sofort nach der Sitzung zu mir und machte mich – wie er es sehr freundlich formulierte – auf das „ungewöhnliche“ Wahlverfahren aufmerksam. Wir waren uns aber einig, dass die Wahl im Ergebnis nicht anfechtbar war, weil in jedem Falle bei 89 Abgeordneten mit 58 Stimmen für Gottfried Müller eine eindeutige Mehrheit für ihn zustande gekommen war.

Abb. 9  Der erste Vorstand des Thüringer Landtags. Von rechts nach links: Präsident Dr. Gottfried Müller, Vizepräsident Peter Friedrich und Vizepräsident Peter Backhaus

Es blieb aber der dicke Wermutstropfen, dass er bei einem korrekten Wahlverfahren mit großer Wahrscheinlichkeit ein höheres Maß an demokratischer Legitimation erzielt hätte. Lengemann und ich trennten uns allerdings mit einverständlichen Blicken, den Vorgang nicht öffentlich zu machen und ihn schon gar nicht an die große Glocke zu hängen. Das hätte womöglich die politische Forderung nach einer Wiederholung der Wahl ausgelöst und mir und der Landtagsverwaltung einen eventuell nicht unerheblichen Imageschaden eingetragen. Bei allen späteren Wahlen im Thüringer Landtag mit zwei konkurrierenden Kandidaten, wie zum Beispiel bei der Wahl des Ministerpräsidenten nach dem Rücktritt

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von Josef Duchač zwischen Bernhard Vogel und Gerd Schuchardt, ist dieser Fehler der ersten Stunde nie wieder passiert.12 Die Wahl von Gottfried Müller zum ersten Präsidenten des Thüringer Landtags nach der Wende war ein Glücksfall für Thüringen. Müller ist geborener Thüringer (* 1934 in Schweina) und promovierter evangelischer Theologe. Zur Zeit der Wende war er Chefredakteur der Kirchenzeitung „Glaube und Heimat“ sowie Leiter des Wartburg-Verlags. Seit 1972 war er Mitglied der Ost-CDU und zwischen April und Oktober 1990 kurzfristig Medienminister im Kabinett de Maizière. Müller besaß für einen Landtagspräsidenten so wichtige Eigenschaften wie eine klare Wertorientierung, ein weites Herz, Toleranz, Gelassenheit und einen hintergründigen Humor. Das machte ihn zu einem äußerst beliebten Landtagspräsidenten, quer durch die Fraktionen. Von der aktiven Parteipolitik hielt er sich fern; Parteipolitiker mit Schaum vor dem Mund waren ihm ein Greuel. Er sah seine Aufgabe nach der Wende primär darin, zu integrieren: Wessis und Ossis, Blockflöten und Wendeaktivisten, Wendeopfer und Wendegewinner. Er verstand sich insofern als eine Art Landespräsident, der sich die Funktion eines Staatsoberhaupts mit dem Ministerpräsidenten teilte, was ihm mit Bernhard Vogel im großen Einvernehmen in wechselseitiger Sympathie und gegenseitigem Respekt glänzend gelang. Müller war ein selbstbewusster Ossi, der mit seinem Witz oder seinen feinen ironischen Bemerkungen über seine Landsleute aus Ost wie West erheitern und nachdenklich stimmen konnte. Mit seinen klugen, in aller Regel selbst geschriebenen Reden war er ein herausragender, allseits anerkannter Repräsentant des neuen Freistaats Thüringen. Das Einzige, was ich an ihm manchmal zu bemängeln hatte, waren seine oft zu große Duldsam- und Gutmütigkeit. Ich hätte mir von diesem kräftig gebauten fast Zwei-Meter-Mann in dem einen oder anderen Gefecht eine schneidigere Riposte gewünscht. Es war daher ein regelrechter Schock, als Gottfried Müller bei der zweiten Landtagswahl 1994 nicht wieder in den Thüringer Landtag gewählt wurde. Er verlor seinen Jenaer Wahlkreis an den SPD-Spitzenkandidaten und den als Zeißianer nur schwer schlagbaren Gerhard Schuchardt. Zwar war Müller auf Platz 3 der Landesliste der CDU vermeintlich gut abgesichert, aber die CDU errang überproportional viele Direktmandate, so dass die Liste überhaupt nicht zog, somit auch nicht zu Gunsten von Müller. Das war nicht nur ein Verlust für die Politik in Thüringen, auch die Landtagsverwaltung trauerte ihrem obersten Chef mit großer Wehmut nach. Bei seiner Verabschiedung flossen viele Tränen. Ich wollte als Landtagsdirektor die gedrückte Stimmung mit meiner Abschiedsrede vor den versammelten Fraktionsführungen und Landtagsmitarbeitern etwas vertreiben und auflockern. Das ging jedoch völlig daneben. Wieder einmal kam mein zwischen Ironie und Sarkasmus pendelnder Berliner Witz so gar nicht an, er fiel mir sogar heftig auf die eigenen Füße. Dabei glaubte ich, mit folgenden Worten nicht nur besonders ironisch witzig zu sein, sondern auch keinen Anlass zu irgendwelchen Fehlinterpretationen oder Missverständnissen zu bieten:

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„Am Wahlabend, als sich nach den ersten Hochrechnungen abzeichnete, dass unser hochverehrter und beliebter Präsident nicht wieder in den Landtag mit der Chance auf eine zweite Amtsperiode als Landtagspräsident einziehen würde, wurde ich beinahe zum DDR-Nostalgiker. Was waren das doch für schöne Zeiten, als man Wahlergebnisse noch kräftig „schönen“ konnte. Man mag in solchen Momenten auch geneigt sein, die Weisheit des demokratischen Souveräns zaghaft in Frage zu stellen. Doch das verbietet sich für einen Staatsdiener von vornherein…“

Doch statt des erhofften Beifalls für meine Ironie, die aus meiner Warte ohne jeden Zweifel für jedermann erkennbar gewesen sein musste, erntete ich von den Ossis heftige Kritik, die ich zumindest in dieser Form nie erwartet hätte. Sie gipfelte in dem geradezu absurden Vorwurf, ich hätte als Landtagsdirektor zu Wahlfälschungen aufgerufen. Den Gedanken, mich für meine Rede zu entschuldigen oder klarzustellen, dass ich nicht für Wahlfälschungen plädiert hatte, verwarf ich sehr schnell; das erschien mir einfach zu absurd. Eines hatte ich aber gelernt: Es ist gefährlich, über Wahlfälschungen zu DDR-Zeiten ironische Witze zu machen – jedenfalls für einen Wessi.

10.  Startprobleme bei der praktischen Einführung der parlamentarischen Demokratie Fehlende Erfahrung und unterentwickeltes Bewusstsein zum Parlamentarismus Bei der Einführung eines parlamentarisch-demokratischen Regierungssystems in den neuen Ländern gab es nach zusammen rund 57 Jahren nationalsozialistischer und kommunistischer Diktatur mit der Herrschaft jeweils einer Partei, die für sich die absolute Führungsrolle beanspruchte, verständlicherweise erhebliche Anlaufprobleme. So fehlte es an Persönlichkeiten, die noch eigene Erfahrungen aus einem Deutschland mit einer parlamentarischen Demokratie mitbrachten, wie dies beim Aufbau der Bundesrepublik Deutschland nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs der Fall war. Führende westdeutsche Politiker der ersten Stunde, wie Theodor Heuß, Carlo Schmidt oder Konrad Adenauer, hatten noch die Weimarer Republik bewusst und aktiv miterlebt. Diese Politiker mit eigenen Weimarer Erfahrungen gab es zurzeit der Wende 1989/1990 nicht mehr. Wie bereits erwähnt, gab es zwar im ersten Thüringer Landtag 12 Abgeordnete, die bereits in der demokratischen Volkskammer, wenn auch nur für die kurze Zeit von gut sechs Monaten, erste parlamentarische Erfahrungen gesammelt hatten. Wer aber die Beratungen der Volkskammer vor und hinter den Kulissen unmittelbar oder aus den Medien, insbesondere den Direktübertragungen des Fernsehens, miterlebt hat, wusste schon damals, dass die Volkskammer alles andere als eine gute Schule für Abgeordnete war. Dort herrschte viel zu oft ein unkoordiniertes Chaos einer demokratisch legitimierten Laienspielerschar. Daher entsprach es auch meiner damaligen Zielsetzung als Aufbauhelfer im Thüringer Landtag: Dieses Chaos durfte nicht in den Thüringer Landtag einziehen. Als besonders problematisch sollte es sich beim Aufbau des Thüringer Landtags darüber hinaus erweisen, dass das Verständnis für die Inhalte und Verfahren einer parlamentarischen Demokratie – mehr oder weniger – unterentwickelt war. Diese mangelhafte Parlamentskultur in den Köpfen von Abgeordneten soll an einem Beispiel exemplarisch verdeutlicht werden: Initiativen der PDS-Fraktion, die immerhin von 1.441.170 Wählern 136.464 Zweitstimmen und damit 9,72 Prozent der Stimmen erhalten hatte, wurden insbesondere von der Regierungskoalition von CDU und FDP in den Anfängen des Parlamentarismus im Thüringer Landtag entweder pauschal abgelehnt oder einfach ignoriert. Man bedachte sie nicht mit einem einzigen Wort. Wie bereits erwähnt, verließen Teile der CDU-Fraktion das Plenum, wenn ein PDS-Abgeordneter ans Rednerpult trat. Anträge der PDS wurden ausnahmslos unabhängig von deren Inhalt niedergestimmt und nie an einen Ausschuss überwiesen. Ja, es gab sogar ernsthafte Versuche, PDS-Anträge gar nicht erst auf die Tagesordnung des Plenums zu setzen. Ein Beispiel habe ich bereits in Kapitel 7 in anderem Zusam-

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menhang erwähnt, als der CDU-Abgeordnete und CDU-Landesvorsitzende Willibald Böck von mir verlangt hatte, einen nach seiner Auffassung „schwachsinnigen“ Antrag der PDS-Fraktion im Plenum nicht zu behandeln. Selbstverständlich war er mit diesem Anliegen auf meinen entschiedenen Widerspruch gestoßen. Ich habe derartige Situationen immer wieder erlebt, wenn ich die parlamentarischen Rechte der PDS-Fraktion aus tiefster Überzeugung im Einklang mit den Grundregeln des Parlamentarismus verteidigen musste. Den mir von den „Stahlhelmern“ aus der CDU-Fraktion angehängten geradezu absurden Vorwurf, ich sei ein „Freund der PDS“, habe ich insoweit (!) eher als Ehrentitel getragen. Allein diese exemplarischen Beispiele, die sich beliebig vermehren ließen, mögen schon beweisen, dass zu Beginn des parlamentarischen Lebens in Thüringen das Verständnis für den tiefen Sinn der parlamentarischen Demokratie in breiten Teilen aller Fraktionen kaum oder nur wenig ausgeprägt vorhanden war: nämlich die parlamentarische Demokratie als eine staatliche Friedensordnung zu verstehen, bei der die notwendige staatliche Machtausübung dadurch legitimiert wird, dass sie in einem offenen, pluralistischen Willensbildungsprozess von demokratisch legitimierten Repräsentanten des Volkes gemeinwohlorientiert öffentlich stattfindet. Die Bürger müssen dabei entsprechend der bekannten Lincoln’schen Formel darauf vertrauen können, dass die politische Macht für das Volk, im Interesse des Volkes und in Verantwortung vor dem Volk ausgeübt wird. Ziel dieses Prozesses ist es also, Akzeptanz für die notwendige politische Herrschaft zu erreichen. Es geht dabei nicht um Wahrheit, denn wer kann schon die Wahrheit in einem pluralistischen Staatswesen für sich beanspruchen? Bei diesem Prozess der Gewinnung von Akzeptanz nimmt das Parlament als Repräsentant des Volkes eine zentrale Stellung ein. In das Parlament werden die gesellschaftlichen Interessen eingebracht, integriert und zum Ausgleich geführt. Der administrative Ausschluss von Wert- und Interessenvorstellungen aus diesem Prozess (mit Ausnahme verfassungsfeindlicher Zielsetzungen – vgl. Art. 21 Abs. 2 Grundgesetz) gefährdet eine möglichst breite Akzeptanz und damit den inneren Frieden eines Volkes. Nach der Wende regierten in vielen Köpfen nicht die Regeln der pluralistischen parlamentarischen Demokratie, sondern die Regeln schnöder Macht: Früher hatten die Kommunisten die Macht, jetzt haben wir die Macht, und wir werden sie gebrauchen. In den Köpfen vieler Politiker fand insoweit ein schlichter Macht-, aber kein Systemwechsel statt. Dieses mangelhafte Verständnis für den Sinn und die Regeln parlamentarischer Demokratie sowie die Fehldeutungen des politischen Machtwechsels mit der politischen Wende kulminierten in gefährlicher Weise mit einem weiteren gravierenden Problem: einem mangelhaften Verständnis von der Normativität des Rechts. Dass der Politik insbesondere durch das Verfassungsrecht verbindliche Grenzen gesetzt sind, gehörte noch nicht zum politischen Allgemeingut. In 40 Jahren Kommunismus hatte es sich in das allgemeine Bewusstsein eingefressen, dass über der Verfassung der Führungsanspruch der herrschendenden Partei rangierte. Wie in allen Verfassungen kommunistischer Staaten war dieser Anspruch in Art. 1 Abs. 1 S. 2 der DDR-Verfassung

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1973 ausdrücklich festgeschrieben und ist bis heute zum Beispiel in der Verfassung der Volksrepublik China als eherne Maxime vorangestellt. Es galt also die Suprematie der Partei und nicht die des Rechts. Die Beschlüsse der Partei waren für alle staatlichen Organe und deren Amtsträger absolut verbindlich. Weil sich aber die politischen Vorgaben der Partei immer gegenüber dem Recht durchsetzten, verlor das Recht an Verbindlichkeit, an Normativität. Juristen haben es zuweilen nicht leicht, wenn sie einem ungezügelten politischen Dezisionismus gegenüber versuchen, verfassungsrechtliche Grenzen zu setzen. Juristen begegnen in diesen Fällen seitens der Politiker verständnislosen bis aggressiven Blicken; sie werden als unbequeme oder mit Weltfremdheit geschlagene Störenfriede im politischen Geschäft betrachtet. Die Macht habe bei den Abgeordneten, insbesondere bei denen der Regierungsfraktion, zu liegen und nicht bei juristischen Bedenkenträgern, die sich auf irgendwelches „formale“ Recht berufen. Ich habe in solchen Situationen Politiker immer eindringlich auf die Funktion von Recht hingewiesen, das alles andere als nur „formal“ sei. Außerdem handele es sich nicht um ein Recht, das vom Himmel gefallen sei, sondern das von ihnen, den Abgeordneten, als den Repräsentanten des Volkes selbst verbindlich gesetzt worden sei. Nun will ich aber gegenüber meiner eigenen Profession durchaus kritisch anmerken, dass es selbst in der Ministerialbürokratie nicht wenige Juristen gibt, deren Urteil sich in der Darstellung von Bedenken erschöpft, ohne dass sie der Politik für ihre Vorhaben zugleich gangbare, verfassungsrechtlich akzeptable Wege aufzeigen. Hilft man in einem politischen Konflikt zwischen Regierungslager einerseits und Opposition andererseits dem Regierungslager aus einer Patsche, indem man die Legalität eines Regierungsvorhabens juristisch stützt, so bleibt dessen Lob zumeist sehr verhalten – weil man sich ja nur bestätigt fühlt – und von der Opposition gibt es den Vorwurf der Parteilichkeit. Juristen in Parlamentsverwaltungen stehen damit häufig zwischen allen Stühlen; selten können sie es allen Seiten recht machen. Das Problem mangelhaften Verständnisses für die Normativität des Rechts und der Regeln der parlamentarischen Demokratie hat es nach dem politischen Umbruch im gesamten ehemaligen Ostblock gegeben. Ich selbst habe als Gastdozent an der Lomonossow-Universität in Moskau, der Mohyla-Akademie in Kiew und an der Universität für Politik- und Rechtswissenschaft Peking im kommunistischen China nicht nur im akademischen Bereich, sondern auch anlässlich meiner Vortragstätigkeit in politischen Kreisen reichlich entsprechende Erfahrungen gesammelt – allerdings mit einem ziemlich gravierenden Unterschied: Die dortigen Probleme bei der Bewältigung des Umbruchs oder von Reformen in China waren erheblich größer als in Ostdeutschland. Das hatte einen einfachen Grund: Es fehlte dort an der umfangreichen sächlichen und personellen Aufbauhilfe, wie sie von Westdeutschland in den neuen Ländern geleistet wurde. Man sollte auch nicht die Wirkung der intensiveren Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten verkennen, die es für die Menschen in der DDR gegeben hatte. Im tieferen Osten waren die Voraussetzungen dafür allerdings schwieriger – das berüchtigte „Tal der Ahnungslosen“ begann bereits in der Gegend um Dresden. Viele Ostdeutsche hatten sich über politische Ereignisse fast

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ausschließlich aus westdeutschen Medien informiert; ihnen war daher das allgemeine politische Geschehen in einer parlamentarischen Demokratie durchaus nicht fremd.

Unkenntnis von parlamentarischen Verfahrensabläufen Die konkreten praktischen Hintergründe und Abläufe von parlamentarischen Prozessen und das konkrete Zusammenspiel von Legislative und Exekutive waren jedoch im Wesentlichen unbekannt. Sie mussten allen Beteiligten erläutert und bewusst gemacht werden: den Abgeordneten, insbesondere den Fraktionen mit deren Geschäftsstellen, den Funktionsträgern im Parlament (Präsident, Vorstand, Ausschussvorsitzende), den Parlamentsreferenten in den Ministerien, vor allem der Staatskanzlei, sowie den Mitarbeitern der Landtagsverwaltung. Hier sollen nur einige sehr grundsätzliche und auch einige technische „Baustellen“ genannt werden, die es zu bearbeiten galt: – Welche kompetenzrechtlichen „Hausgüter“ gehören nach unserer gewaltenteilenden Verfassungsordnung in den Bereich des Parlaments und welche sind der Exekutive vorbehalten? Welche Differenzierungen muss man dabei zwischen rechtlichen und politischen Befugnissen vornehmen (so kann zum Beispiel ein Parlament eine Regierung nicht zu einem bestimmten politischen Handeln rechtlich verpflichten, aber es kann ihr durchaus politische Empfehlungen geben, mit denen im Ergebnis ggf. derselbe politische Druck ausgeübt werden kann)? – Welche parlamentarischen Kontrollmöglichkeiten bestehen in sog. „Bundesratsangelegenheiten“? – Darf ein Parlament in private Bereiche, z.B. in die Angelegenheiten privater Betriebe eindringen – ggf. unter welchen Voraussetzungen? – Wie läuft das Zusammenspiel zwischen einer Regierung und „ihrer“ Regierungsfraktion ab? – Welche Aufgaben hat eine Opposition und wie kann sie als Minderheit dennoch mit Hilfe der Öffentlichkeit, insbesondere durch ihre Pressearbeit, politisch relevant werden? – Was vermag ein Parlament zu leisten und was nur die Regierung? – Welche Arten von parlamentarischen Initiativen gibt es und welche ergreift man sinnvollerweise im konkreten Fall, je nachdem, ob man Regierungs- oder Oppositionsfraktion ist? – Wie schnürt man „politische Pakete“? – Wie muss man eine Koalition führen?

Aber es galt zum Beispiel auch, die Sinne für folgende, mehr verfahrensmäßige Fragen zu schärfen, die alles andere als unwichtig sind: – Welche Form haben die einzelnen parlamentarischen Initiativen und an wen sind sie zu richten?

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– Welchen Verfahrensweg nehmen die einzelnen parlamentarischen Initiativen und wie kann man deren Fortgang beschleunigen oder verzögern? – Welche Fristen sind einzuhalten? – Wie kommt eine Tagesordnung des Plenums zustande und wie läuft sie ab? – Wie sind Abstimmungen und Wahlen durchzuführen – mit oder ohne Aussprache, offen oder geheim? – Welche Unterschiede bestehen zwischen öffentlichen, vertraulichen und geheimen Sitzungen? – Was geschieht mit den Beschlüssen des Landtags, welche Folgen haben sie?

Dass eine Landtagsverwaltung mit ihren Servicefunktionen allen Akteuren innerhalb des Landtags von Beginn an hilfreich und neutral zur Seite gestanden hat, war selbstverständlich und entsprach ihrer Aufgabe und ihren Pflichten. Diese Hilfe wurde auch von allen Seiten gern angenommen. Voraussetzung war natürlich, dass es sich dabei nach Ton und Inhalt tatsächlich um eine Hilfestellung und nicht etwa um Vorgaben von „Besserwessis“ handelte. Das Verhältnis zwischen den Abgeordneten und Fraktionen einerseits und den Parlamentsverwaltungen andererseits bewegt sich auf einem äußerst schmalen, glatten und sensiblen Terrain. Das war in der Nachwendezeit besonders glitschig. In einigen Köpfen von Abgeordneten steckte noch das Bild einer Verwaltung, die ausführendes Organ der führenden kommunistischen Partei war. Folgerichtig war zum Beispiel die Serviceverwaltung der Erfurter Bezirksversammlung, das so genannte Kabinett, organisatorisch nicht der Bezirksversammlung, sondern dem Vorsitzenden des Rats des Bezirks zugeordnet. So lag es nahe, dass das Wirken der Verwaltung des Thüringer Landtags mit Misstrauen und Skepsis beäugt wurde. Erst langsam setzte sich die Erkenntnis durch, dass nach der Wende eine Verwaltung mit neuem Antlitz und neuer Funktion aufgebaut wurde: eigenständig und unabhängig – natürlich im Rahmen der Gesetze – „neutral“ und mit gemeinwohlorientiertem Amtsverständnis; das war zumindest die Zielsetzung. Abgeordnete und Fraktionen erkannten sehr schnell die Vorteile der Hilfen und Korrekturen durch die Landtagsverwaltung bei der Vorbereitung oder Einbringung parlamentarischer Vorgänge; damit konnten Fehler vielfach vermieden werden, die ihnen ansonsten vom politischen Gegner in der Öffentlichkeit genüsslich um die Ohren geschlagen worden wären. Schon etwas ungewöhnlich und nur den damaligen hektischen und zum Teil äußerst unvollkommenen Zeiten war es geschuldet, dass ich zusätzlich mit der Staatskanzlei den Ablauf von Sitzungen über das gewöhnliche Maß organfreundlicher Kooperation hinaus abgesprochen hatte, so insbesondere den parlamentarischen Ablauf der Regierungsbildung. Wenn bestimmte Anträge aus der Staatskanzlei nicht eingegangen waren, habe ich sie formuliert und in der Landtagsverwaltung schreiben lassen; sodann bin ich unmittelbar zum Ministerpräsidenten vorgedrungen, habe ihm den Antrag und dessen Notwendigkeit erläutert, habe ihn unterschreiben lassen und sogleich wieder mitgenommen. Der damalige Ministerpräsident Josef Duchač hatte mit diesem äußerst unbürokratischen und ungewöhnlichen Verfahren überhaupt keine Probleme. Wir zogen

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damals in extremer Auslegung einer an sich nur ausnahmsweise zulässigen Gewaltenverschränkung alle an einem Strang. Auch Hahnenkämpfe zwischen den Verwaltungen gab es noch nicht, wie sie später aufkamen und leider eher die Norm als die Ausnahme wurden. Ich hatte daher auch Einvernehmen mit den Fraktionen erzielt, dass die Staatskanzlei mit deren Chef an den Sitzungen des Ältestenrats teilnehmen durfte, weil dort nicht nur die Tagesordnungen des Landtags aufgestellt, sondern noch sonstige Punkte behandelt wurden, die auch die Landesregierung berührten. Nur wenn es um Interna des Landtags ging, wie zum Beispiel Diätenfragen, zogen sich die Regierungsvertreter diskret zurück. Diese Praxis hat sich bewährt und bis heute erhalten. In manchen Landtagen ist sie hingegen ausgeschlossen. Deren Landtagsdirektoren lassen es sich nicht nehmen, den Chef der Staatskanzlei über die regierungsrelevanten Ergebnisse der Ältestenratssitzungen in einer Art Privatissimum zu unterrichten, womit die gleiche Rangordnung und das eigene Gewicht im Konzert der politisch Bedeutsamen dokumentiert, untermauert und eigenes Herrschaftswissen gesichert werden soll. Josef Duchač war ein ganz bescheidener, unprätentiöser, liebenswürdiger Mann, der sich seiner Wissenslücken im Regierungsgeschäft sehr bewusst und für jede ehrliche Hilfe dankbar war. Er war mir sehr sympathisch. Aber ich hatte schon früh meine Zweifel, ob er dieses Amt physisch und aufgrund seiner dafür nur sehr begrenzten spezifischen Qualitäten und Erfahrungen überhaupt fachlich bewältigen konnte. Duchač war diplomierter Chemie-Ingenieur und von 1964 bis 1986 im Gummiwerk Waltershausen in verschiedenen Funktionen, zum Schluss als Produktionsleiter und ab 1990 für ein halbes Jahr als Betriebsleiter tätig. Politisch war er seit 1959 einfaches Mitglied der Ost-CDU und von 1986 und 1989 immerhin Mitglied im Rat des Kreises in Gotha, dort zuständig für das Wohnungswesen. Eine erste physische Grundvoraussetzung für die Karriere als erfolgreicher Politiker ist die Fähigkeit, mit wenig Schlaf auszukommen und bei jeder sich dazu bietenden Gelegenheit schlafen zu können. So hatte ich Helmut Kohl als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz bei einem Flug in einem kleinen Hubschrauber von Mainz nach Bonn erlebt, als er bei Höllenlärm und mir bedrohlich erscheinenden Kurven des Hubschraubers die unschätzbare Fähigkeit besaß, selig einschlummern zu können, um versäumten Schlaf nachzuholen. Josef Duchač dagegen schien mir oft derart übermüdet und kaputt zu sein, dass ich mich ernstlich um seine Gesundheit sorgte. Das parlamentarische Geschehen ist, wie schon zuvor dargestellt, hinsichtlich seiner Dynamik sowie seiner spontanen, nicht voraussehbaren Reaktionen niemals genau im Voraus planbar und kann damit nicht exakt vorbereitet werden. Es gibt immer wieder Überraschungen, und dann stellt sich die Frage, wie man darauf reagieren soll. Diese Frage muss sowohl im Plenum als auch in den Ausschüssen in aller Regel blitzschnell und dazu richtig entschieden werden, da ein Fehler kaum zu revidieren ist – einmal ganz abgesehen von der Peinlichkeit, im Landtag im Lichte der Öffentlichkeit einen inkompetenten Eindruck zu hinterlassen und blamiert dazustehen. Dazu bedarf es einer grundsoliden Ausbildung und reichlicher Erfahrung, um

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die parlamentarische Klaviatur souverän zu beherrschen, damit das Orchester nicht in verhängnisvolle Kakophonie abgleitet. Es war daher besonders in der Anfangsphase des Landtags erforderlich, dass unmittelbar hinter dem Vorstand des Landtags im Plenum oder neben dem Ausschussvorsitzenden immer ein „alter Parlamentshase“ aus der Landtagsverwaltung saß. Er musste das nötige „Feeling“ haben, um rechtzeitig drohendes Ungemach oder sich anbahnende Fehler früh zu erkennen und durch den Präsidenten oder Ausschussvorsitzenden rechtzeitig abzuwehren. Nur im äußersten Ausnahmefall durfte er – aber auch nur im Ausschuss – selbst das Heft in die Hand nehmen. Bei Konflikten durfte und musste er somit nur helfen, die Kuh phantasievoll vom Eis zu ziehen. Fragen zur Geschäftsordnung oder zum Beratungsgegenstand mussten – im letzteren Falle unter Mithilfe der Regierung – qualifiziert beantwortet werden. In der Anfangsphase des Thüringer Landtags saß ich daher in den ersten sechs Monaten von der ersten bis zur letzten Minute ununterbrochen im Plenum hinter dem Vorstand und dies mit höchster Konzentration. Das war eine ziemliche Tortur, da die Landtagssitzungen in der ersten Legislaturperiode manches Mal bis weit nach Mitternacht dauerten. Die ersten Sitzungen sämtlicher Ausschüsse betreute ich ebenfalls allein. Das hatte unter anderem zur Voraussetzung, dass es keine parallel tagenden Sitzungen geben durfte. Eine kuriose Situation: Die Abgeordneten mussten sich zeitlich nach der Landtagsverwaltung richten und nicht – wie sonst selbstverständlich – umgekehrt. Kurios waren oft auch die Beratungen in den Ausschüssen – und das unter verschiedenen Aspekten, die am Beispiel eines Gesetzes, der Landeshaushaltsordnung, berichtet werden sollen: Üblicherweise wird die Landesregierung in den Ausschussberatungen zu Gesetzentwürfen der Regierung durch den federführenden Fachminister vertreten. Das war für die Landeshaushaltsordnung der Finanzminister. Finanzminister war Dr. Klaus Zeh. Von Haus aus nach Studien der „Informationstechnik“ und „Ingenieur Pädagogik“ war er „Entwurfsingenieur“ und „Problemanalytiker“, also in seinem Fachbereich ein hochqualifizierter Mann. Vom Haushaltsrecht verstand er nun aber rein gar nichts. Diese fehlende spezifische Fachkenntnis zu Beginn einer Ministerlaufbahn ist auch in normalen Zeiten durchaus nicht ungewöhnlich. Sie wird üblicherweise durch allgemeine vorangegangene Regierungs- und Parlamentserfahrungen sowie dadurch kompensiert, dass einem Minister auch in den Ausschusssitzungen ein Heer von Fachleuten, an der Spitze der Staatssekretär, zur Seite sitzt. Diese flüstern dem Minister die von ihm geforderten Informationen und Stellungnahmen zu oder geben sie selbst anstelle des Ministers, wenn er sie dazu beauftragt. In der Anfangsphase des Freistaats gab es jedoch weder Erfahrung aus der Exekutive oder Legislative, noch diese Heerscharen von Fachleuten. Bei der Beratung der Landeshaushaltsordnung fehlte auch noch zu allem Unglück und aus welchen Gründen auch immer, der – im Übrigen sehr sachkundige – Aufbauhelfer im Thüringer Finanzministerium, der aus dem Hessischen Finanzministerium abgeordnet war. Auf der Regierungsbank saß überhaupt kein Regierungsvertreter, der in der Lage gewe-

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sen wäre, die Regierungsvorlage, nämlich den Entwurf der Landeshaushaltsordnung, sachkundig zu vertreten. Das sollte Folgen haben: Der Regierungsentwurf wurde vom Ausschussvorsitzenden aufgerufen und nach einer allgemeinen Einführung des Ministers zur Notwendigkeit und Dringlichkeit einer Haushaltsordnung für das neue Bundesland Thüringen schloss sich eine Generaldebatte an. So weit, so gut. Wer aber nun erwartet hatte, dass der Gesetzentwurf anschließend ohne weitere Aussprache en bloc abgestimmt würde, wurde eines Besseren belehrt. Die Abgeordneten bestanden darauf, dass das Gesetz Paragraph für Paragraph aufgerufen, gegebenenfalls erläutert und diskutiert sowie abgestimmt würde. Sie sahen es als ihre Pflicht an, den Gesetzentwurf penibel zu beraten, und sie wollten den Entwurf auch in den Details verstehen, bevor sie darüber abstimmen wollten. Fast möchte man jubeln: Welch vermeintlich goldene Zeiten waren für den Parlamentarismus in Thüringen nach der Wende angebrochen. Damals wollte jeder Abgeordnete alles verstehen, heute versteht realistischerweise nur ein kleiner Kreis von Spezialisten die wesentlichen Regelungen – und selbst das auch nicht immer im Detail, man braucht nur im Bundestag zum Beispiel an die parlamentarischen Beratungen der Gesundheitsreformgesetze zu denken. Die Unkenntnis, aber auch die Wissbegier der Abgeordneten über das neue Haushaltsrecht waren so groß, dass die Ausschussberatung zur Landeshaushaltsordnung viele Gemeinsamkeiten mit einer akademischen Seminarveranstaltung hatte. Ein Abgeordneter, im Zivilberuf Mediziner, ragte dabei als besonders eifriger Abgeordnetenmusterschüler hervor. Gleich zu § 1 wollte er wissen, was denn ein „Gesamtplan“ sei, zu § 2, was unter einem „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht“ zu verstehen sei, zu § 3, warum der Finanzminister nicht verpflichtet sei, die vom Landtag beschlossenen Ausgaben zu leisten („Wir Abgeordneten sind doch die erste Gewalt“); große Bedenken gab es auch zu § 5, der eine Ermächtigung an den Finanzminister zum Erlass von Verwaltungsvorschriften enthielt, ohne dass die Abgeordneten daran mitwirken konnten (hier kamen die bereits angesprochenen Vorbehalte gegenüber der Verwaltung zum Vorschein). So vergingen die Beratungen Stunde um Stunde bis in die späten Abendstunden. Ich war am Ende fix und fertig. Da es nämlich auf Regierungsseite keinen Haushaltsfachmann gab, der die Wissbegier der Abgeordneten hätte stillen und ihrer Kritik begegnen können, oblag es mir als Vertreter der Landtagsverwaltung, die Regierungsvorlage zu erläutern. Auch dies war ein Kuriosum. Ich vermochte diese „artfremde“ Aufgabe allein deshalb ganz ordentlich zu erfüllen, da ich als Verfassungskommentator und Lehrbeauftragter auch das Haushaltsrecht einigermaßen beherrschte. Eine Nebentätigkeitsvergütung von der Landesregierung habe ich jedoch dafür nie erhalten, obwohl ich sie mir eigentlich redlich verdient hatte. Weitere zeitliche Verzögerungen ergaben sich durch die vielen Einzelabstimmungen und – auch dies eine Besonderheit der ersten Stunde – die für einen „alten Parlamentshasen“ verblüffenden Abstimmungen „quer Beet“. In westdeutschen Parlamenten brauchte man bei der Auszählung der Stimmen nur auf die jeweiligen Fraktionen bzw. auf deren Sprecher zu blicken, und da sie in aller Regel linientreu abstimmten,

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hatte man das Abstimmungsergebnis sofort erfasst. Die Thüringer Abgeordneten nahmen ihren Status als „nicht an Aufträge und Weisungen gebunden und nur ihrem Gewissen verantwortlich zu sein“ (Art. 53 Abs. 1 S. 2 ThürLV) sehr ernst mit der Folge, dass sie nicht als Fraktion geschlossen abstimmten, sondern je nach Fallkonstellation als „Einzelkämpfer“ ohne jede Fraktionsbindung. Man musste also jedes Mal die Stimmen einzeln auszählen. Wir konnten die Ausschussberatungen zur Landeshaushaltsordnung dennoch – wenn auch sehr spät – letztendlich noch am selben Tag abschließen. Diese „Sollerfüllung“ war letztlich zwei Umständen zu verdanken: Die Abgeordneten ermüdeten ebenfalls so langsam und eine Vertagung der weiteren Beratungen war faktisch schier unmöglich. Der Thüringer Landtag wollte die nach dem Einigungsvertrag hilfsweise Geltung von Bundesrecht so bald wie möglich durch Thüringer Landesrecht ablösen und auf dieser „hauseigenen“ Grundlage das Land möglichst schnell aufbauen und zur Blüte bringen. Damit waren den Gesetzesberatungen zeitliche Grenzen gesetzt, die von den Abgeordneten – wenn auch von einzelnen nur murrend – akzeptiert wurden. Nur dadurch war es möglich, bereits in der ersten Wahlperiode über zwei Drittel der für ein Bundesland üblichen Gesetzgebung zu erledigen. Damit durch die Schilderung der Ausschussberatungen zur Landeshaushaltsordnung aber kein falscher Eindruck über die Art und Weise der Gesetzesberatungen in den neuen Ländern im allgemeinen entsteht, ist der Hinweis wichtig, dass nicht alle Gesetze mit dieser Intensität behandelt wurden wie die Thüringer Landeshaushaltsordnung. In vielen Fällen wurden Gesetze aus den Heimatländern des jeweils federführenden Aufbauhelfers kopiert, einzelne Bestimmungen, insbesondere Zuständigkeitsregelungen, wurden auf die Situation in Thüringen zugeschnitten und in den parlamentarischen Beratungen geradezu blind übernommen, so geschehen zum Beispiel beim Untersuchungsausschussrecht aus Rheinland-Pfalz.

Der Petitionsausschuss und das Eingabewesen der DDR Das Petitionswesen erlebte beim parlamentarischen Neubeginn aus der Sicht eines Wessis einen völlig überraschenden, geradezu phänomenalen Start. Der Petitionsausschuss avancierte aus der Sicht der Abgeordneten zum wichtigsten Ausschuss des Thüringer Landtags. Alle Spitzenleute der Fraktionen wollten Mitglied im Petitionsausschuss werden. Die Überraschung war für den Wessi deswegen so groß, weil der Petitionsausschuss in den westdeutschen Parlamenten der unbeliebteste Ausschuss ist, in dem – abgesehen vom Vorsitzenden – kaum jemand freiwillig Mitglied werden will. Er wird von den Fraktionen mit Hinterbänklern besetzt, die bei der Verteilung der sonstigen Ausschusssitze erfolglos waren, aber in jedem Fall mit einem Ausschusssitz bedacht werden müssen. Petitionsausschüsse sind die ungeliebte Domäne für Neulinge oder Nachrücker. Der Grund für die Unbeliebtheit von Petitionsausschüssen bei Abgeordneten ist sehr einfach: Dort muss man viel arbeiten, wenn man seinen Aufgaben qualifiziert nachkommen will, ohne dass man sich für seine Mühen in der

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Öffentlichkeit groß politisch profilieren kann. Nur einmal im Jahr ist der „große“ Tag des Petitionsausschusses, wenn er dem Plenum seinen Tätigkeitsbericht erstattet. Doch obwohl man schon im Ältestenrat versucht, diesen Tagesordnungspunkt möglichst günstig zu platzieren, ist und bleibt es eine zähklebrige Pflichtveranstaltung. Daher war die Überraschung groß, dass sich bei der ersten Ausschussverteilung selbst Fraktionsvorsitzende um eine Mitgliedschaft im Petitionsausschuss drängelten. Für dieses Phänomen gab es einen einfachen, einleuchtenden Grund: das Eingabewesen der DDR. Die DDR kannte – abgesehen von unzulänglichen Ansätzen vor ihrem Untergang in der Perestroika-Zeit1 – keine subjektiv öffentlichen Rechte der Bürger, die diese vor Verwaltungsgerichten hätten durchsetzen können. Es passte nicht in das ideologische Bild des kommunistischen Regimes, dass der Staat gegenüber seinen Bürgern Unrecht tun konnte. Gemäß der marxistisch-leninistischen Lehre ging man auch in der DDR von einer Interessenidentität bzw. Interessenharmonie zwischen dem Staat und seinen Bürgern aus. Mit der proletarischen Revolution war für sie der früher in der bürgerlichen Gesellschaft vorhandene Antagonismus mit Interessengegensätzen und einer Entfremdung zwischen Staat und Volk beseitigt. Aufgrund dieser ideologischen Ausgangsposition verbot es sich natürlich, irgendwelche Kontrollinstanzen aufzubauen, die es ermöglicht hätten, individuelle Rechte von Bürgern gegenüber dem Staat durchzusetzen. Es ist daher auch verfehlt, dem Eingabewesen der DDR eine Ersatzfunktion für eine fehlende Verwaltungsgerichtsbarkeit zuzuerkennen. Eingaben waren eben gerade kein Mittel der Kontrolle staatlichen Handelns. Vielmehr sollten sie eingedenk des auf Harmonie aufgebauten Verhältnisses zwischen Staat und Individuum dazu dienen, den Einzelnen zu aktivieren, sich in den gesellschaftlichen Prozess einzubringen.2 Eingaben konnten daher an alle gesellschaftlich relevanten Institutionen gerichtet werden, zum Beispiel an kommunale oder staatliche Behörden, Medien oder Parteifunktionäre. Eingaben an Spitzenfunktionäre auf der Staats- und Parteiebene hatten im Einzelfall neben der ihnen an sich zugedachten Mitwirkungsfunktion am gesellschaftlichen Prozess den durchaus individuellen eigennützigen Nebeneffekt, dass mit dem Hinweis auf bestimmte Mängel, zum Beispiel in der Wohnungsversorgung, deren Beseitigung oder Abmilderung auch zum eigenen Vorteil in Bewegung gesetzt werden konnte. Die Abgeordneten waren von der Idee durchdrungen, nach einer Phase kommunistischer Rechtlosigkeit Bürgern, die sich über staatliche Willkür beschweren wollten, nunmehr zu ihrem Recht zu verhelfen. Dazu diente in ihren Augen – neben den Gerichten – der Petitionsausschuss. Als dessen Mitglied wollte man oberster Anwalt der Bürger sein. Diese Anfangseuphorie der Abgeordneten ist inzwischen verflogen. Auch insoweit ist in den neuen Ländern die oben beschriebene westdeutsche parlamentarische Wirklichkeit eingekehrt. Diesem Kapitel muss noch eine wichtige Schlussbemerkung angefügt werden: Wenn darin immer wieder auf die Hilfen der Landtagsverwaltung, insbesondere ihrer Aufbauhelfer bei der Überwindung der Startprobleme bei der Einführung der parlamentarischen Demokratie in den neuen Ländern eingegangen wird, dann ist es nur recht und billig, sie in dieser Weise gebührend hervorzuheben. Sie kann auf

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diese Leistung durchaus stolz sein. Nur darf und soll hier und an anderer Stelle nicht der Eindruck entstehen, als würden die Leistungen weiterer hilfreicher Geister beim Aufbau der parlamentarischen Demokratie schlicht negiert oder als gering bewertet. Zweifelsohne war die Aufbauleistung dieser Aufbauhelfer überragend, aber daneben darf das beachtliche Engagement gerade von den westdeutschen Schwesterparteien und -fraktionen nicht vernachlässigt werden. Zusätzlich sind die politischen Stiftungen sowie zahlreiche sonstige politische Einrichtungen zu nennen. So hatte zum Beispiel die Deutsche Gesellschaft für Gesetzgebung unter der engagierten Führung ihres Vorsitzenden Ulrich Karpen 1991 in Berlin eine Reihe von Seminaren für die neuen ostdeutschen Abgeordneten zu allen Themen rund um ein Parlament veranstaltet. In diesem Rahmen hatte auch zum Beispiel ich Gelegenheit, über die „Vorbereitung und Planung der Plenar- und Ausschussarbeit – auch innerhalb der Fraktionen“ zu referieren.

11.  Parlamentarischer Blitzstart Ein fleißiger Landtag, wenn auch – unvermeidbar – als Plagiator Der erste Thüringer Landtag war enorm fleißig. In insgesamt 125 Sitzungen mit 1.477 Tagesordnungspunkten wurden 188 Gesetze verabschiedet, wobei es sich bei ca. 150 Gesetzen um ziemlich umfassende Kodifikationen und nicht etwa nur um punktuelle Novellierungen von Gesetzen handelte. Bei einer aktuellen Zahl von ca. 223 Gesetzen in Thüringen (Stand Ende 2008, ohne die Zustimmungsgesetze zu Staatsverträgen) hatte der Thüringer Landtag in seiner ersten Wahlperiode somit bereits über zwei Drittel seines gesetzgeberischen Solls erfüllt. Hinzu kamen unter anderem 33 Große Anfragen, 979 Anträge und 98 Aktuelle Stunden. Auch die Zahl von insgesamt 3.645 Drucksachen ist beeindruckend. Die Gesetzgebung bestand allerdings im Wesentlichen nur aus der Übernahme von Gesetzen westdeutscher Länder, vorwiegend aus Thüringens Partnerländern Hessen und Rheinland-Pfalz sowie in geringerem Umfang im Bereich des Innenministeriums aus Bayern. Noch heute vermag man abzulesen, aus welchem Land der Aufbauhelfer stammte, der den ersten Entwurf, den so genannten Referentenentwurf, erarbeitet hatte, der später als Regierungsentwurf in den Landtag eingebracht wurde. Diese Gesetze gelten in ihren Grundstrukturen nach wie vor; grundlegende Novellierungen hat es später in größerem Umfang nicht gegeben. Diese Entwicklung ist nicht weiter verwunderlich; auch viele Gesetze westdeutscher Länder weisen große Ähnlichkeiten miteinander auf, da sie im Rahmen des – insofern sich selbst ad absurdum führenden – kooperativen Föderalismus in gemeinsamen Gremien der Länder als Mustergesetzentwürfe erarbeitet und dann in alle Länder weitgehend einheitlich übernommen werden. An dieser Art der ostdeutschen Gesetzgebung ist insbesondere aus Kreisen der Wissenschaft viel Kritik geübt worden. Von hoher, realitätsferner Warte wurde bemängelt, dass der Aufbau eines fast komplett neuen Normensystems nach der Wiedervereinigung in Ostdeutschland unbedingt zu einer grundlegenden Reform mit dem Ziel hätte genutzt werden sollen, zu weniger und einfacheren Normen, einer stärkeren Deregulierung sowie einer verbesserten Gesetzesfolgenabschätzung zu gelangen. Dieser Kritik hat der damalige Landtagspräsident Gottfried Müller völlig zu Recht entgegengehalten: „Was in 40 Jahren Bundesrepublik Deutschland nicht geschafft worden ist, das sollte nun plötzlich in kürzester Zeit im Osten erreicht werden.“ Die Kritik war auch insofern völlig realitätsfern, als die westdeutsche Landesgesetzgebung aus politischen und wirtschaftlichen Gründen schnellstens übernommen werden musste und überhaupt keine personellen Ressourcen zur Verfügung standen, um dabei noch zugleich grundlegende Reformen auf den Weg zu bringen. Man schaffte die schlichte Rezeption des westdeutschen Landesrechts ja gerade einmal mit Müh und Not.

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Die Verabschiedung der Vorläufigen Geschäftsordnung Die Vorläufige Geschäftsordnung war – wie bereits im achten und neunten Kapitel im Einzelnen beschrieben – im Vorläufigen Ältestenrat vorbereitet worden und dort auf breiten Konsens gestoßen. Sie konnte daher absprachegemäß ohne Aussprache und Änderungsanträge mit den Stimmen der Fraktionen von CDU, SPD und FDP in der konstituierenden Sitzung angenommen werden.1 Aber wie es Provisorien manchmal an sich haben, so hatte auch die Vorläufige Geschäftsordnung eine relativ lange Lebensdauer. Sie wurde erst am 7.7.1994 durch eine endgültige Geschäftsordnung abgelöst.

Beratung, Verabschiedung und Verkündung der Vorläufigen   Landessatzung (Vorl. LS) Die Beratungen zur vorläufigen Verfassung begannen schon in der zweiten Sitzung des Thüringer Landtags am 26.10.1990, mit der ersten Lesung am Tag nach der konstituierenden Sitzung. Der Entwurf wurde an den 14-köpfigen Ältestenrat überwiesen, dem der Landtag zusätzlich die Aufgabe eines Vorläufigen Verfassungsausschusses übertragen hatte. Dieser behandelte den Verfassungsentwurf in zwei Sitzungen am 30.10.1990 und am 6.11.1990. Die Vorläufige Landessatzung wurde somit in Thüringen, im Gegensatz zu den Verfassungsberatungen in den anderen neuen Ländern, in Ausschusssitzungen ausreichend vorberaten. In der ersten Sitzung wurden von der Fraktion NF/ GR/DJ insgesamt 15 Änderungsanträge gestellt. Dabei handelte es sich vornehmlich um eine Erweiterung des Entwurfs, der sich ganz bewusst auf ein normatives Minimum beschränkt hatte, nämlich um Grundrechte, Staatszielbestimmungen und plebiszitäre Elemente. Sie wurden jedoch mit der Begründung abgelehnt, dass die Erörterung dieser Themen der endgültigen Verfassungsdiskussion vorbehalten werden sollte. Von den insgesamt elf angenommenen Änderungsanträgen, bei denen alle Fraktionen – teils gesondert, teils gemeinsam – als Antragsteller auftraten, sollen als wesentlich hervorgehoben werden: – Dem Gesetzentwurf wurde eine Präambel vorangestellt, in welcher deklaratorisch auf die unmittelbare Geltung der Grundrechte sowie auf den vorläufigen Charakter der Landessatzung ausdrücklich hingewiesen wurde. – Als Hauptstadt (also nicht nur Regierungssitz) wurde Erfurt vorgeschlagen. – Als „Verfassungsgerichtssurrogat“ bei einem Konflikt zwischen Landtag und Landesregierung um die Herausgabe von Informationen im Petitionsverfahren wurde eine Art Schlichtungskommission aus den Präsidenten der Bezirksgerichte Erfurt, Gera und Suhl vorgesehen. – Die Möglichkeit, den Ministerpräsidenten in einem zweiten Wahlgang mit nur einfacher Mehrheit wählen zu können, wurde gestrichen. – Es wurde die grundsätzliche verfassungsrechtliche Verankerung eines Rechnungshofs empfohlen.

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– Schließlich wurde in den Entwurf eine Bestimmung aufgenommen, dass „Änderungen und Ergänzungen“ des Gesetzes der Zustimmung von zwei Dritteln der gesetzlichen Mitgliederzahl des Landtags bedürfen sollen.

In der 2. Sitzung des „Ältestenrats und Vorläufigen Verfassungsausschusses“ am 6.11.1990 wurden zusätzlich folgende drei bedeutsame Änderungen empfohlen:

– Vorerst sollte Erfurt nur als Regierungssitz, nicht aber auch als Hauptstadt festgelegt werden. Um den Sitz des Landtags hatten sich außer Erfurt zwischenzeitlich noch die Städte Gera, Jena und Weimar beworben; die Bewerbung von Nordhausen wurde allerdings später zurückgezogen. – Die Vorläufige Landessatzung sollte spätestens am 31.12.1992 zugunsten einer endgültigen Landesverfassung außer Kraft treten. Über diesen – von der SPD-Fraktion beantragten – Punkt hatte es Auseinandersetzungen gegeben. Die SPD-Fraktion wollte mit dieser Terminierung die Beratungen zur endgültigen Landesverfassung beschleunigen.

Abb. 10  Das erste „Gesetzblatt für das Land Thüringen“ vom 7.11.1990 mit der „Vorläufigen Landessatzung“

Der Landtag akzeptierte sämtliche Änderungsvorschläge des Ausschusses und verabschiedete die Vorläufige Landessatzung in der abschließenden zweiten Lesung in seiner 3. Sitzung am 7.11.1990 mit einer weiteren Änderung, welche die Aufnahme des Begnadigungsrechts durch den Ministerpräsidenten betraf. Die von der Fraktion NF/ GR/DJ wieder aufgegriffenen – bereits im Ausschuss abgelehnten – Anträge fanden auch im Plenum keine Mehrheit.

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Die Vorläufige Landessatzung wurde – laut Plenarprotokoll „mit großer Mehrheit“ – beschlossen; tatsächlich wurde eine deutliche Zweidrittelmehrheit erreicht.2 Eine qualifizierte Mehrheit wurde nicht für erforderlich gehalten. Die SPD-Fraktion hatte zwar in den Ausschussberatungen und im Plenum eine Zweidrittelmehrheit für die Verabschiedung gefordert, hierin jedoch keine zwingende verfassungsrechtliche Notwendigkeit, sondern ein politisches Gebot gesehen. Diese Bewertung ist zutreffend: Die Forderung nach einer Zweidrittelmehrheit lässt sich aus politischer Sicht mit guten Gründen vertreten, um einen breiten Konsens mit erhöhter politischer Legitimität zu erlangen. Ein dahin gehendes normatives Gebot ist jedoch nicht begründbar, da die Vorläufige Landesverfassung nicht Ausfluss einer nur verfassungsändernden, sondern der verfassungsgebenden Gewalt war, für deren Beschlüsse keine qualifizierten Mehrheiten vorgeschrieben sind. § 18 sah nach der Annahme der Ausfertigung der Vorläufigen Landessatzung deren Verkündung „durch Aushang in den Räumen des Landtags und der Bezirksverwaltungsbehörden des Landes Thüringen sowie durch Verlesen im Rundfunk“ und schließlich ihre Bekanntmachung im Gesetzblatt vor. Diese Verkündung erfolgte noch am Tage der Annahme der Vorläufigen Landessatzung, also am 7.11.1990, um schon am nächsten Tag in der 4. Plenarsitzung auf der Grundlage der Vorläufigen Landessatzung eine Regierung wählen zu können. In einer sorgfältig vorbereiteten Aktion waren die erforderlichen Anschlagtafeln rechtzeitig installiert worden, und drei etwas altersschwache Ladas brachten die ausgefertigten Gesetzestexte unverzüglich in die Bezirksverwaltungsbehörden Gera und Suhl und zum Thüringer Rundfunk (dem Hörfunksender in Weimar), der für die Verlesung die nötige Sendezeit zur Verfügung gestellt hatte. Wegen der gebotenen Eile konnte nicht der zeitraubende Weg einer Verkündung im Gesetzblatt eingeschlagen werden. Deshalb war, wie in den meisten neuen Ländern, eine Form der Notverkündung erforderlich. Dabei wurde in Thüringen dem Publizitätsgebot im Vergleich zu den anderen neuen Ländern am besten entsprochen. An diesem Verkündungsverfahren entdeckte jedoch Andreas Jung, ein Journalist, den es aus Hessen zum MDR-Hörfunk nach Weimar verschlagen hatte, einen vermeintlich schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Makel. In abstoßender Überheblichkeit und Arroganz eines Besserwessis belehrte er die Ossis und den Thüringer Landtag sowie seine Abgeordneten, und das nach Form und Inhalt in einer Art und Weise, die Gräben aufriss und Ossis daher zu Recht auf die Palme brachte. Doch es war nicht nur unsympathische Arroganz, wie sie Ossis von den Besserwessis so „liebten“, sondern darüber hinaus ein Beispiel peinlicher Unkenntnis, denn der Journalist lag mit seiner Kritik in der Sache völlig daneben. In seinem Kommentar geißelte er das Verfahren zur Verkündung der Vorläufigen Landessatzung am 8.11.1990 im Sender Thüringen I mit folgenden Worten: „Jetzt hat Thüringen also eine provisorische Verfassung, verabschiedet von frei gewählten Abgeordneten. Und doch scheint das neue Denken, die neue Freiheit noch nicht in den Köpfen der Abgeordneten bis in die letzten Winkel vorgedrungen zu sein. So

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heißt es im letzten Paragraphen der Vorläufigen Landessatzung: Dieses Gesetz wird unverzüglich nach dem Beschluss des Landtags von seinem Präsidenten ausgefertigt und durch Aushang in den Räumen des Landtags und der Bezirksverwaltungsbehörden des Landes Thüringen sowie durch Verlesen im Rundfunk verkündet. – und weiter – Er tritt mit der Verkündung in Kraft. Das erinnert doch an frühere Zeiten in der DDR, als die Oben bestimmten, was der Rundfunk zu senden hat. Eigentlich, so hat es jedenfalls immer geheißen, sollten diese Zeiten längst vergessen sein. Schlimm daran ist nicht, dass der Rundfunk am Abend die Vorläufige Landessatzung von Thüringen verkündete, schlimm ist, dass die Abgeordneten offensichtlich gar nicht gemerkt haben, was sie da beschlossen haben. Die Pressefreiheit steht zwar auch für die fünf neuen Bundesländer fest, wie die thüringischen Abgeordneten damit umgehen, das müssen sie offensichtlich erst noch lernen.“

Dem sonst so sehr auf Ausgleich und Versöhnung bedachten Landtagspräsidenten Gottfried Müller platzte in diesem Falle ausnahmsweise der Kragen. Mit folgendem geharnischten Brief vom 12.11.1990 beschwerte er sich über den journalistischen Besserwessi aus Hessen beim Thüringer Landesrundfunkdirektor: „Der Vergleich, den der Kommentator zwischen der staatlichen Fremdbestimmung des Rundfunks aus SED-Zeiten und dem für die Verkündung der Vorläufigen Landessatzung in deren § 18 vorgesehenen Verfahren zieht, ist infam und muss von mir im Namen des Thüringer Landtags schärfstens zurückgewiesen werden… Ein Gesetz kann erst nach seiner öffentlichen Verkündung rechtlich wirksam werden. Die übliche – und für alle künftigen Gesetze des Landtags vorgesehene – Verkündung über ein Gesetzesblatt wäre zu zeitaufwendig gewesen und hätte die vorgesehene Regierungsbildung unerwünscht verzögert. Daher wurde ausnahmsweise die Form einer „Notverkündung“ gewählt, die im Übrigen in Hessen, wohl dem Heimatland des Kommentators, ausdrücklich in der Verfassung (Art. 122) vorgesehen ist. Außerdem enthalten die geltenden Rundfunkgesetze ausdrückliche Regelungen über ein Verlautbarungsrecht des Staates (vgl. z.B. des Staatsvertrags über das ZDF oder § 3 Nr. 5 des Gesetzes über den Hessischen Rundfunk)… Die Verkündung im Rundfunk war im Übrigen rechtzeitig vorher mit dem Landessender Thüringen einvernehmlich abgesprochen worden…“

Und er schloss mit dem bitterbösen Vorwurf: „Entweder muss der durch keine Sachkenntnis getrübte, arrogante Schlusssatz des Kommentators, dass die Abgeordneten des Thüringer Landtags noch lernen müssten, mit der Pressefreiheit umzugehen, auf ihn selbst zurückschlagen, wobei sich für ihn das Lernziel zusätzlich auf das simple journalistische Handwerkszeug erstrecken muss. Oder dem Kommentator ging es überhaupt nicht um eine kritische Kommentierung eines sauber recherchierten Themas, sondern um aggressiven, politischen Gesinnungs-

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journalismus. Welche Alternative auch immer zutreffen mag, ich frage mich, ob wir derartige Importe aus Hessen in unserer jungen, noch lernbedürftigen Demokratie benötigen, in der guter Wille und breiter demokratischer Konsens, aber nicht das Schüren unsachlicher Konfrontationen gefragt sind.“

Die Vorläufige Landessatzung hatte zwar die Qualität einer Verfassung, inhaltlich war sie jedoch nur eine Rumpfverfassung. Sie beschränkte sich im Wesentlichen auf eine Regelung des Staatsorganisationsrechts und dabei – unter Aussparung der dritten Gewalt – insbesondere darauf, wie Landtag und Regierung zu bilden sind, welche Aufgaben sie haben und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen; außerdem wurden Regelungen über das Finanzwesen getroffen. Auf die Aufnahme eines Grundrechtskatalogs in die Vorläufige Landessatzung glaubte man vorerst zu Recht verzichten zu sollen, da die im Grundgesetz verankerten Grundrechte in Thüringen als einem Land der Bundesrepublik Deutschland nach Artikel 3 des Einigungsvertrages unmittelbar geltendes Recht waren. Eine pauschale und unbesehene Übernahme der Grundrechtskataloge des Grundgesetzes oder der Landesverfassungen eines der thüringischen Partnerländer (Hessen, Rheinland-Pfalz, Bayern) widersprach dem ausgeprägten Thüringer Patriotismus. Ausschlaggebend für die Beschränkung auf eine Rumpfverfassung waren im Wesentlichen zwei Gründe: Die umgehende Schaffung einer Vollverfassung war aus rein zeitlichen Gründen eine Illusion; andererseits bestand die zwingende Notwendigkeit, möglichst schnell die erforderlichen verfassungsrechtlichen Grundlagen für ein funktionstüchtiges parlamentarisches Regierungssystem und die Bildung einer „endgültigen“, voll legitimierten Regierung zu schaffen. Die Vorläufige Landessatzung hatte eine relativ lange Lebensdauer. Sie wurde erst am 30.10.1993 von der an diesem Tage – wenn auch erst vorläufig – in Kraft gesetzten endgültigen „Verfassung des Freistaats Thüringen“ abgelöst. Endgültig trat die Verfassung sogar erst mit deren Bestätigung durch einen Volksentscheid in Kraft, der nach Art. 106 Abs. 1 ThürLV vorgeschrieben war. Die Beratung und Verabschiedung der endgültigen Verfassung wird später im 14. Kapitel dargestellt. Ursprünglich sollte die Vorläufige Landessatzung nach ihrem § 18 Abs. 2 schon spätestens am 31.12.1992 außer Kraft treten. Diese Bestimmung hatte die SPDFraktion – wie bereits erwähnt – nach kontroverser Diskussion durchgesetzt, um den zeitlichen Druck auf die Beratungen zur endgültigen Verfassung zu erhöhen. Als sich aber abzeichnete, dass sich diese Beratungen verzögern sollten und nicht bis Ende 1992 abgeschlossen werden konnten, wurde der Termin mit einer Verfassungsänderung aufgehoben, und es wurde mit dem „Zweiten Gesetz zur Änderung der Vorläufigen Landessatzung“ vom 15.12.1992 – ohne einen neuen Termin zu nennen – in der Neufassung von § 18 Abs. 2 festgelegt: „Dieses Gesetz tritt mit dem Inkrafttreten der Verfassung des Landes Thüringen außer Kraft.“ (GVBl. 1992, S. 575). Die Vorläufige Landessatzung hatte sich in der Praxis durchaus bewährt. Bis auf die oben beschriebene Änderung bedurfte sie weder weiterer Korrekturen noch einer Ergänzung.

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Bildung der ersten Thüringer Landesregierung und deren   Umbildung nach einer schweren Regierungskrise Die Wege zur Bildung einer „endgültigen“ oder einer nur „vorläufigen“ Regierung waren durch das Ländereinführungsgesetz vorgezeichnet. In § 23 Abs. 2 des Ländereinführungsgesetzes heißt es, dass der Landtag spätestens am 14. Tag nach der Wahl – Wahltag war der 14.10.1990 – zusammenzutreten und spätestens am 20. Tag nach seinem Zusammentritt eine „vorläufige Landesregierung zu bilden“ habe. Ergänzend bestimmte § 23 Abs. 3 des Ländereinführungsgesetzes, dass die Landesregierung nach Inkrafttreten der Landesverfassung nach deren Bestimmungen gebildet wird. Diese Vorschriften waren nicht etwa dahingehend auszulegen, dass die Landtage in den dort genannten Zeiträumen „vorläufige Regierungen“ und erst nach dem Inkrafttreten der Landesverfassungen „endgültige“ Regierungen zu wählen hätten. Vielmehr war es ihnen auch möglich, bereits voll legitimierte Regierungen für die Dauer der gesamten Wahlperiode zu bestellen. Voraussetzung war allerdings, dass diese Bestellung auf der Grundlage einer – wenn auch nur vorläufigen – Verfassung spätestens bis zum 20. Tag nach dem Zusammentritt des Landtags erfolgt war. Die Regierung von Thüringen wurde daher aufgrund dieser Überlegungen rechtzeitig vor dem 20. Tage nach dem Zusammentritt des Landtags, das war der 25.10.1990, nämlich in der 4. Sitzung des Landtags am 8.11.1990 kreiert. Sie wurde damit auf der Grundlage der Vorläufigen Landessatzung nach Maßgabe deren § 11 gebildet, so dass es sich bei ihr nicht um eine nur „vorläufige“ Regierung aufgrund von § 23 Abs. 2 und 3 des Ländereinführungsgesetzes handelte.

Abb. 11  Die Vereidigung des ersten Thüringer Ministerpräsidenten Josef Duchač durch Landtagspräsident Dr. Gottfried Müller am 8.11.1990

Auf Vorschlag der CDU-Fraktion wurde der vormalige Landessprecher für Thüringen, Josef Duchač, mit 52 Ja- und 30 Neinstimmen bei fünf Enthaltungen zum ersten Ministerpräsidenten Thüringens nach der Wende gewählt. Nach seiner Vereidigung ernannte er in einer Sitzungspause die Mitglieder seines Kabinetts, und zwar:

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Dr. Ulrich Fickel

– zum Stellvertretenden Ministerpräsidenten und Minister für Wissenschaft und Kunst,

Willibald Böck

– zum Innenminister,

Dr. Klaus Zeh

– zum Finanzminister,

Dr. Hans-Joachim Jentsch – zum Justizminister,

Christine Lieberknecht

– zur Kultusministerin,

Dr. Hans-Jürgen Schulz

– zum Minister für Wirtschaft und Technik,

Hartmut Sieckmann

– zum Umweltminister,

Dr. Hans-Henning Axthelm

– zum Minister für Soziales und Gesundheit,

Dr. Volker Sklenar

– zum Minister für Landwirtschaft und Forsten,

Jochen Lengemann

– zum Minister für besondere Aufgaben.

Abb. 12  Die erste Thüringer Landesregierung. Von links nach rechts: Dr. Jentsch (Justiz), Böck (Innen), Sieckmann (Umwelt), Dr. Fickel (Wissenschaft, Kunst), Dr. Axthelm (Soziales, Gesundheit), Dr. Zeh (Finanzen), Lieberknecht (Kultur), Duchač (Ministerpräsident), Dr. Sklenar (Landwirtschaft, Forsten), Dr. Schulz (Wirtschaft, Technik), Lengemann (besondere Aufgaben)

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Nach der Bestätigung der Landesregierung (§ 11 Abs. 2 S. 2 Vorl.LS) mit den Stimmen der Fraktionen der CDU und der FDP gegen die Stimmen der Fraktionen der SPD, der PDS und der Fraktion NF/GR/DJ sowie bei einer Enthaltung (Abgeordnete Geithner, PDS) wurden die Minister vereidigt. Mit der Konstituierung des Thüringer Landtags am 25.10.1990 sowie der am 7.11.1990 verabschiedeten Vorläufigen Landessatzung waren somit alle wesentlichen Voraussetzungen für den weiteren Aufbau des neuen Staates Thüringen geschaffen. Die erste Bewährungsprobe bestand die Vorläufige Landessatzung bei der Bewältigung der ersten schweren Regierungskrise. Sie konnte auf der Grundlage von § 11 Abs. 2 der Vorläufigen Landessatzung im Januar/Februar 1992 erfolgreich gemeistert werden. Thüringens erster Ministerpräsident nach der Wende, Josef Duchač, geriet schon bald unter erheblichen politischen Druck, der Ende des Jahres 1991 zunehmend eskalierte. Ihm wurde vorgeworfen, die Regierung nicht professionell und kraftvoll genug zu führen. Leicht gesagt, Duchač war natürlich kein Politprofi. Er war trotz seiner gewissen Erfahrungen im Rat des Kreises unverhofft und plötzlich in das harte Politikgeschäft geworfen worden. Man wollte ja unbedingt einen Thüringer als Regierungschef. Nach meinen Beobachtungen gab er subjektiv und auch objektiv alles, was er an Talenten besaß. Aber das reichte in dieser Aufbauphase, die auf allen Ebenen geradezu Heroisches forderte, nun mal nicht aus. Die Zusammenarbeit mit dem Koalitionspartner FDP, insbesondere mit dessen Fraktionsvorsitzendem Andreas Kniepert, gestaltete sich zunehmend schwierig. Das verwunderte nicht. Denn Kniepert zeichnete bei aller Anerkennung seiner herausragenden Intelligenz nicht nur ein hohes Maß an Selbstbewusstsein, sondern leider auch maßlose Arroganz und ein oft verletzendes herrisches Wesen aus. Doch auch die eigenen Parteifreunde machten es Duchač nicht leicht. Das galt besonders für den CDU-Landesvorsitzenden Böck und eine suboptimale Truppe von Fraktionsvorstand mit Jörg Schwäblein an der Spitze, der mit kaum jemandem in Frieden leben konnte. Zu dieser schwierigen personellen Konstellation traten die permanenten Querelen in der zwischen „Blockflöten“ und Reformern zerrissenen CDUFraktion hinzu. Als dann auch noch Berichte über die Mitgliedschaft von Duchač in den sogenannten „Kampfgruppen“, den paramilitärischen Organisationen in den Betrieben der DDR, sowie seine Auftritte als Clown Ferdinand in Stasi-Einrichtungen in die Presse lanciert wurden und ihm daraus eine zu große Nähe zu den alten kommunistischen Strukturen angehängt wurde, war es um seine weitere politische Zukunft geschehen. Zwar überstand er noch in der Plenarsitzung am 18.12.1991 einen Misstrauensantrag der SPD-Fraktion. Die nächsten politischen Schläge vermochte er jedoch nicht mehr zu überleben: Die Minister Lengemann, Lieberknecht und Zeh drohten mit ihrem Rücktritt. Duchač versuchte in die Offensive zu gehen; er wollte von sich aus die Rebellen aus seinem Kabinett entlassen und an ihrer Stelle neue Minister ernennen. Dafür fehlte ihm jedoch die Rückendeckung seiner Fraktion, nachdem die drei Mi-

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nister ihre Rücktrittsdrohung wahrgemacht hatten. Duchač gab daraufhin auf und erklärte am 23.1.1992 seinen Rücktritt.3 In den nächsten Tagen setzte eine hektische Suche nach einem geeigneten Nachfolger ein. Der Blick ging nach den bisherigen Erfahrungen mit einem Ossi verstärkt in Richtung Westen. Bloß nicht wieder einen Ministerpräsidenten aus der ostdeutschen politischen Laienschauspielerschar! Ein westdeutscher Profi musste es sein, natürlich mit einem CDU-Parteibuch. Als Favoriten wurden gehandelt: Dr. Bernhard Vogel, der ehemalige Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Rudi Geil, ein Politiker mit Ministererfahrung in mehreren Ressorts in Rheinland-Pfalz, eine politische Vielzweckwaffe und Dr. Hans-Joachim Jentsch, der aus Hessen stammende Thüringer Justizminister. Da ich als Aufbauhelfer aus der Landtagsverwaltung des Landes Rheinland-Pfalz kam und zuvor in der dortigen Staatskanzlei gedient hatte, wurde ich von verschiedenen Politikern nach meiner Meinung zu dem geeignetsten Kandidaten aus Rheinland-Pfalz befragt. Meine Position dazu war klar: Sollte eine dynamische Führungsfigur, ein schneidiger politischen Macher, erwünscht sein, war Rudi Geil der geeignetste Mann. Geil war zudem ein für einen Politiker unschätzbares Geschenk des Himmels in die Wiege gelegt worden: Er hatte ein begnadetes Personen- und Namensgedächtnis. Hatte er jemals einem Bürger die Hand gedrückt und dessen Namen gehört, dann ging er bei einem abermaligen Zusammentreffen auf diesen zu und begrüßte ihn mit Namen, so dass dieser sich in das enge persönliche Umfeld eines hochrangigen Politikers aufgenommen und gehörig geschmeichelt fühlte. Auch so lassen sich Stimmen fischen und Multiplikatoren gewinnen. Sollte aber ein exzellent ausgleichender Moderator der Politik, ein Mann von Kultur und mit weitläufigen Beziehungen bevorzugt werden, der es versteht, Vertrauen zu gewinnen und aufzubauen, dann wäre Bernhard Vogel die richtige Wahl. In der spezifischen ostdeutschen Situation nach der Wende galt es, nicht nur Wessis und Ossis sowie DDR-Oppositionelle in den neuen Staat zu integrieren, sondern auch Mitläufer und alte DDR-Kader ohne blutrote Weste. Für diese Aufgabe war Vogel meines Erachtens der richtige Mann. Ihm konnte man es auch zutrauen, eine Koalitionsregierung mit schwierigen Partnern aus der FDP und nicht weniger schwierigen „Freunden“ aus den eigenen Reihen zu führen. Vogel wurde folgerichtig der Kandidat der CDU, und das kam so: Am 27.1.1992 fuhren Duchač, Böck, Lieberknecht und Schwäblein nach Bonn zu Helmut Kohl, um sich beim CDU-Bundesvorsitzenden Rat zu holen und die Kandidatenfrage endgültig zu entscheiden. Zu aller Überraschung wartete vor Ort noch ein weiterer Kandidat in einem Nebenzimmer, oder richtiger eine Kandidatin: Rita Süssmuth, die damalige Bundestagspräsidentin. Es war die Kandidatin des Fraktionsvorsitzenden Schwäblein, der von sich glaubte, mit allen politischen Wassern gewaschen zu sein. Er hatte Rita Süssmuth gleich mitgebracht, ohne Kohl, den unschlagbaren Strategen in Personalfragen, zuvor davon unterrichtet zu haben. Natürlich fiel dieser „gewaltige politische Stratege“ Schwäblein mit seinem Coup und dieser Kandidatin – wie so oft mit Initiativen in seiner politischen Laufbahn – auf den Allerwertesten, der aber trotz geringer Polsterung augenscheinlich unglaubliche Nehmerqualitäten zu haben schien. Rita

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Süssmuth, diese mit oberlehrerhafter Penetranz auf Frauenthemen fixierte Politikerin, von der bekannt war, dass unter ihrem Verwaltungsstil – oder besser: Chaos – die gesamte Bundestagsverwaltung zu ihrer Zeit als Bundestagspräsidentin gelitten hatte, war als Ministerpräsidentin der Thüringer in der Aufbauhase geradezu eine absurde und abenteuerliche Vorstellung. Man einigte sich schnell auf Vogel, Kohl rief ihn an, Vogel sagte nach kurzem Zögern zu. Noch am selben Abend traf man sich im Gästehaus der Landesregierung in Erfurt. Vogel war damit Ministerpräsidentenkandidat der Koalition aus CDU und FDP. Am 5.2.1992 wurde er mit 50 Stimmen zum Ministerpräsidenten gewählt. Auf seinen Gegenkandidaten Dr. Gerd Schuchardt entfielen 27 Stimmen, dazu gab es acht Enthaltungen.

Abb. 13  Die Vereidigung des zweiten Thüringer Ministerpräsidenten Dr. Bernhard Vogel durch Landtagspräsident Dr. Gottfried Müller am 5.2.1992

Ging die Wahl des Ministerpräsidenten somit ohne Probleme über die Bühne, so galt es danach allerdings, noch die nächste schwierige Etappe der weiteren Regierungsbildung mit der Bestellung der Minister erfolgreich zu meistern. Eine Regelung in der Vorläufigen Landessatzung, die in den Verfassungsberatungen ziemlich umstritten war, sollte sich dabei als eine weise und weitsichtige Lösung erweisen. Es ging um die Frage, wie die Minister ins Amt gelangen sollten. Dazu hatten sich in den Verfassungsberatungen zwei gegensätzliche Positionen gegenüber gestanden: Zum einen sollte der Ministerpräsident die Minister ohne jede Beteiligung des Parlaments ernennen. Gerade Akteure der Wende kritisierten diese Alternative als zu exekutivlastig. Sie forderten dem gegenüber, dass der Ministerpräsident zwar die Minister seines Vertrauens auswählen und dem Landtag vorschlagen können sollte, dass aber jeder einzelne Minister danach noch vom Landtag gewählt oder bestätigt werden müsse. Das letzte Verfahren, das an sich dem Idealbild eines parlamentarischen Regierungssystems entsprechen würde, hatte ich in meiner Berliner Zeit kennengelernt: Alle Senatoren des Berliner Senats mussten nach der damaligen Berliner Verfas-

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sungslage einzeln bestätigt werden. Diese parlamentsfreundliche Regelung hatte aber auch ihre Schattenseite, die sich insbesondere bei knappen Mehrheitsverhältnissen in geheimen Wahlen zeigte. Bei der Bestätigung einzelner Senatoren wurden nämlich immer wieder alte Rechnungen beglichen, oder Mitglieder der Regierungsfraktion, die bei der Senatsbildung übergangen worden waren, brachten ihren Frust dadurch zum Ausdruck, dass sie – mindestens im ersten Wahlgang – gegen den Vorschlag des Regierungschefs stimmten. Daher plädierte ich – erfolgreich – für folgende Kompromisslösung: Der Landtag sollte nicht nur bei der Wahl des Ministerpräsidenten, sondern auch bei der Bestellung der Minister Einfluss nehmen können, allerdings nur in der Form, dass er die Regierung als Ganze bestätigen oder ablehnen konnte. Damit war einerseits die Mitsprache des Landtags bei der Regierungsbildung gesichert und andererseits dem Bedürfnis nach stabilen politischen Verhältnissen Rechnung getragen. Denn jeder Abgeordnete der Regierungsfraktion bzw. einer Koalition stand vor der Alternative, die Regierung zu stützen oder Neuwahlen zu riskieren. Bei Neuwahlen bestand aber die Gefahr, das eigene Mandat zu verlieren und – da es sich bei den Abgeordneten durchweg um Berufsabgeordnete handelte – damit in ein wirtschaftliches und finanzielles Loch zu fallen. Das aber wollte keiner riskieren.

Abb. 14  Die zweite Thüringer Landesregierung. Von links nach rechts: Sieckmann (Umwelt, Landesplanung), Schuster (Staatskanzlei), Böck (Innen), Lieberknecht (Bundes- und Europaangelegenheiten), Dr. Sklenar (Landwirtschaft, Forsten), Dr. Zeh (Finanzen), Dr. Vogel (Ministerpräsident), Dr. Fickel (Wissenschaft, Kunst), Dr. Axthelm (Soziales, Gesundheit), Althaus (Kultur), Dr. Bohn (Wirtschaft, Verkehr), Jentsch (Justiz)

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So war trotz aller Querelen in der CDU-Fraktion die Gefahr ziemlich gering, dass der Regierung als Ganze die Bestätigung verweigert würde. Hingegen wäre bei der Bestätigung einzelner Minister die Gefahr sehr groß gewesen, dass besonders Lieberknecht und Zeh, den Rebellen unter den Ministerkandidaten, die Zustimmung verweigert worden wäre. Meine Rechnung ging daher auf: Die Regierung Vogel erreichte nach Feststellung des Landtagspräsidenten eine ausreichende Mehrheit, ohne dass er ein detailliertes Stimmergebnis bekannt gab.4 In der endgültigen Verfassung wurde nur die Wahl des Ministerpräsidenten durch den Landtag vorgeschrieben und auf eine Beteiligung des Landtags an der weiteren Regierungsbildung vollständig verzichtet (Art. 70 Abs. 3 und 4 ThürLV). Damit wurden die Gewichte noch weiter auf Kosten des Landtags zugunsten einer stabilen Regierung mit einem starken Regierungschef verschoben. Dem Verfassungsgeber steckte offensichtlich noch die Zitterpartie um die Regierungsbildung im Februar 1992 in den Knochen.

Die jährliche Anpassung der Abgeordnetendiäten – Eine   thüringische Innovation mit Vorbildcharakter Es gibt in der parlamentarischen Praxis kaum ein leidigeres politisches Thema als das der Diäten von Abgeordneten, also ihrem staatlichen Einkommen. Die Abgeordneten sind natürlich an einem auskömmlichen, ihren Status berücksichtigenden Einkommen interessiert, und das durchaus zu Recht. Das gilt vornehmlich für die Berufsabgeordneten, welche in den neuen Ländern die ganz überwiegende Mehrheit in den Parlamenten ausmachen – darauf wurde schon oben hingewiesen. Ob Berufsabgeordnete in der Regel in die Landtage gehören, möchte ich allerdings bezweifeln; dieses Thema soll hier jedoch nicht vertieft werden.5 Der erste Präsident des Thüringer Landtags Gottfried Müller hat immer beklagt, dass es keine überzeugenden objektiven Maßstäbe für die Höhe von Abgeordneteneinkommen gäbe. Daher ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass jedes Mal ein öffentlicher Sturm der Entrüstung ausbricht, sobald bei der Festlegung der Höhe von Diäten die ersten Zahlen in der Welt sind. Die Medien stürzen sich sofort auf dieses Thema, und so manches Presseorgan heizt die Stimmung an, allen voran die BILDZeitung als unbestrittene Meisterin, politische Kampagnen loszutreten und zu steuern. Die Leserbriefspalten der Zeitungen sind sofort voller Angriffe und Anklagen: „Selbstbedienung“, „Verlust an Bodenhaftung“, „Maßlosigkeit“, „Abgeordnete in die Produktion“ und vieles mehr an Schmähungen prasselt auf die Abgeordneten nieder. Dieser Zorn trifft in erster Linie natürlich immer diejenigen Abgeordneten, die eine bestimmte Diätenregelung mittragen. Manche Opposition versucht demgegenüber höchst populistisch, die öffentliche Stimmung auf ihre eigenen politischen Mühlen zu lenken und lehnt Diätenfestlegungen – in welcher Höhe auch immer – ab, teilweise mit dem miesen Vorbehalt: „Ablehnung, sofern Annahme gesichert“. Es ist also niemandem recht zu machen, allenfalls lassen sich die Wogen etwas glätten.

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Der Thüringer Landtag musste zunächst einmal den Einstieg in das Diätenrecht finden. Der erste Schritt wurde mit § 8 Abs. 4 in der Vorläufigen Landessatzung getan, wo es ganz unspektakulär hieß: „Die Abgeordneten haben Anspruch auf eine angemessene, ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung; das Nähere regelt ein Gesetz.“ Diese Regelung erfolgte mit dem „Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Abgeordneten des Thüringer Landtags“ vom 13.02.1991 (GVBl., S. 27 ff.). Die Höhe der „Grundentschädigung“, also das steuerpflichtige Einkommen, wurde in § 5 Abs. 1 mit „3.500 Deutsche Mark“ bestimmt. Es handelte sich dabei um eine relativ objektive Festlegung. Mein Vorschlag, die Höhe des Anfangsgehalts von Abgeordneten mit zirka 60 Prozent der durchschnittlichen Diäten in den westdeutschen Flächenländern anzusetzen, fand bei den Abgeordneten allgemeine Zustimmung, da zu jener Zeit im Osten etwa 60 Prozent der Westlöhne bezahlt wurden. Der zweite Schritt war, ein Verfahren zu „erfinden“, mit dem die Höhe von Diäten einer veränderten Wirtschafts- und Einkommensentwicklung angepasst werden konnte. Nach der politischen Vorgabe des Landtagspräsidenten Gottfried Müller sollte dies ein Verfahren sein, das nicht mehr „dem bösen Schein der Selbstbedienung“ ausgesetzt sein durfte, so seine wunderbar prägnante, eingängige und viel zitierte Formulierung. Die Abgeordneten sollten also nicht mehr selbst über die Höhe ihres Einkommens entscheiden müssen. Dieses Ziel ließ sich nur auf zwei Wegen erreichen: Entweder musste die Entscheidung auf eine parlamentsunabhängige Diätenkommission verlagert oder eine Indexierung der Einkommen vorgeschrieben werden. Gegen die Kommissionslösung sprachen vor allem folgende Gründe: Da die Kommission mit der Festsetzung der Diäten eine wesentliche staatliche Entscheidung trifft, müsste sie zumindest mittelbar demokratisch legitimiert sein. Auf der Landesebene kommt als Mittler demokratischer Legitimation nur der Landtag in Betracht (auf Bundesebene auch zum Beispiel der Bundespräsident, so ein immer wieder erneuerter Vorschlag der FDP-Bundestagsfraktion). Dann aber taucht sofort die Gefahr auf, dass sich der Landtag eine ihm genehme und geneigte Kommission zusammenstellt, was immerhin auf eine Art „Selbstbedienung light“ hinauslaufen könnte. Die Unabhängigkeit der Kommission würde darüber hinaus den grundsätzlichen demokratietheoretischen Bedenken begegnen, denen alle unabhängigen Gremien ausgesetzt sind, die wesentliche staatliche Entscheidungen treffen. Bei dem Indexierungsmodell, wie es für die Thüringer Abgeordneten entwickelt wurde, wird ihr Einkommen jährlich automatisch entsprechend den veränderten durchschnittlichen Bruttoverdiensten der unabhängig Beschäftigten in Thüringen angepasst, wobei passive Bezüge (Renten, Pensionen) oder Unterstützungen (Arbeitslosengeld, -hilfe, Sozialhilfe) unberücksichtigt bleiben. Die mandatsbedingten Aufwendungen werden an die „allgemeine“ Preisentwicklung und somit nicht an einen eigens dafür ausgewählten Warenkorb gekoppelt, sondern an die Entwicklung der Lebenshaltungskosten eines Arbeitnehmerhaushalts. Die jeweiligen Indices werden vom Statistischen Landesamt errechnet und sind damit ohne eine Entscheidung des Landtags verbindlich.6 „Väter“ dieser Indexregelung waren Landtagspräsident Dr. Müller und sein Landtagsdirektor, die bei deren gesetzlicher Realisierung die tatkräftige Rücken-

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deckung der Fraktionsvorsitzenden Jörg Schwäblein (CDU), Dr. Gerd Schuchardt (SPD) und Dr. Andreas Kniepert (FDP) erhielten. Im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur geltenden Rechtslage auf Bundesebene, wonach der Bundestag die Regelung der Diäten einschließlich ihrer Höhe durch ein Gesetz zu regeln hat, war mir sofort klar, dass die Indexregelung in Thüringen einer verfassungsrechtlichen Grundlage bedurfte, wozu der Thüringer Verfassungsgeber ob der Verfassungsautonomie der Bundesstaaten die erforderliche Rechtssetzungskompetenz besaß. Diese Rechtsaufassung wurde später in einem von der PDS-Fraktion gegen die Indexierung der Diäten angestrengten Normenkontrollverfahren vor dem Thüringer Verfassungsgerichtshof in vollem Umfang bestätigt.7 Die verfassungsrechtliche Indexierungsregelung (Art. 54 Abs. 2 ThürLV) wurde im Jahr 1995 näher konkretisiert (§ 25 a.F., § 26 n.F. des Abgeordnetengesetzes.8 Die Indexregelung hatte allerdings einen Geburtsfehler, der den Fraktionen, die sie ursprünglich durchgesetzt hatten, später einige politische Kopfschmerzen bereiten sollte. Knackpunkt war die Frage, von welchem Basiswert aus die Indexierung anlaufen sollte. Die Einkommenszuwächse bewegten sich Anfang der 90er Jahre in Thüringen in zweistelliger Höhe; so stiegen die Bruttoverdienste der Erwerbstätigen, die allerdings statistisch nur zu zirka 70 Prozent erfasst werden konnten, zwischen März 1992 und Oktober 1994 um insgesamt 46,7 Prozent. Damit war abzusehen, dass sich bei einem zu hohen Ausgangswert die Schere zwischen den absoluten Einkommen von Otto Normalverdiener und den Abgeordneten rasant spreizen würde. Landtagspräsident Gottfried Müller und ich plädierten daher vehement dafür, dass man zum Beginn des Indexierungsverfahrens von einem nicht zu hohen Grundeinkommen ausgehen sollte. Da aber zum Zeitpunkt der ersten Diätenanpassung nach dem Indexierungsverfahren zum 1.11.1994 die Grunddiät bereits 4.900 DM betrug9, wir also für eine deutliche Minderung der Einkommen der Abgeordneten plädierten, stießen wir bei den Fraktionsvorsitzenden zwar auf ein gewisses Verständnis, erhielten aber auch die klare Aussage, dass man der jeweils eigenen Fraktion eine spürbare Diätenreduzierung nicht vermitteln könne. Es kam dann so, wie es kommen musste. Die Schere zwischen den Einkommen der Abgeordneten und den übrigen Einkommensbeziehern klaffte aufgrund der anfänglich hohen prozentualen Zuwachsraten in absoluten Zahlen so stark auseinander, dass sich die Abgeordneten rechtzeitig vor Wahlterminen zweimal gezwungen sahen, die Indexierungsregelung zu suspendieren10 und damit zu korrigieren. Die thüringische Indexierungsregelung für die Anpassung der Abgeordnetendiäten wurde von den Parlamenten in Bund und Ländern allgemein und auch in Kreisen der Wissenschaft durchweg als vorbildlich und nachahmenswert bewertet. So gab es zahlreiche Anfragen zu diesem Modell nicht nur vom Bund11 und anderen Bundesländern, sondern auch aus dem Ausland bis hin zum fernen Japan. Dass sich das thüringische Modell in vielen Bundesländern nicht eins zu eins durchgesetzt hat, ist maßgeblich darauf zurückzuführen, dass es dazu einer vorherigen Verfassungsänderung mit allen damit verbundenen Hürden und Schwierigkeiten bedurft hätte, vor denen man sich scheute. So begnügte man sich zumeist, das thüringische Modell

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auf einfachgesetzlicher Ebene umzusetzen, soweit dies ohne Verfassungsänderung möglich war. Es gab aber auch Kritik an dem thüringischen Modell, das soll nicht verschwiegen werden. Sie gipfelte zumeist darin, dass sich die Abgeordneten mit der automatischen Diätenerhöhung aus der Verantwortung stehlen würden, und sie mündete in die Forderung, über Diätenerhöhungen müssten die Abgeordneten in aller Öffentlichkeit selbst entscheiden. Diese Position vertrat insbesondere die PDS-Fraktion im Thüringer Landtag, die daher mit schöner Regelmäßigkeit bis heute Initiativen zur Streichung von Art. 54 Abs. 2 ThürLV in den Landtag einbringt. Sie wird dabei leider im Ergebnis auch von Herbert von Arnim, dem in allen Medien präsenten, einflussreichen Diätenkritiker unterstützt. Diesen Kritikern ist mit aller Entschiedenheit ihre unseriöse Widersprüchlichkeit vorzuwerfen: Sie verdammen die Parlamente, weil Parlamente bei Diätenerhöhungen in eigener Sache entscheiden, und sie kritisieren Parlamente mit derselben Rigorosität dafür, wenn diese Modelle wie die Diätenindexierung einführen, um nicht mehr in eigener Sache entscheiden zu müssen.

Demonstrationen vor dem Thüringer Landtag und das   Bannmeilengesetz Demonstrationen vor dem Thüringer Landtag waren nach der Wende an der Tagesordnung. Zumeist demonstrierten Arbeitnehmer großer Kombinate für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze, die in großer Zahl wegbrachen. Ob der Thüringer Landtag der richtige Adressat für die Forderung nach Erhalt der in aller Regel nicht konkurrenzfähigen Betriebe war, sei hier dahingestellt. In diesen Demonstrationen kam einerseits noch der aus DDR-Zeiten tradierte Glaube zum Ausdruck, dass der omnipotente Staat auch in der Wirtschaft für die Schaffung und den Erhalt von Arbeitsplätzen zuständig sei. Oft waren die Demonstrationen aber auch nur Ausdruck von Ohnmacht und Verzweiflung. Andererseits waren bei vielen Menschen die Erfahrungen noch ganz frisch, dass sie mit Demonstrationen vieles erreicht hatten und dieses politische Druckpotential wollte man weiterhin nutzen. In dieser Situation war es für mich völlig unverständlich, dass als Reaktion auf diese Demonstrationen in hektischer Eile, nämlich bereits in der 3. Sitzung des Thüringer Landtags am 7.11.1990, die Regierungsfraktionen von CDU und FDP den Entwurf eines „Gesetzes über die Bannmeile des Thüringer Landtags“ einbrachten, der allerdings erst am 14.5.1991 verabschiedet und Gesetz wurde12 . Die Mehrzahl der Abgeordneten wollte die Demonstranten tunlichst nicht sehen und nicht hören und sich schon gar nicht mit ihnen auseinandersetzen. Demonstranten erschienen als Unruhestifter, derer man sich erwehren musste. Man wollte sie, wenn nicht sogar vor die Tore der Stadt, so doch zumindest in gehörigen Abstand zum Landtag verbannen. Daher wurde in dem Gesetzentwurf vorgeschlagen – und später auch beschlossen – dass die Bannmeile um den Thüringer Landtag einen riesigen, völlig überdimensionierten Bogen schlug, der später allerdings erheblich verkleinert wurde. Sie wirksam zu schüt-

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zen, hätte selbst bei einem flexiblen mobilen Polizeieinsatz hunderte von Polizisten erfordert. Hier kamen völlig unverständliche Sichtweisen und Reaktionen zum Ausdruck, die nach den Erfahrungen mit der friedlichen Revolution nicht nachzuvollziehen waren. Vor diesem Hintergrund hatte die Diskussion um parlamentarische Bannmeilen im Osten eine ganz andere Dimension als im Westen. Die DDR hatte von ihrem ideologischen Staatsverständnis her ihre liebe Not mit Demonstrationen kritischer Bürger. Diese Geisteshaltung schien noch nach der Wende in den Köpfen vieler Repräsentanten der neuen Staatsordnung zu spuken, in der das Demonstrationsrecht verfassungsrechtlich verankert worden war. Aber der Sinn und Zweck von Demonstrationen in einer repräsentativen Demokratie war augenscheinlich noch nicht in tiefere Bewusstseinsschichten eingedrungen. Wenn Demokratie die Herrschaft des Volkes ist und diese Herrschaft in hochkomplexen großen Flächenstaaten vorrangig nur durch Repräsentanten des Volkes ausgeübt werden kann, dann muss es Mittel und Wege geben, den Willen des Volkes an die demokratischen Repräsentanten des Staates heranzutragen, damit der Wille des Souveräns Eingang in die staatliche Willensbildung finden kann. Und eins dieser Mittel ist das grundrechtlich verbriefte Demonstrationsrecht der Bürger. Ich war mir mit dem Landtagspräsidenten Gottfried Müller völlig einig: Eine Bannmeile um den Thüringer Landtag – zumal in diesen riesigen Dimensionen – ist ein völlig falsches Signal an die Bürger in der neuen Demokratie und im Übrigen auch gar nicht nötig. Sollte es die Sicherheit des Parlaments, seiner Abgeordneten und die Funktionstüchtigkeit des Landtags erfordern, dann hätte man mit der Möglichkeit von Auflagen nach dem Versammlungsgesetz, dem Hausrecht und dem Strafrecht, zum Beispiel wegen Störung der Tätigkeit eines Gesetzgebungsorgans (§ 106b StGB) oder wegen Hausfriedensbruch (§ 123 StGB), genügend rechtliche Mittel in der Hand, eventuelle Störungen effektiv abzuwehren. Im Übrigen führten Kooperationsgespräche zwischen Landtagsverwaltung, Ordnungsbehörde und Polizei sowie den Anmeldern von Demonstrationen schon in deren Vorfeld zu einvernehmlichen Regelungen, die sowohl einerseits den Anliegen der Demonstranten, als auch andererseits den Forderungen nach ungehindertem Zugang der Abgeordneten zum Landtag und zu ungestörten parlamentarischen Beratungen Rechnung trugen. Wir konnten uns mit dieser Position jedoch leider nicht durchsetzen. Dazu trug auch die Stellungnahme des von mir ansonsten hoch geschätzten Präsidenten des Landtags Rheinland-Pfalz, Albrecht Martin, bei, der sich im Rahmen einer Anhörung zu diesen Gesetzesplänen mit großer Entschiedenheit für ein Bannmeilengesetz ausgesprochen hatte. Albrecht Martin war einst als Landtagspräsident mein Chef im Landtag Rheinland-Pfalz. Ich schätzte bei diesem puristischen evangelischen Theologen insbesondere seine stets klaren, grundsätzlichen Positionen, die immer auch etwas Preußisches an sich hatten. Aber preußischer Sinn für Sicherheit und Ordnung unterliegt augenscheinlich manchmal der Gefahr, in zu starre Illiberalität umzuschlagen. Das Bannmeilengesetz sah aber immerhin in seinem § 3 die – unkonditionierte – Möglichkeit vor, Ausnahmen von dem Demonstrationsverbot zuzulassen. Zuständig

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für die Erteilung von Ausnahmen war nach dem Gesetzestext „das Innenministerium im Einvernehmen mit dem Präsidenten des Landtags“. Obwohl damit die hauptsächliche Entscheidungskompetenz beim Innenministerium lag, wurde sie faktisch vom Landtagspräsidenten wahrgenommen. Das Innenministerium rief vor Demonstrationen immer beim Landtagspräsidenten oder Landtagsdirektor an, um sich nach deren politischem Willen zu erkundigen, und handelte dann entsprechend. Dieser zielte darauf ab, Demonstrationen grundsätzlich innerhalb der Bannmeile zuzulassen, in unmittelbarer Nähe zum Landtag auf der Johann-Sebastian-Bach-Straße mit den angrenzenden Parkplätzen. Die Demonstranten sollten wissen, dass ihnen die neue Verfassung ihre Grundrechte, wie das Demonstrationsrecht, nicht nur theoretisch auf dem Papier garantiert, sondern dass ihre politischen Parolen auch in effektiver Form ihren demokratischen Repräsentanten nähergebracht werden können und nicht in abseitigen bürgerlichen Wohngebieten verhallen. Die Abgeordneten sollen also die Demonstranten durchaus erleben und sich nicht deren Anliegen, versteckt hinter Polizeiketten, entziehen können. Es war voraussehbar, dass sich Demonstranten nicht damit abspeisen ließen, ihre Transparente und Parolen im politischen Niemandsland zu zeigen bzw. zu skandieren. Sie hätten die Bannmeile durchbrochen, um sich dem Parlament zu nähern. Der Staat stand bei dieser Sachlage vor der Alternative, die Demonstranten durch Einsatz der Polizei am Durchbrechen der Bannmeile zu hindern, die Verletzung der Bannmeile zu dulden oder aber von der schließlich gesetzlich vorgesehenen Ausnahmemöglichkeit vom grundsätzlichen Demonstrationsverbot ausdrücklich Gebrauch zu machen, um Demonstrationen innerhalb der Bannmeile zuzulassen. Der Einsatz der Polizei zur strikten Durchsetzung des Demonstrationsverbots war für den Landtagspräsidenten und den Landtagsdirektor völlig inakzeptabel. Prügelnde Polizisten gegen Arbeiter, die um ihre Arbeitsplätze kämpfen – eine solche Situation erschien völlig unverhältnismäßig und besonders in der Wendezeit politisch nicht zu vertreten. Aus rechtsstaatlicher Sicht kam aber auch die scheinbar unkomplizierteste, pflaumenweiche Lösung nicht in Betracht, nämlich die Verletzung der Bannmeile einfach zu dulden. Auf diese Weise versucht sich der Staat nicht nur bei der Durchsetzung von Demonstrationsverboten mit dem üblichen Hinweis auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip elegant aus der Affäre zu ziehen. Ein „Staat light“ durfte nicht an die Stelle des Rechtsstaats treten. Es galt der unumstößliche Grundsatz, dass Gesetze ernst zu nehmen und einzuhalten sind und Rechtsverletzungen nicht geduldet werden können. Denn Gesetze sind schließlich keine beliebigen Konventionalregeln, von denen man je nach politischer Opportunität abweichen darf. Gerade weil Gesetze geeignet sein müssen, auf ganz unterschiedliche Fallsituationen, die manchmal bei der Vielfältigkeit des Lebens überhaupt nicht voraussehbar sind, richtige Antworten zu geben, dürfen sie allerdings auch nicht zu starr und unflexibel gefasst werden. Die Verbindlichkeit von Normen setzt in aller Regel deren ausreichende Flexibilität voraus, um Einzelfallgerechtigkeit in der Vollzugspraxis gewährleisten zu können. Andernfalls würde die rechtsstaatlich unbedingt zu fordernde strikte Gesetzesbindung zu

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dem misslichen Ergebnis führen, welches mit der lateinischen Wendung „fiat justitia et pereat mundus“ (es geschehe Gerechtigkeit, selbst wenn die Welt daran zugrunde geht) trefflich beschrieben wird. Dieser Erkenntnis entsprach das Bannmeilengesetz in einer zweitbesten Lösung immerhin dadurch, dass es eine Ausnahmemöglichkeit von Demonstrationsverboten in der Bannmeile vorsah. So konnte einerseits geschriebenes Gesetzesrecht geachtet und andererseits dem verfassungsrechtlich verbrieften Demonstrationsrecht in der Praxis zu einer effektiven Ausübung verholfen werden. Folglich wurden Anfragen des Innenministeriums, wie mit Demonstrationen vor dem Landtag zu verfahren sei, nach Abwägung aller relevanten Gesichtspunkte in der Regel mit der Bitte beantwortet, Demonstrationen in der Bannmeile zu genehmigen, wenn auch gegebenenfalls mit gewissen Auflagen, so zum Beispiel einem gewissen Sicherheitsabstand zum Landtagsgebäude und seinen Eingängen. Das Innenministerium erteilte sodann diese Ausnahmegenehmigung. Das Einvernehmen des Landtagspräsidenten wurde dazu nur noch förmlich hergestellt, denn es war ja in der Sache bereits schon vorher erteilt. So sah die ständige Praxis nach dem ersten Thüringer Bannmeilengesetz aus. Für den Landtagspräsidenten und den Landtagsdirektor war diese Rechtspraxis politisch nicht ganz ungefährlich. Sie hatte nämlich zwei Konsequenzen, die in den Regierungsfraktionen, insbesondere in der Führung der CDU-Fraktion, auf einiges Missfallen stießen. Die Demonstranten vor dem Landtag forderten natürlich, dass sich die Politiker nicht hinter den Mauern des Landtags verstecken, sondern sich ihnen Auge in Auge mit offenen Ohren zum Disput stellen sollten. Davor hatten die Abgeordneten zu jener Zeit aber regelrecht Angst (zu der späteren Entwicklung und Praxis an anderer Stelle mehr). Sie waren einfach noch nicht in der Lage, sich einer aufgebrachten Menge zu stellen und sich ihr gegebenenfalls auch verbal zu erwehren. Es fehlten Erfahrung und Praxis im politischen „Nahkampf“. Der Landtagsdirektor sprang für die Abgeordneten immer wieder in die Bresche und stellte sich den Diskussionen und gelegentlichen Rangeleien. Er war darin durch die heißen 68er Jahre als Wissenschaftlicher Assistent des Staatsrechtlers Prof. Helmut Quaritsch an der Freien Universität Berlin trainiert. Quaritsch war von den Linksradikalen zum bevorzugten Angriffsobjekt auserkoren worden, weil er sich als einziger Professor in der Juristischen Fakultät mit Hilfe der von mir organisierten Unterstützung aus Kreisen der Jungen Union und der Korporierten den Boykottaufrufen und dem Umfunktionieren seiner Vorlesungen zu politischen Tribunalen widersetzte. Der Einsatz des Landtagsdirektors vor dem Thüringer Landtag trug zwar in Einzelfällen zur Mäßigung politischer Aktionen bei, aber er konnte den gewünschten Dialog mit den Politikern natürlich nicht ersetzen, zumal ihm dabei zwei Eigenschaften doch ziemlich hinderlich waren: Jurist und Wessi. Ich versuchte daher immer wieder, insbesondere Politiker aus der Führungscrew des Regierungslagers zu bewegen, aus dem Landtagsgebäude herauszukommen und sich den Demonstranten zu stellen. Das gelang nur sehr selten. Glück hatte ich im Allgemeinen mit dem damaligen Innenminister Franz Schuster, den der neue Ministerpräsident Bernhard Vogel aus der

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Konrad-Adenauer-Stiftung mitgebracht hatte. Dort war er unter anderem als eine Art Wanderprediger in Sachen Kommunale Selbstverwaltung tätig. Er konnte ohne Punkt und Komma reden wie ein Buch. Seine Argumentationselogen waren unerschöpflich; mit den Fakten nahm er es dabei allerdings nicht ganz so genau. Auch war seine Stimme so laut und kräftig, dass er selbst vor großen Menschenansammlungen keine „Flüstertüte“ benötigte. Er war also eine große Hilfe, leider damals jedoch nahezu die einzige. Aufgrund dieses unprofessionellen Umgangs mit Demonstranten seitens der Abgeordneten war es psychologisch nachvollziehbar, dass sie sich ihrer Schwächen in der Konfrontation mit Demonstranten durchaus bewusst waren und sich daher ihr ganzer Unmut gegen Landtagspräsident und Landtagsdirektor richtete, die ihnen diese für sie peinliche Situation eingebrockt hatten. Dieser Unmut wurde immer wieder einmal verschärft und äußerte sich dann in heftiger Kritik, wenn anlässlich von Demonstrationen Schäden entstanden, die jedoch zumeist geringfügiger Art waren, wie zum Beispiel eine eingeschlagene Scheibe.13 Bei Störungen der Sicherheit oder Ordnung in und um den Landtag habe ich immer nach dem Grundsatz gehandelt, dass die Störung zuerst und in allererster Linie von der Landtagsverwaltung selbst abgewehrt werden müsse. Der Präsident eines Parlaments besitzt nämlich nach dem Verfassungsrecht von Bund und Ländern die originäre Polizeigewalt im Parlament und auf dessen Grundstücken. Die allgemeine Polizei darf hier nur bei Gefahr im Verzug oder im Wege einer vom Parlamentspräsidenten angeforderten Amtshilfe tätig werden. Wir hatten bei größeren Demonstrationen die Polizei zumeist um Amtshilfe gebeten, um die oben geschilderte „eingedampfte“ Bannmeile zu sichern. Bei zu erwartenden größeren Störungen hatte sich die Polizei auf unser Amtshilfeersuchen im Landtagsgebäude in Bereitschaft gehalten. In den übrigen Fällen hat die Landtagsverwaltung die Abwehr von Störungen selbst übernommen, wobei ich immer Wert darauf gelegt habe, dass, wenn es dabei zu Einsätzen gegen Abgeordnete oder Fraktionsmitarbeiter kam – die zumeist der PDS angehörten – ich selbst nicht nur „den Hut auf hatte“, sondern auch den Vollzug vornahm. Ich wollte damit verhindern, dass „kleine“ Beamte oder Angestellte mit Abgeordneten oder Fraktionsmitgliedern in unmittelbare – auch körperliche – Auseinandersetzungen gerieten. Soweit es zum Einsatz der Polizei kam, erlebte man in der Nachwendezeit, dass es nicht nur bei der Vollzugspolizei, sondern auch bei der Polizeiführung bis hin in die Polizeiabteilung des Innenministeriums noch manches Wendeproblem gab: Die Kurve hin zu einer rechtsstaatlichen Polizei war für manche Situation noch nicht mit der nötigen Präzision genommen. Hier nur zwei Beispiele: Vor dem Landtag fand eine friedliche Demonstration der Kali-Kumpel aus Bischofferode statt. Ich erfuhr, dass sich zivile Polizei im Landtagsgebäude befände und hinter einem Fenster verdeckt Videoaufnahmen von der Demonstration und ihren Teilnehmern machen würde. Sofort rief ich die Polizeiabteilung im Innenministerium an und beschwerte mich über die Anwesenheit der Polizei im Landtagsgebäude, ohne dass dafür ein Amtshilfeersuchen vorlag. Die Polizeiführung entschuldigte sich und

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zog ab. Gravierender, weil ein unzulässiger Eingriff in den Datenschutz der Demonstranten, war deren Aufzeichnung per Video durch die Polizei. Ich wies die Polizeiführung darauf hin, dass der Polizei nach § 12a des Versammlungsgesetzes Videoaufnahmen von Demonstrationsteilnehmern nur unter der engen Voraussetzung gestattet wären, „wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass von ihnen erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgehen.“ Ich verlangte, dass die Aufnahmen sofort gelöscht würden. Bei diesem Telefongespräch bemerkte ich, dass § 12a des Versammlungsgesetzes in der Polizeiführung unbekannt war. Dementsprechend fiel auch die Reaktion aus: Man wollte diese Rechtsfrage zuerst einmal in der Abteilung unter Hinzuziehung von Juristen prüfen. Dass die normalen Einsatzkräfte so bald nach der Wende noch nicht ausreichend mit dem neuen, die Grundrechte respektierenden Polizeirecht vertraut waren, ist verständlich, die Unwissenheit der Polizeiführung dagegen nicht. Die Demonstration der Kali-Kumpel und die dabei zu Tage getretenen Rechtsverstöße sollten noch ein parlamentarisches Nachspiel in einer gemeinsamen Sitzung des Innen- und Justizausschusses haben. Dabei wurde nicht nur der eigenmächtige Einsatz des Polizeivideo-Teams im Landtagsgebäude, sondern auch deren Aufnahmen von den Demonstranten mehrheitlich vehement als rechtlich zulässig gebilligt. Diese Reinwaschung der Polizei nahmen nicht nur die CDU-Fraktion, an deren Spitze der Vorsitzende des Rechtsausschusses, Horst Schulz, ein juristisch völlig unbedarfter Hardliner, vor, sondern auch die Landesregierung durch zwei Staatssekretäre, die an sich als westdeutsche Volljuristen ein durchaus beachtliches juristisches Niveau besaßen. Ich hielt mit dem Präsidenten und den Vizepräsidenten auch deswegen heftig dagegen, damit keine Präjudizien für Eingriffe der Exekutive in die Autonomie des Parlaments geschaffen würden. Die sachlich-juristische Kontroverse eskalierte zwischen mir und dem Vorsitzenden des Justizausschusses, Horst Schulz, derart, dass er mich nicht nur persönlich angriff, sondern auch beleidigte. Erst meine Drohung, diesen Vorgang durch den Präsidenten im Ältestenrat zum Thema machen zu lassen, bewog ihn zu einer halbherzigen Entschuldigung. Ein anderer Fall, der nicht die rechtsstaatliche Anwendung des Polizeirechts, sondern die gebotene Sensibilität bei Polizeieinsätzen betraf, soll ebenfalls als kurzes Beispiel für eine noch ziemlich unzulängliche Polizeiarbeit geschildert werden: Wir forderten die Polizei vorsorglich zum Schutz des Landtagsgebäudes anlässlich einer Demonstration an, die wiederum nur den Erhalt von Arbeitsplätzen zum Ziel hatte. Anhaltspunkte für Störungen der Sicherheit und Ordnung gab es nicht. Die Polizei reihte entlang der Bannmeile vor dem Landtag zur Johann-Sebastian-Bach-Straße hin Polizeifahrzeuge auf. Dahinter war – gut einsehbar – ein ganzes Arsenal polizeilicher Schutz- und Hilfsmittel an die Fahrzeuge gelehnt: große Plastikschilder, Schutzhelme mit Visier und beinlange Schlagstöcke. Bei diesem martialischen Empfang vor dem Landtag musste sich jeder Demonstrant wie ein potentieller Krimineller gefühlt haben. Damit waren Konfrontationen oder sogar Aggressionen gegenüber der Polizei vorprogrammiert. Als Freund und Helfer sowie Wahrer der Grundrechte – dies ist

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mein grundsätzlicher Anspruch an die Polizei – konnte sie in dieser Aufmachung vor den Demonstranten wohl kaum erscheinen. Damit insoweit kein falscher Eindruck entsteht, muss abschließend zu diesem Kapitel hervorgehoben werden, dass es sich hierbei um Beobachtungen aus der unmittelbaren Nachwendezeit gehandelt hat. Sie prägen kaum mehr das aktuelle Bild: Die Abgeordneten sind in der großen Mehrzahl durchaus nicht mehr scheu und furchtsam. Findet heute eine Demonstration vor dem Landtag statt, stellen sich in der Regel die Vertreter aller Fraktionen den Demonstranten zu einem gemeinsamen Gespräch, sei es auf der Straße oder vor einer Delegation der Demonstranten im Landtagsgebäude. Ebenso ist inzwischen bei der Polizei ein hohes Maß an Professionalität eingezogen. Die Fortbildung der Polizei unter anderem in der Polizeiakademie in Hiltrup hat nachhaltige Wirkung gezeigt. Ich hatte zusammen mit meinen Mitarbeitern, die zunehmend die Abstimmung mit der Polizei übernahmen, kaum mehr Probleme mit ihr – ganz im Gegenteil: Sie wurde zum echten Partner mit gutem juristischen und sensiblen polizeitaktischen Sachverstand. Das in mir durch jahrelange vielfältige, unerfreuliche Kontakte mit den Vopos gewachsene frühere Feindbild einer menschenverachtenden Truppe von Befehlsempfängern einer Diktatur verflüchtigte sich schon sehr bald immer mehr. Doch dieser Weg von einem willfährigen Vollzugsorgan eines Unrechtsstaats zu einer rechtsstaatlich orientierten Polizei war schwierig, er brauchte seine Zeit.

12.  Demonstrationen und Störungen in und vor dem Thüringer Landtag Nächtliche „Besetzung“ des Landtags Nach den Grundsätzen einer parlamentarischen Demokratie fanden die Plenarsitzungen des Thüringer Landtags natürlich öffentlich statt. Es gab eine Besuchertribüne mit immerhin knapp 40 Plätzen; weitere zehn Plätze waren für die Presse reserviert. Auf der Besuchertribüne hatte grundsätzlich jedermann Zutritt, so lange die Plätze reichten. Nach dem Besuch einer Plenarsitzung hatte sich eine Gruppe von zirka 30 Besuchern in die Kantine des Landtags begeben, um dort zu essen und zu trinken. Mein Abteilungsleiter Eberhard Ott adelte sie mit dem deutlich zu hoch gegriffenen Prädikat eines „Landtagsrestaurants“, das im DDR-Jargon allenfalls als „Versorgungseinrichtung“ zu qualifizieren gewesen wäre. Für mich blieb sie ob ihres bemerkenswerten DDR-Charmes durch ihren ungegliederten, kahlen Saal mit den DDR-weit überall anzutreffenden – immerhin gepolsterten – Stahlrohrstühlen und den Tischen mit Plasteplatten bis zu ihrem Neubau immer die „Kantine“. Es fiel einigen meiner Mitarbeiter auf, dass es sich die besagte Besuchergruppe dort zunehmend gemütlich machte und sich auf längere Zeit einzurichten schien. Das geschah dann auch tatsächlich. Nach Schluss der Plenarsitzung gegen 22.30 Uhr – einem damals vergleichsweise frühen Termin – saßen die Besucher dort noch immer. Einer Aufforderung des Kantinenpersonals, die Kantine und den Landtag nach Schluss der Plenarberatungen zu verlassen, kamen sie nicht nach. Sie erklärten vielmehr den Landtag für „besetzt“ und verlangten einen Politiker zu sprechen, der ihnen helfen sollte. Wie in den meisten Fällen ging es auch hier um einen Betrieb, der vor dem Aus stand. Es befand sich aber kein Politiker mehr im Haus, schon gar keiner, der den „Besetzern“ hätte helfen können. Also holte man mich. Ich ging in die Kantine, in der immer noch zirka 30 Personen saßen. Einige unterhielten sich, einige spielten Karten, einige tranken Bier und die Lautstärke ihrer Unterhaltung ließ bei einigen „Besetzern“ schon auf einen erheblichen Alkoholkonsum schließen. Ich begrüßte alle im Thüringer Landtag und sagte ihnen, dass die Kantine nun geschlossen würde und alle das Haus verlassen müssten. Als Antwort erscholl der damals zu allen möglichen Anlässen und Reaktionen übliche – passende oder auch unpassende – Ruf: „Wir bleiben hier“ und „Wir sind das Volk“. Die „Besetzer“ waren ziemlich unorganisiert und hatten auch keinen Sprecher. Nachdem ich das Anliegen der Gruppe endlich verstanden hatte, konnte ich ihnen nur versprechen, es aufzunehmen und sowohl an den Petitionsausschuss sowie die Fraktionen als auch an die Regierung heranzutragen. Das genügte ihnen aber nicht, und sie blieben sitzen. Ich stand damit vor der Frage, sollte ich die Kantine räumen lassen, gegebenenfalls unter Amtshilfe der Polizei? Doch friedliche, ziemlich verzweifelte und hilflose Menschen, die im Landtag in ihrer Not einen letzten Rettungsanker sahen, mit Hilfe der

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Polizei vor die Tür zu setzen, das löste in mir doch ziemliche Hemmungen aus. Ich entschied mich daher für das folgende weitere Angebot: ein Getränk für jeden, das ich im Übrigen aus eigener Tasche bezahlt habe, was wegen der günstigen Preise beileibe keine Großtat war – und eine Diskussion zu allen ihren Fragen zur neuen staatlichen Ordnung, zur Regierung, zum Landtag und, wenn sie wollten, auch zu „Gott und der Welt“. Und das, so lange sie es wünschten und es Wortmeldungen gäbe. Gäbe es diese nicht mehr und würden sie dazu übergehen, sich in der Kantine häuslich niederzulassen und den Landtag tatsächlich zu besetzen, dann würde ich die Kantine von der Polizei räumen lassen, obendrein die Personalien feststellen und Anzeige wegen Hausfriedensbruchs stellen. Es wurde eine lange Nacht der Diskussionen ohne Besetzung der Kantine. Zum Schluss diskutierten wir tatsächlich über „Gott und die Welt“, bis alle, die überhaupt noch wach geblieben waren, völlig erschöpft gegen 4.00 Uhr morgens endlich nach Hause ins Bett wollten. Die hart gesottenen Zecher am Biertisch haben mir am Schluss ihre Rechnung aufgedrückt. Zum Dank wurde mir das „Du“ angeboten und von einer mittelalterlichen blondierten Frau mit beachtlichen Proportionen erhielt ich als Krönung unserer Verbrüderung einen Kuss. Einerseits war ich über diesen Ausgang der angedrohten Kantinenbesetzung sehr froh und erleichtert, zumal ich über die vielen Stunden die Gelegenheit erhielt, in die Tiefen des Gemüts dieser Ossis zu schauen. Als ich dann endlich gegen 5.00 Uhr im Jugendtouristhotel Völkerfreundschaft ins Bett plumpsen konnte und den Wecker ausnahmsweise nicht schon auf 5.45 Uhr, sondern erst auf 7.00 Uhr stellte, da hatte ich mich ernstlich gefragt, ob für einen Beamten auch solche Leistungen mit dem – zugegebenermaßen an sich sehr guten – Gehalt abgedeckt seien oder ob ich nicht doch die Buschzulage hätte annehmen sollen.

Die PDS-Fraktion feiert den Nationalfeiertag der DDR Am 7.10.1990 wurde ich durch einen Mitarbeiter von der Information überrascht, dass im Thüringer Landtag in den Räumen und Fluren der PDS-Fraktion der „Tag der Republik“, der Nationalfeiertag der DDR, gefeiert würde. Der Tag erinnert an den 7.10.1949, an dem die DDR gegründet wurde. Soweit diese Feierlichkeiten keine Außenwirkung haben würden, konnte ich persönlich über diese Glorifizierung des DDR-Regimes oder entsprechende Nostalgieveranstaltung nur den Kopf schütteln. Als Landtagsdirektor war ich insofern gefordert, als der Flur der PDS-Fraktion – und somit ein öffentlich zugänglicher Teil des Landtagsgebäudes – mit Fahnen der DDR „geschmückt“ war. Ich griff sofort zum Telefon und rief die Parlamentarische Geschäftsführerin der PDS-Fraktion Tamara Thierbach an. Frau Thierbach war meine ganz besondere „Freundin“, mit der ich als Parlamentarische Geschäftsführerin der PDS-Fraktion naturgemäß häufig dienstlich zu tun hatte. Sie war in ihrer Penetranz und mangelnden Offenheit für Argumente seitens der Verwaltung oft nur schwer zu ertragen. Zusätz-

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lich nervte sie durch eine Stimme, in deren Klang und Modulation sich das ganze Leid dieser Welt zu kumulieren schien. Sie erklang so herzzerreißend und leidend, dass man ständig glaubte, sie fange gleich bitterlich zu weinen an. Sie ging wohl nicht nur mir und meiner Verwaltung auf den Geist, sondern auch ihrer eigenen Fraktion, so dass sie schon bald als Parlamentarische Geschäftsführerin abgelöst wurde. Aber sie blieb Abgeordnete des Thüringer Landtags und fiel später sogar die rot-rote Karriereleiter in Erfurt hoch bis zur Bürgermeisterin von Erfurt und Beigeordneten für Jugend, Bildung, Soziales und Gesundheit. Die Erfurter SPD musste diese politische Kröte fatalerweise schlucken, um als Gegenleistung aufgrund einer entsprechenden Wahlempfehlung der PDS deren Stimmen für die Wahl ihres Oberbürgermeisters zu erhalten. Das war ein übler Kuhhandel, aber ein im Ergebnis erfolgreicher Coup. Wer meine weiteren Erinnerungen um meine Auseinandersetzung mit Frau Thierbach zur Feier des DDR-Nationalfeiertags im Thüringer Landtag liest, dem können sich die Haare sträuben, dass gerade dieser rückwärtsgewandten Frau als Dezernentin auch noch die Zuständigkeit für Jugend und Bildung anvertraut wurde. Für wahr: Wäre sie nicht weiblichen Geschlechts, müsste man beklagen, dass hier der Bock zum Gärtner gemacht worden ist. Zurück zum Telefonat mit ihr: Ich erhielt auf meine entsprechende Frage ihre Bestätigung, dass der Fraktionsflur der PDS-Fraktion aus Anlass des „Tags der Republik“ der DDR unter anderem auch mit Fahnen der DDR „geschmückt“ wäre. Aus ihrer Stimme sprach purer Ernst und nicht etwa ein Anflug von Nostalgie, was allerdings die Aktion in einem öffentlichen Gebäude während der Dienstzeit durch steuerfinanziertes Fraktionspersonal meines Erachtens nicht verzeihlicher gemacht hätte. Daraufhin erklärte ich unmissverständlich: „Sie mögen in Ihrem Inneren denken und auch feiern und bejubeln, was Sie wollen und dies innerhalb der geschlossenen Räume Ihrer Fraktion auch konkret und sichtbar zum Ausdruck bringen. In Räumen des Thüringer Landtags, die der Öffentlichkeit zugänglich sind, wird jedoch keine DDR-Fahne gehisst, denn sie ist das Symbol eines Unrechtsstaates. Ein derartiges Symbol hat in dem Parlament des freiheitlich-demokratischen Freistaats Thüringen nichts zu suchen, schon gar nicht durch eine wie auch immer geartete Feierlichkeit, die den Unrechtsstaat DDR bejubelt.“ Man hörte förmlich ihr Schlucken, Schnaufen und Luftholen am anderen Ende der Leitung. Dann forderte mich ihre leidend-weinerliche Stimme auf, diesen „ungeheuerlichen“ Satz nochmals zu wiederholen, was ich ohne Zögern und aus voller Überzeugung tat: „Die DDR war ein Unrechtsstaat.“ Die Diskussion darüber, ob die DDR ein Unrechtsstaat war, hält bis heute mit unverminderter Heftigkeit an. Sie begleitete auch den Wahlkampf zu den Landtags- und Bundestagswahlen 2009 in Thüringen. Der Spitzenkandidat der PDS für das Amt des Ministerpräsidenten, Bodo Ramelow, hatte in einem Interview mit der Südthüringer Zeitung am 26.2.2009 den einhelligen Standpunkt der PDS vertreten, die DDR sei kein Unrechtsstaat gewesen; immerhin einschränkend fügte er hinzu, dass er sie allerdings auch nicht als Rechtsstaat qualifizieren würde. Zwar gibt es weder im deutschen Recht noch im Völkerrecht eine geschriebene Norm, in der ausdrücklich festgeschrieben ist, anhand welcher juristischer Kriterien

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ein Staat als Rechts- oder Unrechtsstaat im Wege juristischer Subsumptionsregeln zu qualifizieren ist, das hindert jedoch keineswegs, Staaten sowohl rechtlich als auch politisch entsprechend zu bewerten. Diese Bewertung ist dabei unter maßgeblicher Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Fundamentalnormen vorzunehmen. In keinem noch so hehren Rechtsstaat geht es ohne Unrecht zu und in keinem Unrechtsstaat herrscht nur Unrecht, sondern auch Recht – und sei es auch zum Beispiel nur im Straßenverkehr. Entscheidend ist daher für die Bewertung eines Staates als Unrechtsstaat, ob er die maßgeblichen, grundlegenden, nach allgemeiner Meinung unumstrittenen Verfassungsprinzipien, die einen demokratischen Rechtsstaat und seine freiheitlich-demokratische Grundordnung konstituieren, erfüllt oder nicht. Zu diesen maßstabbildenden Staatsfundamentalnormen gehören nach unserer Verfassung, der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der einhelligen Meinung in der staatsrechtlichen Literatur vornehmlich: – – – – – – – – – – –

die Grundrechte die Volkssouveränität die Gewaltenteilung die Rechtsbindung der Staatsorgane der Gesetzesvorbehalt die Rechtsweggarantie die Unabhängigkeit der Gerichte die Rechtssicherheit der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wesentliche Straf- und Strafprozessrechtsgrundsätze das Mehrparteiensystem mit der Chancengleichheit der Parteien und das Recht auf Bildung und Ausübung einer Opposition.

Die DDR erfüllte in ihrer Staatspraxis all diese Anforderungen nicht – und folglich ist sie kein demokratischer Rechtsstaat, sondern ein undemokratischer Unrechtsstaat gewesen. An dieser Wertung kommt niemand vorbei. Nur ein Spitzenkandidat der PDS, der das aus den alten Kadern der DDR sich maßgeblich rekrutierende Wählerpotential seiner Partei nicht verprellen will, wird versucht sein, sich um diese klare Position und Logik herumzudrücken. Ich schloss das Gespräch mit der PDS-Geschäftsführerin mit der ultimativen Forderung, dass die DDR-Fahnen innerhalb der nächsten zehn Minuten aus dem Flur zu verschwinden hätten. Das geschah jedoch nicht. Also stürmte ich in den Flur und riss die Fahnen in „unmittelbarer Ausführung“ einer polizeirechtlichen Maßnahme herunter. Unter den Fraktionsmitarbeitern erhob sich heftiges Protestgeschrei, und Frau Thierbach drohte, dass meine Eigenmächtigkeit noch Folgen haben werde. Man hinderte mich jedoch nicht, die Fahnen einzusammeln und im Hof des Landtags in einer Mülltonne fachgerecht zu entsorgen.

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Entgegen allen Ankündigungen gab es gegen mich keine Beschwerden beim Landtagspräsidenten oder im Ältestenrat. Die PDS-Fraktion scheute sich wohl, diese Vorgänge hochzuziehen und damit zwangsläufig publik zu machen, was für sie allzu leicht zu einem politischen Rohrkrepierer geworden wäre. Zwischen der Parlamentarischen Geschäftsführerin und dem Landtagsdirektor wurde an diesem 7. Oktober eine „herzliche Abneigung“ begründet, die dauerhaften Bestand haben sollte.

Missbrauch des Landtags als parteipolitische Litfaßsäule Betritt man in Deutschland Landtagsgebäude, hat man oft den Eindruck, in Parteizentralen gelandet zu sein: Überall – vornehmlich in den Fraktionsbereichen – kleben Plakate mit Parteienwerbung. Besucher müssen den Eindruck gewinnen, dass in den Parlamenten ein Dauerwahlkampf stattfinde. Zwar werden die Fraktionen in den Parlamenten oft als die Parteien im Parlament charakterisiert, aber trotz dieser darin zum Ausdruck kommenden politischen und personellen Verwobenheit zwischen einer Partei und „ihrer“ Fraktion gibt es eine scharfe verfassungsrechtliche Trennung zwischen ihrem Status und ihren Aufgaben: Die Parteien gehören dem gesellschaftlichen Bereich an und haben in der parlamentarischen Demokratie Bindeglied und Mittler zwischen Volk und Staat zu sein. Demgegenüber sind Fraktionen Teil des staatsorganisatorischen Bereichs, die nur parlamentarische Aufgaben wahrzunehmen haben. Aus dieser etwas theoretischen Abgrenzung zwischen Parteien und Fraktionen ergeben sich einige klare, praktische Konsequenzen: In allen öffentlich zugänglichen Räumlichkeiten ist das Anbringen von Aufklebern, Plakaten, Transparenten oder Stellwänden mit parteipolitischen Inhalten verboten. Dies gilt folgerichtig auch für Parteiveranstaltungen im Thüringer Landtag. Das Parlamentsgebäude war der Wahrnehmung parlamentarischer Aufgaben gewidmet und nicht dem Kampf der Parteien. Diese Widmung hinderte die Fraktionen selbstverständlich nicht daran, Anhörungen und sonstige Veranstaltungen im Rahmen ihrer Aufgabenstellung, gegebenenfalls auch mit politischen Interessengruppen, durchzuführen. Diese Abgrenzung mag in einer gewissen Grauzone nicht immer ganz einfach zu ziehen sein, und es gab daher immer wieder Streit, wenn eine Fraktion versuchte, das Trennungsgebot zu umgehen. Das Grundprinzip war jedoch klar und unstrittig und prägte jedenfalls die Praxis im Thüringer Landtag. Somit konnte gesichert werden, dass der Thüringer Landtag nicht zu einer unansehnlichen parteipolitischen Litfaßsäule verkam, sondern äußerlich ein ordentliches und würdevolles Aussehen bewahren konnte. Die dargestellte Rechtslage und Rechtspraxis hatte auch den positiven Nebeneffekt, dass zum Beispiel extremistische Parteien wie die NPD Räumlichkeiten des Landtags nicht als Wahlkampfbühne und werbewirksamen Ort für die eigene politische Selbstdarstellung nutzen konnten. Der Thüringer Landtag brauchte sich somit gar nicht erst mit etwaigen aus dem Gleichheitsgebot herrührenden Ansprüchen von

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Parteien um die Vergabe von Räumen des Landtags vor Gerichten herumzuschlagen, wie dies gerade auf kommunaler Ebene hinsichtlich öffentlicher Gebäude häufig der Fall ist. Nur eine Fraktion brach immer wieder einmal aus dem Konsens über das Werbeverbot im Landtag für die eigene Partei aus: die PDS-Fraktion. Sie klebte Parteiaufkleber an Türen und Wände, hängte Parteiplakate auf und versuchte, ihr nahe stehenden Gruppierungen werbewirksame Veranstaltungen im Landtag zu ermöglichen. Alle diese Verstöße gegen das Parteienwerbeverbot und die Versuche, die Zweckbindung von Landtagsräumlichkeiten zu umgehen, wurden von der Landtagsverwaltung regelmäßig unterbunden, so zum Beispiel auch eine ziemlich spektakuläre Plakataktion gegen den Irakkrieg. Am Morgen des 17.1.2003 prangte ein riesiges, zirka 10 Meter langes Transparent an der Außenfront des Landtags zur viel frequentierten Arnstädter Straße hin: „WIR SAGEN NEIN ZUM KRIEG“, darunter in Riesenlettern „PDS“ mit dem schon in kurzer Entfernung nicht mehr leserlichen winzigen Zusatz „Fraktion des Thüringer Landtags“; der Protest richtete sich gegen den Irakkrieg. Das Transparent war aus den Räumen der PDS-Fraktion herabgelassen und so geschickt angebracht worden, dass man es weder mit normalen Leitern vom Boden noch von Fenstern aus erreichen konnte, zu denen die Landtagsverwaltung Zugang hatte.

Abb. 15  Protest der PDS-Fraktion gegen den Irakkrieg am 17.1.2003

Für mich stand ehern fest: Das Transparent musste weg. Dafür gab es mehrere Gründe: Sein Inhalt bezog sich auf eine parteipolitische Forderung und außerdem auf den Bereich der Außenpolitik, für die der Bund und nicht das Land Thüringen zuständig war.1 Außerdem gab es insofern grundlegende Bedenken gegen dieses Transparent, als damit eine inadäquate Form der parlamentarischen Auseinandersetzung gewählt wurde, die auf flüchtige Passanten oder Verkehrsteilnehmer den Eindruck vermitteln musste, dass es sich um eine politische Äußerung des Landtags als Ganzem handelte. Beides musste aus präjudiziellen Gründen verhindert werden. Der Sprecher des Landtags Dr. Karl-Eckard Hahn fasste diese Position in folgendem griffigen Satz gekonnt zusammen: „Die Politik findet bei uns im Haus und nicht mit Transparenten am Haus statt.“

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Ich forderte also die PDS-Fraktion auf, das Transparent zu entfernen, stieß aber auf taube Ohren. Es tat sich nichts. Folglich ging ich mit einem Mitarbeiter in die PDS-Fraktion, um das Transparent eigenhändig zu entfernen. Aber anders als im oben geschilderten Fall Thierbach war die PDS-Fraktion diesmal auf meinen Besuch und die mir eigenen Konsequenzen besser vorbereitet und wehrte sich gegen die Abnahme des Transparents. Der damalige PDS-Fraktionsvorsitzende Bodo Ramelow hatte sich mit einigen Abgeordneten und Fraktionsmitarbeitern vor diejenigen Fraktionsräume gesetzt, die einen Zugriff auf das Transparent ermöglicht hätten. Nun war guter Rat teuer. Meine Überzeugungsarbeit, das Transparent freiwillig abzuhängen, fruchtete erwartungsgemäß nicht. Ich gab sie bald auf. Gegenüber einer gewaltsamen Lösung hatte ich einige Manschetten. Einen Fraktionsvorsitzenden und Abgeordnete, die sich ineinander verkeilt hatten, auseinanderzuzerren und wegzutragen sowie möglichst zusätzlich so dingfest zu machen, dass sie sich nicht gleich wieder in die Blockade einreihen würden – dazu fehlte mir, ehrlich gesagt, der Mut. Mit Sicherheit hätte die PDS-Fraktion im Nachhinein dies als einen „brutalen, völlig unverhältnismäßigen Angriff des Landtagsdirektors auf einen Fraktionsvorsitzenden und die Autonomie einer Landtagsfraktion“ öffentlichkeitswirksam gebrandmarkt. Ich musste also einen Weg finden, um den Fraktionsvorsitzenden mit seinen Genossen zu überlisten. Die List bestand darin, dass ich einen Mitarbeiter bat, die Feuerwehr möge sofort im Wege der Amtshilfe mit einer langen Leiter das Transparent von außen, von der Straßenseite her entfernen. Ich würde versuchen, währenddessen die ungeteilte Aufmerksamkeit der Blockierer zu gewinnen. Ich erläuterte ihnen ausschweifend die Rechtslage (was bei Juristen schon im Normalfall die Regel ist) wie in einem Seminar: das Hausrecht, das Strafrecht, die Befugnisse eines Landtagsdirektors.

Abb. 16  Entfernung des Transparents der PDS-Fraktion gegen den Irakkrieg mit Hilfe der Feuerwehr

Außerdem führte ich eine intensive Diskussion zu den Kompetenzen von Fraktionen und den zulässigen und unzulässigen Formen ihrer praktischen Ausübung. Das gelang mir so lange, bis die Feuerwehr vorgefahren war und begann, das Transparent zu demontieren. Doch dann stürzte jemand in den Flur mit lautem Geschrei: „Die Feuerwehr reißt unser Friedenstransparent runter.“ Sofort stürzten alle auf die Straße in der Hoffnung, diesen „bürokratischen Frevel“ noch stoppen zu können. Ich rannte

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Abb. 17  Rangelei um die Entfernung des Transparents der PDS-Fraktion gegen den Irakkrieg zwischen dem Landtagsdirektor und der PDS

hinterher. Doch die Genossen kamen zu meiner großen Genugtuung zu spät, um die Abnahme des Transparents zu verhindern. Es lag schon am Boden. Die PDS-Leute stürzten sich nun auf das Transparent, um es für sich zu sichern, sei es für eine neue Aktion im oder am Landtag. Das aber wollte ich gerade verhindern. Ich beschloss, das Transparent als eine Art „instrumentum celeris“ (Tatwerkzeug) sicherzustellen. Es begann ein heftiges Zerren, eine Art Tauziehen zwischen den Mannschaften der PDS und der Landtagsverwaltung. Dieser Wettkampf fand vor einem inzwischen zusammengelaufenen neugierigen Publikum und auch einigen Pressevertretern statt, die darüber teilweise amüsiert berichten sollten. So titelte zum Beispiel die Thüringische Landeszeitung „PDS nennt Papst als Kronzeugen“, womit sie die Autorität des Papstes als Gegner des Irakkrieges gegen den kleinkarierten Bürokraten der Landtagsverwaltung wirksam in Stellung zu bringen glaubte. Und einer der witzig-süffisantesten Journalisten in der thüringischen Presselandschaft, Volkhard Paczulla von der Ostthüringer Zeitung, spöttelte in seiner mit „Hol’n se die Feuerwehr!“ überschriebenen Glosse: „Klar ist der heraufziehende Krieg im Irak eine todernste Angelegenheit. Und die PDS stand auch noch nie im Ruf einer Spaßpartei. Durch ihre neu entdeckte Freude am zivilen Ungehorsam fehlte es der Protestaktion gestern im Landtag aber auch nicht an Situationskomik. Die laut Hausordnung untersagte Sichtagitation hing hoch genug, um selbst vor dem baumlangen Hausmeister sicher zu sein. Deshalb konzentrierten sich die Genossen auf die Verteidigung von oben. „Ich lag schon vor Bussen und Kasernentoren“, tönte Fraktionschef Bodo Ramelow. Da sei es eine Kleinigkeit, vor einer Tür zu hocken. Selbst der Hinweis, dass einer der Landtagsjuristen die japanische Kampfkunst Karate beherrscht, konnte den eher schmalbrüstigen Oppositionspolitiker nicht schrecken: „Dafür kann ich japanisch essen gehen.“ Landtagsdirektor Joachim Linck muss dann irgendwann an den Rühmann-Reißer „Die Feuerzangenbowle“ gedacht haben. Ackermann, hol’n se die Feuerwehr! Die kam mit spärlicher Zwei-Mann-Besatzung, aber moderner Drehleiter. Der Rest war Routine. „Für’n Frieden sind wir trotzdem“, versicherten die Wehrleute.

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Direktor Linck hatte sich den Nachmittag allerdings ruhiger vorgestellt und deshalb reserviert, um an seiner nächsten Vorlesung vor Jurastudenten in Jena zu feilen. Thema: Die Rechte des Parlaments und die Immunität der Abgeordneten.“2

Die Landtagsverwaltung sollte schließlich nach heftigem Gerangel siegen. Das Transparent wurde von uns konfisziert und erst einmal mitgenommen. Die Sozialisten pochten – augenscheinlich durch die Wende ganz kapitalistisch infiziert – auf ihr Eigentum. Ich rechtfertigte demgegenüber die Konfiszierung mit dem juristischen Argument, sie sei das notwendige Mittel, um die Gefahr einer fortgesetzten Störung der öffentlichen Ordnung am Thüringer Landtag zu verhindern. Jedenfalls hatte ich keine Lust, dieses Spielchen fortzusetzen.

Thesenanschlag von Bündnis 90/Die Grünen im Gewand   Martin Luthers und Katharina von Boras am Hauptportal   des Thüringer Landtags Eine besonders kreative, spektakuläre und pressewirksame Demonstration war der Spitze von Bündnis 90/Die Grünen eingefallen. Als Initiator vermute ich Olaf Möller, den damals kreativsten Kopf der Grünen in Thüringen, der mir als Landtagsdirektor mit seinen immer wieder überraschenden und unkonventionellen Ideen und Provokationen oftmals Probleme bereitete und auch heftige Gegenreaktionen auslöste. Dennoch hat er mir als Person zumeist Respekt, Sympathie und manchmal sogar eine klammheimliche Freude abverlangt. So auch diesmal:

Abb. 18  Die Fraktionssprecher von Bündnis 90/Die Grünen auf dem Weg zum Thesenanschlag am Landtagseingang am 26.2.1999. In der Mitte Olaf Möller als Martin Luther, rechts Anne Voß als Katharina von Bora.

Pressewirksam gut vorbereitet, schritten Olaf Möller, stilecht verkleidet als Martin Luther, mit der damaligen Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, Anne Voß als Luthers Ehefrau Katharina von Bora, umgeben von einem Medientross am 26.2.1999 auf das Hauptportal des Thüringer Landtags zu, um in Assoziation zu Martin Luthers Anschlag von 95 Thesen am 31. Oktober 1517 an die Schlosskirche zu Wittenberg, wenn auch nicht 95, so doch immerhin ein Dutzend politische Thesen der Partei

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Bündnis 90/Die Grünen an die Eingangstür zum Landtag anzuschlagen. Anne Voß hielt die Pergamentrollen in der Hand, Olaf Möller Hammer und lange Nägel. Als sich der Tross der Eingangstreppe näherte, stellte ich mich den beiden politischen Akteuren entgegen und erklärte streng und humorlos: „Ein Thesenanschlag wird nicht stattfinden. Ich werde das verhindern. Bitte entfernen Sie sich aus der Bannmeile. In dem,befriedeten Bannkreis‘ (so die Terminologie des Gesetzes) sind öffentliche Versammlungen grundsätzlich verboten.“ Bei dieser polizeilichen Platzverweisung ging ich mit der herrschenden Meinung davon aus, dass nicht nur „tres faciunt collegium“ (Drei bilden einen Verein – Digesten Justitians 50.16.85), sondern auch schon zwei Personen den Begriff einer Versammlung erfüllen können. Wie nicht anders zu erwarten, kümmerte sich Olaf Möller einen feuchten Kehricht um meine Aufforderung, die förmlich einen mündlichen Verwaltungsakt darstellte. Er erklomm die ersten Treppenstufen und Anne Voß hinterher. Nach meinem – zugegeben manchmal etwas zu stringent ausgeprägten – Rechtsund Staatsverständnis konnte ich diesen Rechtsbruch nicht dulden. Man sollte immer gründlich abwägen, ob man in Ermessensfällen überhaupt ein Verbot erlässt. Tut man es aber, dann muss man auch dazu stehen und es durchsetzen, sonst gibt man das Amt der Lächerlichkeit preis und schädigt das Rechtsbewusstsein. Daher stellte ich mich Möller auf der Treppe nicht nur breitbeinig und wild entschlossen entgegen, sondern versuchte zugleich, ihn von der Treppe herunter zu drängen. Das jedoch erwies sich als nicht ganz einfach. Möller maß gut über einen Meter neunzig und war ein kräftig gebauter Kerl. Ich war zwei Gewichts- und Größenklassen tiefer einzuordnen, hatte aber zu Studentenzeiten immerhin einmal Judo betrieben, bis mir nach einem Rippenbruch der rechte Spaß daran vergällt wurde. Zur allgemeinen Gaudi der Presse rangelten wir heftig miteinander, er wollte die Treppe hoch, ich wollte ihn die Treppe hinunter bugsieren. So wogte der Kampf hin und her, bis Anne Voß eingriff. Sie brachte uns Streithähne auseinander und war um einen friedlichen Kompromiss bemüht.

Abb. 19  Verwehrter Thesenanschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen durch den Landtagsdirektor (rechts)

Wieder einmal wurde mir bestätigt, dass Frauen – von Ausnahmen natürlich abgesehen – die weitaus besseren Voraussetzungen für die Politik mitbringen als Männer: Sie sind friedfertiger, kompromissbereiter, pflegen nicht die Hahnenkämpfe von

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Männern und besitzen im Gegensatz zu Männern recht oft den nötigen Charme, der für die Durchsetzung politischer Ziele äußerst hilfreich ist. Wie viele Konflikte und Kriege wären uns in der Geschichte erspart geblieben, wenn die Frauen statt der Männer das politische Ruder in der Welt geführt hätten. Natürlich gibt es auch in der Geschichte fürchterliche Gegenbeispiele, aber nur relativ wenige. Alle diese positiven, von Politikern zu fordernden Eigenschaften verkörperte Anne Voß in einem hohen Maß. Außerdem war sie äußerst attraktiv. Es ist jammerschade, dass sie der Thüringer Politik verloren gegangen ist. Sie hätte ihr gut getan. Zunächst war sie nach einer beeindruckenden „Dissidentenkarriere“ in der DDR in der SPD gelandet, dort ausgetreten – was meines Erachtens ein schwerer Fehler war – und dann zum Bündnis 90/Die Grünen gewechselt. Dort machte sie zwar anfangs Karriere als Sprecherin und Spitzenkandidatin für die Landtagswahl, verschwand aber irgendwann für die Öffentlichkeit ziemlich still und heimlich von der politischen Bühne unter die Fittiche von ÖTV/Verdi. Ich schlug einen Kompromiss vor, für den sie schließlich auch den anfangs sich widerstrebenden Olaf Möller gewinnen konnte: Beide durften sich für das Fernsehen und die Pressefotografen effektvoll auf die Treppe in Position stellen und das auf Antik gestylte Thesenpapier entrollen. Das war’s dann aber auch. So hatten sie den beabsichtigten politischen Werbeeffekt zwar nicht ganz, aber doch nahezu erreicht. Und ich hatte die Fahne des Rechts hochgehalten und die Beschädigung der Eingangstür des Landtags durch eingeschlagene Nägel verhindert. Meinen polizeilichen Einsatz zum Wohl des Rechts und des Landtags hat mir keiner gedankt; aber so ergeht es ja zumeist auch den Kollegen von der Polizei. Die Fraktionen, selbst der CDU-Fraktionsvorsitzende, mokierten sich über diesen unflexiblen law and order-Preußen, und die Presse kreidete es dem unnachsichtigen Landtagsdirektor an, dass er nicht noch schönere Bilder von diesem politischen Event ermöglicht hatte.

Nonverbale Demonstrationen im Plenum des Thüringer Landtags: PDS-Abgeordnete gegen den Irakkrieg Es gab aber nicht nur Demonstrationen Außenstehender in und um den Landtag, es gab auch Demonstrationen von Abgeordneten im Plenum des Thüringer Landtags. Die Kundgabe von politischen Positionen im Plenum eines Parlaments in der Form von schriftlichen Anträgen, Redebeiträgen, Zwischenrufen oder kollektivem Beifall oder Unmutsäußerungen gehören selbstverständlich zum legitimen politischen Geschäft. Anders sind aber sogenannte nonverbale Äußerungen in der Form von Plakaten oder Transparenten, das – gegebenenfalls einheitliche – Auftreten mit. T-Shirts oder großen Buttons mit politischen Parolen, das Anheften oder schließlich das gemeinsame Tragen farblicher Armbinden, mit denen eine für jedermann erkennbare politische Absicht insinuiert wird, zu bewerten

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Letzteres geschah durch die PDS-Fraktion, indem sie zu einer Plenarsitzung geschlossen mit weißen Armbinden im Plenum des Landtags erschien. Sie wollte damit erkennbar gegen den Krieg im Irak protestieren. Wir werteten diese Form einer nonverbalen Demonstration als Verstoß gegen die „Ordnung des Hauses“, der mit einem Ordnungsruf an sämtliche Störer und – als dieser bei einigen Abgeordneten nicht fruchtete – mit einem Ausschluss aus der Sitzung geahndet wurde. Der Verstoß gegen die Sitzungsordnung war darin zu sehen, dass parlamentarische Äußerungen – worauf schon der Begriff „Parlament“ hinweist – in verbaler Form, nicht jedoch durch nonverbale Formen der Demonstration zu erfolgen haben. Den anderen Fraktionen wäre es nämlich nicht möglich, auf derartige politische Äußerungen adäquat zu reagieren, was man ihnen aber grundsätzlich zugestehen müsste. Würden sie es in gleicher Weise tun oder gar versuchen, diese Äußerungen zu unterbinden, wären dies ihrerseits Störungen der Ordnung oder der Würde des Parlaments. Die PDS-Abgeordneten mussten ihre weißen Armbinden also entfernen, was allerdings erst nach langem Hin und Her gelang.

Der Landtagsdirektor als Zielscheibe der PDS-Fraktion Verfolgung von Störern in die Räume der PDS-Fraktion während einer   Regierungserklärung Während einer Regierungserklärung des Wirtschaftsministers im Plenum des Thüringer Landtags zur Lehrstellensituation demonstrierten Mitglieder der PDS- und IG-Metall-Nachwuchsorganisationen auf der Besuchertribüne lautstark und warfen Flugblätter in den Plenarsaal. Sie waren von Abgeordneten der PDS eingeladen worden. Die Sitzung wurde nach erfolglosen Versuchen, die Ordnung im Plenum wieder herzustellen, unterbrochen und die Tribüne von den Störern geräumt. Ich wollte es damit jedoch nicht bewendet sein lassen, sondern wollte die Personalien der Störer feststellen, um wenigstens die Möglichkeit zu sichern, ihre Störungen zu sanktionieren. Denn immerhin lag der hinreichende Verdacht vor, dass sie nicht nur eine Ordnungswidrigkeit wegen Verstoßes gegen die Hausordnung begangen, sondern auch gegen § 123 StGB (Hausfriedensbruch) und sogar gegen § 106 b StGB (Störung der Tätigkeit eines Gesetzgebungsorgans) verstoßen hatten. Störungen im Thüringer Landtag sollten – auch aus präjudiziellen Gründen – nicht als Kavaliersdelikte oder harmlose Indianerspiele geduldet werden, vielmehr sollte in jedermanns Bewusstsein dringen, dass das „oberste Organ der demokratischen Willensbildung“ den gebotenen Respekt verdient und es für seine Beratungen Regeln gibt, die auch von politischen Gegnern zu achten sind. Die Störer, sekundiert von Assistenten der PDS-Fraktion, hatten aber wohl schon mitbekommen, was ihnen blühte, als ich aus meinem Büro eilends auf die Zuhörer-. tribüne rannte. Sie liefen daher in die Räume der PDS-Fraktion, um sich dort zu verstecken. Ich hinterher. Als ich die ersten Personalien aufnahm, erschien aus dem Plenum noch ganz außer Atem und wutentbrannt der PDS-Fraktionsvorsitzende Ramelow

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und verlangte von mir in energischem Befehlston, ich solle sofort die Räume der PDSFraktion verlassen, ich hätte darin nichts zu suchen. Ich lehnte diese Aufforderung mit Entschiedenheit ab und berief mich auf die mir übertragenen Befugnisse des Polizeirechts und den Gesichtspunkt der polizeilichen Nacheile, also das Verfolgen von Straftätern auf frischer Tat. Die Auseinandersetzung nahm zur großen Gaudi der inzwischen aufmerksam gewordenen Presse immer heftigere Züge an. Der Landeskorrespondent der Thüringischen Landeszeitung Elmar Otto berichtete am nächsten Tag: „… der sich anschließende Dialog hatte wenig Informations-, dafür umso mehr Unterhaltungswert: ,Werde mich zur persönlichen Auspeitschung bei Ihnen melden‘, kündigte PDS-Fraktionschef Bodo Ramelow an. Linck: ,Seien Sie vorsichtig bei Ihrer Wortwahl!“3 Noch am selben Tag prangten überall im Thüringer Landtag in der PDS-Fraktion produzierte Aufkleber mit meinem Bild und der Überschrift „La Police, c’est moi! Der Direktor.“ Diese Anlehnung an den Ausspruch des Sonnenkönigs Ludwig XIV. (L’état, c’est moi“) aus der Zeit des Absolutismus zeugt immerhin von gewissen historischen Kenntnissen, nur war ich nicht der „legibus solutus“, also von den Gesetzen losgelöst, sondern ganz im Gegenteil deren konsequenter Vollstrecker. Der viel geschmähte Begriff eines „law and order man“ wäre daher viel passender gewesen. Darin sehe ich eher einen Ehrentitel, gegen den ich keinerlei Einwände gehabt hätte.

Abb. 20  Der Landtagsdirektor als Zielscheibe der PDS-Polemik

Was sollte nun aber mit den Störern passieren, deren Personalien ich aufgenommen hatte? Ich wollte sie als Erstes in den Landtag bestellen und mit ihnen ein gestrenges Seminar über Parlamentarismus und Rechtsstaat durchführen. Davon hielt meine da-

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malige Chefin, die Landtagspräsidentin und frühere Pastorin Christine Lieberknecht gar nichts. Sie setzte auf Ausgleich, verständnisvolle Nächstenliebe und pädagogisches Geschick und bestand darauf, das Gespräch selbst mit den jungen Leuten zu führen. Mich wollte sie lieber nicht dabei haben. Mir hatte diese Form der Aufarbeitung von Ordnungswidrigkeiten und Straftaten im Thüringer Landtag zwar nicht geschmeckt, aber ich musste neidlos anerkennen, dass das kommunikative Geschick der Landtagspräsidentin dem meinen weit überlegen und im Ergebnis wohl auch nachhaltiger war.

Honeckers Dienstwagen für den Landtagsdirektor Obwohl ich mich als Beamter im Interesse der parlamentarischen Kultur und aus verfassungs- und parlamentsrechtlichen Gründen immer wieder einmal – wie bereits erwähnt – auf die Seite der PDS-Fraktion gestellt hatte, nahmen persönlich gefärbte Attacken und Geplänkel mit Teilen dieser Fraktion kein Ende. Dazu soll beispielhaft nur noch eine Geschichte erzählt werden. Ich musste den Thüringer Stasibeauftragten, welcher der Rechts- und Dienstaufsicht des Landtagspräsidenten untersteht, wieder einmal an die Grenzen seines gesetzlich umschriebenen Auftrags erinnern.4 Je mehr sich die gesetzlichen Aufgaben der Stasibeauftragten mit der Zeit erledigten, umso mehr suchten sie sich contra legem neue Aufgaben, anstatt ihre Apparate den verminderten Aufgaben anzupassen. Hierbei handelt es sich um ein allgemeines Phänomen in der Verwaltung: Ist eine Behörde erst einmal geschaffen, wird man sie kaum wieder los, selbst wenn die ursprünglichen Aufgaben immer geringer werden. Und so mutierten die Stasibeauftragten zunehmend zu Beauftragten für die Aufarbeitung der DDR. Der Gesetzgeber hätte eine derartige Aufgabenerweiterung durchaus vornehmen können – ob das im Hinblick auf die zahlreichen parallel arbeitenden Institutionen sinnvoll gewesen wäre, sei dahingestellt. Ohne Gesetzesänderung war jedenfalls aus rechtsstaatlichen Gründen und auch aus der Sicht der Steuerzahler eine deutliche kritische Ermahnung wegen gesetzwidriger Kompetenzüberschreitungen aus aufsichtsrechtlicher Sicht geboten. Dies umso mehr, als der Stasibeauftragte als Spitzenkandidat für eine freie Wählergruppe für den Landtag kandidierte und nach Möglichkeiten einer effektvollen Profilierung suchte. Vielleicht auch deswegen lancierte er mein Schreiben sofort an die Presse und beklagte seine Zensur durch den Landtagsdirektor; das war immer pressewirksam. Es ist schon ein Treppenwitz, dass es gerade die PDS war, die bei dieser Sachlage dem Stasibeauftragten beisprang. Stasibeauftragter und PDS Arm in Arm, das war schon eine wunderliche Partnerschaft. Das schien die PDS jedoch nicht weiter zu stören, denn sie wollte sich keinesfalls die Chance entgehen lassen, dem sonst sachlich so schwer angreifbaren Landtagsdirektor eins auszuwischen. Das sollte in einem – innerhalb der Fraktion offensichtlich nicht ganz unumstrittenen – Antrag von 13 Abgeordneten der ansonsten 21-köpfigen Fraktion geschehen, in dem der Landtagsdirektor mit seinem vermeintlich autoritären Gehabe mit dem von ihnen früher umjubelten Staats- und Parteichef Erich Honecker in „witziger“ Form verglichen wurde. Zum

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Demonstrationen und Störungen

Thüringer Haushaltsänderungsgesetz 2003/2004 wurde zum Einzelplan des Landtags daher folgender Entschließungsantrag eingebracht: „Honeckers Auto-Flotte wird versteigert“ Der Thüringer Landtag fordert die Landtagsverwaltung auf, einen PKW der Marke Volvo (Baujahr 1983, 20 cm Überlänge) aus der ehemaligen Staatskarossen-Flotte der DDR günstig zu ersteigern und dem Direktor des Thüringer Landtages, Dr. Joachim Linck, als Dienstwagen zur Verfügung zu stellen. Begründung: Damit würden äußere Form und Inhalt in Übereinstimmung gebracht werden können.“ Ob dieser Antrag wirklich witzig oder mit diesem Vergleich sogar beleidigend war, will ich gar nicht bewerten. Jedenfalls dokumentierte er ein jämmerliches Niveau und eine erschreckende Missachtung des „obersten Organs der demokratischen Willensbildung“. Im Übrigen war der Aufhänger des Antrags total verfehlt: Der Landtagsdirektor gehörte zu der in Deutschland äußerst selten anzutreffenden Spezies der ausgesprochenen Automuffel, denn er besaß, wie bereits dargestellt, überhaupt keinen Dienstwagen, und schon gar keinen, mit dem er hätte Eindruck schinden können oder wollen.

13.  Die Stasi-Überprüfung der Abgeordneten des  Thüringer Landtags In § 1 Abs. 2 des Thüringer Abgeordnetengesetzes vom 7.2.1991 war geregelt, dass „Abgeordnete ihre Mitgliedschaft (im Thüringer Landtag) verlieren, wenn sie wissentlich als hauptamtliche oder inoffizielle Mitarbeiter mit dem Ministerium für Staatssicherheit, dem Amt für nationale Sicherheit oder Beauftragten dieser Einrichtungen zusammengearbeitet haben.“1 Dazu hatte der Ältestenrat des Thüringer Landtags mit Beschluss vom 7.5.1991 ergänzende Durchführungsbestimmungen erlassen. Auf der Basis dieser Rechtsgrundlagen holte der Landtagspräsident von der GauckBehörde Auskünfte über eventuelle Stasiverstrickungen Thüringer Abgeordneter ein, die von einem vom Thüringer Landtag gewählten Vertrauensgremium unter seiner Leitung bewertet wurden. Das erste Stasiüberprüfungsverfahren der Thüringer Abgeordneten erfolgte im Einvernehmen mit allen Abgeordneten, ohne dass dagegen Vorbehalte erhoben wurden. Das Ergebnis dieser Überprüfungen teilte der Landtagspräsident in einem Abschlussbericht in der Sitzung des Thüringer Landtags am 11.6.1992 mit: Aufgrund der Informationen seitens der Gauck-Behörde habe es bei drei von insgesamt 89 Abgeordneten einen gewissen Anfangsverdacht auf eine Stasibelastung gegeben, so dass das Vertrauensgremium eine Einzelfallprüfung vorgenommen habe. Es sei jedoch zu dem Ergebnis gekommen, dass in allen drei Fällen keine Belastung gemäß § 1 Abs. 2 des Thüringer Abgeordnetengesetzes nachweisbar gewesen sei.2 In der 2. Legislaturperiode war es allerdings mit dem Einverständnis aller Abgeordneten mit einer freiwilligen Stasiüberprüfung vorbei. Widerstand gab es aus der PDS-Fraktion. Daher fasste der Thüringer Landtag am 18.5.1995 einen Beschluss3, in dem die Einführung und Einleitung einer für alle Abgeordneten obligatorischen – also auch ohne ein entsprechendes Einverständnis von Abgeordneten – verdachtsund anlassunabhängigen Überprüfung der Abgeordneten auf eine Zusammenarbeit mit der Stasi vorgeschrieben wurde. Hiergegen klagten drei Mitglieder der PDS-Fraktion, die Abgeordneten Dr. Ursula Fischer, Almut Beck und Konrad Scheringer, in einem Organstreitverfahren vor dem Thüringer Verfassungsgerichtshof. Die Klage war erfolgreich. Das Verfassungsgericht hielt den Beschluss des Landtags für verfassungswidrig, weil er ohne ausreichende gesetzliche Regelung des Überprüfungsverfahrens in die verfassungsrechtlichen Statusrechte von Abgeordneten eingreife; geschäftsordnungsrechtliche Regelungen reichten als Rechtsgrundlage insbesondere dann nicht aus, wenn die Überprüfung einen Mandatsverlust zur Folge habe. Zusätzlich signalisierte das Verfassungsgericht dem Landtag, welche rechtsstaatlichen Verfahrensregelungen es im Einzelnen in einem Gesetz für erforderlich halte.4 Diese Entscheidung konnte aus dem Empfängerhorizont der Abgeordneten nur so verstanden werden: Wenn der Landtag unsere rechtsstaatlichen Vorgaben in Geset-

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zesform gießt, dann ist nicht nur ein Überprüfungsverfahren zulässig, sondern dann darf bei einer „Parlamentsunwürdigkeit“ von Abgeordneten aufgrund von Stasibelastungen auch deren Mandatsverlust beschlossen werden. Der Verfassungsgerichtshof hätte sich zumindest bewusst sein müssen, dass seine – an sich ungewöhnlichen – rechtspolitischen Handreichungen gegenüber dem Gesetzgeber, der eine Überprüfung mit Sanktionen wünschte, nur so verstanden werden konnten; denn welchen Sinn hätte dieser Ritt in die Rechtspolitik sonst gehabt?. Andernfalls war, da er sich auf rechtspolitisches Glatteis begab, die klare Aussage zu erwarten gewesen, dass Stasiüberprüfungen in einem rechtsstaatlichen Verfahren auf gesetzlicher Grundlage verfassungsgemäß sind, nicht aber die Sanktionsregelung in § 1 Abs. 2 des Abgeordnetengesetzes, welche den Verlust des Mandats bei einer Stasibelastung vorschrieb. Diese belehrenden Vorgaben aus höchstrichterlichem Munde griff der Thüringer Landtag unverzüglich gelehrig auf und erließ folgerichtig das Thüringer Abgeordnetenüberprüfungsgesetz, in dem die verfassungsgerichtlichen Vorgaben des Verfassungsgerichts penibel aufgegriffen und umgesetzt wurden und beließ es dabei aber bei der bis dahin schon geltenden Sanktionsregelung in § 1 Abs. 2 des Thüringer Abgeordnetengesetzes, nämlich einen Mandatsverlust bei bewiesener Parlamentsunwürdigkeit feststellen zu können. Die auf diesen Rechtsgrundlagen in der 2. Legislaturperiode durchgeführte Stasiüberprüfung der Abgeordneten führte zu dem Ergebnis, dass der Thüringer Landtag in einem Beschluss vom 29.4.19995 die „Parlamentsunwürdigkeit“ der PDS-Abgeordneten Almut Beck wegen ihrer Stasiverstrickung und demzufolge zugleich ihren Mandatsverlust feststellte. Gegen diesen Beschluss und gegen die ihm zugrunde liegende gesetzliche Regelung zum Ausschluss parlamentsunwürdiger Abgeordneter klagte die Abgeordnete vor dem Thüringer Verfassungsgerichtshof. Die Klage war erfolgreich.6 Die neuerliche Begründung des Verfassungsgerichts überraschte die Politik und die interessierte Öffentlichkeit gleichermaßen: Fehlte es für die Stasiüberprüfung und die Aberkennung des Mandats nach der ursprünglichen Auffassung des Verfassungsgerichts an einer entsprechenden gesetzlichen Grundlage, fehlte es nun plötzlich – nachdem man diese nach den Vorgaben des Verfassungsgerichts in penibler Weise geschaffen hatte – an einer verfassungsrechtlichen Grundlage. Die Politik fühlte sich vom Verfassungsgericht regelrecht auf den Arm genommen, um nicht einen Ausdruck zu benutzen, der die allgemeine Verwunderung und Missstimmung über den Thüringer Verfassungsgerichtshof nicht noch drastischer ausdrückt. Der mit seiner überragenden juristischen Schärfe argumentierende und verfassungsrechtlich bestens ausgewiesene Berichterstatter in diesem Verfahren, der Frankfurter Verfassungsrechtler Prof. Dr. Steinberg, hatte das Verfassungsgericht, in dem nur noch dessen Präsident als Verfassungsrechtler ausgewiesen war, wieder einmal, wie schon in anderen Verfahren, dominiert. Dem Thüringer Landtag war nach dieser erneuten Niederlage vor dem Thüringer Verfassungsgerichtshof endgültig der Mut abhanden gekommen, nunmehr in einem weiteren Schritt den Ausschluss von stasibelasteten Abgeordneten aus dem Parla-

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ment auch noch verfassungsrechtlich zu verankern. Er beließ es bei der Möglichkeit, in Fällen einer Stasibelastung von Abgeordneten deren Parlamentsunwürdigkeit nur öffentlich im Parlament festzustellen (§§ 6, 7 Thür. Abgeordnetenüberprüfungsgesetz). Diese Regelung wurde in einer von der Fraktion Die Linke angestrengten Normenkontrollklage vom Thüringer Verfassungsgerichtshof für verfassungsmäßig erklärt.7 Dieser Verzicht des Thüringer Landtags, „parlamentsunwürdigen“ Abgeordneten das Mandat zu entziehen, sollte in der 4. Legislaturperiode zu dem beklagenswerten Ergebnis führen, dass im Thüringer Landtag ein Abgeordneter der Fraktion Die Linke unbehelligt sitzen konnte, dem ein dafür gesetzlich vorgesehenes Gremium des Thüringer Landtags wegen seiner Stasibelastung „Parlamentsunwürdigkeit“ attestiert hatte8.

14.  Die endgültige Verfassung des Freistaats Thüringen und ihre feierliche Verabschiedung auf der   Wartburg Die Verfassungsberatungen1 Mit der – endgültigen – Vollverfassung sollte die Vorläufige Landessatzung abgelöst werden. Sie wurde entgegen der Praxis in zwei anderen neuen Ländern (Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern) nicht von einer Enquete-Kommission erarbeitet, sondern hatte eigenständige Entwürfe aller fünf Fraktionen zur Grundlage, die zwischen April und September 1991 in den Landtag eingebracht worden waren.2 Zu den fünf Entwürfen wurde von der Landtagsverwaltung eine Synopse erstellt, welche die Grundlage für die Beratungen im Verfassungsausschuss und dessen Unterausschuss von November 1991 bis März 1993 bildete. Es gab 18 Sitzungen des Verfassungsausschusses und 26 seines Unterausschusses in überwiegend ganztägigen Klausurtagungen. Der Verfassungsausschuss hatte ebenso wie sein Unterausschuss nur juristische Laien zu Mitgliedern: in erster Linie Ingenieure, aber auch Ärzte und zum Beispiel einen Pfarrer, einen Dirigenten – und (nur) einen Lehrer. Die Beratungen des Verfassungsausschusses wurden allerdings pro Fraktion von jeweils zwei juristischen Sachverständigen aus Wissenschaft und Praxis begleitet. Bis auf einen kamen alle aus den alten Ländern. Auf der Grundlage dieser fünf Entwürfe erarbeitete der Verfassungsausschuss eine Beschlussempfehlung, die in erster Lesung im Plenum beraten wurde. Dieses beauftragte danach den Verfassungsausschuss, zu dem Entwurf Anhörungen durchzuführen; außerdem wurde der Entwurf in allen Tageszeitungen veröffentlicht und die Bevölkerung gebeten, dazu Stellung zu nehmen. Außer den Stellungnahmen der angehörten zirka 33 Institutionen erreichten den Verfassungsausschuss 400 Zuschriften mit zirka 3.000 Einzelanregungen aus der Bevölkerung. Diese führten zu einigen Veränderungen in dem Entwurf, der nach zwei weiteren Plenarsitzungen in einer abschließenden Sitzung am 25.10.1993 an einem der geschichtsträchtigsten Orte Thüringens, nämlich der Wartburg, in feierlicher Form verabschiedet wurde. Die Beratungen führten bei zirka 90 Prozent aller Verfassungsbestimmungen zu einem weitgehenden Konsens. Streitpunkte blieben: die Höhe der Quoren bei den plebiszitären Elementen, so beim Volksbegehren und Volksentscheid (Art. 82) sowie beim Bürgerantrag (Art. 68), die Frage, ob man soziale Grundrechte oder insoweit nur Staatsziele aufnehmen sollte (so zum Beispiel bei Arbeit und Wohnen) sowie die jährliche Diätenanpassung (Art. 54 II), eine Spezialität der Thüringer Verfassung, auf die bereits im 11. Kapitel eingegangen wurde. Die Verfassung wurde mit der nach Art. 106 Abs. 1 S. 1 vorgesehenen Mehrheit. von zwei Dritteln der Abgeordneten der Fraktionen von CDU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Abgeordneten von PDS und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

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Sie trat am 30.10.1993 in Kraft – wenn auch erst vorläufig – da es zu ihrer endgültigen Inkraftsetzung noch eines Volksentscheids bedurfte (Art. 106). Dieser fand am 16. Oktober 1994 zusammen mit der 2. Landtagswahl statt. 70,13 Prozent der Abstimmenden haben der Verfassung zugestimmt.3 Damit konnte die Verfassung des Freistaats Thüringen endgültig in Kraft treten.

Spezifika der Thüringer Verfassung Die Thüringer Verfassung steht einerseits in der abendländischen Verfassungstradition, andererseits hat sich der Verfassungsgeber bemüht, in dem ihm durch Bundesrecht verbliebenen Rahmen einige neue Akzente zu setzen. So hat Thüringen den traditionellen Katalog der Grundrechte und auch die Regelungen über einen demokratisch-parlamentarischen, sozialen Rechtsstaat übernommen, wie sie im Grundsatz in nahezu allen westlichen Staaten – und zunehmend auch in den Staaten des ehemaligen Ostblocks – nach den Vorbildern der Verfassung von Virginia von 1776 und der französischen Verfassung von 1791 gelten. Daneben lassen sich allerdings auch einige thüringische Besonderheiten beispielhaft hervorheben. So sind einige traditionelle Grundrechte erweitert oder stärker ausgeformt worden:

– Die Garantie der Menschwürde ist um die Verpflichtung aller staatlicher Gewalt erweitert worden, die Würde des Menschen auch im Sterben zu achten und zu schützen (Art. 1 Abs 1, Satz 2). Damit soll nicht etwa eine aktive Sterbehilfe legalisiert werden, vielmehr soll sich ein Patient zum Beispiel gegen Auswüchse der Apparatemedizin wehren können. – Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht und zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Datenschutz) ist in konzentrierter Form ausdrücklich in die Landesverfassung aufgenommen worden (Art. 6). – Petitionen können nicht nur schriftlich, wie in Art. 17 Grundgesetz, sondern auch mündlich eingereicht werden (Art. 14). – Zwar wurde in die Landesverfassung kein Grundrecht auf Wohnen aufgenommen, jedem Menschen wird aber im Notfall ein Obdach garantiert (Art. 16).

Die im Grundgesetz nur rudimentär vorhandenen Staatszielbestimmungen wurden in der Landesverfassung in folgenden Bereichen erweitert:

– Männer und Frauen sind nicht nur – rechtlich – gleichberechtigt; vielmehr ist der Staat verpflichtet, die tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern zu fördern und zu sichern (Art. 2 Abs. 2). Diesem Gleichstellungsgebot ist das Grundgesetz inzwischen gefolgt (Art. 3 Abs. 2, Satz 2). – Wichtige, sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus der Rundfunkfreiheit ergebende Gewährleistungen des Staats sind konkretisiert worden: so das duale Rundfunksystem, also die Garantie sowohl des privaten als auch des öffentlichrechtlichen Rundfunks mit ausgewogenen Verbreitungsmöglichkeiten zwischen beiden. Dem öffentlichen Rundfunk wird eine Grundversorgung zur Pflicht gemacht.

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Außerdem gilt für die Aufsichtsgremien der Rundfunkanstalten Binnenpluralität, das heißt, in den Aufsichtsgremien müssen alle gesellschaftlich relevanten Gruppen vertreten sein (Art. 12). – In vielen Bereichen ist zudem durch entsprechende Staatszielbestimmungen staatlicher Schutz und Förderung vorgeschrieben, so zum Beispiel für nichteheliche Kinder (Art. 19 Abs. 2), Behinderte (Art. 2 Abs. 4, inzwischen auch in Art. 3 Abs. 3, Satz 2 GG aufgenommen), Kinder und Jugendliche (Art. 17 Abs. 2; 19), die Erwachsenenbildung (Art. 29), Kultur und Sport (Art. 30) oder Natur und Umwelt (Art. 31), Tierschutz (Art. 32) oder die Schaffung von Arbeitsplätzen (Art. 36). – Zu den Staatszielbestimmungen gehören auch die Verpflichtung zu einer „sozialen und der Ökologie verpflichteten Marktwirtschaft“ (Art. 38) sowie zur Mitbestimmung in der Privatwirtschaft und dem Öffentlichen Dienst (Art. 37 Abs. 3).

Weiterhin sollen noch einige Besonderheiten wie das gegliederte Schulsystem (Art. 24 Abs. 1), die Begrenzung der Personalkosten (Art. 98 Abs. 3) und das Beschäftigungsverbot von Stasi-Mitarbeitern im Öffentlichen Dienst (Art. 96 Abs. 2) sowie weitere aus dem Bereich des Parlamentsrechts hervorgehoben werden:

– Die parlamentarischen Informationsrechte gegenüber der Regierung sind teils ausdrücklich verfassungsrechtlich verankert oder sogar erweitert worden. So ist die Regierung verpflichtet, auf parlamentarische Anfragen unverzüglich zu antworten (Art. 67 Abs. 1) und das Parlament über staatsleitende Regierungsentscheidungen (zum Beispiel Gesetzentwürfe [gemeint: Referentenentwürfe], Angelegenheiten der Landesplanung und -entwicklung, der Europäischen Union oder Entwürfe von Staatsverträgen) rechtzeitig zu unterrichten (Art. 67 Abs. 4). – Die Stellung und die Rechte von Fraktionen (Art. 58) und der Opposition (Art. 59) sind geregelt. – Die Indexregelung zu den Diäten (Art. 54 Abs. 2). – Die Ausfertigung und Verkündung von Gesetzen obliegt nicht dem Ministerpräsidenten, sondern dem Landtagspräsidenten (Art. 85).

Schließlich soll auf die gegenüber dem Grundgesetz erheblich ausgeweiteten plebiszitären Elemente der Landesverfassung verwiesen werden (deren Hürden inzwischen deutlich gesenkt wurden):

– Nach Art. 68 kann eine bestimmte Anzahl von Bürgern in einem Bürgerantrag den Landtag zwingen, sich mit ihrem Anliegen zu befassen. – Darüber hinaus kann eine qualifizierte Minderheit von Stimmberechtigten auf dem Wege des Volksbegehrens einen Gesetzentwurf in den Landtag einbringen, über den ein Volksentscheid stattfindet, wenn er nicht vom Landtag angenommen wird (Art. 82).

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Geschichten um die feierliche Verabschiedung der Verfassung   auf der Wartburg Der Termin der Verabschiedung Die abschließende, geschäftsordnungsrechtlich vorgeschriebene (§ 55 Abs. 1 Geschäftsordnung des Landtags) dritte Beratung der Verfassung fand an zwei Tagen statt: die abschließenden Sachberatungen mit den Einzelabstimmungen in einer Arbeitssitzung am 22. 10.1993 im Thüringer Landtag in Erfurt und die Schlusserklärungen der Fraktionen und der Landesregierung vor der Schlussabstimmung am 25. Oktober 1993 im feierlichen Rahmen im Palas der Wartburg. Der 25. Oktober wurde ganz bewusst und zielgerichtet angestrebt. Es war der Tag der konstituierenden Sitzung des Landtags im Jahr 1990. Mit diesen für den Freistaat so bedeutsamen Ereignissen jeweils am 25. Oktober wollten Landtagspräsident und Landtagsdirektor eine neue Tradition begründen. An jedem 25. Oktober sollten Demokratie und Parlamentarismus sowie die Thüringer Verfassung mit allen Repräsentanten des Staates und der Gesellschaft gebührend gewürdigt und gefeiert werden. Damit war auch durchaus die Absicht verbunden, einen einzigen großen Staatsempfang für alle staatlichen und gesellschaftlichen Repräsentanten des Freistaats zu begründen – und dies mit voller Absicht unter dem Schirm des Parlaments und gerade nicht unter der sonst üblichen Dominanz der Regierung, die damit von vornherein aus dem Rennen geworfen werden sollte. Diese damalige Rechnung sollte voll und ganz aufgehen: Thüringen feiert jedes Jahr auf Einladung des Landtagspräsidenten bzw. der Landtagspräsidentin den Tag der Verfassung und des Landtags in großem Rahmen im Thüringer Landtag.

Der Ort der Verabschiedung Die Schlussabstimmung mit abschließenden Erklärungen aller Fraktionen und der Regierung in einem feierlichen Rahmen auf der Wartburg vorzunehmen, war nicht unumstritten. Kritik kam insbesondere von der PDS und dem Bündnis 90/Die Grünen, die vordergründig auf die zu hohen Kosten verwiesen, in erster Linie passte ihnen aber die ganze Linie und die Einbettung der Thüringer Verfassung in die Tradition der Wartburg nicht. Gerade aber diese Tradition sprach nach den einleitenden Worten von Landtagspräsident Gottfried Müller für den verfassungsrechtlichen Start des neuen Freistaats an diesem Ort: „Ich darf daran erinnern, dass die Tradition dieses Saales in besonderer Weise geeignet ist, den heutigen Tag durchzuführen. Sie sehen hier die Fahne der Burschenschaften, die Fahne der Art, wie sie 1817 auch hier herauf auf die Wartburg von freiheitlichen Studenten getragen wurde. Und viele von ihnen bewegte die Forderung nach demo-

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kratischen Verfassungen in Deutschland. Heute, genau drei Jahre nach der Konstituierung des Thüringer Landtags, sind wir zur Wartburg gekommen, um eine Verfassung für das Land Thüringen zu beschließen, das in der Mitte des wiedervereinigten Deutschland liegt. 1817 schloss der Verfassungsgedanke die Forderung mit ein, dem Volke eine Vertretung in Gestalt von Parlamenten zu ermöglichen. Der Kern der Konstitution der Verfassung war die Bildung einer Repräsentation … Die Bürger selbst müssen bestimmen, was in der Sprache von 1813 das „Gesetz des Volkes“ sein soll – Sinn und Ziel des gesellschaftlichen Lebens. Damals hieß es auf der Wartburg, politisch gegen die Fürsten gewandt: ,Der Wille des Fürsten ist nicht das Gesetz des Volkes, sondern das Gesetz des Volkes soll der Wille der Fürsten sein.’ Aktualisiert könnte dieses heute so lauten: ,Der Wille der Politiker ist nicht das Gesetz des Volkes, sondern das Gesetz des Volkes soll der Wille der Politiker sein.‘“4

Abb. 21  Die Wartburg – Ort der Verabschiedung der Thüringer Verfassung am 25.10.1993

Und er zitierte abschließend Worte des Burschenschaftsführers Friedrich-Wilhelm Kerowe, der 1817 auf der Wartburg in der damaligen sehr pathetischen Sprache die demokratischen Repräsentanten mahnte: „So auch sind wir nichts, wenn wir die Wurzel verkennen, auf der wir stehen und gewachsen sind. Wir sind undankbar oder verblendet, wenn wir die Bürger nicht achten und ehren, die den Stamm bilden, dessen Zweiglein wir sind.“5

Blockadeaufruf und Bombendrohung Die Proteste gegen die Verabschiedung der neuen Verfassung und dies auch noch auf der Wartburg kulminierten in einem Aufruf des DGB Westthüringen zu einer „fürsorglichen Belagerung der Wartburg“, der allgemein dahingehend verstanden wurde, die schmale Straße, die von Eisenach zur Wartburg führt, zu blockieren.

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Maßgeblicher Initiator und Akteur dieser Protestaktion war Angelo Lucifero, damals Thüringens Oberrevoluzzer. Ursprünglich dachte ich, dass sich hinter diesem Namen ein Pseudonym verbergen würde. Aber nein: nomen est omen – der Agitator hieß wirklich so. Den Kopf mit den fanatischen Gesichtszügen krönte auch noch ein roter Haarschopf. Es passte alles zusammen. Er war der Sohn italienischer, aus Sizilien ursprünglich nach Mainz zugezogener Eltern, der in der Nachwendezeit aufgrund der Radikalität seiner Sprache sowie Form und Inhalt seiner permanenten Protestaktionen ein übler Agitator gegen die neue staatliche Ordnung und deren Organe war. Beruflich war er Gewerkschaftssekretär und als solcher zweiter Vorsitzender der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen und somit Stellvertreter des damaligen HBV-Vorsitzenden Bodo Ramelow, des heutigen Spitzenfunktionärs der Thüringer Linken. Beide überwarfen sich später und schließlich wurde ihm von der Folgegewerkschaft Verdi fristlos gekündigt. Er war wohl nicht nur für mich ein unausstehliches rotes Tuch. Von seinen Anhängern hingegen wurde er als glühender Antifaschist nahezu verehrt. Zu der Blockade kam es jedoch nicht. Die Auffahrt der Teilnehmer an der Verfassungsfeier zur Wartburg wurde nicht behindert. Nach einer Intervention von Landtagspräsident Gottfried Müller bei dem damaligen DGB-Vorsitzenden Frank Spieth wurden Luciferos Truppen noch rechtzeitig zurückgepfiffen. Es fand sich nur ein kleines Häufchen Demonstranten am Fuße der Wartburg zusammen, die den Abgeordneten und Gästen ihre plakatierten Proteste entgegenhielten. Dennoch gab es für die Sicherheit der Verfassungsfeier eine etwas brenzlige Situation: Kurz vor der Sitzungseröffnung, die Abgeordneten und Gäste hatten schon Platz genommen, eilte der Einsatzleiter der Polizei auf mich zu und flüsterte mir ins Ohr: „Wir haben soeben die Warnung erhalten, im Palas der Wartburg werde in Kürze eine Bombe hochgehen. Was sollen wir tun? Räumen?“ Die Entscheidungskompetenz lag in dieser Minute bei mir. Die bereits angesprochene originäre Polizeigewalt des Landtagspräsidenten war mir als seinem ständigen Vertreter in Angelegenheiten der Verwaltung übertragen. Diese Polizeigewalt bezog sich nicht nur auf das Landtagsgebäude, sondern auf alle Räumlichkeiten, in denen der Landtag tagte. Ich überlegte blitzschnell und entschied: „Nichts unternehmen, alles laufen lassen.“ Und ich gab dem braven Polizisten mit sarkastischem Lächeln den berühmten Satz von Horaz mit auf den Weg: „dulce et decorum est pro patria mori („Es ist süß und ehrenvoll, für das Vaterland zu sterben“). Ich war überzeugt, diese Entscheidung verantworten zu können, da der Palas noch unmittelbar vor Veranstaltungsbeginn mit Spürhunden abgesucht worden war und ich den Störern im Falle einer Unterbrechung oder sogar Vertagung der Verabschiedung der Verfassung diesen Triumph nicht gönnen wollte. Es sollte dann auch tatsächlich nichts passieren. Es ging keine Bombe hoch. Es handelte sich – wie vermutet – um einen provozierten Fehlalarm. Die Sitzung ging dennoch nicht ohne Störung zu Ende, die aber ganz anderer Art war.

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Der angebliche Eklat: Kein Rederecht für das Neue Forum Der Thüringer Landtag hatte in der Plenarsitzung am 21.10.1993 für die Verabschiedung der Verfassung ein besonderes Verfahren festgelegt, das vom üblichen geschäftsordnungsrechtlichen Verfahren abweichen sollte. Es wurde vom Landtag gemäß §  120 seiner Geschäftsordnung mit einer qualifizierten Zwei-Drittel-Mehrheit der Anwesenden und der Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl bei nur vier Gegenstimmen und vier Enthaltungen beschlossen: Die 3. Lesung sollte geschäftsordnungsrechtlich in den üblichen Bahnen ablaufen. Die Besonderheit lag allerdings darin, dass die Schlussabstimmung am 25.10.1993 auf der Wartburg stattfinden sollte und dass davor nur noch je ein Sprecher der einzelnen Fraktionen und der Regierung das Schlusswort zu einer abschließenden, maximal 30minütigen Bewertung der Verfassung erhalten sollte. Der Grund für diese Limitierung der Redebeiträge war einsichtig: Man wollte der Verabschiedung der Verfassung einen möglichst würdigen, feierlichen Rahmen verleihen, nachdem sämtliche Sachdebatten abgeschlossen waren. Mit der Begrenzung der Redezeiten wollte man der Gefahr einer inhaltlich ausfasernden Detaildebatte entgegenwirken, die der Bedeutung des Tages durch Beiträge zu längst ausdiskutierten Themen nicht gerecht würde. Diese Gefahr war durchaus nicht von der Hand zu weisen, weil inzwischen einige Abgeordnete aus ihren ursprünglichen Fraktionen ausgetreten oder ausgeschlossen worden waren und sich als „Einzelkämpfer“ am – teils problematischen, teils legitimen – Rande des im Landtag vertretenen parteipolitischen Spektrums bewegten. Ihr Bedürfnis zur Selbstdarstellung war dafür umso größer. Diese Redebeschränkung gefiel insbesondere den Abgeordneten Büchner und Geißler gar nicht. Beide hatten ihre politische Heimat im Neuen Forum, waren ursprünglich Mitglieder der Fraktion B90/GR/NF/DJ, nach vielfältigen Querelen aber aus der Fraktion ausgeschlossen worden und waren nunmehr fraktionslose „Wilde“, wie sie in der Frankfurter Nationalversammlung bezeichnet worden waren. Bei diesen beiden handelte es sich nun wahrlich nicht um Abgeordnete, die des politischen Extremismus verdächtig waren. Beiden Abgeordneten war aber außer einer gehörigen Portion Selbstbewusstsein ein beachtlicher Drang zur Selbstdarstellung und die Neigung zur Provokation zu Eigen, die zu Repliken herausfordern mussten. Doch diese Eigenschaften waren bei den Mitgliedern des Thüringer Landtags durchaus nicht auf diese beiden Abgeordneten beschränkt. Daher war es nur konsequent, von der beschlossenen Redeordnung keine Ausnahme zugunsten dieser beiden Abgeordneten zuzulassen und damit einen unerwünschten Präzedenzfall zu schaffen. Auch dass es sich bei ihnen um herausragende Akteure der Wende handelte, rechtfertigte keine Ausnahme. Sie waren schließlich nicht die einzigen gewichtigen Wendeakteure im Kreis der Abgeordneten; die gab es gerade auch in den Fraktionen von CDU, SPD, FDP und B90/DG/DJ. Schließlich gab es den Beschluss des Landtags zum Verfahrensablauf und das klare verfassungsrechtliche Gebot, alle Abgeordneten gleich zu behandeln.

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Die Abgeordneten Büchner und Geißler wollten sich aber mit ihrem Ausschluss von der Rednerliste nicht zufrieden geben. Und so initiierten sie – durchaus geschickt – einen kleinen provokanten Auftritt, den sie den Medien schon zuvor als spektakuläres Ereignis angekündigt hatten. Kaum hatte der Landtagspräsident die Sitzung eröffnet und den vom Landtag am 21. Oktober beschlossenen Ablauf der Sitzung erläutert, erhob der Abgeordnete Büchner dagegen Widerspruch, ohne dass er zuvor vom Landtagspräsidenten das Wort erteilt bekommen hatte. Ich eilte sofort aus den Zuhörerreihen auf das Podium hinter das Präsidium und flüsterte dem Landtagspräsidenten die dringende Empfehlung ins Ohr, dem Abgeordneten Büchner einen Ordnungsruf zu erteilen und ihn notfalls nach dem dritten Ordnungsruf des Saales zu verweisen. Der Landtag hatte die Redeordnung gerade auch in dem Bewusstsein derartiger möglicher Interventionen einzelner Abgeordneter beschlossen; gerade dieser Fall war nun eingetreten und folglich war die Redeordnung einzuhalten! Nachdem sich der erste Disput zwischen Landtagspräsident und dem Abgeordneten Büchner zum dritten Male wiederholt hatte, wurde er des Saales verwiesen. Ihm schloss sich sein Parteifreund Geißler mit den Worten an: „Herr Präsident, ich verlasse ebenfalls diese Landtagssitzung unter Protest.“ Beide Abgeordneten schienen diesen Rauswurf geradezu ersehnt zu haben; ihre politische Rechnung ging damit nämlich auf: Wenn sie schon nicht reden konnten, dann wollten sie wenigstens einen pressewirksamen Abgang inszenieren, der ihnen anschließend bei der Presse tatsächlich mehr Zeilen verschaffen sollte als im Falle einer Rede. Die Presse schlug sich erwartungsgemäß auf ihre Seite, berichtete über einen „Eklat“ und beklagte die fehlende Flexibilität, Toleranz und Souveränität des Landtagspräsidenten gegenüber zwei Wendeaktivisten. Ein Eklat war das nun wirklich nicht. Eher schon wäre es ein Fehler des Landtagspräsidenten gewesen, einen mit Zwei-Drittel-Mehrheit gefassten Beschluss des Landtags zu ignorieren und die Büchse der Pandora zu öffnen. Damit wäre die Gefahr einer zum x-ten Male geführten Detaildebatte heraufbeschworen worden, zum Beispiel um subjektive Rechte auf Wohnung oder Arbeitsplätze und ähnliche, einen omnipotenten Staat voraussetzende sozialistische Heilsversprechen, um die Höhe von Quoren bei Plebisziten oder den immer wieder schon bewusst sprachlich diskreditierten „Automatismus zur Erhöhung der Diäten“. Dennoch ließ diese Kritik Landtagspräsident Gottfried Müller nicht ganz unbeeindruckt. Noch lange lagen bei ihm rationaler Ordnungs- und Gerechtigkeitssinn einerseits und das ihn auszeichnende weite, tolerante Herz des Theologen andererseits im Zwiespalt, wenn er auf seine Reaktion bei der Schlussberatung der Verfassung angesprochen wurde. Ich empfand schon Mitgefühl mit dem Menschen Gottfried Müller, hatte jedoch keinerlei Zweifel an der Richtigkeit meiner ordnungspolitischen Intervention. In solchen Momenten schossen mir sofort chaotische Bilder aus der demokratischen Volkskammer durch den Kopf und meine Selbstverpflichtung, dazu beizutragen, dass die Beratungen des Thüringer Landtags demgegenüber in einem angemessenen parlamentarischen Stil stattfinden sollten. Der Landtag hatte sich an das selbstgesetzte Recht zu halten, die Bedeutung von Verfahren zu verinnerlichen und dabei immer auch auf die Würde des obersten Organs demokratischer Willensbildung

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zu achten, deren Bedeutung für die Akzeptanz seiner Entscheidungen nicht unterschätzt werden darf. An die Schlussabstimmung schloss sich unmittelbar die Ausfertigung der Thüringer Verfassung durch den Landtagspräsidenten an, nachdem die formelle und materielle Prüfung des seit dem 21. Oktober feststehenden Verfassungstextes bereits im Vorgriff ohne Beanstandungen vorgenommen worden war; sie wurde nur noch formal bestätigt. Den Akt der Ausfertigung inszenierte der Landtagspräsident in spektakulärer Form im Innenhof der Wartburg. Dort war ein in landtagsgrün ausgeschlagener Tisch aufgestellt, auf dem der in grünem Leder gebundene Text der Verfassung und ein Füllfederhalter lagen. Hinter dem Tisch war ein imposanter Stuhl platziert. Beide Möbelstücke entstammten wohl dem Fundus der Wartburg und vermittelten mit den barocken, goldbeschichteten Beinen und Stuhllehnen eher den Eindruck, dass hier ein Ereignis aus einer fürstlichen Epoche stattfinden sollte und nicht ein zutiefst republikanischer Staatsakt. Dieses Detail der Vorbereitung war mir „durchgerutscht“. Als glühender Republikaner lehnte ich jegliche Anklänge an dynastische Wurzeln oder fürstliche Reminiszenzen in parlamentarischen Verfahrensabläufen entschieden ab. Der Landtagspräsident schritt gravitätisch hinter den Tisch, nahm auf seinem „Thron“ Platz, griff zum Füllfederhalter – es hätte nur noch gefehlt, ihm einen Federkiel zu reichen – und unterzeichnete die Verfassung. Dann hob er die Verfassung hoch und zeigte sie, nicht gerade einem jubelndem Volk, aber immerhin den freudig Beifall spendenden Abgeordneten und Gästen. Diese Inszenierung der Ausfertigung der Thüringer Verfassung bewies das Gespür des Pfarrers und ehemaligen Journalisten von „Glaube und Heimat“ für medienwirksame Auftritte. Das Bild von dem Landtagspräsidenten, der die frisch unterschriebene Verfassung der Öffentlichkeit vor dem Hintergrund der Wartburg in die Höhe hält, erschien später in allen Zeitungen und Darstellungen über die Verabschiedung der Verfassung. Ich habe mich im politischen Geschäft immer gegen emotionale, ans Herz und Gemüt gehende Auftritte gewehrt, war mir aber dennoch bewusst, wie sehr die demokratische Republik mit ihrer rationalen Legitimationsbegründung auch die Seele eines Volkes streicheln muss. Der letzte Akt der Verfassungsgebung war deren Veröffentlichung im Gesetz- und Verordnungsblatt Thüringen, was am 29.10.1993 geschah. Nach der Ausfertigung der Verfassung hatte der Landtag seine Aufgabe nach zirka zweieinhalb Jahren Arbeit getan und dieser Augenblick musste nun auch gebührend im Wartburghotel bei einem Buffet mit Thüringer Spezialitäten, Thüringer Bier und einem Wein gefeiert werden, um den sich noch eine kleine Geschichte rankte.

Welcher Wein zum Empfang? Die Feierlichkeiten anlässlich der Verabschiedung der Landesverfassung auf der Wartburg waren nach der Konstituierung des Landtags im Deutschen Nationaltheater das zweite Großereignis, bei dem sich der Freistaat einer breiten illustren Öffentlichkeit mit

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Abb. 22  Unterzeichnung der Thüringer Verfassung durch Landtagspräsident Dr. Gottfried Müller auf der Wartburg am 25.10.1993

Abb. 23  Landtagspräsident Dr. Gottfried Müller präsentiert der Öffentlichkeit die neue Thüringer Verfassung am 25.10.1993 auf der Wartburg

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Gästen aus allen Teilen Deutschlands präsentierte. Es galt daher auch bei dem Empfang auf der Wartburg, mit einem soliden kulinarischen Angebot aus Thüringer Landen einen guten Eindruck zu hinterlassen. Selbstverständlich wollten wir nicht übermäßig protzen. Schließlich sollten die westdeutschen Gäste als Steuerzahler nicht den Eindruck mit nach Hause nehmen, dass die finanzielle Aufbauhilfe Ost verfressen und versoffen würde. Aber wir wollten uns jedenfalls auch kulinarisch vom ehemaligen DDRNiveau deutlich abheben. Damit wurde unter anderem auch der Wein zur Chefsache. Ich ließ mir daher nicht nur die Buffetvorschläge, sondern auch die Vorstellungen zur „Getränkeversorgung“ – wie es im schönen DDR-Deutsch auch noch heute verbreitet heißt – vorlegen. Dass als Weißwein ein Tropfen aus Bad Sulza kredenzt werden sollte, erschien mir ziemlich suspekt. Und so fuhr ich sicherheitshalber noch zur Wartburg, um insbesondere den für den Empfang vorgesehenen „Sonnenberg“ zu probieren. Auch beim Wein war die generelle Vorgabe klar: Es sollten tunlichst thüringische Gewächse ausgeschenkt werden. Thüringen ist nun wahrlich kein Weinland, aber es gab immerhin an Saale und Ilm einige Weinberge auf heute zirka 66 Hektar Anbaufläche, so in Sonnendorf, einem Ortsteil von Bad Sulza. Dort wurde der Sonnenberg, ein zurzeit der Wende mit nur zirka 11 Hektar bepflanzter Weinberg, von einer Tochtergesellschaft der Agrargenossenschaft Niedertrebra bewirtschaftet, die aus der LPG in Großheringen und Niedertrebra hervorgegangen war. Vornehmlich wurden dort Reben der Sorte Müller-Thurgau angebaut, die unter der Bezeichnung „Sonnenberg“ vermarktet wurden. Nun zu meiner Weinvisitation. Zuerst das Positive: Ich fand die Idee ganz prima, dass in dem großen Empfangssaal ein großes, mit Weinlaub umkränztes Holzfass aufgestellt werden sollte. Hübsche, in heimische Trachten gewandete Kellnerinnen sollten aus diesem Fass den Wein in Krüge zapfen und den Gästen ausschenken. Dann probierte ich den vorgesehenen Wein, einen Sonnenberg, Müller-Thurgau. Das war ein herber Schlag. Ich traute meinen Geschmacksnerven kaum, sah mich flehentlich nach einem Gefäß oder Eimer um, um dieses grauenhafte, sich Wein nennende Gebräu schnellstens wieder auszuspucken. Die gab es jedoch nicht in unmittelbarer Nähe. Trotz meiner Bedenken um mein gesundheitliches Wohl musste ich die grässliche Brühe schlucken. Die Bewertung des ostdeutschen Weins durch den Schriftsteller Johannes Trojan (*1857 † 1915) traf nach wie vor zu: Wenn du ihn schlürfst in dich hinein, Ist dir’s, als ob ein Stachelschwein Dir kröche durch die Kehle, Das deinen Magen als Höhle Erkor, darin zu hausen. Angst ergreift dich und Grausen.

Für mich stand sofort fest: Dieser Wein kann unseren Gästen nicht angeboten werden, jedenfalls nicht den Wessis, zumal wenn sie ihre heimischen Weine aus Rheinland-Pfalz und Hessen mit den vorzüglichen Anbaugebieten von Rheingau, Pfalz, Mosel oder Nahe gewöhnt waren.

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Was tun? Einfach einen guten und zudem auch noch relativ preiswerten Pfälzer in das große Holzfass füllen? Dann wäre ich als Wessi bei den patriotischen Thüringern völlig unten durch gewesen. Auch eine heimliche Füllung war mir zu gefährlich. In der Politik und deren Umfeld bleibt einfach nichts verborgen. Ich entschied mich für einen Kompromiss: In das Weinfass sollte Wein aus Sachsen-Anhalt von der Winzergenossenschaft Freyburg. Auch Freyburger Genossenschaftsweine waren damals alles andere als gute Tropfen, aber sie waren immerhin trinkbar. Die freche Deklarierung eines Weines von der Unstrut zu einem Thüringer Wein erschien mir letztlich als eine lässliche Sünde. Immerhin war es ein Wein aus dem Osten und die Differenzierung der Weine aus dem Anbaugebiet „Saale-Unstrut“ nach thüringischer, sachsen-anhalter und sächsischer Herkunft war nicht sehr verbreitet. So hatte auch Thüringens Landtagspräsident Gottfried Müller den damaligen Bundespräsidenten bei seinem ersten Besuch in Thüringen nach der Wende im Landtag mit einem – wie er es formulierte – Glas „guten heimischen Weins“ begrüßt. Tatsächlich enthielt es aber Wein aus Sachsen-Anhalt. Damit klangen bei Leibe keine revanchistischen thüringischen Gebietsansprüche auf sachsen-anhalter Territorium an; die Thüringer kannten sich bei ihrem Lieblingsgetränk, dem Bier und dessen Herkunft weit besser aus als bei den ihnen in DDR-Zeit weitgehend vorenthaltenen heimischen Weinen. So sehr mir also meine Kompromissentscheidung akzeptabel schien, so fiel mir eine schnoddrige Bemerkung zur Qualität des ausgemusterten Thüringer Weins aus dem Sonnenberg folgenschwer auf die Füße: „Mit diesem Wein würde ich mir allenfalls die Füße waschen.“ Ich liebte gelegentlich die Berliner Schnoddrigkeit, die ich mir in meinen Berliner Jahren zugelegt hatte und auf die Berliner regelmäßig adäquat reagieren können. In anderen Landstrichen reagiert man hingegen eher säuerlich, so auch in diesem Fall. Am nächsten Morgen erhielt ich prompt den Anruf eines wutentbrannten Staatssekretärs aus dem auch für den Weinbau zuständigen Landwirtschaftsministerium: „Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen? Ich fahre durch die Lande, preise den Thüringer Wein als eine herausragende Spezialität, lasse mich mit der ,Bütt’ und im ,Wingert’ – diese Sprache verriet den Rheinland-Pfälzer – fotografieren, küsse die Weinkönigin (da sie sehr hübsch war, war das sicherlich keine oder nur die geringste Last) und Sie verbreiten, mit diesem Wein ,könne man sich allenfalls die Füße waschen’“. Mein Versuch der Verteidigung war zugegebenermaßen mehr als dürftig: Die Bemerkung sei in einem Kreis von zwei bis drei Personen gefallen, außerdem habe ich nicht von „man“, sondern nur von meinen Füßen gesprochen. Politisch korrekt war meine Bemerkung sicherlich nicht, das wusste ich. Aber ich wollte vom Weinbaustaatssekretär Dr. Hartmann, den ich gut kannte und von dem ich wusste, dass er einige Jahre die Konrad-Adenauer-Stiftung in Paris mit einem weit bekannten vortrefflichen Weinkeller geleitet hatte, ein ehrliches eigenes Urteil zur Qualität des damaligen Thüringer Weins erhalten. Seine sowohl um Ehrlichkeit als auch um Diplomatie bemühte Antwort war mir Bestätigung und Genugtuung zugleich: „Wenn, dann trinke

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ich ihn immer eiskalt.“ Für jeden Weinkenner war das eine klare, geradezu vernichtende Aussage. Zur Ehrenrettung der Thüringer und der Sachsen-Anhalter Weine aus den Kellern der heutigen jungen Winzergeneration muss aber an dieses „Geschichtchen“ unbedingt eine kleine Nachbetrachtung angeschlossen werden: Die Weine aus Thüringen, insbesondere von den Thüringer Weingütern Bad Sulza und Zahn in Kaatschen, sind zum Teil ausgezeichnet, das gilt in guten Jahren besonders für die filigranen Rieslinge. Aus Thüringer Sicht hängt dem heimischen Weingut Bad Sulza nur noch ein kleiner Makel an: Armin Claus, der Kopf des Weinguts, schwäbelt immer noch furchtbar. Aber warum sollte es ihm, dem der Höhenflug des Thüringer Weins maßgeblich zu danken ist, eines fernen Tages nicht doch noch gelingen, diesen Wein in Thüringer Lauten zu preisen.

15.  Die Entwicklung des Parlamentarismus und der   Aufbauhilfe – Eine Bilanz Fragt man nach den Erfolgen der Verwaltungshilfe Ost und misst man den Erfolg beispielhaft am Aufbau des Thüringer Landtags unter verschiedenen, insbesondere unter den in den vorstehenden Kapiteln erörterten Aspekten, dann lässt sich resümieren: Thüringen hat die Wiedervereinigung im staatlichen und im öffentlichen Bereich geschafft. Die verfassungsrechtlichen Grundprinzipien stehen nicht nur als papierener Text in der Verfassung, Demokratie und Rechtsstaat sind lebendige Realität und die Verwaltung funktioniert. Thüringen hat sich im Konzert der Länder zu einem anerkannten, ziemlich normalen Bundesland entwickelt. Der Osten hat sich insoweit dem Westen in erheblichem Maße angeglichen. Eine ganz andere Frage ist allerdings, ob diese tatsächliche staatliche Angleichung gut und wünschenswert ist, dazu gleich noch einige kritische Anmerkungen. Bei der Forderung nach der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet (Art. 72 Abs. 2 GG), insbesondere im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich, sieht die Lage allerdings deutlich anders aus, aber das ist nicht Thema meiner Betrachtungen und muss hier offen bleiben.

Das durch die Regierung dominierte Fraktionenparlament Der Thüringer Landtag unterscheidet sich kaum noch von einem westdeutschen Parlament. In einem Interview mit dem damaligen Thüringer Ressortchef der BILD-Zeitung, Andreas Möller, einem herausragenden Journalisten jener Zeit, zog ich anlässlich meines 60. Geburtstages dennoch im Jahr 2000 eine nostalgische, zugegebenermaßen unter den Bedingungen eines modernen Parlamentarismus wohl etwas weltfremde kritische Bilanz: „Wie lebendig und frei waren doch die ersten Abgeordneten zum Neubeginn. Schade, dass sie inzwischen auf West-Niveau abgesunken sind.“ Für diesen Satz bezog ich sogleich heftige Prügel aus den Fraktionen und auch von der damaligen, von mir hochgeschätzten Landtagspräsidentin Christine Lieberknecht, und zwar unter folgenden Aspekten: Von einer Absenkung des Niveaus könne gar keine Rede sein – und außerdem sei diese Bewertung seitens eines Landtagsdirektors anmaßend und ungebührlich. Außerdem durfte die übliche Thüringer Leier aus Patriotismus und Selbstüberschätzung nicht fehlen: Die Thüringer Abgeordneten seien unverkennbar genuine Abgeordnete ihres Heimatlandes Thüringen, die sich nicht in eine vergleichende Ost-West-Schablone pressen ließen. Legt man aber die verfassungsrechtlichen Maßstäbe des Grundgesetzes (Art. 38) und der Thüringer Landesverfassung (Art. 53) an, wonach die Abgeordneten „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“ sind, dann lässt sich wohl kaum bestreiten, dass sich auch

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der Thüringer Landtag von diesen Vorgaben weit entfernt und sich zum üblichen Fraktionenparlament entwickelt hat. Darin verliert die Regierungsfraktion unter der Dominanz der Regierung an eigener Statur und nur noch wenige Abgeordnete der Regierungsfraktion strampeln hilflos – manchmal mit geballter Faust in der Tasche –, um Spielräume für die Durchsetzung eigener politischer Vorstellungen oder bei ihrer kritischen Regierungskontrolle zu erstreiten. Diese Entwicklung zum Fraktionenparlament ist nicht prinzipiell zu beklagen1, nur darf sie nicht zu einer unverhältnismäßigen Dominanz der Regierung über „ihre“ Fraktion führen. Im Übrigen hat das übliche Spiel zwischen der Regierung und der Regierungsfraktion einerseits und der Opposition andererseits im Laufe der Jahre auch im Thüringer Landtag zunehmend Einzug gehalten.

Ein Parlament von Berufsabgeordneten Der Thüringer Landtag war von Beginn an – und zwar in noch erheblich stärkerem Umfang als dies in westdeutschen Parlamenten der Fall ist – ein Parlament von Berufsabgeordneten, also von Abgeordneten, die nach Max Weber „für die und von der Politik leben“. Von den 89 Abgeordneten der ersten Wahlperiode übten gerade einmal sechs Abgeordnete neben ihrem Mandat – mehr oder weniger – einen zivilen Beruf aus (ein Mediziner, zwei Kleinunternehmer und drei Rechtsanwälte). Eine maßgebliche Ursache für diese hohe Anzahl von Berufsabgeordneten lag darin, dass nach der Wende viele Arbeitgeber von Abgeordneten, insbesondere große Kombinate, einfach weggebrochen waren und der Thüringer Landtag insofern ihr neuer – einziger – „Arbeitgeber“ wurde. Ein Landtag als ein Parlament von Berufsabgeordneten ist höchst problematisch. Meine These lautet: Berufsabgeordnete mindern das Vertrauen der Bürger in ihre Abgeordneten, weil Berufsabgeordnete Gefahr laufen, ihr Handeln zu stark eigennützig und nicht ausschließlich gemeinwohlorientiert auszurichten. Selbst Helmut Kohl, der als CDUVorsitzender an der Entwicklung zum Berufsabgeordneten nicht gerade unbeteiligt war, hat darin später als elder statesman die Gefahr einer „Verbonzung“ gesehen. Warum ist diese Gefahr sehr real? Viele Abgeordnete „kleben“ aus eigennützigen Gründen an ihrem Mandat. Sie betreiben ihre regelmäßige Wiederwahl, um nicht durch den Verlust des Mandats in ein wirtschaftliches, finanzielles und gesellschaftliches Loch zu fallen. Dementsprechend ist ihr politisches Handeln stärker eigennützig als gemeinwohlorientiert ausgerichtet. Dafür spricht:

1) Die weitaus überwiegende Zahl der Abgeordneten verfügt über ein höheres Einkommen als in ihrem früheren Beruf. In Thüringen ist das bei 70 Prozent der Abgeordneten der Fall. 2) Die meisten Abgeordneten streben eine erneute Kandidatur an und sind dabei in hohem Maße erfolgreich. In Thüringen waren das in den ersten vier Wahlperioden über 90 Prozent, von denen 82 Prozent wiedergewählt wurden.

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3) Die finanziellen und gesellschaftlichen Folgen eines unfreiwilligen Mandatsverlustes können insbesondere nach längerer Amtsdauer und gerade für ehemalige Abgeordnete aus den neuen Ländern erheblich sein. Viele von ihnen fallen in ein tiefes Loch und haben es schwer, beruflich wieder Fuß zu fassen. Es gibt in Thüringen unter ehemaligen Abgeordneten sogar einige – wenn auch wenige – echte Sozialfälle, die anstelle der früheren Sozialhilfe eine spezielle Sozialleistung aus dem Haushalt des Landtags beziehen. Es handelt sich dabei um „einmalige Unterstützungen“ und „laufende Unterhaltszuschüsse“ nach § 21 des Thüringer Abgeordnetengesetzes, die eingeführt wurden, um ehemaligen Abgeordneten nicht den Gang zum Sozialamt zuzumuten, sondern ihnen einen etwas höheren Lebensstandard zu erlauben als Sozialhilfeempfängern; Abgeordnete werden damit privilegiert. 4) Hinzu kommen die Gewöhnung an die relativ hohe infrastrukturelle Ausstattung des Mandats sowie der im Laufe der Mandatsausübung gewachsene Glaube an die persönliche Wichtigkeit und Unentbehrlichkeit im politischen Betrieb.

Es ist also durchaus nachvollziehbar, warum ein auf Zeit gewählter demokratischer Amtsträger aus ganz eigennützigen oder sogar existentiellen Gründen um sein Mandat kämpft. Und dieser Kampf erfolgt oft unter Bedingungen und mit Mitteln, die weitere nachteilige Wirkungen haben. Insoweit gebiert ein Übel das andere, als da wären:

1) Der Verlust an Unabhängigkeit gegenüber der eigenen Partei und Fraktion; 2) der Verlust an Bodenhaftung mit der Folge einer begrenzten Wahrnehmung von konkreten praktischen Alltagsproblemen; 3) ein Multifunktionärstum, oft verbunden mit einer Ämterpatronage, um möglichst als „Platzhirsch“ große Seilschaften zur Verbesserung der Wiederwahlchancen aufzubauen mit der Folge eines Verlustes an Effektivität bei der Wahrnehmung der vielfältigen Funktionen aufgrund von Überlastung, von dem Übel einer parteipolitischen Ämterpatronage ganz zu schweigen; 4) die Höhe der Diäten als ein besonderer Anreiz für Politiker mit nur mittelmäßiger Qualifikation; 5) die „Deckelung“ oder das „Rausbeißen“ von Konkurrenten (das gilt auch für hoffnungsvolle Nachwuchskräfte) mit der Folge von „Versteinerungen“ und mangelhafter Offenheit und Innovation in der Politik; 6) die ständige Produktion parlamentarischer Initiativen, insbesondere Anfragen ohne Gemeinwohlbezug, die primär der eigenen Selbstdarstellung und dem Kampf um die eigene Wiederwahl dienen; sie verursachen zum Teil einen nicht unerheblichen Verwaltungsaufwand bei der Exekutive und verbrennen damit unnötig Steuergelder; 7) das Abgleiten der politischen Auseinandersetzung zum Kampf um die persönliche Existenz; der politische Gegner wird zum Feind; die politische Kultur bleibt auf der Strecke; es entsteht eine Art Bunkermentalität; der Bürger wendet sich mit Grausen ab.

Aus dieser Negativentwicklung kann es nur eine Konsequenz geben: die Einführung von Teilzeit- oder sogar von ehrenamtlichen Abgeordneten. Dieser Vorschlag wird na-

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türlich bei den Landtagsabgeordneten auf heftige Kritik stoßen. Man wird argumentieren, damit könnten die Parlamente ihre Aufgaben nicht mehr qualifiziert erfüllen. Sie würden insbesondere im Verhältnis zur Exekutive massiv geschwächt. Diese Kritik ist – auf der Basis der gegenwärtigen Parlamentspraxis – durchaus nicht ganz unberechtigt. Daher muss die Abschaffung des Berufsabgeordneten mit einer grundlegenden Parlamentsreform verbunden werden. Vorab gilt es aber, mit einer Mär aufzuräumen, die – verständlicherweise – von gut dotierten Berufsabgeordneten verbreitet wird, um sich vor sich selbst und vor ihren Wählern als Berufsabgeordnete zu legitimieren: Landtagsabgeordnete seien mit Parlamentsaufgaben völlig aus- oder sogar überlastet. Das Gegenteil ist richtig:

– Die Landtage haben eine Fülle gesetzlicher Aufgaben an die Europäische Union und den Bund verloren. Daran hat die Föderalismusreform – trotz gegenteiliger Bekundungen der selbst ernannten „Jahrhundertreformer“ – nur wenig geändert. – Beim Haushalt liegt der Gestaltungsspielraum der Landtage zwischen 5 und 7 Prozent der Gesamtsumme; sie hängen im hohen Maße am „goldenen Zügel“ des Bundes und der EU. – Die parlamentarische Kontrolle erschöpft sich oft in einer kleinlichen Verwaltungskontrolle. Alle politisch wesentlichen Missstände werden durch die Presse aufgedeckt und in den Parlamenten nur noch nachbereitet.

Der Aufgabenbereich der Landtage ist somit schon heute nicht mehr groß. Er könnte aber ohne Verlust für unser parlamentarisches Regierungssystem durch folgende Reformen weiter begrenzt werden: Die Landtage müssten sich auf die landesspezifischen Themen konzentrieren und die reine Kommunal- und Bundespolitik (bis hin zu kompetenzrechtlich geradezu aberwitzigen Resolutionen, zum Beispiel zum Krieg im Irak) von der Tagesordnung verbannen. Diese Anträge machen in den Plenarsitzungen im Durchschnitt ca. 30 Prozent und in den Ausschüssen oft weit über 50 Prozent der Parlamentsarbeit aus. Außerdem muss sich der Staat nicht in alle möglichen gesellschaftspolitischen Bereiche hineindrängen, sondern das in Sonntagsreden so viel beschworene Subsidiaritätsprinzip auch im konkreten politischen Handeln respektieren. Damit würde auch die hektische Produktion immer neuer parlamentarischer Initiativen gebremst, deren Gemeinwohlausrichtung vielfach nicht erkennbar ist. Es wäre durchaus möglich, die danach den Landtagen verbleibenden Aufgaben in einem „Feierabendparlament“ mit Teilzeit- oder sogar ehrenamtlichen Abgeordneten qualifiziert zu erledigen.2 Durch die Reduzierung des Zeitbudgets für Abgeordnete und die Konzentration auf eine kompakte, sachorientierte Aufgabenwahrnehmung könnten auch wieder Bürger zu einer stärker ehrenamtlich ausgerichteten Arbeit für die parlamentarische Gemeinwohlarbeit gewonnen werden, die sich dieser Aufgaben bisher aus Zeitgründen verweigern mussten. Diesen Optimismus schöpfe ich aus der Tatsache, dass in Deutschland ca. 36 Prozent der über 14-Jährigen, das sind 23,4 Millionen Menschen, Zeit für eine ehrenamtliche Tätigkeit opfern.3 Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen, möchte ich abschließend betonen, dass ich für eine grundlegende Reform der Landesparlamente plädiere, kei-

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nesfalls aber für deren Abschaffung. Einmal ganz abgesehen davon, dass dies schon verfassungsrechtlich im Hinblick auf Art. 79 Abs. 3 GG gar nicht möglich wäre, halte ich Landesparlamente aus politischen Gründen für unverzichtbar. Sie abzuschaffen wäre ein unersetzlicher Verlust für die Mitwirkungsrechte und –möglichkeiten der Bürger in unserer repräsentativen Mehr-Ebenen-Demokratie.

Geheime Wahlen als eherne Regel Es gab allerdings auch einige wenige parlamentarische Besonderheiten aus der ersten parlamentarischen Phase des Thüringer Landtags, die sich noch lange, teilweise – wenn auch abgeschwächt – bis heute erhalten haben. Erwähnenswert sind eine kuriose Wahlrechtspraxis und ein Relikt parlamentarischer Unkultur aus der Aufbauzeit. Es ist schon sehr sonderbar, in welcher Weise im Thüringer Landtag Wahlen durchgeführt wurden und bis heute werden: fast immer geheim, egal wer für welches Amt zur Wahl steht – von dieser Praxis gab es nur einige ganz wenige Ausnahmen. Geheime Wahlen waren zu DDR-Zeiten ein Tabu. Wer geheime Wahlen forderte oder geheim wählen wollte, machte sich verdächtig. Daher wurde es nach der Wende als eine der dankbar empfundenen Errungenschaften des neuen demokratischen Systems angesehen, nicht mehr in offener Form „Zettel falten“ zu müssen, sondern geheim über personelle Alternativen abstimmen zu können. Insofern entsprach es der allgemeinen politischen Stimmungslage, dass in der Geschäftsordnung des Thüringer Landtags auch für die Wahlen durch Abgeordnete vorgeschrieben war und ist: „Bei Wahlen findet grundsätzlich eine geheime Abstimmung statt.“ (§ 46 Abs. 1 S. 1). Von diesem Gebot gibt es nur eine Ausnahme, nämlich eine Wahl durch Handzeichen, „wenn kein Mitglied des Landtags widerspricht“ (§ 46 Abs. 2 S. 1). Nun kann man zwar grundsätzlich Vorbehalte gegen geheime Wahlen durch Abgeordnete in Parlamenten haben (das gilt selbstverständlich nicht für Wahlen von Parlamenten durch die Bürger) und fordern, dass jeder Abgeordnete sein gesamtes parlamentarisches Verhalten, also sowohl zu Sach- als auch zu Personalentscheidungen, vor den Wählern offenbaren muss.4 Aber jedwede Wahl geheim durchzuführen, ist ein leerer, sinnloser Formalismus. So, wenn sich alle Fraktionen auf einen gemeinsamen Wahlvorschlag, zum Beispiel für die Schriftführer oder ein Beiratsmitglied eines unpolitischen Gremiums geeinigt haben. Es entsprach aber der ständigen Praxis des Thüringer Landtags, dass immer ein Abgeordneter einer offenen Wahl widersprach, nämlich mein besonderer, schon mehrfach erwähnter „Freund“, der Abgeordnete Jörg Schwäblein (CDU), selbst wenn alle übrigen Abgeordneten eine offene Abstimmung wünschten. Der Widerspruch wurde besonders dann als sehr ärgerlich empfunden und von Unmutsäußerungen im Plenum begleitet, wenn der Landtag noch zu später Stunde tagte, noch mehrere

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Wahlen anstanden und sich durch das zeitaufwendige Einsammeln und Auszählen der Stimmzettel das Ende der Sitzung erheblich hinauszögerte. Jegliche Versuche des Präsidiums oder der parlamentarischen Geschäftsführer, den Abgeordneten Schwäblein von einem Widerspruch abzubringen, waren hoffnungslos; er gefiel sich zunehmend in der Rolle des Wahrers geheimer Wahlen. Und so gab es trickreiche Versuche, politisch ganz unbedeutende Wahlen in einem Moment durchzuführen, wenn der Abgeordnete Jörg Schwäblein sich gerade nicht im Plenarsaal aufhielt. Es ist aber wohl ein Gerücht, dass rechtzeitig vor dem Aufruf von Wahlen attraktive weibliche Abgeordnete auf ihn angesetzt wurden, die zu dem Opfer bereit waren, Schwäblein schöne Augen zu machen und ihn dadurch in der Lobby „ruhig zu stellen“.

Parlamentarische Unkultur bei Ausschussüberweisungen Ein Relikt parlamentarischer Unkultur aus der Aufbauzeit hat sich allerdings – wenn auch inzwischen in abgeschwächter Form – bis zum Ende der vierten Wahlperiode immer noch gehalten: Initiativen der Opposition, insbesondere der PDS-Fraktion, wurden unabhängig von ihrem Gehalt nicht nur – wie im Westen – letztendlich gnadenlos abgeschmettert, sondern nicht einmal in die Ausschüsse verwiesen. Das geschah bis zum Ende der 4. Wahlperiode (2009) immer noch, obwohl sich zwischen der Regierungsfraktion und der PDS-Fraktion im Verlauf der Jahre eine entspannteres, professionelleres Verhältnis entwickelt hatte. Verließen früher – wie bereits erwähnt – CDU-Abgeordnete bei Reden bestimmter PDS-Abgeordneter aus Protest das Plenum, so gibt es inzwischen, wenn auch nur in Sonderfällen, sogar gemeinsame Anträge aller Fraktionen unter Einschluss der PDS-Fraktion. Den ersten Durchbruch, von ihrem „Schmuddelimage“ wegzukommen und zu einer gewissen Normalität im Konzert der Fraktionen zu gelangen, erreichte die PDSFraktion geschickterweise mit gemeinsamen Anträgen beim Kampf gegen rechtsradikale Tendenzen in Thüringen. Zwar gab es in der CDU-Fraktion erhebliche Vorbehalte gegen diese gemeinsame „antifaschistische Front“ seligen Angedenkens, aber man konnte sich einem in der Bevölkerung verbreiteten Erwartungsdruck für ein derartiges gemeinsames Aktionsbündnis letztlich nicht entziehen. Außerdem hat sich die PDS, die heutige Linke, deutlich gewandelt. Die ideologische Gleichsetzung der kommunistischen SED mit der heutigen Linken ist einfach nicht mehr gerechtfertigt. Zwar stellen die alten kommunistischen Kader aufgrund des Durchschnittsalters der Parteimitglieder von 66 Jahren immer noch die überwältigende Mehrheit der Parteibasis der PDS/Die Linke, aber ihr tatsächlicher politischer Einfluss ist gering. In dieser Partei dominieren in Thüringen inzwischen durchweg linke Sozialisten, die – wenn auch teilweise mit unterschiedlicher Intensität – auf dem Boden des Grundgesetzes stehen. Man braucht nur einen Blick auf die Altersstruktur der Abgeordneten der PDS/Die Linke in den Parlamenten der neuen Länder zu werfen, um zu erkennen, wie stark die Fraktion derjenigen geworden ist, die aufgrund „der Gnade ihrer späten Geburt“ von Verstrickungen in das DDR-Regime verschont

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geblieben sind. Sie erinnern mich in ihrem äußerlichen Auftreten und ihren inhaltlichen Positionen eher an meine „68er Freunde“ an der Freien Universität Berlin. Ich empfehle immer allen, die diesen Wandel im Lager der Linksaußen nicht erkennen oder nicht erkennen wollen, den Besuch von einer zweitägigen Landtagssitzung, um deren konkretes politisches Handeln zu beobachten und zu bewerten. Die Anträge und Debattenbeiträge der Abgeordneten von PDS/Die Linke mag man politisch kritisieren oder sogar verdammen, aber objektiv muss man ihnen zugestehen, dass sie oft von viel Sozialismus, aber kaum noch von einer totalitären kommunistischen Ideologie durchdrungen sind. Sie dürfen daher aus dem breiten Spektrum unserer pluralistischen Demokratie weder verbal und schon gar nicht durch rechtliche Verbote oder Hürden ausgegrenzt werden.

Die politische Kultur im Thüringer Landtag Politische Kultur in einem Parlament lässt sich unter sehr verschiedenen Aspekten beleuchten. Hier seien drei Beispiele herausgegriffen: Die Kultur der parlamentarischen Debatte (a), Störungen der Ordnung im Parlament (b) und die Kleiderordnung im Parlament (c).

Die Debattenkultur aus der Sicht der Bürger Zur Kultur parlamentarischer Debatten gehört idealiter zuallererst, dass Abgeordnete nicht nur im Plenum physisch präsent sind (passive Präsenz), sondern dem Redner auch zuhören (aktive Präsenz). Zuhören sollten nicht nur die jeweiligen Fachleute einer Fraktion, sondern möglichst alle Abgeordneten, da die Abgeordneten nach der Verfassung (Art. 38 GG, Art. 53 Thüringer Landesverfassung) – und zwar jeder einzelne – Vertreter des ganzen Volkes und eben nicht nur ihres örtlichen Wahlbezirks oder Spezialist eines bestimmten Fachs oder Klientels sind. Zur parlamentarischen Debatte gehört aber nicht nur die Rede, sondern auch die Gegenrede, in der Argumente pro und contra ausgetauscht, gewogen und bewertet werden. Wie hat sich diese Debattenkultur im Thüringer Landtag entwickelt? Leider zum Schlechten. Wie schon an anderer Stelle hervorgehoben, hat sich der Thüringer Landtag im Laufe der Zeit immer mehr den parlamentarischen Usancen westdeutscher Parlamente angenähert: So hat die passive Präsenz deutlich abgenommen, wenn es auch nicht mehr – wie bereits dargestellt – zu demonstrativen Auszügen von CDUAbgeordneten aus dem Plenum bei Reden von PDS-Abgeordneten kam. Zur Ehrenrettung des Thüringer Landtags muss aber die Einschränkung gemacht werden, dass die Präsenz der Abgeordneten dort immer noch (aber wie lange noch?) größer ist als die westdeutscher Abgeordneter in ihren Parlamenten. Ein wichtiger Grund für diese unterschiedliche Präsenz könnte darin liegen, dass Abgeordnete im Osten ihren gut dotierten Beruf als Politiker im Hinblick auf die immer noch relativ

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hohe Arbeitslosigkeit und die niedrigen Einkommen ihrer Mitbürger als ein gewisses Privileg empfinden, für das sie dankbar sein müssen, und das für sie auch Pflichten begründet. Diese Einstellung wird von einer geradezu hundertprozentigen Mehrheit der Wähler eingefordert. Fragt man Besuchergruppen des Landtags, Studenten in Vorlesungen oder Bürger in privaten Gesprächen nach ihren Eindrücken von Plenarsitzungen, dann wird in erster Linie einmütig und unabhängig vom Bildungsstand der Kritiker die mangelhafte Präsenz von Abgeordneten in Plenarsitzungen kritisiert: „Ich kann auch nicht während der Arbeitszeit meinen Arbeitsplatz verlassen. Und von den mit meinen Steuergeldern gut bezahlten Abgeordneten verlange ich dasselbe.“ Abgeordnete und auch Wissenschaftler versuchen, diese Kritik mit den üblichen Argumenten abzuschwächen: Die Arbeitsbelastung der Abgeordneten und die auch dadurch in Parlamenten bedingte Arbeitsteilung und Spezialisierung erfordere nicht die ständige Anwesenheit aller Abgeordneten im Plenum; außerdem würden die Abgeordneten außerhalb des Plenums nicht etwa der Freizeit frönen, sondern sich anderen parlamentarischen Aufgaben widmen. Dennoch haben die Bürger mit ihrer Kritik völlig Recht. Es gibt für die mangelhafte Präsenz der Abgeordneten keine ausreichende Legitimation oder Entschuldigung. Mein Kronzeuge für diese harte, entschiedene Position ist und bleibt der unvergessene Fraktionsvorsitzende und Zuchtmeister der SPD-Bundestagsfraktion, Herbert Wehner. Er verfolgte in der ersten Reihe des Plenums jede Sitzung, in aller Regel von der ersten bis zur letzten Minute. Er war dabei hellwach; seinen Augen und Ohren entging nichts, und jeder Redner musste mit seinen gefürchteten, bissigen Zwischenrufen rechnen. Herbert Wehner war insoweit (über sein parlamentarisches Vorleben, besonders in der Weimarer und Moskauer Zeit, soll hier nicht gerichtet werden) ein bewundernswürdiges – leider allerdings auch singuläres – Vorbild und ein Abgeordneter von eiserner Disziplin, trotz seines zunehmend schlechter werdenden Gesundheitszustandes. Es ist daher nicht zu verstehen, dass Abgeordnete die Kritik an ihrer mangelhaften Präsenz im Plenum so wenig ernst nehmen und beherzigen, zumal damit – und dieser Punkt ist für eine repräsentative Demokratie von zentraler Bedeutung – das Vertrauensverhältnis zwischen dem Volk und seinen Repräsentanten nachhaltig gestört wird. Aber – wie schon gesagt – mit der Präsenz der Abgeordneten im Thüringer Landtag ist es noch heute, wenn auch nur relativ, im Vergleich zu anderen Parlamenten gar nicht so schlecht bestellt. Die Entwicklung der Debattenkultur nahm einen weniger erfreulichen Verlauf. Konnte man sich in der ersten Legislaturperiode immer wieder an spontanen, nicht vorgestanzten, oft sehr persönlich gefärbten Debattenbeiträgen und Repliken erfreuen, so nahm diese Qualität der Debattenkultur kontinuierlich ab. Schuld daran waren und sind unter anderem die Apparate, angefangen von den Mitarbeitern der Abgeordneten, wie der Fraktionen bis hin zu Ministerialbeamten, die den Abgeordneten fertige Reden liefern, die sie nur noch abzulesen brauchen. Man liest somit Reden aneinander vorbei, ohne dabei auf die Argumente des anderen einzugehen. Diese Praxis bringt zuweilen besondere Sumpfblüten hervor. So, wenn Abgeordnete aus der Regierungsfraktion Redebeiträge von der Regierung zu parlamentarischen Initiativen

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der Opposition erbitten und auch erhalten, selbst wenn diese die Kontrolle der Regierung zum Gegenstand haben. Sie spielen dann nicht Kontrolleur, sondern Libero des Regierungslagers. Auch werden Reden aus fremder Feder abgelesen, die sich der vortragende Abgeordnete zuvor nicht einmal angeschaut hat. Dazu ein Beispiel aus einer Rede des Innenpolitischen Sprechers der CDU-Fraktion, Wolfgang Fiedler, in einer Plenardebatte des Thüringer Landtags zum Thema Datenschutz und Telefonüberwachung: „Die so genannte „Quellentelekommunikationsüberwachung“ wird geregelt… Dies betrifft nur Fallgestaltungen, wenn ein Intensivtäter seine Gespräche über das Internet verschlüsselt, also kryptisiert führt. Er telefoniert insofern „voice over“ – jetzt kann ich das nicht lesen, ich lasse es weg, das hat mir einer aufgeschrieben und ich habe es mir vorher nicht durchgelesen.“5

Immerhin ist wenigstens die Ehrlichkeit dieses Bekenntnisses liebenswert – oder war es vielleicht nur reaktionsschwaches Ungeschick?

Störungen der Ordnung im Parlament durch Abgeordnete In der Kritik von Besuchern des Thüringer Landtags, aber auch von anderen Parlamenten, steht nach der mangelhaften Präsenz von Abgeordneten im Plenum deren schlechtes Benehmen an zweiter Stelle. Moniert werden nicht nur Zwischenrufe, die sich persönlich herabsetzend gegen andere Personen oder Kollegen richten, sondern selbst solche, die der Sache gelten. Gegenüber dieser undifferenzierten Kritik muss man den Thüringer Landtag entschieden in Schutz nehmen. Alle Landtagspräsidenten haben von Beginn an bis heute streng auf einen akzeptablen Umgangston im Parlament geachtet und dabei relativ strenge Maßstäbe angelegt. Alle persönlichen Beleidigungen oder gossenhaften Ausdrücke wurden moniert oder sogar mit Ordnungsstrafen belegt.6 Für Zwischenrufe, die gerügt wurden, mögen einige Beispiele genügen: „Anarchist“, „Sie haben keinen Arsch in der Hose“, „Sie Brunnenvergifter“, „Sie sind ein Demagoge“, „so ein Drecksack“, „alte Dreckschleuder“, „Ihre Dummheit schreit zum Himmel“, „dummer Rotzjunge“, „geistiger Dünnschiss“, „dusselige Ziege“. Insgesamt gab es in der ersten Wahlperiode deswegen ca. 50 Ordnungsrufe. Es sollte sich als sehr vorteilhaft erweisen, dass der Thüringer Landtag von Beginn an mit harter Hand gegen verbale Entgleisungen vorgegangen ist und damit ein Niveau sichern konnte, das im Vergleich zu anderen deutschen Parlamenten – auch das natürlich wieder nur relativ – geradezu vorbildliche Züge trug und trägt. Kritischen Stimmen in der Öffentlichkeit, die sich generell gegen Zwischenrufe – gleich welcher Art – wandten, musste man entgegenhalten, dass Parlamente keine Schulklassen sind und Zwischenrufe das Salz in der parlamentarischen Suppe sein können. War das Zeitunglesen von Abgeordneten schon immer eine rügenswerte Unart, so kam mit der fortgeschrittenen Technik das Unwesen von klingelnden Handys und

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von Computerspielen dazu. Aber auch diese Verstöße gegen „die Würde und Ordnung des Hauses“ wurden unnachsichtig geahndet, zuerst mit einer Ermahnung und in schwerwiegenden Fällen mit Ordnungsrufen.

Die Kleiderordnung im Landtag Bliebe noch ein Wort zur Kleiderordnung zu sagen. Damit gab es im Thüringer Landtag nur mit einem einzigen Abgeordneten immer wieder Probleme: dem Abgeordneten Dittes aus der PDS-Fraktion. Nun muss man allerdings vorwegschicken, dass die Zeiten einer strengen Kleiderordnung in Parlamenten schon zu Beginn der 90er Jahre längst vorbei waren. Der Hosenanzug für Damen, der 1970 im Bundestag unter den gestrengen Parlamentspräsidenten Jaeger und Gerstenmeier noch für einen Eklat gesorgt hatte, ist längst zu einem anerkannten, eleganten Kleidungsstück für weibliche Abgeordnete geworden. Auch Turnschuhe im Plenum, die noch 1985 im Hessischen Landtag bei der Vereidigung des Hessischen Umweltministers und späteren Außenministers Joschka Fischer für heftige, kontroverse Diskussionen sorgten, sind heute kein Stein des Anstoßes mehr. Trotz dieser fortgeschrittenen Liberalität hinsichtlich der parlamentarischen Kleiderordnung brachte es einer meiner besonderen „Freunde“ in der PDS-Fraktion, der Abgeordnete Steffen Dittes fertig, die schon sehr weit gezogenen Grenzen provozierend zu überschreiten. Mehrfach erschien er in T-Shirts, die mit irgendwelchen politischen Parolen bedruckt waren – und so gewandet wollte er zudem als gewählter Schriftführer im Sitzungsvorstand Platz nehmen. Das kam natürlich überhaupt nicht in Frage. Er verstieß damit gegen das Verbot nonverbaler politischer Äußerungen. Ihm blieb folglich nur die Wahl, ein neues, unbedrucktes Hemd an- oder ein Jackett darüber zu ziehen. Für diese Kleiderordnung gab es nicht nur Unterstützung von den anderen Fraktionen, sondern auch aus den Reihen der PDS-Fraktion. Für die in Kleiderfragen bürgerlich-konservativen Altkommunisten waren diese Provokationen ihres Fraktionskollegen ebenfalls ein Ärgernis. Dies war auch der Fall, als sich der Abgeordnete Steffen Dittes eines Tages mit kurzen Shorts und Stachelbeinen ins Präsidium setzte. Der amtierende Sitzungspräsiden Peter Friedrich (SPD), ein Sitzungsleiter, der in glücklicher, angemessener Weise situativ Strenge und Humor zu verbinden wusste, hatte das nicht bemerkt. Ich sah diesen Auftritt in meinem Büro auf dem Monitor und rief Friedrich über meine Direktleitung an: „Herr Präsident, greifen Sie doch bitte mit Ihrer rechten Hand unter den Tisch nach rechts.“ Offensichtlich tat er das, denn wie von einem elektrischen Schlag getroffen, zuckte seine Hand plötzlich empor. Er war bestimmt an Dittes Stachelbeinen gelandet. Sofort rief er den stellvertretenden PDS-Fraktionsvorsitzenden Peter Dietl, einen Genossen mit konservativer Etikette, zu sich, und der ließ Dittes ohne großes Aufsehen im Präsidium sofort als Schriftführer austauschen. Diese Ausführungen zur politischen Kultur im Thüringer Landtag zeigen, dass es damit im Gegensatz zu manch anderem Feld relativ gut bestellt war und dass die

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weitere Entwicklung im Vergleich zu anderen Parlamenten durchaus positiv verlief. Entscheidend war, dass die Weichen dafür schon zu Beginn der ersten Wahlperiode rechtzeitig von dem Landtagspräsidenten und seinen Vizepräsidenten gestellt wurden und dass diese Linie die nötige Akzeptanz bei allen Fraktionen fand.

Entwicklungstendenzen im parlamentarischen Bewusstsein   und Verhalten von Abgeordneten Aus der sympathischen, bunten, individualistischen Laienspielerschar der Anfänge des Thüringer Landtags ist inzwischen eine professionelle, routinierte Truppe von ziemlich – nach außen hin – verschworenen Fraktionsgemeinschaften geworden. Die parlamentarischen Abläufe im Thüringer Landtag entsprechen im Wesentlichen den üblichen parlamentarischen Usancen in westdeutschen Landtagen; mit den parlamentarischen Chaostagen der demokratischen Volkskammer haben sie nicht mehr das Geringste zu tun. Über das inhaltliche Niveau der parlamentarischen Arbeit mag man sich zwar streiten, aber auch das entspricht im Wesentlichen einem gesamtdeutschen Niveau. Signifikant ist nur das völlige Fehlen von Juristen im Thüringer Landtag, der „Fraktion“, die üblicherweise in deutschen Parlamenten um die 15 Prozent der Abgeordneten stellt. In den vergangenen Legislaturperioden gab es ein bis zwei DDRDiplomjuristen und einmal sogar einen westdeutschen Volljuristen, den berühmt berüchtigten „drei D“: Er besaß zwei Doktortitel und sein Name begann mit einem „D“. Im Landtag fiel er oftmals mehr durch skurrile als durch stringente juristische Argumentationen auf. Auch die Justizministerin aus der vierten Wahlperiode war mit einem Abgeordnetenmandat ausgestattet. Von Haus aus DDR-Diplomjuristin, hatte sie sich aber durch langjährige Tätigkeit, unter anderem als Referatsleiterin für Verfassungsrecht in der öffentlich-rechtlichen Abteilung des Thüringer Justizministeriums, die in der Juristenausbildung der DDR nahezu unbekannten Qualifikationen im öffentlichen Recht durch „learning by doing“ angeeignet. Ihr hängt allerdings der Makel an, als 23-jährige von 1986 bis 1990 der DDR-Volkskammer angehört zu haben, die in jener Zeit auch das chinesische Massaker auf dem „Platz des himmlischen Friedens“ gutgeheißen hatte. Dass man ihr nach so viel aktiver Reue in der Wende- und Nachwendezeit diese Jugendsünde verzeihen muss, erscheint mir nicht nur ein christliches Gebot zu sein. Aber in der öffentlichen Diskussion um ihre Ernennung zur Justizministerin wurde immer wieder die Frage gestellt, ob sie mit dieser Vergangenheit nun gerade die höchste Repräsentantin des Rechtsstaats in Thüringen werden dürfe und welche Auswirkungen diese Entscheidung für die anhaltende politische Kampagne der CDU gegenüber stasibelasteten Abgeordneten der PDS-Fraktion haben würde. Das sind durchaus nicht ganz unberechtigte Fragen.

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Entwicklungstendenzen im Amtsverständnis und   Leistungsniveau beim Verwaltungspersonal Um die Qualität des Personals in der Exekutive insgesamt ist es nach wie vor nicht zum Besten bestellt. Die Qualität der Verwaltung leidet nach wie vor darunter, dass diese nach der Wende in vielen Bereichen rasend schnell aus dem Boden gestampft werden musste und qualifiziertes Personal für eine Bestenauslese nicht in ausreichendem Maße bereit stand. Aus den neuen Ländern war für den gehobenen und höheren Dienst in den klassischen Verwaltungen kaum Personal vorhanden, und in den alten Ländern war der einschlägige Markt weitgehend immobil und im Übrigen leergefegt. Man war also gezwungen, „mit den Frauen zu tanzen, die sich auf dem Parkett anboten“. So war es zum Beispiel fast ausgeschlossen, Juristen mit Prädikatsexamina – womöglich noch mit einiger Berufserfahrung – zu gewinnen. Daher wurden selbst Juristen mit nur ausreichendem Examen eingestellt. Diese Mängel in der ersten Phase der Personalrekrutierung nach der Wende konnten durch die bereits im 7. Kapitel beschriebene Schulung des Personals nur zum Teil ausgeglichen werden. Es wurde dennoch viel erreicht. Das gilt besonders für die ins kalte Wasser geworfenen fachfremden, aber lern- und leistungsbereiten Ossis sowie die vielen Aufbauhelfer. Viele Seiteneinsteiger besitzen heute ein gutes Durchschnittsniveau, in wenigen Einzelfällen sind sie sogar Spitze. Allerdings darf eine betrübliche Erkenntnis nicht verschwiegen werden, dass nämlich bei einigen in der unmittelbaren Wendezeit eingestellten Mitarbeitern die nötigen Voraussetzungen einfach fehlten und daher das Leistungsvermögen auch durch noch so intensive Schulung nicht nachhaltig gesteigert werden konnte. Diese kritische Einschätzung beziehe ich auch und gerade auf zahlreiche Beamte des gehobenen Dienstes aus dem Westen, die nur aufgrund der Zusage in den Osten wechselten, dort in den höheren Dienst aufsteigen zu können – und das auch noch möglichst schnell. Ich wende mich keineswegs generell gegen Aufstiegsmöglichkeiten; sie sollten jedoch als Ausnahme besonders qualifizierten Beamten vorbehalten bleiben. Nach der Wende war der Aufstieg von Westbeamten jedoch leider die Regel und nicht die Ausnahme. Der Mangel an einer wissenschaftlichen Ausbildung sollte sich – wie kaum anders zu erwarten – als außerordentlich nachteilig erweisen. Ich schätze die schwächelnde Truppe noch heute auf ca. 20 Prozent. Sie müssen in den Verwaltungen weiterhin mitgeschleppt werden, und zwar sowohl aus beamtenoder arbeitsrechtlichen, wie auch aus faktischen Gründen. Das ist im Interesse der Verwaltungen umso bedauerlicher, als diese ca. 20 Prozent Fußlahmen heute durch hochqualifiziertes Personal sofort ersetzt werden könnten, das ziemlich chancenlos vor der Tür steht. Diese missliche Situation hat sich in den vergangenen Jahren noch zusätzlich durch eine äußerst restriktive – allerdings unumgängliche – Personalpolitik im Öffentlichen Dienst verschärft, nachdem man um die Wendezeit in der Personalpolitik zum Teil zu unbedarft „in die Vollen“ gegangen war oder es versäumt hatte, völlig überbesetzte Personalkörper, insbesondere im Kommunalbereich, abzubauen.

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Eine weitere Ursache für die noch unbefriedigende Qualität des Verwaltungspersonals ist in Thüringen auch in der Personalpolitik der politischen Führung zu sehen. Sie präferierte bei der Personalauswahl einseitig heimische Thüringer Gewächse. Schon Ministerpräsident Bernhard Vogel streichelte – politisch sicherlich nicht ungeschickt – mit dieser Personalpolitik die Thüringer Seele. Diese verengte Personalpolitik wurde leider auch in der Ära nach Bernhard Vogel – wenn nicht sogar verstärkt – fortgeführt. Wie will man mit derart provinziellen Vorgaben die dringend nötige Elite rekrutieren? Dieses allgemeine Personaldilemma ging natürlich auch an der Landtagsverwaltung nicht spurlos vorüber. Allerdings hatten wir in einigen Fällen das große Glück, gutes Personal gewinnen zu können, das durch den parteipolitischen Rost der Staatskanzlei gefallen war. Ein um das andere Mal erhielt ich aus der Staatskanzlei den vertraulichen, verklausulierten Hinweis, dass man Bewerber aus Gründen, die ich mir wohl denken könne, nicht berücksichtigen konnte, dass sie aber recht gut seien und ich sie mir doch einmal anschauen solle. Da ich keinen Bewerber nach seinem Parteibuch fragte, gelangten auf diesem Wege einige Beamte mit einem SPD-Parteibuch zum Teil sogar bis in Führungspositionen der Landtagsverwaltung, obwohl deren oberste Spitze mit dem Landtagspräsidenten und dem Landtagsdirektor immer „schwarz“ besetzt war. Ein Referatsleiter aus der Landtagsverwaltung mit SPD-Parteibuch brachte es inzwischen sogar zum Thüringer Justizminister: Dr. Holger Poppenhäger. Nach der ersten Aufbauphase konnte bei Einstellungen in die Verwaltung des Thüringer Landtags endlich die beamtenrechtlich vorgeschriebene Bestenauslese tatsächlich vorgenommen werden. So hatten bei den – allerdings nur wenigen – Neueinstellungen in der Landtagsverwaltung nur noch Prädikatsjuristen oder Absolventen der Fachhochschulen mit Spitzennoten eine Einstellungschance. Sie ergänzten das intensiv durch learning by doing geschulte Personal der ersten Aufbauphase auf das Vortrefflichste. Die gesunde Durchmischung des Landtagspersonals mit Ossis und Wessis machte ebenfalls gute Fortschritte. Zwar wurden anfangs die Spitzenpositionen (Landtagsdirektor, Abteilungsleiter) noch weitgehend mit Wessis der ersten Stunde besetzt, aber nach der ersten Aufbauphase Ende 1993 setzte sich der Höhere Dienst bereits mit 11 Wessis und zehn Ossis nahezu paritätisch zusammen, und der Gehobene Dienst befand sich mit 39 Beamten und Angestellten vollständig in der Hand der Ossis; für das restliche Personal galt das natürlich erst recht. Die Thüringer Landtagsverwaltung lag mit diesem Personalanteil an Ossis im Verhältnis zu anderen Obersten Landesbehörden in den neuen Ländern nach den zurzeit vorliegenden Untersuchungen in einer Spitzenposition. So ermittelte zum Beispiel Winfried Hansch für Ende 1991 in Brandenburg: 52 Prozent Wessis im Höheren Dienst, 23 Prozent Wessis im Gehobenen Dienst und drei Prozent Wessis im einfachen Dienst, wobei diese Zusammensetzung durch Wessis aus dem nahen WestBerlin mit Sicherheit beeinflusst wurde.7 Rückblickend lässt sich somit mit einigem Stolz feststellen, dass das für die Thüringer Landtagsverwaltung hoch gesteckte Ziel, nach der Aufbauphase mit einer nach Wessis und Ossis gut durchmischten Mannschaft Bundesliganiveau zu erreichen, er-

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folgreich erkämpft wurde. Die Spitzennote „sehr gut“ wurde damit sicherlich noch nicht erzielt – selbst der FC Bayern spielt schließlich nicht immer auf höchstem Niveau und hat seine Schwächephasen – aber verglichen mit anderen deutschen Landtagsverwaltungen – und nicht etwa nur den ostdeutschen – war, allseits anerkannt, bundesweit das Spitzenfeld erreicht. Diese positive Bewertung lässt sich objektiv an den zahlreichen Initiativen und Stellungnahmen Thüringens auf den damaligen Konferenzen der Landtagsdirektoren und Landtagspräsidenten ablesen, so unter anderem an der Federführung für ein Konzept aller Landesparlamente zur Abgrenzung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern für die Föderalismusreform I. Zunehmend prägten nicht mehr ein unverhältnismäßiger Respekt und peinliche Kotaus vor „hohen Tieren“ den Alltag in der Landtagsverwaltung; beides kann man übrigens noch heute in medizinischen Kliniken in geradezu grotesker Form erleben. Früher war Kritik an Vorgesetzten die absolute Ausnahme. Wenn ich auf Bitten um Stellungnahmen zu meinen Darlegungen immer wieder die stereotype Reaktion erhielt: „Ich widerspreche nicht“, brachte mich das auf die Palme. Daraufhin führte ich unter anderem folgende Richtgröße für Beförderungen ein: Wer nie qualifiziert widerspricht, wird nicht befördert, das hat vielleicht dazu beigetragen, dieses devote Verhalten abzustellen. So erfreulich die Entwicklung des Amtsverständnisses in mancher Hinsicht auch war, so betrüblich empfand ich meine Niederlage beim Kampf gegen die Stechuhr, denn sie ist amtlichem Ethos eher abträglich als förderlich. Da die Stechuhr aber in der gesamten Regierungsexekutive eingeführt wurde, ließ sich dieser Trend speziell für die Landtagsverwaltung leider nicht aufhalten. Die Angst der Landtagsmitarbeiter, als unkontrollierte Faulenzer innerhalb der Landesverwaltung abgestempelt zu werden, war zu groß. Die Thüringer Landtagsverwaltung hatte sich allerdings nicht nur zum Ziel gesetzt, Serviceaufgaben für den Thüringer Landtag, seine Abgeordneten und Gremien zu erfüllen; sie wollte nach ihrer ersten Aufbau- und Qualifizierungsphase den Landtag auch zu einem Lernort für Bürger, insbesondere für Schüler und Studenten, öffnen. Der Thüringer Landtag sollte auch zu einer Schule der Demokratie werden. Das gelang in beeindruckender Weise: Den Thüringer Landtag besuchen jährlich zwischen 13.000 und 15.000 Menschen, vornehmlich sind es Schülergruppen und Gruppen aus den Wahlkreisen von Abgeordneten. Diese Gruppen werden nicht nur durch das Landtagsgebäude geführt oder besuchen Plenarsitzungen, sie werden von Abgeordneten, Fraktionsmitarbeitern, Landtagsbediensteten und zahlreichen Honorarkräften (zum Beispiel aus einem Pool von Studenten, vornehmlich solchen der Politikwissenschaft) mit den Aufgaben eines Parlaments in einer repräsentativen Demokratie vertraut gemacht. Damit der Besuch von Plenarsitzungen dabei nicht zu einem Rohrkrepierer wird, werden diese Besuche nicht nur vorbereitet. Sie müssen auch nachbereitet werden, damit sich bei fast allen Besuchern nicht deren erster Eindruck verfestigt, wonach sich Abgeordnete im Plenum unaufmerksam und disziplinlos benehmen. Neben diesem Programm zum „Lernort Landtag“ gibt es den jährlichen Tag der offenen Tür des Thüringer Landtags, der jeweils zirka 10.000 Besucher anzieht. Hier-

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bei – das muss allerdings kritisch angemerkt werden – handelt es sich leider immer mehr um eine Veranstaltung mit Event-Charakter. Umlagert und überfüllt sind die Stände, an denen es kostenlos etwas abzugreifen gibt oder die Musikbühnen, ShowVeranstaltungen von Sportvereinen oder Gags, wie zum Beispiel Modenschauen von Abgeordneten. Gähnend leer hingegen sind Informations- und Diskussionsveranstaltungen zu landespolitischen oder parlamentsspezifischen Themen. Auch die von mir eisern durchgehaltenen Informationsveranstaltungen zur Funktion und zu den Aufgaben des Thüringer Landtags hatten regelmäßig kaum mehr als ein Dutzend treue Gäste. Besonders stolz kann die Landtagsverwaltung auf fünf „Multiplikatoren für Demokratie und Parlamentarismus“ aus ihren Reihen sein, die außerhalb des Landtags als Dozenten an Universitäten wirken. Lobenswert sind auch deren wissenschaftliche Veröffentlichungen. Einen ähnlichen Werbe- und Qualifizierungseffekt für die parlamentarische Demokratie hatte auch der vom Thüringer Landtag ausgelobte – später in der vierten Wahlperiode allerdings gestrichene – Preis von 8.000 DM für Arbeiten zur parlamentarischen Demokratie. Mit diesem Preis wurden wissenschaftliche, publizistische und künstlerische Arbeiten gefördert, die „dem Verständnis und der Förderung der parlamentarischen Demokratie dienen oder sich mit Entwicklungen auseinandersetzen, welche die parlamentarische Demokratie gefährden.“ Einige dieser prämiierten Arbeiten haben in der Wissenschaft und Praxis gebührende Anerkennung und Beachtung gefunden. Zur weiteren Entwicklung und dem aktuellen Niveau der Landtagsverwaltung, insbesondere hinsichtlich deren Leistungsfähigkeit, Einsatzbereitschaft, Überparteilichkeit und sonstigen traditionell guten, mit Ethos gepaarten Werten eines Beamtentums, kann und will ich mich sowohl aus Gründen der Loyalität gegenüber der heutigen Amtsleitung als auch wegen unzureichender Detailkenntnisse nicht näher äußern.

16.  Eine persönliche Bilanz Es war die glücklichste berufliche Entscheidung meines Lebens, Aufbauhelfer im Osten zu werden; eine Funktion, die ich letztlich bis zu meiner Pensionierung im Jahr 2005 – wenn auch natürlich in dieser Eigenschaft mit abnehmender Tendenz – ausgefüllt habe. Das Besondere daran war, dass man nicht in einen engen Käfig von normativen und faktischen Vorgaben gesteckt wurde, sondern eine Verwaltung mit eigenen Vorstellungen maßgeblich prägen konnte. Über die Verwaltung und informellen Kontakte zu Abgeordneten und Fraktionen vermochte man auch auf der Grundlage eines aufgeklärten konservativ-liberalen Staatsverständnisses Einfluss auf das Grundverständnis und die Verfahrensabläufe eines parlamentarischen Regierungssystems zu nehmen und diesem Regierungssystem einen ihm dienenden qualifizierten Apparat zur Seite zu stellen und zu leiten. Das war anstrengend und mit der damit verbundenen Verantwortung oft sehr belastend. Da man in einer Chefposition im Wesentlichen nur durch das eigene Vorbild Personal zu führen vermag – das heißt vor allem, nie Wein trinken und Wasser predigen – bedeutete dies gerade in der Aufbauphase eine enorme zeitliche Inanspruchnahme und viel Verzicht auf Freizeit und Geselligkeit. Und dennoch: Es war beruflich eine Zeit höchster Zufriedenheit und Erfüllung. Welcher Beamte hatte je diese Chancen, sich mit eigenen Vorstellungen – oft erfolgreich – in den Prozess der Bildung neuer staatlicher Strukturen und Willensbildung einzubringen. Trotz der enormen beruflichen Inanspruchnahme sollte es dennoch zunehmend gelingen, ein persönliches Umfeld aufzubauen, aus dem sich schließlich auch gute freundschaftliche Beziehungen entwickelt haben, was ja im fortgeschrittenen Alter bekanntlich immer schwieriger wird. Der Freundeskreis besteht heute ungefähr je zur Hälfte aus Ossis und Wessis. Bei Aufbau und Pflege unseres Freundeskreises gab es anfangs das Problem, dass wir unseren Gästen als bekennende Gourmets nicht die Küche bieten konnten, die wir ihnen gern aufgetischt hätten. Der Markt bot dafür weder die wünschenswerte Vielfalt noch Qualität. An frischem Fisch gab es als Highlight gerade einmal Lachs, daneben die gewöhnlichen Fischfilets. Die Fleischereien waren gut gefüllt, aber weniger gut sortiert. Frischfleisch gab es zu ca. 90 Prozent nur vom Schwein. Kalbfleisch oder Innereien, wie z.B. Kalbsleber oder Kalbsnieren – Fehlanzeige. Eine Ausnahme war Wild, das man in hervorragender Qualität und zu äußerst günstigen Preisen in kleinen Spezialläden kaufen konnte, die aber bereits nach kurzer Zeit verschwunden waren. Außer Schnittlauch und Petersilie gab es keine frischen Kräuter. Allenfalls hätte man im Garten des Weimarer Goethehauses heimlich Thymian, Rosmarin und andere Küchenkräuter zupfen können, aber das verbot dann doch die Achtung vor dieser ehrwürdigen Stätte. Zwar gibt es in Erfurt inzwischen noch keine Lebensmittel- und Spezialitätenquelle von Spitzenqualität, aber die muss man auch in vergleichbaren westdeutschen Landeshauptstätten suchen.

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Der westdeutsche Standard ist immer noch nicht ganz erreicht, aber doch in Sicht. Die bestehende Lücke ist sicherlich auch darauf zurückzuführen, dass es keine entsprechende Nachfrage gibt, sei es wegen des unterdurchschnittlichen Lohn- und Gehaltsniveaus oder anderer Lebens- und Essensgewohnheiten bzw. Geschmackspräferenzen. Die Entwicklung in der Gastronomieszene verlief ähnlich, und zwar in folgenden Etappen: Zuerst gab es nur die lieblosen, unfreundlichen DDR-Verzehreinrichtungen, die aber zum größten Teil bald dicht machen mussten. Die Ossis entdeckten die ausländische Küche, die chinesische (die sich allerdings zumeist in der Hand von Vietnamesen befand), die griechische, spanische und insbesondere die italienische Küche, wo sie hervorragend zu erschwinglichen Preisen verköstigt und freundlich bedient wurden. In der Erfurter Innenstadt etablierte sich an fast jeder Straßenecke ein Italiener. Die ehrenwerten Gesellschaften aus Italiens Süden, allen voran die ‘Ndrangheta, hatten den Osten Deutschlands nach der Wiedervereinigung als sichere und lukrative Quelle zur Geldwäsche entdeckt. Davon sind sowohl das Bundeskriminalamt als auch die Thüringer Generalstaatsanwaltschaft intern fest überzeugt. Es fehlt ihnen jedoch an den hieb- und stichfesten Beweisen – aus welchen Gründen auch immer. Öffentlich verstieg sich die Polizei allerdings zu der Behauptung, in Erfurt gäbe es in der Gastronomie keine mafiösen Strukturen. Man kann nur hoffen, dass sich hinter solchen Aussagen kluge professionelle Taktik verbirgt und nicht etwa das Eingeständnis resignierender Machtlosigkeit oder sogar Schlimmeres. Ansonsten müsste man nicht nur sorgenvolle Zweifel an der Qualität und Effizienz, sondern auch an der Integrität unserer Polizeiführung haben. Die beschriebene Entwicklung in Erfurts Gastronomie von stil- und lieblosen „Sättigungseinrichtungen“ hin zu einer vielfältigen, qualifizierten und gastfreundlichen Gastronomieszene fand ihre Parallele in den staatlichen Kantinen. So ähnelte die Kantine des Thüringer Landtags ursprünglich mit ihrem typischen DDR-Standardmobiliar aus Tischen mit Kunststoffplatte und Stahlrohrstühlen mit leicht gepolsterten Sitzen eher einer spartanisch möblierten Bahnhofshalle als einem – und sei es auch nur ansatzweise – gepflegten Gastraum. Entsprechende 08/15-Qualität hatte dort das Essen. Gesonderte Teller für den Salat vom Buffet waren nicht vorgesehen. Der Salat schwamm als „Grünbeilage“ in der Soße des Hauptgerichts. Dass es auch Vegetarier gab, war der Küchenbrigade entweder unbekannt oder wurde von ihr schlicht ignoriert. Der Zufall wollte es aber nun gerade, dass der bereits zuvor erwähnte, asiatisch angehauchte Abteilungsleiter, Sebastian Dette, Vegetarier war, in den Augen der mit Bratwurst und Braten aufgezogenen Thüringer die geradezu abartige Veranlagung eines Wessi. Wenn ich ihn in der Kantine erlebte, wie er seine Kartoffeln mit einigen blanken Salatblättern löffelte, tat er mir richtig leid. Er ertrug diese Art der lebensnotwendigen Kalorienzufuhr zuerst mit großer Geduld und Bescheidenheit; als Wessi wollte er keine Ansprüche stellen. Doch mit der Zeit fiel er zunehmend augenfällig vom Fleisch. Die Wangen fielen ein, die Hosen schlackerten. Die Grenze der Selbstkasteiung war erreicht. Er berief sich auf das inzwischen durch den Einigungsvertrag auch nach Thüringen transferierte westdeutsche Strafvollzugsrecht, das selbst Straf-

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gefangenen den Anspruch auf vegetarische Verpflegung garantiert. Und als Jurist zog er aus dem rechtswissenschaftlich allgemein anerkannten „Argumentum a maiore ad minus“ den Schluss, dass, wenn Strafgefangene einen Anspruch auf vegetarische Verpflegung haben, dann – wenigstens auch, wenn nicht erst recht – Aufbauhelfer aus dem Westen. Diese Argumentation überzeugte, und so bekam unser Vegetarier künftig seine – wenn auch nur bescheidene – vegetarische Kost und er kam wieder zu Gewicht und Kräften. Die heutige Landtagskantine, die sich an guten Tagen durchaus zu einem Landtagsrestaurant mausern kann, bietet inzwischen selbstverständlich auch vegetarische Essen an. Doch zurück von der Landtagskantine zu unseren privaten Bewirtungen. Anfangs waren unsere Einladungen den meisten unserer ostdeutschen Gäste in dem vornehmen Rahmen fremd und einzelne Gänge unserer Menüs augenscheinlich auch ziemlich gewöhnungsbedürftig. Diese Einladungs- und Gourmetkultur hatte für uns unerfreuliche Folgen. Manches Mal waren wir richtig traurig, dass wir keine Rückeinladungen erhielten. Teils lag das wohl an der Unkenntnis über gut bürgerliche Gepflogenheiten, teils spielten vermutlich Scheu und fehlendes Selbstbewusstsein mit, weil Ossis vielleicht meinten, diesen Stil in den eigenen vier Wänden nicht bieten zu können. Dabei wären wir völlig zufrieden gewesen, hätte man uns in eine Platte oder Datsche eingeladen und uns mit den weltweit unübertroffenen Thüringer Bratwürsten und einem schönen kalten Bier bewirtet. Ein weiteres Hindernis für Rückeinladungen in Ossikreise ergab sich immer wieder einmal daraus, dass unsere neuen Bekannten das Aufkeimen von typischen OssiWessi-Konflikten mit ihren ostdeutschen Freunden befürchteten oder nach ersten einschlägigen Erfahrungen ihnen keine Wessis zumuten wollten. Ein Spaltpilz war schon oft die unterschiedliche Streitkultur. Strittigen Themen ging man gern aus dem Weg. Und wenn man in der Sache hart argumentierte oder mit kritischen Fragen nachbohrte, dann fühlten sich Ossis sehr schnell auch persönlich angegriffen oder zumindest betroffen. Ständig bedurfte es insoweit – oft lästiger – nachträglicher versöhnlicher Klarstellungen oder sogar Bittgänge. Diese mangelhafte – in der DDR wenig gepflegte – Streitkultur störte oder ließ manche Gespräche sogar zu peinlichen Situationen eskalieren, wenn diese sich um typische konfliktsträchtige Ossi-WessiThemen drehten: – – – – – – –

die „guten“ Seiten der DDR, das „Plattmachen“ von Betrieben und sonstigen Einrichtungen, Eintritt in die SED oder in eine der Blockparteien, die unterschiedlichen Vergütungen und Renten in Ost und West, die Regeln und Segnungen wie auch die Auswüchse der Marktwirtschaft, die Aufarbeitung des Nationalsozialismus und des Holocaust in der DDR, die „Abzocker“ aus dem Westen.

Die ganze anfängliche Misere mit unserem Bemühen, Bekannte oder Freunde in unserer neuen Heimat zu gewinnen, mag auch mein Eintritt in und mein Austritt aus einem Lions-Club in Erfurt illustrieren: Westdeutsche Freunde von mir, die Mitglie-

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der bei den Rotariern oder in einem Lions-Club waren, hatten mir empfohlen, mich in geeigneter Weise um eine Mitgliedschaft in einem dieser weltweit agierenden Serviceclubs zu bemühen, die in allen größeren Orten von westdeutschen Partnerclubs gegründet wurden. Mitglied konnte man nicht wie bei einem normalen Verein auf eigenen Antrag werden, dafür brauchte man vielmehr eine Empfehlung und zwei Bürgen aus dem Kreis der Clubmitglieder. Meine Freunde legten mir den Eintritt in einen Serviceclub vornehmlich deswegen ans Herz, weil sich dort interessante Persönlichkeiten zusammenfinden würden, die sich satzungsgemäß nicht nur zu guten sozialen Taten zusammenfinden, sondern auch ein lebhaftes geselliges Leben pflegen würden. Diese Chancen wollte ich nutzen. Das Prozedere des Eintritts erwies sich nicht als Problem. Ich kam in den Jahren meiner Lions-Mitgliedschaft nicht nur der üblichen Präsenzpflicht und meinen Pflichten bei den vielfältigen Benefizaktionen getreulich nach, sondern übernahm auch – ich glaube sehr erfolgreich – die Pressearbeit. Nach einigen Jahren Mitgliedschaft trat ich jedoch aus. Dafür gab es drei ausschlaggebende Gründe:

– Einige Mitglieder brachten sich sehr engagiert in die Arbeit eines Serviceclubs ein, eine ganze Reihe anderer Mitglieder schien demgegenüber vornehmlich die Vorteile dieses Netzwerks zum eigenen wirtschaftlichen Vorteil zu suchen. – Kritik an Referenten der monatlichen Bildungs-, Kultur- oder Informationsveranstaltungen war sakrosankt, selbst wenn sie noch so vornehm zurückhaltend vorgetragen wurde. Dabei waren manch ostalgisches Gesülze von Ossis und einige servile Anbiederungen von referierenden Wessis kaum zu ertragen und durften einfach nicht schweigend übergangen werden – was womöglich als konkludente Zustimmung missverstanden worden wäre. Es entsprach besonders der Auffassung der Ossis: Einen Gast dürfe man nicht kritisieren. Man befand sich insofern leider noch sehr in den Anfängen einer gesitteten Streitkultur. – Schließlich wurden unsere Einladungen an Lions-Freunde wohl durchaus geschätzt, aber nie mit Gegeneinladungen beantwortet und so erstarben die Versuche langsam, über einen Service-Club auch zu persönlichen gesellschaftlichen Kontakten zu gelangen.

Ich war aber nicht nur mit meiner Mitgliedschaft im Lions-Club an den Ossis gescheitert. Ähnliches Ungemach sollte ich bei meinen Bemühungen um den Aufbau einer Sportgruppe mit der Landtagsverwaltung als deren Keimzelle erleben. Mit betrieblichen Sportgruppen hatte ich einschlägige Erfahrungen in Berlin und Mainz, allerdings auch sehr klare Vorstellungen zu dem Anforderungsprofil der Sportgruppe, die nämlich auch die Funktion eines Netzwerkes haben sollte. Die Mitglieder sollten sportlich und gesellig sein sowie möglichst Schlüsselpositionen innerhalb der Landesverwaltung innehaben. Als ich mit der Werbung begann und sich mein Projekt herumgesprochen hatte, gab es schon sehr bald unmittelbare und mittelbare Bewerber, welche die sportlichen Voraussetzungen optimal erfüllten, jedoch als Hilfskräfte in der Druckerei, als Fahrer oder Bote nun nicht gerade Schlüsselpositionen einnahmen. Damit stellte sich mir das Problem, diese Bewerber mit einer Begründung abzulehnen, die allgemeine Akzeptanz finden musste und mich nicht

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beschädigen durfte. Das konnte in der nach wie vor durch Klassenlosigkeit geprägten Gesellschaft im Osten kaum gelingen. Sehr schnell wurden hinter meinem Rücken Vorwürfe laut: ich hätte eine elitäre Gesinnung und mir fehlte das nötige Verständnis für das solidarische Innenleben eines Kollektivs. Das Projekt Sportgruppe drohte zu einer schweren Hypothek zu werden, weshalb ich es schleunigst wie eine heiße Kartoffel fallen ließ. Aber es gab auch erfreuliche Ausnahmen bei der Anbahnung von persönlichen Kontakten mit den Ossis, die mit großer Selbstverständlichkeit und beachtlichem Selbstbewusstsein sowie liebenswerter Natürlichkeit und Herzlichkeit zum Bräteln, also zu den von mir heiß geliebten, auf dem Holzkohlengrill gerösteten Bratwürsten oder „Bräteln“ (marinierter Schweinenacken) oder zu köstlichen Stullen mit Knackoder Leberwurst auf frischem Krustenbrot einluden. Wenn man mich heute fragt, wo meine Heimat ist, dann lautet meine Antwort regelmäßig: Meine Heimat ist dort, wo ich Freunde habe – und da wir inzwischen auch in Thüringen Freunde gefunden haben, ist auch Thüringen zu einer Heimat geworden. Die anfänglichen wechselseitigen Anpassungsprobleme im gesellschaftlichen Leben sind deutlich geringer geworden. Als Aufbauhelfer empfand ich meine Aufgabe durchaus als eine Art weltliche Mission zur Verbreitung von Demokratie und Rechtsstaat, wobei zugleich die dafür erforderlichen staatlichen Strukturen zu schaffen waren. Diese Mission habe ich parallel zu meinem Hauptamt als Landtagsdirektor auch an der Friedrich-Schiller-Universität Jena zuerst als Lehrbeauftragter und später als Honorarprofessor fortgesetzt. Später, nach meiner Pensionierung im Jahr 2005, habe ich diese Mission auf Staaten des ehemaligen kommunistischen Ostblocks, so unter anderem durch Lehraufträge an Universitäten in Russland (an der Lomonossow-Universität in Moskau und der Südlichen Föderalen Universität in Rostow am Don), in der Ukraine (an der Mohyla-Akademie in Kiew) oder im kommunistischen China (an der China-Universität für Politik und Rechtswissenschaft in Peking und an der Universität in Wuhan) erweitert. Ich verstand und verstehe mich auch künftig dort als eine Art „Prediger für Demokratie und Rechtsstaat“. Ohne dabei meine Wirkung auch nur im Geringsten zu überschätzen, war ich immer wieder erstaunt, mit welch großer akademischer Freiheit man selbst in der Volksrepublik China unterrichten konnte, obwohl dort der Führungsanspruch der kommunistischen Partei unverändert über Staat und Gesellschaft schwebt, folglich auch über der Verfassung oder der Wissenschaft. Ich war daher speziell von den jungen Studentinnen überrascht und begeistert ob ihrer Neugier, Aufgeschlossenheit, ihrem Ehrgeiz und manchmal sogar ihrer dezenten Streitlust. Die Frauen werden auch dort künftig die Elite bilden. Mit ihrem oft antiquierten Rollenverständnis werden die Männer das Nachsehen haben. Dennoch wird in diesen Ländern noch ein langer, steiniger Weg zu mehr Demokratie und Rechtsstaat zurückzulegen sein. Doch es gibt erfreuliche Fortschritte auf diesem Weg, und eines Tages wird dieses Ziel nach meiner felsenfesten Überzeugung erreicht werden – mit welchen nationalen Varianten auch immer.

Einleitung 

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In der ehemaligen DDR ist die kommunistische Diktatur bereits heute Geschichte. Parlamentarische Demokratie und Rechtsstaat sind inzwischen unumstößliche, gelebte Realität. Zu dieser Entwicklung haben Viele beigetragen. Dazu gehören auch – sicher nicht alle – aber doch wohl die meisten der westdeutschen Aufbauhelfer. Trotz mancher betrüblichen Begleitumstände sollte diese personelle und materielle Aufbauhilfe nicht in Vergessenheit geraten, sondern als herausragend gewürdigt werden. Aber die Aufbauhilfe war nur die nachhaltige Initialzündung. Sie hat für die von Helmut Kohl prognostizierten blühenden Landschaften lediglich den Boden bereitet und erste kräftige Pflanzen gesetzt – zur vollen Blüte müssen diese Landschaften nun hauptsächlich durch die Ostdeutschen selbst gebracht werden und sei es erst durch die hoffnungsvolle heranwachsende Generation.

Anmerkungen Vorwort 1 Vgl. allerdings aus jüngster Zeit die – wenn auch sehr knappen Berichte von Hans Reckers und Gero Weber zum Aufbau des Finanzministeriums und der Finanzverwaltung in Sachsen, in : Friedrich Thießen (Hrsg.), Die Wessis, 2009, S. 37–44 und S. 345–349; zur Aufbauhilfe auf Referentenebene im Finanzministerium des Landes Brandenburg vgl. Dietrich Wobern, 400 Tage für Potsdam, 3. Auflage, 2003. Das inhaltsschwere und hervorragend recherchierte Werk von Karin Brandes, Hessen und Thüringen – Wege zur Partnerschaft, 2009, ist erst nach Abschluss des Manuskripts zu diesem Buch erschienen. Es bietet einen detailliert dokumentierten Überblick über den politischen Entstehungsprozess der Hessenhilfe für den Aufbau des Freistaats Thüringen, insbesondere deren finanziellen und administrativen Umfang. Darüber hinaus sind auch die Interviews zahlreicher Zeugen zu den Leistungen und immensen praktischen Problemen ihrer konkreten Aufbauhilfe sehr lesenswert. Diese Berichte stehen teilweise in bemerkenswertem Gegensatz zum Rückblick einer Thüringer Politikerin der ersten Stunde (Marion Walsmann, der heutigen Thüringer Finanzministerin), der durch eine ziemlich realitätsferne Überschätzung insbesondere der von ihr mitgetragenen Vorarbeiten des Politisch Beratenden Ausschusses verklärt wird. 2 Helmut Kohl, Erinnerungen 1990–1994, 2007, S. 125 3 Richard von Weizsäcker im Gespräch mit G. Hofmann u. W.G. Perner, 1982, S. 16 4 Lothar de Maizière, Vom Mauerfall zur Deutschen Einheit, Festrede am 24.10.2008 im Thüringer Landtag 5 Stand 1.6.1993 – BTDrs 12/6854, S. 63

Einleitung 1 Eppelmann/Grünbaum, Sind wir Fans von Egon Krenz ? Die Revolution von 1989/90 war keine „Wende“, in : Deutschland Archiv 2004, S. 864 ff., 867 2 Ehrhart Neubert, Unsere Revolution, 2008, S. 13 ff. 3 Helmut Quaritsch, Eigenarten und Rechtsfragen der DDR-Revolution, VerwArch 1992, S. 325 4 Uwe Thaysen, Der Runde Tisch. Oder: Wo blieb das Volk, 1990, S. 188 f. 5 Zur breiten Verwendung des Begriffs „Wende“ in der Wissenschaft vgl. Michael Richter, Die Wende, in: Deutschlandarchiv 2007, S. 867, Fn. 65 6 Südthüringer Zeitung vom 27.11.2008; vgl. auch Michael Richter a.a.O., S. 867 7 Zu diesen Trends vgl. Claudia Drehe, Der fremde Osten, 2003, S. 27; Siegfried Grundmann, Deutschland-Archiv 1994, S. 35 f. 8 Siegfried Grundmann, Deutschland-Archiv 1994, S. 36

Der Neubeginn 1 Vgl. zu deren Gründung und Tätigkeit: Thüringer Landtag (Hrsg.), Die „Runden Tische“ der Bezirke Erfurt, Gera und Suhl als vorparlamentarische Gremien im Prozess der Friedlichen Revolution 1989/1990, 2009

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Anmerkungen

2 Vgl. zum PBA Ulrich Rommelfanger, in: Thüringer Landtagskurier 3/2003, S. 19: Dieter Marek/ Doris Schilling, Neubildung des Landes 1990, in: Post/Wahl (Hrsg.), Thüringen – Handbuch 1999 S. 62 3 Plenarprotokoll vom 7.12.1989, S. 4692 i. V. m. Drs. 11/3345 4 Vgl. dazu die Zustimmungsgesetze der Volkskammer vom 21.6.1990 (GBl. I, S. 331) und des Bundestages vom 25.6.1990 (BGBl. II S. 518) 5 Robert Kaufmann, Bundesstaat und Deutsche Einheit, 1992, S. 84 ff., 158 ff.; vgl. auch Michael Kilian, Wiederentstehen und Aufbau der Länder im Gebiet der vormaligen DDR, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VIII, 1995, § 186, Rnr. 59 ff. 6 Vgl. zu dieser Aufbauhilfe zur Zeit der Runden Tische Francesca Weil, Tätigkeit und Ergebnisse des Runden Tisches des Bezirkes Erfurt, in: Thüringer Landtag (Hrsg.) Die „Runden Tische“ der Bezirke Erfurt, Gera und Suhl als vorparlamentarische Gremien im Prozess der Friedlichen Revolution 19989/1990, 2009, S. 61 ff. sowie Heinz Mestrup/Thomas Wenzel, Der Runde Tisch des Bezirks Gera a.a.O., S. 117 ff. 7 BGBl. II 1990, S. 885 8 Küsters/Hofmann, Dokumente zur Deutschlandpolitik 1998, S. 1508 9 Küsters/Hofmann a.a.O., S. 1510 10 Ob die Zuständigkeit des Landtags Rheinland-Pfalz auch durch eine Verwechslung von „Landesvertretung“ und „Landtagsverwaltung“ in einem Gesprächsprotokoll beeinflusst wurde (vgl. dazu Linck, Wiedergeburt der parlamentarischen Demokratie, in: Thüringer Landtag (Hrsg.) , Der Thüringer Landtag, 1994, S. 104) lässt sich den Akten nicht entnehmen, wird aber nach wie vor von Zeitzeugen kolportiert

Abgeordnet nach Thüringen 1 Der „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe“, abgekürzt „RGW“, war ein 1949 gegründeter Zusammenschluss der kommunistischen Staaten, um zwischen den RGW-Mitgliedern eine wirtschaftliche Spezialisierung und Arbeitsteilung mit Synergieeffekten zu erreichen.

Anreise mit Hindernissen 1 BVerfGE 95, S. 15; 98, S. 251 f. 2 Joachim Linck, Die Vorläufige Landessatzung, ThürVBl. 1992, S.1f. 3 Joachim Linck, Zurück zum ehrenamtlichen Landesparlamentarier, in: Hans Herbert von Arnim (Hrsg.) Defizite in Staat und Verwaltung, 2010

Die Wohnungsmisere 1 GBl. DDR I, S. 157 ff, S. 1076 2 Thüringische Landeszeitung vom 12.3.1997 3 Vgl. z.B. Thüringische Landeszeitung v. 8.11.1996; Thüringer Allgemeine v. 15.1.1997; ADN v. 5.51998; dpa v. 6.5.1998

Anmerkungen 

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An die Arbeit 1 Vgl. dazu Klaus-Jürgen Winkler, Die Tagungsstätten der Landtage in Thüringen, in: Thüringer Landtag (Hrsg.), Schriften zur Geschichte des Parlamentarismus in Thüringen, Heft 4, 1994 2 BVerfGE 70, S. 355 3 Zitiert nach Klaus-Jürgen Winkler a.a.O., S. 127 4 Thüringische Landeszeitung v. 11.4.2009

Vielfältige Probleme 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16

Express vom 15.03.1991 Thüringer Wort vom 26.02.1992 Mitteldeutsche Allgemeine vom 14.05.1994 Thüringer Allgemeine vom 02.06.1994 Osterländer Volkszeitung vom 14.05.1994 Thüringische Landeszeitung vom 14.05.1994 Plenarprotokoll vom 26.05.1994, Sn. 8912, 8924 Plenarprotokoll vom 26.5.1994, S. 8922 Zu den politischen und rechtlichen Auseinandersetzungen um den Landtagsdirektor als politischen Beamten vgl. Oldiges/Brinktrine, Der Landtagsdirektor als „politischer Beamter“, in: DÖV 2002, S. 943 ff. Richard v. Weizsäcker, Die deutsche Geschichte geht weiter, 1982, S. 155 Thüringer Staatsanzeiger 1992, S. 1122 ff. Vgl. dazu i.E. § 48 Abs. 1 AbgG und die dazu erlassenen Ausführungsbestimmungen vom 2.4.1998, GVBl. 1998, 108 Norbert Kartmann, Dagmar Schipanski (Hrsg.), Hessen und Thüringen. Umbruch und Neuanfang 1989/90, 2007, S. 87 Der Beamte in Rheinland-Pfalz, 1991, S. 66 Der Beamte in Rheinland-Pfalz, 1991, S. 115 Thüringische Landeszeitung vom 5.12.1995

Erste grundlegende Rechtsvorschriften 1 Vgl. dazu Gunther Mai, Die Vorläufer der Landesverfassung unter besonderer Berücksichtigung der Arbeiten des „Politisch beratenden Ausschusses zur Bildung des Landes Thüringen“, in: Thüringer Landtag (Hrsg.), Zehn Jahre Thüringer Landesverfassung, 2004, S. 25 ff. 2 Veröffentlicht am 19., 21.–23.5.1990 in der Thüringer Landeszeitung und in Karl Schmitt (Hrsg.), Die Verfassung des Freistaats Thüringen, 1995, S. 252 ff. 3 Veröffentlicht in Karl Schmitt (Hrsg.), Die Verfassung des Freistaats Thüringen, 1995, S. 274 ff. 4 Johann Michael Möller, Hessen und die Wiedergeburt Thüringens in: Norbert Kartmann/Dagmar Schipanski (Hrsg.),Hessen und Thüringen, 2007, S. 29 * Auf Abdruck dieses Entwurfs verzichten, zumal der vom Thür. Landtag verabschiedete Text in der Anlage 1 abgedruckt wird (vgl. unter „Parlamentarischer Blitzstart“ Nr. 2)

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Anmerkungen

Die konstituierende Sitzung 1 Das Wahlergebnis ergab folgende Sitzverteilung: CDU 44; SPD 21; PDS 9; FDP 9; Neues Forum (NF)/ Grüne (GR)/Demokratie Jetzt (DJ) 6 2 Zu diesen statistischen Angaben vgl. Melanie Kintz, Die Berufsstruktur des 16. Deutschen Bundestags in: ZParl 2006, S. 464 f. 3 So das schöne treffende Bild des ehemaligen Direktors des Niedersächsischen Landtags, Prof. Dr. Albert Janssen 4 Vgl. zur historischen Entwicklung der Landesfarben: Joachim Linck, in: Linck, Jutzi, Hopfe, Die Verfassung des Freistaats Thüringen, 1993, Art. 44 Rn. 57 5 Gesetz über die Hoheitszeichen des Landes Thüringen vom 30.1.1991, GVBl. S. 1 6 Vgl. dazu Joachim Linck, a.a.O., Art. 44 Rn. 55 7 Knaurs Konzertführer, 16. Aufl., 1956, S. 137 8 Abg. Möller, Plenumsprotokoll vom 25.10.1990, S. 7 9 Plenarprotokoll v. 25.10.1990, S. 7 10 Plenarprotokoll v. 25.10.1990, S. 8 11 Plenarprotokoll v. 25.10.1990, S. 7 12 Vgl. Plenumsprotokoll vom 5.2.1992, S. 2847

Startprobleme bei der Einführung der Demokratie 1 Gesetz über die Zuständigkeit und das Verfahren der Gerichte zur Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen vom 14.12.1988, GBl. DDR I S. 327, das allerdings erst am 1.7.1989 in Kraft trat. 2 Vgl. zum Eingabewesen der DDR und dessen Funktion Joachim Hoeck, Verwaltung, Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtsschutz in der DDR, 2003, S. 198 ff.

Parlamentarischer Blitzstart 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

Plenarprotokoll vom 25.10.1990, S. 7 Der Text der Vorläufigen Landessatzung ist im Anhang als Anlage 1 abgedruckt. Dokumentiert in Drucksache 1/1074 Plenarprotokoll vom 11.2.1992, S. 2891 Vgl. dazu näher Joachim Linck, Zurück zum ehrenamtlichen Landesparlamentarier?, in: Hans Herbert v. Armin (Hrsg.), Defizite in Staat und Verwaltung, 2010 Joachim Linck, in: Linck, Jutzi, Hopfe, Die Verfassung des Freistaats Thüringen, 1994, Art. 54 Rn. 8 ThürVBl. 1999, S. 60 ff. GVBl. 1995, S. 109 Der ersten Diätenerhöhung von ursprünglich 3.500 DM auf 4.900 DM durch das erste Änderungsgesetz zum Abgeordnetengesetz vom 6.4.1992 (GVBl. S. 99) lag noch nicht das Indexierungsverfahren zugrunde. GVBl. 1997, S. 525 und GVBl. 2004, S. 745 So war insbesondere der damalige Innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Dieter Wiefelspütz ein entschiedener Verfechter dieses Modells. Vgl. Drs. 1/8 und GVBl. 1991, S. 82

Anmerkungen 

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13 Das Eindringen von Studenten in das Landtagsgebäude im Zusammenhang mit einer Demonstration gegen die Schließung der Medizinischen Akademie in Erfurt, bei der der Paternoster in der „Eierkiste“ demoliert wurde, fiel – zu meiner Ehrenrettung – in eine Zeit, als ich kurzfristig wieder in den Landtag Rheinland-Pfalz zurückgekehrt und in Thüringen weder Aufbauhelfer noch Landtagsdirektor war.

Demonstrationen und Störungen 1 Vgl. zu dieser kompetenzrechtlichen Diskussion Joachim Linck, Föderale Grenzen für die Befassungskompetenz von Parlamenten, in: Gemeinwohl und Verantwortung, Festschrift f. von Arnim, 2004, S. 391 ff. 2 Ostthüringer Zeitung vom 17./18.1.2003 3 Thüringische Landeszeitung vom 18.10.2003 4 Vgl. dazu §§ 1, 5 des Thüringer Landesbeauftragtengesetzes

Die Stasi-Überprüfung der Abgeordneten 1 GVBl. 1991, S. 28 2 Plenarprotokoll vom 11.6.1992, S. 3747 ff. 3 Drs. 2/306 i.V.m. Plenarprotokoll vom 18.5.1995, S. 825 4 Thür.VerfGH 18/95 vom 17.10.1997; LVerfGE 7, S. 337; Thür.VBl 1989, S. 17 5 Drs., 2/3678 6 Thür.VerfGH 2/99 vom 25.5.2000; Thür.VBl 2000, S. 180 7 Thür.VerfGH, 38/06 vom 1.7.2009 8 Plenarprotokoll 4/43 vom 17.7.2006, S. 4248 (Abg Frank Kuschel betr.)

Die endgültige Verfassung des Freistaats Thüringen 1 Vgl. dazu näher: Jörg Hopfe, in: Linck, Jutzi, Hopfe, Verfassung des Freistaats Thüringen, 1994, Einleitung B. Rn. 1 ff. (S. 35 ff.) und ders., Die Thüringer Verfassung – ein Gemeinschaftswerk von Verfassungsrechtlern und Abgeordneten, in: Thüringer Landtag, Zehn Jahre Thüringer Landesverfassung, 2004, S. 43 ff. 2 Drs. 1/285 (CDU), Drs. 1/301 (FDP), Drs. 1/590 (SPD), Drs. 1/659 (NF/GR/DJ), Drs. 1/678 (PDS) 3 Vgl. die Bekanntgabe dieses Ergebnisse in: GVBl. 1994, S. 1194 4 Plenarprotokoll vom 25.10.1993, S. 7268 5 Plenarprotokoll vom 25.10.1993, S. 7268

Die Entwicklung des Parlamentarismus 1 Joachim Linck, Fraktionsstatus als geschäftsordnungsmäßige Voraussetzung für die Ausübung parlamentarischer Rechte, in: DÖV 1975, S. 689 ff. 2 Joachim Linck, Zurück zum ehrenamtlichen Landesparlamentarier in: Hans Herbert von Arnim (Hrsg.), Defizite in Staat und Verwaltung, 2010

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Anmerkungen

3 2. Freiwilligensurvey 2004 4 Vgl. zu dieser Forderung Joachim Linck, Geheime Wahlen der Ministerpräsidenten – eine Sünde wider den Geist des Parlamentarismus, in: DVBl. 2005, S. 793 ff. 5 Plenarprotokoll vom 3.7.2008, S. 8784 6 Vgl. zur parlamentarischen Praxis im ersten Thüringer Landtag: Holger Zürch, Florettstich, Bumerang, Rohrkrepierer. Zwischenrufe im Thüringer Landtag 1991 – 1993, 2001 7 Winfried Hansch, Wanderungen aus den alten Bundesländern in die Region Berlin/Brandenburg, in: Deutschland Archiv 3/1993, S. 291

Personenregister Abramowitsch, Roman 54 Adenauer, Konrad 137, 149 Arnim, Hans Herbert von 175, 236, 239 Axthelm, Hans-Hennig 167, 171 Bach, Johann Sebastian 65, 137, 138, 177, 180 Bahr, Egon 20, 81 Beck, Almut 197, 198 Bender, Peter 20, 81 Beresowski, Boris 54 Bergmann-Pohl, Sabine 98 Beschel, Christa 24 Biermann, Wolf 143 Böck, Willibald 92, 101, 124, 125, 150, 167, 168, 169, 171, 184 Bothmer, Helene-Charlotte von 140 Brandt, Willy 20 Braun, Volker 143 Brüderle, Rainer 29 Büchner, Matthias 206, 207 Caesar, Peter 120, 121 Claus, Armin 212 Deng Xiaoping 54 Deripaska, Oleg 54 Dette, Sebastian 84, 229 Dewes, Richard 96, 101 Dietl, Peter 125, 222 Dittes, Steffen 222 Doppler, Karl 42, 84 Duchač, Josef 14, 23, 25, 31, 32, 35, 38, 68, 94, 120, 135, 147, 153, 154, 166, 167, 168, 169 Ehrlich, Uwe 22, 23 Ellenberger, Irene 125 Enkelmann, Andreas 125 Eppelmann, Rainer 16, 235 Farthmann, Friedhelm 125 Fickel, Ulrich 167, 171 Fiedler, Wolfgang 95, 221 Fischer, Joschka 222 Fischer, Ursula 197 Frank, Hans-Peter 138 Franke, Gertrud 33 Friedrich, Bernd 41 Friedrich, Peter 135, 146, 222

Gasser, Karl Heinz 120 Gauland, Alexander 28, 32 Geil, Rudi 28, 169 Geißler, Siegfried 125, 134, 137, 139, 140, 141, 144, 145, 206, 207 Gerhardt, Gabriele 24 Gerstenmaier, Eugen 140 Giesler 120 Goebbels, Josef 19 Goethe, Johann Wolfgang von 138 Gölter, Georg 28 Göpfarth, Thomas 15 Grabe, Carl-Heinz 24, 111, 163 Grabe, Christine 125 Große, Stefan 24 Grünbaum, Robert 16, 235 Grundmann, Siegfried 17, 235 Häfner, Hans-Peter 125 Hahn, Karl-Eckhard 187 Hahnemann, Roland 125 Hartmann, Jürgen 211 Hartmann, Ursula 24 Havel, Vaclav 143 Heilmann, Frank 24, 25, 32, 33, 84, 165 Heinle Baden Redeker u. Partner 94 Heuß, Theodor 149 Hoefert, Johannes 119 Honnecker, Erich 15 Höpcke, Klaus 125, 141, 142, 143, 144, 145 Höppner, Reinhard 132 Ibel, Wolfgang 115, 116 Jellinek, Georg 122 Jentsch, Hans-Joachim 110, 167, 169, 171 Johannes Paul II. 16 Jung, Andreas 163 Jung, Franz Josef 28 Jutzi, Siegfried 74, 120, 121, 122, 238 Kähler, Christoph 72 Kanther, Manfred 29 Karpen, Ulrich 159 Katzenberger, Michael 33 Kaufmann, Robert 27, 236 Kerowe, Friedrich-Wilhelm 204 Kindervater, Karl-Heinz 56 Kinzel, Renate 120

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Personenregister

Kirchner, Martin 28 Klein, Berthold 124 Knaupp, Angelika 88 Kniepert, Andreas 92, 125, 168, 174 Koch, Reinhard 24 Köckert, Christian 101 Kohl, Helmut 9, 13, 21, 30, 89, 154, 169, 170, 214, 233, 235 Köhler, Johanna 125 Krämer, Peter 56 Krenz, Egon 15, 63, 235 Kretschmar, Gerhard 39 Kroppenstedt, Franz 115 Kulke, Hans-Jürgen 120 Kunert, Günter 143 Ladstätter, Matthias 120 Lafontaine, Oskar 38 Langelotz, Gottfried 68, 81 Langenhan, Lieselotte 24, 33 Leich, Werner 21 Lemberg, Dietrich 38 Lengemann, Jochen 41, 146, 167, 168 Lenk, Peter 119 Lieberknecht, Christine 24, 28, 99, 167, 168, 169, 171, 172, 195, 213 Lindlau, Peter 23, 31 Lippert, Michael 55, 56 Liszt, Franz 61, 138 Lucifero, Angelo 205 Luschkow, Juri 54 Maizière, Lothar, de 9, 31, 35, 122, 147, 235 Martin, Albrecht 176 Martin, Wolfgang 120 Mau, Reinhold 24 Mielke, Erich 63 Migge, Ortwin 119 Milde, Gottfried 28, 104 Möller, Andreas 213 Möller, Hans-Peter 31 Möller, Johann Michael 60, 121, 237 Möller, Olaf 134, 190, 191, 192 Morgenstern, Christian 18 Mühling, Rolf 120 Müller, Gottfried 57, 78, 93, 95, 105, 120, 124, 135, 140, 144, 145, 146, 147, 160, 164, 166, 170, 172, 173, 174, 176, 203, 205, 207, 209, 211 Neubert, Ehrhart 16, 17, 235 Niemann, Gunda 100

Ott, Eberhardt 15, 25, 31, 32, 33, 35, 37, 38, 39, 40, 41, 44, 51, 60, 62, 63, 67, 68, 76, 79, 80, 84, 87, 88, 89,105, 182 Otto, Elmar 194 Otto, Norbert 56 Paczulla, Volkhard 189 Potanin, Wladimir 54 Poppenhäger, Holger 225 Purkert, Simone 33, 84 Quaritsch, Helmut 16, 178, 235 Ramelow, Bodo 17, 184, 188, 189, 193, 194, 205 Rau, Johannes 28 Riege, Frau 120 Riege, Gerhard 119, 120 Rosenstock, Hans-Georg 14 Roth, Regina 120 Ruge, Manfred 57 Ruthe, Martina 33, 84 Sarazin, Thilo 67 Schäfer, Hans 120 Schäuble, Wolfgang 29 Scheringer, Konrad 197 Schlehstein, Klaus 24 Schmidt, Carlo 149 Schmidt, Elke 111 Schmidt, Helmut 38 Schnellbach, Dietrich 38, 40 Schuchardt, Gerd 125, 147, 170, 174 Schulz, Hans-Jürgen 167 Schulz, Horst 180 Schuster, Franz 55, 101, 117, 171, 178 Schuster, Klaus 119 Schwäblein, Jörg 72, 75, 78, 91, 95, 125, 142, 143, 168, 169, 174, 217, 218 Schwarz, Josef 142 Sieckmann, Hartmut 167, 171 Simmen, Jutta 46 Sklenar, Volker 167, 171 Spieth, Frank 204 Steinberg, Rudolf 198 Steinmetz, Klaus-Dieter 42 Stolpe, Manfred 28 Storz, Hartmut 120 Streibl, Max 29 Süße, Roland 24 Süssmuth, Rita 169, 170 Thaysen, Uwe 16, 235 Thierbach, Tamara 81, 183, 184, 185, 188

Bildnachweis  Thümmler 24 Tisch, Harry 63 Trageser, Karl-Heinz 28 Trojan, Johannes 210 Trzaskalik, Christoph 74 Ulbrich, Werner 23, 31 Vennegerts, Christa 115 Vogel, Bernhard 17, 21, 78, 94, 147, 169, 170, 171, 172, 178, 225 Vogel, Rainer 24 Voß, Anne 190, 191, 192 Wagner, Carl-Ludwig 28, 29 Wagner, Richard 138

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Walesa, Lech 16 Wallmann, Walter 28 Walsmann, Marion 120, 235 Weber, Max 214 Wechselberg, Viktor 54 Wehner, Herbert 220 Weinrich, Winfried 120 Weizsäcker, Richard von 9, 96, 235, 237 Wilhelm, Hans-Otto 28 Winter, Steffen 55, 56, 117 Witter, Dieter 24 Wunderlich, Gert 125 Zahn, Weingut 212

Bildnachweis Archiv der Stadt Erfurt 1 Bundesarchiv Koblenz 12 Doppler, Karl 6 dpa 14 MDR 15, 16, 17, 18, 19 Thüringer-Allgemeine 11, 13 Thüringer Landtag 4, 5, 7, 8, 9, 10, 20, 21, 22, 23 Thüringer Ministerium für Bau, Landesentwicklung und Verkehr 2, 3 Zeh, Klaus 155, 167, 168, 171, 172

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Bildnachweis  Thümmler 24 Tisch, Harry 63 Trageser, Karl-Heinz 28 Trojan, Johannes 210 Trzaskalik, Christoph 74 Ulbrich, Werner 23, 31 Vennegerts, Christa 115 Vogel, Bernhard 17, 21, 78, 94, 147, 169, 170, 171, 172, 178, 225 Vogel, Rainer 24 Voß, Anne 190, 191, 192 Wagner, Carl-Ludwig 28, 29 Wagner, Richard 138

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Walesa, Lech 16 Wallmann, Walter 28 Walsmann, Marion 120, 235 Weber, Max 214 Wechselberg, Viktor 54 Wehner, Herbert 220 Weinrich, Winfried 120 Weizsäcker, Richard von 9, 96, 235, 237 Wilhelm, Hans-Otto 28 Winter, Steffen 55, 56, 117 Witter, Dieter 24 Wunderlich, Gert 125 Zahn, Weingut 212

Bildnachweis Archiv der Stadt Erfurt 1 Bundesarchiv Koblenz 12 Doppler, Karl 6 dpa 14 MDR 15, 16, 17, 18, 19 Thüringer-Allgemeine 11, 13 Thüringer Landtag 4, 5, 7, 8, 9, 10, 20, 21, 22, 23 Thüringer Ministerium für Bau, Landesentwicklung und Verkehr 2, 3 Zeh, Klaus 155, 167, 168, 171, 172

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