Werke. Darmstädter Ausgabe. BAND II/2. Die Forschungsreise in den Tropen Amerikas Teilband 2 3534196910, 9783534196913

Der geniale Forschungsreisende Alexander von Humboldt (1769–1859) erlangte mit den Ergebnissen seiner Expeditionen Weltr

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German Pages 375 Year 2008

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Titel
Impressum
Inhalt
A. Textteil [Forts.]
Fünftes Buch
Kapitel XIV: Erdbeben von Caracas - Zusammenhang dieser Erscheinung mit den vulkanischen Ausbrüchen der Antillen-Inseln
Kapitel XV: Abreise von Caracas - Berge von San Pedro und Los Teques - Victoria - Täler von Aragua
[Über das Zodiakallicht]
Kapitel XVI: See von Tacarigua [Valencia] - Heiße Quellen von Mariara - Die Stadt Nueva Valencia de EI Rey - Abstieg an die Küsten von Puerto Cabello
[Über die Milch des Kuhbaums und den Saft der Carica papaya des Melonenbaums]
[Vom Cacao-Anbau]
Sechstes Buch
Kapitel XVII: Gebirge, welche die Täler von Aragua von den Llanos von Caracas trennen - Villa de Cura - Parapara - Llanos oder Steppen - Calabozo
[Begegnung mit Brüllaffen]
[Geognostische Constitution]
[Llanos, Steppen, Pampas, Heiden]
[Geologische Constitution und Hauptzüge Südamerikas und die Geschichte des Menschen]
[Herden und Tiere der Llanos]
[Über den elektrischen Aal]
Kapitel XVIII: San Fernando de Apure - Verflechtungen und Gabelteilungen der Flüsse Apure und Arauca - Fahrt auf dem Rio Apure
[Zum Klima der Tropen]
[Über Krokodile]
[Über den caribe-Fisch, piraya oder piranha]
[Über den lamantin oder die Seekuh]
Siebtes Buch
Kapitel XIX: Verbindung des Rio Apure und des Orinoco - Berge von Encaramada - Uruana - Baraguan - Carichana - Mündung des Meta - Insel Panumana
[Schildkröteneier: Sammlung und Ölherstellung]
[Über die rote Bemalung der Indianer]
[Über Felshühner und verschiedene Affen]
Kapitel XX: Mündung des Rio Anaveni - Pic von Uniana - Mission Atures - Katarakt oder Raudal von Mapara - Inselchen Surupamana und Uirapuri
[Über die schwarze Rinde des Granits]
[Ursachen der Entvölkerung]
[Würdigung der Stromschnellen]
[Unterschiedliche Ausbreitung der Schallwellen bei Tag und bei Nacht]
[Über den Waldmenschen (salvaje)]
[Zur geographischen Verbreitung der Insekten. Schwarz- und Weißwasser]
Kapitel XXI: Der Raudal von Garcita - Maipures - Der Katarakt von Quittuna - Die Einmündung des Vichada und des Zama - Der Fels von Aricagua - Siquita
[Der Raudal von Maipures]
[Zur Maipures-Sprache]
[Über Schwarzwasserflüsse]
Kapitel XXII: San Fernando de Atabapo - San Baltasar - Die Flüsse Temi und Tuamini - Javita - Die Portage vom Tuamini zum Rio Negro
[Der Fels der Guahiba-Indianerin]
[Das Klima der Mission Javita]
[Die Herkunft des Kautschuks]
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Werke. Darmstädter Ausgabe. BAND II/2. Die Forschungsreise in den Tropen Amerikas Teilband 2
 3534196910, 9783534196913

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Alexander von Humboldt

DARMSTÄDTER AUSGABE Sieben Bände

Herausgegeben von Hanno Beck

BAND II/2

Alexander von Humboldt Die Forschungsreise in den Tropen Amerikas Teilband 2

Herausgegeben und kommentiert von Hanno Beck in Verbindung mit Wolf-Dieter Grün, Sabine Melzer-Grün, Detlef Haberland, Paulgünther Kautenburger †, Eva Michels-Schwarz, Uwe Schwarz und Fabienne Orazie Vallino

Forschungsunternehmen der Humboldt-Gesellschaft, Nr. 40 Mit Förderung der Academia Cosmologica Nova

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. 2., durchgesehene Auflage 2008 © 2008 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt 1. Auflage 1987–1997 Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Janß GmbH, Pfungstadt Umschlag- und Schubergestaltung: Peter Lohse, Büttelborn Abbildungen auf dem Schuber: Humboldt-Portrait von F. G. Weitsch 1806, Foto: Hanno Beck; Weltkarte aus dem Berghausatlas, V. Abteilung, Pflanzen-Geographie; „Plan du Port de Veracruz“ von A. v. Humboldt, Foto: Hanno Beck Umschlagabbildungen: Details aus den Karten und Illustrationen des Berghausatlas Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-darmstadt.de

ISBN 978-3-534-19691-3

Inhalt A. Textteil [Forts.] Fünftes Buch

5 5

.

Kapitel XIV Erdbeben von Caracas - Zusammenhang dieser Erscheinung mit den vulkanischen Ausbrüchen der Antillen-I nseln Kapitel XV

.

.

5 26

Abreise von Caracas - Berge von San Pedro und Los Teques -

26 40 54

Victoria-Täler von Aragua [Über das Zodiakallicht]

.

Kapitel XVI See von Tacarigua [Valencia] -Heiße Quellen von Mariara- Die Stadt Nueva Valencia de El Rey -Abstieg an die Küsten von Puerto Cabello

54

[Über die Milch des Kuhbaums und den Saft der Carica papaya des Melonenbaums]

89 97

[Vom Cacao-Anbau] Sechstes Buch

107 107

.

Kapitel XVII Gebirge, welche die Täler von Aragua von den Llanos von Cara­ cas trennen-Villa de Cura- Parapara-Llanos oder SteppenCalabozo

107 107 112 120

.

[Begegnung mit Brüllaffen] [Geognostische Constitution] [Llanos, Steppen, Pampas, Heiden] [Geologische Constitution und Hauptzüge Südamerikas und

124 138 141 161

die Geschichte des Menschen] [Herden und Tiere der Llanos] [Über den elektrischen Aal] Kapitel XVIII

.

.

San Fernando de Apure - Verflechtungen und Gabelteilungen der Flüsse Apure und Arauca-Fahrt auf dem Rio Apure [Zum Klima der Tropen] [Über Krokodile] [Über den caribe-Fisch,piraya oder piranha] [Über den Iamantin oder die Seekuh]

.

161 165 175 185 187

Inhalt

VI

191

Siebtes Buch Kapitel XIX

191

Verbindung des Rfo Apure und des Orinoco- Berge von Encara­ mada- Uruana-Baraguan-Carichana- Mündung des Meta -Insel Panumana

191

[Schildkröteneier: Sammlung und Ölherstellung]

199

[Über die rote Bemalung der Indianer]

215

[Über Felshühner und verschiedene Affen]

220

Kapitel XX

245

.

Mündung des Rfo Anaveni - Pie von Uniana -Mission AturesKatarakt oder Raudal von Mapara - Inselchen Surupamana und Uirapuri

245

.

[Über die schwarze Rinde des Granits]

252

[Ursachen der Entvölkerung]

257

[W ürdigung der Stromschnellen]

267

[Unterschiedliche Ausbreitung der Schallwellen bei Tag und bei Nacht]

273

.

[Über den Waldmenschen

279

(salvaje)]

[Zur geographischen Verbreitung der Insekten. Schwarz- und Weißwasser]

282 296

Kapitel XXI Der Raudal von Garcita-Maipures-Der Katarakt von Quit­ tuna-Die Einmündung des V ichada und des Zama-Der Fels von Aricagua-Siquita

296

.

[Der Raudal von Maipures]

302

[Zur Maipures-Sprache]

307

[Über Schwarzwasserflüsse]

324

Kapitel XXII

329

San Fernando de Atabapo-San Baltasar-Die Flüsse Temi und Tuamini- Javita-Die Partage vom Tuamini zum Rfo Negro [Der Fels der Guahiba-Indianerin] [Das Klima der Mission Javita] [Die Herkunft des Kautschuks]

.

329 346 353

.

359

A Textteil

[Forts.]

Reise in die

Aequinoctial-Gegenden des

neuen Continents in den Jahren

1799, 1800, 1801, 1802, 1803

und 1804.

Verfaßt von Alexander von Humboldt und A. Bonpland.

Dritter Theil.

Stuttgart und Tübing en, in der J. G. Cotta'schen Buchhandlung. 1820.

Reise in die

Äquinoktial-Gegenden des

Neuen Kontinents

Fünftes Buch Kapitel XIV Erdbeben von Caracas- Zusammenhang dieser Erscheinung mit den vulkanischen Ausbrüchen der Antillen-Inseln Wir verließen Caracas am 7. Februar

[1800]

in der Abendkühle, um die

Reise zum Orinoco anzutreten. Die Erinnerung an diese Abreise ist heute schmerzhafter für uns, als es vor einigen Jahren war. Unsere Freunde sind in den blutigen Revolutionen umgekommen, welche diesen fernen Regionen Zug um Zug wechselweise die Freiheit gaben oder raubten. Das Haus, wel­ ches wir bewohnt haben, ist nur noch ein Schutthaufen; schreckliche Erd­ beben haben die Oberfläche des Bodens umgekehrt. Die Stadt, die ich be­ schrieben habe, ist nicht mehr vorhanden. Auf derselben Stätte, auf diesem zerrissenen Erdboden, erhebt sich allmählich eine neue Stadt. Bereits sind die aufgehäuften Trümmer, die Gräber einer zahlreichen Bevölkerung, neu­ erdings Wohnungen der Menschen geworden. Indem ich Veränderungen von einem derart allgemeinen Interesse nach­ spüre, gedenke ich Ereignissen, die erst lange nach meiner Rückkehr nach Europa eintraten. Die Erschütterungen des Volkes und die Umwälzungen, die der gesellschaftliche Zustand erlitten hat, übergehe ich mit Still­ schweigen. Die modernen Völker sorgen für ihr Gedächtnis, und sie retten die Geschichte menschlicher Revolutionen, welche die Darstellung glü­ hender Leidenschaften und eingewurzelten Hasses ist, vor dem Vergessen.

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Kapitel XIV

Anders verhält es sich mit den Revolutionen der physischen Welt; diese werden desto nachlässiger beschrieben, wenn sie mit dem bürgerlichen Zwist zusammenfallen. Die Erdbeben und die Ausbrüche der Vulkane wirken mächtig auf die Phantasie durch die Zerstörungen, die sie notwendig zur Folge haben. Die Überlieferung greift vorzugsweise nach allem, was un­ bestimmt und wunderbar ist, und der Mensch scheint in großer öffentlicher Not wie im privaten Unglück das Licht zu scheuen, das über die wahren Ur­ sachen der Ereignisse Aufschluß gibt und die begleitenden Umstände in ihrer Verbindung darstellen könnte. Ich habe geglaubt, in dieses Werk auf­ nehmen zu sollen, was ich Zuverlässiges von den Erschütterungen des 26. März 1812 erfahren konnte, welche die Stadt Caracas zerstört haben und in der Provinz von Venezuela über 20000 Einwohner fast in einem Augen­ blicke umkommen ließen. Die Verbindungen, welche ich fortgehend mit Menschen aus allen Schichten unterhalten habe, setzen mich in die Lage, die Erzählungen verschiedener Augenzeugen miteinander zu vergleichen und an sie über Gegenstände, die Licht über die allgemeine Naturkunde ver­ breiten können, Fragen zu richten. Als Historiker der Natur muß der Rei­ sende die Daten großer Katastrophen feststellen, ihren Zusammenhang und ihre Wechselbeziehungen prüfen und im schnellen Lauf der Zeiten, in der ununterbrochenen Bewegung der einander folgenden Veränderungen Fix­ punkte bezeichnen, die eines Tages zum Vergleich mit anderen Katastrophen dienen können. In der unermeßlichen Zeitfolge, welche die Geschichte der Natur umfaßt, nähern sich alle Epochen. Die verflossenen Jahre er­ scheinen nur noch als Augenblicke; und wenn auch die Naturbeschrei­ bungen eines Landes kein sehr allgemeines und sehr lebhaftes Interesse er­ regen, haben sie wenigstens den Vorteil, daß sie nicht veralten. Von ähn­ lichen Betrachtungen geleitet, hat auch Herr de La Condamine in seiner >

Voyage a l'Equateur< die denkwürdigen Ausbrüche des Vulkans Cotopaxi

beschrieben, die lange nach seiner Abreise von Quito stattfanden. Wenn ich dem Beispiel dieses berühmten Gelehrten folge, glaube ich um so weniger Tadel zu verdienen, als die Ereignisse, welchen ich nachspüren werde, die T heorie der vulkanischen Reaktionen oder des Einflusses, den das Vulkan­ system über einen weiten Umkreis benachbarter Länder ausübt, stützen werden. In der Zeit, als Herr Bonpland und ich in den Provinzen Neu-Andalusien, Nueva Barcelona und Caracas weilten, herrschte überall die Meinung, es seien die östlichsten dieser Küstengegenden den zerstörenden Wirkungen der Erdbeben am meisten ausgesetzt. Die Einwohner von Cumana scheuten das Tal von Caracas wegen seines feuchten und wechselnden Klimas und seines nebligen und melancholischen Himmels. Die Bewohner dieses gemä­ ßigten Tals sprachen von Cumana als von einer Stadt, in der man ständig eine glühende Luft atme und deren Boden heftigen periodischen Erschütte-

Kapitel XIV

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rungen ausgesetzt sei. Der Verheerungen von Riobamba und anderer sehr hochgelegener Städte hatten sie vergessen und wußten nicht, daß die aus Glimmerschiefer gebildete Halbinsel Araya an den Bewegungen der Kalk­ küste von Cumami teilnähme. So glaubten auch wohlunterrichtete Per­ sonen, in der Bildung des Urgebirgsgesteins von Caracas und in der hohen Lage dieses Tals Gründe für die Sicherheit zu finden. Kirchenfeste, die in Guaira und in der Hauptstadt selbst nächtlicherweile begangen wurden, erinnerten zwar daran, daß die Provinz Venezuela von Zeit zu Zeit Erd­ beben erlitten habe; aber man fürchtet Gefahren wenig, die nur selten wie­ derkehren. 1811 hat eine grausame Erfahrung den Zauber der T heorien und des Volksglaubens zerstört. Caracas, im Gebirge gelegen, drei Grad westlich von Cumami und fünf Grad westlich des durch die Vulkane der Cariben-In­ seln gehenden Meridians, erlitt heftigere Erschütterungen, als solche j e zuvor an den Küsten von Paria und Neu-Andalusien verspürt worden waren. Mir war schon bei meiner Ankunft in Tierra Firme die Verbindung zweier Naturereignisse, der Zerstörung von Cumami am 14. Dezember 1797 und der vulkanischen Ausbrüche in den Kleinen Antillen, aufgefallen. Die Zer­ störung von Caracas am 26. März 1812 hat diese Verhältnisse erneut manife­ stiert. Der Vulkan von Guadeloupe schien 1797 auf die Küsten Cumamis rückgewirkt zu haben. FünfzehnJahre später war es ein dem Festland näher­ liegender Vulkan, der von Saint Vincent, der seinen Einfluß bis nach Caracas und an die Ufer desApure auszuüben schien. In beiden Epochen befand sich wahrscheinlich das Zentrum der Explosion ungemein tief und in gleichmä­ ßiger Entfernung von den Gegenden, nach denen hin sich die Bewegung auf der Erdoberfläche fortpflanzte. Seit Anfang des Jahres 1811 bis zum Jahr 1813 ist ein weiter Bereich, der vom Meridian der Azoren, vom Tal des Ohio, von den Cordilleren Neu-Gra­ nadas, von den Küsten Venezuelas und von den Vulkanen der Kleinen An­ tillen begrenzt wird, fast gleichzeitig von Erschütterungen betroffen worden, die man unterirdischen Feuerherden zurechnen kann. Hier folgt die Aufzählung der Phänomene, welche Verbindungen in weiten Entfer­ nungen anzuzeigen scheinen: Am 30.Januar 1811 erschien ein unterseei­ scher Vulkan nahe bei Säo Miguel, einer derAzoren-Inseln. An einer Stelle, wo das Meer 60 Faden Tiefe hatte, hob sich ein Fels über die Wasserftäche. Das Aufsteigen der erweichten Erdrinde scheint dem Flammenausbruch des Kraters vorangegangen zu sein, wie dies ebenso bei den Vulkanen von Jo­ rullo in Mexico und zur Zeit der Entstehung der Insel Klein-Kameni nahe bei Santorio beobachtet worden ist. Das neue Inselchen der Azoren war an­ fänglich nur eine unbeträchtliche Klippe, die aber am 15. Juni durch einen neuen, sechs Tage andauernden Ausbruch vergrößert und nach und nach zur Höhe von fünfzig Toisen über der Meeresfläche erhoben wurde. Dies neue Land, wovon der Schiffskapitän Tillard im Namen der britischen Regierung

Kapitel XIV

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ungesäumt Besitz ergriff und das er Insel Sabrina nannte, hatte 900 Toisen im Durchmesser. Es scheint seither wieder vom Ozean verschlungen worden zu sein. Zum dritten Mal haben bereits nun Unterseevulkane dieses außeror­ dentliche Schauspiel wiederholt; und als geschähen die Ausbrüche dieser Vulkane in regelmäßigen, durch eine gewisse Ansammlung elastischer Flüs­ sigkeiten bestimmten Zeiträumen, ist die kleine Insel jedesmal nach Verlauf von 91 oder 92 Jahren wieder zum Vorschein gekommen. Man kann nicht anders als bedauern, daß trotz der geringen Entfernung weder eine europäi­ sche Regierung noch eine gelehrte Gesellschaft Naturforscher und Geologen auf die Azoren zur näheren Untersuchung einer Erscheinung abordnete, die der Geschichte der Vulkane und der des Erdballs überhaupt wichtige Auf­ schlüsse liefern konnte. Die 800 Iieues südwestlich der Azoren gelegenen Kleinen Antillen ver­ zeichneten zur Zeit des Erscheinens der neuen Insel Sabrina häufige Erd­ beben. Über 200 Erdstöße wurden von Mai 1811 bis April 1812 auf der Insel Saint Vincent, einer der drei Antillen, die noch tätige Vulkane haben, ver­ spürt. Die Bewegungen blieben keineswegs auf das Inselland des östlichen Amerika beschränkt. Seit dem 16. Dezember 1811 war die Erde fast andau­ ernd bewegt in den Tälern des Mississippi, des Arkansas und des Ohio. Die Schwingungen waren schwächer auf der Ost- als auf der Westseite des Al­ legheny-Gebirges in Tennessee und Kentucky. Sie waren von einem beträcht­ lichen, von Südwest herkommenden, unterirdischen Donnern begleitet. An einigen Stellen zwischen New Madrid und Little Prairie sowie bei der Saline nördlich von Cincinnati, unter 37° 45' Breite, wurden die Stöße täglich und fast stündlich mehrere Monate hindurch verspürt. Das Ganze dieser Er­ scheinungen währte vom 16. Dezember 1811 bis ins Jahr 1813 hinein. Die an­ fangs südwärts auf das Tal des unteren Mississippi begrenzten Bewegungen schienen allmählich gegen Norden vorzuschreiten. Zur gleichen Zeit, als in den jenseits der Alleghenies gelegenen Staaten diese lange Serie von Erdbeben begann, im Dezember 1811, erlitt die Stadt Caracas, bei stillem und heiterem Wetter, einen ersten Stoß. Dieses Zusam­ mentreffen der Erscheinungen war vermutlich kein bloßer Zufall; weil man nicht vergessen darf, daß trotz der weiten Entfernung dieser Gegenden die Niederungen Louisianas und die Küsten Venezuelas und Cumanas dem glei­ chen Becken, nämlich dem des Antillen-Meeres angehören. Dieses Mittel­ meer mit mehreren Ausgängen nimmt seine Richtung von Nordost nach Nordwest, und man glaubt eine frühere Ausdehnung in den weiten Ebenen wahrzunehmen, die stufenweise um 30, 50 und 80 Toisen über der Wasser­ fläche des Ozeans erhoben, mit Sekundärformationen bedeckt sind und durch den Ohio, den Missouri, den Arkansas und den Mississippi bewässert werden. Betrachtet man das Wasserbecken des Antillen-Meeres und des Golfs von Mexico mit geologischem Blick, findet man, daß es südwärts

Kapitel XIV

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durch die Küstenkette von Venezuela und von den Cordilleren von Merida und Pamplona, östlich von den Bergen derAntillen-Inseln undAlleghenies, westlich von den mexicanischenAnden und den Rocky Mountains und nörd­ lich von den unbeträchtlichen Hügeln begrenzt ist, welche die kanadischen Seen von den Zuflüssen des Mississippi trennen. Über zwei Drittel dieses Beckens stehen unter Wasser. Zwei Reihen tätiger Vulkane fassen es ein: öst­ lieh auf den Kleinen Antillen, zwischen dem 13. und 16. Breitengrad, und westlich auf den Cordilleren von Nicaragua, Guatemala und Mexico, zwi­ schen dem 11. und 20. Grad. Wer sich erinnert, daß das große Erdbeben von Lissabon am 1. November 1755 fast im gleichen Augenblick an den schwedi­ schen Küsten, am Ontario-See und auf Martinique verspürt wurde, der wird die Vermutung nicht allzu kühn finden, daß das ganze Becken der Antillen, von Cumana und Caracas bis in die Ebenen von Louisiana, zuweilen gleich­ zeitig durch Erschütterungen, die von einem gemeinsamen Mittelpunkt aus­ gehen, betroffen werden kann. Es ist eine auf den Küsten derTierra Firme sehr allgemein verbreitete Mei­ nung, die Erdbeben würden häufiger, wenn die elektrischen Entladungen einige Jahre hindurch seltener gewesen seien. In Cumana und in Caracas hat man zu beobachten geglaubt, daß die Regengüsse seit 1792 seltener von Donner begleitet waren, und man verfehlte nicht, sowohl die gänzliche Zer­ störung Cumanas 1797 wie die in den Jahren 1800, 1801 und 1802 in Mara­ caibo, Puerto Cabello und Caracas erlittenen Erdstöße "einer Anhäufung der Elektrizität im Inneren der Erde" zuzuschreiben. Es fiele schwer, nach einem langen Aufenthalt in Neu-Andalusien oder in den Niederungen von Peru zu verneinen, daß die Jahreszeit, worin am meisten Erdbeben zu be­ fürchten sind, die des Anfangs der Regenmonate ist, wo dann aber auch die meisten Gewitter eintreffen. Die Atmosphäre und der Zustand der Erd­ oberfläche scheinen auf eine uns unbekannte Weise auf die Veränderungen einzuwirken, welche in großen Tiefen vor sich gehen, und ich vermute, die Verbindung, welche man zwischen dem Mangel an Gewittern und den häufigen Erdbeben wahrzunehmen glaubt, sei mehr eine von den Halbwis­ sem des Landes ersonnene Hypothese als das Ergebnis langer Erfahrung. Der Zufall kann das Zusammentreffen gewisser Erscheinungen begün­ stigen. Den außerordentlichen Erdstößen, die zwei Jahre lang anhaltend an den Gestaden des Mississippi und des Ohio verspürt wurden und die 1812 mit denen im Tal von Caracas zusammentrafen, war in Louisiana ein fast völlig gewitterloses Jahr vorangegangen. Diese Erscheinung wurde aber­ mals allgemein sehr auffallend gefunden. Man darf sich nicht wundem, wenn im Vaterland Franktins eine große Vorliebe für Erklärungen ange­ troffen wird, die auf der Theorie der Elektrizität beruhen. Der Erdstoß, der in Caracas im Dezember 1811 verspürt wurde, ist der ein­ zige, der der schrecklichen Katastrophe vom 26. März 1812 voranging. Nie-

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Kapitel XIV

mand kannte in Tierra Firme die Bewegungen, die einerseits der Vulkan der Insel Saint Vincent und andererseits das Becken des Mississippi erlitt, wo am 7. und 8. Februar 1812 der Boden sich Tag und Nacht in einem Zustand be­

ständiger Schwingungen befand. Die Provinz Venezuela litt zu jener Zeit an großer Trockenheit. Kein Tropfen Regen war in Caracas und 90 Lieues in der Runde während fünf Monaten unmittelbar vor der Zerstörung der Haupt­ stadt gefallen. Der 26. März begann als ein sehr heißer Tag, die Luft war ruhig und der Himmel wolkenlos. Es war Gründonnerstag und das Volk gro­ ßenteils in den Kirchen versammelt. Nichts schien das drohende Unglück zu verkünden. Sieben Minuten nach vier Uhr abends verspürte man die erste Erschütterung. "Sie war stark genug, um die Kirchenglocken in Bewegung zu setzen. Sie dauerte 5 bis 6 Sekunden, und unmittelbar darauf folgte eine zweite Erschütterung von 10 bis 12 Sekunden, während der der Erdboden in beständiger Wellenbewegung wie eine Flüssigkeit zu kochen schien. Schon glaubte man, die Gefahr sei vorüber, als sich ein heftiges unterirdisches Ge­ töse hören ließ. Es glich dem Rollen des Donners, war jedoch stärker und an­ dauernder, als dies in der Jahreszeit der Gewitter zwischen den Wende­ kreisen gewöhnlich ist. Dem Donner folgte unmittelbar eine senkrechte, un­ gefähr drei bis vier Sekunden anhaltende Bewegung, die von einer etwas länger dauernden wellenförmigen begleitet wurde. Die Stöße erfolgten in entgegengesetzten Richtungen von Norden nach Süden und von Osten nach Westen. Dieser Bewegung von unten nach oben und sich durchkreuzenden Schwingungen vermochte nichts zu widerstehen. Die Stadt Caracas wurde gänzlich zugrunde gerichtet. Tausende ihrer Bewohner (zwischen 9000 und 10 000) fanden unter den Trümmern der Kirchen und Häuser ihr Grab. Noch hatte die Prozession ihren Umzug nicht eröffnet; aber das Hinströmen in die Kirchen war so groß, daß gegen 3000 oder 4000 Personen unter ihren einstür­ zenden Gewölben erdrückt wurden. Die Explosion war heftiger auf der Nordseite in dem dem Berg Avila und der Silla näher gelegenen Teil der Stadt. Die Kirchen der Dreifaltigkeit und Alta Gracia, die mehr als 150 Fuß Höhe hatten und deren Schiff durch 12 bis 15 Fuß dicke Pfeiler getragen wurde, lagen in einen Trümmerhaufen verwandelt, der nicht über 5 bis 6 Fuß Höhe hatte, und die Zermalmung des Schutts war so beträchtlich, daß von den Pfeilern und Säulen fast keine Spur mehr erkennbar geblieben ist. Die Kaserne el Quartel de San Carlos, die nördlich von der Dreifaltigkeits­ kirche, am Weg nach dem Zollhaus de la Pastora lag, ist fast völlig ver­ schwunden. Ein Regiment Linientruppen stand darin unter Waffen und sollte sich eben zur Prozession begeben. Wenige einzelne ausgenommen, wurde es sämtlich unter den Trümmern des großen Gebäudes verschüttet. Neun Zehntel der schönen Stadt Caracas wurden gänzlich zerstört. Die Häuser, welche nicht einstürzten, wie die der Stadt San Juan beim Kapuzi­ nerhospiz, waren dermaßen zerrissen, daß sie nicht weiter bewohnt werden

Kapitel XIV

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konnten. Etwas weniger verheerend zeigten sich die Wirkungen des Erdbe­ bens im südlichen und westlichenTeil der Stadt, zwischen dem Großen Platz und dem Hohlweg von Caraguata. Hier blieb die Kathedralkirche, von ge­ waltigen Strebepfeilern unterstützt, aufrecht stehen. Wenn die Zahl derToten in der Stadt Caracas auf 9000 bis 10 000 berechnet wird, sind dabei die Unglücklichen noch nicht berücksichtigt, die, schwer verwundet, nach Monaten erst aus Mangel an Nahrung und Pflege um­ kamen. Die Nacht vom Donnerstag auf den Karfreitag bot den Anblick eines unsäglichen Jammers und Unglücks dar. Die dichte Staubwolke, die sich über die Trümmer erhob und die Luft gleich einem Nebel verdunkelte, hatte sich zur Erde niedergeschlagen. Die Erschütterungen hatten aufge­ hört, und die Nacht war so hell und ruhig wie je zuvor. Der fast volle Mond beleuchtete die abgerundeten Dome der Silla, und die Gestalt des Himmels bildete einen furchtbaren Kontrast zu der mit Trümmern und Leichen be­ deckten Erde. Mütter trugen Kinderleichen im Arm, die sie ins Leben zu­ rückzubringen hofften. Jammernde Familien durchzogen die Stadt, um einen Bruder, einen Gatten, einen Freund zu suchen, dessen Schicksal unbe­ kannt war und den man im Gedränge verloren glauben konnte. Man drängte sich in den Straßen, die man nur noch an denTrümmerhaufen der Fluchtlinie wiedererkannte. Alles in den großen Katastrophen von Lissabon, Messina, Lima und Rio­ bamba erlittene Unglück wiederholte sich am Schreckenstag des 26. März

1812. "Die unter dem Schutt begrabenen Verwundeten riefen die Vorbeige­ henden laut flehend um Hilfe an; über 2000 wurden hervorgezogen. Nie hat sich das Mitleid rührender, man kann sagen, sinnreich tätiger, gezeigt als in den Anstrengungen, welche gemacht wurden, um den Unglücklichen, deren Seufzer man härte, Hilfe zu leisten. Es mangelte gänzlich an geeigneten Werkzeugen zum Ausgraben und Wegräumen des Schutts; man mußte sich der Hände bedienen, um die Lebenden hervorzugraben. Die Verwundeten sowohl wie die aus den Hospitälern entflohenen Kranken wurden an das Ge­ stade des kleinen Guaire-Flusses gelegt. Sie fanden hier keinen anderen Schutz als nur das Laubdach der Bäume. Die Betten, die Leinwand zum Ver­ binden der Wunden, chirurgische Instrumente, Medikamente, alle zuerst notwendigen Gegenstände waren unter den Ruinen vergraben. In den er­ sten Tagen fehlte alles, sogar Nahrungsmittel. Auch das Wasser war im In­ neren der Stadt selten geworden. Die Erschütterung hatte die Brunnenlei­ tungen zerschlagen. Der Einsturz der Erde hatte die Quellen verstopft. Um Wasser zu bekommen, mußte man bis zum Rio Guaire hinabsteigen, dessen Hochwasser beträchtlicher war, und man ermangelte zudem der Schöpf­ gefäße. Es blieb die Erfüllung einer Pflicht an den Toten, die von der Pietät und der Furcht vor Infektion zugleich gefordert wurde. Bei der Unmöglichkeit,

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Kapitel XIV

so viele Tausende halb unter den Ruinen liegender Leichen ordentlich zu be­ graben, wurden Kommissare mit ihrer Verbrennung beauftragt. Scheiter­ haufen wurden zwischen dem Schutt errichtet. Dies dauerte mehrere Tage. Inmitten des allgemeinen Jammers vollzog das Volk die religiösen Ge­ bräuche, mit denen es am ehesten den Zorn des Himmels besänftigen zu können hoffte. Die einen vereinigten sich zu Prozessionen und stimmten Leichengesänge an; andere, von Geistesverirrung befallen, beichteten laut mitten auf den Straßen. Es ereignete sich damals in dieser Stadt, was auch nach dem schrecklichen Erdbeben vom 4. Februar 1797 in der Provinz Quito geschehen war: Viele Ehen wurden zwischen Personen geschlossen, die seit langen Jahren ohne priesterlichen Segen zusammengelebt hatten. Kinder bekamen jetzt Eltern, von denen sie bis dahin nie anerkannt worden waren; Rückerstattungen wurden von Leuten versprochen, die niemand eines Dieb­ stahls beschuldigt hatte; Familien, die lange in Feindseligkeit gelebt hatten, versöhnten sich im Gefühl des gemeinsamen Unglücks. Wenn dieses Gefühl jedoch bei den einen die Sitten milderte und das Herz dem Mitleid öffnete, so hatte es bei anderen eine gegenteilige Wirkung: sie wurden hartherziger und unmenschlicher. In großen Nöten sieht man, daß gemeine Seelen we­ niger Güte als Stärke bewahren, denn es verhält sich mit dem Unglück wie mit dem Studium der Wissenschaften und mit der Betrachtung der Natur; es ist nur eine kleine Zahl, auf die sie ihren wohltuenden Einfluß ausüben, indem sie mehr Wärme des Gefühls und mehr Erhebung des Denkens, mehr Wohlwollen des Charakters schenken. Solch heftige Erdstöße, die innerhalb einer Minute die Stadt Caracas zer­ stört haben, konnten nicht auf eine kleine Strecke des Kontinents be­ schränkt sein. Ihre traurigen Wirkungen dehnten sich über die Provinzen von Venezuela, Barinas und Maracaibo, der Küste nach, vorzüglich aber auch über das Gebirge im Landesinneren aus. La Guaira, Maiquetfa, Anti­ mano, Baruta, Ia Vega, San Felipe und Merida wurden fast gänzlich zerstört. In La Guaira und Villa de San Felipe, unfern der Kupferminen von Aroa, be­ trug die Zahl der Toten wenigstens 4000 bis 5000. Das Erdbeben scheint in der Richtung einer Linie, die sich von Ostnordost nach Westsüdwest, von La Guaira und Caracas gegen die hohen Berge von Niquitao und Merida aus­ dehnt, am heftigsten gewesen zu sein. Im Königreich Neu-Granada wurde es von den Verzweigungen der hohen Sierra de Santa Marta bis nach Santa Fe de Bogota und Honda, an den Ufern des Rio Magdalena, in einer Entfer­ nung von 180 Iieues von Caracas verspürt. Es war überall stärker auf den Gneis- und Glimmerschiefercordilleren oder unmittelbar an deren Fuß als in den Ebenen. In den Savannen von Barinas und Casanare war dieser Unter­ schied am fühlbarsten. (Er läßt sich am ehesten mit dem System der Geo­ logen erklären, welche annehmen, daß alle Ketten vulkanischer und nicht­ vulkanischer Berge zur Zeit ihrer Bildung wie durch Spalten emporge-

Kapitel XIV

13

stiegen seien.) In den zwischen Caracas und der Stadt San Felipe liegenden Teilen von Aragua wurden nur sehr schwache Erdstöße verspürt. La Vic­ toria, Maracay, Valencia haben trotz der Nähe der Hauptstadt fast gar nicht gelitten. Bei Valecillo, wenige Iieues von Valencia, warf die zerrissene Erde eine solche Menge Wasser aus, daß sich ein neuer Strom bildete. Das gleiche geschah auch in der Nähe von Puerto Cabello. Hingegen hatte sich der See von Maracaibo bedeutend vermindert. In Coro verspürte man keinerlei Be­ wegung, obgleich die Stadt an der Küste und zwischen anderen Städten liegt, die nicht unbeschädigt geblieben sind." Die Fischer, welche sich am

26. März

auf der Insel Orchila, 30 Iieues nordöstlich von Guaira, und auf

dem Land befanden, verspürten keine Stöße. Es gründen sich diese Ver­ schiedenheiten der Richtung und Fortpflanzung des Stoßes wahrscheinlich auf die besondere Anordnung der Gesteinslagen. Nachdem wir die Wirkungen des Erdbebens auf der Westseite von Caracas bis zu den Schneegebirgen von Santa Marta und zum Plateau von Santa Fe de Bogota verfolgt haben, wollen wir nunmehr auch die der Hauptstadt öst­ lich gelegene Landschaft ins Auge fassen. Die Erschütterungen waren unge­ mein heftig- jenseits von Caurimare im Tal von Cupaya, wo sie sich bis zum Meridian des Kap Codera ausdehnten; äußerst merkwürdig aber ist es, daß sie sich an den Küsten von Nueva Barcelona, von Cumana und von Paria nur sehr schwach zeigten, obgleich diese eine Fortsetzung des Küstenlandes von La Guaira sind und von alters her im Ruf stehen, öfteren unterirdischen Er­ schütterungen ausgesetzt zu sein. Wenn man annehmen dürfte, die gänzliche Zerstörung der vier Städte Caracas, La Guaira, San Felipe und Merida sei von einem vulkanischen Herd ausgegangen, der unter der Insel Saint Vin­ cent oder in ihrer Nähe liegt, würde dadurch begreiflich, wie sich die Bewe­ gung von Nordost nach Südwest ausdehnen konnte, auf einer Linie, welche ihre Richtung durch die kleinen Inseln der Los Hermanos nimmt, nahe bei Blanquilla vorbei, ohne Berührung der Küsten von Araya, Cumana und Nueva Barcelona. Diese Fortpflanzung des Stoßes könnte sogar auch stattfinden, ohne daß die Erdoberfläche der zwischenliegenden Punkte, zum Beispiel der kleinen Hermanos-Inseln, die geringste Erschütterung ver­ spürte. Wir sehen diese Erscheinung öfters in Mexico und Peru bei Erdbeben, die seit Jahrhunderten eine bestimmte Richtung befolgen. Die Bewohner der Anden sprechen von einem Zwischenland, das nicht an der allgemeinen Bewegung teilnimmt, naiv "es bilde eine Brücke" (que hace puente), als wollten sie dadurch andeuten, die Schwingungen pflanzten sich in sehr großerTiefe unter einem unbewegten Gestein fort.

15 bis 18 Stunden nach der schrecklichen Katastrophe blieb der Erdboden ruhig. Die Nacht, wie oben bemerkt worden ist, war schön und ruhig; erst nach dem

27. März [1812]

erfolgten wieder neue Stöße, die von einem unter­

irdischen, überaus heftigen und andauernden Donner (bramido) begleitet

Kapitel XIV

14

waren. Die Einwohner von Caracas zerstreuten sich in der Umgegend, weil aber Dörfer und Höfe ebenso gelitten hatten wie die Stadt, fanden sie nur jenseits der Berge von Los Teques, in den Tälern von Aragua und in den Llanos oder Savannen Obdach. Oftmals wurden an einem einzigen Tag bis zu

15 Schwingungen verspürt. Am 5. April [1812] geschah ein Erdbeben, das

an Heftigkeit dem wenig nachstand, das die Hauptstadt zerstört hatte. Der Boden erlitt mehrere Stunden nacheinander ununterbrochene Schwin­ gungen. Es erfolgten große Bergstürze; gewaltige Felsmassen lösten sich von der Silla de Caracas ab. Man behauptete sogar (und diese Meinung ist jetzt noch allgemein im Land verbreitet), die beiden abgerundeten Spitzen der Silla hätten sich um

50 bis 60 Toisen gesenkt.

Diese Behauptung beruht

aber auf keinerlei Messung. Mir ist bekannt, daß man sich auch in der Pro­ vinz Quito bei jeder großen Erschütterung einbildet, der Vulkan von Tungu­ ragua sei niedriger geworden. In mehreren anläßlich der Zerstörung von Caracas veröffentlichten Nach­ richten wurde behauptet, der Berg la Silla sei ein erloschener Vulkan, man finde viele vulkanische Substanzen auf dem Weg, der von La Guaira nach Caracas führe, die Felsen böten keine regelmäßige Schichtung dar und trügen alle das Gepräge des Feuers. Man hat sogar hinzugesetzt, es hätten Herr Bonpland und ich zwölf Jahre vor der großen Katastrophe, zufolge un­ serer mineralogischen und physikalischen Untersuchungen, die Silla als eine gefährliche Nachbarschaft für die Stadt angesehen, indem dieser Berg viel Schwefel enthalte und die Erschütterungen von der Nord-Ost-Seite her­ kommen müßten. Es geschieht selten, daß Naturforscher sich wegen einer in Erfüllung gegangenen Vorhersage rechtfertigen müssen, doch ich halte mich verpflichtet, irrige Meinungen zu bestreiten, welche über die örtlichen Ursa­ chen der Erdbeben allzu leicht Eingang finden. Überall, wo der Boden monatelang in steter Bewegung bleibt wie auf Ja­ maica

1693,

zu Lissabon

1755,

in Cumami

1766,

in Piemont

1808,

erwartet

man den bevorstehenden Ausbruch eines Vulkans. Man vergiBt, daß der wirksame Herd oder Mittelpunkt fern von der Erdoberfläche gesucht werden muß; daß nach zuverlässigen Angaben die Schwingungen, und zwar sozusagen im gleichen Augenblick, sich

1000

Iieues weit über Meere von

großer Tiefe hin fortpflanzen; daß die größten Zerstörungen nicht am Fuß tätiger Vulkane, sondern in Bergketten, die aus den ungleichartigsten Ge­ steinen bestehen, stattfinden. Wir haben im vorhergehenden Buch die geo­ gnostische Beschreibung der Gegend von Caracas geliefert; es finden sich dort Gneise und Glimmerschiefer, die Bänke von Urgebirgskalkstein ent­ halten. Je geringer die Schichten gebrochen sind, desto unregelmäßiger fallen sie ein wie bei Freiberg in Sachsen und allenthalben, wo das Urgebirge sich schnell zu großer Höhe erhebt; ich habe dort weder Basalt noch Dolerit gefunden, nicht einmal Trachyte oder Trapp-Porphyre, überhaupt keinerlei

Nie konnte mir in den Sinn kommen, auszusprechen, daß die Silla und der Cerro de Avila, Gebirge die aus Gneis und Glimmerschiefer beständen, eine gefährliche Nachbarschaft für die Hauptstadt seien, weil sie in untergeordneten Bänken des Urkalksteins viel Schwefelkies enthalten; wohl aber erin-

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16

Landes. Allenthalben glaubte man, es werde durch die Luft übertragen, und man war so weit entfernt, seine unterirdische Natur zu erkennen, daß in Ca­ racas wie in Calabozo militärische Maßnahmen getroffen wurden, um den Ort gegen einen, wie es schien, mit grobem Geschütz anrückenden Feind zu verteidigen. Herr Palacio härte beim

Übergang des Rfo Apure unterhalb

von Orivante, unfern des Zusammenflusses des Rfo Nula, aus dem Munde der Eingeborenen, "die Kanonenschüsse" seien ebenso deutlich am westli­ chen Ende der Provinz Barinas wie im Hafen von Guaira auf der Nordseite der Küstenkette gehört worden. Der Tag, an dem die Einwohner von Tierra Firme durch ein unterirdisches Getöse erschreckt wurden, war der gleiche, an welchem der große Ausbruch des Vulkans der Insel Saint Vincent stattfand. Dieser nahezu 500Toisen hohe Berg hatte seit dem Jahr 1718 keine Lava ausgeworfen. Kaum bemerkte man einigen Rauch aufsteigen, als im Mai

1811 häufigere Stöße verkündeten, das

vulkanische Feuer habe sich entweder neu entzündet oder diesem Teil der Antillen zugewandt. Der erste Ausbruch erfolgte nicht eher als am 27. April

1812, um Mittag. Es war nur ein Aschenauswurf, aber von einem entsetzli­ chen Krachen begleitet. Am 30. April geschah der Abfluß der Lava, die nach vier Stunden das Meer erreichte. Das Getöse des Ausbruchs glich "den wechselnden Abschüssen von Kanonen groben Kalibers und einem Muske­ tenfeuer; und, was sehr bemerkenswert ist, man fand es stärker auf offener See, in großer Entfernung von der Insel, als im Angesicht des Landes, ganz nahe beim brennenden Vulkan". Die Luftlinie beträgt vom Vulkan von Saint Vincent zum Rio Apure bei der Mündung des Nula

210 Lieues; die Explosion wurde demnach in einer

Entfernung gehört, die der des Vesuvs von Paris gleichkommt. Dieses Phä­ nomen, mit dem sich eine Menge anderer, in der Cordillere der Anden beob­ achteter Tatsachen verknüpfen, beweist, wieviel ausgedehnter die unterirdi­ sche Tätigkeit eines Vulkans ist, als man den kleinen, auf der Erdoberfläche bewirkten Veränderungen nach zu glauben versucht sein sollte. Die Detona­ tionen, die in der Neuen Welt tagelang auf 80, auf 100 und bis auf 200

Lieues

von einem Krater entfernt gehört werden, gelangen nicht durch Fortpflan­ zung des Tones in der Luft zu uns; das Getöse teilt sich durch die Erde mit, vielleicht sogar an der Stelle, wo wir uns befinden. Würden die Ausbrüche des Vulkans von Saint Vincent, des Cotopaxi oder desTunguragua so weithin ertönen wie eine Kanone von ungeheurem Umfang, müßte die Stärke des Donners im umgekehrten Verhältnis der Entfernung wahrgenommen werden; die Erfahrung zeigt aber, daß dies nicht der Fall ist. Noch mehr: In der Südsee, während der

Überfahrt von Guayaquil nach den Küsten Me­

xicos, kamen Herr Bonpland und ich auf Stellen, wo unsere sämtlichen Ma­ trosen von einem dumpfen, aus der Tiefe des Ozeans aufsteigenden und durch das Wasser uns mitgeteilten Getöse erschreckt wurden. Es geschah

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17

dies zur Zeit eines neuen Ausbruchs des Cotopaxi, und wir waren von diesem Vulkan ebensoweit entfernt wie Neapel vom Ätna. Man rechnet nicht weniger als 145 Iieues vom Vulkan Cotopaxi bis zu der kleinen Stadt Honda am Ufer des Rio Magdalena; indessen hörte man zur Zeit der hef­ tigen Ausbrüche dieses Vulkans im Jahr 1744 in Honda ein unterirdisches Getöse, das für Entladungen groben Geschützes gehalten wurde. Die Fran­ ziskanermönche streuten die Nachricht aus, Cartagena werde von den Briten belagert und bombardiert, und sie fand bei den Einwohnern überall Eingang. Der Vulkan Cotopaxi ist aber ein Kegel, der sich mehr als 1800 Toisen über das Becken von Honda erhebt; er entsteigt einem Plateau, dessen Erhöhung über dem Magdalena-Tal noch 1500Toisen beträgt. Sämt­ liche kolossalen Berge sowie die zahllosen Täler und Schluchten Quitos, der Provinz de Los Pastos und von Popayan finden sich dazwischen! Es läßt sich nicht denken, daß sich unter diesen Umständen das Getöse durch die Luft oder durch die Schichten der Erdoberfläche fortgepflanzt und von dem Punkt hergekommen sei, wo der Kegel und der Krater des Cotopaxi stehen. Es ist vielmehr wahrscheinlich, daß der erhobeneTeil des Königreichs Quito und der benachbarten Cordilleren keineswegs aus einer Gruppe vereinzelter Vulkane besteht, sondern daß sie eine einzige gewölbte Masse bilden, eine mächtige vulkanische Mauer, die von Süden nach Norden ausgedehnt einen Gebirgskamm von nahezu 600 Quadratlieues Oberfläche darbietet. Der Co­ topaxi, der Tunguragua, der Antisana, der Pichincha befinden sich auf diesem Gewölbe und stehen sämtlich auf diesem Erhebungsboden. Sie führen unterschiedliche Namen, obgleich sie nur verschiedene Gipfel ein und derselben vulkanischen Grundmauer sind. Das Feuer bricht sich bald durch den einen, bald durch den anderen dieser Gipfel Bahn. Die ver­ stopften Krater erscheinen uns als erloschene Vulkane; aber es ist zu ver­ muten, wenn der Cotopaxi oder der Tunguragua während eines Jahrhun­ derts nur ein oder zweimal ausbreche, daß das Feuer darum nicht geringer tätig ist unter der Stadt Quito, unter dem Pichincha und lmbaburu. Weiter nordwärts erblicken wir zwischen dem Vulkan Cotopaxi und der Stadt Honda zwei andere vulkanische Bergsysteme, die von los Pastos und von Popayan. Die Verbindung dieser Systeme hat sich in den Anden auf eine ganz unzweideutige Weise durch eine Erscheinung bezeugt, die ich bereits anführte, als von der letzten Zerstörung Cumanas die Rede war. Eine dichte Rauchsäule stieg seit November 1796 aus dem Vulkan von Pasto, der west­ lich der gleichnamigen Stadt in der Nähe desTals des Rio Guaytara liegt. Die Mündungen des Vulkans sind seitwärts und befinden sich am westlichen Ab­ hang; dennoch stieg die Rauchsäule drei einander folgende Monate lang über dem Bergkamm derart empor, daß sie den Bewohnern der Stadt Pasto ständig sichtbar blieb. Zu ihrem größten Erstaunen, so erzählten sie uns alle, sei am 4.Februar 1797 der Rauch plötzlich verschwunden, ohne daß

18

Kapitel XIV

irgendeine Erschütterung verspürt wurde. Dies geschah in dem Augenblick, als 65/ieues südwärts zwischen dem Chimborazo, dem Tunguragua und dem Altar (Capac Urcu) die Stadt Riobamba durch eines der schrecklichsten Erdbeben, welche die Geschichte kennt, zerstört wurde. Wie ließe es sich bei diesem Zusammentreffen der Erscheinungen bezweifeln, daß die aus den kleinen Mündungen oder ventanillas des Vulkans Pasto aufsteigenden Dünste nicht mit dem Druck der elastischen Flüssigkeiten zusammen­ hingen, die den Boden des Königreichs Quito erschüttert und in wenigen Augenblicken 30 000 bis 40 000 Einwohnern den Untergang gebracht haben? Um die mächtigen Wirkungen der vulkanischen Reaktionen zu erklären und um zu erweisen, daß die Gruppe oder das Vulkansystem der Antillen von Zeit zu Zeit Tierra Firme zu erschüttern vermag, mußte ich die Anden­ Cordillere erwähnen. Geologische Urteile können nur durch Analogie jüng­ ster und demnach unzweideutig bewährter Tatsachen unterstützt werden; und in welch anderer Region der Erde ließen sich vulkanische Erschei­ nungen wahrnehmen, die zugleich größer und mannigfaltiger wären als in dieser durch das Feuer emporgehobenen doppelten Gebirgskette, auf diesem Boden, den auf jedem Gipfel, in jedem Tal die Natur mit ihren Wun­ dern bedeckt hat? Betrachtet man einen entzündeten Krater als eine abge­ sonderte Erscheinung, schätzt man nur die Masse seiner ausgeworfenen steinartigen Erzeugnisse, kann uns die vulkanische Wirksamkeit auf der ge­ genwärtigen Oberfläche des Erdballs weder sehr mächtig noch sehr ausge­ dehnt erscheinen. Aber das Bild dieser Tätigkeit vergrößert sich in unserem Geist in dem Maß, wie wir die Beziehungen studieren, welche die Vulkane einer gemeinsamen Gruppe untereinander verbinden, zum Beispiel die von Neapel und Sizilien, die der Canarischen Inseln, der Azoren, der Kleinen Antillen, der Vulkane Mexicos, Guatemalas und der Plateaus von Quito; nach der Maßgabe, wie wir entweder die gegenseitigen Reaktionen dieser vulkanischen Systeme aufeinander oder die Entfernungen würdigen, in denen sie durch unterirdische Verbindungen gleichzeitig die Erde bewegen. Das Studium der Vulkane zerfällt in zwei Abteilungen. Die eine, rein mine­ ralogische, hat die Untersuchung der wechselnden Gesteinsschichten oder der von der Wirkung des Feuers erzeugten Gesteine, von der Bildung der Trachyte oder Trapp-Porphyre, der Basalte, Phonolithe und Dolerite bis zu den jüngsten Laven zum Gegenstand. Die andere, weniger zugängliche und bis jetzt vernachlässigtere Abteilung umfaßt die physikalischen Verhältnisse, welche die Vulkane untereinander verbinden, den Einfluß, den ein vulkani­ sches System auf das andere ausübt, den Zusammenhang, welcher sich zwi­ schen den feuerspeienden Bergen und den Stößen offenbart, die auf große Entfernungen hin und lange anhaltend in gleichen Richtungen die Erde er­ schüttern. Diese Abteilung kann erst dann Fortschritte machen, wenn man exakte Daten besitzen wird über die verschiedenen Epochen gleichzeitiger

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Wirksamkeit, Richtung, Ausdehnung und Stärke der Erschütterungen, über ihr allmähliches Vorschreiten in vorher unberührt gebliebene Gegenden, über das Zusammentreffen einer entfernten vulkanischen Eruption mit dem unterirdischen Getöse, das die Bewohner der Anden um seiner Stärke willen auf eine ausdrucksvolle Weise mit dem Namen des "unterirdischen Gebrülls und Donners" belegt haben. Diese sämtlichen Angaben sind das Gebiet der Naturgeschichte, einer Wissenschaft, der nicht einmal ihr Name gesichert geblieben ist und die wie alle Geschichte von Zeiten ausgeht, welche uns fabelhaft vorkommen, und von Katastrophen, deren Gewalt und Größe unsere Phantasie nicht fassen kann. Man hat sich lange Zeit darauf beschränkt, die Geschichte der Natur mit­ tels alter, in der Erde vergrabener Denkmäler zu studieren; wenn aber auch der enge Kreis, worauf zuverlässige Überlieferungen beschränkt sind, so all­ gemeine Umwälzungen nicht bietet, wie die es sind, welche die Cordilleren emporhoben und Myriaden pelagischer Geschöpfe begruben, dann bietet die vor unseren Augen wirksameNatur nichtsdestoweniger solche tumultua­ rischen, obgleich nur partiellen Veränderungen dar, deren Studium auch die entferntesten Zeiträume erhellen kann. Im Inneren des Erdballs herrschen diese geheimnisvollen Kräfte, deren Wirkungen sich auf der Oberfläche ma­ nifestieren, durch die Erzeugung von Dämpfen, von glühenden Schlacken, von neuen vulkanischen Gesteinen und T hermalquellen, durch emporstei­ gende Inseln und Berge, durch Erschütterungen, die sich mit der Schnellig­ keit des elektrischen Schlages fortpflanzen, und endlich durch diese unterir­ dischen Donner, die ganze Monate lang und ohne Erschütterung des Erd­ bodens in Gegenden, die von den wirksamen Vulkanen sehr weit entfernt liegen, gehört werden. In dem Maß, wie die Äquinoktial-Länder Amerikas in ihrer Bevölkerung und Kultur fortschreiten und wie die Vulkan-Systeme des mexicanischen Zentral-Plateaus, der Kleinen Antillen, die Vulkane von Popayan, von Los Pastos und von Quito emsiger beobachtet werden, wird auch der Zusam­ menhang der Ausbrüche und der Erdbeben, die ihnen vorausgehen und sie zuweilen begleiten, allgemeiner erkannt werden. Die vorhin genannten Vul­ kane, vorzüglich die der Anden, welche die gewaltige Höhe von 2500Toisen übersteigen, bieten der Beobachtung große Vorteile dar. Die Epochen ihrer Ausbrüche sind sehr ausgeprägt. Sie bleiben 30 bis 40 Jahre untätig, ohne Schlacken, Asche oder auch nur Dämpfe auszustoßen. In dieser Zwischen­ zeit bemerkte ich keine Spur von Rauch über dem Gipfel des Tunguragua und des Cotopaxi. Eine dem Krater des Vesuvs entsteigende Rauchwolke zieht kaum die Aufmerksamkeit der Einwohner vonNeapel auf sich; sie sind an die Bewegungen dieses kleinen Vulkans gewöhnt, der zuweilen zwei bis drei Jahre durch Schlacken auswirft. Es ist dann schwer zu entscheiden, ob der Schlackenauswurf zum Zeitpunkt eines in den Apenninen verspürten

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Erdbebens häufiger war. Auf dem Rücken der Cordilleren gewinnt alles eine entschiedenere Ansicht. Ein Aschenauswurf, der nur einige Minuten dauert, folgt öfters einer zehnjährigen Ruhe. Unter solchen Umständen fällt es nicht schwer, Epochen festzustellen und das Zusammenfallen von Er­ scheinungen zu erkennen. Wenn, woran sich in der Tat nicht zweifeln läßt, die Zerstörung von Cu­ mami 1797 und von Caracas 1812 den Einfluß der Vulkane der Kleinen An­ tillen auf die Erschütterungen der Küsten der Tierra Firme zeigen, wird am Schluß dieses Kapitels ein kurzer Blick auf diesen mediterranen Archipel nützlich sein. Die vulkanischen Inseln bilden ein Fünftel des Bogens, der sich von der Küste von Paria bis zur Halbinsel Florida erstreckt. Vermöge ihrer Ausdehnung von Süden nach Norden schließen sie auf der Ostseite dieses Binnenmeeres, während die Großen Antillen gleichsam die Trümmer einer Gruppe von Bergen der Urgebirgsformation bilden, deren höchster Teil sich zwischen Kap Abacou, Kap Morant und den Kupferbergen an der Stelle befunden zu haben scheint, wo die Inseln Santo Domingo, Cuba und Jamaica einander am nächsten stehen. Betrachtet man das Atlantische Becken als sehr großes Tal, das die beiden Kontinente voneinander trennt und in dem von 20o Süd bis 30° Nord die vorspringenden W inkel (Brasilien und Senegambien) den einwärtsgehenden Winkeln (der Golf von Guinea und das Antillenmeer) entsprechen, dann wird man auf die Vermutung ge­ leitet, dieses letztere Meer sei durch Strömungen gebildet worden, die wie die gegenwärtige Kreisströmung von Osten nach Westen gerichtet waren und den Südküsten von Puerto Rico, von Santo Domingo und Cuba eine so einförmige Gestalt gaben. Diese ziemlich wahrscheinliche Vermutung eines pelagischen Einbruchs hat zwei andere Hypothesen über die Entstehung der Kleinen Antillen entstehen lassen. Einige Geologen nehmen an, diese un­ unterbrochen Inselkette von Trinidad bis Florida stelle die Trümmer einer vormaligen Bergkette dar. Sie verbinden diese Kette entweder mit den Gra­ niten des französischen Guayana oder mit den Kalkbergen von Paria. An­ dere, die von der Verschiedenheit der geognostischen Constitution des Urgebirges der Großen Antillen und der vulkanischen Kegel der Kleinen Antillen beeindruckt sind, sehen diese als Erzeugnisse des Meergrundes an. Erinnert man sich der geraden Richtung, welche vulkanische Erhebungen meist bevorzugen, wenn sie durch weithin verlängerte Spalten geschehen, sieht man, daß es schwerhält, nach der bloßen Lage des Kraters zu beur­ teilen, ob die Vulkane früher zur gleichen Kette gehört haben oder ob sie immer isoliert waren. Angenommen, eine Eruption erfolgte aus dem Ozean heraus, sei es im östlichen Teil der Insel Java, sei es in den Cordilleren Gua­ temalas und Nicaraguas, da, wo so viele feuerspeiende Berge eine zusam­ menhängende Kette bilden, dann würde diese Kette in mehrere kleine In­ seln zerteilt werden und vollkommen dem Archipel der Kleinen Antillen

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21

gleichen. Auch die Vereinigung der Urgebirgsformationen und der vulkani­ schen Gesteine in derselben zusammenhängenden Bergkette ist nichts Be­ fremdendes: Man erkennt sie deutlich in meinen geognostischen Durch­ schnitten der Anden-Cordillere. Die Trachyte und die Basalte von Popayan finden sich durch die Glimmerschiefer von Almaguer vom System der Quito-Vulkane getrennt, wie die Vulkane an Quito durch die Gneise des Condorasto und des Guasonto von den Trachyten von Assuay separiert sind. Es gibt keine wirkliche Bergkette in der Richtung von Süd-Ost nach Nord­ West, vom Oyapoc zu den Mündungen des Orinoco, als deren nördliche Ver­ längerung die Kleinen Antillen betrachtet werden könnten. Die Granite Gua­ yanas sowie die Hornblendschiefer, die ich in der Nähe von Angostura, an den Ufern des unteren Orinoco sah, gehören den Bergen von Pacaraimo und La Parima an, die sich von Westen nach Osten ins Landesinnere ausdehnen, keineswegs aber parallel mit der Küstenrichtung zwischen den Mündungen des Amazonas und des Orinoco; wenn jedoch schon am nordöstlichen Ende der Tierra Firme keine Bergkette in gleicher Richtung mit dem Archipel der Kleinen Antillen vorhanden ist, folgt hieraus allein noch keineswegs, daß die vulkanischen Berge der Inselgruppe nicht ursprünglich dem Kontinent und der Küstenkette von Caracas und Cumana angehört haben könnten. Wenn ich hier die Einwürfe einiger berühmter Naturforscher bekämpfe, liegt es mir fern, eine vormalige Verbindung aller Kleinen Antillen zu stützen. Ich bin eher geneigt, sie für Inseln anzusehen, die, durch Feuer em­ porgehoben, in der Richtung von Süden nach Norden mit der Regelmäßig­ keit aufgereiht wurden, die sich uns in so vielen vulkanischen Hügeln der Auvergne, in Mexico und in Peru auf das merkwürdigste darbietet. Das wenige, das uns bis dahin über die geognostische Constitution dieses Archi­ pels bekannt ist, läßt ihn uns den Azoren und den Canarischen Inseln sehr ähnlich erkennen. Die Urgebirgsformationen liegen nirgends zutage, und es findet sich nur, was unmittelbar den Vulkanen zugehört: feldspatartige Laven, Dolerite, Basalte, aus Erdschlacken, Bims- und Tuffstein beste­ hende Konglomerate. Unter den Kalkformationen muß man die den vulka­ nischen Tuffarten wesentlich untergeordneten von denen unterscheiden, die von Madreporen und anderen Zoophyten herrühren. Diese letzteren scheinen nach Herrn Moreau de Jonnes Klippen vulkanischer Herkunft zur Grundlage zu haben. Die Berge, die Spuren mehr oder weniger neuer Ent­ zündungen darbieten und deren einige fast 900 Toisen Höhe haben, stehen alle auf der Westseite der Kleinen Antillen. Jede dieser Inseln ist nicht durch einmaliges Aufsteigen entstanden, die meisten scheinen aus abgesonderten Massen, welche sich allmählich vereinigt haben, gebildet zu sein. Der vulka­ nische Stoff wurde nicht von einer, sondern von mehreren Mündungen aus­ geworfen, so daß oftmals eine Insel von geringem Umfang ein ganzes Sy­ stem von Vulkanen, rein basaltische Teile und andere, die mit rezenten

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Laven bedeckt sind, vereinigt. Noch brennende Vulkane sind die von Saint Vincent, Santa Lucia und Guadeloupe. Der erste hat

1718 und 1812 Laven

ausgeworfen; im zweiten wird durch die Kondensation der aus den Spalten eines vormaligen Kraters aufsteigenden Dämpfe fortlaufend Schwefel ge­ bildet. Der Vulkan von Guadeloupe spie zum letzten Mal Feuer im Jahr

1737.

Der Schwefelberg von Saint Christopher brannte noch

1692. Auf Mar­

tinique müssen der von den fünf Pitons du Carbet umgebene Krater, der Vauclin und der Berg Pelee als drei erloschene Vulkane betrachtet werden. Man hat dort öfters die Wirkungen des Blitzes mit denen des unterirdischen Feuers verwechselt. Der angebliche vulkanische Ausbruch vom

22.

1792 ist durch keine zuverlässige Beobachtung bestätigt worden.

Es verhält

Januar

sich mit der Vulkangruppe der Kleinen Antillen wie mit der von Quito und Los Pastos. Mündungen, die mit dem unterirdischen Feuer weiter keine Ver­ bindung zu haben scheinen, stehen auf derselben Linie mit den feuerspei­ enden Kratern und wechseln mit ihnen ab. Trotz der innigen Beziehungen, die sich zwischen der Wirksamkeit der Vulkane der Kleinen Antillen und den Erdbeben der Tierra Firme dar­ stellen, geschieht es jedoch nicht selten, daß Erdstöße, welche auf der vulka­ nischen Inselgruppe verspürt werden, sich weder auf die Insel Trinidad noch an die Küsten von Cumana und Caracas fortpflanzen. Dieser Umstand hat nichts Befremdendes. Auch in den Kleinen Antillen selbst bleiben die Er­ schütterungen öfters auf eine einzige Insel beschränkt. Der große Ausbruch des Vulkans von Saint Vincent im Jahr

1812 verursachte kein Erdbeben auf

Martinique und auf Guadeloupe, wohl aber hörte man dort wie in Venezuela heftige Detonationen, während der Erdboden ruhig blieb. Die gleichen Detonationen, die man mit dem Rollen nicht verwechseln darf, welches überall auch den geringsten Erschütterungen vorangeht, läßt sich nicht selten an den Ufern des Orinoco und, wie uns an Ort und Stelle versichert wurde, zwischen dem Rio Arauca und dem Cuchivero hören. Der Pater Morello erzählt, wie in der Mission von Cabruta das unterirdische Ge­ töse zuweilen dem Losfeuern von Steinböllern (pedreros) dermaßen gleicht, daß man ein fernes Treffen zu hören glaubte. Am

21.

Oktober

1766,

dem

Tage des furchtbaren Erdbebens, das die Provinz Neu-Andalusien ver­ heerte, bewegte sich der Boden gleichmäßig in Cumana, in Caracas, in Ma­ racaibo, an den Ufern des Casanare, des Meta, des Orinoco und des Ven­ tuario. Der Pater Gili hat diese Erschütterungen einer völlig granitischen Gegend in der Mission von Encaramada, wo sie von heftigen Detonationen begleitet waren, beschrieben. Es erfolgten große Bergstürze am Paurari, und in der Nähe des Felsens Aravacoto verschwand eine kleine Insel im Ori­ noco. Die schwingenden Bewegungen hielten eine ganze Stunde an. Es war gleichsam das erste Signal dieser heftigen Erschütterungen, die länger als zehn Monate an den Küsten von Cumana und Cariaco verspürt wurden.

Kapitel XIV

23

Man sollte glauben, zerstreut in Wäldern lebende Menschen, die kein an­ deres Obdach haben als aus Schilfrohr und Palmblättern verfertigte Hütten, müßten sich nicht vor den Erdbeben fürchten. Allein die Indianer vom Cre­ vato und Caura erschrecken darüber wie über eine ziemlich seltene Er­ scheiung, die auch den Waldtieren Schrecken einjagt und die Krokodile aus derTiefe des Wassers ans Ufer treibt. Näher am Meer, wo die Stöße häufiger vorkommen, fürchten sich die Einwohner keineswegs, sondern betrachten sie befriedigt als Vorboten eines feuchten und fruchtbaren Jahres. Ich habe in dieser Diskussion über die Erdbeben der Tierra Firme und über die Vulkane des nahen Archipels der Antillen den allgemeinen Plan be­ folgt, welchen ich mir in diesem Werk vorsetzte. Erst brachte ich eine große Zahl vereinzelter Tatsachen bei, die ich nachher in ihrem Zusammenhang dar­ stellte [Hervorhebung vom Hrsg.]. Alles kündet im Inneren des Erdballs von einer Wirksamkeit lebendiger Kräfte, die aufeinander einwirken, sich die Waage halten und sich modifizieren. Je unbekannter uns die Ursachen dieser Schwingungen, dieser Wärmeentbindungen, dieser Bildungen elasti­ scher Flüssigkeiten sind, um so mehr ist Pflicht des Naturforschers, die Über­ einstimmungen zu ergründen, welche diese Erscheinungen in weiten Entfer­ nungen und auf eine so gleichförmige Weise darstellen. Dann nur, wenn diese verschiedenen Beziehungen unter einem allgemeinen Gesichtspunkt betrachtet und über eine weite Ausdehnung der Erdoberfläche durch ver­ schiedenste Gesteinsformationen hindurch verfolgt werden, ist man ge­ neigt, auf die Vermutung kleiner Lokalursachen von Pyritschichten oder brennender Steinkohle zu verzichten. Folgendes ist die Reihe der Erscheinungen, welche die Nordküsten von Cumami, Nueva Barcelona und Caracas darbieten und von denen man glaubt, sie dürften mit den Ursachen der Erdbeben und der Lavaergie­ ßungen in Verbindung stehen. Wir wollen am östlichsten Ende, mit der Insel Trinidad beginnen, die, wie oben bereits bemerkt wurde, mehr dem Küsten­ land als dem System der Berge der Antillen-Inseln anzugehören scheint. Der Schlund, der Asphalt ausspeit in der Bucht von Mayaro, an der Ost­ küste der Insel Trinidad, südwärts der Guataro-Spitze. Es ist die Mine von Chapapote, die den mineralischen Teer dieses Landes liefert. In den Monaten März und Juni sind, wie man versichert, die Ausbrüche öfters von starken Detonationen, von Rauch und Flammen begleitet. Fast auf derselben Parallele, ebenfalls im Meer, aber auf der Ostseite der Insel (nahe Punta de la Brea, südwärts vom Hafen von Naparaimo), findet sich ein ähnliches Luftloch. An der nahen Küste, in einem tonigen Boden, befindet sich der berühmte Asphaltsee (Laguna de la Brea), ein Sumpf, dessen Wasser die Temperatur der Atmosphäre besitzt. Die kleinen Kegel, die am südwestlichen Ende der Insel zwischen der Spitze lcacos und dem Rio Erfn liegen, scheinen einige Ähnlichkeit mit den

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Luft- und Schlammvulkanen zu haben, die ich bei Turbaco im König­ reich Neu-Granada antraf. Wenn ich der Asphalt-Lagerstätten ge­ denke, so geschieht es um der merkwürdigeren, ihnen in diesen Ge­ genden eigentümlichen Verhältnisse willen, da ich ansonsten wohl weiß, daß das Naphta, das Petroleum und der Asphalt zugleich im vul­ kanischen und imSekundärboden vorkommen, und in letzteren sogar auch öfter. Das Petroleum schwimmt, dreißig Iieues nordwärts von Tri­ nidad, um die Insel Grenada herum, die einen erloschenen Vulkan und Basalte hat. Die heißen Quellen von Irapa, am nordöstlichen Ende Neu-Andalusiens, zwischen Rio Caribe,Soro und Yaguarapayo. Der Luftvulkan oder dieSalse von Cumacatar, südlich von Jose und Ca­ nipano, nahe der Nordküste des Kontinents, zwischen der Montafia de Paria und derStadt Cariaco. Man hört fast ununterbrochen anhaltende Detonationen in einem tonigen Boden, der Schwefel enthalten soll. HeißeSchwefelwasserquellen drängen sich aus dem Boden mit solcher Heftigkeit hervor, daß dieser durch dieStöße merklich erschüttert wird. Man behauptet, seit dem großen Erdbeben von 1797 auch öfters das Aufsteigen von Flammen gesehen zu haben. Diese Tatsachen ver­ dienten durch einen sachkundigen Reisenden festgestellt zu werden. Die Petroleumquelle von Buen Pastor, nahe dem Rio Areo. Man hat im tonigen Erdreich von Guayuta wie im Tal vonSan Bonifacio und in der Nähe des Zusammenflusses des Rio Pao mit dem Orinoco großeSchwe­ felmassen angetroffen. Die Aguas calientes, südlich des Rio Azul, und das hohle Terrain von Ca­ riaco, das zur Zeit der großen Erdbeben von CumamiSchwefelwasser und klebriges Petroleum ausgespien hat. Die heißen Wasser des Golfs von Cariaco. Die Petroleumquelle im gleichen Golf, nahe Manicuare. Sie quillt aus dem Glimmerschiefer. Die Flammen, die der Erde entstiegen, in der Nähe Cumanas, an den Ufern des Manzanares und in Mariguitar, auf dem südlichen Ufer des Golfs von Cariaco, zur Zeit des Erdbebens von 1797. Die feurigen Erscheinungen des Berges Cuchivano, nahe Cumanacoa. Die in einer Untiefe nördlich der Caracas-lnseln entspringende Petro­ leumquelle, deren Geruch den Schiffen die Gefahr einer Untiefe von nur einem Klafter schon von weitem ankündigt. Die warmen Quellen des Berges Bergantin, in der Nähe von Nueva Barce­ lona, deren Temperatur 43,2° des hundertteiligen T hermometers be­ trägt. Die warmen Quellen des Provisor, in der Nähe vonSan Diego in der Pro­ vinz Nueva Barcelona.

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Die warmen Quellen von Oiioto, zwischen Turmero und Maracay, in den Tälern von Aragua, westlich von Caracas. Die heißen Quellen von Mariara, in eben diesen Tälern, deren Tempe­ ratur 58,9° beträgt. Die heißen Quellen von las Trincheras, zwischen Puerto Cabello und Va­ lencia, die aus dem Granit hervorkommen gleich denen von Mariara und einen heißen Bach bilden, Rio de aguas calientes. Die Temperatur ist 90,4°. Die Siedequellen der Sierra Nevada de Merida. Das Luftloch von Mena, am Gestade des Maracaibo-Sees; es speit Asphalt, und daraus treten ( wie man versichert ) Gasdünste hervor, die sich von selbst entzünden und weit umher sichtbar werden. Dies sind die Quellen von Petroleum und heißem Wasser, die feurigen Me­ teore, die von Detonationen begleiteten Schlammauswürfe, welche mir in den ausgedehnten Provinzen von Venezuela in einem Umfang von 200 Iieues von Osten nach Westen bekanntgeworden sind. Diese verschiedenen Er­ scheinungen haben die Phantasie der Einwohner seit den großen Katastro­ phen von 1797 und 1812 vielfach beschäftigt und beunruhigt, obgleich sie ei­ gentlich nichts enthalten, was zu einem Vulkan, dem bisher gewohnten Sinne des Worts nach, gehörte. Wenn die Luftlöcher, die mit Geprassel Dünste und Wasser auswerfen, bisweilen volcancitos genannt werden, ge­ schieht dies von solchen Einwohnern, die glauben, es müsse notwendig Vul­ kane in einem Lande geben, welches so häufigen Erdbeben ausgesetzt ist. Von dem brennenden Krater auf Saint Vincent an findet sich südwärts, west­ wärts und südwestwärts zuerst in der Kette der Kleinen Antillen, dann in der Küstenkette von Cumana und Venezuela und endlich in den Cordilleren Neu-Granadas in einer Ausdehnung von 380 Iieues kein tätiger Vulkan bis zum Purace, in der Nähe von Popay an. Dieser gänzliche Mangel von Öff­ nungen, durch welche geschmolzene Materien in dem ostwärts der Cordil­ lere der Anden und der Rocky Mountains gelegenen Teil des Festlands ausfließen könnten, ist eine der merkwürdigsten geologischen Tatsachen. Wir haben in diesem Kapitel die großen Bewegungen untersucht, welche die Steinkruste des Erdballs von Zeit zu Zeit erfährt und durch die Land­ schaften verwüstet werden, die die Natur mit ihren köstlichsten Gaben aus­ gestattet hat. Eine ununterbrochene Ruhe herrscht in der oberen Atmo­ sphäre; aber um mich eines Ausdrucks von Franklin zu bedienen, der gei­ streich eher als wahr ist: Der Donner rollt öfters in der unterirdischen Atmo­

sphäre, in der Mischung elastischer Flüssigkeiten, deren heftige Bewe­ gungen uns auf der Erdoberfläche fühlbar werden. In der Beschreibung des Untergangs so vieler volkreicher Städte haben wir Bilder des größten menschlichen Elends dargestellt. Ein Volk, das im Kampf für seine Unab­ hängigkeit begriffen ist, wird plötzlich der Nahrungsmittel und aller Lebens-

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bedürfnisse beraubt. Hungrig und ohne Obdach verstreut es sich durch das Land. Sehr viele derer, die nicht unter den Trümmern ihrer Wohnungen das Grab fanden, werden von Krankheiten dahingerafft. Weit von gefestigtem Vertrauen entfernt, zerstört die Empfindung des Unglücks unter den Bür­ gern gerade eben dieses Vertrauen noch mehr; das physische Elend verstärkt noch die bürgerlichen Zwiste, und derAnblick einer mit Blut und Tränen ge­ tränkten Erde kann den Furor der siegreichen Partei nicht besänftigen. Nach dem Bericht über soviel Elend kann ein Ruhepunkt bei tröstlicheren Erinnerungen der Phantasie nur erwünscht sein. Als man in den Vereinigten Staaten die große Katastrophe von Caracas erfuhr, beschloß der in Wa­ shington versammelte Kongreß einmütig die Entsendung von fünf mit Mehl beladenen Schiffen zur Verteilung an die ärmsten Einwohner nach den Kü­ sten Venezuelas. Die großmütige Hilfe wurde mit dem lebhaftesten Dank empfangen, und dieser feierliche Akt eines freien Volkes, dieses Zeichen einer nationalen Anteilnahme, deren die wachsende Zivilisation unseres alten Europa wenig neuere Beispiele bietet, erschien als ein Pfand gegensei­ tigen Wohlwollens, das die Völker der beidenAmerika für immer versöhnen soll.

Kapitel XV Abreise von Caracas- Berge von San Pedro und von Los Teques Victoria- Täler von Aragua Um auf dem kürzesten Wege von Caracas an die Ufer des Orinoco zu ge­ langen, hätten wir die südliche Bergkette zwischen Baruta, Salamanca und den Savannen von Ocumare übersteigen, die Steppen oder Llanos von Ori­ tuco durchqueren und uns in Cabruta in der Nähe der Mündung des Rio Guarico einschiffen müssen; dieser gerade Wegjedoch hätte uns des Vorteils beraubt, den schönsten und vorzüglich angebauten Teil der Provinz, die Täler von Aragua, zu sehen, das Nivellement eines interessanten Teils der Küstenkette mit dem Barometer aufzunehmen und den Rio Apure bis zu seiner Verbindung mit dem Orinoco hinabzufahren. Ein Reisender, der sich das Studium der Gestalt und der natürlichen Reichtümer eines Landes vor­ nimmt, läßt sich nicht von der Entfernung, wohl aber vom Interesse an den Gegenden bestimmen, die er besuchen will. Dies war der mächtige Beweg­ grund, der uns auf die Berge von Los Tequos, nach den heißen Quellen von Mariara, an die fruchtbaren Ufer des Valencia-Sees und durch die weit aus­ gedehnten Savannen von Calabozo nach San Fernando deApure, in den öst­ liehen Teil der Provinz Barinas geführt hat. Auf diesem Wege gelangten wir anfangs in westlicher Richtung auf demApure in den Orinoco, auf der Paral­ lele von 7a 36' 23".

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Weil auf einem Weg von 600 bis 700 Iieues die Längen durch das Zeitmaß von Caracas und von Cumana bestimmt worden sind, wurde unumgänglich notwendig, die Lage dieser beiden Städte genau und mittels absoluter Beob­ achtungen zu fixieren. Ich habe oben, im zehnten Kapitel, das Ergebnis der astronomischen Beobachtungen mitgeteilt, die im ersten Punkt der Abreise, in Cumana, angestellt wurden; was den zweiten Punkt, das nördlichste Ende von Caracas betrifft, so befindet es sich unter 10° 30' 50" Breite und 69° 25' 0" Länge. Die magnetische Deklination fand ich am 22. Januar 1800 außerhalb der Stadt, unfern vom Tor de la Pastora, 4° 38' 45" nordöstlich und am 30. Ja­ nuar, innerhalb der Stadt, im Universitätsgebäude, 4° 39' 15", demnach um

26' größer als in Cumana. Die Inklination der Magnetnadel war 42,90° (der hundertteiligen Skala). Die Zahl der Schwingungen, welche die Stärke der magnetischen Kraft bezeichnet, stieg in 10' zu Caracas auf 232; in Cumana auf 229. Diese Beobachtungen konnten nicht sehr vervielfältigt werden: Sie sind das Ergebnis dreimonatiger Arbeit. Am Tage unserer Abreise aus der seither von schrecklichen Erdbeben zer­ störten Hauptstadt von Venezuela nahmen wir unsere Nachtlager am Fuß der waldigen Berge, von denen das Tal südwestwärts geschlossen wird. Wir folgten dem rechten Ufer des Rfo Guaire bis zum Dorf Antimano auf einer sehr schönen und zum Teil in den Felsen gehauenen Straße. Man kommt durch La Vega und Carapa. Die Kirche von La Vega hebt sich ungemein ma­ lerisch von einer kleinen Hügelreihe ab, die mit dichtem Pflanzenwuchs be­ kleidet ist. Verstreute Häuser, die um die Dattelbäume stehen, scheinen den Wohlstand ihrer Bewohner zu verkünden. Eine Kette niedriger Berge trennt den kleinen Guaire-Fluß von dem in der Geschichte des Landes berühmten Tal de la Pascua sowie von den vormaligen Goldminen von Baruta und Ori­ poto. Beim Aufsteigen nach Carapa genießt man nochmals die Ansicht der Silla, die sich als eine gewaltige, zum Meer steil abfallende Kuppel darstellt. Dieser abgerundete Gipfel und der einer Mauer gleich gekerbte Kamm des Galipano sind in diesem aus Gneis und Glimmerschiefer gebildeten Becken die einzigen Formen, welche der Landschaft Eigentümlichkeit gewähren. Die übrigen Bergspitzen haben eine traurig einförmige Gestaltung. Kurz vor der Ankunft im Dorf Antimano stößt man rechts auf eine sehr merkwürdige geologische Erscheinung. Wegen eines neuen, in den Felsen gehauenen Weges wurden zwei mächtige Gneisgänge im Glimmerschiefer freigelegt. Sie sind fast senkrecht, durchschneiden alle Schichten des Glim­ merschiefers und sind 6 bis 8 Toisen mächtig. Diese Gänge enthalten nicht Bruchstücke, sondern Kugeln von körnigem Diabas mit konzentrischen Schichten. Diese Kugeln bestehen aus einer innigen Mischung von Horn­ blende und blättrigem Feldspat. Diese nähert sich einige Male dem glasigen Feldspat, wenn er in sehr dünnen Blättern in einer Masse von zersetztem und einen starken Tongeruch ausströmendem körnigem Diabas verstreut

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ist. Der Durchmesser der Kugeln ist sehr ungleich und beträgt bald nicht über 4 bis 8 Zoll, bald vergrößert er sich auf 3 bis 4 Fuß; ihr Kern ist dichter, ohne konzentrische Schichten und von schwärzlichem Flaschengrün. Ich fand keinen Glimmer darin, hingegen, was sehr merkwürdig ist, viel zer­ streuten Granat. Dieser Granat, von schönem Rot, kommt nur im Grün­ stein vor und weder im Gneis, der den Zement der Kugeln bildet, noch in dem Glimmerschiefer, den die Gänge durchziehen. Der Gneis, dessen Be­ standteile sich in einem Zustand von beträchtlicher Auflösung des Zusam­ menhanges befinden, enthält große Feldspatkristalle; und obgleich er die Gangmasse im Glimmerschiefer bildet, wird er selbst doch von Quarzadern durchzogen, die zwei Zoll mächtig und von einer ganz neuen Formation sind. Der Anblick dieser Erscheinung hat etwas Seltsames. Man möchte sagen, Kanonenkugeln seien in einer Felsenmauer eingesät worden. Ich glaubte in derselben Gegend, in der Montafia de Avila und am Kap Blanco, auf der Ostseite von Guaira, einen körnigen Diabas, mit etwas Quarz und Pyrit vermengt, aber ohne Granat, nicht in Gängen, sondern in untergeord­ neten Bänken im Glimmerschiefer erkannt zu haben. Diese Lagerung kommt unzweifelhaft auch in Buropa in Urgebirgen vor; aber im allge­ meinen ist der körnige Diabas häufiger an das System des Übergangsge­ birges, insbesondere an den Übergangstonschiefer gebunden, der in Schichten von stark kohlenhaitigern Lydischem Stein, von Kiesel-Alaun­ schiefer und schwarzem Kalkstein in Menge vorkommt. In der Nähe von Antimano standen alle Obstgärten voll blühender Pfir­ sichbäume. Dieses Dorf sowie das Tal und die Ufer des Macarao liefern dem Markt von Caracas Pfirsiche, Quitten und andere europäische Früchte im Überftuß. Zwischen Antimano und Las Ajuntas muß man siebzehnmal über den Rio Guaire setzen. Der Weg ist sehr beschwerlich; doch statt der Anlage einer neue Straße würde man besser das Bett des Flusses verlegen, der in­ folge der kombinierten Wirkung der Infiltration und der Verdunstung viel Wasser verliert. Jede Krümmung bildet eine mehr oder weniger ausge­ dehnte Lache. Dieser Verlust muß bedauerlich sein in einer Provinz, deren angebauter Boden überall, mit Ausnahme der zwischen dem Meer und der Küstenkette von Mariara und Niguatar gelegenen Landschaft, überaus trocken ist. Die Regenniederschläge sind dort viel seltener und unbedeu­ tender als im Inneren Neu-Andalusiens, in Cumanacao und an den Ge­ staden des Guarapiche. Zwar stiegen manche Berge von Caracas in die Wol­ kenregion empor; aber die Schichten des Urgebirges sind unter einem Winkel von 70 bis 80° geneigt und fallen großenteils in nordwestliche Rich­ tungen ein, so daß sich das Wasser entweder im Inneren des Bodens verliert oder in reichlichen Quellen nicht auf der Süd-, sondern auf der Nordseite der Küstenberge von Niguatar, Avila und Mariara zutage kommt. Die Erhe­ bung der Gneis- und Glimmerschieferschichten im Süden scheint mir gro-

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Benteils die extreme Feuchtigkeit des Küstenlandes zu erklären. Im Inneren der Provinz finden sich Gegenden von zwei bis drei Quadratlieues Umfang ohne Quellen. Das Zuckerrohr, der Indigo und der Kaffeebaum können nur da gedeihen, wo sich laufendes Wasser findet, das während der großen Trok­ kenheit zu künstlicher Bewässerung gebraucht werden kann. Die ersten Ko­ lonisten haben sehr unklugerweise die Wälder zerstört. Die Verdunstung ist extrem auf einem steinigen Boden, der von Felsen umgeben ist, die überall Wärme zurückstrahlen. Die Küstenberge gleichen einer Mauer, die sich von Osten nach Westen, von Kap Codera gegen die Tucacas-Spitze ausdehnt; sie halten die feuchte Luft der Küste, die unteren Schichten der Atmosphäre, die unmittelbar dem Meer aufliegen und die größte Menge Wasser gelöst enthalten, vom Eindringen in das Innere ab. Es finden sich nur wenige Lücken und Schluchten, die wie die Bresche von Catia oder Tipe vom Kü­ stenland nach den hochgelegenen Längstälern führen. Kein großes Flußbett und kein Golf erlaubt dem Wasser des Ozeans, sich in das Land einzu­ buchten und dort Feuchtigkeit mittels reichlicher Verdunstung zu spenden. Zwischen dem 8. und 10. Breitengrad lassen viele Bäume im Januar und Februar in den Regionen, wo die Wolken den Boden nicht streifen, Laub fallen, gewiß nicht wegen der kälteren Temperatur wie in Europa, sondern weil in dieser von der Regenzeit entferntesten Jahreszeit die Luft nahe dem Maximum ihrer Trockenheit ist. Einzig die Pflanzen mit glänzenden und überaus zähen Blättern können diesem Mangel an Feuchtigkeit wider­ stehen. Den Reisenden befremdet der Anblick einer fast winterlichen Land­ schaft unter dem schönen Himmel der Tropenländer; sobald man die Ufer des Orinoco erreicht hat, erscheint aber auch wieder das frischeste Grün. Ein anderes Klima herrscht hier, und die großen Wälder erhalten durch ihren eigenen Schatten dem Erdboden einen gewissen Grad von Feuchtig­ keit und schützen ihn gegen die verzehrende Sonnenhitze. Jenseits des kleinen Dorfes Antimano verengt sich das Tal beträchtlich. Der Fluß wird von Lata, einer schönen Graminee mit zweizeiligen Blättern, eingefaßt, die bis zu 30 Fuß Höhe erreicht, die wir unter den Namen Gyne­ rium [G.

saccharoides] beschrieben haben. Um jede Hütte stehen gewaltige [Laurus persea, Avocayer], an deren FußAristolochien,

Stämme der Persea

Paullinien und noch viele andere Kletterpflanzen wachsen. Die waldbe­ deckten benachbarten Gebirge schienen an diesem nördlichen Ende des Tals von Caracas Feuchtigkeit zu verbreiten. Die Nacht vor unserer Ankunft in Las Ajuntas brachten wir in einer Zuckerpflanzung zu. Ein viereckiges Haus bewohnten rund 80 Neger; sie lagen auf Ochsenhäuten, die auf dem Boden ausgebreitet waren; in jedem Zimmer des Hauses gab es vier Sklaven und das Innere glich einer Kaserne. Im Hof der Hacienda brannte ein Dutzend Feuer, an denen gekocht wurde. Die lärmende Fröhlichkeit der Schwarzen fiel uns erneut auf, wir hatten Mühe einzuschlafen. Der bewölkte Himmel

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verhinderte Sternbeobachtungen. Der Mond schien nur von Zeit zu Zeit. Der Anblick der Landschaft war traurig und einförmig und alle umste­ henden Hügel von Maguey bedeckt. Man arbeitete an einem kleinen Ablei­ tungskanal, welcher der Hacienda in 70 Fuß Höhe das Wasser des Rio San Pedro zuführen sollte. Nach einer barometrischen Beobachtung liegt der Boden der Hacienda nur 50 Toisen über dem Bett des Rio Guaire bei La Noria nahe Caracas. Man fand den Boden dieser Gegenden wenig günstig für die Kultur des Kaffeebaums, der überhaupt im Tal von Caracas einen geringeren Ertrag gibt, als man anfangs, zur Zeit seiner ersten Pflanzungen in der Nähe von Chacao, geglaubt hatte. Um sich einen allgemeinen Begriff von der Wichtig­ keit dieses Handelszweiges zu machen, muß man sich erinnern, daß die ganze Provinz Caracas im Zeitraum ihres größten Wohlstands vor den Revo­ lutionskriegen von 1812 bereits 50000 bis 60 000 Zentner Kaffee erzeugt hat. Dieser den vereinten Ernten von Guadeloupe und Martinique fast gleich­ kommende Ertrag muß um so beträchtlicher erscheinen, wenn man weiß, daß erst seit 1784 ein achtungswerter Bürger, Don Bartolomeo Blandfn, die Einführung dieses Kulturzweigs an den Küsten der Tierra Firme versucht hatte. Weil Herr de Pons in seiner statistischen Beschreibung des Generalka­ pitanats von Venezuela über den Zustand des Handels und der Landwirt­ schaft nur bis zum Jahr 1804 Nachrichten geben konnte, dürfte es angenehm sein, hier einige neuere und ebenso zuverlässige Angaben zu finden. Die schönsten Kaffeepflanzungen befinden sich gegenwärtig in der Savanne von Ocumare, in der Nachbarschaft von Salamanca, und in Rinc6n sowie in den Berggegenden von Los Mariches, San Antonio Hatillo und Los Budares. Der in den drei letzten Orten gezogene Kaffee ist von vorzüglicher Güte; hingegen ist der Ertrag der Sträucher geringer, was man der Höhe des Orts und dem kühlen Klima zuschreibt. Die großen Pflanzungen in der Provinz Venezuela, wie Aguacates in der Nähe von Valencia und Rinc6n, können in guten Jahren Ernten von 3000 Zentnern liefern. 1796 betrug noch die Ge­ samtausfuhr der Provinz nicht mehr als 4800 Zentner, 1804 war sie auf 10 000 gestiegen, und doch hatte sie bereits seit 1798 begonnen. Die Preise be­ trugen abwechselnd 6 bis 18 Piaster pro Zentner. In Havanna hat man sie bis auf 3 Piaster sinken sehen; es lagen aber auch in dieser, für die Kolonisten höchst verderblichen Zeit, in den Jahren 1810 und 1812, über 2000000 Zentner Kaffee (im Wert von 10000000 Pfund Sterling) in den Vorratskam­ mern Englands angehäuft. Die große Vorliebe, die in dieser Provinz für die Kaffeepflanzung vor­ handen ist, gründet sich zum Teil auf den Umstand, daß die Körner sich viele Jahre aufbewahren lassen, während trotz aller angewandten Sorgfalt Cacao nach zehn Monaten oder einem Jahr in den Magazinen zugrunde geht. Wäh­ rend der lang andauernden Kriege der europäischen Mächte, zu einer Zeit,

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wo der Mutterstaat zu schwach war, um den Handel der Kolonien zu schützen, mußte sich der Arbeitsfleiß vorzugsweise einem Erzeugnis zu­ wenden, dessen Absatz weniger Eile hatte und demnach günstigere politi­ sche sowohl als Handelsverhältnisse abwarten konnte. In den Kaffeepflan­ zungen von Caracas sah ich, daß für die Anpflanzungen seltener die zufällig unter den Sträuchern gekeimten jungen Pflanzen gesammelt wurden, hin­ gegen mehr die von der Beere zwar getrennten, aber doch einem Teil ihres Fleisches noch anhängenden Körner fünf Tage zwischen angehäufte Ba­ nanenblätter gelegt und zum Keimen gebracht wurden. Diese keimenden Samen werden hernach in die Erde gelegt; sie liefern Pflänzchen, die der Sonnenhitze besser widerstehen können als die in der Kaffeepflanzung selbst und im Schatten aufgewachsenen. Es werden hierzulande meist 5300 Stück im Umfang einer fanega, welche 5476 Quadrat-Toisen hat, gepflanzt. Wenn ein solches Stück Land zur künstlichen Bewässerung tauglich ist, ko­ stet es im nördlichen Teil der Provinz 500 Piaster. Der Kaffeebaum blüht erst im zweiten Jahr, und seine Blüte dauert nicht über 24 Stunden. Während dieser Zeit gewährt der Strauch einen überaus schönen Anblick. Von ferne betrachtet, sieht er wie mit Schnee bedeckt aus. Die Ernte des dritten Jahres ist schon sehr ansehnlich. In sorgfältig gejäteten und gut bewässerten Pflan­ zungen, in frisch umbrochenem Boden trifft man erwachsene Bäume an, die bis 16, 18 und selbst 20 Pfund Kaffee geben. Im Durchschnitt aber kann man nicht mehr als anderthalb bis zwei Pfund von jeder Pflanze auf eine Ernte rechnen, was bereits ein günstigerer Durchschnittsertrag ist als der auf den Antillen. Der Regen, wenn er zur Blütezeit fällt, der Mangel an Wasser für die künstliche Bewässerung und eine Schmarotzerpflanze, die eine neue Art des Loranthus ist und sich um die Äste schlingt, werden den Kaffeepflan­ zungen sehr schädlich. Wenn man in Pflanzungen von 80 000 und von 100 000 Sträuchern die ungeheure Masse organischer Substanz betrachtet, die in der fleischigen Beere des Kaffeebaums enthalten ist, erstaunt man, daß man nie­ mals versucht, Alkohol daraus zu gewinnen. Wenn die Unruhen von Santo Domingo, die augenblickliche Teuerung der Kolonialwaren und die Auswanderung der französischen Pflanzer die ersten Ursachen der Anlegung von Kaffeepflanzungen auf dem amerikanischen Kontinent, auf der Insel Cuba und auf Jamaica gewesen sind, hat doch dieser Ertrag nicht das Defizit der Ausfuhr der französischen Antillen kom­ pensiert. Er hat sich relativ zu der Bevölkerung, der veränderten Lebensart und dem steigenden Luxus der europäischen Völker vergrößert. Die Insel Santo Domingo hatte zu Herrn Neckers Zeit, im Jahr 1780 , eine Ausfuhr von nahezu 76000 000 Pfund Kaffee. Die Ausfuhr im Jahr 1812 und in den drei vorhergehenden Jahren betrug nach den Angaben des Herrn Colquhoun noch 36000000. Die weniger beschwerliche und weniger kostspielige Kultur des Kaffeebaums hat seit Einführung der Herrschaft der Schwarzen weniger

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gelitten als der Anbau des Zuckerrohrs. Das Defizit von 40 000 000 Pfund aber ist gegenwärtig ersetzt durch 26500 000 Pfund Ertrag von Jamaica; 20 000 000 Pfund Ertrag von Cuba; 1 1 400000 Pfund Ertrag von Surinam, Demerary, Berbice und Cura�ao; 6000000 Pfund Ertrag V enezuelas; 13 000 000 Pfund Ertrag der Insel Java 75900000 Pfund Die Gesamteinfuhr des amerikanischen Kaffees in Buropa übersteigt ge­ genwärtig 106000 000 Pfund französischen Marktgewichts. Rechnet man dazu noch 4 000 000 bis 5000000 von der Ile de France und der Insel Bourbon, nebst 30 000 000 aus Arabien und Java, findet man, daß der euro­ päische Gesamtverbrauch 1817 fast 140000 000 Pfund erreicht hat. In den Untersuchungen, die ich 1810 über die Kolonialwaren anstellte, blieb ich bei einer kleineren Summe stehen. Dieser ungeheure Kaffeeverbrauch hat dem des Tees keine Einbuße gebracht, zumal die Ausfuhr von diesem aus China in den 15 letzten Jahren um mehr als ein Viertel gestiegen ist. Tee könnte so gut wie Kaffee im bergigen Teil der Provinzen von Caracas und Cumana an­ gebaut werden. Es finden sich dort alle Klimate gleich Stockwerken überein­ andergeschichtet, und dieser neue Kulturzweig würde dort ebenso gut ge­ deihen wie in der südlichen Halbkugel, wo die brasilianische Regierung, die Arbeitsfleiß und religiöser Duldung großzügigen Schutz leiht, gleichzeitig den Tee, die Chinesen und die Glaubenslehren des Fo einwandern ließ. Noch sind nicht 100 Jahre verflossen, seit die ersten Kaffeebäume in Surinam und auf den Antillen gepflanzt wurden, und bereits steigt der Ertrag der amerikanischen Ernten zum Werte von 15000000 Piaster an, wenn der Zentner Kaffee auch nur zu 14 Piaster gerechnet wird. Am 8.Februar [1800], bei Sonnenaufgang, machten wir uns auf den Weg zur Überquerung des Higuerote, einer Gruppe hoher Berge, welche die zwei Längstäler von Caracas und Aragua voneinander trennen. Nachdem wir nahe bei Las Ajuntas die Vereinigung der Flüßchen San Pedro und Ma­ carao, die den Rio Guaire bilden, überschritten hatten, erstiegen wir einen steilen Abhang, der zum Plateau von Buena Vista führt. Man trifft hier einige vereinzelte Häuser an. Die Aussicht weitet sich nordöstlich über die Stadt Caracas und südlich über das Dorf Los Teques aus. Die Landschaft ist wild und sehr waldig. Die Pflanzen des Tales von Caracas waren allmählich verschwunden. Wir befanden uns 835 Toisen über dem Meer. Es ist dies fast die Höhe von Popayan, aber die mittlere Temperatur des Orts beträgt wahr­ scheinlich nur 17 bis 18°. Die Passage über diese Berge wird häufig benutzt; man begegnet unaufhörlich langen Zügen von Maultieren und Ochsen; das ist die Landstraße, die aus der Hauptstadt nach Victoria und in die Täler von Aragua führt. Der Weg ist in einen talkigen und verwitterten Gneis einge-

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schnitten. Eine mit Glimmerblättchen vermischte Tonerde bedeckt den Fels drei Fuß hoch. Im Winter leidet man unter dem Staub, während in der Re­ genzeit das Land zum Sumpf wird. Beim Hinabsteigen vom Plateau von Buena Vista findet sich etwa 50 Toisen tiefer südostwärts eine wasserreiche Quelle, die aus dem Gneis hervorkommt und mehrere von dichtestem Pflan­ zenwuchs eingefaßte Kaskaden bildet. Der Fußweg, welcher zur Quelle führt, ist so steil, daß man die Spitze der Baumfarne, deren Stamm über 25 Fuß hoch ist, mit der Hand erreichen kann. Die umstehenden Felsen sind mit Jungermannia und Mosen aus der Hypnum-Familie überzogen. Der von der Quelle gebildete und von der Heliconia beschattete Bergstrom entblößt in seinem Sturz die Wurzeln von Plumeria, Cupey, Brownea und

gantea.

Ficus gi­

Diese feuchte und von Schlangen unsicher gemachte Gegend bietet

den Botanikern die reichsten Ernten dar. Brownea, von den Einwohnern Rosa del Monte oder Palo de Cruz genannt, trägt bis 400 oder 500 Purpur­ blüten in einem einzigen Strauß. Jede Blüte hat sehr beständig elf Staub­ fäden. Das prachtvolle Gewächs, dessen Stamm die Höhe von 50 bis 60 Fuß erreicht, wird selten, weil sein Holz eine sehr gesuchte Kohle liefert. Der Boden ist mit Ananas, Hemimeris, Polygalas und Melastomen überzogen. Eine kletternde Graminee [ Carice] vereinigt mit leichten Gewinden Bäume, deren Vorkommen das sehr kühle Klima dieser Berge bezeugt. Darunter sind

Aralia capitata, Vismia caparosa

und

diesen der schönen Region der Baumfarne

Clethra fagifolia. Mitten unter (region de los helechos) eigen­

tümlichen Gewächsen erheben sich an lichten Stellen einige Palmbäume und einzelne Gruppen des Guarumo oder der silberblättrigen Cecropia, deren dünne Stämme gegen die Spitze zu schwarz und wie durch den Sauer­ stoff der Atmosphäre verbrannt aussehen. Es ist ein befremdlicher Anblick, daß ein derart schöner Baum, der die Gestalt der T heophrasta und Palm­ bäume hat, gewöhnlich nur acht bis zehn Kronblätter trägt. Die Ameisen, die im Stamm des Guarumo oder Jarumo nisten und seine inneren Gefache zerstören, scheinen sein Wachstum zu hemmen. Wir hatten schon früher auf diesen gemäßigten Bergen des Higuerote herborisiert, im Dezember näm­ lich und in Begleitung des Generalkapitäns, des Herrn de Guevara, bei einer Exkursion, die er mit dem Intendanten der Provinz nach den Valles de Aragua unternahm. Damals entdeckte Herr Bonpland im dichtesten Teil des Waldes einige Stämme des Aguatire, dessen durch seine schöne rote Farbe berühmtes Holz einst ein Ausfuhrartikel nach Europa werden kann. Es ist die

Sickingia erythroxylon,

welche die Herren Bredemeyer und Willdenow

beschrieben haben. Im Hinuntersteigen auf der Südwestseite des mit Wald bedeckten Higue­ rote kommt man zu dem Dorf San Pedro, das in einem Becken liegt, in dem sich mehrere Täler vereinen und das fast 300 Toisen niedriger ist als das Pla­ teau Buena Vista. Man baut zugleich die Banane, Kartoffeln und Kaffee an.

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Das Dorf ist sehr klein, und der Kirchenbau war noch nicht vollendet. In einem Gasthof

(pulperia) trafen wir mehrere, bei dem Tabakpachthof ange­

stellte spanische Europäer. Ihre Stimmung war von der unsrigen sehr ver­ schieden. Von der Reise ermüdet, ergossen sie sich in Klagen und Verwün­ schungen über das unselige Land

(estas tierras infelices),

worin sie zu leben

gezwungen seien. Wir hingegen konnten das Rühmen der wilden Schönheit der Gegend, des fruchtbaren Bodens und des milden Klimas nicht lassen. In der Nähe von San Pedro geht der talkartige Gneis von Buena Vista in einen Glimmerschiefer über, worin sehr viel Granat vorkommt und der unterge­ ordnete Serpentinlager enthält. Diese Lagerung gleicht der von Zöblitz in Sachsen. Der Serpentinstein, der sehr rein und von einer schönen grünen Farbe ist, scheint öfters nur dem Glimmerschiefer aufzuliegen. Ich fand einigen Granat darin, aber keinen körnigen Strahlstein. Das Tal von San Pedro, worin der gleichnamige Fluß strömt, teilt zwei große Gebirgsmassen, die von Higuerote und Las Cocuyzas. Westwärts stiegen wir durch die kleinen Höfe von Las Lagunetas und Garavatos wieder bergan. Es sind dies nur einige einzelne Häuser, die als Herbergen dienen; die Maultiertreiber finden hier ihr Lieblingsgetränk, den

guarapo

oder den

Gärungssaft des Zuckerrohrs. Die Indianer, welche diese Straße besuchen, sind dem Trunk besonders ergeben. Nahe Garavatos findet sich ein Glim­ merschieferfels von bizarrer Form; es ist ein Kamm oder eine steile Wand, auf der zuoberst ein Turm steht. Wir öffneten das Barometer auf der Spitze des Berges Las Cocuyzas und fanden, daß wir uns fast auf der gleichen Höhe wie auf dem Plateau von Buena Vista oder doch kaum 10 Toisen höher be­ fanden. Man genießt in Las Lagunetas eine sehr weite, aber ziemlich einförmige Fernsicht. Die bergige, unbebaute Landschaft zwischen den Quellen des Guaire und des Tuy umfaßt mehr als 25 Quadratlieues. Es befindet sich darin nur ein einziges, sehr elendes Dorf, Los Teques genannt, südostwärts von San Pedro. Der Boden ist wie gefurcht von einer Menge Täler, von denen die kleinsten einander parallellaufen und rechtwinklig in den breitesten Tälern enden. Die Gipfel der Berge sehen ebenso einförmig aus wie die Schluch­ ten. Man sieht weder pyramidalische Gestaltungen noch Auszackungen, noch steile Bergwände. Ich vermute, daß die meist sanfte und wellenför­ mige Bewegung dieses Terrains weniger ein Ergebnis der Beschaffenheit der Gesteine, zum Beispiel der Verwitterung des Gneises, ist als vielmehr des langen Aufenthalts der Gewässer und der Kraft ihrer Strömungen. Die Kalk­ berge von Cumana zeigen nördlich vom Tumiriquiri eine gleichartige Ge­ stalt. Von Las Lagunetas stiegen wir ins Tal des Rfo Tuy hinab. Dieser nördliche Abhang der Berggruppe von Los Teques führt den Namen Las Cocuyzas; er ist mit zwei agaveblättrigen Pflanzen bewachsen, dem Maguey de Cocuyza

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und dem Maguey de Cocuy. Der letztere gehört der Gattung Yucca an; aus seinem Zuckerhaitigen Gärungssaft wird mittels Destillierung Branntwein bereitet; ich sah, wie die jungen Blätter als Speise genossen wurden, aus den reifen Blättern werden überaus zähe Seile verfertigt. Wenn man die Berge von Higuerote und LosTeques verläßt, kommt man in ein reich angebautes Land mit Weilern und Dörfern, deren mehrere in Europa Städte heißen würden. In einer Entfernung von zwölf Iieues findet man von Osten nach We­ sten la Victoria, San Mateo,Turmero und Maracay, die zusammen mehr als 28000 Einwohner haben. Die Ebenen vonTuy können als das östliche Ende derTäler vonAragua angesehen werden, die sich von Güigüe, an den Ufern des Valencia-Sees, bis an den Fuß von Las Cocuy zas ausdehnen. Das baro­ metrische Nivellement hat mir 295 Toisen als absolute Höhe des Valle del Tuy nahe beim Hof von Manterola und 222 Toisen für die Wasserfläche des Sees gegeben. Der RioTuy, der in den Bergen von Las Cocuy zas entspringt, nimmt anfangs seinen Lauf westwärts, nachher wendet er sich nach Süden und Osten, zieht längs der hohen Savannen von Ocumare hin, empfängt die Gewässer desTals von Caracas und mündet unter dem Wind von Kap Co­ dera. Es ist der kleine, westwärts gerichteteTeil seines Beckens, der, geolo­ gisch gesprochen, denTälern vonAragua zugerechnet werden könnte, wenn die aus Kalktuff bestehenden Hügel, die zwischen Cansejo und Victoria den Zusammenhang dieserTäler trennen, nicht einige Beachtung verdienten. Wir erinnern hier nochmals daran, daß die Berggruppe von LosTeques, die 850 Toisen Höhe hat, zwei Längstäler voneinander trennt, die in Granit, Gneis und Glimmerschiefer eingetieft sind, und daß das östlicheTal, worin die Hauptstadt Caracas liegt, 200Toisen höher liegt als das westliche, das als der Mittelpunkt der Landwirtschaft betrachtet werden kann. Da wir seit geraumer Zeit an eine gemäßigteTemperatur gewöhnt waren, fanden wir die Ebenen vonTuy außerordentlich heiß. Dennoch stieg das T hermometer amTag, zwischen 11 Uhr morgens und 5 Uhr abends, nicht über23 und24°. Die Nächte waren frisch, da dieTemperatur der Luftbis auf 17,SO sank. In dem Maß, wie sich dieTemperatur verminderte, schien die Luft von den Wohlgerüchen der Pflanzen erfüllt zu werden. Wir unter­ schieden zunächst die köstlichen Aroma der Lirio hermoso, einer neuen Pancratiumart [undulatum], deren Blüte8 bis9 Zoll lang ist und welche die Ufer des RioTuy schmückt. Wir brachten zweiTage sehr angenehm in der Pflanzung des Don Jose de Manterola zu, der in seiner Jugend bei der spani­ schen Gesandtschaft in Rußland angestellt gewesen war. Als Zögling und Günstling des Herrn de Xavedra, eines der einsichtigsten Intendanten von Caracas, wollte er sich, nachdem dieser berühmte Mann in das Ministerium gelangt war, nach Europa einschiffen. Der Gouverneur der Provinz, der den Einfluß des Herrn de Manterola fürchtete, ließ ihn im Hafen arretieren, und als der Befehl des Hofes, der die willkürliche Verhaftung aufhob, eintraf,

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stand der Minister bereits nicht mehr in der Gunst. Auf 1500 Iieues Entfer­ nung von den Küsten Äquinoktial-Amerikas ist es nicht leicht, zu rechter Zeit einzutreffen, um von der Macht eines Mannes vor Ort zu profitieren. Der Hof, in dem wir uns aufhielten, war eine schöne Zuckerrohrpflan­ zung. Ihr Boden ist eben wie der Grund eines ausgetrockneten Sees. Der Rio Tuy schlängelt sich durch einen Landstrich, der mit Bananenbäumen und einem Wäldchen aus Hura crepitans, Erythrina corallodendron und dem nymphäablättrigen Feigenbaum bewachsen ist. Das Flußbett besteht aus Quarzkies. Ich kenne keine angenehmeren Bäder als die im Tuyfluß. Das kristallklare Wasser behält auch den Tag über die Temperatur von 18,6°. Für dieses Klima und für eine Höhe von 300 Toisen ist dies eine beträchtliche Kühle; aber die Quellen des Flusses finden sich in den benachbarten Bergen. Die auf einem 15 bis 20 Toisen hohen Hügel stehende Wohnung des Guts­ herrn ist von Hütten der Neger umgeben; die Verheirateten unter ihnen sorgen selbst für ihre Nahrung. Man überläßt ihnen hier wie überall in den Tälern vonAragua ein kleines Stück Pflanzland, welches sie am Samstag und Sonntag, ihren einzigen freien Wochentagen, bearbeiten. Sie ziehen Hühner auf und manchmal sogar ein Schwein. Der Gebieter rühmt ihr Glück, wie im nördlichen Buropa die Grundherren gern den Wohlstand der leibeigenen Bauern rühmen. Am Tage unserer Ankunft sahen wir, daß drei flüchtige Neger zurückgebracht wurden; es waren kürzlich gekaufte Sklaven. Ich fürchtete, Zeuge einer dieser Bestrafungen zu werden, die überall, wo Sklaverei herrscht, das Landleben widerwärtig machen; glücklicherweise wurden die Schwarzen menschlich behandelt. In dieser wie in allen anderen Pflanzungen der Provinz Venezuela unter­ scheidet man von fernher an der Farbe der Blätter die dreiArten des Zucker­ rohrs, die angebaut werden: das alte kreolische Zuckerrohr, das von Ota­ heiti [Tahiti] und das von Batavia. Die erstereArt hat Blätter von dunklerem Grün, einen dünneren Stenge! und näher beisammenstehende Knoten. Es ist das Zuckerrohr, das aus Indien zuerst in Sizilien, auf den Canarischen In­ seln und auf den Antillen eingeführt wurde. Die zweite Art unterscheidet sich durch ein helleres Grün. Ihr Stenge! ist höher, dicker und saftiger. Die ganze Pflanze zeigt ein üppiges Wachstum. Man verdankt sie den Reisen von Bougainville, Cook und Bligh. Bougainville brachte sie nach Ile de France [Mauritius], von wo sie auf Cayenne und Martinique, seit 1792 auch auf die übrigen Antillen verpflanzt wurde. Das Zuckerrohr von Otaheiti, das To der Insulaner, ist eine der wichtigsten Erwerbungen, welche die Landwirtschaft der Kolonien seit einem Jahrhundert den Reisen der Naturforscher ver­ dankt. Nicht nur liefert es auf gleichem Areal ein Drittel vezou [Saft des Zuckerrohrs. Anmerkung des Hrsg.] mehr als das kreolische Zuckerrohr; dank seines dicken Stengels und seiner zähen Holzfasern ergibt es auch un­ gleich mehr Brennstoff. Dieser letzte Umstand ist für die Antillen-Inseln

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sehr wichtig, weil die Zerstörung der Wälder die Pflanzer längst nötigte, sich des Tresters als Feuerung unter dem Siedekessel zu bedienen. Ohne die Kenntnis dieser neuen Pflanze, die Fortschritte der Landwirtschaft auf dem Festland des spanischen Amerika und die Einführung des indischen und Java-Zuckers würden die Revolutionen von Santo Domingo und die Zerstö­ rung der großen Zuckerpflanzungen dieser Insel einen noch weit bedeuten­ deren Einfluß auf den Preis der Kolonialwaren in Buropa gehabt haben. Das Zuckerrohr von Otaheiti wurde von der Insel Trinidad nach Caracas ge­ bracht. Von Caracas ging es nach Cucuta und San Gil im Königreich Neu­ Granada über. Heutzutage hat ein 25jähriger Anbau die anfangs gehegte Furcht fast ganz zerstreut, es könnte, nach Amerika verpflanzt, allmählich ausarten und so dünn wie das creolische Zuckerrohr werden. Wenn es eine Abart ist, so ist es doch eine sehr beständige. Die dritte Art, das violette Zuk­ kerrohr, welches Caiia de Batavia oder de Guinea genannt wird, ist gewiß auf der Insel Java einheimisch, wo es besonders in den Bezirken von Japara und Pasuruan angebaut wird. Seine purpurfarbeneo Blätter sind sehr breit; in der Provinz Caracas gibt man ihm für die Rumbereitung den Vorzug. Die

tablones oder mit Zuckerrohr bepflanzten Felder werden von Hecken einer kolossalen Grasart (des Latta oder Gynerium) mit zweireihigen Blättern ge­ trennt. In Tuy war man mit der Beendigung eines Dammbaus beschäftigt, um einen Bewässerungskanal herzuleiten. Diese Unternehmung hatte den Eigentümer 7000 Piaster an Baukosten und 4000 Piaster an Prozeßauslagen mit den Nachbarn gekostet. Während sich die Advokaten um einen erst noch halb beendigten Kanal stritten, fing Herr de Manterola sogar die Ausführ­ barkeit des Projektes zu bezweifeln an. Ich nahm das Nivellement des Bo­ dens mit dem auf einen künstlichen Horizont gebrachten Probeglas vor und fand, daß der Damm um 8 Fuß zu niedrig angelegt war. Wieviel Geld sah ich in den spanischen Kolonien unnütz verschwendet für Bauanlagen, die auf irrige Nivellements berechnet waren! Das Tal von Tuy hat "seine Goldmine" wie fast jeder von Weißen be­ wohnte und an das Urgebirge stoßende Ort in Amerika. Fremde Goldwä­ scher, erzählte man, hätten im Jahr 1780 in der Goldschlucht Goldkörner ge­ sammelt und eine Goldwäsche etabliert. Der Verwalter (oder Majordomus) einer benachbarten Pflanzung hatte diese Spuren verfolgt; man fand in seinem Nachlaß ein Kamisol, ein Wams mit Goldknöpfen, und der Logik des Volks zufolge konnte dieses Gold nur aus einem Erzgang stammen, dessen Aufschluß durch eingestürztes Erdreich verschüttet worden war. Ich mochte noch so sehr dagegenhalten, daß die bloße Ansicht des Bodens ohne einen tiefen Stollen in der Richtung des Ganges mir es kaum möglich mache, über das Vorhandensein des Metalles zu urteilen. Ich mußte mich dem Ansinnen meiner Hauswirte fügen. Seit zwanzig Jahren war das Kamisol des Major­ domus ein Gegenstand aller Gespräche des Kantons gewesen. Das dem

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Schoß der Erde enthobene Gold besitzt in den Augen des Volks einen viel höheren Reiz als das, welches Ergebnis des durch Fruchtbarkeit des Bodens und Milde des Klimas begünstigten landwirtschaftlichen Fleißes ist. Nordwestlich von der Hacienda del Tuy, in der nördlichen Reihe der Kü­ stenkette, öffnet sich eine tiefe Schlucht. Man nennt sie Quebrada seca, weil der Bergstrom, welcher ihr das Dasein gab, sein Wasser in den Felsspalten verliert, noch ehe er das Ende der Schlucht erreicht. Dieses ganze Bergland ist mit dichtem Pflanzenwuchs bedeckt. Wir fanden hier das gleiche Grün wieder, dessen Frische uns in den Bergen von Buena Vista und Las Luge­ natas, überall, wo sich der Boden bis in die Nebelregion erhebt und wo die dem Meer entsteigenden Dünste freien Zutritt finden, erfreut hatte. In den Ebenen hingegen lassen viele Bäume, wie schon oben bemerkt wurde, einen Teil ihres Laubs im Winter fallen, und sobald man ins Tal von Tuy hinab­ steigt, ist man über das fast winterliche Aussehen des Landes betroffen. Die Trockenheit der Luft ist so groß, daß Delucs Hy grometerTag und Nacht zwi­ schen 36 und 40° zeigt. In einiger Entfernung vom Fluß sieht man nur selten einige Hura oder baumartige Piper, die ein dürres Gebüsch beschatten. Diese Erscheinung ist ohne Zweifel eine Folge der Trockenheit der Luft, die im Februar ihr Maximum erreicht, und keineswegs, wie die europäischen Kolonisten meinen, "des Wechsels der Jahreszeiten in Spanien, deren Wir­ kungen sich bis in die heiße Zone ausdehnen". Nur die aus einer Halbkugel in die andere verpflanzten Gewächse bleiben in ihren organischen Funk­ tionen, in der Entwicklung ihrer Blätter und Blumen, mit einem entfernten Klima gleichsam verbunden, indem sie, ihren Gewohnheiten treu, während langer Zeit die periodischen Wechsel beibehalten. In der Provinz Venezuela fangen die Bäume, welche ihr Laub verlieren, fast einen Monat vor dem Ein­ tritt der Regenzeit zu treiben an. Wahrscheinlich ist um diese Zeit das elek­ trische Gleichgewicht der Luft bereits gebrochen, und die Atmosphäre, ob­ gleich noch wolkenlos, wird allmählich feuchter. Die Azurfarbe des Him­ mels verblaßt, und die höheren Regionen bewölken sich mit leichten und gleichförmig verbreiteten Dünsten. Man kann diese Jahreszeit als das Erwa­ chen der Natur ansehen; es ist ein Frühling, welcher, nach der in den spani­ schen Kolonien gewohnten Sprache, den Eintritt des Winters [Regenzeit] verkündet und auf die Sommerhitze folgt. Vormals wurde Indigo in der Quebrada seca angebaut; weil aber ihr mit Pflanzen überwachsener Boden nicht soviel Wärme zurückstrahlt, wie das flache Land oder das Tal von Tuy empfängt und wieder ausstrahlt, wurde diese Kultur mit der des Kaffees vertauscht. Sowie man in der Bergschlucht vorrückt, vermehrt sich die Feuchtigkeit. Nahe beim Hato, am nördlichen Ende der Quebrada, fanden wir einen Bergstrom, der sich über geneigte Gneisbänke niederstürzt. Man arbeitete an einer Leitung, die das Wasser der Ebene zuführen soll. Ohne Bewässerung gibt es keine Fortschritte der

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Landwirtschaft in diesem Klima. Ein Baum

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[Hura crepitans] von riesen­

haftem Wuchs zog unsere Aufmerksamkeit an. Er stand am Abhang eines Berges über dem Hause des Hato. Da beim kleinsten Erdschlipf sein Fall die Zerstörung des von ihm beschatteten Gebäudes nach sich ziehen mußte, wurde er nahe am Boden angebrannt und auf solche Weise gefällt, daß er zwischen gewaltigen Feigenbäumen zu liegen kam, die sein Herabrollen in die Schlucht hemmten. Wir maßen den umgestürzten Baum. Obgleich sein Oberteil vom Feuer verzehrt war, betrug die Länge seines Stamms doch noch 154 Fuß [ca. 50 Meter]; sein Durchmesser nahe an den Wurzeln war 8 Fuß und am oberen Ende 4 Fuß 2 Zoll.

Unsere Führer, denen die Baumdicken gleichgültiger als uns waren, drängten uns zum Weitergehen und zumAufsuchen der "Goldmine". Dieser weniger besuchte Teil der Schlucht ist interessant genug. Hinsichtlich der geologischen Constitution des Bodens beobachteten wir folgendes: Am Ein­ gang des Quebrada seca sahen wir große Massen von ziemlich feinkörnigem Urkalkstein, der bläulich gefärbt und mit einer Menge Kalkspatadern von glänzendem Weiß durchzogen war. Man darf diese Kalksteinmassen nicht mit den viel jüngeren Niederschlägen von Tuff oder kohlensaurem Kalk ver­ wechseln, welche die Ebenen von Tuy ausfüllen; sie bilden Bänke in einem Glimmerschiefer, der in Talkschiefer übergeht. Öfters bedeckt der Urkalk­ stein dieses letztere Gestein nur in konkordanter Schichtung. Ganz nahe beim Hato wird der Talkschiefer völlig weiß und enthält schwache Schichten von zartem und fettigem Zeichenschiefer. Einige Stücke, die keine Quarz­ adern haben, sind echter körniger Graphit, den man in der Kunst benutzen könnte. Der Anblick des Felsens hat etwas ganz Außerordentliches an den Stellen, wo dünne Blättchen schwarzer Kreide mit den bogigen und seiden­ artigen Blättern eines schneeweißen Kalkschiefers abwechseln. Man könnte sagen, der Kohlenstoff und das Eisen, die anderswo das Urgestein färben, haben sich hier auf untergeordnete Lager konzentriert. Als wir uns nach Westen wandten, gelangten wir endlich in die Gold­ schlucht (Quebrada del Oro). Man hatte Mühe, die Spur einer Quarzader am Abhang eines Hügels aufzufinden. Von Regengüssen verursachte Berg­ stürze hatten die Oberfläche des Bodens verändert und machten jede Beob­ achtung unmöglich. Schon wuchsen große Bäume auf den Standorten, wo vor 20 Jahren die Goldwäscher gearbeitet hatten. Es ist wahrscheinlich, daß der Glimmerschiefer hier wie in der Gegend von Goldkronach in Franken und wie im Salzburgischen goldhaltige Gänge enthält. Wie könnte man aber entscheiden, ob eine abbauwürdige Lagerstätte vorhanden sei oder ob das Erz nur nestartig und um so seltener, je reicher es ist, vorkomme? Um die er­ müdende Exkursion nicht ganz vergeblich getan zu haben, herborisierten wir eine geraume Zeit in der dichten Waldung, die sich jenseits des Hato aus­ dehnt und worin Cedrelas, die Browneen und die nymphäablättrigen Fei-

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genbäume in Menge wuchsen. Deren Stämme sind mit wohlriechenden Va­ nillepflanzen bedeckt, die allgemein erst im MonatApril blühen. Uns fielen hier abermals jene holzigen Auswüchse auf, die in Gestalt von Graten oder Rippen die Stammdicke der amerikanischen Feigenbäume so außerordent­ lich und bis auf 20 Fuß über den Boden ausdehnen. Ich habe Stämme ange­ troffen, die nahe an den Wurzeln 22Vz Fuß Durchmesser hatten. Bisweilen trennen sich diese holzigen Grate acht Fuß hoch vom Stamm und verwan­ deln sich in zylindrische, zwei Fuß dicke Wurzeln. Der Baum erscheint als­ dann wie von Strebepfeilern gestützt. Diese Stützen dringen jedoch nicht sehr tief in die Erde ein. Die Seitenwurzeln schlängeln sich auf der Oberfläche des Bodens dahin, und wenn man sie 20 Fuß vom Stamm ent­ fernt mit der Axt durchhaut, quillt der Milchsaft des Feigenbaums hervor, der schlecht wird und gerinnt, sobald er der lebendigen Tätigkeit der Organe entzogen ist. Welch wunderbare Kombination von Zellen und Gefäßen in diesen vegetabilischen Massen, in diesen Riesenbäumen der heißen Zone, die vielleicht tausend Jahre ununterbrochen nährende Flüssigkeiten zube­ reiten, sie bis 180 Fuß in die Höhe treiben, sie dann wieder zur Erde hinab­ leiten und unter einer rauben und harten Rinde, unter holzigen und leblosen Schichten von Fasern alle Bewegungen des organischen Lebens bergen! Ich benutzte die hellen Nächte, um in der Pflanzung von Tuy zwei Aus­ tritte des ersten und des dritten Jupitertrabanten zu beobachten. Diese zwei h Beobachtungen gaben nach Delambres Tafeln die Länge von 4 39' 14". Nach h dem Chronometer fand ich 4 39' W". Dies sind die letzten Verdunklungen, die ich vor meiner Rückkehr vom Orinoco beobachtet habe; sie wurden ge­ braucht, um mit einiger Genauigkeit das östliche Ende der Täler vonAragua und den Fuß der Berge von Las Cocuyzas zu bestimmen. Mittels Meridian­ höhen von Canopus fand ich die Breite der Hacienda de Manterola am 9. Febr. [1800) zu wo 16' 55"; am W. Febr. zu wo 16' 34". Trotz der ausneh­ menden Trockenheit der Luft funkelten die Sterne bis zu 80° Höhe; eine unter diesem Himmelsstrich sehr seltene Erscheinung, die vielleicht das Ende der schönen Jahreszeit verkündete. Die Inklination der Magnetnadel war 41,60° (Hundertgradeinteilung), und 228 Schwingungen, mit 10' Zeit korrespondierend, drückten die Intensität der magnetischen Kräfte aus. Die Deklination der Magnetnadel war 4° 30' nordöstlich.

[Über das Zodiakallicht] Während meinesAufenthalts in den Tälern von Tuy und Aragua zeigte sich das Zodiakallicht fast in jeder Nacht überaus hell glänzend. Ich hatte unter den Wendekreisen zum ersten Mal in Caracas, am 18.Januar [1800), nach 7 Uhr abends wahrgenommen. Die Spitze der Pyramide fand sich bei 53o

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Höhe. Der helle Schein verschwand gänzlich um 9h 35' ( wahre Zeit ) , fast 3h 50' nach Sonnenuntergang, ohne daß die Klarheit des Himmelsgewölbes sich vermindert hätte. La Caille war schon auf seiner Reise nach Rio de Janeiro und dem Kap von der Schönheit des Zodiakallichts zwischen den Wendekreisen beeindruckt, nicht so sehr seiner weniger geneigten Position als der großen Reinheit der Luft wegen. Man könnte es sogar befremdlich finden, daß nicht schon lange vor Childrey und Dominique Cassini See­ fahrer, die häufig die Meere beider Indien besuchten, die Gelehrten Europas auf diesen durch bestimmte Form und Gang ausgezeichneten hellen Schein aufmerksam gemacht haben, wenn man nicht wüßte, wie wenig sich diese überhaupt bis zur Mitte des 18.Jahrhunderts um Dinge kümmerten, die sich nicht unmittelbar auf den Lauf des Schiffes und die Kunst des Steuermanns bezogen. Wie glänzend das Zodiakallicht im trockenen Tal von Tuy auch war, habe ich es doch viel schöner auf dem Rücken der mexicanischen Cordilleren an den Ufern des Tezcuco-Sees 1160Toisen über der Meeresfläche gesehen. De­ lucs Hygrometer geht auf diesem Plateau bis zu 15° zurück, und unter 21 Zoll 8 Linien des barometrischen Druckes ist die Extinktion des Lichts um

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schwächer als in den Ebenen. Im Januar 1804 stieg die Helle zuweilen mehr als 60° über den Horizont. Die Milchstraße schien vor dem nahen Glanz des Zodiakallichts zu erblassen; und wenn sich zerstreute bläuliche Wölkchen gegen Westen gesammelt hatten, sah es aus, als wolle der Mond aufgehen. Ich will hier einer anderen, sehr seltsamen Erscheinung gedenken, die mehrmals in meinen an Ort und Stelle geführten Tagebüchern verzeichnet steht. Am 18.Januar und am 15. Februar 1800 trat eine sehr merkliche Verän­ derung des Zodiakallichts von zwei zu zwei Minuten abwechselnd ein. Bald war es ungemein schwach, bald übertraf es wieder den Glanz der Milch­ straße im Schützen. Die Wechsel ereigneten sich in der ganzen Pyramide, be­ sonders aber im Inneren, von den Rändern entfernt. W ährend dieser Verän­ derungen des Zodiakallichtes deutete das Hygrometer große Trockenheit an. Die Sterne vierter und fünfter Größe stellten sich dem unbewaffneten Auge in unverändert gleicher Stärke des Lichts dar. Keine Spur von Nebel war vorhanden, und es schien durchaus nichts die Reinheit der Atmosphäre zu stören. In anderen Jahren sah ich in der südlichen Halbkugel eine Zu­ nahme des Lichts eine halbe Stunde vor seinem Verschwinden. Dominique Cassini ließ "eine Abnahme des Zodiakallichts in gewissen Jahren und eine Wiederkehr seiner früheren Helle" gelten. Er glaubte, diese allmählich ein­ tretenden Wechsel rührten "von den gleichen Ausströmungen her, welche die periodische Erscheinung der dunklen und hellen Sonnenflecken dar­ stellen", aber dieser treffliche Beobachter spricht nicht von dem Wechsel der Stärke des Zodiakallichts, den ich mehrmals in den Tropenländern inner­ halb weniger Minuten wahrgenommen habe. Mairan bezeugt, in Frankreich

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sehe man gar nicht selten in den Monaten Januar und Februar das Zodiakal­ licht sich mit einer Art Nordlicht mischen, die er unbestimmt nennt und deren nebulöse Materie sich entweder rings um den Horizont verbreitet oder sich im Westen zeigt. Ich glaube nicht, daß bei den Beobachtungen, deren ich soeben gedachte, eine Vermischung beider Lichtarten stattge­ funden hat. Der Wechsel der Stärke ging in sehr großer Höhe vor sich; das Licht war weiß und nicht farbig, ruhig und nicht flatternd. Daneben ist die Erscheinung des Nordlichts in den Tropenländern so selten, daß in fünf Jahren, obgleich ich im Freien schlief und das Himmelsgewölbe mit der an­ gestrengtesten Aufmerksamkeit beobachtete, ich doch niemals auch nur die mindeste Spur davon zu sehen bekam. Wenn ich alles zusammenfasse, was sich über die Veränderungen des Zo­ diakallichts in meinen Tagebüchern verzeichnet findet, bin ich geneigt zu glauben, diese Veränderungen seien nicht bloß scheinbare Ergebnisse ge­ wisser Modifikationen, die unsere Atmosphäre erleidet. Bisweilen habe ich in nicht minder hellen Nächten das Zodiakallicht vergeblich gesucht, wenn es am vorhergehenden Abend in größtem Glanz erschienen war. Soll man annehmen, daß Ausströmungen, die das weiße Licht zurückstrahlen und die mit den Kometenschweifen Ähnlichkeit zu haben scheinen, in gewissen Zeiten weniger reichlich vorkommen? Die Untersuchungen über das Zodia­ kallicht werden interessanter, seit messende Gelehrte uns beweisen, daß wir die wahre Ursache dieser Erscheinung nicht kennen. Der berühmte Ver­ fasser der >Mecanique celeste< [Joseph de Lalande] hat gezeigt, daß die Son­ nenatmosphäre sich nicht einmal bis in die Bahn des Merkurs erstrecken kann und daß sie in keinem Fall die Linsenform darstellte, in der das Zodia­ kallicht dem Beobachter erscheint. Es lassen sich übrigens hinsichtlich der Natur dieses Lichts die gleichen Zweifel wie über die des Kometenschweifs erheben. Ist es wirklich ein zurückgestrahltes oder doch ein unmittelbares Licht? Hoffentlich werden reisende Naturforscher, die künftig die Äquinok­ tialländer besuchen, sich mit solchen Polarisationsvorrichtungen versehen, welche die wichtige Frage zu lösen geeignet sind. *

W ir verließen am 11. Februar [1800] bei Sonnenaufgang die Pflanzungen von Manterola. Der Weg führte längs der anmutigen Ufer des Tuy; der Morgen war kühl und feucht; die Luft war mit dem herrlichen Geruch des

Pancratium undulatum und anderer großer Liliaceen erfüllt. Um nach La Victoria zu gelangen, kommt man durch das hübsche Dorf Mam6n oder Consejo, das durch ein Wunderbild der Jungfrau in der Provinz berühmt ist. Nahe vor dem Dorf machten wir in einer der Familie Monteras gehörigen Hacienda halt. Eine mehr als hundertjährige Negerin saß vor einer kleinen,

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aus Erde und Rohr aufgeführten Hütte. Man kannte ihr Alter, weil sie eine Creolensklavin gewesen war. Sie schien noch sehr gesund zu sein. "Ich halte sie an der Sonne

(Ia tengo al sol)",

sagte ihr Enkel, "die Wärme erhält ihr

Leben." Das Mittel kam uns gewaltsam vor, denn die Sonne warf fast senk­ rechte Strahlen. Die Völkerstämme mit schwarzbrauner Haut, die wohlak­ klimatisierten Neger und die Indianer erreichen in der heißen Zone ein glückliches Alter. Ich habe anderswo die Geschichte eines Eingeborenen von Peru erwähnt, der im 143. Lebensjahr starb, nachdem er 90 Jahre im Ehestand gelebt hatte. Don Francisco Montera und sein Bruder, ein junger, sehr aufgeklärter Geistlicher, begleiteten und führten uns nach ihrem Haus in La Victoria. Fast alle Familien, mit denen wir zu Caracas in freundschaftlichen Verhält­ nissen gelebt hatten, bewohnten die schönen Talgründe vonAragua. Als Be­ sitzer der reichsten Pflanzungen wetteiferten sie, uns unsererrAufenthalt an­ genehm zu machen. Ehe wir in die Wälder des Orinoco eindrangen, ge­ nossen wir nochmals alle Vorteile einer vorgeschrittenen Zivilisation. Der Weg von Mam6n nach La Victoria wendet sich nach Süden und Süd­ westen. Den Tuy-Fluß verloren wir bald aus den Augen, da er sich am Fuß der hohen Gebirge des Guayraima östlich wendet und eine Krümmung bildet. In dem Maß, wie man sich La Victoria nähert, wird das Land flacher und gleicht dem Grund eines ausgelaufenen Sees. Man könnte sich in das Haslital des Kantons Bern versetzt glauben. Die aus Kalktuff bestehenden Hügel der Nachbarschaft sind nur 140 Toisen hoch, fallen aber senkrecht ab und rücken wie Vorgebirge in die Ebene vor. Ihre Form deutet das alte Seeufer an. Das östliche Ende des Tals ist dürr und unbebaut. Die von den nahen Bergen bewässerten Schluchten sind noch unbenutzt, dagegen hat zu­ nächst um die Stadt her eine schöne Landeskultur begonnen. Ich sage der Stadt, obgleich zu meiner Zeit Victoria nur als ein einfaches Dorf

(pueblo)

betrachtet wurde. Man kann sich nicht leicht einen Ort als Dorf vorstellen, der 7000 Ein­ wohner, schöne Gebäude, eine mit dorischen Säulen geschmückte Kirche und alle Hilfsmitteln des Handelsfleißes besitzt. Längst schon haben die Be­ wohner von Victoria beim spanischen Hof um die Benennung Villa und um die Berechtigung, einen

cabildo

oder Munizipalrat zu ernennen, nachge­

sucht. Das spanische Ministerium widersetzte sich ihrem Begehren, ob­ gleich es zur Zeit der Expedition von Iturriaga und Solano zum Orinoco auf das dringende Ersuchen der Franziskaner-Mönche etlichen Gruppen india­ nischer Hütten den hochtönenden Namen ciudad bewilligt hatte. Die Muni­ zipalregierung sollte ihrer Natur nach eine wesentliche Grundlage der Frei­ heit und Gleichheit der Bürger sein, in den spanischen Kolonien ist sie aber zur Munizipalaristokratie ausgeartet. Anstatt den Einfluß mächtiger Fami­ lien klug zu benützen, fürchten die Inhaber einer unbeschränkten Gewalt

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das, was sie den Unabhängigkeitsgeist der kleinen Gemeinden nennen. Lieber wollen sie den Staatskörper gelähmt und kraftlos lassen, als Aktions­ zentren zu begünstigen, die ihrem Einfluß entgehen und ein partielles Leben unterhalten, das die Gesamtmasse beseelt, weil es mehr vom Volk als von der höchsten Gewalt ausgeht. Zur Zeit Karls V. und Philipps II. wurde die Munizipaleinrichtung vom Hof weise begünstigt. Angesehene Männer, die während der conquista des Landes eine Rolle gespielt hatten, gründeten Städte und die ersten cabildos nach spanischen Vorbildern. Damals bestand eine Rechtsgleichheit zwischen den Bewohnern des Mutterlandes und ihren Abkömmlingen in Amerika. Die Politik war damals, ohne frei zu sein, weniger argwöhnisch als heutzutage. Der kürzlich eroberte und verwüstete Kontinent wurde als eine entlegene spanische Besitzung betrachtet. Die Idee einer Kolonie in dem Sinn, der gegenwärtig damit verbunden wird, ent­ wickelte sich erst infolge des neueren Systems der Handelspolitk; und diese erkannte zwar die wahrhaften Quellen des Nationalreichtums, wurde aber auch bald engherzig, argwöhnisch und exklusiv. Sie verursachte Zwietracht zwischen dem Mutterland und den Kolonien; sie stellte zwischen den Weißen eine Ungleichheit her, die der ersten Gesetzgebung Indiens fremd gewesen war. Die Konzentration der Gewalten schwächte nach und nach den Einfluß der Munizipalitäten, und die gleichen cabildos, die im 16 . und 17. Jahrhundert berechtigt waren, beimTod eines Statthalters das Land inte­ rimsweise zu verwalten, wurden vom Hof in Madrid als gefährliche Hinder­ nisse der königlichen Gewalt angesehen. Von da an wurde es auch den reich­ sten Dörfern trotz des Wachstums ihrer Bevölkerung sehr schwer, die Be­ nennung von Städten und das Recht der eigenen Verwaltung zu erhalten. Hieraus ergibt sich, daß die Philosophie die neueren Veränderungen der Ko­ lonialpolitik nicht alle begünstigte. Um sich davon vollends zu überzeugen, darf man sich nur mit der Gesetzgebung Indiens [>Leyes de IndiasGeschichte der Provinz VenezuelaAbriß eines geologischen Gemäldes
Es­

quisse d'un tableau geologique< ] geliefert habe. Es genügt, in klarster und bündigster Weise an die allgemeine Struktur eines Kontinents zu erinnern, dessen Endteile, obgleich sie unter wenig analogen Klimaten liegen, eben doch mehrere ähnliche Züge aufweisen. Um sich einen genauenBegriff der Ebenen, ihrer Gestaltung und Grenzen zu bilden, muß man dieBergketten kennen, die ihr Ufer bilden. Wir haben bereits die Küstencordillere be­ schrieben, deren höchster Gipfel die Silla von Caracas ist und die sich durch den Paramo de las Rosas mit dem Nevado von Merida und den Anden von Neu-Granada verbindet. Wir haben gesehen, daß sie sich unter lOo nördli­ cher Breite von Quibor und Barquisimeto bis an die Spitze von Paria aus­ dehnt. Eine zweite Bergkette oder vielmehr eine weniger hohe, aber viel breitere Gruppe dehnt sich zwischen den Parallelen von 3 und 7o, von den Mündungen des Guaviare und der Meta nach den Quellen des Orinoco, des Caronf und des Essequibo, zum holländischen und französischen Guayana hin. Ich nenne diese Kette die Cordillere von la Parima oder der großen Ka­ tarakte des Orinoco; man kann sie in 250

Iieues Länge verfolgen, aber es ist

weniger eine Kette als eine Anhäufung granitischerBerge, die durch kleine

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Ebenen getrennt sind, ohne überall in Reihen angeordnet zu sein. Die Berg­ gruppe von Parima verengt sich beträchtlich zwischen den Quellen des Ori­ noco und den Bergen von Demerary, in den Sierras von Quimiropaca und von Pacaraimo, welche die Gewässer zwischen Caroni und Rio Parima oder Rio de Aguas blancas scheiden. Dies ist der Schauplatz der zwecks Aufsu­ chung des Dorado und der großen Stadt Manoa, dem Timbuktu des Neuen Kontinents, unternommenen Expeditionen. Die Cordillere von Parima hängt mit den Anden von Neu-Granada nicht zusammen, sondern ist von ihnen durch einen 80 Lieues breiten Raum geschieden. Wenn man vermutete, sie sei innerhalb dieses Raumes von irgendeiner großen Revolution der Erde zerstört worden, was jedoch keineswegs wahrscheinlich ist, müßte man an­ nehmen, sie habe sich vormals von den Anden zwischen Santa Fe de Bogota und Pamplona getrennt. Diese Bemerkung mag die geographische Lage einer bis dahin nur sehr mangelhaft bekannten Cordillere dem Gedächtnis des Lesers desto leichter einprägen. Eine dritte Bergkette vereinigt unter 16 und 18° südlicher Breite (durch Santa Cruz de la Sierra, die Serranias [Ge­ birgsländer] von Aguapehy und die sehr bekannten Campos dos Parecis) die peruanischen Anden mit den Bergen von Brasilien. Es ist die Cordillere von Chiquitos, die sich in der Capitania von Minas Geraes erweitert und die dem Amazonenstrom und dem Rio de La Plata zufließenden Gewässer scheidet, nicht nur im Landesinneren, im Meridian von Villa Boa, sondern auch einige Meilen von der Küste entfernt, zwischen Rio de Janeiro und Bahia. Diese drei Querketten oder vielmehr diese drei zwischen den Grenzen der heißen Zone von Westen nach Osten steichenden drei Berggruppen sind durch völlig flaches Terrain, die Ebenen von Caracas oder vom unteren Ori­ noco, die Ebenen des Amazonenflusses und des Rio Negro, die Ebenen von Buenos Aires oder von La Plata getrennt. Ich gebrauche die Namen Täler nicht, weil der untere Orinoco und der Amazonenfluß, weit entfernt in einem Tal zu fließen, nur eine kleine Furche mitten in einer weiten Ebene bilden. Die zwei an den Endteilen des südlichen Amerika gelegenen Becken sind Savannen oder Steppen, baumlose Weiden; das dazwischen gelegene Becken, welches das ganze Jahr über die äquatorialen Regen empfängt, ist fast gänzlich ein weiter Wald, in dem nur die Bäche als Wege dienen. Diese Kraft der Vegetation, die den Boden verbirgt, macht auch die Einförmigkeit seines Niveaus weniger bemerkbar, und man nennt Ebenen nur die von Ca­ racas und vom La Plata. In der Sprache der Pflanzer werden die hier be­ schriebenen drei Becken mit den Namen der Llanos von Barinas und von Caracas, der Bosques oder Selvas (Wälder) des Amazonas und der Pampas von Buenos Aires genannt. Die Bäume bedecken nicht nur den größeren Teil der Ebenen des Amazonas von der Cordillere von Chiquitos an bis zu der von la Parima; sie krönen auch diese zwei Bergketten, die nur selten die Höhe der Py renäen erreichen. Es erscheinen deshalb die weitläufigen

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Ebenen des Amazonenstroms, des Madeira und des Rio Negro nicht so genau begrenzt wie die Llanos von Caracas und die Pampas von Buenos Aires. Indem die Waldregion zugleich Ebenen und Berge umgreift, dehnt sie sich von 18° südlicher bis zu 7 und 8° nördlicher Breite und besetzt nahezu 120 000 Quadratlieues. Dieser Wald des südlichenAmerika, denn im Grunde gibt es nur einen, ist sechsmal größer als Frankreich; die Europäer kennen davon nur die Ufer einiger ihn durchströmender Flüsse, und es gibt darin Lichtungen, deren

Größe mit der des Waldes in Verhältnis steht. Wir

nehmen nun bald unseren Weg längs der sumpfigen Savannen, zwischen dem oberen Orinoco, dem Conorichite und dem Casiquiare bei 3 und 4° der Breite. Unter dem gleichen Parallel finden sich andere Lichtungen oder Savannas limpias [offene, baumlose Savannen, limpias de arboles] zwischen den Quellen des Mao und des Rio de Aguas blancas, südwärts der Sierra von Pacaraima. Diese Savannen werden von Cariben und von den Macusis-No­ maden bewohnt. Sie nähern sich den Grenzen des holländischen und franzö­ sischen Guayana. Wir haben soeben die geologische Constitution des südlichen Amerika entwickelt und gehen nun zu deren Hauptzügen über. Die Westküsten sind von einer enormen Bergmauer begrenzt, die an edlen Metallen reich ist, überall wo das vulkanische Feuer sich durch den ewigen Schnee hindurch keine Bahn eröffnete: Dies ist die Cordillere der Anden. Gipfel von trappar­ tigem Porphyr erheben sich über 3300 Toisen, und die mittlere Höhe der Kette beträgt 1850Toisen. Sie dehnt sich in der Richtung eines Meridians aus und sendet unter 10o nördlicher und unter 16 und 18° südlicher Breite jeder Halbkugel einen Seitenast zu. Der erste dieser Äste, der des Küstenlandes von Caracas, ist weniger breit und bildet eine echte Kette. Der zweite, die Cordillere von Chiquitos und der Quellen des Guapore, ist überaus reich an Gold und erweitert sich ostwärts in Brasilien in die ausgedehnten Plateaus von mildem und gemäßigtem Klima. Zwischen diesen beiden mit denAnden zusammenhängenden Querketten befindet sich von 3 zu 7o nördlicher Breite eine isolierte Gruppe von Granitbergen, die sich ebenfalls parallel zum Äquator verlängert, aber, den Meridian von 71o nicht überschreitend, west­ wärts plötzlich endet und mit denAnden von Neu-Granada in keiner Verbin­ dung steht. Diese drei Querketten besitzen keine tätigen Vulkane; wir wissen nicht, ob die südlichste, wie die beiden anderen, keinen Trachyt oder trappartigen Porphyr besitzt. Keiner ihrer Gipfel übersteigt die Grenze des ewigen Schnees, und die mittlere Höhe der Cordillere von Parima und der Küstenkette von Caracas erreicht nicht 600 Toisen, obgleich sich einige Gipfel 1400 Toisen über der Meeresfläche erheben. Die drei Querketten werden von Ebenen getrennt, die alle westwärts geschlossen, ost-und süd­ ostwärts hingegen offen sind. Bedenkt man diese geringe Erhöhung über der Fläche des Ozeans, so wird man versucht, sie als in der Richtung der Ro-

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tationsströmung verlängerte Golfe zu betrachten. Würden sich die Wasser des Atlantiks infolge irgendeiner besonderen Anziehung bei der Ausmün­ dung des Orinoco auf 50 Toisen und bei der des Amazonenstroms auf 200 Toisen erhöhen, wäre die größere Hälfte des südlichen Amerika von der großen Flut überschwemmt. Der östliche Abhang oder der Fuß der Anden, der jetzt 600

Iieues

von den Küsten Brasiliens entfernt ist, wäre ein Strand

mit anschlagenden Wellen. Diese Betrachtung ist das Ergebnis einer baro­ metrischen Messung, in der Provinz von Jaen de Bracamoros, wo der Ama­ zonenstrom aus den Cordilleren hervortritt. Ich fand dort den mittleren Was­ serstand dieses mächtigen Stromes nur 194 Toisen über dem gegenwärtigen Niveau des Atlantiks. Es sind jedoch diese mit Wald bedeckten Zwischene­ benen noch fünfmal höher als die Pampas von Buenos Aires und die mit Gras bewachsenen Llanos von Caracas und vom Meta. Diese Llanos, die das Becken des unteren Orinoco bilden und die wir im gleichen Jahr zweimal, im März und Juli, durchwandert haben, hängen mit dem Becken des Amazonas und des Rio Negro zusammen, das einerseits von der Cordillere von Chiquitos, andererseits von den Bergen von Parima begrenzt ist. Die Öffnung, die zwischen diesen und den Anden von Neu­ Granada bleibt, begründet diesen Zusammenhang. Der Anblick dieses Ter­ rains erinnert, jedoch in einem viel größeren Maßstab, an die Ebenen der Lombardei, die auch nur 50 bis 60 Toisen über dem Niveau des Ozeans liegen und sich anfangs von der Brenta nach Turin, von Osten nach Westen, danach von Turin nach Coni [Cuneo], von Norden nach Süden hinziehen. Könnten andere geologische Tatsachen uns berechtigen, die drei großen Ebenen des unteren Orinoco, des Amazonenstroms und des Rfo de la Plata als Becken vormaliger Seen anzusehen, wäre man versucht, in den Ebenen des Rfo Vichada und der Meta einen Kanal zu erblicken, durch den sich die Gewässer des oberen Sees und die der Ebenen des Amazonenstroms einen Weg in das untere Becken, das der Llanos von Caracas, öffneten, indem sie die Cordillere von Parima von der der Anden trennten. Dieser Kanal ist eine Art irdischer Meerenge

(detroit terrestre). Der vollkommen geebnete Boden

zwischen dem Guaviare, dem Meta und dem Apure zeigt keine Spur eines gewaltsamen Wassereinbruchs; aber zur Seite der Cordillere von Parima, zwischen dem 4. und 7. Breitengrad, hat sich der Orinoco, der von seiner Quelle bis zur Mündung des Guaviare westwärts fließt, einen Weg durch das Gestein von Süden nach Norden gebahnt. Alle großen Katarakte, wie wir bald sehen werden, liegen in diesem Zwischenraum. Sobald der Fluß die Mündung des Apure in der extrem niederen Landschaft erreicht hat, wo sich der Abhang nordwärts mit dem Gegenhang nach Südosten trifft, das heißt mit der Abdachung der Ebenen, die unmerklich zu den Bergen von Caracas ansteigen, wendet sich der Strom neuerdings und fließt ostwärts. Ich glaubte, hier schon die Aufmerksamkeit des Lesers auf diese seltsamen Win-

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dungen des Orinoco lenken zu sollen, weil er zwei Becken zugleich angehört und sein Lauf sozusagen selbst auf den unvollkommenen Karten die Rich­ tung dieses Teils der Ebenen markiert, der zwischen den Anden von Neu­ Granada und dem westlichen Rand der Berge von Parima liegt. Die Llanos oder Steppen des unteren Orinoco und des Meta führen wie die Wüsten Afrikas in ihren verschiedenen Teilen verschiedene Namen. Von den Bocas del Drag6n folgen einander von Osten nach Westen: die Llanos von Cumami, von Barcelona und von Caracas oder Venezuela. Hier, wo die Steppen sich südwärts und südsüdwestwärts wenden, vom 8. Breitengrad an, zwischen dem Meridian des 70. und 73. Grades, finden sich von Norden nach Süden die Llanos von Barinas, von Casanare, vom Meta, vom Gua­ viare, vom Caguan und vom Caqueta. In den Ebenen von Barinas finden sich einige geringe Denkmäler des Kunstfleißes eines nicht mehr vorhan­ denen Volkes. Zwischen Mijagual und Cafio de la Hacha kommen wahre tumuli (Grabhügel) vor, die von den Einwohnern Serrillos de los Indios ge­ nannt werden. Es sind kegelförmige Hügel, die von Menschenhand erbaut sind und wahrscheinlich Knochen enthalten wie die tumuli in den Steppen Asiens. Nahe Hato de la Calzada, zwischen Barinas und Canagua, entdeckt man sogar eine schöne, fünf Iieues lange Straße, die vor der conquista in den fernsten Zeiten von den Eingeborenen angelegt worden ist; diese um 15 Fuß erhöhte Kunststraße zieht sich über eine öfteren Überschwemmungen aus­ gesetzte Ebene hin. Waren es vielleicht zivilisierte Völker, die aus den Bergen von Trujillo und von Merida in die Ebenen des Rfo Apure herunter­ stiegen? Die jetzt zwischen diesem Fluß und dem Meta wohnenden Indianer sind nicht fähig, an den Bau von Wegen oder an die Aufführung von tumuli zu denken. Ich habe das Areal dieser Llanos vom Caqueta bis zum Apure und vom Apure bis zum Delta des Orinoco berechnet und es auf 17 000 Quadratlieues, 20 auf einen Grad, gefunden. Der von Norden nach Süden gerichtete Teil ist fast doppelt so groß wie der von Osten nach Westen, der sich zwischen dem unteren Orinoco und der Küstenkette von Caracas ausdehnt. Die Pampas im Norden und Nordwesten von Buenos Aires, zwischen dieser Stadt und C6rdoba, Jujuy und Tucuman, sind ungefähr von gleicher Größe wie die Llanos; aber die Pampas verlängern sich noch um 18° südwärts, und die von ihnen bedeckte Landschaft ist so ausgedehnt, daß sie am einen Ende Palmen kennt, während das andere ebenso niedrige und ebene unter ewigem Eis begraben liegt. Die amerikanischen Llanos, da wo sie sich parallel zum Äquator aus­ dehnen, sind viermal weniger breit als die große afrikanische Wüste. Dieser Umstand ist sehr wichtig in einer Gegend, wo die Winde beständig von Ost nach West wehen. Je mehr sich die Ebenen in dieser Richtung ausdehnen, desto heißer ist ihr Klima. Das große afrikanische Sandmeer steht durch den

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Jemen mit Gedrosien und Balutschistan bis zum rechten Ufer des Indus in Verbindung, und es ist eine Wirkung der Winde, welche die im Osten lie­ genden Wüsten passiert haben, daß das kleine Becken des Roten Meeres, das von Ebenen umgeben ist, die nach allen Seiten die strahlende Wärme zu­ rückwerfen, eine der heißeren Regionen des Erdballs ist. Der unglückliche Kapitän Tuckey meldet, das hundertteilige T hermometer halte sich dort die Nacht ziemlich allgemein auf 34°, am Tage steige es auf 40 bis 44°. Wir werden bald sehen, daß wir sogar im westlichsten Teil der Steppen von Ca­ racas die Temperatur der Luft im Schatten, und vom Boden entfernt, nur selten über 37° fanden. Diesen physikalischen Betrachtungen über die Steppen der Neuen Welt reihen sich andere von höherem Interesse an, weil sie sich auf die Geschichte des Menschen beziehen. Das große afrikanische Sandmeer, die wasserlosen Wüsten werden nur von Karawanen besucht, die 50 Tage für den Durchzug brauchen. Die Sahara, welche die Völker vom Negerstamm von der Mauren­ und Berberrasse trennt, ist einzig in den Oasen bewohnt. Nur ihr östlicher Teil hat Weiden, wo infolge der Passatwinde die Sandschicht weniger dick ist, so daß die Quellen auf der Oberfläche der Erde zutage treten können. In Amerika sind die weniger breiten, weniger heißen und infolge schöner Ströme fruchtbaren Steppen ein geringeres Hindernis der Verbindung zwi­ schen den Völkern. Die Llanos trennen die Küstenkette von Caracas und der Anden von Neu-Granada von der Waldregion, von jener Hylaea

[Herodot]

des Orinoco, die schon zur Zeit der ersten Entdeckung Amerikas durch ro­ here, der Kultur fernere Völker, als es die Küstenbewohner, vorzüglich aber die Bergbewohner der CordiBeren sind, bewohnt wurde. Indessen sind die Steppen einst ebensowenig das Bollwerk der Zivilisation gewesen, wie sie gegenwärtig eine Schutzwehr für die Freiheit der in den Wäldern lebenden Horden sind. Die Völker des unteren Orinoco wurden von ihnen nicht gehin­ dert, die kleinen Flüsse hinaufzufahren und nordwärts wie westwärts Über­ fälle auszuführen. Wenn nach der mannigfaltigen Verteilung der Tiere auf dem Erdball in der Neuen Welt das Hirtenleben hätte existieren können; wenn vor Ankunft der Spanier die Llanos und die Pampas bereits mit Herden von Hornvieh und Pferden, wie sie jetzt auf ihnen weiden, besetzt gewesen wären, so würde Columbus das Menschengeschlecht in ganz ver­ schiedenem Zustand vorgefunden haben. Hirtenvölker, die sich von Milch und Käse ernähren, wahre Nomaden, hätten dann die ausgedehnten und miteinander zusammenhängenden Ebenen durchstreift. Sie hätten in Zeiten großer Trockenheit oder sogar zur Zeit der Überschwemmungen um den Be­ sitz der Viehweiden gekämpft, sich wechselweise unterjocht und, von ge­ meinsamen Sitten, Sprache und Kultus vereint, jenen Zustand einer Halb­ zivilisation erreicht, der uns bei den Völkern mongolischer und tatarischer Abstammung überrascht. Amerika hätte dann gleich dem Zentrum Asiens

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seine Eroberer gehabt, die von den Ebenen her das Bergland der Cordil­ leren erstiegen, auf die herumziehende Lebensart verzichtet, die zivili­ sierten Völker von Peru und Neu-Granada unterjocht, den Thron der Incas und des Zako umgestürzt und den Despotismus, den die patriarchalische Regierung der Hirtenvölker herbeiführt, ersetzt hätten. Das Menschenge­ schlecht hat in der Neuen Welt diese großen sittlichen und politischen Verän­ derungen nicht erlitten, weil seine Steppen, obgleich fruchtbarer als die asia­ tischen, dort ohne Herden blieben; weil keines der Tiere, die reichlich Milch geben, den Ebenen des südlichen Amerika eigen ist und weil in der fort­ schreitenden Entwicklung der amerikanischen Zivilisation das Zwischen­ glied fehlte, das die Jägervölker mit den Ackerbau treibenden Völkern ver­ bindet. *

Ich glaubte hier diese allgemeinen Betrachtungen der Ebenen des Neuen Kontinents und die Kontraste gegenüber den Wüsten Afrikas und den fruchtbaren Steppen Asiens vereinigen zu müssen, um der Erzählung einer Reise durch so einförmige Landschaften einige Teilnahme zu verschaffen. Jetzt, nachdem ich diese Aufgabe erfüllt habe, will ich den Weg beschreiben, den wir auf unserer Reise von den vulkanischen Bergen von Parapara und vom nördlichen Rand der Llanos bis zu den Gestaden des Apure in der Pro­ vinz Barinas eingeschlagen haben. Nachdem wir zwei Nächte zu Pferd zugebracht und vergebens unter den Moriche-Palmwäldchen vor der brennenden Sonne Schutz gesucht hatten, trafen wir vor Anbruch der Nacht im kleinen Hof El Cayman, auch La Gua­ dalupe genannt, ein. Es ist dies ein hato de ganado, das heißt ein einzelnes Haus in der Steppe, um das einige mit Rohr und Tierhäuten bedeckte Hütten stehen. Das Vieh -Rinder, Pferde und Maultiere -ist nicht einge­ pfercht, sondern läuft auf einem Flächenraum von mehreren Quadratlieues frei umher. Umzäunungen sind nirgends vorhanden. Männer, die bis zum Gürtel nackt und mit einer Lanze bewaffnet sind, reiten durch die Savannen, um die Tiere zu beaufsichtigen und die zurückzubringen, die sich allzuweit von den Weiden des Hofes entfernt haben, sowie alle, die noch nicht das Zei­ chen des Eigentümers tragen, mit einem glühenden Eisen zu markieren. Diese farbigen Menschen, die man peones lianeras nennt, sind teils Freie oder Freigelassene, teils Sklaven. Es existiert keine andere Gruppe, die dau­ ernd der sengenden Hitze des tropischen Himmels ausgesetzt wäre. Sie nähren sich von dem an der Luft getrockneten und nur wenig gesalzenem Fleisch; sogar ihre Pferde essen zuweilen davon. Immer im Sattel, glauben sie den kleinsten Weg nicht zu Fuß zurücklegen zu können.lm Hof trafen wir einen alten Negersklaven, der in Abwesenheit des Herrn dessen Stelle versah. Man sprach von Herden mehrerer tausend Kühe, die in der Steppe

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weideten, und dennoch baten wir vergeblich um eine Schale Milch. In Früchten des Tutumo wurde uns gelbliches, schlammiges und stinkendes Wasser gereicht; es war aus einer benachbarten Lache geschöpft. Die Träg­ heit der Bewohner der Llanos ist so groß, daß niemand einen Brunnen gräbt, obgleich sie wohl wissen, daß man in zehn Fuß Tiefe fast überall schöne Quellen in einer Schicht von Konglomerat oder rotem Sandstein findet. Nachdem man die eine Hälfte des Jahres an den Folgen der Über­ schwemmungen gelitten hat, setzt man sich in der anderen Hälfte dem pein­ lichsten Wassermangel geduldig aus. Der alte Neger riet uns, ein Leinentuch über das Trinkgefäß zu legen und gleichsam durch einen Filter zu trinken, um nicht vom widrigen Geruch belästigt zu werden und von dem feinen, gelblichen Ton, der im Wasser aufgelöst ist, weniger zu schlucken. W ir dachten damals nicht, daß wir in der Folge monatelang dieses Mittel anzu­ wenden genötigt wären. Das Wasser des Orinoco enthält gleichfalls viele er­ dige Bestandteile; es stinkt auch da, wo in Buchten tote Krokodile auf Sand­ bänken oder halb im Schlamm begraben liegen. Kaum hatte man abgeladen und unsere Instrumente versorgt, wurden die Maultiere freigelassen, um, wie man sich hierzulande ausdrückt, "in der Savanne Wasser zu suchen". Es gibt kleine Teiche oder Lachen rings um den Hof; die Tiere finden sie, durch ihren Instinkt geleitet, bei Anblick einiger dichter Mauritia-Wäldchen oder durch die Empfindung einer feuchten Kühle, die kleine Luftströmungen mitten in der uns still und ruhig scheinenden Atmosphäre entstehen lassen. Wenn die Lachen weit entfernt und die Knechte im Hof zu träge sind, um die Tiere zu diesen natürlichen Tränken zu führen, werden diese, ehe man sie freiläßt, fünf bis sechs Stunden in einen recht warmen Stall eingesperrt. Der heftige Durst steigert dann ihren Scharfsinn, indem er ihre Sinne und ihren Instinkt gleichsam schärft. Sobald der Stall geöffnet wird, sieht man Pferde und besonders Maultiere, deren Scharfsinn die Intelligenz der Pferde über­ trifft, in die Savanne j agen. Mit gesträubtem Schweif und zurückgewor­ fenem Kopf rennen sie gegen den Wind an und halten von Zeit zu Zeit inne, gleichsam um das Land auszukundschaften; sie folgen weniger ihrem Ge­ sichts- als ihrem Geruchssinn, und endlich verkünden sie durch ein anhal­ tendes Wiehern, daß sich Wasser in ihrer Laufrichtung befindet. Alle diese Bewegungen werden viel schneller und leichter von den in den Llanos gebo­ renen Pferden ausgeführt, die seit langem ihre Freiheit in umherstreifenden Herden genossen haben als von denen der Küste und den von zahmen Pferden abstammenden. Bei den meisten Tieren vermindert sich wie beim Menschen unter lang anhaltendem Zwang die Sinnesschärfe infolge der Ge­ wohnheiten, die von festen Wohnstätten und Fortschritten der Kultur her­ rühren. Wir folgten unseren Maultieren, um eine der Lachen aufzusuchen, woraus das schlammige Wasser, das unseren Durst so schlecht gestillt hatte, ge-

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schöpft war. Mit Staub bedeckt und vom Sandwind verbrannt, der die Haut noch empfindlicher schmerzt [als Transitiv. Anmerkung d. Hrsg.] als die Son­ nenstrahlen, hatten wir ein Bad herbeigesehnt, fanden aber nur ein großes Reservoir mit moderndem Wasser, das von Palmen umgeben war. Das Wasser war trübe, obgleich zu unserem großen Erstaunen etwas kühler als die Luft. Während der langen Reise daran gewöhnt, uns zu baden, sooft sich die Gelegenheit bot, bisweilen auch mehrmals am Tag, zögerten wir nicht, uns in die Lache zu werfen. Kaum aber hatten wir ihre Kühlung zu spüren an­ gefangen, als ein Geräusch am jenseitigen Ufer uns plötzlich aus dem Wasser heraustrieb. Es war ein Krokodil, das sich im Schlamm verkroch. Es wäre unklug gewesen, zur Nachtzeit in dieser sumpfigen Gegend zu verweilen. Wir waren vom Hof nur eine Viertellieue entfernt, und doch waren wir schon über eine Stunde gegangen, ohne ihn zu erreichen. Zu spät bemerkten wir, daß wir eine falsche Richtung genommen hatten. Wir hatten in der Abenddämmerung, ehe noch die Sterne sichtbar waren, unseren Weg ange­ treten und waren in der Ebene wie aufs Geratewohl vorgeschritten. Wie immer waren wir mit einem Kompaß versehen; auch konnten wir uns un­ schwer nach der Stellung des Canopus und des Kreuzes im Süden orien­ tieren; aber alle diese Mittel blieben darum unnütz, weil wir nicht wußten, ob wir vom Hof aus südwärts oder nordwärts gegangen waren. Wir ver­ suchten, an den Ort zurückzukehren, wo wir gebadet hatten, und gingen noch drei Viertelstunden irre, ohne die Lache wiederzufinden. Oft glaubten wir Feuer am Horizont zu erblicken; es waren aufgehende Sterne, deren Bild uns durch den Dunst vergrößert erschien. Nach langem Herumirren in der Savanne setzten wir uns unter den Stamm einer Palme bei einer völlig trockenen und mit niederem Gras bewachsenen Stelle; denn bei gerade erst eingetroffenen Europäern ist die Furcht vor Wasserschlangen immer größer als vor Jaguaren. Wir konnten nicht hoffen, daß unsere Führer, deren Gleichgültigkeit uns bekannt war, uns in der Savanne aufsuchen würden, ehe sie ihr Essen bereitet und ihre Mahlzeit eingenommen hätten. Je unsi­ cherer diese Lage war, desto erwünschter kam uns der ferne Laut eines sich nähernden Pferdes. Es war ein mit der Lanze bewaffneter Indianer, der sein Rodeo machte, das heißt die Treibjagd, wodurch man die Viehherden auf einem bestimmten Raum versammelt. Der Anblick zweier weißer Men­ schen, die sich auf ihrem Weg verirrt hatten, ließ ihn zuerst an eine Hinterlist denken. Wir hatten Mühe, ihm Zutrauen einzuflößen. Endlich bequemte er sich, uns zum Hofe Caiman zu führen, jedoch ohne den kleinen Trott seines Pferdes darum zu verlangsamen. Unsere Führer versicherten, sie hätten be­ reits angefangen, um uns besorgt zu werden, und zur Begründung dieser Be­ sorgnis zählten sie eine Menge Beispiele von Personen auf, die sich in den Llanos verirrt hatten und in einem Zustand gänzlicher Erschöpfung ange­ troffen worden waren. Sehr groß ist die Gefahr freilich nur für die, welche

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sich in weiter Entfernung von allen Wohnungen verirren oder, wie dies in den letzten Jahren passiert ist, von Räubern überfallen, beraubt und mit Körper und Händen an Palmstämme festgebunden wurden. Um unter der Tageshitze weniger zu leiden, machten wir uns um

2

Uhr

nachts auf den Weg, in der Hoffnung, bis zum Mittag Calabozo, eine kleine, recht emsig Handel treibende Stadt mitten in den Llanos zu erreichen. Das Aussehen des Landes ist immer dasselbe. Es war kein Mondschein, aber die Menge der Nebelsterne, die den südlichen Himmel zieren, erleuchtete vor ihrem Untergang einen Teil des irdischen Horizonts. Das erhabene Schau­ spiel des sich in seiner unermeßlichen Ausdehnung darstellenden Sternenge­ wölbes, die kühle Brise, die zur Nachtzeit über die Ebene weht, die wellen­ förmige Bewegung der Gräser, überall wo sie einige Höhe erreichen, alles erinnerte uns an die Fläche des Ozeans. Die Täuschung wurde noch größer (man wird nicht müde, es zu sagen), als die Sonnenscheibe sich am Horizont zeigte, ihr Bild durch die Wirkung der Strahlenbrechung wiederholte und, bald ihre abgeplattete Form verlierend, schnell und gerade zum Zenit an­ stieg. Auch in den Ebenen ist der Zeitpunkt des Sonnenaufgangs der kühlste des Tages, aber diese Änderung der Temperatur ruft keinen sehr lebhaften Ein­ druck auf die Organe hervor. Wir sahen das T hermometer gewöhnlich nicht unter 27,5° sinken, während es in der Nähe von Acapulco in Mexico in gleich niederem Terrain öfters am Mittag

32°

und bei Sonnenaufgang

17

bis

18°

zeigte. Die gleichförmige Bodenfläche der Llanos, die den Tag über nie be­ schattet ist, nimmt soviel Wärme in sich auf, daß trotz der nächtlichen Strah­ lung gegen den wolkenlosen Himmel Erde und Luft nicht Zeit haben, von Mitternacht bis Sonnenaufgang bedeutend abzukühlen. In Calabozo war die Temperatur im März bei Tage

31

bis

32,5°,

nachts

28

bis

29°.

Die mittlere

Temperatur dieses Monats, der jedoch nicht der wärmste des Jahres ist, schien ungefähr

30,6° zu sein,

was eine ungeheure Wärme für ein unter den

Wendekreisen liegendes Land bedeutet, wo Tag und Nacht fast stets von glei­ cher Länge sind. In Cairo beträgt die mittlere Temperatur des wärmsten Mo­ nats nicht über

29,9°;

in Madras ist sie

31,8°, und in Buschehr im Persischen 34°; allein die

Golf, wo eine Reihe von Beobachtungen gemacht worden ist,

mittleren Jahrestemperaturen sind in Madras und Buschehr niedriger als in Calabozo. Obgleich ein Teil der Llanos wie die fruchtbaren Steppen Sibi­ riens von kleinen Flüssen durchströmt wird und die dürresten Bänke von einem zur Regenzeit überschwemmten Land umgeben sind, ist die Luft im allgemeinen doch sehr trocken. Delucs Hygrometer hielt sich den Tag über auf

34o und zur Nachtzeit auf 36°.

In dem Maß, wie die Sonne zum Zenit anstieg und die Erde mit den über­ einanderliegenden Luftschichten ungleiche Temperaturen annahm, stellte sich auch die Erscheinung der Luftspiegelung

(mirage) mit ihren zahlreichen

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Modifikationen ein. Diese Erscheinung wird unter allen Himmelsstrichen so allgemein angetroffen, daß ich ihrer hier nur darum gedenke, weil wir an­ hielten, um die Breite des aerischen Zwischenraums vom Horizont bis zu dem schwebenden Gegenstand mit einiger Genauigkeit zu messen. Das Schweben in der Luft war nie mit Bildumkehrung verbunden. Die kleinen Luftströmungen, die über die Bodenfläche hinstreiften, hatten eine so ver­ änderliche Temperatur, daß von einer Herde wilder Ochsen die einen mit den Beinen in der Luft zu schweben schienen, während die anderen mit den ihren auf dem Boden ruhten. Der aerische Zwischenraum betrug je nach Entfernung des Tieres 3 bis 4 Minuten. Da, wo sich Palmgruppen der Mau­ ritia in langen Reihen vereint fanden, stellte sich das Ende dieser grünen Reihen auf gleiche Weise schwebend dar, wie die Kaps, die lange Zeit Ge­ genstand meiner Beobachtungen in Cumana waren. Ein verständiger Mann versicherte uns, zwischen Calabozo und Uritucu das umgekehrte Bild eines Tieres ohne direktes (unmittelbares] Bild gesehen zu haben. Niebuhr hat in Arabien das gleiche beobachtet. Verschiedentlich glaubten wir am Horizont die Formen von tumuli und Türmen zu sehen, die in Zwischenräumen ver­ schwanden und wieder zum Vorschein kamen, ohne daß wir die wirkliche Form der Gegenstände zu ermitteln vermochten. Es waren vielleicht Hügel oder kleine Erhöhungen jenseits des Gesichtskreises. Ich will diese von Pflanzenwuchs entblößten Böden hier nicht anführen, die wie große Seen mit wellenförmiger Oberfläche schienen. Von dieser Erscheinung, die am frühesten beobachtet worden ist, erhielt die Luftspiegelung in der Sanskrit­ sprache den ausdrucksvollen Namen des "Verlangens (des Durstes) der An­ tilope". Wir bewundern bei den indischen, persischen und arabischen Dich­ tern häufige Anspielungen auf diese zauberhaften Wirkungen der irdischen Strahlenbrechung. Den Griechen und Römern waren sie kaum bekannt. Stolz auf den Reichtum ihres Bodens und die milde Temperatur ihres Klimas, konnte die Poesie der Wüste nur geringen Reiz für sie haben. Sie entstand in Asien. Die Dichter des Orients haben sie aus der Natur des von ihnen bewohnten Landes geschöpft, und der Anblick dieser ausgedehnten Einöden, die wie Meeresarme und Golfe zwischen den von der Natur mit reichster Fruchtbarkeit ausgestatteten Landschaften liegen, war es, der sie inspirierte. Mit Sonnenaufgang wurde die Ebene belebter. Das Vieh, das sich die Nacht über längs der Wasserlachen oder unter den Moriche- und Rhopala­ Gruppen gelagert hatte, sammelte sich jetzt herdenweise, und diese Einöden bevölkerten sich mit Pferden, Maultieren und Ochsen, die - wir wollen nicht sagen als wilde, aber als freie Tiere ohne feste Wohnstätten die Pflege und den Schutz der Menschen verachtend - hier ihren Aufenthalt haben. In diesen heißen Klimaten sind die Ochsen, obgleich spanischer Her­ kunft wie die der kalten Plateaus von Quito, von sanfterem Temperament.

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Ein Reisender läuft nicht Gefahr, von ihnen angegriffen und verfolgt zu werden, wie uns dies bei unseren Exkursionen auf dem Rücken der Cordil­ leren öfters begegnet ist, wo das Klima roh und heftigen Stürmen unter­ worfen ist, wo die Landschaft ein wilderes Aussehen hat und die Nahrung spärlicher ist. Als wir uns Calabozo näherten, sahen wir Rehherden, die mitten unter Pferden und Ochsen friedlich zu weiden schienen. Man nennt sie

matacani ( Pechnasen] ; ihr Fleisch ist sehr gut. Sie sind etwas größer als

unsere Rehe und gleichen den Damhirschen, mit sehr glattem, braunfalbem und weißgetupftem Fell. Ihre Geweihe schienen mir einfache Spieße zu sein. Die Gegenwart des Menschen schreckte sie nur wenig, und unter den Herden von 30 bis 40 Tieren bemerkten wir mehrere völlig weiße Einzel­ gänger. Diese unter den großen Hirschen der kaltenAndenklimate ziemlich gewöhnliche Spielart mußte uns in diesen niederen und heißen Ebenen be­ fremden. Seither erfuhr ich, daß sogar der Jaguar der heißen Regionen Para­ guays zuweilen Albinospielarten darbietet, deren Fell so gleichförmig weiß ist, daß man die Flecken oder Ringe nur beim Widerschein der Sonne unter­ scheidet. Die

matacani oder kleinen Damhirsche sind in den Llanos so zahl­

reich, daß mit ihren Häuten Handel getrieben werden könnte. Ein ge­ schickter Jäger könnte über zwanzig pro Tag erlegen. Allein die Trägheit der Einwohner ist so groß, daß man sich oft nicht einmal die Mühe gibt, ihnen das Fell abzuziehen. Ebenso verhält es sich mit der Jagd des Jaguars oder des großen amerikanischen Tigers, dessen Fell in den Steppen von Barinas nur mit einem Piaster bezahlt wird, während es in Oidiz vier und fünf Piaster kostet. Die Steppen, die wir durchquerten, sind hauptsächlich mit Gramineen der Gattungen Killingia, Cenchrum und Paspalum bewachsen. Diese Gräser erreichten in der gegenwärtigen Jahreszeit in der Nähe von Calabozo und San Geronimo del Pirital kaum die Höhe von 9 bis 10 Zoll. Nahe den FlüssenApure und Portuguesa haben sie bis zu vier Fuß Höhe, so daß der Ja­ guar sich darin verstecken kann, um auf Maultiere und Pferde zu springen, welche durch die Ebene ziehen. Mit den Gräsern finden sich einige Ge­ wächse aus der Dicotyledonen-Klasse vermischt wie Turnera, Malvaceen und, was sehr merkwürdig ist, kleine Mimosen [Turnera gujanensis, Mimosa pigra, M. dormiens] mit reizbaren Blättern, die von den Spaniern dormi­ deras genannt werden. Die gleiche Rinderrasse, die in Spanien mit Klee und Eicheln gemästet wird, findet hier in krautartigen Sensitiven eine vortreff­ liche Nahrung. Die Weiden, auf denen diese Sinnpflanzen in großer Menge wachsen, werden zu höheren Preisen verkauft. In den östlichen Llanos von Cari und Barcelona ragen Cypura und Craniolaria [Cypura graminea, Cra­ niolaria annua], deren schöne weiße Blüte 6 bis 8 Zoll Länge hat, aus den Gräsern einzeln hervor. Die Weiden sind am fettesten nicht nur um die den

Überschwemmungen ausgesetzten Flüsse her, sondern überall, wo die

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Stämme der Palmbäume näher beisammenstehen. Die gänzlich baumlosen Standorte sind weniger fruchtbar, und die Versuche, sie dem Anbau zu ge­ winnen, dürften vergeblich sein. Man kann diesen Unterschied nicht dem Schutz, den die Palmen gewähren, zurechnen, indem sie die Sonnenstrahlen an der Austrocknung und der Erhitzung des Bodens hindern. Es ist wahr, daß ich in den Wäldern des Orinoco Bäume dieser Familie gesehen habe, die ein dichtes Laubwerk besaßen, aber das gilt eben nicht von der Palme der Llanos; von der

palma de cobija [Dachpalme] ist kein Schatten zu rühmen,

da sie nur wenige faltige und handförmigeBlätter besitzt, die denen des Cha­ maerops gleichen und von denen die unteren ständig vertrocknet sind. Wir waren überrascht, zu sehen, daß fast alle diese Corypha-Stämme von glei­ cher Höhe waren. Sie hatten 20 bis 24 Fuß, und der Durchmesser des Stamms war amBoden 8 bis 10 Zoll. Es gibt wenige Arten der Palmen, die in so ungeheurer Menge vorkommen. Auf Tausenden von Stämmen, die mit olivenförmigen Früchten beladen waren, fanden wir fast hundert, die keine Frucht trugen. Sollten vielleicht einige Stämme mit bloß einhäusigenBlüten unter den Stämmen mit Zwitterblüten vorkommen? Die

lianeras oder Ein­

wohner der Ebenen meinen, diese niedrigenBäume seien alle mehrere Jahr­ hunderte alt. Ihr Wachstum ist fast unmerklich, und man stellt es kaum in

palma de cobija ein vortreffliches Bauholz. Es ist so hart, daß man Mühe hat, einen

einem Zeitraum von 20 oder 30 Jahren fest. Übrigens liefert die

Nagel einzuschlagen. Die fächerartig gefaltetenBlätter werden zur Dachbe­ deckung der in den Llanos zerstreuten Hütten gebraucht, und diese Dächer halten über 20 Jahre. Die Blätter werden mittels Krümmung der Enden der Blattstiele befestigt, die man zuvor zwischen zwei Steinen mürbegeschlagen hat, damit sie beim Falten nicht brechen. Außer den vereinzelt stehenden Stämmen dieser Palme kommen auch hin und wieder einige Palmgruppen, eigentliche Bosketts

(palmares) vor, in

denen die Corypha-Palme mit einem Baum aus der Proteaceenfamilie ge­ meinsam wächst. Dieser wird von den Eingeborenen

chaparro genannt und

bildet eine neue Art der Gattung Rhopala mit harten und tönenden Blät­ tern. Die kleinen Rhopala-Wäldchen heißen

chaparrales, und es wird, wie

leicht einzusehen ist, in einer ausgedehnten Ebene, wo nur zwei oder drei Baumarten wachsen, der

chaparro wegen seines Schattens als sehr wert­

volles Gewächs betrachtet. Die Corypha-Palme dehnt sich in den Llanos von Caracas von der Mesa de Paja bis zum Guayaval aus; weiter nördlich und nordwestlich, in der Gegend von Guarrare und von San Carlos, ersetzt sie eine andere Art der gleichen Gattung, die gleichfalls handförmige, aber größereBlätter hat. Sie führt den Namen palma real de los Llanos. Südwärts des Guayaval sind wieder andere Palmbäume vorherrschend, namentlich die Piritu-Palme mit gefiederten Blättern und die Moriche-Palme (Mauritia fiexuosa), die der Pater Gumilla als Lebensbaum (tirbol de Ia vida) gepriesen

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hat. Es ist der amerikanische Sagobaum, der, victum et amictum, Mehl, Wein, Fasern zum Knüpfen von Hängematten, Körben, Netzen und Klei­ dern liefert. Seine tannenzapfenförmigen und mit Schuppen bekleideten Früchte gleichen vollkommen denen des Calamus Rotang. Sie besitzen etwas vom Geschmack der Äpfel. Bei völliger Reife ist ihre Farbe innen gelb und außen rot. DieAraguaten-Affen sind sehr gierig danach, und die Nation der Guaranos, deren ganze Existenz sozusagen eng an das Vorhandensein der Moriche-Palme geknüpft ist, bereitet sich daraus ein säuerliches, sehr er­ frischendes, gegorenes Gt\tränk. Diese Palme wahrt auch in der Jahreszeit der größten Trockenheit das schöne Grün ihrer großen glänzenden und fä­ cherförmig gefalteten Blätter. Ihr Anblick allein erzeugt ein angenehmes Gefühl von Kühle, und die mit ihren schuppigen Früchten beladene Mo­ riebe-Palme bildet einen sonderbaren Kontrast zum traurigenAussehen der

palma de cobija, deren Laubwerk immer grau und mit Staub bedeckt ist. Die Llaneros glauben, die mariehe ziehe die Dünste aus der Luft an sich, und darum finde man ständig an ihrem Fuß Wasser, wenn man in einiger Tiefe da­ nach gräbt. Man verwechselt hierbei allerdings Ursache und Wirkung. Die Moriche-Palme wächst vorzugsweise an feuchten Orten, und man könnte eher sagen, das Wasser ziehe den Baum an. Durch ähnlichenAnalogieschluß geleitet, meinen die Eingeborenen des Orinoco, die großen Schlangen trügen zur Erhaltung der Feuchtigkeit eines Bezirkes bei. Ein alter Indianer von Javita sagte uns ernsthaft: Wir suchten umsonst Wasserschlangen da, wo kein Sumpfland ist; Wasser sammele sich überhaupt nicht, wenn man die Schlangen, die es anzögen, unklugerweise töte. Wir litten viel unter der Hitze auf dem Weg durch die Mesa de Calabozo. Die Temperatur der Luft stieg merklich jedesmal, wenn der Wind zu wehen anfing. Die Luft war mit Staub erfüllt, das T hermometer stieg während sol­ chen Windstößen auf 40 und 41°. Wir kamen nur langsam vorwärts, denn es wäre gefährlich gewesen, die mit unseren Instrumenten beladenen Maul­ tiere zu verlassen. Die Führer rieten, unsere Hüte mit Rhopala-Blättern aus­ zufüllen, um die Wirkung der Sonnenstrahlen auf Haare und Scheitel zu schwächen. Wir fühlten uns in der Tat dadurch erleichtert, noch mehr aber, wenn wir uns Blätter von Pothos oder einer anderen Pflanze der Araideen­ Familie verschaffen konnten. Man kann unmöglich diese glühenden Ebenen durchwandern, ohne sich zu fragen, ob sie immer im gleichen Zustand gewesen oder durch irgendeine Naturrevolution ihres Pflanzenwuchses beraubt worden sind. Die Erd­ schicht, die man gegenwärtig dort findet, ist allerdings sehr dünn. Die Einge­ borenen glauben, palmares und chaparales (die kleinen Palmen- und Rho­ pala-Wäldchen) seien vor Ankunft der Spanier zahlreicher und ausge­ dehnter gewesen. Seit die Llanos bewohnt und von verwildertem Vieh bevöl­ kert sind, wird zur Verbesserung der Weide die Savanne öfters angezündet,

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und mit den Gräsern zerstört man zufällig auch die verstreuten dichten Baumgruppen. Im 15. Jahrhundert waren die Ebenen zweifellos weniger nackt, als sie es heute sind; indessen beschrieben sie schon die ersten conqui­ stadores, die von Coro her kamen, als Savannen, worin man nur Himmel und Rasen erblickt, die allgemein keine Bäume aufweisen und wegen des zu­ rückstrahlenden Bodens schwierig zu durchwandern sind. Warum dehnt sich der große Wald des Orinoco nicht nördlich auf das linke Ufer des Flusses aus? Warum umfaßt er den weiten, sich bis zur Cordillere des Küstenlandes erstreckenden und infolge vieler Flüsse fruchtbaren Raum nicht? Diese Frage hängt mit allem zusammen, was sich auf die Geschichte unseres Planeten bezieht. Will man sich geologischen Träumen überlassen und ver­ muten, durch einen Einbruch des Ozeans seien die Steppen Amerikas und die Wüste Sahara ihres Pflanzenwuchses beraubt worden, oder sie hätten ur­ sprünglich die Grundfläche eines Binnensees gebildet, dann begreift man, daß Jahrtausende unzureichend waren, um das Vorschreiten der Bäume und Sträucher vom Rande der nackten oder mit Gras bedeckten Ebenen zum Zentrum zu bewirken und eine so ausgedehnte Ebene zu beschatten. Es ist schwieriger, den Ursprung der nackten, von Wäldern eingeschlossenen Sa­ vannen zu erklären, als die Ursachen zu erkennen, welche die Wälder und die Savannen, gleichmäßig wie die Kontinente und Meere, innerhalb ihrer alten Grenzen aufrechterhalten.

[Herden und Tiere der Llanos] In Calabozo wurden wir im Hause des Verwalters der Real Hacienda, Don Miguel Cousin, mit der echtesten Gastfreundschaft empfangen. Die zwi­ schen den Gestaden des Gmhico und des Uritucu gelegene Stadt zählte da­ mals nur noch 5000 Einwohner, aber alles zeigte einen zunehmenden Wohl­ stand. Der Reichtum der meisten Einwohner besteht in Herden, die von Pächtern besorgt werden, die hateros heißen, vom Wort hato, das im Spani­ schen ein auf den Viehweiden einzeln stehendes Haus oder Hof bedeutet. Da die in den Llanos verstreute Bevölkerung sich an gewissen Punkten, be­ sonders um die Städte akkumuliert, zählt Calabozo in seiner Umgebung schon fünf Dörfer oder Missionen. Man vermutet, das auf den Weiden der Stadt befindliche Vieh belaufe sich auf 98000 Stück. Es fällt übrigens sehr schwer, sich eine richtige Vorstellung von den Viehherden in den Llanos von Caracas, von Barcelona, von Cumami und des spanischen Guayana zu ma­ chen. Herr de Pons, der länger als ich in der Stadt Caracas weilte und dessen statistische Angaben meist genau sind, zählt in diesen weitläufigen Ebenen von den Mündungen des Orinoco bis zum See Maracaibo 1200000 Ochsen, 3000000 Pferde und 90 000 Maultiere. Den Ertrag der Herden schätzte er

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auf 5 000 000 Fr., wobei neben dem Wert der Ausfuhr auch die im Lande selbst verbrauchten Häute veranschlagt sind. In den Pampas von Buenos Aires gibt es, wie man glaubt, 12 000 000 Kühe und3000 000Pferde, die Tiere ungerechnet, die als herrenlos gelten. Ich will hier keine so allgemeinen, ihrer Natur nach sehr unzuverlässigen Berechnungen wagen, sondern nur bemerken, daß die Besitzer der großen hatos die Zahl ihres eigenen Viehbestandes gar nicht kennen. Sie kennen nur die Anzahl der jungen Tiere, die alljährlich mit einem Buchstaben oder mit dem jeder Herde eigenen Zeichen markiert werden. Die reichsten Eigen­ tümer markieren jährlich bis zu 14000 Tiere und verkaufen 5000 bis 6000. Amtlichen Dokumenten zufolge betrug die Ausfuhr der Tierhäute der ganzen Capitania general jährlich allein für die Antillen 174000 Ochsen und 11 500 Ziegenhäute. Erinnert man sich nun, daß diese Dokumente sich nur auf die Zollregister gründen, welche die durch den Schleichhandel ausge­ führten Häute nicht erfassen, wird man versucht zu glauben, die Schätzung von 1 200 000 Stück Ochsen, die in den Llanos vom Rio Caroni und vom Gua­ napiche bis zum Maracaibo-See herumlaufen, sei viel zu niedrig. Der Hafen von La Guaira hat allein von 1790 bis 1792 alljährlich 70 000 bis 80 000 in den Zollbüchern registrierte Häute exportiert, davon kaum ein Fünftel nach Spanien. Zu Ende des 18. Jahrhunderts betrug die Ausfuhr von Buenos Aires nach der Angabe von Don Felix d'Azara 800 000 Häute. Auf der spani­ schen Halbinsel werden die Caracas-Häute denen von Buenos Aires vorge­ zogen, weil diese wegen des längeren Transportes beim Gerben zwölf Pro­ zent Verlust erleiden. Der südliche Teil der Savannen, gewöhnlich Llanos de arriba genannt, erzeugt viele Maultiere und Ochsen; aber da dort die Weiden weniger gut sind, ist man genötigt, die Tiere zur Mästung, ehe sie ver­ kauft werden, in andere Ebenen zu bringen. Der Llano de Monai" und alle Llanos de abajo sind weniger reich an Herden, aber ihre Weiden sind so fruchtbar, daß sie für den Küstenbedarf Fleisch von vortrefflicher Qualität liefern. Die Maultiere, die im fünften Jahr erst zur Arbeit geeignet werden und dann mulas de saca heißen, werden schon hier mit 14 bis 18 Piaster ge­ kauft und im Hafen, wo man sie einschifft, mit 25 Piaster, während auf den Antillen ihr Preis öfters auf 60 bis 80 Piaster ansteigt. Die Pferde der Llanos stammen von der schönen spanischen Rasse ab und sind von kleiner Statur. Ihre meist gleichmäßige Farbe ist braunrot wie bei den meisten wilden Tieren. Wechselweise von Trockenheit und Überschwemmungen geplagt, von Insektenstichen und den Bißwunden der großen Fledermäuse gequält, führen sie ein beschwerliches und unruhiges Leben. Ihre guten Eigen­ schaften entwickeln sich und werden spürbar, wenn sie zuvor einige Monate die Pflege des Menschen empfangen haben. Ein wildes Pferd ist in den Pampas von Buenos Aires V2 bis 1 Piaster wert, in den Llanos von Caracas 2 bis 3Piaster; der Preis der Pferde steigt in dem Maße, wie sie gezähmt und

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für landwirtschaftliche Arbeiten brauchbar geworden sind. Schafe gibt es keine, und wir haben Herden nur auf dem Plateau der Provinz Quito ge­ sehen. Die hatos der Ochsen haben in den jüngsten Zeiten durch Banden von Vagabunden beträchtlich gelitten, welche die Steppen durchziehen und die Tiere töten, einfach um ihre Haut zu verkaufen. Diese Räubereien haben sich vermehrt, seit der Handelsverkehr mit dem unteren Orinoco mehr aufgeblüht ist. Ein halbes Jahrhundert lang waren die Gestade dieses großen Stromes, von der Mündung des Apure bis Angostura, nur den mis­ sionierenden Mönchen bekannt. Der Viehexport geschah ausschließlich aus den Häfen der Nordküste, aus Cumami, Barcelona, Burburuta und Puerto Cabello. Heute hat sich diese Küstenabhängigkeit wesentlich ver­ mindert. Der Südteil der Ebenen hat innige Verbindungen mit dem un­ teren Orinoco angeknüpft, und dieser Wandel ist um so lebhafter, als die, welche sich mit ihm beschäftigen, den Anordnungen der Prohibitivgesetze leicht entgehen. Die größten in den Llanos von Caracas vorkommenden Herden sind die der hatos von Merecure, La Cruz, Belen, Alta Gracia und Pav6n. Das spani­ sche Vieh ist über Coro und Tocuyo in die Ebenen gekommen. Die Ge­ schichte hat den Namen des Kolonisten aufbewahrt, der zuerst die glück­ liche Idee hatte, diese Weiden, auf denen damals nur Damhirsche und eine große Art des Aguti (Cavia capybara), hierzulande chiguire genannt, wei­ deten, mit Vieh zu bevölkern. Crist6bal Rodrfguez schickte das erste Horn­ vieh um 1548 in die Llanos. Er war ein Einwohner der Stadt Tocuyo und hatte sich lange Zeit in Neu-Granada aufgehalten. Wenn man von der "zahllosen Menge" von Ochsen, Pferden und Maul­ tieren, die in den amerikanischen Ebenen leben, reden hört, denkt man ge­ wöhnlich nicht daran, daß im zivilisierten Europa auf ungleich beschränk­ terem Raum bei den Ackerbau treibenden Völkern nicht weniger große Herden vorkommen. Frankreich besitzt nach Herrn Peuchet 6 Millionen Stück Hornvieh, darunter 3500000 Zugochsen. In der Österreichischen Monarchie wird die Zahl der Ochsen, Kühe und Kälber von Herrn Liechten­ stern auf 13400000 Stück geschätzt. Allein Paris konsumiert jährlich 155000 Stück Hornvieh. Deutschland bezieht jährlich 150000 ungarische Ochsen. Die in kleinen Herden lebenden Haustiere werden bei den Agrarnationen als ein untergeordneter Teil des Staatsvermögens betrachtet. Auch beein­ drucken sie die Phantasie viel weniger als diese umherschweifenden Herden von Ochsen und Pferden, die allein die unbebauten Länder der Neuen Welt beleben. Die Zivilisation und die gesellschaftliche Ordnung begünstigen gleichermaßen die Fortschritte der Bevölkerung und die Vermehrung der dem Menschen nützlichen T iere. *

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Zu Calabozo, inmitten der Llanos, fanden wir eine Elektrisiermaschine mit großen Scheiben, Elektrophore, Batterien, Elektrizitätsmesser- ein In­ strumentarium, fast ebenso vollständig, wie es unsere Naturforscher in Buropa besitzen. Alle diese Objekte waren nicht in den Vereinigten Staaten gekauft worden; sie waren die Arbeit eines Menschen, der nie ein Instru­ ment gesehen hatte, der niemand um Rat fragen konnte, der die elektri­ schen Erscheinungen nur aus der Lektüre der Schrift Sigaud de la Fonds und aus Franklins Denkschriften kannte. Herr Carlos del Pozo (dies ist der Name des achtenswerten und erfinderischen Mannes) hatte begonnen, Elek­ trisiermaschinen mit Zündern zu bauen, wozu er große Glasglocken ge­ brauchte, deren Flaschenhälse er abschnitt. Erst seit einigen Jahren hatte er sich über Philadelphia zwei Glasscheiben zur Konstruktion einer Scheiben­ maschine verschaffen können, um beträchtlichere elektrische Wirkungen er­ zielen zu können. Man kann sich leicht vorstellen, welch große Schwierig­ keiten Herr Pozo zu überwinden hatte, nachdem ihm die ersten Schriften über die Elektrizität bekannt geworden waren und er den mutigen Ent­ schluß gefaßt hatte, sich durch eigene Anstrengung alles zu verschaffen, was er in den Büchern beschrieben fand. Bis dahin hatte er nur das Erstaunen und die Bewunderung genossen, die seine Versuche bei nicht unterrichteten Personen, die nie die Einsamkeit der Llanos verlassen haben, hervor­ brachten. Unser Aufenthalt in Calabozo verschaffte ihm eine ganz neue Ge­ nugtuung. Man versteht, daß er einigen Wert auf den Beifall zweier Rei­ sender legen mußte, die seine Apparate mit den in Buropa konstruierten ver­ gleichen konnten. Ich führte mehrere Elektrometer mit Stroh, Korkkugeln und geschlagenen Goldblättchen bei mir, auch eine kleine Leidener Flasche, die man nach der Methode von Ingenhouß mittels Reibung laden konnte und die mir zu physiologischen Versuchen diente. Herr Pozo konnte seine Freude nicht fassen, als er zum ersten Mal Instrumente sah, die er nicht selbst gebaut hatte und die den seinigen nachgeahmt schienen. Wir zeigten ihm auch die Wirkung des Kontaktes ungleichartiger Metalle auf die Nerven der Frösche. Galvanis und Voltas Namen waren in diese Weiten Einöden noch nicht vorgedrungen.

[Über den elektrischen Aal] Nach den elektrischen Apparaten, die der sinnreiche Kunstfleiß eines Be­ wohners der Llanos verfertigt hatte, konnte in Calabozo nichts unsere Teil­ nahme lebhafter anregen als die Gymnoten [Gymnotus electricus], die be­ lebte elektrische Apparate sind. Seit langen Jahren täglich mit den Erschei­ nungen galvanischer Elektrizität beschäftigt, dem Enthusiasmus hinge­ geben, der zum Nachforschen anspornt, aber das Entdeckte richtig zu sehen

erschütterliche Phlegma des Volkes bezeugen, wenn seine Gewinnsucht nicht angestachelt werden kann?

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sie, wenn man Tabak kaut, ungestraft berühren. Diese Fabel vom Einfluß des Tabaks auf die tierische Elektrizität ist auf dem Kontinent des südlichen Amerika ebenso verbreitet wie unter den Matrosen der Glaube an die Wir­ kung des Knoblauchs und des Unschlitts auf die Magnetnadel. Da wir von langem Warten ungeduldig waren und sehr ungewisse Resul­ tate von einem lebenden, aber schon geschwächten Gymnotus, den man uns gebracht hatte, erhielten, begaben wir uns zum Cafio de Bera, um dort im Freien und am Ufer selbst unsere Versuche anzustellen. Am

19.

März

[1800]

früh morgens reisten wir zum kleinen Dorf Rastro de abajo; von da führten uns die Indianer zu einem Bach, der in der trockenen Jahreszeit ein Becken mit schlammigem Wasser bildet, das von schönen Bäumen, von Clusien, Amyris und Mimosen mit duftenden Blüten eingefaßt wird. Der Fang der Gymnoten mit Netzen ist sehr schwierig wegen der außerordentlichen Be­ hendigkeit dieser Fische, die sich gleich Schlangen in den Schlamm ver­ graben. Barbasco wollte man nicht verwenden, das heißt die Wurzeln von Piscidia erithryna, Jacquinia armillaris und einiger Phyllanthus-Arten, die, in Sumpfwasser geworfen, die darin befindlichen Tiere betäuben oder lähmen und wodurch die Zitteraale geschwächt worden wären. Die Indianer sagten uns, sie wollten "mit Pferden fischen, embarbascar con cavallos". Wir hatten Mühe, uns einen Begriff von diesem außerordentlichen Fisch­ fang zu machen, sahen aber bald unsere Führer von der Savanne zurück­ kommen, wo sie ungezähmte Pferde und Maultiere zusammengetrieben hatten. Sie brachten etwa dreißig, die man zwang, in den Sumpf zu gehen. Der außergewöhnliche, durch das Stampfen der Pferde verursachte Lärm treibt die Fische aus dem Schlamm hervor und reizt sie zum Kampf. Diese wie Wasserschlangen aussehenden, gelblichen und fahlen Aale schwimmen auf der Oberfläche des Wassers und drängen sich unter den Bauch der Pferde und Maultiere. Ein Kampf zwischen Tieren von derart verschiedener Bil­ dung gewährt ein höchst malerisches Schauspiel. Die Indianer, mit Har­ punen und langen, dünnen Bambusstäben versehen, umzingeln den Sumpf; einige von ihnen steigen auf Bäume, deren Äste sich waagerecht über die Wasserfläche ausdehnen. Durch ihr wildes Geschrei und mittels ihrer langen Rohre hindern sie die Pferde, sich aus dem Wasser an das Ufer zu retten. Die vom Lärm betäubten Zitteraale verteidigen sich mit wiederholten Entla­ dungen ihrer elektrischen Batterien. Lange Zeit scheint es, als ob sie den Sieg davontrügen. Mehrere Pferde erliegen der Stärke der unsichtbaren Schläge, die sie von allen Seiten her an den empfindlichsten Lebensorganen empfangen; von der Stärke und Häufigkeit der Schläge betäubt, ver­ schwinden sie unter dem Wasser. Andere keuchen mit gesträubter Mähne, mit wilder Angst im verstörten Auge, stehen sie wieder auf und suchen dem Gewitter, das sie überraschte, zu entfliehen. Aber die Indianer treiben sie mitten in das Wasser zurück; nur einer kleinen Zahl gelingt es, die rege

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Wachsamkeit der Fischer zu täuschen; sie gewinnen das Ufer, straucheln bei jedem Schritt, strecken sich erschöpft und von den elektrischen Schlägen der Gymnoten erstarrt im Sand aus. In weniger als fünf Minuten waren zwei Pferde ertrunken. Der fünf Fuß lange Zitteraal drängt sich unter den Bauch der Pferde und entlädt sich in der vollen Ausdehnung seines elektrischen Organs. Er greift zugleich das Herz, die Eingeweide und denplexus coeliacus der Unterleibsnerven an. Na­ türlich ist die Wirkung, welche die Pferde erleiden, mächtiger als die, welche der gleiche Fisch beim Menschen verursacht, wenn er nur eines seiner Glieder berührt. Die Pferde sind wahrscheinlich nicht tot, sondern nur be­ täubt. Sie ertrinken, weil der fortdauernde Kampf zwischen den übrigen Pferden und den Gymnoten' ihnen das Emporkommen unmöglich macht. Wir zweifelten nicht, daß der Fischfang mit dem aufeinanderfolgenden Tod aller dafür benutzten Tiere endigen werde; aber nach und nach läßt die Wut des ungleicheh Kampfes nach; die ermüdeten Gymnoten zerstreuen sich. Sje bed*fen(langer Ruhe und reichlicher Nahrung, um wieder zu er­ neuern, was sie an galvan�cher Kraft verloren haben. Die Maultiere und die Pferde erholten sjch von ihrem Schrecken, sie sträubten nicht mehr ihre Mähne, und ihr Auge drückte weniger Entsetzen aus. Die Gymnoten nä­ herten sich furchtsam dem Ufer :ctes Sumpfes, wo sie in kleinen, an langen Stricken befestigten Harpunen gefangen wurden. Wenn die Stricke völlig trocken sind, fühlen die Indianer, während sie den Fisch herausholen, keinen Schlag. In wenigen Minuten besaßen wir fünf große Aale, die meist nur leicht verwundet waren. Andere wurden gegen Abend auf gleiche Weise gefangen. Die Temperatur des Wassers, in dem die Gymnoten gewöhnlich lebten, beträgt 26 bis 27°. Man versichert, ihre elektrische Kraft nähme in kälterem Wasser ab; und ziemlich bemerkenswert ist es, im allgemeinen, wie schon ein berühmter Naturforscher beobachtet hat, daß die mit elektromotori­ schen Organen begabten Tiere, deren Wirkungen auch dem Menschen fühlbar werden, nicht in der Luft, sondern in einem, die Elektrizität lei­ tenden Fluidum vorkommen. Der Zitteraal ist der größte der elektrischen Fische; ich habe welche gemessen, die 5 Fuß bis 5 Fuß und 3 Zoll lang waren. Die Indianer versicherten, noch größere gesehen zu haben. Wir fanden, daß ein 3 Fuß und 10 Zoll langer Fisch 12 Pfund wog. Der Querschnitt des Kör­ pers betrug (die in Gestalt eines Kiels verlängerte hintere Flosse unge­ rechnet) 3 Zoll und 5 Linien. Die Gymnoten von Cafio de Bera haben eine schöne olivgrüne Farbe; der Unterteil des Kopfes ist gelb und rotgefleckt. Zwei Reihen kleiner gelber Flecken laufen symmetrisch längs des Rückens vom Kopf zum Schwanzende. In jedem dieser Flecken öffnet sich ein Aus­ scheidungsgang; auch ist die Haut des Tiers beständig mit einem Schleim überzogen, der, wie Volta dargetan hat, Elektrizität zwanzig- bis dreißigmal

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besser leitet als reines Wasser. Im allgemeinen ist bemerkenswert, daß von allen bisher bekannten elektrischen Fischen der verschiedenen Weltteile kein einziger Schuppen aufweist. Der Zitteraal liebt es gleich unseren Aalen, an der Oberfläche des Wassers Beute zu verschlingen und zu atmen. Man muß nicht mit Herrn Bajon fol­ gern, daß der Fisch, wenn er nicht Atem holen könnte, zugrunde ginge. Un­ sere Aale verweilen einen Teil der Nacht auf Wiesengründen, wogegen ich einen sehr starken Zitteraal, der sich aus dem Wasser geschwungen hatte, auf dem Trockenen sterben sah. Herr Proven�al und ich haben in der Ab­ handlung über das Atemholen der Fische bewiesen, daß ihre feuchten Kiemen die doppelte Verrichtung leisten können, einerseits die atmosphäri­ sche Luft zu zersetzen und andererseits sich den im Wasser gelösten Sauer­ stoff anzueignen. An der Luft wird ihr Atemholen nicht unterbrochen; sie absorbieren aber den gasförmigen Sauerstoff, wie es ein mit Lungen verse­ henes Reptil tut. Die Karpfen werden bekanntlich fett, wenn man ihnen außerhalb des Wassers Nahrung bietet und von Zeit zu Zeit ihre Kiemen mit feuchtem Moos benetzt, um ihr Austrocknen zu verhindern. Die Fische öffnen ihre Kiemendeckel im Sauerstoffgas stärker als im Wasser. Ihre Tem­ peratur bleibt indes die gleiche, und sie leben eine gleich lange Zeit in der Lebensluft und in einer Mischung von

90

Teilen Stickstoff und

Sauerstoff. Wir haben gefunden, daß Schleien

(Cyprinus tinea)

10

Teilen

unter Glas­

glocken, die mit Luft gefüllt waren, innerhalb einer Stunde einen halben Ku­ bikzentimeter Sauerstoff aufnahmen. Dies geschieht ausschließlich durch die Kiemen; denn die Fische, denen man Halsbänder von Kork umlegt und deren Kopf außerhalb des mit Luft gefüllten Gefäßes bleibt, reagieren mit ihrem Körper nicht auf den Sauerstoff. Die Schwimmblase des Gymnoten, deren Dasein Herr Bloch geleugnet hat, ist bei einem 3 Fuß und

10 Zoll langen Fisch 2 Fuß und 5 Zoll lang. Von

der äußeren Haut ist sie durch eine Fettmasse gesondert; sie ruht auf den elektrischen Organen, die über zwei Drittel des Tieres einnehmen. Die glei­ chen Gefäße, die sich zwischen den Lamellen oder dünnen Fältchen dieser Organe schieben und sie bei Querschnitten mit Blut bedecken, geben auch der äußeren Oberfläche der Schwimmblase zahlreiche Äste ab. Ich habe in hundert Teilen der Luft der Schwimmblase 4 Teile Sauerstoff und

96 Teile

Stickstoff gefunden. Die Marksubstanz des Gehirns zeigt nur eine schwache Ähnlichkeit mit der eiweißartigen und gallertartigen Materie der elektri­ schen Organe; aber beide Substanzen weisen gleichmäßig eine große Menge arteriellen Blutes auf, das sie erhalten und das in ihnen desoxidiert wird. Wir bemerken bei dieser Gelegenheit erneut, daß eine sehr verstärkte Tätigkeit der Gehirnfunktion das Blut reichlicher zum Kopf zurückfließen läßt, wie auch durch die Energie der Muskelbewegung die Desoxidierung des arte­ riellen Blutes beschleunigt wird. Welcher Kontrast zwischen der Menge und

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dem Durchmesser der Blutgefäße des Gymnoten und dem kleinen Volumen seines Muskelsystems! Dieser Kontrast erinnert den Beobachter, daß drei ziemlich heterogen erscheinende Funktionen tierischen Lebens, die des Ge­ hirns, des elektrischen Organs und der Muskeln, gleichmäßig des Zuflusses und der Mitwirkung des arteriellen oder oxigenierten Blutes bedürfen. Es wäre verwegen, sich den ersten Schlägen eines sehr großen und stark gereizten Gymnoten auszusetzen. Erhält man zufällig einen Schlag, ehe der Fisch verwundet oder von langer Verfolgung ermattet ist, sind Schmerz und Betäubung so heftig, daß sich die Empfindung, welche man erleidet, gar nicht ausdrücken läßt. Ich erinnere mich nicht, durch die Entladung einer großen Leidener Flasche je eine so furchtbare Erschütterung erlitten zu haben, wie die war, als ich unvorsichtigerweise einst beide Füße über einen Gymnoten legte, der eben aus dem Wasser gezogen wurde. Ich fühlte den ganzen Tag durch in den Knien und fast in allen Gelenken den empfindlich­ sten Schmerz. Um sich von dem bedeutenden Unterschied zu überzeugen, der zwischen der von der Voltaschen Säule und der von den elektrischen Fi­ schen verursachten Empfindung besteht, müssen diese berührt werden, wenn sie schon sehr ermattet und extrem geschwächt sind. Die Gymnoten und die Zitterrochen verursachen dann ein Sehnenzucken [Subsultus ten­ dinum], das sich von der auf die elektrischen Organe gestützten Stelle bis zum Ellbogen fortpflanzt. Man glaubt, bei jedem Schlag eine innere Schwin­ gung zu verspüren, die zwei bis drei Sekunden dauert, worauf eine schmerz­ hafte Betäubung folgt. Auch nennen die Tamanaken-Indianer in ihrer aus­ drucksvollen Sprache den Zitteraal deshalb arimna, das heißt "der die Be­ wegung raubt". Die Empfindung, welche die schwachen Schläge eines Gymnoten er­ regen, kam mir ähnlich dem schmerzhaften Zusammenzucken verwandt vor, das mich bei jeder Berührung zweier verschiedener Metalle ergriff, die auf die durch Kanthariden [Spanische Fliegen] bewirkten Wunden des Rük­ kens gelegt wurden. Dieser Unterschied der durch elektrische Fische und durch die Säule oder eine schwach geladene Leidener Flasche erregten Empfindung war allen Beobachtern auffallend; er steht jedoch keineswegs im Widerspruch mit der vermuteten Identität der Elektrizität und der galva­ nischen Verrichtung der Fische. Die Elektrizität kann dieselbe, ihre Wir­ kungen aber werden verschieden modifiziert sein, durch die Einrichtung der elektrischen Apparate, durch die Stärke der Flüssigkeit, durch die Schnellig­ keit des Stroms, durch eine eigentümliche Art der Wirkung. Im holländischen Guayana, in Demerary zum Beispiel, hat man früher die Gymnoten zur Heilung von Lähmungen gebraucht. Zur Zeit, als die euro­ päischen Ärzte großes Vertrauen in die Heilkraft der Elektrizität setzten, ließ ein Wundarzt aus Essequibo, Herr van der Lott, in Holland eine Ab­ handlung über die Heilkräfte der Gymnoten drucken. Diese elektrischen

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Kuren finden sich bei den amerikanischen Wilden wie bei den Griechen. Scribonius Largus, Galenus und Dioscorides melden, daß der Zitterrochen Kopfschmerzen, Migräne und die Gicht heile. Von ähnlichen Heilverfahren habe ich in den von mir besuchten spanischen Kolonien nichts gehört; hin­ gegen kann ich versichern, daß nach vierstündig anhaltenden Versuchen mit den Gymnoten Herr Bonpland und ich bis zum folgenden Tag eine Schwäche in den Muskeln, einen Schmerz in den Gelenken und ein allgemeines

Übelsein als unzweifelhafte Wirkung einer heftigen Reizung des Nerven­ systems fühlten. Die Gymnoten sind weder geladene Leiter noch Batterien, noch elektro­ motorische Vorrichtungen, durch die man Schläge empfängt, sooft man sie mit einer Hand berührt oder zur Bildung des leitenden Bogens zwischen un­ gleichartigen Polen beide Hände anlegt. Die elektrische Wirksamkeit des Fi­ sches hängt einzig nur von seinem Willen ab, sei es, daß er seine elektrischen Organe nicht immer geladen hält, sei es durch Absonderung irgendeiner Flüssigkeit oder sei es, daß er durch ein anderes, uns ebenso rätselhaftes Mittel die Wirksamkeit seiner Organe nach außen hin leiten kann. Oft ver­ sucht man, isoliert oder nicht isoliert, den Fisch zu berühren, ohne den ge­ ringsten Schlag zu erhalten. Wenn Herr Bonpland ihn am Kopf oder mitten am Leib faßte, während ich den Schwanz hielt und wir, auf feuchtem Boden stehend, einander die Hand nicht gaben, erhielt der eine von uns Schläge, die der andere nicht fühlte. Es hängt von dem Gymnoten ab, einzig nur gegen den Punkt hinzuwirken, wo er sich am stärksten gereizt glaubt. Die Entladung geschieht dann einzig durch diesen und nicht durch den ihm zu­ nächst befindlichen Punkt. Von zwei Personen, die mit dem Finger den Bauch des Fisches einen Zoll weit voneinander und gleichzeitig berühren, ist es bald die eine, bald die andere, die den Schlag empfängt. Wenn eine iso­ lierte Person den Schwanz eines starken Gymnoten faßt, während eine an­ dere ihn in die Kiemen und an der Brustflosse kneift, verspürt öfters nur die erstere die Erschütterung. Es schien uns nicht, daß man diese Unterschiede der Trockenheit oder Feuchtigkeit unserer Hände oder ihrem ungleichen Leitungsvermögen zuschreiben könne. Der Gymnote schien seine Schläge bald mit der Gesamtoberfläche seines Körpers, bald mit einem alleinigen Teil desselben zu leiten. Diese Wirkung bezeichnet weniger eine partielle Entladung des Organs, das aus einer unzählbaren Menge Blättchen zusam­ mengesetzt ist, als vielmehr das Vermögen des Tieres (vielleicht durch die augenblickliche Absonderung einer sich im Zellgewebe verbreitenden Flüs­ sigkeit) , die Verbindung seiner Organe mit der Haut nur auf einen sehr engen Raum zu beschränken. Nichts beweist die Fähigkeit des Gymnoten mehr, durch Gehirn- und Ner­ veneinfluß seine Schläge nach Willkür zu lancieren und zu dirigieren, als die mit völlig zahmen Gymnoten in Philadelphia und kürzlich in Stockholm an-

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gestellten Beobachtungen. Nachdem man sie lange hatte hungern lassen, tö­ teten sie aus der Entfernung kleine Fische, die man in den Zuber gesetzt hatte. Sie wirkten aus der Distanz, das heißt, ihr elektrischer Schlag durch­ lief eine sehr dichte Wasserschicht. Man darf sich nicht wundern, daß man in Schweden an einem einzigen Gymnoten beobachten konnte, was wir an einer großen Zahl in ihrem Vaterland nicht sahen. Weil die elektrische Wirk­ samkeit der Tiere eine Lebensverrichtung und ihrem Willen unterworfen ist, hängt sie nicht ausschließlich von ihrer Gesundheit und Stärke ab. Ein Gym­ note, der die Überfahrt von Surinam nach Philadelphia und Stockholm ge­ macht hat, gewöhnt sich an das Gefängnis, auf das er beschränkt ist; im Zuber nimmt er allmählich wieder seine früheren Gewohnheiten in den Flüssen und Sümpfen an. In Calabozo wurde uns ein im Netz gefangener elektrischer Aal gebracht, der mithin völlig unverletzt war. Er fraß Fleisch und verursachte den kleinen Schildkröten und Fröschen, die, mit der Gefahr unbekannt, sich vertraulich auf den Rücken des Fisches setzen wollten, nicht geringen Schrecken. Die Frösche empfingen die Schläge nicht eher als in dem Augenblick, wo sie den Körper des Gymnoten berührten. Als sie wieder zur Besinnung kamen, flüchteten sie sich aus dem Zuber; und wie sie nochmals in die Nähe des Fisches gebracht wurden, entsetzten sie sich über seinen bloßen Anblick. In diesem Augenblick beobachteten wir nichts, das für eine Wirkung aus der Distanz sprach; unser frisch gefangener Gymnote war aber auch kaum zahm genug, um Frösche anzugreifen und zu verzehren. Wenn ein Finger oder Metallspitzen auf eine halbe Linie Entfernung von den elektrischen Organen gehalten wurden, war kein Schlag spürbar. Viel­ leicht nahm das Tier die Nähe eines fremden Körpers nicht wahr, oder wenn es sie bemerkte, ist es wahrscheinlich, daß die ihm amAnfang seiner Gefan­ genschaft innewohnende Furchtsamkeit es abhielt, kräftige Schläge auszu­ stoßen, die nicht eher erfolgten, bis es sich durch unmittelbare Berührung stark gereizt fühlte. Ich habe, während der Gymnote sich im Wasser befand, meine Hand mit oder ohne Metallbewaffnung seinen elektrischen Organen auf wenigen Linien genähert, ohne durch die Wasserschichten irgendeine Er­ schütterung zu erhalten, während Herr Bonpland das Tier durch unmittel­ bare Berührung kräftig reizte und sehr heftige Stöße von ihm erhielt. Wenn ich die uns bekannten empfindlichsten Elektroskope, die präparierten Frö­ sche nämlich, in nahe Wasserschichten gebracht hätte, würden sie ohne Zweifel im Augenblick, wo der Gymnote seinen Schlag auf einen anderen Teil richtete, Zusammenziehungen verspürt haben. Präparierte Frösche, die unmittelbar auf den Körper eines Rochens gesetzt werden, erleiden nach Galvanis Zeugnis starke Kontraktionen, jedesmal wenn der Fisch sich ent­ lädt. Das elektrische Organ der Gymnoten ist nur unter dem unmittelbaren Einfluß des Gehirns und des Herzens wirksam. Wenn ich einen sehr kräf-

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tigen Gymnoten mitten durchschnitt, empfing ich nur vom äußeren Teil Schläge. Die Stärke der Schläge ist dieselbe, an welchem Teil des Körpers der Fisch berührt werden mag; inzwischen erfolgen diese am ehesten, wenn die Brustflosse, das elektrische Organ, die Lippen, die Augen oder die Kiemen gekniffen werden. Zuweilen sträubt sich das T ier heftig gegen den, der es am Schwanz hält, ohne den mindesten Schlag zu erteilen. Ich empfand davon ebensowenig etwas, als ich in der Nähe der Brustflosse des Fisches einen leichten Einschnitt machte und die Wunde durch einfache Berührung mit Zink- und Silberbelag galvanisierte. Der Gymnote zog sich krampfhaft zusammen; wie durch eine ganz neue Empfindung erschreckt, streckte er den Kopf aus dem Wasser hervor; hingegen fühlte ich keinen Schlag in den Händen, die Armaturen hielten. Die heftigsten Muskelbewegungen sind nicht immer von elektrischen Entladungen begleitet. Die Wirkung des Fisches auf die Organe des Menschen wird durch die­ selben Körper geleitet und unterbrochen, die auch den elektrischen Strom eines geladenen Konduktors, einer Leidener Flasche oder einer Voltaischen Säule leiten oder unterbrechen. Einige Abweichungen, die wir wahrzu­ nehmen glaubten, lassen sich leicht erklären, wenn man sich erinnert, daß selbst die Metalle

( wie

dies ihr Erglühen durch die Säule beweist) dem

Durchgang der Elektrizität ein leichtes Hindernis entgegenstellen und daß ein schlechter Leiter die Wirkung einer schwachen Elektrizität auf unsere Organe vernichtet, während die einer sehr starken durch ihn übertragen wird. Da die abstoßende Kraft zwischen Zink und Silber ungleich stärker ist als die zwischen Gold und Silber, habe ich erkannt, daß der Leitungsbogen von Zink alsbald Schläge hervorbringt, wenn ein präparierter und mit Silber armierter Frosch unter dem Wasser galvanisiert wird, sobald sich eines der Bogenenden auf drei Linien Entfernung den Muskeln nähert, während ein Bogenleiter von Gold keine Erregung der Organe hervorbringt, sobald die zwischen Gold und Muskel befindliche Wasserschicht über eine halbe Linie dicht ist. Wenn man sich eines aus zwei an ihren Enden zusammengelöteten Zink- und Silberstücken bestehenden Bogenleiters bedient und das eine Ende des metallischen Bogens wie zuvor an den Ischiasnerv stützt, muß, um Zusammenziehungen zu erzielen, das andere Ende des Leitungsbogens nach Maßgabe der abnehmenden Reizbarkeit der Organe den Muskeln stets mehr genähert werden. Gegen Ende des Versuches verhindert schon die dünnste Wasserschicht den Durchgang des elektrischen Stroms, und nur im unmittelbaren Kontakt des Bogens mit dem Muskel können Kontraktionen stattfinden. Ich bestehe auf diesen Umständen, die von drei Variablen ab­ hängen: der Energie des elektromotorischen Apparats, der Leitungsfähig­ keit der Bindeglieder und der Reizbarkeit der die Einwirkung erhaltenden Organe. Infolge nicht genügend wiederbalter Versuche im Hinblick auf diese drei variablen Grundlagen hat man bei der für die Wirkung der elektri-

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sehen Gymnoten und Rochen zufällige Bedingungen für solche genommen, ohne welche elektrische Schläge nicht zu fühlen sind. Bei verwundeten Gymnoten, die schwache, aber sehr gleichartige Schläge erteilen, schienen uns diese ständig stärker, wenn der Fisch mit einer metall­ versehenen und nicht mit bloßer Hand berührt wurde. Diese Unterschiede, ich wiederhole es, werden nur spürbar, wenn man über genügend Gymnoten verfügt, um die schwächsten darunter wählen zu können, und wenn die voll­ kommene Gleichheit der elektrischenEntladungen den Unterschied erlaubt zwischen den Empfindungen, die man abwechselnd mit der metallverse­ henen und der bloßen Hand, mit einer oder zwei bloßen, mit einer oder zwei metallversehenen Händen erleidet. Ebenso sind auch nur bei kleinen, schwachen und gleichförmigen Schlägen ebendiese Schläge empfindlicher, wenn der Gymnote mit einer Hand (ohne Bildung der Kette [des Strom­ kreises]) mit Zink anstelle mit Kupfer oder Eisen berührt wird. Harzige Substanzen, Glas, sehr trockenes Holz, Horn und sogar Kno­ chen, die man gewöhnlich für gute Leiter hält, verhindern die Übertragung der Wirkung des Gymnoten auf den Menschen. Ich war überrascht, nicht den mindesten Schlag zu fühlen, als ich mit nassen spanischen Siegellack­ stangen die Organe des Fisches drückte, während mir dasselbe Tier, mit einem metallischen Stab gereizt, die heftigsten Schläge versetzte. Herr Bon­ pland erhielt Schläge, als er einen Gymnoten auf zwei aus Palmfasern ge­ drehten Stricken trug, die uns völlig trocken schienen. Eine starke Entla­ dung bahnt sich einen Weg durch sehr unvollkommene Leiter. Vielleicht wird auch durch das im Leitungsbogen vorhandene Hindernis der Anschlag desto schmerzhafter. Ich habe ohne Erfolg den Gymnoten mit einem nassen braunen Tontopf berührt, jedoch heftige Schläge erhalten, als ich ihn in den gleichen Topf steckte, weil der Kontakt größer war. Wenn zwei Personen, isoliert oder nicht isoliert, sich die Hand geben und dann nur eine von ihnen den Fisch mit der bloßen oder metallversehenen Hand berührt, werden die Schläge meist beiden Personen zugleich fühlbar sein. Doch geschieht es wohl auch, daß bei den schmerzhaftesten Schlägen nur die in unmittelbarem Kontakt mit dem Fisch stehende Person den Schock erleidet. Wenn der Gymnote dermaßen erschöpft oder seine Erreg­ barkeit sehr geschwächt ist, daß er, mit einer Hand allein gereizt, keine Schläge mehr erteilen will, mag man mit Bildung der Kette [des Strom­ kreises] und der Anwendung beider Hände nochmals lebhafte Schläge er­ halten. Jedoch findet selbst in diesem Fall der elektrische Schock nur mit dem Willen des Tieres statt. Zwei Personen, von denen die eine den Schwanz und die andere den Kopf hält, können den Gymnoten nicht zwingen, den Schlag zu erteilen, wenn sie sich bei der Hand fassen und eine Kette bilden. Erscheinungen der Anziehung und Abstoßung konnte ich, auch bei der mannigfach veränderten Anwendung sehr empfindlicher Elektrometer, bei

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ihrer Isolierung auf einer Glasscheibe und während ich ungemein starke, durch das Elektrometer geleitete Erschütterungen erhielt, niemals wahr­ nehmen. Die Beobachtungen des Herrn Fahlberg in Stockholm treffen hiermit zusammen. Dieser Naturforscher hat indessen, wie vor ihm Walsh und Ingenhouß in London, einen elektrischen Funken bemerkt, wenn der Gymnote sich in der Luft befand und die Leitungskette durch zwei auf Glas geklebte und eine Linie entfernte Goldblättchen unterbrochen wurde. Da­ gegen hat niemand jemals einen aus dem Körper des Fisches selbst herausge­ henden Funken bemerkt. In Calabozo haben wir ihn zur Nachtzeit und in völliger Finsternis lange anhaltend gereizt, aber niemals irgendeine leuch­ tende Erscheinung wahrgenommen. Als ich vier Gymnoten von ungleicher Stärke so angeordnet hatte, daß ich die Schläge des stärksten aus ihnen durch Kommunikation, das heißt nur durch Berührung eines anderen Fi­ sches empfing, bemerkte ich an diesen keine unruhige Bewegung im Augen­ blick, wo der Strom durch sie geleitet wurde. Vielleicht nimmt dieser Strom seinen Weg nur durch die feuchte Oberfläche der Haut. Wir folgern indessen hieraus nicht, daß die Gymnoten für die Elektrizität unempfänglich seien oder daß sie im Grunde des Pfuhls nicht gegeneinander kämpfen könnten. Ihr Nervensystem muß den gleichen Einwirkungen unterliegen wie die Nerven anderer Tiere. Ich habe auch in der Tat beobachtet, daß sie bei der einfachen Berührung ungleicher Metalle Muskelzusammenziehungen er­ leiden, wenn ihre Nerven bloßgelegt werden, und Herr Fahlberg in Stock­ holm fand, daß sein Gymnote in krampfhafte Bewegungen geriet, wenn er sich in einem kupfernen Zuber befand und schwache Entladungen einer Lei­ dener Flasche durch seine Haut geschahen. Nach allen Versuchen, die ich mit den Gymnoten angestellt hatte, war es mir bei der Rückkehr nach Europa sehr wichtig, die Verhältnisse genau zu kennen, unter welchen ein anderer elektrischer Fisch, der Zitterrochen un­ serer Meere, Schläge erteilt oder nicht. Trotz der von sehr vielen Naturfor­ schern mit ihm vorgenommenen Untersuchungen fand ich doch alles noch sehr schwankend, was von seinen elektrischen Wirkungen bekannt ge­ worden ist. Man hat völlig willkürlich angenommen, daß er wie eine Lei­ dener Flasche wirke, die man nach Belieben entlädt, indem man sie mit beiden Händen berührt; und diese Voraussetzung scheint die Beobachter, die sich mit diesen Forschungen abgaben, irregeführt zu haben. Auf unserer Reise durch Italien haben Herr Gay-Lussac und ich zahlreiche Versuche mit den im Golf von Neapel gefangenen Zitterrochen angestellt. Diese Versuche bieten mehrere von den auf die Beobachtungen der Gymnoten gegründeten ziemlich abweichende Ergebnisse dar. Wahrscheinlich liegt die Ursache dieser Verschiedenheiten mehr in der Ungleichheit der elektrischen Kraft beider Fische als in der verschiedenen Anordnung ihrer Organe. Obgleich die Kraft des Zitterrochens mit der des Gymnoten nicht zu ver-

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gleichen ist, reicht sie doch hin, um sehr schmerzhafte Empfindungen zu ver­ ursachen. Eine an elektrische Schläge gewöhnte Person hat Mühe, einen 12 bis 14 Zoll langen, seine ganze Stärke besitzenden Zitterrochen in der Hand zu halten. Wenn das Tier im Wasser nur noch sehr schwache Schläge erteilt, werden die Schläge fühlbarer, sobald man es über die Oberfläche des Was­ sers emporhebt. Beim Galvanisieren von Fröschen habe ich diese Erschei­ nung öfters bemerkt. Der Zitterrochen bewegt die Brustflossen krampfhaft, sooft er einen Schlag erteilt, und dieser Schlag ist mehr oder minder schmerzhaft, je nachdem die unmittelbare Berührung eine mehr oder weniger breite Fläche einnimmt. W ir haben oben bemerkt, daß der Gymnote, wenn er die stärk­ sten Schläge erteilt, mit den Füßen, dem Kopf und den Flossen keine Bewe­ gung macht. Beruht dieser Unterschied auf der Lage des elektrischen Or­ gans, das beim Gymnoten nicht doppelt ist? Oder geht aus der Bewegung der Brustflossen des Zitterrochens der unmittelbare Beweis hervor, daß der Fisch das elektrische Gleichgewicht durch seine eigene Haut herstellt, daß er sich durch seinen eigenen Körper entlädt und daß wir überall nur die Wir­ kung eines seitlichen Schocks verspüren? Weder ein Zitterrochen noch ein Gymnote lassen sich also willkürlich ent­ laden, wie man eine Leidener Flasche oder eine Voltaische Säule willkürlich entladen kann. Man fühlt nicht jederzeit einen Schlag, selbst dann nicht, wenn ein elektrischer Fisch mit beiden Händen ergriffen wird; er muß erst gereizt werden, wenn eine Erschütterung von ihm ausgehen soll. Diese Ver­ richtung ist im Zitterrochen wie im Gymnoten eine vitale Aktion, sie hängt nur vom Willen des Tieres ab, das vielleicht seine elektrischen Organe nicht immer geladen hält oder auch die Wirksamkeit seiner Nerven nicht jederzeit zur Unterhaltung der Kette zwischen den positiven und negativen Polen an­ wendet. Soviel ist gewiß, daß der Zitterrochen mit staunenswerter Schnellig­ keit eine lange Reihe von Schlägen bewirken kann, sei es daß die Scheiben oder Blätter seiner Organe nicht jedesmal ganz erschöpft werden oder daß der Fisch sie alsbald wieder neu zu laden vermag. Der elektrische Schlag wird fühlbar, wenn das Tier zu dessen Erteilung geneigt ist, sei es, daß man mit einem einzigen Finger nur eine einzige Oberfläche der Organe berühre oder daß man mit beiden Händen seine beiden Oberflächen, die obere und die untere, gleichzeitig umfasse. In beiden Fällen ist es völlig gleichgültig, ob die Person, die den Fisch mit einem Finger oder mit beiden Händen berührt, isoliert ist oder nicht. Alles, was über die Notwendigkeit eines Zusammenhangs durch den feuchten Boden für die Erzielung einer Kettenverbindung gesagt worden ist, beruht auf unzuverlässigen Beobachtungen. Herr Gay-Lussac hat die wichtige Beobachtung gemacht, daß ein unmit­ telbarer Kontakt durchaus erforderlich wird, wenn eine isolierte Person den

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Zitterrochen mit einem einzigen Finger berührt. Man berührt den Fisch un­ gestraft mit einem Schlüssel oder mit irgendeinem andern metallischen Werkzeug, ohne Erfolg und ohne eine Erschütterung zu verspüren, sobald ein leitender oder nicht leitender Körper zwischen dem Finger und dem elektrischen Organ des Zitterrochens liegt. Dieser Umstand bietet einen großen Unterschied zwischen dem Zitterrochen und dem Gymnoten dar, indem der letztere seine Stöße durch das Mittel eines mehrere Fuß langen Eisenstabs erteilt. Wird ein Zitterrochen auf eine ganz dünne Metallscheibe gelegt, so daß die Scheibe die untere Fläche seiner Organe unmittelbar berührt, fühlt die Hand, welche die Scheibe hält, niemals einen Schlag, wenngleich eine zweite isolierte Person das Tier reizt und obschon die krampfhaften Bewe­ gungen der Brustflossen sehr starke und wiederholte Entladungen produ­ zieren. Wird hingegen der auf der Metallscheibe liegende Zitterrochen, wie im vorhergehenden Versuch, von jemand mit der linken Hand gehalten und die­ selbe Person berührt nun mit der rechten Hand die obere Fläche des elektri­ schen Organs, so wird eine kräftige Erschütterung in beiden Armen gespürt. Die Empfindung, die man erleidet, ist die gleiche, wenn der Fisch sich zwi­ schen zwei Metallscheiben befindet, deren Ränder einander nicht berühren, und wenn dann beide Hände gleichzeitig an diese Scheiben gelegt werden. Die dazwischengestellte Metallscheibe verhindert die Verbindung, wenn diese Scheibe nur mit der einen Hand berührt wird, wogegen zwei dazwi­ schengestellte Metallscheiben die Schläge nicht mehr hindern, sobald beide Hände an sie gelegt werden. In letzterem Fall bleibt kein Zweifel mehr übrig, daß die Zirkulation des Fluidums durch beide Arme geschieht. Wenn bei gleicher Position des Fisches zwischen beiden Metallscheiben irgendein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den Rändern der zwei Scheiben besteht, gibt es keinen Schlag mehr. Die Kette zwischen beiden Oberflächen des elektrischen Organs wird dann durch die Scheiben ge­ bildet, und die neue Verbindung, welche durch die Berührung beider Hände mit den Scheiben zustande kommt, bleibt ohne Wirkung. Wir haben den Zit­ terrochen, ohne einen Schlag zu erhalten, zwischen zwei Metallscheiben ge­ bracht und seine Schläge nur in dem Augenblick gespürt, wo die Scheiben sich an ihren Rändern nicht mehr berührten. Im Zitterrochen wie im Gymnoten zeigt nichts an, daß das Tier die elektri­ sche Spannung der sich in seiner Nähe befindlichen Körper modifizieren könnte. Auch das empfindlichste Elektrometer zeigt keine Veränderung, wie man es immer anwenden mag, sei es daß es den Organen genähert wird oder daß der Fisch isoliert, mit einer Metallscheibe bedeckt und diese durch einen Leitungsdraht mit dem Voltaschen Kondensator verbunden wird. Wir haben diese Versuche, durch die man elektrische Spannung in den Organen

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des Zitterrochens fühlbar zu machen sucht, mit Sorgfalt variiert, doch immer ohne Erfolg, so daß sie das vollkommen bestätigen, was Herr Bon­ pland und ich während unseres Aufenthalts im südlichen Amerika an den Gymnoten beobachtet hatten. Die elektrischen Fische wirken, wenn ihre Kraft völlig ungeschwächt ist, mit gleicher Stärke unter dem Wasser und in der Luft. Diese Beobachtung er­ laubte uns, die leitende Kraft des Wassers zu prüfen, und wir fanden, daß die Erschütterung nur dann fühlbar wird, wenn mehrere Personen die Kette zwi ­ schen oberer und unterer Fläche der Organe des Zitterrochens bilden und sich die Hände befeuchtet haben. Die Wirkung wird nicht unterbrochen, wenn zwei Personen, die mit ihren rechten Händen den Zitterrochen halten, statt sich mit der linken Hand zu fassen jede ein Metallstilett in einen auf einem isolierten Körper befindlichen Wassertropfen eintaucht. Wird der Wassertropfen durch eine Flamme ersetzt, ist die Verbindung unterbrochen, und sie stellt sich, wie im Gymnoten, nur dann wieder her, wenn beide Me­ tallstilette sich im Inneren der Flamme unmittelbar berühren. Wir sind weit von der Entschleierung aller Geheimnisse der elektrischen Wirkung der Fische entfernt, die durch den Einfluß des Gehirns und der Nerven modifiziert wird; allein die soeben berichteten Versuche genügen, um zu beweisen, daß diese Fische durch eine verborgene Elektrizität wirken und durch elektromotorische Apparate von besonderer Zusammensetzung, die mit ausnehmender Schnelligkeit wieder aufladen. Herr Volta nimmt an, daß bei den Zitterrochen sowohl wie bei den Gymnoten die Entladung der entgegengesetzten Elektrizität durch ihre eigene Haut geschieht und daß in dem Falle, wo wir sie nur mit der einen Hand oder mittels einer Metallspitze berühren, wir die Wirkung eines seitlichen Schocks fühlen, da der elektri­ sche Strom seine Richtung nicht einzig auf dem kürzesten Wege nimmt. Wird eine Leidener Flasche auf ein nasses Tuch gestellt, das ein schlechter Leiter ist, und wird hierauf die Flasche so entladen, daß das Tuch in dem Bogen [Stromkreis] einbezogen ist oder dazugehört, dann zeigen präparierte und in verschiedener Entfernung plazierte Frösche durch ihre Kontraktionen, daß der Strom sich auf dem ganzen Tuch in allen möglichen Richtungen ver­ breitet. Dieser Analogie zufolge wäre der stärkste Schlag, den ein Gymnote in die Ferne sendet, nur ein schwacher Teil desjenigen Schlages, der das Gleichgewicht im Inneren des Fisches wiederherstellt. Weil der Gymnote sein Fluidum leitet, wohin er es will, muß man auch zugeben, daß die Entla­ dung nicht gleichzeitig durch die ganze Haut erfolgt, sondern, daß das Tier, vielleicht mittels der Sekretion eines in einen Bereich des Zellgewebes er­ gossenen Fluidums gereizt, die Verbindung zwischen seinen Organen und diesem oder jenem Teil seiner Haut nach Belieben herstellt. Man begreift, daß ein seitlicher Schlag außerhalb der Kette [des Stromkreises] den beiden Bedingungen einer sehr schwachen Entladung oder eines sehr großen Hin-

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demisses, resultierend aus Art und Länge des Leiters, unmerklich werden muß. Trotz dieser Betrachtungen scheint es mir sehr überraschend, daß an­ scheinend sehr starke Schläge in Zitterrochen nicht in die Hand übergingen, wenn eine sehr dünne Metallscheibe zwischen Hand und Fisch einge­ schoben war. Dr. Schilling hatte angezeigt, der Gymnote nähere sich unwillkürlich dem Magneten, und zu unserem Erstaunen hatte Herr Pozo die gleiche Idee an­ genommen. Wir haben auf tausenderlei Arten den behaupteten Einfluß des Magneten auf die elektrischen Organe untersucht, aber nie eine spürbare Wirkung beobachtet. Der Fisch näherte sich einem Magneten nicht mehr als einer nichtmagnetischen Eisenstange. Die auf seinen Rücken gestreuten Eisenfeilspäne blieben unbeweglich. Während die Gymnoten ein Gegenstand der Vorliebe und der lebhaften Teilnahme der europäischen Naturforscher sind, werden sie von den Einge­ borenen gefürchtet und verabscheut. Zwar ergibt ihr Muskelfleisch eine ziemlich gute Nahrung; aber das elektrische Organ macht den größten Teil ihres Körpers aus, und dieses ist schwammig und hat einen unangenehmen Geschmack; auch trennt man es sorgfältig vom übrigen Körper. Man er­ blickt in der Anwesenheit des Gymnoten die Hauptursache des Fischman­ gels in den Teichen und Lachen der Llanos. Man tötet mehr, als man ißt, und die Indianer sagten uns, daß Gymnoten nie Spuren von Verwundung zeigen, wenn in starken Netzen zu gleicher Zeit junge Krokodile und Gymnoten ge­ fangen werden, weil sie die jungen Krokodile, ehe sie von ihnen angegriffen werden, außer Gefecht setzen. Alle Wasserbewohner fürchten die Gesell­ schaft der Gymnoten. Die Eidechsen, die Schildkröten und die Frösche su­ chen Tümpel auf, wo sie vor ihnen geschützt sind. In der Nähe von Uritucu mußte die Richtung einer Straße verändert werden, weil die elektrischen Aale sich in einem Fluß dermaßen vermehrt hatten, daß sie alljährlich eine große Anzahl lasttragender Maultiere, die das Wasser durchwateten, tö­ teten. Obgleich wir uns schmeicheln dürfen, beim gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse über die außerordentlichen Wirkungen der elektrischen Fische einiges Licht verbreitet zu haben, bleibt in physischer und physiologischer Hinsicht immer noch sehr viel zu untersuchen übrig. Die glänzenden Ergeb­ nisse, welche die Chemie durch die Voltasche Säule erhalten hat, haben alle Beobachter beschäftigt und zogen für eine Weile ihre Aufmerksamkeit von den Erscheinungen der Lebenswelt ab. Wir wollen hoffen, daß diese Phäno­ mene, die großartigsten und geheimnisvollsten von allen, jetzt auch den Scharfsinn der Naturforscher wieder beschäftigen werden. Diese Hoffnung mag leicht in Erfüllung gehen, wenn man in einer der großen Hauptstädte Europas dazu gelangt, sich aufs neue lebendige Gymnoten zu verschaffen. Die Entdeckungen, die man über die elektromotorischeil Apparate dieser

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Fische, die ungleich kräftiger und auch leichter lebend aufzubewahren sind als die Zitterrochen, machen wird, werden sich über alle Erscheinungen der willkürlichen Muskelbewegung erstrecken. Vielleicht findet es sich, daß bei den meisten Tieren jeder Kontraktion der Muskelfaser eine Entladung des Nervs in den Muskeln vorangeht und daß der einfache Kontakt verschieden­ artiger Substanzen eine Quelle der Bewegung und des Lebens aller organi­ schen Geschöpfe ist. Sollte wohl ein lebhaftes und geistreiches Volk, die Araber, schon im frühenAlterturn erraten haben, daß eben die Kraft, die bei Gewittern das Himmelsgewölbe entzündet, auch die lebendige und unsicht­ bare Waffe der Bewohner der Gewässer ist? Der elektrische Fisch des Nils wird in Ägypten, wie man versichert, mit einem Namen benannt, der den Donnerstrahl bezeichnet. *

Am 24. März

[1800] verließen wir die Stadt Calabozo, sehr befriedigt über

unseren Aufenthalt sowie über unsere Versuche über einen der Aufmerk­ samkeit der Physiologen so würdigen Gegenstand. Ich hatte außerdem gute Sternbeobachtungen erhalten und zu meiner Überraschung bemerkt, daß die Irrtümer der Karten sich auch hier noch auf den vierten Teil eines Brei­ tengrades belaufen. Vor mir hatte hier niemand Beobachtungen angestellt, und indem die Geographen wie gewöhnlich die Küstenabstände im Inneren zu groß annahmen, wurden alle Standpunkte ungebührlich weit nach Süden vorgerückt. Beim Vorgehen im südlichen Teil der Llanos fanden wir den Boden stau­ biger, von Pflanzen entblößter und von einer anhaltenden Trockenheit zer­ rissener. Die Palmen verschwanden nach und nach. Das T hermometer hielt sich von 11 Uhr bis Sonnenuntergang auf 34 oder 35°. Je ruhiger die Luft in 8 oder 10 Fuß Höhe zu sein schien, desto mehr wurden wir von den Staub­ tromben eingehüllt, welche die kleinen über den Boden hinstreifenden Luftströmungen verursachen. Gegen vier Uhr abends trafen wir in der Sa­ vanne ein junges indianisches Mädchen an. Es war völlig nackt, lag auf dem Rücken und schien nicht älter als zwölf oder dreizehn Jahre. Müdigkeit und Durst hatten das Kind erschöpft; Augen, Nasenlöcher und Mund waren mit Staub angefüllt, sein Atemholen röchelnd, und unsere Fragen konnte es nicht beantworten. Ein umgestürzter Krug, zur Hälfte voll Sand, lag neben ihm. Zum Glück hatten wir ein mit Wasser beladenes Maultier. Durch Wa­ schen des Gesichts und durch ein wenig Wein, den wir das Kind zu trinken nötigten, wurde es aus seinem lethargischen Zustand erweckt. Anfangs schien es erschrocken über die vielen Leute; allmählich aber wurde es ru­ higer und sprach mit unseren Führern. Der Stellung der Sonne nach glaubte es mehrere Stunden im Todesschlummer gelegen zu haben. Es wollte durchaus nicht eines unserer Lasttiere besteigen und ebensowenig nach Uri-

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tucu zurückkehren. Es hatte in einem benachbarten Hof gedient und war von seiner Herrschaft entlassen worden, weil es infolge einer überstandenen langen Krankheit zur Arbeit weniger geeignet befunden wurde als vorher. Unser Drohen und Bitten war vergeblich; für die Leiden unempfindlich, wie die übrigen Glieder seines Stammes, und nur mit der Gegenwart beschäf­ tigt, ohne künftige Gefahren zu fürchten, beharrte es auf dem Entschluß, sich in eine der indianischen Missionen in der Nähe von Calabozo zu be­ geben. Wir reinigten seinen Krug vom Sand und füllten ihn mit Wasser. Das Mädchen setzte seinen Weg in den Steppen fort, noch ehe wir wieder zu Pferd saßen, und bald hatte uns eine Staubwolke von ihm getrennt. Nachts wateten wir durch den Rio Uritucu; der Fluß enthält ein zahlrei­ ches, seiner Wildheit wegen sehr bemerkenswertes Krokodilgeschlecht. Man riet uns, unsere Hunde nicht aus dem Strom trinken zu lassen, weil es öfters geschieht, daß die Krokodile des Uritucu aus dem Wasser hervorkommen und sie am Gestade verfolgen. Diese Kühnheit ist um so auffallender, als die Krokodile des Rio Tisnao in einer Entfernung von nicht mehr als sechs Iieues ziemlich furchtsam und wenig gefährlich sind. Die Sitten der Tiere wechseln bei der gleichen Art nach örtlich schwer zu prüfenden Umständen. Man zeigte uns eine Hütte oder vielmehr eine Art Schutzdach, worin unser Gast­ geber von Calabozo, Don Miguel Cousin, Zeuge eines außerordentlichen Vorfalls gewesen war. In Gesellschaft eines seiner Freunde auf einer mit Leder überzogenen Bank liegend, wurde Don Miguel früh morgens von hef­ tigen Stößen und einem furchtbaren Lärm geweckt. Erdschollen wurden bis mitten in die Hütte geworfen. Bald kam ein junges, zwei bis drei Fuß langes Krokodil unter dem Bett hervor, warf sich auf einen an der Türschwelle lie­ genden Hund, verfehlte ihn im Ungestüm seines Sprungs und floh dann gegen das Ufer, um den Fluß zu erreichen. Bei Ansicht der Stelle, wo die

barbacoa

oder Lagerstätte errichtet war, konnte man sich die Ursache des

seltsamen Vorfalls leicht erklären. Der Boden war in beträchtlicher Tiefe aufgewühlt. Es war trockener Schlamm, der das Krokodil in dem lethargi­ schen Zustand oder Sommerschlaf begraben hatte, den manche Individuen dieser Art in der Trockenzeit pflegen. Der Lärm von Menschen und Pferden, vielleicht sogar der Geruch des Hundes, hatte das Tier geweckt. Das Schutz­ dach stand am Rand einer Lache, die einen Teil des Jahres hindurch mit Wasser gefüllt war. Das Krokodil war zweifellos zur Zeit der Überschwem­ mung der Savanne durch die gleiche Öffnung ins Erdreich hineinge­ kommen, aus der Herr Pozo es hervorkommen sah. Die Indianer finden oft ungeheure Boas, die sie uji oder Wasserschlangen nennen, in ähnlichem Zu­ stand der Erstarrung. Um sie wieder zu beleben, müssen sie, sagt man, ge­ reizt oder mit Wasser benetzt werden. Die Boaschlange wird getötet, um sie in Bäche zu tauchen und durch Fäulnis die Sehnenteile ihrer Rückenmus­ keln herausziehen, woraus in Calabozo vortreffliche Gitarrensaiten verfer-

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tigt werden, die man den aus den Därmen der Alouaten-Affen bereiteten vorzieht. Wir sahen soeben, daß in den Llanos Trockenheit und Wärme auf Tiere und Pflanzen wie die Kälte wirken. Außerhalb der Wendekreise verlieren die Bäume in sehr trockener Luft ihre Blätter. Die Reptilien, vornehmlich die Krokodile und die Boas, verlassen bei ihrer ausnehmend trägen Natur die Becken, worin sie zur Zeit der großen

Ü berschwemmungen Wasser fanden,

mit Mühe. Sowie die Lachen allmählich austrocknen, tiefen diese Tiere sich im Schlamm ein, um den Grad der Feuchtigkeit zu finden, der Haut und Hüllen Biegsamkeit gewährt. In diesem Zustand der Ruhe gehen sie in Er­ starrung über; sie bewahren vielleicht noch eine Verbindung mit der äußeren Luft; wie gering diese auch sein mag, kann sie doch genügen, die Atmung einer Echse zu erhalten, die, mit überaus großen Lungensäcken versehen, keine Muskelbewegungen macht und bei der auch fast alle Lebensfunk­ tionen unterbrochen sind. Wahrscheinlich beträgt die mittlere Wärme im ausgetrockneten und den Sonnenstrahlen ausgesetzten Schlamm über Als das nördliche unter

40°.

Ägypten, wo die Temperatur des kältesten Monats nicht

13,4° liegt, noch Krokodile ernährte, sah man diese öfters von Frost er­

starrt. Sie waren einem Winterschlaf unterworfen wie unsere Frösche, Sala­ mander, Uferschwalben und Murmeltiere. Wenn das winterliche Erstarren gleichmäßig bei Warm- und Kaltblütern vorkommt, wird man es weniger auf­ fallend finden, daß diese beiden Klassen auch Beispiele des Sommerschlafs darbieten. Wie die Krokodile des südlichen Amerika verbringen auch die Tenrecs

[Centenes,

Illiger

(Erinaceus ecaudatus,

Lin. )] oder madagassi­

schen Igel, mitten in der heißen Zone, drei Monate des Jahres im lethargi­ schen Zustand. Am 25. März

[1800]

kamen wir durch den flachsten Teil der Steppen von

Caracas, die Mesa de Pavones, auf der gar keine Corypha- oder Mariehe­ Palmen angetroffen werden. So weit das Auge reicht, erblickt man keinen auch nur fünfzehn Fuß hohen Gegenstand. Die Luft war rein und die Farbe des Himmels sehr dunkelblau, aber am Horizont sah man den Widerschein eines blassen und gelblichen Lichtes, ohne Zweifel als Wirkung des in der At­ mosphäre schwebenden Sands. Es begegneten uns zahlreiche Viehherden und in ihrem Gefolge Schwärme von schwarzen, grünlich schimmernden Vö­ geln, die der Gattung Crotophaga angehören. Wir haben sie öfters auf dem Rücken der Kühe sitzen sehen, wo sie Bremsen und andere Insekten suchen. Gleich mehreren Vögeln dieser Einöden scheuen sie die Nähe der Menschen so wenig, daß die Kinder sie zuweilen mit der Hand fangen. In den Tälern von Aragua, wo sie in Menge vorkommen, setzten sie sich auf unsere Hänge­ matten, während wir am hellen Tag darin ruhten. Zwischen Calabozo, Uritucu und der Mesa de Pavones erkennt man überall, wo Menschenhände einige Fuß tief die Erde öffneten, die geologi-

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sehe Constitution der Llanos. Eine Bildung von rotem Sandstein (oder altem Konglomerat) dehnt sich über mehrere tausend Quadratlieues aus. Wir werden sie in der Folge in den weiten Ebenen des Amazonenstroms, am östlichen Ende der Provinz Jaen de Bracamoros wieder antreffen. Diese un­ geheure Ausdehnung des roten Sandsteins in den Niederungen, die sich auf der Ostseite der Anden befinden, ist eine der merkwürdigsten Erschei­ nungen, die mir das Studium der Gesteine in den Äquinoktialländern darge­ boten hat. Der rote Sandstein in den Llanos von Caracas findet sich in muldenför­ miger Lagerung zwischen den Urgebirgen des Küstenlandes und denen von la Parime. Nördlich schließt er sich den Übergangsschiefern an; südwärts ruht er unmittelbar auf den Graniten des Orinoco. Wir haben darin wiederer­ kannt: abgerundete Bruchstücke von Quarz, von Kieselschiefer und lydi­ schem Stein, die durch einen eisenhaltigen braungrünlichen Ton verkittet sind. Es ist völlig die gleiche Bildung wie das "tote Liegende" T hüringens. Der Kitt hat zuweilen ein so lebhaftes Rot, daß die Landbewohner darin Zinnober zu sehen glauben. In Calabozo fanden wir einen Kapuziner­ Mönch, der sich viel vergebliche Mühe gegeben hatte, um Quecksilber aus diesem roten Sandstein zu gewinnen. In der Mesa de Paja enthält dieses Ge­ stein Schichten eines anderen quarzigen und sehr feinkörnigen Sandsteins; mehr südwärts enthält es braune Eisenmassen und Bruchstücke von verstei­ nertem Holz aus Gewächsen der Monocotyledonen-Familie; dagegen fanden wir keine Conchylien darin. Der rote Sandstein, welchem die Lla­ neros den Namen piedras de arrecifes [Ufer- oder Klippensteine] geben, ist allenthalben mit einer Tonschicht bedeckt. An der Sonne verhärtet und aus­ getrocknet, spaltet sich dieserTon in einzelne prismatische, fünf- oder sechs­ seitige Stücke. Gehört er vielleicht zur Treppenbildung von Parapara? Sie wird dicker und mit Sand vermengt in dem Maß, wie man dem Rio Apure näherkommt; denn in der Gegend von Calabozo beträgt ihre Dicke eine Toise und in der Gegend der Mission von Guayaval fünfToisen, was zur Ver­ mutung führen könnte, die Lager des roten Sandsteins seien südwärts einge­ fallen. In der Mesa de Pavones haben wir kleine Nester von blauer Eisen­ erde im Ton verstreut angetroffen. Über dem roten Sandstein lagert zwischen Tisnao und Calabozo ein dichter, grauweißer Kalkstein, der im Bruch glatt und der Formation von Ca­ ripe, mithin auch derjenigen des Jura sehr ähnlich ist; an mehreren anderen Stellen (zum Beispiel in der Mesa de San Diego und zwischen Ortiz und der Mesa de Paja) trifft man über dem Kalkstein blättrigen, mit Mergellagern wechselnden Gips an. Dieser wird in bedeutender Menge nach Caracas ge­ sandt, das mitten im Urgebirge liegt. Dieser Gips findet sich meist nur in kleinen Lagern, und er ist viel mit fase­ rigem Gips vermischt. Sollte er derselben Formation angehören wie der von

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Guire, an der Küste von Paria, der Schwefel enthält, oder gehören die im Tal von Buen Pastor und an den Gestaden des Orinoco vorkommenden Massen dieses letzteren mit dem tonigen Gips der Llanos einem Sekundärboden von viel neuerem Ursprung an? Diese Fragen sind für das Studium des relativen Alters der Gebirgsarten, dieser Hauptgrundlage der Geognosie, von großer Wichtigkeit. Mir sind keine Bildungen salzsaurer Soda in den Llanos be­ kannt. Das Hornvieh gedeiht hier ohne jene berühmten bareras oder das sal­ zige Erdreich, das in den Pampas von Buenos Aires so häufig vorkommt. Nach langer, ohne eine Spur von Weg fortgesetzter Wanderung durch die öden Savannen der Mesa de Pavones waren wir angenehm überrascht, einen vereinzelten Hof zu finden, der Hato de Alta Gracia hieß, versehen mit Gärten und Becken klaren Wassers. Hecken des Azedarac-Strauches um­ gaben mit Früchten beladene Gruppen des lcaco-Pflaumenbaums. Die Nacht brachten wir in der Nähe des kleinen Dorfes San Geronimo del Gu­ ayaval zu, das von Kapuziner-Missionaren gegründet wurde. Es liegt nahe am Ufer des Rio Gwirico, der sich in den Apure ergießt. Ich besuchte den Geistlichen, der einstweilen in der Kirche wohnte, weil noch kein Pfarrhof erbaut war. Der junge Mann empfing uns mit zuvorkommender Gefälligkeit und gab über alles, was ich wünschte, Auskunft. Sein Dorf oder, um den unter den Mönchen üblichen Namen zu gebrauchen, seine Mission war ein schwieriges Amt. Ihr Stifter, der kein Bedenken getragen hatte, eine

peria für seinen Nutzen zu errichten,

pul­

das heißt, in der Kirche selbst Pisang­

früchte und Guarapo zu verkaufen, war in der Auswahl seiner neuen Koloni­ sten mit ebensowenig Vorsicht zu Werke gegangen. Viele Landstreicher aus den Llanos hatten sich in Guayaval angesiedelt, weil die Bewohner der Mis­ sionen sich dem weltlichen Richter entziehen können. Hier wie in Neu-Hol­ land [Australien] darf man sich nur von der zweiten oder dritten Generation gute Kolonisten versprechen. Wir setzten über den Rio Guarico und biwakten in den Savannen südwärts von Guayaval. Sehr große Fledermäuse, die ohne Zweifel zur Familie der Phyllostomen gehören, schwärmten wie gewöhnlich einen guten Teil der Nacht über unseren Hängematten. Man glaubt jeden Augenblick, sie würden sich im Gesicht anklammern. Früh morgens setzten wir unseren Weg durch niedriges und öfters überschwemmtes Land fort. Zur Regenzeit kann man zwischen dem Guarico und dem Apure wie über einen See im Kahn fahren. Ein Mann, der alle Großviehfarmen

(hatos)

der Llanos besucht

hatte, um Pferde zu kaufen, wurde unser Begleiter. Er hatte für 1000 Pferde 2200 Piaster bezahlt. Die Preise werden, wie leicht zu verstehen, niedriger bei beträchtlichen Ankäufen. Am 27. März [1800] trafen wir in Villa de San Fernando ein, die der Hauptort der Kapuzinermissionen in der Provinz Barinas ist. Dies war das Ziel unserer Reise auf dem flachen Land, denn die drei Monate April, Mai und Juni brachten wir auf den Strömen zu.

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Kapitel XVIII San Fernando de Apure - Verflechtungen und Gabelteilungen der Flüsse Apure und Arauca- Fahrt auf dem Rio Apure Die Namen der großen Flüsse Apure, Payara, Arauca und Meta waren bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Buropa kaum bekannt; sie waren es noch weniger als in den zwei vorhergegangenen Jahrhunderten, als der tapfere Felipe de Urre [Philipp v. Rutten] und die Eroberer vonTocuyo die Llanos durchzogen, um jenseits des Apure die große Stadt des Dorado [des Vergoldeten (Fürsten)] und das reiche Land der Omaguas, dasTimbuk tu des Neuen Kontinents, aufzusuchen. Derart kühne Unternehmungen konnten nur mit voller militärischer Ausrüstung ausgeführt werden. Auch wurden die Waffen, die nur zum Schutz der neuen Kolonisten dienen sollten, unaufhör­ lich gegen die unglücklichen Eingeborenen gerichtet. Als den Zeiten der Gewalttätigkeit und öffentlicher Nöte friedlichere Zeiten gefolgt waren, bemächtigten sich zwei mächtige Indianerstämme, die Cabres und die Ca­ riben, des Orinoco, desselben Landes, das die conquistadores früher ver­ wüstet hatten. Von da an durften nur noch arme Mönche südwärts in den Steppen vordringen. Eine unbekannte Welt begann für die spanischen Kolo­ nisten jenseits des Uritucu, und die Abkömmlinge der mutigen Krieger, die ihre Eroberungen von Peru bis an die Küsten von Neu-Granada und zur Mündung des Amazonenstroms ausgedehnt hatten, kannten die Wege nicht, die von Coro zum Rio Meta führen. Das Küstenland Venezuelas blieb iso­ liert, und die langsamen Eroberungen der Jesuiten-Missionare waren nur längs den Ufern des Orinoco vom Erfolg begleitet. Diese Ordensmänner waren bereits über die großen Katarakte von Atures und Maipures vorge­ drungen, als die andalusischen Kapuziner kaum von der Küste und denTä­ lern von Aragua bis in die Ebenen von Calabozo gelangt waren. Es würde schwierig sein, diese Gegensätze aus dem Verwaltungssystem, nach wel­ chem die verschiedenen Mönchsorden gelenkt werden, zu erklären; es ist die Beschaffenheit des Landes, die mächtig zu den mehr oder weniger schnellen Fortschritten beiträgt. Sie breiten sich im Inneren des Landes langsam aus, in Berggegenden oder Steppen, überall wo sie nicht einem Flußlauf folgen können. Man kann kaum glauben, daß die Stadt San Fer­ nando de Apure, die in gerader Richtung nicht über 50 Iieues von dem ehe­ mals bewohntestenTeil der Küste von Caracas entfernt ist, erst 1789 ge­ gründet wurde. Es wurde uns ein Pergament gezeigt voll schöner Malereien, welche das Privilegium dieser kleinen Stadt enthielt. Es war auf das Gesuch der Mönche aus Madrid eingetroffen, als noch einige Rohrhütten ein großes, in der Mitte des Fleckens aufgerichtetes Kreuz umgaben. Weil die Missionare und die weltlichen Vorsteher gleichmäßig daran interessiert sind,

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den Erfolg ihrer Bemühungen für die Kultur und Bevölkerung der jenseits des Meeres gelegenen Provinzen in Europa zu übertreiben, geschieht es öf­ ters, daß die Namen von Städten und Dörfern lange Zeit vor ihrer Gründung in das Verzeichnis der neuen Erwerbungen aufgenommen werden. Wir werden welche an den Gestaden des Orinoco und des Casiquiare ver­ zeichnen, die lange Zeit geplant waren, aber nur auf den in Rom und Madrid gestochenen Karten der Missionen existierten. Die Lage von San Fernando an einem großen schiffbaren Strom, nahe der Mündung eines anderen Flusses, der die ganze Provinz Barinas durchläuft, ist dem Handel besonders vorteilhaft. Alle Erzeugnisse dieser Provinz Häute, Cacao, Baumwolle und Indigo von Mijagual, der von bester Qualität ist, gelangen über diese Stadt zu den Mündungen des Orinoco. Während der Regenzeit kommen große Fahrzeuge von Angostura [Ciudad Bolivar] bis San Fernando de Apure und auf dem Rio Santo Domingo bis nach Torunos in den Hafen der Stadt Barinas. In dieser Zeit wird die Landschaft in einer Ausdehnung von 400 Quadratlieues durch Überschwemmungen der Flüsse, die ein Labyrinth von Verflechtungen zwischen dem Apure, dem Arauca, dem Capanapuro und dem Sinaruco bilden, unter Wasser gesetzt. Hier ist die Stelle, wo der Orinoco seine Richtung ändert und nicht durch benach­ barte Berge, aber infolge der Erhöhung der Gegenhänge sich nach Osten wendet, statt der früheren Richtung eines Meridians zu folgen. Betrachtet man die Oberfläche des Erdballs als ein aus verschieden geneigten Flächen gebildetes Polyeder, ergibt sich schon aus der bloßen Ansicht der Karten, daß zwischen San Fernando de Apure, Caycara und der Mündung des Meta die Kreuzung dreier gegen Norden, Westen und Süden aufsteigender Hänge eine beträchtliche Depression verursachen mußte. Die Savannen bedecken sich in diesem Becken mit 12 bis 14 Fuß Wasser und stellen in der Regenzeit das Bild eines großen Sees dar. Die Dörfer und Höfe, die auf einer Art Un­ tiefen erbaut sind, erheben sich kaum 2 oder 3 Fuß über den Wasserspiegel. Alles erinnert hier an die Überschwemmungen von Unterägypten und an die Laguna de Xarayes, die einst unter den Geographen so berühmt war, ob­ gleich sie nur einige Monate im Jahr besteht. Die Anschwellungen der Ströme des Apure, des Meta und des Orinoco sind gleichfalls periodisch. Die Pferde, die in der Savanne wild leben und in der Regenzeit nicht schnell genug die Plateaus oder die gewölbten Teile der Llanos erreichen, gehen zu Hunderten zugrunde. Man sieht die Stuten mit ihren Füllen einen Teil des Tages schwimmen, um sich von Pflanzen zu nähren, die mit ihren Spitzen nur über das Wasser emporreichen. In dieser Lage werden sie von den Kroko­ dilen überfallen, und es ist gar nicht selten, daß man an ihren Schenkeln die Spuren der Zähne dieser fleischfressenden Reptilien wahrnimmt. Die Ka­ daver von Pferden, Maultieren und Kühen lockten eine große Menge Geier an. Die zamuros [Vultur aurea, L.] sind die Ibisse oder vielmehr die Aasgeier

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dieses Landes. Sie haben völlig das Aussehen des Pharaohuhns und leisten den Bewohnern der Llanos die gleichen Dienste wie der Vultur percnopterus den Einwohnern Ägyptens. Man kann über die Wirkungen dieser Überschwemmungen nicht nach­ denken, ohne die ungemein große Flexibilität der Organisation der Tiere zu bewundern, die der Mensch seiner Herrschaft unterworfen hat. In Grön­ land ißt der Hund die Überbleibsel des Fischfangs, und in Ermangelung von Fischen nährt er sich von Seealgen. Der Esel und das Pferd, die aus den kalten und ariden Ebenen Hochasiens stammen, begleiteten den Menschen in die Neue Welt, kehrten dort in den Zustand der Wildheit zurück und führen unter dem heißen Klima der Wendekreise ein unruhiges und be­ schwerliches Leben. Wechselweise vom Übermaß der Trockenheit und der Feuchtigkeit bedrängt, suchen sie entweder zur Stillung ihres Dursts eine Lache mitten in dem nackten und staubigen Erdreich, oder sie fliehen vor dem Wasser und den Überschwemmungen der Flüsse wie vor einem sie von allen Seiten umzingelnden Feind. Den Tag über von Bremsen und Moskitos geplagt, werden Pferde, Maultiere und Hornvieh nachts von sehr großen Fledermäusen angegriffen, die sich auf ihren Rücken anklammern und um so gefährlichere Wunden verursachen, weil diese alsbald von Milben und an­ deren schädlichen Insekten wimmeln. Zur Zeit der großen Trockenheit werden selbst die stachligen Melocactus von den Maultieren benagt, die ihren erfrischenden Saft fast wie aus einer vegetabilischen Quelle trinken; zur Zeit der großen Überschwemmungen leben die gleichen Tiere als wahre Amphibien, von Krokodilen, Wasserschlangen und Seekühen

(Iamantins)

umgeben. Dennoch (so wollen es die unwandelbaren Gesetze der Natur) er­ halten sich ihre Rassen im Kampf der Elemente mitten unter so mannig­ fachen Leiden und Gefahren. Wenn die Gewässer ablaufen und die Flüsse in ihre Betten zurücktreten, überzieht sich die Savanne mit zarten und wohlrie­ chenden Kräutern; und die Tiere, die aus dem alten Europa und aus Hoch­ asien abstammen, scheinen im Mittelpunkt der heißen Zone die Rückkehr der Frühlingsvegetation ebenso wie in ihrem Vaterland zu genießen. Während der großen Überschwemmungen werden von den Einwohnern, zur Vermeidung der starken Strömungen und der Gefahr der von ihnen mit­ gerissenen Baumstämme, die Strombetten gemieden. Sie fahren mit ihren Kanus nicht die Flußbetten hinauf, sondern über die Savannen. Um von San Fernando in die Dörfer San Juan de Payara, San Raphael de Atamaica oder San Francisco de Capanaparo zu gelangen, fährt man in südlicher Richtung, als hätte man über einen einzigen zwanzig

Iieues

breiten Strom zu setzen.

Durch den Zusammenfluß des Guarico, des Apure, des Cabullare und des Arauca mit dem Orinoco bildet sich in einer 160

Iieues

betragenden Entfer­

nung von den Küsten von Guayana eine Art Binnendelta, wovon die Hydro­ graphie in der Alten Welt wenig Beispiele bietet. Dem Quecksilberstand im

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Barometer zufolge beträgt das Gefälle des Wassers des Apure in San Fer­ nando bis zum Meer nur 34 Toisen. Es ist ein gleichfalls kleines Gefälle, das man von den Mündungen des Osage und des Missouri bis zur Sandbank des Mississippi beobachtet. Die Savannen des unteren Louisiana erinnern überall an die Savannen des unteren Orinoco. Wir verweilten drei Tage in der kleinen Stadt San Fernando und wohnten dort bei dem Kapuziner-Missionar, der in großem Wohlstand lebt. Der Bi­ schof von Caracas hatte uns an ihn empfohlen, und er bezeigte sich ausneh­ mend gefällig. Er zog mich über die Arbeiten zu Rate, die man begonnen hatte, um das Ufer, worauf die Stadt erbaut war, gegen das Untergraben durch das Wasser des Flusses zu schützen. Der Eintritt des Portuguesa in den Apure drängt diesen südostwärts, und anstatt dem Strom freieren Abfluß zu verschaffen, hatte man ihn durch Deiche und Dämme mehr einzuengen ver­ sucht. Daß diese Werke während des Hochwassers um so schneller zerstört werden würden, weil man durch Wegnahme der für die Wasserbauarbeiten gebrauchten Erde hinter den Dämmen das Ufer geschwächt hatte, war leicht vorherzusagen. San Fernando ist durch die exzessive Hitze, die den größten Teil des Jahres dort herrscht, berüchtigt; und ehe ich zu der Erzählung unserer langen Stromfahrt übergehe, werde ich hier einige Tatsachen vorausschicken, welche geeignet sind, die Meteorologie der Tropenländer zu beleuchten. Wir begaben uns, mit T hermometern versehen, auf das mit weißem Sand be­ deckte Gestade in der Nähe des Apurestroms. Um 2 Uhr nachmittags fand ich diesen Sand allenthalben, wo er der Sonne ausgesetzt ist, bei 52,5°. Bei

18 Zoll Höhe über dem Sand zeigte das T hermometer 42,8°; bei 6 Fuß Höhe 38,7°. Die Lufttemperatur im Schatten einer Ceiba war 36,2°. Diese Beob­ achtungen wurden bei völlig stiller Luft gemacht. Sobald der Wind zu wehen anfing, stieg die Lufttemperatur um 3°; dennoch waren wir von keinem Sand­ wind eingehüllt. Es waren Luftschichten, die mit einem stärker erwärmten Boden in Berührung gestanden hatten oder durch welche Sandtromben ge­ zogen waren. Dieser westliche Teil der Llanos ist der wärmste, weil er die Luft empfängt, die zuvor schon die übrige dürre Steppe durchzogen hat. Der gleiche Unterschied ist zwischen den östlichen und westlichen Teilen der afri­ kanischen Wüsten da bemerkt worden, wo die Passatwinde wehen. Die Hitze nimmt in den Llanos während der Regenzeit spürbar zu, vor­ nehmlich im Juli, wenn der Himmel bedeckt ist und die Strahlungswärme der Erde zurücksendet. Während dieser Zeit hört der Ostwind völlig auf, und zufolge guten, von Herrn Pozo angestellten Beobachtungen steigt das T hermometer im Schatten auf 39 und 39,5°, obgleich man es mehr als 15 Fuß über dem Boden hält. In dem Maß, wie wir uns den Gestaden des Portu­ guesa, des Apure und des Apurito näherten, wurde die Luft wegen der Ver­ dunstung einer so beträchtlichen Wassermasse kühler. Diese Wirkung wurde

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vorzüglich nach Sonnenuntergang verspürt; den Tag über wird die Wärme von den mit weißem Sand bedeckten Stromufern auf eine unerträgliche Weise und viel mehr als von den tonigen braungelben Böden von Calabozo und Tisnao zurückgestrahlt. Am 28. März [1800], bei Sonnenaufgang, befand ich mich am Gestade, um die Breite desApure zu messen, welche 206Toisen beträgt. Der Donner rollte von allen Seiten her. Es war das erste Gewitter und der erste Regen der Jahreszeit. Die Wasser des Stroms wurden vom Ostwind aufgewirbelt, dann jedoch wurde es wieder windstill, und bald fingen große Cetaceen aus der Fa­ milie der Spritzfische, die völlig den Tümmlern [Delphinus phocaena, L.] un­ serer Meere gleichen, in langen Reihen auf der Oberfläche des Wassers ihre Spiele an. Die langsamen und trägen Krokodile scheinen die Nähe dieser lär­ menden und in ihren Bewegungen ungestümen Tiere zu fürchten. Wir sahen sie untertauchen, wenn Spritzfische ihnen nahekamen. Es ist eine außeror­ dentliche Erscheinung, in dieser Entfernung von den Küsten Cetaceen an­ zutreffen. Die Spanier der Missionen bezeichnen sie, wie die Tümmler [oder Meerschweine] des Ozeans, mit den Namen Toninas. Ihr indianischer Name heißt

orinucnu.

Ihre Länge beträgt drei bis vier Fuß, und indem sie den

Rücken krümmen und den Schwanz gegen die unteren Wasserschichten an­ stützen, wird ein Teil des Rückens und der Rückenflosse sichtbar. Ich konnte keines dieser Tiere habhaft werden, obgleich ich die Indianer wiederholt auf­ forderte, mit Pfeilen nach ihnen zu schießen. Der Pater Gili versichert, die Guarnos äßen deren Fleisch. Sind diese Cetaceen den großen Strömen des südlichenAmerika eigentümlich, wie die Seekuh, welche den anatomischen Untersuchungen des Herrn Cuvier zufolge gleichfalls den Süßwasserceta­ ceen angehört, oder soll man annehmen, sie stiegen aus dem Meer stromauf­ wärts, wie der flossenlose Delphin Beluga in den Strömen Asiens es zu­ weilen tut? Was mir diese letztere Vermutung unwahrscheinlich macht, ist der Umstand, daß wir, oberhalb der großen Katarakte des Orinoco, im Rio Atapabo Toninas gesehen haben. Sollten sie in die Mitte des äquinoktialen Amerika von der Mündung des Amazonenstroms durch die Verbindung dieses Flusses mit dem Rfo Negro, dem Casiquiare, und dem Orinoco vorge­ drungen sein? Man trifft sie zu allen Jahreszeiten dort an, und nichts scheint anzudeuten, daß sie wie die Lachse periodische Wanderungen machten.

[Zum Klima der Tropen] Während der Donner bereits um uns her rollte, waren am Himmel nur ver­ streute Wolken sichtbar, die langsam und in entgegengesetzter Richtung zum Zenit zogen. Delucs Hygrometer zeigte 53°, das hundertteilige T hermo­ meter 23,7°. Das mit einer rauchenden Lunte versehene Elektrometer ver-

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riet keine Spur von Elektrizität. Sowie das Gewitter sich bildete, ging die blaue Himmelsfarbe anfänglich in ein dunkles Azur und danach in Grau über. Der bläschenartige Dunst wurde sichtbar, und das T hermometer stieg um 3°, wie dies in den Tropenländern bei bedecktem Himmel, der die strah­ lende Wärme des Bodens zurücksendet, fast immer der Fall ist. Der Regen fiel in Strömen. Da wir an das Klima genügend gewöhnt waren, um keine nachteiligen Wirkungen des tropischen Regens zu fürchten, blieben wir am Gestade, um den Gang desElektrometers genau zu beobachten. Ich hielt es über 20 Minuten in der Hand, bei 6 Fuß Höhe über dem Boden, und ich be­ merkte, daß die Kügelchen Holundermark nur wenige Sekunden vor dem Blitz auseinanderwichen. Die Entfernung betrug 4 Linien. Die elektrische Ladung blieb mehrere Minuten unverändert, und da wir Zeit fanden, die Be­ schaffenheit der Elektrizität zu prüfen, habe ich bei Annäherung einer Stange Siegellack hier in derEbene bemerkt, was ich später häufig während der Gewitter auf dem Rücken der Anden beobachtete, daß nämlich die Luft­ elektrizität anfangs positiv, danach null und endlich negativ war. Diese Schwingungen vom Positiven zum Negativen (vom Glas- zum Harzzustand) wiederholten sich öfters. Jedoch zeigte dasElektrometer kurz vor dem Blitz immer nur nullE. oder+ E., niemals-E. GegenEnde des Gewitters trat ein sehr heftiger Westwind ein. Die Wolken verteilten sich und das T hermo­ meter sank auf 22° wegen der Verdunstung des Bodens und der freieren Strahlung gegen den Himmel. Ich wollte diese einzelnen Angaben über die elektrische Ladung der At­ mosphäre hier aufnehmen, weil die Reisenden sich im allgemeinen darauf beschränken, denEindruck zu schildern, den der imposante Anblick eines Gewitters in den Tropenländern bei einem kürzlich eingetroffenenEuropäer hervorbringt. In einem Land, wo das Jahr sich in die zwei großen Jahres­ zeiten, eine trockene und eine nasse, oder wie die Indianer in ihrer aus­ drucksvollen Sprache sagen, von Sonne und Regen, teilt, gewährt es großes Interesse, den Gang der meteorologischenErscheinungen im Ü bergang von der einen zur anderen Jahreszeit zu verfolgen. Schon seit dem 18. und 19. Fe­ bruar [1800] hatten wir in den Tälern von Aragua sich beim Eintritt der Nacht Wolken bilden sehen. Zu Anfang des Monats März wurden die An­ häufungen der dem Auge sichtbaren bläschenartigen Dünste und damit zu­ gleich die Zeichen der atmosphärischenElektrizität von Tag zu Tag größer. Wir sahen am südlichen Himmel Wetterleuchten, und VoltasElektrometer zeigte bei Sonnenuntergang ständig [positive] Glaselektrizität. Das Vonein­ anderweichen der kleinen Holundermarkkügelchen, das den weiteren Tag über unbedeutend war, betrug bei Eintritt der Nacht 3 bis 4 Linien - das Dreifache dessen, was ich mit dem gleichen Instrument inEuropa bei heller Witterung gewöhnlich beobachtet hatte. Endlich, vom 26. Mai an, schien das elektrische Gleichgewicht der Atmosphäre gänzlich aufgehoben zu sein.

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Ganze Stunden lang war die Elektrizität Null, dann wurde sie sehr bedeu­ tend, 4 bis 5 Linien, und bald darauf war sie wieder völlig unbedeutend. Oe­ lues Hygrometer zeigte dauernd eine große Trockenheit von 33 bis 35o, und doch schien die Atmosphäre nicht mehr die gleiche zu sein. Mitten in diesem beständigen Wechsel der elektrischen Ladung der Luft fingen die ihrer Blätter beraubten Bäume bereits wieder an, frisches Laub zu entwickeln und vom nahenden Frühling sozusagen ein Vorgefühl zu haben. Die hier soeben beschriebenen Veränderungen sind nicht etwa einem ein­ zelnen Jahrgang eigentümlich. In der Äquinoktial-Zone folgt alles mit wun­ derbarer Gleichförmigkeit aufeinander, weil die lebendigen Kräfte der Natur nach leicht erkennbaren Gesetzen einander begrenzen und ausbalan­ cieren. Folgendes ist der Gang der atmosphärischen Erscheinungen im Bin­ nenland ostwärts der Cordilleren von Merida und von Neu-Granada in den Llanos von Venezuela und vom Rio Meta, vom 4. bis zum 10. Grad nördli­ cher Breite, überall wo die Regenzeit von Mai bis Oktober anhält und infol­ gedessen die Zeit der größten Hitze im Juli und August umfaßt. Nichts gleicht der Reinheit der Atmosphäre vom Dezember bis zum Fe­ bruar. Der Himmel erscheint dann ständig wolkenlos, und wenn eine Wolke sich sehen läßt, ist es eine Erscheinung, welche die ganze Aufmerksamkeit der Einwohner beschäftigt. Die östliche und ostnordöstliche Brise bläst heftig. Weil sie immer Luft gleicher Temperatur herbeiführt, können die Dünste durch Abkühlung nicht sichtbar werden. Gegen Ende Februar und zu Anfang März ist das Himmelsblau weniger ausgeprägt, das Hygrometer deutet allmählich auf größere Feuchtigkeit hin, die Sterne sind zuweilen von einer leichten Dunsthülle umschleiert, ihr Licht ist nicht mehr ruhig und planetarisch: Man sieht sie von Zeit zu Zeit auf zoo Erhöhung über dem Horizont funkeln. Die Brise weht um diese Zeit weniger stark und weniger regelmäßig, sie wird öfters von Windstille unterbrochen. In Südsüdost sam­ meln sich Wolken. Sie erscheinen wie ferne Berge mit sehr bestimmten Um­ rissen. Zuweilen sieht man, wie sie sich vom Horizont lösen und das Him­ melsgewölbe mit einer Schnelligkeit durchlaufen, die der Schwäche des in den unteren Luftschichten herrschenden Windes keineswegs entspricht. Gegen Ende März wird die südliche Region der Atmosphäre von kleinen elektrischen Explosionen erleuchtet. Diese sind wie phosphoreszierende, auf eine einzige Dunstgruppe beschränkte Funken. Von da an treten von Zeit zu Zeit und für mehrere Stunden West- und Südwestwinde ein. Dies ist ein sicheres Zeichen des Anrückens der Regenzeit, die am Orinoco gegen Ende April beginnt. Der Himmel fängt an, bedeckt zu werden, die Azur­ bläue verschwindet, und eine gleichförmige graue Färbung ersetzt sie. Gleichzeitig nimmt die Wärme der Atmosphäre mehr und mehr zu; bald sind es nicht bloße Wolken nur, sondern verdichtete Dünste, die das ganze Him­ melsgewölbe decken. Die Brüllaffen lassen ihr klagendes Geschrei schon

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lange vor Tagesanbruch hören. Die atmosphärische Elektrizität, die wäh ­ rend der großen Trockenheit von Dezember bis März fast beständig den Tag über 1, 7 bis 2 Linien des Voltaschen Elektrometers betragen hatte, wird vom März an höchst abwechselnd. Ganze Tage hindurch ist sie völlig null; danach weichen für etliche Stunden die Holundermarkkügelchen des Voltaschen Elektrometers um 3 bis 4 Linien voneinander. Die Atmosphäre, die sich überhaupt in der heißen Zone wie in der gemäßigten im Zustand der Glas­ elektrizität befindet, geht wechselnd 8 bis 10 Minuten lang in den Zustand der Harzelektrizität über. Die Regenzeit ist die Zeit der Gewitter, und doch haben zahlreiche, im Lauf von drei Jahren angestellte Versuche mir dar­ getan, daß gerade in dieser Jahreszeit der Gewitter in den unteren Regionen der Atmosphäre eine geringere elektrische Spannung vorhanden ist. Sind die Gewitter das Ergebnis dieser ungleichen Ladung der verschiedenen übereinanderliegenden Luftschichten? Was hindert die Elektrizität in einer seit dem März feuchter gewordenen Luft daran, zum Boden zu gelangen? Statt in der ganzen Atmosphäre verteilt scheint die Elektrizität zu diesem Zeitpunkt auf der äußeren Hülle, auf der Oberfläche der Wolken akkumu­ liert zu sein. Nach Herrn Gay-Lussac ist es die Bildung der Wolken selbst, die das Fluidum nach der Oberfläche hinführt. DasAufziehen des Gewitters erfolgt zwei Stunden nach dem Durchgang der Sonne durch den Meridian, mithin kurze Zeit nach dem Moment des Maximums der Tageswärme unter den Wendekreisen. Höchst selten nur läßt sich im Binnenland der Donner in der Nacht oder am Morgen hören. Nachtgewitter sind nur gewissen Fluß­ tälern eigen, die ein besonderes Klima haben. Welches sind nun aber die Ursachen dieserAufhebung des Gleichgewichts in der elektrischen Spannung der Luft, dieser ständigen Kondensation der Dünste zu Wasser, dieser Unterbrechung der Brisen, dieses Anfangs und dieser Fortdauer der Regenzeit? Ich bezweifle, daß die Elektrizität auf die Bildung der bläschenartigen Dünste Einfluß hat. Es ist vielmehr die Bildung dieser Dünste, welche die elektrische Spannung vermehrt und verändert. Nördlich und südlich des Ä quators geschehen die Gewitter oder großen Ex­ plosionen gleichzeitig in der temperierten und in der

Äquinoktial-Zone.

Gibt es eine Wirkung, welche sich durch den großen Luftozean aus der er­ sten dieser Zonen gegen die Wendekreise fortpflanzt? Wie mag man es sich erklären, daß in dieser Zone, wo die Sonne ständig zu so großer Höhe über den Horizont aufsteigt, der Durchgang dieses Gestirns durch den Zenit einen so bedeutenden Einfluß auf die meteorologischen Veränderungen ausübt? Ich vermute, die Ursache, die den Anfang der Regenzeit unter den Wendekreisen bestimmt, ist nicht örtlich, und eine genauere Kenntnis der oberen Luftschichten würde die dem Anschein nach so verwickelten Auf­ gaben vereinfachen. Wir können nur das beobachten, was in den unteren Re­ gionen der Atmosphäre vorgeht. Die Anden sind über 2000 Toisen Erhö-

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hung fast gar nicht bewohnt, und auf dieser Höhe haben die Nähe des Bo­ dens und die Bergmassen, welche die Untiefen im Luftozean darstellen, einen bedeutenden Einfluß auf die in ihrer Nähe befindliche Luft. Was man auf dem Plateau von Antisana beobachtet, ist von dem verschieden, was auf gleicher Höhe in einem Luftballon über den Llanos oder über der Fläche des Weltmeeres schwebend wahrgenommen werden könnte. Wir haben soeben gesehen, daß die Jahreszeit der Regen und der Ge­ witter in der nördlichen Äquinoktial-Zone mit den Sonnendurchgängen durch den Zenit des Ortes, mit dem Aufhören der Brisen oder Nordost­ winde, mit dem öfteren Eintreten der Windstillen [Kalmen] und der benda­ vales, die südöstliche und südwestliche gewittrige und von überzogenem Himmel begleitete Winde sind, zusammentreffen. Ich denke, man werde beim Nachdenken über die allgemeinen Gesetze des Gleichgewichts der gas­ artigen Massen, aus denen unsere Atmosphäre besteht, in der Unterbre­ chung der von einem gleichnamigen Pol herkommenden Strömung, im Mangel der Erneuerung der Luft in der heißen Zone und in der anhaltenden Wirkung der aufsteigenden feuchten Strömung eine sehr einfache Ursache des Zusammentreffens dieser Erscheinungen finden. Während nördlich vom Äquator die Nordostwindbrise in voller Stärke weht, hindert sie die Äqui­ noktial-Lande und Meere bedeckende Atmosphäre, sich mit Dünsten zu sät­ tigen. Die warme und feuchte Luft der heißen Zone steigt in die Höhe und neigt sich den Polen zu, während die unteren Polarströmungen durch herbei­ geführte trockenere und kältere Luftschichten die aufsteigenden Luftsäulen beständig ersetzen. Durch dieses anhaltende Spiel zweier entgegengesetzter Strömungen wird die Feuchtigkeit, weit entfernt, sich in der Äquatorial­ Region zu sammeln, vielmehr den kalten und temperierten Regionen zuge­ führt. Während dieser Zeit der Nordostwinde, wo die Sonne in den südli­ chen Zeichen ist, bleibt der Himmel in der nördlichen Äquinoktial-Zone stets heiter. Die bläschenartigen Dünste verdichten sich nicht, weil die be­ ständig erneuerte Luft von ihrem Sättigungspunkt weit entfernt ist. In dem Maße, wie die Sonne beim Eintritt in die südlichen Zeichen sich gegen den Zenit erhebt, fängt die Nordostbrise sich zu legen an, bis sie nach und nach gänzlich aufhört. Die Verschiedenheit der Temperatur zwischen den Wende­ kreisen und der gemäßigten nördlichen Zone ist dann die kleinstmögliche. Es ist dies der Sommer des Nordpols; und wenn die mittlere Temperatur des Winters unter 42 und 52° nördlicher Breite um 20 bis 26° des hundertteiligen T hermometers geringer ist als die Äquatorialhitze, beträgt dieser Unter­ schied im Sommer kaum 4 bis 6°. Wenn die Sonne im Zenit steht und die Brise sich gelegt hat, werden die Ursachen, welche die Feuchtigkeit be­ gründen und diese in der nördlichen Äquinoktial-Zone anhäufen, gleich­ zeitig wirksamer. Die Luftsäule, die auf dieser Zone ruht, sättigt sich mit Dünsten, weil sie durch die Polarströmung nicht mehr erneuert wird. Die

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Wolken bilden sich in dieser gesättigten und durch die vereinigten Wir­ kungen der Strahlung und der Ausdehnung der aufsteigenden Luft erkal­ teten Atmosphäre. Im Verhältnis ihrer Verdünnung wird die Kapazität der Luft für die Wärme größer. Mit der Bildung und Gruppierung der bläschen­ artigen Dünste häuft sich die Elektrizität in den oberen Regionen der Atmo­ sphäre an. Die Niederschläge der Dünste sind denTag über andauernd. Sie hören die Nacht durch auf, öfters schon mit dem Untergang der Sonne. Die Regengüsse erfolgen regelmäßig am stärksten und von elektrischen Explo­ sionen begleitet kurze Zeit nach dem Maximum derTageswärme. Dieser Zu­ stand bleibt unverändert, bis die Sonne in die südlichen Zeichen tritt. Damit fängt in der nördlichen gemäßigten Zone die Kälte an. Von da an beginnt auch die Strömung des Nordpols wieder, weil der Unterschied der Wärme zwischen der Äquinoktial- und der gemäßigten Region von Tag zu Tag größer wird. Die Nordostbrise weht kräftig, die Luft der Tropenländer er­ neuert sich nicht und kann den Sättigungspunkt nicht mehr erreichen. Der Regen hört infolgedessen auf, der bläschenartige Dunst löst sich auf, und der Himmel erhält wieder seine Reinheit und seine azurne Färbung. Elektri­ sche Explosionen finden jetzt keine mehr statt, zweifellos weil die Elektri­ zität in den höheren Luftregionen die Gruppen bläschenartiger Dünste, ich möchte fast sagen, die Wolkenhüllen, worauf das Fluidum sich sammeln kann, nicht mehr antrifft. Wir haben oben das Aufhören der Brisen als die Hauptursache der Äqua­ torial-Regen betrachtet. Diese Regen dauern in jeder Halbkugel nur so lange, wie die Sonne eine homonyme Deklination mit der Halbkugel hat. Es muß hier bemerkt werden, daß dem Aufhören der Brise nicht immer eine Windstille folgt, sondern daß diese öfters, zumal längs der amerikanischen Westküsten, durch die bendavales oder Südwest- und Südostwinde unterbro­ chen wird. Dieses Phänomen scheint zu beweisen, daß die feuchten Luft­ säulen, die in der nördlichen Äquatorial-Zone aufsteigen, sich zuweilen gegen den Südpol hinneigen. In derTat zeigen die in der heißen Zone, nörd­ lich und südlich des Äquators liegenden Länder im Sommer, während die Sonne durch ihren Zenit geht, das Maximum des Temperaturunterschieds mit der Luft des heteronymen Pols. Die gemäßigte südliche Zone hat ihren Winter, während es nördlich vom Äquator regnet und dort eine mittlere, um 5 bis 6a größere Wärme herrscht als in der Trockenzeit, wo die Sonne am niedrigsten ist. Die Fortdauer des Regens während des Wehens der benda­

vales beweist, daß die Strömungen des entferntesten Pols in der nördlichen Äquinoktial-Zone wegen der größeren Feuchtigkeit der südlichen Polarströ­ mung nicht wie die Strömungen des nahsten Pols wirken. Die Luft, die diese Strömung herbeiführt, kommt aus einer gänzlich vom Wasser bestimmten Hemisphäre. Um den Parallelkreis von 8° nördlicher Breite zu erreichen, durchzieht sie die ganze südliche Äquatorial-Zone; sie ist infolgedessen we-

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niger trocken und weniger kalt, weniger zur Gegenströmung geeignet, die

Äquinoktial-Luft

zu erneuern und ihre Sättigung zu hindern, als dies die

nördliche Polarströmung oder die nordöstliche Brise tut. Man kann ver­ muten, daß die

bendavales an einigen Küsten, zum Beispiel an denen Guate­

malas, ungestüme Winde sind, weil sie nicht die Wirkung eines regelmäßigen und progressiven

Übertritts

der Luft der Wendekreise gegen den Südpol

sind, sondern mit Windstillen wechseln, von elektrischen Explosionen be­ gleitet werden und als wahre Stoßwinde ein Zurückschlagen, eine schnelle und plötzliche Störung des Gleichgewichts im Luftozean anzeigen. Wir haben hier eine der wichtigsten Erscheinungen der Meteorologie der Tropenländer diskutiert und in ihrer größten Allgemeinheit betrachtet. Ebenso wie die Grenzen der Passate keine Parallelkreise mit dem

Äquator

bilden, stellt sich auch die Wirkung der Polarströmungen unter verschie­ denen Meridianen verschieden dar. Auf derselben Halbkugel haben die Bergketten und das Küstenland öfters entgegengesetzte Jahreszeiten. Wir werden in der Folge Gelegenheit finden, mehrere Beispiele dieser Anoma­ lien anzuführen; um aber die Naturgesetze zu ergründen, muß das durch­ schnittliche Verhältnis der Atmosphäre und der beständige Typus ihrer Ab­ weichungen bekannt sein, bevor die Ursachen der örtlichen Störungen erforscht werden. *

Der Anblick des Himmels, der Gang der Elektrizität und der Schlagregen am 28. März

[1800] kündeten den Beginn der Regenzeit an. Man riet uns in­

dessen, noch nach San Fernando de Apure über San Francisco de Capana­ paro, über den Rio Sinaruco und den

hato

von San Antonio zum erst kürz­

lich nahe den Ufern des Meta errichteten Dorf der Otomaken zu gehen und uns etwas oberhalb Carichanas auf dem Orinoco einzuschiffen. Dieser Landweg führt durch ein ungesundes und fiebriges Land. Ein alter Pächter, Don Francisco Sanchez, bot sich uns gefällig zum Führer an. Seine Kleidung verriet die große Sitteneinfalt, die in diesen entlegenen Ländern herrscht. Er hatte ein Vermögen von

100000

Piastern erworben und stieg doch mit

nackten Füßen und mit großen silbernen Sporen zu Pferd. Da wir aus einer Erfahrung mehrerer Wochen die traurige Einförmigkeit der Vegetation der Llanos kannten, zogen wir den längeren Weg auf dem Rio Apure zum Ori­ noco vor. Wir wählten eine der sehr breiten Pirogen, welche die Spanier lan­

chas nennen.

Ein Steuermann [el patr6n} und vier Indianer reichten für die

Bedienung des Fahrzeuges aus. im Heck wurde in etlichen Stunden eine mit Corypha-Blättem bedeckte Hütte errichtet, die geräumig genug war, einen Tisch und Bänke aufzunehmen. Diese bestanden aus stark ausgespannten und auf eine Art Rahmen von antillischem Brasilholz genagelten Ochsen­ häuten. Ich führe diese minutiösen Umstände hier an, um zu erweisen, daß

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unser Leben auf dem Rio Apure von dem in den schmalen Kähnen des Ori­ noco sehr verschieden war. Wir beluden die Piroge mit Lebensmitteln für einen Monat. In San Fernando sind Hühner, Eier, Bananen, Maniocmehl und Cacao im

Überfluß

zu haben. Der gütige Kapuzinerpater [Fray Jose

Maria de Malaga] versah uns mit Jerez-Wein [ Sherry] , mit Orangen und Ta­ marindenfrüchten, um erfrischende Limonade zu bereiten. Wir konnten vor­ aussehen, daß sich ein aus Palmblättern verfertigtes Dach in einem breiten Flußbett, wo man fast immer den senkrechten Sonnenstrahlen ausgesetzt ist, ungemein erhitzen würde. Die Indianer rechneten weniger mit den von uns angekauften Lebensmitteln als mit ihrer Angel und Netzen. Wir nahmen auch einige Feuerwaffen mit, die bis in die Gegend der Katarakte ziemlich allgemein gebraucht werden; denn mehr südwärts hindert die enorme Luft­ feuchtigkeit die Missionare, sich Gewehren zu bedienen. Der Rio Apure nährt sehr viele Fische, Seekühe und Schildkröten, deren Eier eine mehr nährende als angenehme Speise gewähren. Seine Ufer wimmeln von unzäh­ ligen Vögeln, worunter Pauxi und Guacharaca uns die nützlichsten waren, die man die Truthähne und Fasane dieser Gegenden nennen könnte. Ihr Fleisch schien mir zäher und weniger weiß als das unserer europäischen Hühnerarten, woran die kräftigere Muskelbewegung schuld ist. Man vergaß nicht, den Speisevorräten, den Geräten für den Fischfang und den Waffen einige Branntweinfässer beizufügen, um sie als Tauschmittel bei den India­ nern am Orinoco zu gebrauchen. Wir reisten von San Fernando ab am 30. März, um 4 Uhr abends, bei unge­ mein großer Hitze; das T hermometer stieg im Schatten trotz des sehr hef­ tigen Südostwindes auf 34°. Bei diesem Gegenwind konnten die Segel nicht aufgezogen werden. Wir wurden während dieser ganzen Reise auf dem Apure, dem Orinoco und dem Rio Negro vom Schwager des Statthalters der Provinz Barinas, Don Nicolas Sotto, begleitet, der kürzlich von Cadiz einge­ troffen war und eine Reise nach San Fernando unternommen hatte. Um die der Aufmerksamkeit eines Europäers so würdige Landschaft kennenzu­ lernen, zögerte er nicht, sich mit uns 74 Tage in einen engen, von mosquitos erfüllten Kahn einzusperren. Sein liebenswürdiger Geist und sein munterer Charakter haben uns öfters die Beschwerden einer nicht immer gefahrlosen Schiffsreise vergessen lassen. Wir passierten die Mündung des Apurito und fuhren längs der gleichnamigen, vom Apure und Guarico gebildeten Insel vorbei. Diese Insel ist im Grunde nur ein sehr niedriges Terrain, von zwei großen Flüssen begrenzt, die sich beide in geringer Entfernung vonein­ ander, und nachdem sie sich unterhalb San Fernandos durch eine erste Ga­ belteilung des Apure vereinigt haben, in den Orinoco ergießen. Die Isla del Apurito ist 22 Iieues lang und 2 bis 3 Iieues breit. Sie wird durch den Cafio de la Tigrera und den Cafio del Manati in drei Stücke geteilt, wovon die zwei Endteile die Namen Islas de Blanco und de las Garzitas heißen. Ich verweile

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173

bei diesen Angaben, weil auf allen bisher erschienenen Karten der Lauf und die Verflechtungen der Flüsse zwischen dem Gmirico und dem Meta auf die seltsamste Weise entstellt sind. Unterhalb desApurito ist das rechte Ufer des Apure etwas besser angebaut als das linke, wo die Yaruros- (oder Japuin-)In­ dianer aus Rohren und Palmblätterstengeln einige Hütten erbaut haben. Sie leben von der Jagd und vom Fischfang; und weil sie namentlich mit viel Ge­ schicklichkeit die Jaguare erlegen, sind es sie, die ihre in Europa unter dem Namen der Tigerfelle bekannten Häute in die spanischen Dörfer bringen. Die einen dieser Indianer sind getauft; sie besuchen jedoch die christlichen Kirchen niemals. Sie werden als Wilde angesehen, weil sie unabhängig bleiben wollen. Andere Stämme der Yaruros leben unter der Herrschaft der Missionare im Dorfe Achaguas südwärts vom Rio Payara. Die Individuen dieser Nation, die ich am Orinoco zu sehen Gelegenheit hatte, besitzen einige Züge der Physiognomie, die irrigerweise tatarisch genannt wird und einem der Stämme mongolischer Rasse gehört. Ihr Blick ist ernst, dieAugen hervorstehend, die Backenknochen, besonders aber die Nase der ganzen Länge nach sehr vorspringend. Sie sind von größerer Statur, dunklerer Braunfärbung und weniger untersetzt als die Chaimas-Indianer. Die Missio­ nare rühmen die Geistesanlagen der Yaruros, die vormals ein mächtiges und zahlreiches Volk an den Gestaden des Orinoco, zumal in der Gegend von Caycara unterhalb der Mündung des Gmirico, gewesen sind. Wir übernach­ teten in Diamante, einer kleinen Zuckerrohrpftanzung, die der Insel dieses Namens gegenüberliegt. Während der ganzen Reise von San Fernando nach San Carlos de Rio Negro und von da bis in die Stadt Angostura war ich beflissen, Tag für Tag entweder auf dem Schiff oder im Nachtlager alles Bemerkenswerte aufzu­ schreiben. Heftiger Regen und die ungeheure Menge der mosquitos, von denen die Luft an den Gestaden des Orinoco und des Casiquiare wimmelt, mußten unvermeidliche Lücken in dieseArbeit bringen. Ich habe sie wenige Tage nachher ausgefüllt. Die folgenden Blätter sind Auszug meines Tage­ buchs. Alles, was im Angesicht der Dinge selbst, die man schildern will, ge­ schrieben ist, trägt einen Charakter von Wahrheit (ich möchte sagen von In­ dividualität), der noch den unwichtigsten Dingen Reiz verleiht. Zur Vermei­ dung unnützer Wiederholungen habe ich dem Tagebuch mitunter Angaben beigefügt, die mir später erst über die darin behandelten Gegenstände zuge­ kommen sind. Je größer und imposanter sich die Natur in den von unermeß­ lichen Strömen durchzogenen Wäldern darstellt, desto mehr müssen die Na­ turgemälde dem einfachen Charakter treu bleiben, der das vorzüglichste und öfters einzige Verdienst der ersten Entwürfe ist. Am

31.

März

[1800]

zwang uns der Gegenwind, bis mittag am Ufer zu

bleiben. Wir sahen einen Teil der Zuckerrohrfelder vom Feuer zerstört, das sich vom benachbarten Wald her ausgebreitet hatte. Die nomadischen In-

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174

dianer zünden den Wald überall an, wo sie nachts gelagert haben; in der Trockenzeit müßten ausgedehnte Provinzen zur Beute der Feuersbrünste werden, wenn das äußerst harte Holz die Bäume nicht vor gänzlicher Zerstö­ rung sicherte. Wir fanden Stämme des Desmanthus und des Acajou- oder Mahagonibaums

(cahoba), die kaum zwei Zoll tief verkohlt waren.

Von Diamante aus kommt man in ein Land, das nur von Tigern, Kroko­ dilen und

chiguires, einer großen, zu Linnes Genus Cavia gehörigen Art, be­

wohnt wird. Wir sahen dort dicht zusammengedrängte Schwärme von Vö­ geln, die sich am Himmel wie eine schwarze Wolke abzeichneten, welche jeden Augenblick ihre Gestalt ändert. Der Fluß wird allmählich breiter. Das eine seiner Ufer ist im allgemeinen unfruchtbar und infolge der Über­ schwemmungen sandig; das andere liegt höher und ist mit hochstämmigen Bäumen bewachsen. Zuweilen ist der Strom auf beiden Seiten von Wäldern eingefaßt und bildet einen geraden, 150 Toisen breiten Kanal. Die Anord­ nung der Bäume ist sehr bemerkenswert. Zunächst finden sich Sausa-Gebü­ sche

[Hermesia castaneifolia], die gleichsam eine vier Fuß hohe Hecke

bilden; man sollte glauben, sie sei von Menschenhänden beschnitten worden. Hinter dieser Hecke erhebt sich ein Dickicht von

cedrela (Pater­

nosterbäumen), Brasilholz und Gai:ac. Palmen kommen ziemlich selten vor; man sieht nur einzelne Corozo- und stachlige Piritu-Stämme. Die großen vierfüßigen Tiere des Landes, die Tiger, die Tapire und die Pecari-Schweine, haben sich in den beschriebenen Sauso-Hecken Durchgänge geöffnet, aus denen sie hervorkommen, um am Strom zu trinken. Weil diese wilden Tiere die Nähe eines Kanus nur wenig scheuen, hat man das Vergnügen, sie ge­ raume Zeit längs des Ufers hinstreichen zu sehen, bis sie durch eine der hin und wieder im Gebüsch vorhandenen engen Öffnungen im Wald ver­ schwinden. Ich gestehe, daß diese Szenen, die sich öfters wiederholten, immer ungemein anziehend für mich geblieben sind. Das Vergnügen, wel­ ches man dabei fühlt, beruht nicht nur auf dem Interesse, das der Naturfor­ scher an den Objekten seiner Studien nimmt; es liegt an einem Gefühl, das allen in den Gewohnheiten zivilisierter Völker erzogenen Menschen ge­ meinsam ist. Man sieht sich in Berührung mit einer neuen Welt, mit einer wilden und ungezähmten Natur. Bald ist es der Jaguar, der schöne amerika­ nische Panther, der sich am Flußgestade zeigt; bald erscheint der Hocco

[Crax alector, C. Pauxi] mit schwarzem Gefieder und einer Haube auf dem Kopf längs der Sausa-Gebüsche promenierend. Tiere der verschiedensten Klassen folgen eines dem andern. "Es como en el Paraiso" ["Es ist wie im Paradies"], sagte unser Steuermann, ein alter Indianer aus den Missionen. Wirklich erinnert hier alles an jenen Urzustand der Welt, dessen Unschuld und Glück durch alte und ehrwürdige Überlieferungen allen Völkern vor Augen stehen; bei sorgfältiger Beachtung der Verhältnisse der Tiere zuein­ ander nimmt man indes bald wahr, daß sie sich gegenseitig meiden und

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175

fürchten. Das goldene Zeitalter ist überall beendet, und in diesem Paradies der amerikanischen Wälder hat, wie überall, eine lange und traurige Erfah­ rung allen Geschöpfen den Beweis geliefert, daß Milde und Stärke nur selten vereinigt gefunden werden.

[Über Krokodile] Wenn das flache Ufer eine bedeutende Breite hat, bleiben die Sauso­ Hecken dem Strom fern. In diesem Zwischenland sieht man oft acht bis zehn Krokodile im Sand liegen. Unbeweglich und mit rechtwinklig geöffneten Kinnladen ruhen sie eins neben dem anderen hingestreckt, ohne einander ir­ gendeines jener Zeichen freundlicher Zuneigung zu geben, das man bei an­ deren gesellig lebenden Tieren beobachtet. Die Truppe trennt sich, sobald sie das Ufer verläßt. Es ist indes wahrscheinlich, daß sie aus einem einzigen männlichen und vielen weiblichen Tieren besteht; denn wie dies Herr De­ courtils, der die Krokodile von Santo Domingo erforscht hat, schon vor mir beobachtete, sind die männlichen Tiere ziemlich selten, weil sie sich zur Zeit ihrer Brunst bekriegen und töten. Diese ungestalten Reptilien kommen in solcher Menge vor, daß wir auf der ganzen Stromfahrt fast jeden Augenblick fünf oder sechs erblickten. Und doch hatte damals das Steigen der Gewässer des Rio Apure kaum erst angefangen, und viele Hunderte von Krokodilen lagen also noch im Schlamm der Savannen begraben. Gegen 4 Uhr nachmit­ tags machten wir halt, um ein totes Krokodil zu messen, das der Strom auf das Ufer geworfen hatte. Seine Länge betrug nicht über 16 Fuß, 8 Zoll; einige Tage später fand Herr Bonpland ein anderes (männliches), das 22 Fuß, 3 Zoll lang war. In allen Zonen, in Amerika wie in Ägypten, erreicht dieses Tier

[ Crocodilus acutus des Herrn Cuvier] die gleiche Größe; auch ist

die im Apure, im Orinoco und im Magdalenenstrom so zahlreich vorkom­ mende Art keineswegs ein

cayman

oder Alligator, sondern ein wahres Kro­

kodil mit am äußeren Rand gekerbten Füßen und dem des Nils ähnlich. Wenn man sich erinnert, daß das männliche Tier im zehnten Jahr erst mannbar wird und daß seine Länge dann 8 Fuß beträgt, darf man annehmen, das von Herrn Bonpland gemessene Tier sei wenigstens 28 Jahre alt ge­ wesen. Die Indianer versicherten, in San Fernando vergehe selten ein Jahr, wo nicht zwei oder drei erwachsene Personen, meist Frauen, die am Strom Wasser schöpfen, diesen fleischfressenden Echsen zur Beute werden. Man erzählte uns die Geschichte eines Mädchens aus Uritucu, das sich mit außer­ ordentlicher Geistesgegenwart und Unerschrockenheit aus dem Rachen eines Krokodils rettete. Sobald es sich vom Tier gefaßt fühlte, suchte es nach den Augen der Bestie und drückte die Finger derart heftig ein, daß das Kro­ kodil, von Schmerz überwältigt, seine Beute, der es bereits den Vorderarm

176

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abgebissen hatte, fahren ließ. Trotz großen Blutverlustes gelangte die India­ nerirr durch Schwimmen mit der ihr übriggebliebenen Hand glücklich an das Ufer. In diesen Einöden, wo der Mensch mit der Natur in stetem Kampf lebt, ist das Tagesgespräch vielfältig auf die Mittel gerichtet, durch die man einem Tiger, einer Boa oder traga-venado oder einem Krokodil entkommen kann; je­ dermann rüstet sich sozusagen gegen die drohenden Gefahren. "Ich wußte", sprach hiernach das junge Mädchen von Uritucu ganz ruhig, "daß der cayman seinen Raub fahren läßt, wenn man ihm die Augen mit den Fingern drückt." Geraume Zeit nach meiner Rückkunft in Europa vernahm ich, daß die Neger im Inneren Afrikas das gleiche Verfahren kennen und anwenden. Wer erin­ nerte sich nicht mit lebhafter Anteilnahme an Isaaco, den Führer des unglück­ lichen Mungo Park, der zweimal (unfern von Boulinkombou) von einem Kro­ kodil ergriffen wurde und beidemal aus dem Rachen des Ungeheuers entkam, weil ihm unter Wasser gelang, ihm die Finger in beide Augen zu setzen! Isaaco, der Afrikaner, und die junge Amerikanerin verdankten ihr Heil der gleichen Geistesgegenwart, der gleichen ldeenverbindung. Das Krokodil des Apure bewegt sich plötzlich und schnell, wenn es an­ greift, während es sich langsam wie ein Salamander fortschleppt, wenn es Wut oder Hunger nicht reizen. Im Laufen läßt das Tier ein hartes Geräusch vernehmen, das vom Aneinanderreiben seiner Schuppen herzurühren scheint. Es krümmt während dieser Bewegung seinen Rücken und scheint höher auf seinen Beinen als in der Ruhe zu sein. Wir haben diesen Ton der Schuppen oft auf den flachen Ufern ganz in der Nähe gehört; aber es ist nicht wahr, was die Indianer erzählen, daß die alten Krokodile wie das Schuppen­ tier

(pangolin)

"ihre Schuppenkörper und alle Teile ihres Panzers aufrichten

können". Die Tiere bewegen sich im allgemeinen geradlinig oder vielmehr wie ein Pfeil, der von Distanz zu Distanz seine Richtung ändert. Dennoch, und trotz der kleinen Vorrichtung der falschen Rippen, welche die Rücken­ wirbel binden und die Seitenbewegung zu erschweren scheinen, können sich die Krokodile, wenn sie wollen, recht gut umdrehen. Ich habe oftmals Junge gesehen, die sich in den Schwanz bissen; andere Beobachter sahen das gleiche bei erwachsenen Tieren. Wenn ihre Bewegungen fast immer gerad­ linig scheinen, geschieht dies, weil sie wie unsere kleinen Eidechsen diese sprungweise ausführen. Die Krokodile sind vortreffliche Schwimmer, und sie schwimmen leicht gegen die heftigste Strömung flußaufwärts; hingegen schien es mir, daß ihnen beim Stromabwärtsschwimmen das schnelle Um­ drehen Mühe bereitet. Ein großer Hund, der auf der Reise von Caracas an den Rio Negro unser Begleiter war, sah sich einst schwimmend von einem sehr großen Krokodil verfolgt und konnte seinem Feind nur dadurch ent­ gehen, daß er sich schnell vom Ufer abwandte und schlagartig stromauf­ wärts schwamm. Das Krokodil machte nun zwar die gleiche Bewegung, aber viel langsamer als der Hund, der glücklich das Ufer erreichte.

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177

Die Krokodile des Apure finden reichlich Nahrung in den chiguires (den Wasserschweinen der Naturforscher) [Cavia capybara, Lin.], die in Herden von 50 bis 60 Stück am Stromufer leben. Diese unglücklichen Tiere von der Größe unserer Schweine besitzen keine Waffe, mit der sie sich verteidigen könnten; sie schwimmen etwas besser, als sie laufen. Indes werden sie im Wasser ein Raub der Krokodile und auf dem festen Land eine Beute der Tiger. Man begreift kaum, wie es möglich ist, daß sie, von zwei so mächtigen Feinden verfolgt, dennoch in so großer Zahl vorkommen; aber sie pflanzen sich ebensoschnell fort wie die cobayes oder Meerschweinchen, die wir aus Brasilien erhalten haben. *

Unterhalb der Mündung des Cafio de la Tigrera, in einer Biegung, die Vuelta de Joval heißt, hielten wir an, um die Schnelligkeit des Wassers an seiner Oberfläche zu messen; sie betrug nicht mehr als 3,2 Fuß in der Se­ kunde, was 2,56 Fuß mittlerer Geschwindigkeit ergibt. Die barometrischen Höhen zeigten, mit Berücksichtigung der kleinen Stundenvariationen, höchstens ein Gefälle von 17 Zoll auf die Meile (von 950Toisen). Die Schnel­ ligkeit ist ein gleichzeitiges Ergebnis des Bodengefälles und der Ansamm­ lung des Wassers infolge seines Anwachsens in den höher gelegenen Teilen des Stroms. W ir sahen uns nochmals von den chiguires umgeben, die, Kopf und Hals über dem Wasser emporreckend, wie Hunde schwimmen. Am ge­ genüberliegenden Ufer erblickten wir mit Befremden ein großes Krokodil, unbeweglich und schlafend, mitten unter diesen Nagetieren. Bei Annähe­ rung unserer Piroge erwachte es und bewegte sich hierauf langsam dem Strom zu, ohne daß die chiguires scheu wurden. Unsere Indianer erklärten diese Gleichgültigkeit aus der Dummheit des Tiers; es ist jedoch wahrschein­ licher, daß die chiguires aus langer Erfahrung wissen, das Krokodil vom Apure und vom Orinoco greife auf dem Land nicht an, wenn der Gegen­ stand seines Raubes sich nicht unmittelbar am Wege findet, wenn es dem Wasser zugeht. In der Nähe des Joval nimmt die Natur einen imposanten und wilden Cha­ rakter an. Hier sahen wir auch den größten Tiger, der uns jemals begegnete. Selbst die Eingeborenen waren über seine ganz außerordentliche Länge er­ staunt; sie übertraf die aller indianischen Tiger, die ich je in den europäi­ schen Menagerien gesehen habe. Das Tier lag im Schatten eines großen Za­ mang [eine Art der Mimosa] hingestreckt. Es hatte eben erst ein chiguire er­ legt, seinen Raub aber noch nicht verzehrt, sondern eine seiner Tatzen stützte sich darauf. Die zamuros, eine Art Geier, die wir weiter oben mit dem Percnopterus Unterägyptens verglichen haben, hatten sich haufen­ weise versammelt, um, was vom Mahle des Jaguars übrigbleiben würde, zu verzehren. Durch eine seltsame Mischung von Kühnheit und Furchtsamkeit

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boten sie uns ein anziehendes Schauspiel. Sie näherten sich bis auf zwei Fuß dem Jaguar, aber dessen geringste Bewegung schreckte sie zurück. Um das Verhalten dieser Tiere in der Nähe zu beobachten, setzten wir uns in den kleinen Kahn, der unsere Piroge begleitete. Es geschieht höchst selten, daß der Tiger Kähne angreift, die er schwimmend erreichen muß, und er tut dies nur, wenn andauernder Nahrungsmangel seine Wildheit gesteigert hat. Das vom Schlagen unserer Ruder verursachte Geräusch bewog das Tier, langsam von seinem Lager aufzustehen und sich hinter den Sauso-Gebüschen, die das Ufer einfassen, zu verbergen. Die Geier wollten diesen Augenblick der Abwesenheit benutzen, um den

chiguire

zu verschlingen. Allein der Tiger

sprang trotz der Nähe unseres Kahnes mitten unter sie und trug in einemAn­ fall von Zorn, welchen die Gebärden und die Bewegung des Schwanzes aus­ zudrücken schienen, seinen Raub in den Wald. Die Indianer bedauerten, ihre Lanzen nicht bei sich zu haben, um landen und den Tiger verfolgen zu können. Sie sind an diese Waffe gewöhnt und hatten recht, sich nicht auf un­ sere Flinten zu verlassen, die in einer so ausnehmend feuchten Luft öfters den Schuß versagten. Weiter unten am Strom trafen wir die große Herde der

chiguire,

die der

Tiger in die Flucht gejagt und aus der er seine Beute geholt hatte. Diese Tiere sahen unserer Landung ruhig zu. Einige waren gelagert und hatten ihre Blicke auf uns geheftet, während sie nach Art der Kaninchen die Oberlippe bewegten. Den Menschen schienen sie nicht zu fürchten, aber der Anblick unseres großen Hundes jagte sie auseinander. Weil ihr Hinterbug höher ist, laufen sie im kurzen Galopp, aber so langsam, daß wir zwei fangen konnten. Der

chiguire,

der mit der größten Behendigkeit schwimmt, stößt im Laufen

kleine Seufzer aus, wie von gehemmtem Atemholen. Er ist das größte Tier aus der Familie der Nager; er verteidigt sich nur im äußersten Notfall, wenn er gefangen und verletzt ist. Weil seine Backenzähne, besonders die hin­ teren, ungemein stark und ziemlich lang sind, kann er durch seinen Biß die Tatze eines Tigers oder das Bein eines Pferdes verwunden. Sein Fleisch hat einen ziemlich unangenehmen Bisamgeruch. Es werden jedoch im Lande Schinken daraus bereitet, was gewissermaßen den Namen Wasserschwein rechtfertigen kann, den einige ältere Naturforscher dem

chiguire

gegeben

haben. Die Mönchsmissionare haben keine Bedenken, während der Fasten­ zeit von diesen Schinken zu speisen. Nach ihrem zoologischen System kommen das Gürteltier

(tatou), chiguire und Seekuh (Iamantin) nahe bei der

Schildkröte zu stehen; das erste, weil es mit einer harten Decke, einer Art Schale versehen ist, die zwei anderen, weil sie Amphibien sind. An den Ge­ staden der Ströme Santo Domingo, Apure undArauca, in den Sümpfen und überschwemmten Savannen der Llanos kommen die

chiguires

in solcher

Menge vor, daß die Viehweiden darunter leiden. Sie verzehren das Kraut, von dem die Pferde am leichtesten fett werden und das den Namen

chigui-

Kapitel XVIII

rero

(Kraut des

chiguire)

179

führt. Sie nähren sich auch von Fischen, und wir

sahen mit Erstaunen, wie das Tier, von einem sich nähernden Kahn er­ schreckt, beim Eintauchen acht bis zehn Minuten unter Wasser blieb. Die Nacht brachten wir wie immer unter freiem Himmel zu, obgleich in einer Pflanzung, deren Besitzer sich mit der Tigerjagd abgab. Er war fast völlig nackt und braunschwärzlich wie ein Zambo, was ihn aber keineswegs hinderte, sich zur Kaste der weißen Menschen zu zählen. Seine Frau und seine Tochter, die ebenso nackt wie er selbst gingen, nannte er Doiia Isabella und Doiia Manuela. Obgleich er nie die Gestade desApure verlassen hatte, äußerte er eine lebhafte Teilnahme "an den Neuigkeiten aus Madrid, an den immerwährenden Kriegen und all den Dingen von dort unten

cosas de alta)".

(todas las

Er wußte, daß der König von Spanien bald zum Besuch "der

Herrlichkeiten der Landschaft Caracas" kommen würde; inzwischen, setzte er scherzhaft hinzu, weil die Hofleute nur Weizenbrot äßen, dürften sie wohl nie weiter als bis in die Stadt Victoria kommen, und hierzuland werde man von ihnen nichts sehen. Ich hatte einen

chiguire mitgebracht und wollte ihn

braten lassen; unser Wirt aber behauptete, "nosotros caballeros blancos", weiße Leute wie er und ich, wären nicht gemacht, um "indianisches Wild" zu speisen; er bot uns einen Hirsch an, welchen er tags zuvor mit einem Pfeil er­ legt hatte, denn Pulver und Gewehr besaß er nicht. Wir vermuteten, ein nahes Bananenwäldchen verberge uns die Hütte des Hofes; es fand sich aber, daß dieser auf seinenAdel und seine Hautfarbe so stolze Mann sich die Mühe nicht gemacht hatte, aus Palmblättern eine

ajoupa

(eine Hütte) zu errichten. Wir wurden eingeladen, unsere Hänge­

matten neben die seinen zwischen zwei Bäumen aufzuhängen; und er versi­ cherte uns mit einiger Selbstzufriedenheit, wir würden, wenn wir während der Regenzeit zurückreisten, ihn unter Dach [bajo

teehol finden. Wir hatten

bald Grund, uns über eine Philosophie zu beklagen, welche die Faulheit be­ günstigt und den Menschen allen Bequemlichkeiten des Lebens gegenüber gleichgültig macht. Nach Mitternacht erhob sich ein heftiger Sturmwind, Blitze durchzogen den Horizont, der Donner rollte, und wir wurden bis auf die Knochen durchnäßt. Während des Gewitters belustigte uns ein seltsamer Zufall einenAugenblick. Die Katze Doiia Isabelas hatte sich ihr Nachtlager auf dem Tamarindenbaum gewählt, unter dem wir lagerten. Sie ließ sich in die Hängematte eines unserer Begleiter fallen, der, von den Krallen der Katze verletzt und aus tiefem Schlaf aufgeweckt, sich von einem wilden Tier überfallen glaubte. Wir eilten auf sein Geschrei herbei und konnten ihn nur mit Mühe von dem Irrtum überzeugen. Während der Regen in Strömen auf unsere Hängematten und auf die an Land gebrachten Instrumente fiel, be­ glückwünschte uns Don Ignacio, daß wir, statt am Gestade zu übernachten, uns auf seinem Gut befänden und in Gesellschaft weißer Menschen von Stande, "entre gente blanca y de trato". Durchnäßt wie wir waren, fiel es uns

180

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schwer, die Vorteile unserer Lage einzusehen, und wir hörten mit einiger Un­ geduld der langen Erzählung zu, die uns unser Wirt von seinem vorgeblichen Kriegszug an den Rio Meta machte, von der Tapferkeit, die er in einem blu­ tigen Gefecht mit den Guahibos-Indiandern entfaltet, und von den Dien­ sten, die er Gott und seinem König mit der Wegnahme der Kinder (los indie­ citos) von ihren Eltern erwiesen hatte, um sie auf die Missionen zu verteilen. Welch seltsames Schauspiel, in dieser unermeßlichen Einsamkeit alle eitle Anmaßung, alle ererbten Vorurteile und alle Irrtümer einer lang währenden Zivilisation bei einem Mann anzutreffen, der von europäischer Herkunft zu sein glaubte und nur den Schatten eines Baumes als Obdach kannte. Am 1. April [1800], bei Sonnenaufgang, verabschiedeten wir uns von Sefior Don Ignacio und von der Sefiora Dofia Isabela, seiner Gemahlin. Das Wetter war wieder aufgefrischt, denn das T hermometer, das tagsüber ge­ wöhnlich bei 30 bis 35° stand, war auf 24° gesunken. Die Temperatur des Flusses wechselte sehr wenig; sie war ständig 26 bis 27°. Die Strömung riß eine ungeheure Menge Baumstämme mit sich fort. Man sollte glauben, in einem ganz flachen Terrain, wo das Auge nirgends den kleinsten Hügel un­ terscheidet, hätte sich der Fluß durch die Kraft seiner Strömung einen Kanal in gerader Richtung gegraben. Ein Blick auf die Karte, die ich mit der Bus­ sole aufgenommen habe, bezeugt das Gegenteil. Die beiden vom Wasser an­ gegriffenen Ufer setzen ungleichen Widerstand entgegen, und fast unmerk­ liche Unebenheiten der Oberfläche reichen hin, um große Krümmungen zu verursachen. Unterhalb des Joval jedoch, wo das Flußbett sich einiger­ maßen erweitert, bildet es einen Kanal, der völlig nach der Schnur gezogen scheint und zu beiden Seiten von sehr hohen Bäumen beschattet wird. Dieser Abschnitt des Stromes wird Cafio rico genannt; seine Breite betrug 136 Toisen. Wir kamen an einer flachen Insel vorbei, die von unzähligen Fla­ mingos, rosenfarbigen Löffelreihern, Fischreihern und Wasserhühnern be­ völkert war, deren Gefieder das bunteste Farbenspiel darbot. Diese Vögel fanden sich dermaßen dicht zusammengedrängt, daß es schien, als könnten sie sich kaum bewegen. Die von ihnen bewohnte Insel heißt Isla de Aves. Weiter unten kamen wir an der Stelle vorbei, an welcher der Apure einen Arm (den Rio Arichuna) dem Cabullare zusendet und dadurch eine be­ trächtliche Wassermasse verliert. Wir hielten am rechten Ufer bei einer kleinen indianischen Mission an, die von einem Stamm der Guarnos be­ wohnt wird. Sie bestand nur noch aus 16 bis 18 aus Palmbaumblättern er­ bauten Hütten; die statistischen Tabellen aber, die von den Missionaren dem Hof jährlich eingereicht werden, bezeichnen diese Vereinigung von Hütten als das Dorf Santa Barbara de Arichuna. Die Guarnos sind ein Indianerstamm, der schwer an den Boden zu binden ist. Ihre Lebensweise hat viele Beziehungen zu den Sitten der Achaguas, der Guahibos und der Otomacos, deren Unreinlichkeit, Rachsucht und Ge-

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181

schmack für das Herumstreichen sie teilen; aber ihre Sprache unterscheidet sich wesentlich. Der größte dieser vier Stämme ernährt sich von Fischfang und Jagd in den öfters überschwemmten, zwischen dem Apure, dem Meta und dem Guaviare gelegenen Ebenen. Sogar die Natur des Landes scheint die Stämme zu einem unsteten Leben einzuladen. Wir werden bald sehen, daß man beim Eintritt in das Gebirge der Katarakte des Orinoco unter den Piraoas, den Macos und den Maquiritares mildere Sitten, Neigung zum Landbau und eine große Reinlichkeit im Inneren der Hütten findet. Auf dem Rücken der Berge, mitten in undurchdringlichen Wäldern, ist der Mensch gezwungen, sich festzusetzen und ein kleines Stück Erdreich anzu­ bauen. Dieser Anbau erheischt nur wenig Sorgfalt, während in einem Land, wo es keine anderen Wege als Flüsse gibt, das Leben des Jägers mühsam und schwierig ist. Die Guarnos der Mission von Santa Barbara konnten uns die Vorräte, die wir wünschten, nicht geben. Sie pflanzen nur etwas Manioc; im übrigen schienen sie gastfreundlich zu sein, und als wir in ihre Hütten traten, wurden uns gedörrte Fische und Wasser (in ihrer Sprache

cub)

angeboten.

Das Wasser war in porösen Gefäßen abgekühlt. Unterhalb der Vuelta del Cochino roto, an einer Stelle, wo der Strom sich ein neues Bett gegraben hatte, brachten wir die Nacht am unfruchtbaren und sehr ausgedehnt flachen Gestade zu. Der dichte Wald war so unzugänglich, daß wir größte Mühe hatten, trockenes Holz zumAnzünden der Feuer zu er­ halten, in deren Nähe die Indianer sich gegen die nächtlichen Angriffe des Tigers gesichert glauben. Unsere eigene Erfahrung scheint diese Meinung zu unterstützen; Herr Azara hingegen meldet, zu seiner Zeit und in Paraguay habe ein Tiger einen Menschen, der bei einem in der Savanne angezündeten Feuer saß, überfallen und fortgeschleppt. Die Nacht war still und heiter, bei schönem Mondschein. Die Krokodile lagen am Ufer hingestreckt. Sie hatten sich so gelagert, daß sie ins Feuer schauen konnten. Wir haben zu bemerken geglaubt, daß sein Glanz sie ebenso mächtig anzieht wie die Fische, die Krebse und andere Bewohner des Wassers. Die Indianer zeigten uns im Sand dieTritte von dreiTigern, dar­ unter zwei noch ganz junge. Ohne Zweifel war es ein weibliches Tier, das seine Junge zurTränke an den Strom geführt hatte. Weil nirgends ein Baum zu finden war, steckten wir unsere Ruder in die Erde, um die Hängematten daran zu befestigen. Alles blieb ruhig bis um elf Uhr nachts; dann aber erhob sich aus dem nahen Wald ein so furchtbarer Lärm, daß es fast unmöglich wurde, ein Auge zu schließen. Von der Menge wilder Tierstimmen, die gleichzeitig ertönten, erkannten unsere Indianer nur die, welche sich auch vereinzelt hören ließen. Es waren die leisen Flötentöne der Sapajus, die Seufzer der Alouaten, das Geschrei des Tigers, des Couguars oder des ame­ rikanischen Löwen ohne Mähne, des Bisamschweins, des Faultiers, des Hocco, des Parraqua und einiger anderer Vögel aus dem Hühnergeschlecht.

182

Kapitel XVIII

Wenn die Jaguare dem Saum des Waldes nahekamen, fing unser Hund, der zuvor beständig gebellt hatte, zu heulen und sich unter den Hängematten zu verkriechen an. Zuweilen, nach langer Stille, ertönte das Brüllen des Tigers von den Bäumen herab, und alsdann folgte ihm das schneidend anhaltende Pfeifen der Affen, die der sie bedrohenden Gefahr zu entfliehen schienen. Ich stelle diese Nachtszenen in ihren einzelnen Zügen dar, weil sie uns am Anfang der Wasserfahrt auf dem Apure noch neu waren. Wir gewöhnten uns daran, nachdem sie sich ganze Monate lang wiederholt hatten, überall wo die Waldung dem Strombett genähert ist. Die Sicherheit, welche die In­ dianer an den Tag legen, flößt den Reisenden Zutrauen ein. Man beredet sich mit ihnen, die Tiger scheuen alle das Feuer, und ein Mensch, der in seiner Hängematte liegt, werde nie von ihnen angegriffen. Wirklich sind die Fälle, wo solche Angriffe geschahen, äußerst selten, und während eines langen Aufenthalts im südlichen Amerika erinnere ich mich des einzigen Beispiels eines Llaneros, welcher gegenüber den Achaguas-Inseln in seiner Hängematte zerfleischt gefunden wurde. Wenn man die Eingeborenen nach der Ursache fragt, warum die Waldtiere zu gewissen Stunden in der Nacht einen so furchtbaren Lärm machen, geben sie die lustige Antwort: "Sie feiern den Vollmond." Ihre Unruhe rührt, wie ich denke, meist von einem Streit her, der sich im Waldesinneren erhoben hat. Die Jaguare zum Beispiel verfolgen die Pecaris und die Tapire, die sich nur aufgrund ihrer Menge verteidigen, in gedrängten Scharen fliehen und das Gebüsch auf ihrem Wege niederreißen. Die furchtsamen und argwöhni­ schen Affen, von dem Kampf erschreckt, erwidern das Geschrei der großen Tiere von den Bäumen herab. Sie wecken die gesellig lebenden Vögel, und nach und nach gerät die ganze Menagerie in Aufruhr. Wir werden bald sehen, daß gar nicht immer bei hellem Mondschein, sondern besonders zur Zeit der Gewitter und heftiger Regengüsse dieser Lärm unter den wilden Tieren stattfindet. "Der Himmel will ihnen eine gute Nacht und Ruhe ver­ leihen wie uns anderen", sprach der Mönch, der uns an den Rio Negro be­ gleitet hatte, als er, von Müdigkeit, erschöpft unser Nachtlager errichten half! Es war in derTat ein seltsamer Umstand, mitten in der waldigen Einöde keine Stille finden zu können. In den spanischen Gasthöfen scheut man den scharfen Ton der Zither im anstoßenden Zimmer; in denen am Orinoco, welche ein offenes Flußgestade oder der Schatten eines einzeln stehenden Baumes sind, fürchtet man durch die aus dem Wald herkommenden Stim­ men vom Schlaf abgehalten zu werden. Am 2. April setzten wir vor Sonnenaufgang die Segel. Der Morgen war schön und kühl nach dem Gefühl derer, die an die Hitze des Klimas gewöhnt sind. In freier Luft stieg das T hermometer nicht über 28o, aber der trockene und weiße Ufersand bewahrte trotz seiner Strahlung gegen den wolkenlosen Himmel eine Temperatur von 36°. Die Tümmler

(toninas)

durchzogen den

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Strom in langen Reihen. Das Ufer war von fischfangenden Vögeln besetzt. Einige benutzen das schwimmende Holz, das den Strom herunterkommt, um die Fische zu überraschen, welche die Mitte des Flusses bevorzugen. Unser Kahn war diesen Morgen mehrmals aufgelaufen. Solche Stöße, wenn sie sehr heftig sind, können zerbrechliche Fahrzeuge spalten. Wir stießen gegen die Spitze mehrerer großer Bäume, die seit Jahren in einer schiefen Stellung im Schlick eingesenkt waren. Diese Bäume kommen zur Zeit der großen Überschwemmungen vom Sarare herab. Sie füllen das Strombett dermaßen an, daß die Pirogen auf der Rückfahrt stromaufwärts zuweilen Mühe haben, zwischen den Untiefen und überall, wo Strudel sind, eine Pas­ sage zu finden. Nahe der Insel Carizales gelangten wir an eine Stelle, wo wir über der Wasserfläche Courbaril-Stämme von außerordentlicher Größe er­ blickten. Sie waren mit einer der Anhinga sehr nahe benachbarten Vogelart des Plotus bedeckt. Diese Vögel sitzen reihenweise wie die Fasanen und die Parraquas. Sie bleiben stundenlang unbeweglich mit in die Höhe gerich­ tetem Schnabel, was ihnen ein ungemein stupides Aussehen gibt. Von der Insel Carizales abwärts waren wir über die Abnahme des Flußwas­ sers um so mehr überrascht, als von der Gabelteilung bei der Boca de Ari­ ebuna an keinerlei Arm oder natürlicher Ableitungskanal dem Apure Wasser entzieht. Die Verluste sind nur Wirkungen der Verdunstung und des Einsiekerns im flachen sandigen und feuchten Ufer. Um einen Begriff von der Größe dieser Wirkungen zu erhalten, muß man sich erinnern, daß wir die Wärme des trockenen Sandes zu den verschiedenen Tageszeiten bei 36 bis 52° gefunden haben und die des mit drei bis vier Zoll Wasser bedeckten Sandes bei 32°. Der Grund der Flüsse erwärmt sich bis zu der Tiefe, zu der die Sonnenstrahlen vordringen können, ohne beim Durchgang der überein­ anderliegenden Wasserschichten allzusehr geschwächt worden zu sein. Dazu kommt, daß das Einsickern sich weithin über das Flußbett seitwärts aus­ dehnt. Die Ufer, die arid erscheinen, werden bis zur Höhe der Stromfläche wasserdurchtränkt. Wir sahen 50 Toisen vom Gestade entfernt Wasser, sooft die Indianer ihre Ruder in den Boden steckten; dieser in derTiefe feuchte, auf seiner Oberfläche trockene und den Sonnenstrahlen ausgesetzte Sand­ boden wirkt wie ein Schwamm und verdunstet ununterbrochen das eingeso­ gene Wasser. Die sich entwickelnden Dünste durchdringen die obere, stark erwärmte Sandschicht und werden, wenn die Luft sich am Abend abkühlt, dem Auge sichtbar. In dem Maße, wie das Ufer durch diese Verdunstung trockener wird, entzieht es dem Strombett wieder neues Wasser, und man begreift, daß dieses andauernde Spiel von Verdunstung und seitlichem An­ zapfen einen höchst beträchtlichen, der gerrauen Rechnung jedoch schwer zu unterwerfenden, enormen Verlust verursachen muß. Die Zunahme dieses Verlustes müßte proportional zur Länge des Stromlaufs sein, wenn er von seinem Ursprung bis zur Mündung gleichmäßig von flachen Ufern ein-

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gefaßt wäre; da diese aber ein Ergebnis der Anschwemmungen sind und das Wasser in dem Maße, wie es sich von der Quelle entfernt, von einer ge­ ringeren Geschwindigkeit angetrieben wird, lagert es notwendigerweise in seinem Unterlauf mehr ab als in seinem Oberlauf; und so erfahren Flüsse heißer Klimate eine Veränderung ihres Wasservolumens, indem sie sich ihrer Mündung nähern. Herr Barrow hat diese merkwürdigen Wirkungen der Sande im südlichen Afrika an den Ufern des Oranje-Flusses beobachtet, und sie sind sogar Gegenstand einer sehr wichtigen Diskussion der verschie­ denen Hypothesen geworden, die man sich über den Lauf des Nigers ge­ bildet hat. Nahe der Vuelta de Basilio, wo wir landeten, um wieder Pflanzen zu sam­ meln, bemerkten wir im Gipfel eines Baumes zwei niedliche kleine Affen, kohlrabenschwarz, von der Größe des Sal, mit Wickelschwänzen. Ihre Ge­ sichtszüge und Bewegungen zeigten hinlänglich, daß es weder der coarta noch der chamek, noch überhaupt Ateles-Affen waren. Selbst unsere In­ dianer hatten noch nie ähnliche gesehen. Es finden sich in diesen Wäldern eine Menge den europäischen Naturforschern noch unbekannter Sapajus; und weil die Affen, zumal die rottenweise lebenden und darum auch ver­ wegeneren, zu gewissen Zeiten große Wanderungen unternehmen, ge­ schieht es öfters, daß beim Eintritt der Regenzeit die Eingeborenen in der Nähe ihrer Hütten solche Arten entdecken, die sie zuvor nie wahrge­ nommen haben. Am gleichen Ufer zeigten unsere Führer uns ein Nest junger Leguane, die nur vier Zoll lang waren. Man konnte sie von der ge­ wöhnlichen Eidechse unterscheiden. Die Wamme unterhalb der Kehle war allerdings noch ausgebildet. Die Rückenstacheln hingegen, die großen auf­ gerichteten Schuppen und all die Anhängsel, die dem Leguan, wenn er die Länge von 3 bis 4 Fuß erreicht hat, eine so monströse Gestalt verleihen, waren kaum angedeutet. Wir fanden das Fleisch dieses Sauriers in allen Län­ dern, die ein sehr trockenes Klima haben, angenehm, sogar dann, wenn uns andere Nahrung keineswegs fehlte. Es ist sehr weiß und gehört nach dem Fleisch des tatou oder Armadill, das hier cachicamo heißt, zum besten, das man in den Hütten der Eingeborenen findet. Gegen Abend regnete es. Vor dem Regen flogen die Schwalben, die den unsrigen völlig glichen, dicht über der Wasserfläche hin. Wir sahen auch einen Flug Papagaien, die von kleinen, nicht geschopften Habichten ver­ folgt wurden. Das durchdringende Geschrei der Papageien bildet einen selt­ samen Kontrast zum Pfeifen der Raubvögel. Wir verbrachten die Nacht im Freien am Ufer, unfern der Carizales-Insel. Mehrere mit Pflanzungen umge­ bene Hütten der Indianer befanden sich in der Nähe. Unser Steuermann sagte voraus, wir würden den Jaguar nicht schreien hören, der sich, wenn er nicht sehr hungrig ist, von den Stellen entfernt, wo er nicht allein herrscht. "Die Nähe der Menschen macht ihn launisch, los hombres lo enfadan", sagt

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das Volk in den Missionen. Es ist dies der drollige und naive Ausdruck einer richtig beobachteten Tatsache.

[Über den caribe-Fisch, piraya o der piranhaj 3. April

[1800].

Seit unserer Abreise von San Fernando war uns kein ein­

ziges Kanu auf diesem schönen Strom begegnet. Alles zeugte von tiefster Einsamkeit. Unsere Indianer hatten am Morgen einen Fisch an der Angel, den man caribe oder caribito nennt, weil kein anderer Fisch blutgieriger ist. Er greift badende und schwimmende Menschen an und reißt ihnen öfters an­ sehnliche Stücke Fleisch weg. Wer auch nur leicht verwundet ist, hat Mühe, aus dem Wasser zu kommen, ehe er schwerere Wunden erleidet. Die In­ dianer fürchten die cariben-Fische ungemein, und mehrere von ihnen zeigten uns an der Wade und am Schenkel vernarbte, aber sehr tiefe Wunden, die von diesen kleinen T ieren, welche die Maipures umati nennen, herrührten. Sie halten sich auf dem Grund des Stroms auf; sobald sich aber einige Blutstropfen im Wasser verbreitet haben, kommen sie zu Tausenden an die Oberfläche. Wenn man die Menge dieser Fische bedenkt, von denen die gefräßigsten und grausamsten nur 4 bis 5 Zoll Länge haben, die dreiek­ kige Gestalt ihrer schneidenden und spitzen Zähne und die Weite ihres dehn­ baren Maules, darf man nicht über die Furcht überrascht sein, die der caribe den Bewohnern der Gestade des Apure und Orinoco einflößt. Wir haben an Stellen, wo der Strom sehr durchsichtig und kein Fisch zu sehen war, kleine Stücke blutigen Fleisches in das Wasser geworfen. In wenigen Minuten war ein ganzer Schwarm von caribes versammelt, die sich um die Beute stritten. Der Bauch des Fisches ist sägeförmig gezahnt und schneidend, ein Kennzei­ chen, das bei mehreren Gattungen angetroffen wird, beim Serra-Salm, dem Myletes und dem Pristigastres. Das Vorhandensein einer zweiten fettigen Rückenflosse und die Gestalt der durch die Lippen bedeckten, voneinander entfernt stehenden und in der unteren Kinnlade größeren Zähne weisen dem caribe seinen Platz unter den Serra-Salmen an. Sein Maul erscheint un­ gleich mehr gespalten als bei den Myletes des Herrn Cu vier. Sein Körper hat gegen den Rücken hin eine aschgraue, ins Grünliche spielende Farbe; hin­ gegen sind Bauch, Kiemen, Brust, Bauch- und Afterflossen von schöner Orangenfarbe. Man findet im Orinoco drei Arten

( oder Varietäten? ) ,

die

durch ihre Größe unterschieden werden. Die mittlere oder Zwischenart scheint mit der mittleren Art des Piraya oder Piranha von Marcgrav [Mark­ graf] [Salmo rhombeus, Lin. ] identisch zu sein. Ich habe sie an Ort und Stelle beschrieben und gezeichnet. Der caribito hat einen sehr angenehmen Ge­ schmack. Weil man nirgends zu baden wagt, wo er vorkommt, kann er als eine der größten Plagen dieser Klimate angesehen werden, wo die Stiche

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der mosquitos und der vielfältige Hautreiz den Gebrauch der Bäder so nötig machen. *

Um Mittag hielten wir in einer unbewohnten Gegend an, die Algodonal heißt. Während das Fahrzeug ans Ufer gezogen und unser Mittagsmahl zu­ bereitet wurde, hatte ich mich von meinen Gefährten getrennt. Ich ging längs des Ufers hin, um eine Krokodil-Gruppe aus der Nähe zu beobachten. Die Tiere schliefen an der Sonne und waren so gelagert, daß ihre mit breiten Platten besetzten Schwänze einander stützten. Kleine schneeweiße Reiher

[Garz6n chico] spazierten auf ihrem Rücken und sogar auf ihren Köpfen, als gingen sie über Baumstämme. Die Krokodile waren graugrünlich, zur Hälfte mit trockenem Schlamm bedeckt; ihrer Farbe und Unbeweglichkeit nach hätte man sie für Bronzebilder halten können. Es fehlte wenig, und dieser Spaziergang wäre mir zum Verderben geworden. Ich hatte immer nur gegen das Ufer hingeschaut, als ich beim Aufheben der im Sand vorkom­ menden Glimmerblättchen die frischen, durch ihre Gestalt und Breite so leicht zu erkennenden Spuren eines Tigers wahrnahm. Das Tier hatte seinen Weg nach dem Wald genommen, und als ich mich dorthin umsah, erblickte ich auf 80 Fuß Entfernung einenJaguar unter dem dichten Laub eines Ceiba ausgestreckt. Ich glaubte nie einen größeren Tiger gesehen zu haben. Es gibt Zufälle im Leben, gegen die man vergeblich seine Vernunft zu stählen versucht. Ich erschrak heftig, blieb jedoch hinreichend Herr meiner selbst und der Bewegungen meines Körpers, um die Ratschläge befolgen zu können, welche die Eingeborenen uns für solche Fälle öfters gegeben hatten. Ich ging weiter, ohne zu laufen; ich vermied jede Bewegung der Arme und glaubte zu bemerken, daß der Jaguar seine ganze Aufmerksam­ keit auf eine Herde capybaras richtete, die über den Fluß setzten. Nun schlug ich den Rückweg ein, indem ich einen ziemlich weiten Bogen zum Ufer beschrieb. In dem Maß, wie ich mich entfernte, glaubte ich meine Schritte beschleunigen zu dürfen. Wie viele Male war ich versucht zurückzu­ schauen, um mich zu versichern, daß ich nicht verfolgt wurde! Glücklicher­ weise gab ich erst sehr spät diesem Trieb nach. Der Jaguar war unbeweglich geblieben. Diese Riesenkatzen mit geflecktem Kleid sind in den Land­ schaften, die an capybaras, pecaris und Hirschen Überfluß haben, so wohl­ genährt, daß sie nur selten den Menschen angreifen. Ich kam atemlos bei un­ serem Fahrzeug an und erzählte den Indianern mein Abenteuer. Sie blieben dabei ziemlich gleichgültig; nachdem jedoch die Flinten geladen waren, be­ gleiteten sie uns nach dem Ceiba, unter den der Jaguar sich gelagert hatte. Wir trafen ihn nicht mehr und hielten es auch nicht für ratsam, ihm in das Ge­ hölz zu folgen, wo man sich zerstreuen oder einzeln der Reihe nach zwischen Lianengeflechten gehen muß.

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[Über den lamantin oder die Seekuh] Abends kamen wir bei der Mündung des Caiio del Manatf vorbei, der seinen Namen von der großen Menge manatis oder Iamantins [Seekühe] führt, die alljährlich da gefangen werden. Dieses grasfressende Tier aus der Familie der Cetaceen, das die Indianer apica und avia nennen, erreicht ge­ wöhnlich eine Länge von 10 bis 12 Fuß. Sein Gewicht beträgt 500 bis 800 Pfund. Wir sahen das Wasser von seinen Exkrementen bedeckt, die sehr übel riechen und ansonsten denen des Ochsen völlig gleichen. Das Tier kommt im Orinoco unterhalb der Katarakte, im Rfo Meta und im Apure, zwischen den zwei Carizales-Inseln und Conserva massenhaft vor. Auf der Außenseite und am Rand der völlig glatten Schwimmflossen haben wir keine Spur von Nägeln gefunden; dagegen erschienen kleine Andeutungen von Nägeln am dritten Glied, wenn die Haut der Flosse abgezogen wird. Bei einem Tier, das 9 Fuß Länge hatte und das wir in Carichana, einer Mission des Orinoco, zer­ gliederten, stand die Oberlippe vier Zoll über der Unterlippe vor. Sie ist mit einer sehr zarten Haut bedeckt und dient als Rüssel oder Fühler zur Untersu­ chung nahe befindlicher Objekte. Die Mundhöhle, welche im frisch getö­ teten Tier eine fühlbare Wärme hat, zeigt eine sehr ungewöhnliche Bildung. Die Zunge ist fast unbeweglich; aber der Zunge vorliegend befindet sich auf jeder Kinnlade ein fleischiger Wulst und eine mit einer sehr harten Haut überzogene Höhlung, die ineinander passen. Der Iamantin verschluckt so viele Futtergräser, daß wir sowohl den in mehrere Fächer abgeteilten Magen als die 108 Fuß langen Gedärme damit angefüllt fanden. Wenn das Tier im Rücken geöffnet wird, so erstaunt man über die Größe, Gestalt und Lage seiner Lungen. Sie haben weite Zellen und gleichen ungeheuren Schwimm­ blasen. Ihre Länge ist drei Fuß. Mit Luft angefüllt beträgt ihr Umfang über 1000 KubikzolL Es befremdet mich, daß der manati mit so ansehnlichen Luftbehältern doch so häufig zum Atemholen auf der Oberfläche des Was­ sers erscheint. Sein Fleisch, das- ich weiß nicht durch welches Vorurteil- für ungesund und calenturioso [fiebererregend] gehalten wird, ist sehr schmack­ haft. Ich fand es dem Schweinefleisch ähnlicher als dem Rindfleisch. Die Guarnos und die Otomacos essen es am liebsten; und diese zwei Völker sind es auch, die sich vorzüglich mit der Seekuhfischerei abgeben. Sein Fleisch wird, eingesalzen und an der Sonne gedörrt, das ganze Jahr aufbewahrt, und weil die Geistlichkeit dieses Säugetier unter die Fische zählt, ist es die Fasten­ zeit hindurch sehr begehrt. Die Seekuh hat ein überaus zähes Leben. Sie wird, nachdem sie harpuniert ist, gebunden, aber man tötet sie nicht eher, als bis sie wirklich in die Piroge geschafft ist. Dies geschieht, zumal wenn das Tier groß ist, oft mitten im Strom, indem man nämlich die Piroge zu zwei Dritteln ihres Volumens mit Wasser füllt, sie dann dem Tier unterschiebt und das Wasser mittels einer Kürbisflasche wieder ausschöpft. Der Fang dieser

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Tiere ist zur Zeit, wenn die großen Überschwemmungen zu Ende gehen, am leichtesten, weil der manati zuvor aus den großen Flüssen in die umlie­ genden Seen und Sümpfe übergehen konnte - und das Wasser nun rapide sinkt. Zur Zeit der Jesuiten-Herrschaft in den Missionen am unteren Ori­ noco versammelten sie sich alljährlich in Cabruta unterhalb der Mündung des Apure, um mit den Indianern ihrer Missionen, am Fuß desBerges, der gegenwärtig den Namen EI Capuchino führt, eine große Seekuhjagd zu be­ ginnen. Das Fett des Tieres ist unter dem Namen manteca de manatibekannt und wird für Kirchenlampen benutzt; man gebraucht es auch zur Zuberei­ tung von Speisen. Es hat nicht den widrigen Geruch des Trans der Walfische oder anderer blasender Cetaceen. Die Haut der Seekühe, die über andert­ halb Zoll dick ist, wird in Riemen zerschnitten und gleich den Streifen der Ochsenhäute in den Llanos anstatt Stricken gebraucht. Ins Wasser getaucht, bleibt sie einem ersten Grad der Fäulnis ausgesetzt. In den spanischen Kolo­ nien werden Peitschen daraus verfertigt. Auch haben die Wörter ltitigo und manati eine zusammentreffendeBedeutung. Diese Peitschen aus der Haut der Seekühe sind ein grausames Strafwerkzeug der unglücklichen Skla­ ven und selbst der Indianer in den Missionen, die den Gesetzen zufolge als freie Menschen behandelt werden sollten. *

Die Nacht über lagerten wir der Insel Conserva gegenüber. Auf dem Weg längs des Waldessaumes überraschte uns der Anblick eines ungeheuren Baumstammes, der bei einer Höhe von 70 Fuß mit verzweigten Dornen ge­ spickt war. Die Eingeborenen nennen ihnBarba de tigre. Er gehört viel­ leicht zur Familie derBerberideen. Die Indianer hatten unsere Feuer am Stromufer angezündet. Wir bemerkten abermals, daß ihr Glanz die Kroko­ dile anzieht und sogar die toninas, deren Geräusch unseren Schlaf unter­ brach, bis das Feuer gelöscht wurde. Wir wurden in dieser Nacht zweimal aufgeweckt, welches ich nur deshalb bemerke, weil es den wilden Charakter der Gegend kennzeichnet. Ein weiblicher Jaguar näherte sich unserem Lager, um sein Junges zur Tränke an den Strom zu führen. Die Indianer jagten ihn weg, aber wir hörten lange das Geschrei des jungen Tiers, das wie eine junge Katze miaute. Bald hernach wurde unser großer Doggenhund vorn an der Schnauze gebissen oder, wie die Eingeborenen sagen, gesto­ chen. Die Stechenden waren enorme Fledermäuse, die unsere Hänge­ matten umschwärmten. Sie hatten einen langen Schwanz wie Fleischer­ hunde; ich glaube jedoch, daß es Phyllostomen waren, deren mit Wärzchen besetzte Zunge ein Saugorgan und einer bedeutenden Verlängerung fähig ist. Die Wunde war sehr klein und rund. Wenn der Hund, sobald er sich ge­ bissen fühlte, Klagetöne ausstieß, geschah dies nicht aus Schmerz, sondern

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weil ihn der Anblick der unter unsern Hängematten hervorkommenden Fle­ dermäuse schreckte. Diese Zufälle sind viel seltener, als man selbst hierzu­ lande glaubt. Obgleich wir mehrere Jahre hindurch oft unter freiem Himmel schliefen, in Klimaten, wo die Vampire

[Vespertilio spectrum] und andere

analoge Arten häufig vorkommen, sind wir doch niemals verletzt worden.

Übrigens ist der Stich ganz und gar nicht gefährlich und meist auch so wenig schmerzhaft, daß man nicht eher erwacht, als nachdem die Fledermaus weg­ geflogen ist. Der 4. April

[1800]

war der letzte Tag, den wir auf dem Rio Apure zu­

brachten. Der Pflanzenwuchs seiner Gestade wurde immer einförmiger. Seit ein paar Tagen, vorzüglich von der Mission Ariebuna an, fingen wir an, durch Insektenstiche im Gesicht und an den Händen grausam gequält zu werden. Es waren nicht

mosquitos, die das Aussehen von kleinen Fliegen zancudos, die wahre Schnaken und von un­

oder Simulies haben, sondern serm

Culex pipiens völlig verschieden sind. Diese stechenden Insekten

kommen erst nach Sonnenuntergang zum Vorschein; ihr Saugrüssel ist der­ maßen lang, daß sie damit die Hängematte und dichte Kleidung durch­ dringen, wenn sie sich auf deren Unterseite setzen. Wir wollten die Nacht an der Vuelta del Palmito zubringen; die Jaguare finden sich aber in dieser Gegend des Apure in solcher Menge, daß unsere Indianer zwei von ihnen hinter einem Courbaril-Stamm versteckt fanden, als sie eben unsere Hängematten befestigen wollten. Man riet uns, weiterzu­ fahren und unser Nachtlager auf der Insel Apurito, ganz nahe beim Zusam­ menfluß mit dem Orinoco, aufzuschlagen. Dieser Teil der Insel gehört zur Provinz Caracas, während von den Ufern zur Rechten des Apure und des Orinoco das eine zur Provinz Barinas und das andere zum spanischen Gua­ yana gehören. Es fanden sich keine Bäume, an denen unsere Hängematten befestigt werden konnten. Wir mußten auf Ochsenhäuten auf der Erde schlafen. Die Kanus sind zu eng und zu voll von

zancudos, um die Nacht

darin zuzubringen. Weil die Ufer an der Stelle, wo wir unsere Instrumente ans Land gebracht hatten, ziemlich steil waren, konnten wir hier neue Beweise dessen erhalten, was ich anderswo die Trägheit der Vögel aus dem Hühnergeschlecht in den Tropenländern genannt habe. Die hoccos und die Steinpauxis sind gewohnt, mehrmals am Tag zum Fluß herabzusteigen, um ihren Durst zu löschen. Sie trinken viel und in kurzen Zwischenräumen. Eine beträchtliche Anzahl dieser Vögel hatte sich in der Nähe unseres Lagers einem Schwarm parra­ quas Fasanen zugesellt. Das Aufsteigen am abschüssigen Ufer fiel ihnen -

sehr schwer. Sie versuchten es mehrmals, ohne ihre Flügel dabei zu gebrau­ chen. Wir trieben sie vor uns her wie eine Herde Schafe. Auch die zamuros­ Geier entschließen sich nicht leicht zum Auffliegen. Nach Mitternacht erhielt ich eine gute Beobachtung der Mittagshöhe vom

190 a

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im Kreuz des Südens. Die Breite der Mündung des Apure beträgt 7o 36'

23". Pater Gumilla gibt sie zu 5° 5', d'Anville zu 7° 3', Caulin zu 7o 26' an. Die Länge der boca des Apure, nach Sonnenhöhen, die ich am 5. April [1800], morgens, aufnahm, beträgt 69° 7' 29" oder 1° 12' 41" östlich vom Meridian von San Fernando. Am 5. April erschien uns die geringe Wassermasse sehr auffallend, die der RioApure dem Orinoco in dieser Jahreszeit zuführt. Der gleiche Strom, der meinen Messungen zufolge beim Cafio rico noch 136Toisen breit war, hatte an seiner Mündung nur noch die Breite von 60 bis 80. SeineTiefe betrug an dieser Stelle nur 3 bis 4 Toisen. Er verliert allerdings von seinem Wasser durch den Rio Ariebuna und den Cafio del Manati, zwei Arme des Apure, die nach dem Payara und nach dem Guarico hingehen; indessen scheint der größte Verlust auf der Infiltration am Ufer zu beruhen, von welcher oben die Rede gewesen ist. Die Geschwindigkeit des Apure betrug nahe bei seiner Mündung nur 3,2 Fuß in der Sekunde, so daß ich das gesamte Volumen des Wassers leicht hätte berechnen können, wenn ich durch Loten in kurzenAb­ ständen mit allen Dimensionen des Querschnitts bekannt geworden wäre. Das Barometer, das in San Fernando, 28 Fuß über dem mittleren Wasser­ stand desApure, um halb zehn Uhr vormittags 335,6 Linien angezeigt hatte, zeigte an der Mündung des Apure in den Orinoco um elf Uhr vormittags 337,3 Linien. Berechnet man die ganze Stromlänge (mit den Krümmungen) zu 94 Meilen oder 89 300Toisen und berücksichtigt man die kleine, von der stündlichen Bewegung des Barmometers herrührende Korrektion, ergibt sich ein Durchschnittsgefälle von 13 Zoll (genau 1,15 Fuß) auf die Meile von 950Toisen. La Condamine und der gelehrte Major Renneil nehmen an, das mittlere Gefälle des Amazonenstroms und des Ganges betrage nicht einmal 4 bis 5 Zoll auf die Meile. Wir berührten mehrmals Untiefen, ehe wir in den Orinoco einliefen. Die Anschwemmungen sind in der Gegend des Zusammenflusses ungemein groß. Wir mußten unser Fahrzeug längs des Ufers amTau ziehen lassen. Wel­ cher Unterschied zwischen dem Zustand des Stroms unmittelbar vor dem Eintritt der Regenzeit, wo alle Wirkungen der Lufttrockenheit und der Ver­ dunstung ihr Maximum erreicht haben, und diesem anderen, herbstlichen Zustand, wo der Apure einem Arm des Meeres gleicht und die Savannen, so weit das Auge reicht, überdeckt. Südwärts entdeckten wir die isolierten Hügel von Coruato; im Osten begannen sich die Granitfelsen von Curi­ quima, der Zuckerhut von Caycara und die Cerras delTirano am Horizont zu erheben. Nicht ohne Rührung erblickten wir zum ersten Mal nach langem Harren die Gewässer des Orinoco auf einem von der Küste derart entfernten Punkt.

Siebtes Buch Kapitel XIX

Verbindung des Rio Apure und des OrinocoBerge von Encaramada- Uruana- Baragutin- Carichana­ Mündung des Meta- Insel Panumana Als wir den Rio Apure verließen, hatte die Landschaft ein völlig neues Aussehen erhalten. Die unermeßliche Wasserfläche lag einem See gleich, so weit das Auge reichte, vor uns ausgedehnt. Schäumende Wellen wurden vom Kampf des Windes und der Strömung mehrere Fuß hoch emporgehoben. Die kreischenden Stimmen der Reiher, der Flamingos und der Löffelgänse, die in langen Reihen vom einen zum anderen Gestade hinüberfliegen, ließen sich jetzt nicht mehr in der Luft hören. Vergeblich sahen wir uns nach den Schwimmvögeln um, deren kunstreiche List sich in jeder Sippe verschieden offenbart. Die ganze Natur schien weniger belebt. Kaum erblickten wir in den Tälern der Wellen einige große Krokodile, die mit ihren langen Schwänzen die Fläche des unruhigen Wassers schräg durchschnitten. Den Horizont begrenzte ein waldiger Kranz; allein nirgends dehnte der Wald sich bis zum Flußbett aus. Ein breites Gestade, von der Sonnenhitze ständig ver­ brannt, öde und unfruchtbar wie der Meeresstrand, sah von weitem der Luftspiegelung wegen wie stillstebendes Wasser aus. Weit entfernt, dem Strom Grenzen zu setzen, machten die Sandufer diese vielmehr ungewiß und erschienen je nach dem wechselnden Spiel der Strahlenbrechung bald näher, bald wieder entfernter. In diesen einzelnen Zügen der Landschaft, in diesem Charakter der Ein­ samkeit und der Größe erkennt man den Lauf des Orinoco, eines der ersten unter den majestätischen Strömen der Neuen Welt. Die Gewässer wie das Land bieten einen charakteristischen und individuellen Aspekt dar. Das Strombett des Orinoco hat ein anderes Aussehen als die Betten des Meta, des Guaviare, des Rio Negro und des Amazonenstroms. Ihre Verschieden­ heiten beruhen nicht nur auf Breite und Schnelligkeit des Laufs; sie gehen aus dem Ganzen der Zusammenhänge hervor, die an Ort und Stelle leichter wahrzunehmen sind, als sie genau dargestellt werden können; so daß ein er­ fahrener Seemann aus der bloßen Gestalt der Wellen, aus der Farbe des Was­ sers, aus dem Ansehen des Himmels und der Wolken erraten könnte, ob er sich im Atlantischen, im Mittelmeer oder im äquinoktialen Teil des großen Weltmeers befindet.

192

Kapitel XIX

Es wehte ein kühler Ostnordostwind, dessen Richtung unser Stromauf­ wärtssegeln nach der Mission von Encaramada begünstigte; unsere Piroge leistete aber dem Wellenstoß so schwachen Widerstand, daß Personen, die der Seekrankheit ausgesetzt waren, auch auf dem Fluß an Übelsein litten. Das Gegeneinanderstoßen der Gewässer bei der Vereinigung beider Ströme verursacht den Wellenschlag. Dieser Stoß ist sehr heftig, jedoch keineswegs so gefährlich, wie der Pater Gumilla versichert. Wir kamen bei der Punta Cu­ riquima vorbei, die eine Masse von quarzigem Granit, ein kleines, aus abge­ rundeten Blöcken bestehendes Vorgebirge ist. Hier hatte am rechten Ge­ stade des Orinoco zur Zeit der Jesuiten der Pater Rotella eine Mission von Palenques- und Viriviri- oder Guires-Indianern gegründet. Zur Zeit der Überschwemmungen waren der Felsen Curiquima und das an seinem Fuß gelegene Dorf völlig von Wasser umringt. Dieser sehr nachteilige Umstand und die unzählbare Menge der mosquitos und niguas [Sandflöhe (Pulex pe­ netrans, Lin.)], von denen der Missionar und die Indianer geplagt wurden, bewegten sie den feuchten Ort zu verlassen. Jetzt ist er gänzlich verödet; während gegenüber, auf dem linken Ufer, die kleinen Berge von Coruato den Zufluchtsort vagabundierender Indianer bilden, die von den Missionen oder von den eigenen Stämmen, die noch nicht der Mönchsherrschaft unter­ worfen wurden, ausgestoßen worden sind. Von der außerordentlichen Breite des Orinoco zwischen der Mündung des Apure und dem Felsen Curiquima beeindruckt, habe ich sie mittels einer zweimal auf dem westlichen Ufer gemessenen Basis bestimmt. Das Bett des Stromes hatte in seinem gegenwärtigen Zustand von niedrigem Wasserstand 1906Toisen Breite; diese steigt aber auf 5517 [oder 3714 m] an, wenn zur Re­ genzeit der Felsen Curiquima und der Hof des Capuchino, nahe beim Hügel von Pocopocori, zu Inseln werden. DasAnschwellen des Orinoco vermehrt sich durch denAndrang der Gewässer desApure, die keineswegs gleich an­ deren Flußmündungen in einem spitzen Winkel mit dem höheren Teil des Hauptrezipienten zusammentreffen, sondern sich unter einem rechten Winkel damit vereinigen. Die Temperatur der Wasser des Orinoco, an meh­ reren Punkten des Strombettes gemessen, betrug mitten im Talweg, wo die Strömung am stärksten ist, 28,3°, in der Nähe der Ufer 29,2°. Wir fuhren anfangs in südwestlicher Richtung den Fluß hinauf, bis ans Ge­ stade der Guaricotos-Indianer am rechten Ufer des Orinoco, von da aber südwärts. Der Strom ist so breit, daß die Berge von Encaramada aus dem Wasser emporzusteigen scheinen, als sähe man sie über dem Horizont des Meeres. Sie bilden eine zusammenhängende Kette in der Richtung von Osten nach Westen; die Landschaft gewinnt, im Verhältnis wie man ihr näher kommt, ein malerischeres Aussehen. Diese Berge sind aus unge­ heueren zerspaltenen und übereinandergehäuften Granitblöcken zusam­ mengesetzt. Ihre Teilung in Blöcke ist die Wirkung der Zersetzung. Zur Ver-

Kapitel XIX

193

schönerung der Gegend von Encaramada trägt der kräftige Pflanzenwuchs wesentlich bei, der die Felsenabhänge deckt und nur ihre abgerundeten Gipfel nackt läßt. Man glaubt, altes Gemäuer zu sehen, das mitten aus einem Wald emporragt. Der Berg selbst, an dessen Fuß die Mission gelegen ist, derTepupano derTamanaken-Indianer, stellt auf seiner Höhe drei unge­ heure Granitzylinder dar, von denen zwei geneigt sind, während der dritte, dessen Unterbau eingeschnitten [und deshalb schmäler] und der insgesamt über 80 Fuß hoch ist, eine senkrechte Stellung behalten hat. Dieses Fels­ stück, dessen Gestalt an den Sehnareher auf dem Harzgebirge oder an die Actapanschen Orgeln [siehe >Atlas PittoresqueStoria dell Orinoco< ge­ gründet. Dieser in den Sprachen der Indianer wohlbewanderte Missionar hat während achtzehn Jahren bis zur Vertreibung der Jesuiten in dieser Ein­ samkeit gewohnt. Um sich von dem wilden Zustand dieser Länder einen richtigen Begriff zu machen, muß man sich erinnern, daß der Pater Gili von Carichana, dessen Entfernung von Encaramada 40 Iieues beträgt, als von einem weit entfernten Ort spricht und daß er niemals bis zum ersten Kata­ rakt des Stroms, dessen Beschreibung er unternommen hat, gelangt ist. Im Hafen von Encaramada trafen wir Cariben aus Panapana an. Es war ein Kazike, der in seiner Piroge den Orinoco hinauffuhr, um dem berühmten Schildkröteneierfang beizuwohnen. Das Heck seiner Piroge war wie ein

bongo

abgerundet und von einem kleineren Kahn, der curiara heißt, be­

gleitet. Er saß unter einer Art Zelt

(toldo),

das gleich dem Segel aus Palm­

baumblättern verfertigt war. Sein kalter und stummer Ernst sowie die Ehr­ furcht, mit der seine Begleiter ihn bedienten, deuteten die Wichtigkeit der Person an. Sonst trug der Kazike keine andere Kleidung als seine Indianer. Sie waren nämlich alle nackt, mit Bogen und Pfeil bewaffnet, und mit onoto, dem färbenden Satzmehl des Rocou, bemalt. Der Häuptling, seine Diener, die Gerätschaften und die Segel, alles war rot gefärbt. Diese Cariben schienen uns Menschen von fast athletischer Gestalt zu sein: Wir fanden sie viel schlanker als die Indianer, die uns bisher zu Gesicht gekommen waren. Ihre glatten und dichten Haare, an der Stirne wie bei den Chorknaben abge­ schnitten, ihre schwarz gefärbten Augenbrauen, ihr finsterer, jedoch kräf­ tiger Blick erteilen ihrem Gesicht einen Ausdruck großer Härte. Wir hatten bis dahin nur die in den europäischen Sammlungen aufbewahrten Schädel einiger Cariben von den Antillen gesehen und waren befremdet, bei diesen Indianern von reiner Rasse die Stirn gewölbter anzutreffen, als man sie uns beschrieben hatte. Die sehr großen, aber ekelhaft schmutzigen Frauen trugen ihre kleinen Kinder auf dem Rücken; um die Schenkel und Beine waren diesen breite Bande von Baumwolltuch in einiger Entfernung vonein­ ander umgelegt. Das unter dem Verband stark zusammengepreßte Fleisch war in den Zwischenräumen aufgeschwollen. Überhaupt bemerkt man, daß

Kapitel XIX

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die Cariben auf ihr Äußeres und auf ihren Schmuck so viel Sorgfalt wenden, wie nackte und rot bemalte Menschen nur immer tun können. Sie legen auf gewisse Leibesformen einen großen Wert, und eine Mutter würde der Gleichgültigkeit gegen ihre Kinder beschuldigt, wenn sie der Wade nicht die Gestalt, welche die Landessitte heischt, zu geben bemüht wäre. Da keiner unserer Indianer vom Apure die Caribensprache verstand, so konnten wir bei dem Kaziken von Panapana auch keine Erkundigungen über die Lager einziehen, welche man zum Einsammeln der Schildkröteneier in dieser Jah­ reszeit auf verschiedenen Inseln des Orinoco einrichtet. In der Nähe von Encaramada wird der Strom durch eine sehr lange Insel in zweiArme geteilt. Die Nacht brachten wir in einer Felsenbucht zu, der Mün­ dung des Rio Cabullare gegenüber, der aus dem Payara und dem Atamaica gebildet und zuweilen als ein Arm des Apure angesehen wird, weil er mit diesem durch den RioAriebuna zusammenhängt. Der Abend war schön und der Mond beleuchtete den Gipfel der Granitfelsen. Trotz der feuchten Luft war die Wärme so gleichförmig verteilt, daß kein Funkeln bemerkt wurde, selbst bei

4 oder

5° Erhöhung über dem Horizont. Das Licht der Planeten

war ausnehmend geschwächt; und wenn ich nicht wegen der Kleinheit des scheinbaren Durchmessers des Juipter einen Irrtum in der Beobachtung an­ zunehmen hätte, würde ich sagen, daß wir hier zum ersten Mal die Scheibe des Jupiters mit unbewaffnetem Auge zu unterscheiden glaubten. Gegen Mitternacht wurde der Nordostwind sehr heftig. Er führte keine Wolken herbei, aber das Himmelsgewölbe überzog sich zusehends mit Dünsten. Es traten starke Windstöße ein, die Besorgnis für die Sicherheit unserer Piroge erregten. Diesen ganzen Tag über hatten wir nur wenige Krokodile gesehen, die aber alle von ausnehmender Größe,

20 bis 24 Fuß lang,

waren. Die In­

dianer behaupteten, die jungen Krokodile zögen die Lachen und die we­ niger breiten und weniger tiefen Ströme vor; sie häufen sich besonders in den Cafios an, und man wäre versucht, auf sie anzuwenden, wasAbd-Allatif von den Nilkrokodilen sagt: "Sie wimmeln wie Würmer in den Untiefen des Stroms und um die unbewohnten Inseln her."

Am 6. April [1800]

wurde die Fahrt den Orinoco hinauf fortgesetzt, an­

fangs in südlicher, hernach in südwestlicher Richtung, und wir bekamen die Südseite der Serrania oder Bergkette von Encaramada zu Gesicht. Der dem Strom nächstgelegene Teil ist nicht über

140

bis

160

Toisen erhöht; allein

durch ihre steilen Abhänge, durch ihre Lage mitten in einer Savanne, durch ihre in unregelmäßige Prismen gehauenen Felsenspitzen erhält die Serrania ein sehr hohes Aussehen. Ihre größte Breite beträgt nicht über drei Iieues. Nach meinen Auskünften bei den Indianern der Pareka-Nation breitet sich diese ostwärts beträchtlich aus. Die Gipfel der Encaramada bilden das nörd­ lichste Glied einer Berggruppe, die das rechte Ufer des Orinoco, zwischen 5 und 71H Breite, von der Mündung des Rio Zama bis zu der des Cabullare be-

196

Kapitel XIX

grenzt. Die verschiedenen Teile, aus denen diese Gruppe besteht, sind durch kleine Grasebenen voneinander getrennt. Es besteht kein vollkommener Gleichklang zwischen ihnen, weil die nördlichsten die Richtung von West nach Ost, die südlichsten hingegen die von Nordwest nach Südost haben. Diese veränderte Richtung erklärt die Breitenzunahme hinlänglich, die in der Cordillere von la Parime ostwärts, zwischen den Quellen des Orinoco und des Rio Paruspa, wahrgenommen wird. Beim Vorrücken über die großen Katarakte von Atures und Maipures hinaus werden wir eine Reihe von sieben Hauptgliedern der Kette aufeinanderfolgen sehen, die von Enca­ ramada oder Sacuina, von Chaviripa, von Baraguan, von Carichana, von Uniama, von Calitamini und von Sipapo. Diese Übersicht mag einen allge­ meinen Begriff der geologischen Beschaffenheit des Landes geben. Über den ganzen Erdball erkennt man ein Streben nach regelmäßigen Formen in den Gebirgen, die am unregelmäßigsten gruppiert scheinen. Jedes Glied stellt sich den Seefahrern auf dem Orinoco, in einem Querschnitt, als ein ab­ gesonderter Berggipfel dar; doch diese Absonderung ist nur scheinbar. Die Regelmäßigkeit in der Richtung und Trennung der Glieder scheint in dem Maße, wie man ostwärts vorrückt, abzunehmen. Die Berge von Encara­ mada schließen sich an die des Mato an, auf denen der RfoAsiveru oder Cu­ chivero entspringt; die von Chaviripa verlängern sich in den Granitgebirgen von Carosal, von Amoco und von Murcielago bis zu den Quellen vom Ere­ bato und Ventuari. Durch dieses Gebirgsland, das von Indianern bewohnt wird, die milde Sitten haben und sich mit dem Landbau beschäftigen, hatte der General Itu­ rriaga zur Zeit der Grenzexpedition das für die Versorgung der neuen Stadt San Fernando de Atabapo bestimmte Hornvieh führen lassen. Die Be­ wohner von Encaramada zeigten damals den spanischen Soldaten den Weg des Rio Manapiari, der in den Ventuari mündet. Fährt man diese zwei Ströme hinab, so gelangt man in den Orinoco und in denAtabapo, ohne den großen Katarakten zu begegnen, die dem Transport des Viehs fast unüber­ steigliche Hindernisse entgegensetzen. Der Unternehmungsgeist, der die Kastilier zur Zeit der EntdeckungAmerikas in so vorzüglichem Grad ausge­ zeichnet hatte, trat um die Mitte des 18.Jahrhunderts für einige Zeit aufs neue hervor, als König Ferdinand VI. die wahren Grenzen seiner ausge­ dehnten Besitzungen erfahren wollte und als in den Wäldern von Guayana, diesem klassischen Boden märchenhafter Überlieferungen, die Schlauheit der Indianer die trügerischen Begriffe von den Reichtümern des Dorado, welche die Phantasie der ersten conquistadores so mannigfach beschäftigt hatte, nochmals ins Leben rief. Man fragt sich mitten in diesen Bergen von Encaramada, die gleich den meisten grobkörnigen Granitfelsen keine Erzgänge haben, woher die Gold­ geschiebe kommen, welche Juan Martfnez und Raleigh bei den Indianern

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197

des Orinoco in so großer Menge gesehen zu haben versichern. Ich vermute den Beobachtungen zufolge, die ich in diesem Teil Amerikas machte, das Gold liege wie das Zinn zuweilen auf eine fast unmerkliche Weise durch die Masse der Granitgebirge selbst verstreut, ohne daß eine Verästelung oder Vereinigung kleiner Gänge angenommen werden könnte. Vor nicht sehr langer Zeit haben die Indianer von Encaramada in der Quebrada del Tigre ein Goldkorn von zwei Linien Durchmesser gefunden. Es war abgerundet und schien vom Wasser angeschwemmt zu sein. Diese Entdeckung war den Missionaren viel wichtiger als den Eingeborenen; sie blieb aber einzeln und ohne Wiederholung. Ich kann dieses erste Glied der Bergkette von Encaramada nicht ver­ lassen, ohne einer Tatsache zu gedenken, die dem Pater Gili nicht unbe­ kannt geblieben war und die wir während unseres Aufenthalts in den Mis­ sionen vom Orinoco öfters zu hören Gelegenheit hatten. Unter den Einge­ borenen hat sich der Glaube an die Überlieferung erhalten, daß "zur Zeit der großen Wasser", als ihre Väter sich in Kanus aus der allgemeinen Über­ schwemmung retten mußten, die Felsen von Encaramada von den Meeres­ fluten bespült wurden. Dieser Glaube findet sich nicht etwa nur bei einem einzigen Volk, den Tamanaken, sondern er ist Bestandteil eines Systems ge­ schichtlicher Überlieferungen, dessen zerstreuteAngaben bei den Maipures der großen Katarakte, bei den Indianern des Rfo Erebato, der sich in den Caura ergießt, und bei fast allen Volksstämmen am oberen Orinoco ange­ troffen werden. Fragt man dieTamanaken, wie das Menschengeschlecht die große Sintflut, das "Zeitalter der Gewässer" der Mexicaner überlebt habe, so antworten sie: "Ein Mann und eine Frau retteten sich auf einen hohen Berg, derTamanacu heißt und an den Gestaden desAsiveru liegt; sie warfen die Früchte der Mauritiapalme über ihre Häupter rücklings, und aus den Kernen dieser Früchte sind Männer und Frauen entsprossen, welche die Erde wieder bevölkert haben." In solcher Einfachheit wird unter gegen­ wärtig wilden Völkern eine Überlieferung angetroffen, die von den Grie­ chen mit allem Reiz der Phantasie ausgeschmückt worden ist! Einige Iieues von Encaramada erhebt sich mitten in der Savanne ein Felsen, derTepu-me­ reme, der gemalte Fels, heißt. Er stellt Tierbilder und symbolische Schrift­ züge dar, die denen ähnlich sind, die wir auf der Rückreise den Orinoco hinab in der Nähe der Stadt Caycara antrafen. In Afrika werden ähnliche Felsen von den Reisenden Fetischsteine genannt. Ich werde diesen Namen nicht gebrauchen, weil die Verehrung der Fetische unter den Eingeborenen des Orinoco nicht herrscht und weil ich nicht glaube, daß die Bilder der Sterne, der Sonne, der Tiger und Krokodile, die wir auf diesen Felsen einge­ graben fanden, Gegenstände einer religiösen Verehrung dieser Völker be­ zeichnen. Zwischen den Gestaden des Casiquiare und des Orinoco, zwi­ schen Encaramada, Capuchino und Caycara, kommen diese Hieroglyphen-

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bilder oftmals in großer Erhöhung an Felsmauern vor, die dort nur mittels sehr hoher Gerüste zugänglich sein würden. Fragt man die Eingeborenen, wie es möglich war, diese Bilder in den Felsen zu graben, so antworten sie lä­ chelnd durch Hinweis auf eine Tatsache, die nur einem Fremden, einem weißen Menschen unbekannt bleiben konnte, "zur Zeit der großen Wasser" seien ihre Väter in Kähnen zu jener Höhe gelangt. Diese altertümlichen Sagen des Menschengeschlechts, die wir gleich den Trümmern eines großen Schiffsbruchs über den Erdball zerstreut antreffen, sind für das philosophische Studium unserer Art von größtem Interesse. Wie gewisse Familien der Pflanzen, trotz des Einflusses der Höhen und der Ver­ schiedenheit der Klimate, das Gepräge eines gemeinsamen Typus beibe­ halten, so stellen auch die kosmogonischen Überlieferungen der Völker überall die gleichartige Physiognomie und Züge der Ähnlichkeit dar, die uns mit Erstaunen erfüllen. So viele verschiedene Sprachen, die völlig verein­ zelten Stämmen anzugehören scheinen, überliefern uns die gleichen Tat­ sachen.

Der Hintergrund der Überlieferungen über die vernichteten

Stämme und über die Erneuerung der Natur variiert fast nicht; jedes Volk aber gibt ihnen sein örtliches Kolorit. In den großen Kontinenten wie auf den kleinsten Inseln des Stillen Ozeans ist es jedesmal der höchste und nächste Berg, auf den sich die Überreste des Geschlechts der Menschen ge­ rettet haben, und das Ereignis erscheint in dem Maße jünger, als die Völker ungebildeter sind und als das, was sie von sich selbst wissen, auf engeren Zeitraum beschränkt ist. Wer die mexicanischen Altertümer aus den Zeiten, welche der Entdeckung der Neuen Welt vorangingen, aufmerksam er­ forscht, wer mit dem Inneren der Wälder des Orinoco, mit der Kleinheit und Vereinzelung der europäischen Einrichtungen und wiederum mit den Ver­ hältnissen der unabhängig gebliebenen Völkerstämme bekannt ist, der kann unmöglich versucht sein, die bemerkten Ähnlichkeiten dem Einfluß der Mis­ sionare und des Christentums auf die Nationalüberlieferungen zuschreiben zu wollen. Gleich unwahrscheinlich ist es, daß der Anblick von Relikten ma­ riner Herkunft, die auf den Berghöhen vorkommen, unter den Völkern am Orinoco die Vorstellung der großen Überschwemmungen erzeugt haben sollte, durch welche die Keime des organischen Lebens auf dem Erdball für einige Zeit erstickt worden sind. Die Landschaft, welche sich vom rechten Ufer des Orinoco bis zum Casiquiare und Rio Negro ausdehnt, ist ein dem Urgebirge angehöriges Land. Ich fand darin eine kleine Sand- oder Konglo­ meratformation, aber keinen Sekundärkalkstein und keine Spur von Verstei­ nerungen.

Kapitel XIX

199

[Schildkröteneier: Sammlung und Ölherstellung] Ein frischer Nordostwind brachte uns mit vollen Segeln nach der Boca de la Tortuga. Um elf Uhr vormittags landeten wir auf einer Insel, welche die Indianer der Mission Uruana als ihr Eigentum betrachten und die mitten im Fluß liegt. Die Insel ist wegen des Schildkrötenfangs berühmt oder wegen der jährlich darauf veranstalteten cosecha, der Schildkröteneiersammlung. Wir trafen dort eine über dreihundert Personen starke Gesellschaft von In­ dianern an, die unter Hütten aus Palmblättern lagerten. Die unter ihnen herrschende lebhafte Bewegung mußte uns um so mehr auffallen, weil wir seit San Fernando de Apure nur ödes Küstenland zu sehen gewohnt waren. Außer den Guarnos und Otomacos von Uruana, die als zwei wilde und stör­ rische Stämme gelten, hatten sich auch Cariben und andere Indianer vom unteren Orinocö eingefunden. Jeder Stamm lagerte für sich und zeichnete sich durch die Farbe, mit der ihre Haut bemalt war, aus. Wir fanden mitten unter dem lärmenden Haufen etliche weiße Menschen, hauptsächlich pul­ pero s oder Krämer von Angostura, die den Strom heraufgekommen waren, um das Öl der Schildkröteneier von den Einwohnern zu kaufen. Der aus Al­ cala deRenares gebürtige Missionar von Uruana kam uns entgegen und war über unsere Erscheinung nicht wenig befremdet. Nachdem er unsere Instru­ mente bewundert hatte, machte er uns eine übertriebene Vorstellung der Be­ schwerlichkeiten, denen wir beim Hinauffahren des Orinoco, über die Kata­ rakte, ausgesetzt sein würden. Der Zweck unserer Reise kam ihm sehr ge­ heimnisvoll vor. "Wer wird glauben", sagte er, "daß Ihr Euer Vaterland ver­ lassen habt, um Euch auf diesem Strom von den mosquitos verzehren zu lassen und um Länder zu vermessen, die nicht Euer sind?" Wir waren glück­ licherweise mit Empfehlungen des Pater Guardian der Franziskanermis­ sionen versehen, und der Schwager des Statthalters von Barinas, der uns be­ gleitete, beseitigte bald vollends das Mißtrauen, welches unsere Kleidung, unsere Mundart und unser Eintreffen auf dieser sandigen Insel bei den Weißen veranlaßt hatten. Der Missionar lud uns zu seinem aus Bananen und Fischen bestehenden einfachen Mahl ein. Wir vernahmen von ihm, daß er für die Zeit der Eierernte in das Lager der Indianer gekommen sei, "um jeden Morgen unter freiem Himmel eine Messe zu lesen, um sich das zum Unterhalt der Kirchenlampe erforderliche Öl zu verschaffen, hauptsächlich aber um diese republica de Indios y Castellanos, worin jeder für sich allein nur benutzen möchte, was Gott allen geschenkt hat, in Ordnung zu halten". Wir machten einen Gang um die Insel in Gesellschaft des Missionars und eines pulpero, der sich rühmte, nun bereits seit zehnJahren das Lager der In­ dianer und die pesca de tortugas besucht zu haben. Diese Gegend am Ge­ stade des Orinoco wird ungefähr ebenso besucht wie bei uns die Messen von Frankfurt oder Beaucaire. Wir befanden uns in einer vollkommen flachen

200

Kapitel XIX

Sandebene. "So weit ihr am Ufer hin sehen könnt", sagte man uns, "liegen Schildkröteneier unter der Erde." Der Missionar hielt eine lange Stange in der Hand. Er zeigte uns, wie man durch Sondieren mit dieser Stange (vara) die Ausdehnung der Eierschicht ungefähr ebenso ausmittelt, wie der Berg­ mann die Grenzen eines Lagers von Mergel, Ortstein oder Steinkohlen be­ zeichnet. Beim senkrechten Eindrücken der Stange nimmt man an dem plötzlich aufhörenden Widerstand wahr, daß man in die Höhlung oder Schicht des lockeren Erdreichs gelangt ist, worin die Eier enthalten sind. Wir sahen diese Schicht so allgemein und gleichförmig verbreitet, daß in einem Umkreis von zehn Toisen um eine bezeichnete Stelle her die Sonde überall fündig wird. Auch spricht man hier nur von Quadratruten Eiern. Es ist gleichsam ein Grubenland, das in Lose verteilt und aufs regelmäßigste aus­ gebeutet wird. Jedoch ist es lange nicht der Fall, daß die Eierschicht sich über die ganze Insel ausdehnt: Wo der Boden plötzlich ansteigt, da kommt sie nirgends vor, weil die Schildkröten zu den etwas erhöhten Plätzen nicht gelangen. Ich erzählte meinen Führern die hochtrabenden Angaben des Pater Gumilla, der versichert, die Gestade des Orinoco enthielten nicht so viele Sandkörner wie der Strom Schildkröten enthielte, und diese Tiere müßten die Schiffahrt völlig unmöglich machen, wenn nicht jährlich durch Menschen und Tiger eine so große Menge getötet würde. "Son cuentos de frailes", sagte ganz leise der pulpero von Angostura; denn weil arme Missio­ nare die einzigen Reisenden in diesem Lande sind, nennt man Mönchsmär­ chen, was in Europa Reisemärchen heißt. Die Indianer versicherten uns, man fände beim Hinauffahren des Orinoco von seiner Mündung bis zu seinem Zusammenfluß mit dem Apure keine ein­ zige Insel und kein Gestade, wo man Eier in Menge sammeln könne. Die große Schildkröte arrau meidet die von Menschen bewohnten oder von Schiffen vielbesuchten Orte. Sie ist ein furchtsames und argwöhnisches Tier, das den Kopf aus dem Wasser hervorstreckt und sich beim geringsten Ge­ räusch verbirgt. Die Gestade, auf denen sich fast alle Schildkröten vom Ori­ noco alljährlich zu sammeln scheinen, liegen zwischen dem Zusammenfluß des Orinoco mit dem Apure und den großen Katarakten oder rauda/es, das heißt zwischen Cabruta und der Mission von Atures. Hier befinden sich die drei berühmten Fischereien von Encaramada oder Boca del Cabullare, von Cucuruparu oder Boca de la Tortuga und von Pararuma, etwas unterhalb von Carichana. Die Schildkröte arrau scheint nicht über die Katarakte zu ge­ langen, und man versicherte uns, daß oberhalb von Atures und Maipures keine anderen als Terekay-Schildkröten [ span. terecayas] vorkommen. Es ist hier der Ort, ein paar Worte über die Verschiedenheit dieser zwei Arten und ihr Verhältnis zu den verschiedenen Familien der schildkrötenartigen Tiere zu sagen. Wir wollen mit der arrau-Schildkröte anfangen, welche die Spanier der

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201

Missionen kurzweg tortuga nennen und deren Dasein für die Völker des un­ teren Orinoco den höchsten Wert hat. Das Tier ist eine große Süßwasser­ schildkröte, mit Füßen, deren Zehen durch eine Schwimmhaut verbunden sind, mit sehr flachem Kopf, zwei fleischigen, stark zugespitztenAnhängsein unter dem Kinn, fünf Zehen an den Vorder- und vier an den Hinterfüßen, die unterhalb gestreift sind. Der Panzer besteht aus 5 mittleren, 8 Seiten­ und 24 Randschuppen. Die Farbe ist oberhalb grauschwärzlich und unter­ halb orangegelb. Die Füße sind gleichfalls gelb und sehr lang. Zwischen den Augen bemerkt man eine sehr tiefe Furche. Die Nägel sind sehr stark und sehr gewölbt. Der After ist im letzten Fünftel des Schwanzendes. Das er­ wachsene Tier wiegt 40 bis 50 Pfund. Seine Eier, viel größer als Taubeneier, sind nicht so länglich wie die der terekays. Sie sind mit einer kalkigen Kruste überzogen und, wie man versichert, fest genug, um den Kindern der Oto­ maken, die große Ballspieler sind, statt der Kugeln zu dienen, die sie in die Höhe und einander zuwerfen. Wenn die arrau-Schi!dkröte im Strombettjen­ seits der Katarakte vorkäme, würden die Indianer vom oberen Orinoco nicht einen so weiten Weg zurücklegen, um sich das Fleisch und die Eier des Tiers zu verschaffen. Man hat aber vormals ganze Völkerschaften vom Ata­ bapo und vom Casiquiare von jenseits der Raudales kommen sehen, um an der Fischerei in Uruana teilzunehmen. Die terekays sind kleiner als die arrau. Ihr Durchmesser beträgt nur 14 Zoll. Die Zahl der Schuppen ihrer Schilde ist die gleiche, aber diese Schuppen sind etwas verschieden angeordnet. Ich habe drei in der Mitte und fünf sechseckige auf jeder Seite gezählt. Die Ränder sind mit 24 ausgespro­ chen viereckigen und stark gekrümmten Schuppen besetzt. Die Farbe des Rückenschildes ist schwarz und spielt ins Grüne: Füße und Nägel wie bei der arrau. Das ganze Tier ist olivgrün, hat aber auf dem Kopf zwei rot-gelb ge­ mischte Flecken. Die Kehle ist ebenfalls gelb und mit einem stachligen An­ hängsel versehen. Die terekays versammeln sich nicht wie die arrau oder tor­ tugas in großer Menge, um ihre Eier gemeinsam und am gleichen Gestade abzulegen. Die terekay-Eier haben einen angenehmen Geschmack und sind unter den Bewohnern des spanischen Guayana sehr beliebt. Man findet sie am oberen Orinoco wie unterhalb der Katarakte und sogar auch imApure, im Uritucu, im Gmirico und in den kleinen Flüssen, welche die Llanos von Caracas durchströmen. Die Bildung der Füße und des Kopfes, die An­ hängsel des Kinns und der Brust sowie die Lage des Afters scheinen anzu­ deuten, daß die arrau und vermutlich auch die terekay einer neuen Untergat­ tung der Schildkröten angehören, die von den Emyden getrennt werden kann. Sie nähern sich durch die Bärbeben und die Stellung des Afters der Emys nasuta des Herrn Schweiggers und der matamata-Schi!dkröte des fran­ zösischen Guayana; von dieser unterscheiden sie sich hingegen durch die Schuppen, die mit keinen pyramidalischen Erhöhungen besetzt sind.

202

Kapitel XIX

Der Zeitpunkt, wo die große arrau-Schildkröte ihre Eier legt, trifft mit dem niedrigsten Wasserstand zusammen. Da der Orinoco vom Frühlings­ äquinoktium an zu wachsen beginnt, liegen seine niedrigsten Gestade von Ende Januar bis zum 20. oder 25. März trocken. Die arrau-Schildkröten, die vom Januar an in Gruppen zusammenhalten, kommen dann aus dem Wasser hervor und wärmen sich an der Sonne, indem sie sich auf den Sand legen. Die Indianer glauben, eine beträchtliche Wärme sei der Gesundheit des Tieres unentbehrlich und das Sonnen befördere das Eierlegen. Man trifft die arrau-Schildkröte den ganzen Februar hindurch am Ufer an. Zu Anfang März versammeln sich die zerstreuten Gruppen und schwimmen auf die nicht zahlreichen Inseln hin, wo sie ihre Eier zu legen gewohnt sind. Wahr­ scheinlich besucht die gleiche Schildkröte alljährlich auch dasselbe Gestade. Um diese Zeit und einigeTage, ehe das Eierlegen beginnt, zeigen sich diese Tiere zu Tausenden in langen Reihen an den Ufern der Inseln Cucuruparu, Uruana und Pararuma mit ausgestrecktem Hals und den Kopf über dem Wasser emporhaltend, um zu sehen, ob vonTigern oder Menschen keine Ge­ fahr droht. Die Indianer, denen es wichtig ist, daß die versammelten Gruppen vollständig bleiben, daß die Schildkröten sich nicht zerstreuen und daß das Eierlegen ruhig und ungestört vor sich gehe, stellen in gewissen Ent­ fernungen am Gestade Wachen aus. Die Schiffsleute werden erinnert, ihre Fahrzeuge in der Strommitte zu halten und jedes Geräusch, das die Schild­ kröten erschrecken könnte, zu vermeiden. Das Eierlegen geschieht immer zur Nachtzeit und fängt gleich nach Sonnenuntergang an. DasTier gräbt mit seinen sehr langen und mit gekrümmten Nägeln versehenen Hinterpfoten eine Grube, die drei Fuß Durchmesser hat und zwei Fuß tief ist. Der Angabe der Indianer zufolge wird zur Befestigung der Ufersand mit dem Harn der Schildkröte befeuchtet. Man glaubt, dies am Geruch wahrzunehmen, wenn man ein kürzlich gegrabenes Loch oder, wie man hier sagt, ein Eiernest (ni­ dada de huevos) öffnet. Der Drang zum Eierlegen ist bei diesen Tieren so groß, daß einige sich dafür der Löcher bedienen, die von anderen gegraben, aber noch nicht mit Erde wieder ausgefüllt worden sind. Sie legen dann auf die schon in der Grube vorhandene eine zweite Eierlage. Bei der lärmenden Unruhe werden eine große Menge Eier zerschlagen. Der Missionar zeigte uns, indem er den Sand an verschiedenen Stellen aufrührte, daß dieser Ver­ lust ein Drittel der ganzen Ernte betragen kann. Das Gelbe der Eier trägt, indem es vertrocknet, dazu bei, den Sand zu verkitten, und wir haben sehr ansehnliche verhärtete Massen von Quarzkörnern und zerbrochenen Eier­ schalen angetroffen. Die Zahl dieser am Ufer die Nacht über arbeitenden Tiere ist so groß, daß man am Morgen noch manche mitten in der unvollen ­ deten Arbeit überrascht. Sie sind dann vom doppelten Bedürfnis des Eiede­ gens und des Zudeckens der gegrabenen Löcher, damit der Tiger sie nicht wahrnehmen kann, geprägt. Für sich selbst kennen diese im Rückstand ge-

203

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bliebeneu Schildkröten keine Gefahr. Sie setzen ihre Arbeit in Gegenwart der Indianer, die das Gestade am frühen Morgen besuchen, fort. Man nennt sie närrische Schildkröten. Trotz der Heftigkeit ihrer Bewegungen lassen sie sich leicht mit der Hand fangen. Die drei Lager, welche die Indianer an den oben bezeichneten Orten be­ ziehen, beginnen zu Ende März und in den ersten Tagen des April. Das Eier­ lesen geschieht überall gleichförmig und mit der Regelmäßigkeit, die den mönchischen Anstalten eigentümlich ist. Ehe die Missionare an diesen Ge­ staden eintrafen, wurde das von der Natur in solchem

Überfluß hier nieder­

gelegte Erzeugnis viel weniger benutzt. Jeder Volksstamm wühlte den Boden nach Gutdünken auf, und eine ungeheure Menge Eier wurden un­ nütz zerbrochen, weil man beim Nachgraben unvorsichtig zu Werk ging und weil mehr Eier gefunden wurden als weggebracht werden konnten. Das Ver­ hältnis war ungefähr das gleiche wie das in einer von ungeschickten Berg­ leuten ausgebeuteten Grube. Den Jesuitenpatres gebührte das Verdienst, Regel und Ordnung in die Arbeit gebracht zu haben; und obgleich die Fran­ ziskaner-Mönche, die Nachfolger der Jesuiten in den Missionen am Ori­ noco, sich rühmen, den Pfad ihrer Vorgänger zu verfolgen, gehen sie doch leider keineswegs mit der erforderlichen Vorsicht zu Werke. Die Jesuiten ge­ statteten nicht, daß das ganze Ufer durchwühlt werde; sie ließen einen Teil unberührt, aus Besorgnis, die Rasse der arrau-Schildkörte könnte, wo nicht vertilgt, doch bedeutend vermindert werden. Jetzt wird diese Vorsicht nicht mehr beobachtet, und man glaubt auch bereits zu bemerken, daß die Ernte von Jahr zu Jahr abnimmt. Wenn das Lager eingerichtet ist, ernennt der Missionar von Uruana seinen Stellvertreter oder Kommissar, der den eierhaltigen Boden in ver­ schiedene Lose aufteilt, nach der Zahl der indianischen Stämme, die an der Ernte teilnehmen. Sie sind alle Indianer der Missionen, ebenso nackt und völlig roh wie die Indianer der Wälder; man nennt sie reducidos und ne6fitos, weil sie, wenn die Glocke läutet, zur Kirche gehen und weil sie gelernt haben, während der Segnung niederzuknien. Der Stellvertreter oder

comisionado del padre

beginnt seine Verrich­

tungen mit der Sonde. Er untersucht, wie wir oben gesagt haben, mit einer langen hölzernen Stange oder mit einem Bambusrohr, wie weit sich die Eier­ schicht ausdehnt. Unseren Messungen zufolge erstreckt sie sich bis 120 Fuß

comisio­ nado steckt Zeichen aus zur Bestimmung des Punktes, wo j eder Stamm mit

vom Stromufer. Ihre Tiefe beträgt im Durchschnitt drei Fuß. Der

seiner Arbeit einhalten soll. Mit einigem Erstaunen hört man den Ertrag der Eiersammlung, wie den eines gut bebauten Ackers werten. Ein genau ver­ messenes Areal von120 Fuß Länge und 30 Fuß Breite könnte wohl100 Schiffs­ krüge oder für1000 Franken Ö l erbringen. Die Indianer graben die Erde mit den Händen auf; die ausgehobenen Eier legen sie in kleine Körbe, welche

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204

mappiri heißen;

sie tragen sie ins Lager und werfen den Inhalt in lange höl­

zerne Tröge voll Wasser. In diesen Trögen bleiben die mit Schaufeln zerbro­ chenen und umgerüttelten Eier der Sonne so lange ausgesetzt, bis das Gelbe (der ölige Teil), das oben schwimmt, sich verdichtet hat. In dem Maße, wie dieser ölige Teil sich auf der Oberfläche des Wassers sammelt, wird er abge­ schöpft und über einem starken Feuer gekocht. Man behauptet, dieses tieri­ sche Öl, das die Spanier

manteca de tortugas

nennen, erhalte sich um so

besser, je mehr es gekocht worden sei. Gut zubereitet, ist es klar, geruchlos und nur von schwach gelblicher Farbe. Die Missionare vergleichen es mit dem besten Olivenöl, und man gebraucht es nicht nur für die Lampe, son­ dern vorzüglich auch zur Bereitung der Speisen, denen es keinerlei widrigen Geschmack gibt. Es ist indessen ziemlich schwer, sich völlig reines Eieröl zu verschaffen. Gewöhnlich hat es einen fauligen Geruch, der von der Beimi­ schung solcher Eier herrührt, worin die andauernde Sonnenhitze die jungen Schildkröten

(los tortuguillos)

bereits ausgebildet hat. Dieses Mißgeschick

erfuhren wir vorzüglich bei unserer Rückkehr vom Rfo Negro, wo wir uns eines braun und stinkend gewordenen flüssigen Fettes bedienen mußten. Ein faseriger Stoff hatte sich auf dem Boden der Gefäße gesammelt, und man erkennt hieran dies unreine SchildkrötenöL Ich will hier einige statistische Angaben einrücken, die ich an Ort und Stelle teils von dem Missionar von Uruana und seinem Stellvertreter, teils von den Krämern aus Angostura erhalten habe. Das Gestade von Uruana liefert jährlich 1000

botijas

oder Krüge Öl

(manteca).

Ein Krug

(jarre) wird

in der Hauptstadt von Guayana, gemeinhin Angostura genannt, mit zwei bis dreieinhalb Piaster bezahlt. Man kann annehmen, daß der Gesamtertrag der drei Gestade, auf denen jährlich die cosecha oder Eierernte veranstaltet wird, 5000

botijas ist.

Da nun 200 Eier zur Füllung einer Flasche oder

hinreichend Öl liefern, sind für einen Krug oder

botija 5000

Zirneta

Eier erforder­

lich. Berechnet man die Zahl der Eier, die von einer Schildkröte gelegt werden, auf 100 oder 116, und nimmt man an, ein Drittel der Eier gehe im Augenblick des Legens, besonders durch die törichten Schildkröten zu­ grunde, ergibt sich, daß, um jährlich 5000 Krüge Öl zu erzielen, 330000 arrau-Schildkröten, deren Gewicht 165 000 Zentner beträgt, auf den drei zur Einsammlung benutzten Gestaden 33 Millionen Eier legen müssen. Die Er­ gebnisse dieser Rechnungen erreichen die Wahrheit noch lange nicht. Viele Schildkröten legen nur 60 bis 70 Eier; sehr viele dieser Tiere werden im Au­ genblick, wo sie aus dem Wasser steigen, von Jaguaren vertilgt. Die Indianer nehmen viele Eier weg, um sie an der Sonne getrocknet zu speisen; sie zer­ brechen viele andere unvorsichtigerweise beim Einsammeln. Die Menge der Eier, aus denen, ehe der Mensch sie hervorgräbt, die Jungen aus­ schlüpfen, ist so groß, daß ich um das Lager von Uruana her das ganze Ufer des Orinoco von kleinen Schildkröten wimmeln sah, die einen Zoll im

Kapitel XIX

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Durchmesser maßen und Mühe hatten, den Nachstellungen der indiani­ schen Kinder zu entfliehen. Bedenkt man dazu noch weiter, daß sich nicht alle arraus auf den drei Gestaden sammeln, wo die Lager errichtet werden, daß auch viele ihre Eier einzeln, verstreut und einige Wochen später zwi­ schen der Mündung des Orinoco und dem Zusammenfluß desApure legen, sieht man sich genötigt, anzunehmen, es könnten beinahe eine Million Schildkröten sein, die alljährlich ihre Eier auf den Gestaden des unteren Ori­ noco legen. Diese Zahl ist sehr bedeutend für ein solch großesTier, dessen Gewicht auf einen halben Zentner ansteigt und das der Mensch in solcher Menge zerstört. Gemeinhin geschieht die Fortpflanzung in beschränkterem Maße bei den großen als bei den kleinerenTieren. DieArbeit des Eiersammelos und die Zubereitung des Öls dauert drei Wo­ chen. In dieser Zeit nur stehen die Missionen in Verbindung mit der Küste und mit den benachbarten zivilisierten Ländern. Die Franziskanermönche, die südwärts der Katarakte wohnen, kommen zur Eierernte weniger um sich Öl zu verschaffen, als um "weiße Gesichter" zu sehen, wie sie sich aus­ drückten, und um zu vernehmen, ob der König im Escorial oder in San Ilde­ fonso wohne, ob die Klöster in Frankreich aufgehoben bleiben, besonders aber auch, ob derTürke sich noch immer ruhig verhalte. Dies ist der Inbe­ griff der Dinge, die einen Mönch des Orinoco ausschließlich interessieren und worüber die kleinen Krämer von Angostura, die diesen Schildkröten­ markt besuchen, Aufschluß zu geben nicht imstande sind. Neuigkeiten, die ein weißer Mensch aus der Hauptstadt bringt, bezweifelt in diesen fernen Landen niemand. Zweifeln ist dem Denken nahe verwandt; und wie sollte man es nicht beschwerlich finden, seinen Verstand zu üben, wo man das Leben mit Klagen über das heiße Klima und über den Stich der mosquitos zubringt? Der Gewinn, den die Ölhändler machen, beträgt 70 oder 80 Prozent; denn die Indianer verkaufen ihnen den Krug oder die botija für einen harten Pia­ ster, und die Transportkosten betragen nur % Piaster pro Krug. Die In­ dianer, welche die cosecha de huevos besuchen, bringen auch eine sehr große Menge an der Sonne getrockneter oder einem geringen Siedegrad un­ terworfener Eier nach Hause. Unsere Ruderer hatten immer Körbe oder kleine Säcke von Baumwolltuch mit solchen Eiern angefüllt. Ihr Geschmack kam uns, wenn sie gut erhalten sind, nicht unangenehm vor. Man zeigte uns große, von Jaguaren geleerte Schildkrötenpanzer. Diese Tiere folgen der arrau-Schildkröte an die Gestade, wo sie ihre Eier legt. Sie überfallen sie auf dem Sand; und um sie desto bequemer vertilgen zu können, wenden sie sie so um, daß der Brustschild nach oben zeigt. In dieser Lage können die Schildkröten sich nicht wieder aufrichten; und weil der Jaguar weit mehr umwendet, als er in einer Nacht frißt, benutzen die Indianer öfters seine List und seine bösartige Gier zum eigenen Vorteil.

206

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Bedenkt man, wie schwierig es für den reisenden Naturforscher ist, den Körper der Schildkröte herauszunehmen, ohne den Rücken vom Brust­ schild zu trennen, kann man die Gewandtheit der Pfote des Tigers nicht genug bewundern, die den doppelten Panzer der arrau-Schildkröte ausleert, als wären die Ansätze der Muskeln mit einem chirurgischen Instrument ge­ löst worden. Der Jaguar verfolgt die Schildkröte bis ins Wasser, wenn dieses nicht sehr tief ist. Er gräbt auch die Eier hervor; und neben dem Krokodil, dem Reiher und dem Gallinazogeier ist er der grausamste Feind der kleinen, eben erst ausgekrochenen Schildkröten. Im Jahr zuvor wurde die Insel Para­ ruma von Krokodilen während der Eierzeit dermaßen beunruhigt, daß die Indianer in einer einzigen Nacht mittels gekrümmter und mit Seekuhfleisch versehener Haken achtzehn dieser Tiere von 12 bis 15 Fuß Länge einfingen. Neben den Waldtieren, wovon soeben die Rede war, schädigen auch die wilden Indianer die Öltabrikation sehr. Von ersten kleinen Regenschauern, die sie Schildkröten-Regen

(peje-canepori)

nennen, aufmerksam gemacht,

begeben sie sich an die Gestade des Orinoco und töten mit vergifteten Pfeilen die Schildkröten, die sich mit emporstehendem Kopf und ausge­ streckten Füßen an der Sonne wärmen. Wenn schon die jungen Schildkröten die Schale ihres Eis am Tage durch­ brachen haben, sieht man sie doch immer erst zur Nachtzeit aus der Erde schlüpfen. Die Indianer behaupten, das junge Tier scheue die Sonnenhitze; sie versuchten auch, uns zu zeigen, wie die junge Schildkröte, wenn sie in einem Sack weit vom Ufer weggetragen und so gestellt wird, daß sie dem Ge­ stade den Rücken zuwendet, dennoch ohne Anstand den kürzesten Weg zum Wasser einschlägt. Ich gestehe zwar, daß dieser Versuch, von dem auch schon der Pater Gumilla gesprochen hat, nicht immer gleich gut gerät; im all­ gemeinen aber schien es mir, daß diese Tierchen in großer Entfernung vom Ufer, und selbst auch auf einer Insel, mit ausnehmend zartem Gefühl unter­ scheiden, von welcher Seite her der feuchteste Wind weht. Wenn man über diese Eierschicht nachdenkt, die sich fast ununterbrochen längs des Ge­ stades ausdehnt, und über die Tausende kleiner Schildkröten die, sobald sie ausgeschlüpft sind, das Wasser suchen, mag man kaum glauben, daß eine solche Menge von Schildkröten, die ihre Nester am gleichen Ort haben, ihre Jungen unterscheiden und sie, wie es die Krokodile tun, zu den benach­ barten Lachen des Orinoco führen können. Es ist jedoch zuverlässig der Fall, daß das Tier seine ersten Lebensjahre in den Lachen zubringt, deren Wasser nicht tief sind, und daß erst das erwachsene Tier in das Bett des großen Stromes zurückkehrt. Wie können nun aber die tortuguillos diese La­ chen auffinden? Werden sie durch weibliche Schildkröten, wie der Zufall sie darbietet, adoptiert und dorthin geleitet? Die weniger zahlreichen Kroko­ dile legen ihre Eier in abgesonderte Löcher, und wir werden bald sehen, daß in dieser Eidechsenfamilie das weibliche Tier um die Zeit, wo die Inkubation

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zu Ende geht, sich wieder einfindet, die Jungen ruft, die seiner Stimme ant­ worten, und ihnen meist auch beim Auskriechen behilflich ist. Die arrau­ Schildkröte erkennt ohne Zweifel wie das Krokodil den Ort, wo sie ihre Eier gelegt hat; weil sie aber nicht auf das Gestade zurückkehren darf, wo die In­ dianer ihr Lager aufgeschlagen haben, wie sollte sie ihre Jungen von den ihr nicht angehörigen tortuguillos unterscheiden können? Die Otomacos-In­ dianer behaupten, zur Zeit der Überschwemmungen weibliche Schild­ kröten von einer großen Zahl junger Schildkröten begleitet angetroffen zu haben. Es waren dies vielleicht solche arraus, die auf einer öden Küste ihre Eier abgesondert gelegt hatten und dorthin zurückkehren konnten. Die männlichen Tiere sind äußerst selten, und unter mehreren hundert Schild­ kröten trifft man kaum eine männliche an. Die Ursache dieser Seltenheit kann nicht die gleiche sein wie bei den Krokodilen, die in der Brunstzeit ihre gefährlichen Kämpfe bestehen. *

Unser Steuermann hatte in der Playa de Huevos angehalten, um dort einige Eßvorräte, die uns zu mangeln anfingen, zu kaufen. Wir fanden hier frisches Fleisch, Angostura- Reis und sogar aus Weizenmehl bereiteten Zwie­ back. Unsere Indianer füllten die Piroge für ihren eigenen Bedarf mit kleinen lebendigen Schildkröten und an der Sonne getrockneten Eiern. Nachdem wir vom Missionar aus Uruana, der uns mit viel Herzlichkeit be­ handelt hatte, Abschied genommen hatten, gingen wir gegen 4 Uhr abends unter Segel. Der Wind wehte kühl und stoßweise. Seit wir den gebirgigen Teil des Landes erreicht hatten, bemerkten wir, daß unsere Piroge ein schlechter Segler war; der Patron aber wollte den am Gestade versammelten Indianern zeigen, daß er recht dicht am Wind segelnd mit einem einzigen Schlag die Mitte des Stroms erreichen könnte. In dem Augenblick, wo er sich seiner Geschicklichkeit und kühnen Schwenkung rühmte, wurde der Stoß des Windes auf das Segel so heftig, daß wir drauf und dran waren, zu sinken. Die eine Seite des Fahrzeugs stand unter Wasser, und dieses drang mit solcher Gewalt ein, daß es uns bis über die Knie ging. Es über­ schwemmte ein Tischchen, worauf ich im Heck des Schiffs gerade mit Schreiben beschäftigt war. Mit Mühe konnte ich mein Tagebuch retten und augenblicklich sahen wir unsere Bücher, unsere Papiere und unsere getrock­ neten Pflanzen im Wasser schwimmen. Herr Bonpland hatte sich mitten in die Piroge gelagert und schlief. Durch das eindringende Wasser und das Ge­ schrei der Indianer geweckt, beurteilte er unsere Lage mit dem Gleichmut, welchen er jederzeit unter den schwierigsten Umständen an den Tag gelegt hat. Weil die eingesenkte Seite des Schiffs sich während des Windstoßes von Zeit zu Zeit emporhob, hielt er das Fahrzeug noch nicht für verloren. Sollte es auch verlassen werden müssen, so glaubte er, könnten wir uns durch

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Schwimmen retten, weil kein Krokodil in der Nähe war. Während dieser On­ gewißheit riß plötzlich das Tauwerk des Segels. Derselbe Windstoß, der uns seitwärts geworfen hatte, hob uns jetzt wieder empor. Mit den Früchten der Crescentia cujete wurde hierauf ungesäumt das Wasser aus der Piroge ge­ schöpft; die Segel wurden ausgebessert, und vor Ablauf einer halben Stunde sahen wir uns imstande, weiterzufahren. Der Wind hatte sich etwas gelegt. Windstöße, die mit gänzlicher Luftstille wechseln, sind übrigens in diesem Teil des von Bergen eingeschlossenen Stromes sehr gewöhnlich. Sie werden für überladene Schiffe ohne Verdeck gefährlich, und wir waren gleichsam durch ein Wunder gerettet worden. Der Steuermann empfing mit indiani­ schem Phlegma die Vorwürfe, die ihm über sein Dicht-am-Wind-Segeln ge­ macht wurden, indem er kaltblütig erwiderte, es werde den Weißen auf diesen Gestaden nicht an Sonne zum Trocknen ihrer Papiere fehlen. Wir hatten nur ein einziges Buch eingebüßt. Es war der erste Band von Schre­ bers >Genera PlantarumErbaulichen Briefen< sehr naiv, "findet nur da Eingang, wo die Indianer zuvor den Knall des Geschützes, el eco de La p6lvora, gehört haben. Die Sanftmut ist ein sehr langsam wirkendes Mittel. Durch Züchtigung der Ur­ einwohner wird ihre Bekehrung erleichtert." Diese die Menschheit enteh­ renden Grundsätze wurden vermutlich nicht von allen Gliedern einer Ge­ sellschaft geteilt, die in der Neuen Welt und allenthalben, wo die Erziehung ausschließlich den Mönchen anvertraut geblieben war, den W issenschaften und der Zivilisation förderlich gewesen ist. Die entradas aber und die geistli­ chen Bekehrungen durch Bajonette waren ein dem auf schnelle Vergröße­ rung der Missionen berechneten Regiment innewohnendes Gebrechen. Es ist tröstlich zu sehen, daß die Franziskaner-, Dominikaner- und Augustiner­ mönche, die gegenwärtig ausgedehnte Landschaften beherrschen und durch

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229

die Milde oder die Roheit ihrer Sitten einen so mächtigen Einfluß auf das Schicksal so vieler Tausender der Ureinwohner ausüben, diesem System nicht huldigen. Die bewaffneten Überfälle sind fast völlig abgeschafft; und wo sie noch stattfinden, da werden sie von den Vorgesetzten der Orden miß­ billigt. Wir wollen in diesem Augenblick nicht entscheiden, ob diese Verbes­ serung der mönchischen Einrichtungen einem Mangel an Tätigkeit und einer trägen Lauheit oder, wie man eher wünschen möchte, vermehrter Aufklä­ rung und würdigeren, dem wahren Geist des Christentums besser entspre­ chenden Gesinnungen zugerechnet werden müsse. Von der Mündung des Rio Paruasi an verengt der Orinoco sich neuer­ dings. Sein mit kleinen Inseln und Granitblöcken angefülltes Bett stellt nun die rapides oder kleinen Kaskaden

[los remolinos] dar, deren erster Anblick

den Reisenden durch den beständigen Wasserstrudel beunruhigen kann, die jedoch den Fahrzeugen in keiner Jahreszeit gefährlich sind. Man muß wenig zu Schiff gewesen sein, um mit dem Pater Gili, der sonst so gerrau und ver­ ständig ist, zu sagen, "e'terribile pe' molti scogli il tratto del fiume tral Ca­ stello e Caricciana". Eine Reihe Klippen, welche fast durch die ganze Breite des Stroms läuft, führt den Namen Raudal de Marimara. Ein enger Kanal geht zwischendurch, worin das Wasser zu sieden scheint, wenn es unterhalb der Piedra de Marimara, einem dichten Granitfelsen von

300

80 Fuß Höhe und

Fuß Umfang ohne Spalten oder Spur von Schichtenbildung, ungestüm

hervorkommt. Der Strom dringt tief landeinwärts und bildet geräumige Buchten in dem Felsenufer. Eine dieser Buchten, die zwischen zwei nackten Vorgebirgen eingeschlossen ist, heißt der Hafen von Carichana. Die Gegend hat ein wildes Aussehen. Die Felsküste wirft abends ihre langen Schatten über die Wasserfläche des Stromes. Das Wasser erscheint schwarz, indem es die Bilder dieser Granitmassen zurückwirft, die, wie wir schon bemerkt haben, durch das Kolorit ihrer äußeren Oberfläche bald den Steinkohlen, bald dem Bleierz gleichen. Wir übernachteten in dem kleinen Dorf Cari­ chana, wo uns auf Empfehlung des guten Missionars Fray Jose Antonio de Torre im Pfarrhof oder

convento Aufnahme

zuteil wurde. Wir hatten seit

vierzehn Tagen unter keinem Dach geschlafen. Am ll.April

[1800].

Um den der Gesundheit oft so nachteiligen Folgen

der Überschwemmungen zu entgehen, wurde die Mission von Carichana in der Entfernung einer Dreiviertellieue vom Strom angelegt. Die Indianer gehören zum Stamm der Salivas; sie haben eine unangenehme nasale Aus­ sprache. Ihre Sprache, von der der Jesuit P.Anisson eine Manuskript geblie­ bene Sprachlehre verfertigt hat, ist neben der Cariben-, Tamanaken-, Mai­ pures-, Otomaken-, Guahive- und Jaruro-Sprache eine der am Orinoco am weitesten verbreiteten Muttersprachen. Der Pater Gili hält das Ature, Pi­ raoa, Guayana oder Mapoje nur für Dialekte der Saliva. Meine Reise war viel zu schnell, als daß ich die Richtigkeit dieser Angabe beurteilen könnte;

230

Kapitel XIX

wir werden aber bald sehen, daß in dem durch die in seiner Nähe befindli­ chen großen Katarakte berühmten Dorf Atures heutzutage weder die Saliva noch die Ature-, sondern die Maipures-Sprache geredet wird. In der Saliva­ Sprache von Carichana heißt der Mann cocco, die Frau gnacu, das Wasser

cagua, das Feuer eguessa, die Erde seke, der Himmel mumeseke (das Ober­ land), der Jaguar impii, das Krokodil cuip6o, der Mais giomu, die Banane

paractuna, die Maniocwurzel peibe. Ich will eine der beschreibenden Zu­ sammensetzungen anführen, welche die Kindheit der Sprache zu be­ zeichnen scheinen, obgleich sie sich auch in einigen sehr ausgebildeten Idiomen erhalten haben. Wie in der Baskensprache wird der Donner das Krachen der Wolken (odotsa) genannt; die Sonne heißt in der Saliva­ Sprache mume-seke-cocco, das will sagen, Mensch (cocco) des landes (seke) droben (mume). Der älteste Wohnsitz des Saliva-Stammes scheint das westliche Gestade des Orinoco zwischen dem Rio Vichada und dem Guaviare sowohl wie zwi­ schen dem Meta und dem Rio Pante gewesen zu sein. Heutzutage trifft man Menschen vom Saliva-Stamm nicht nur in Carichana, sondern auch in den Missionen der Provinz von Casanare, in Cabapuna, in Guanapalo, in Ca­ biuna und in Macuco. Dieses 1730 durch den Jesuiten-Pater Fray Manuel Roman gegründete Dorf zählt 1300 Einwohner. Die Salivas sind ein gesel­ liges, sanftes, fast schüchternes und leichter, ich will nicht sagen zu kultivie­ rendes, aber zu unterjochendes Volk als die übrigen Stämme am Orinoco. Um der Herrschaft der Cariben zu entgehen, haben die Salivas sich den er­ sten Missionen der Jesuiten willig angeschlossen. Darum rühmen dann auch diese Ordensleute in ihren Schriften überall ihren Verstand und die Geleh­ rigkeit. Die Salivas sind große Freunde der Tonkunst; sie bedienen sich von sehr alten Zeiten her der Trompeten aus gebrannter Erde, die vier bis fünf Fuß lang sind und mehrere kugelförmige Bauchungen haben, die mit engen Röhren zusammenhängen. Die Töne dieser Trompeten sind überaus kläg­ lich. Die Jesuiten haben die natürlichen Anlagen der Salivas für die Instru­ mentalmusik ausgebildet; und die Missionare vom Rio Meta haben sogar seit Auflösung des Ordens in San Miguel de Macuco eine schöne Kirchen­ musik und den musikalischen Unterricht der indianischen Jugend beibe­ halten. Neuerlich noch war ein Reisender verwundert, die Ureinwohner die Violine, das Violoncello, die Triangel, die Gitarre und die Flöte spielen zu sehen. Die Verhältnisse der abgesonderten Missionen am Orinoco sind den Fort­ schritten der Zivilisation und der Zunahme der Bevölkerung der Salivas nicht so günstig wie die von den Augustinermönchen in den Ebenen von Ca­ sanare und vom Metastrom befolgten Einrichtungen. In Macuco haben die Ureinwohner ihre Verbindungen mit den Weißen benutzt, die im gleichen Dorf wohnen und fast alle Flüchtlinge aus Socorro sind. Am Orinoco

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231

wurden zur Zeit der Jesuiten die drei Dörfer von Pararuma, von Castillo oder Marumarutu und von Carichana in ein einziges, nämlich das von Cari­ chana verschmolzen, welches dadurch eine ansehnliche Mission wurde. Im Jahr 1759, als die Fortaleza de San Francisco Xavier und ihre drei Batterien noch vorhanden waren, zählte der Pater Caulin in der Mission von Cari­ chana 400 Salivas. Im Jahr 1800 fand ich ihrer kaum 150. Von dem Dorf sind nur noch einige aus Lehmerde erbaute Hütten übrig, welche in symmetri­ scher Ordnung ein ungeheuer hohes Kreuz umgeben. Mitten unter den Salivas-Indianern trafen wir eine Frau von weißer Her­ kunft an, die Schwester eines Jesuiten aus Neu-Granada. Das Vergnügen ist unaussprechlich groß, das man fühlt, wenn man mitten unter Völkern, deren Sprache man nicht kennt, ein Geschöpf antrifft, mit dem eine Unterredung ohne Dolmetscher geschehen kann. Jede Mission hat wenigstens zwei sol­ cher Dolmetscher, lenguarazes. Es sind Indianer, etwas weniger beschränkt als die übrigen, über welche sich die Missionare am Orinoco, die sich nur selten Mühe geben, die Landessprachen selbst zu erlernen, mit den Neube­ kehrten unterhalten. Diese Dolmetscher haben uns auf unseren botanischen Spaziergängen meist begleitet; sie verstehen jedoch das Kastilianische besser, als sie es sprechen können. In ihrer trägen Gleichgültigkeit beant­ worten sie jede an sie gerichtete Frage, gleichsam aufs Geratewohl, aber immer mit einem gefälligen Lächeln durch ein: "Ja, mein Pater; nein, mein Pater." Man stellt sich leicht vor, wie ungeduldig solche Gespräche ganze Monate lang machen müssen, wenn man gerne Aufklärung über Dinge hätte, die ein lebhaftes Interesse erregen. Öfters sahen wir uns genötigt, gleichzeitig mehrere Dolmetscher und verschiedene Übersetzungen nach­ einander zu gebrauchen, um uns mit den Ureinwohnern unterhalten zu können. "Über meine Mission hinaus", sagte der gute Ordensmann von Cari­ chana, "werden Sie wie Stumme reisen." Diese Vorhersage ist ungefähr in Erfüllung gegangen, und um nicht allen Vorteil, der aus dem Umgang auch mit den rohesten Indianern gezogen werden kann, zu verlieren, haben wir bisweilen die Zeichensprache vorgezogen. Sobald der Eingeborene wahr­ nimmt, daß man sich keines Dolmetschers bedienen will, sobald man ihn durch Hinweis auf die Gegenstände unmittelbar fragt, legt er seine ge­ wohnte Gleichgültigkeit ab und verrät eine nicht gewöhnliche Gewandtheit, sich verständlich zu machen. Er wechselt mit den Zeichen ab, spricht die Wörter langsam aus und wiederholt sie auch, ohne dazu aufgefordert zu werden. Seine Eigenliebe scheint sich durch die Achtung geschmeichelt zu fühlen, die ihm dadurch bezeugt wird, daß man sich von ihm unterrichten läßt. Diese Leichtigkeit, sich verständlich zu machen, ist besonders beacht­ lich beim unabhängigen Indianer und in den christlichen Ansiedlungen; ich empfehle den Reisenden, sich vorzugsweise an die seit kurzem erst be-

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kehrten Eingeborenen oder an solche zu wenden, die von Zeit zu Zeit in die Wälder zurückkehren, um ihre vormalige Freiheit zu genießen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß der unmittelbare Verkehr mit den Eingeborenen beleh­ render und sicherer ist als der mit Dolmetschern, vorausgesetzt, daß man seine Fragen zu vereinfachen weiß und sie mehreren Individuen nachein­ ander wiederholt. Die Verschiedenheit der Mundarten, die an den Ufern des Meta, des Orinoco, des Casiquiare und des Rio Negro gesprochen werden, ist übrigens dermaßen groß, daß ein Reisender, wie ausgezeichnet auch sein Sprachtalent sein mag, sich niemals schmeicheln dürfte, so viele zu erlernen, als erforderlich wäre, um sich längs den schiffbaren Strömen, vom Ango­ stura bis zumfortin von San Carlos am Rio Negro verständlich zu machen. In Peru und in Quito ist die Kenntnis der Ketschua- oder der Inca-Sprache hin­ reichend; in Chile genügt das Araucanische; in Paraguay das Guarani, um sich dem größeren Teil der Bevölkerung verständlich zu machen. Anders ver­ hält es sich in den Missionen des spanischen Guayana, wo die Völker ver­ schiedener Stämme im gleichen Dorf vermischt beisammenleben. Hier würde es sogar nicht genügen, Caribisch oder Carina, Guamo, Guahive, Ja­ ruro, Otomaca, Maipure, Saliva, Maravitano, Maquiritare und Guaica, alle diese zehn Sprachen erlernt zu haben, von denen nur ungenaue Sprach­ lehren vorhanden sind und deren Verwandtschaft zueinander geringer ist als die zwischen dem Griechischen, Deutschen und Persischen. Wir fanden die Umgehungen der Mission von Carichana angenehm. Das kleine Dorf liegt in einer der mit Gras bewachsenen Ebenen, die von Enca­ ramada bis jenseits der Katarakte von Maipures alle Glieder des Granitge­ birges voneinander trennten. Die Waldgrenze stellt sich nur in der Ferne dar. Der Horizont erscheint von Bergen begrenzt, die, zum Teil mit Wald be­ wachsen, ein düsteres Aussehen haben, zum Teil nackt sind, mit Felsengip­ feln gekrönt, die vom Glanz der Abendsonne vergoldet werden. Was dieser Landschaft einen eigentümlichen Charakter erteilt, das sind die fast allen Pflanzenwuchses entblößten Felsenbänke, die oft über 800 Fuß Umkreis haben und kaum einige Zoll über die umliegende Savanne erhöht sind. Sie bilden gegenwärtig einen Teil der Ebene. Man fragt sich erstaunt, ob irgend­ eine außerordentliche Revolution Erde und Pflanzen von ihnen weggeführt hat oder ob der Granitkern unseres Planeten sich nackt darstellt, weil die Keime des Lebens sich nicht auf allen Stellen entwickelt haben. Das gleiche Phänomen scheint sich auch in der Schamo darzubieten, welche die Mon­ golei von China trennt. Diese isolierten Felsbänke in der Wüste werden tsy genannt. Es wären, denke ich, echte Plateaus, wenn die umliegenden Ebenen von Sand und von der Erde, die sie decken und die durch das Wasser an den niedrigsten Stellen angehäuft wurden, befreit wären. Teilnehmend verfolgt man auf diesen steinigen Plateaus von Carichana die sich entwik­ kelnde Vegetation in den verschiedenen Stufen ihrer Entfaltung. Man findet

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233

dort flechtenartige Pflanzen, die den Stein zu spalten anfangen, auf mehr oder minder dichten obersten Schichten vereint; in kleinen Häufchen von quarzigem Sand ernähren sich Saftgewächse; und endlich wachsen in Schichten von schwarzer Erde, die in hohen Spalten abgesetzt und aus Über­ bleibseln von Wurzeln und Blättern gebildet sind, Büsche von schattigen, immergrünen Sträuchern. Ich würde unserer Gärten und der schüchternen Werke der Kunst nicht gedenken, wenn ich von großen Naturszenen zu sprechen hätte; dieser Kontrast aber von Felsen und blütenbedeckten Ge­ büschen, diese in der Savanne zerstreuten Buschwerke kleiner Bäume erin­ nern unwillkürlich an das, was unsere Gartenanlagen Mannigfaches und Malerisches darbieten. Man könnte glauben, der Mensch habe, durch ein inniges Gefühl der Schönheiten der Natur geleitet, die wilde Roheit dieser Gegenden zu mildern versucht. Wenn man sich zwei bis drei Iieues von der Mission entfernt, findet man in diesen durch Granithügel voneinander getrennten Ebenen eine ebenso reiche wie mannigfaltige Vegetation. Vergleicht man die Gegend von Cari­ chana mit der aller Dörfer oberhalb der Katarakte, erstaunt man über die Leichtigkeit, womit das Land durchwandert wird, ohne den Stromufern zu folgen und ohne durch die dichten Waldungen aufgehalten zu werden. Herr Bonpland hat mehrere Exkursionen zu Pferd gemacht, die ihm eine reiche Pflanzenernte gewährten. Ich will nur des Paraguatan gedenken, einer prächtigen Art des Macrocnemum, deren Rinde rot färbt

tinctorium];

[Macrocnemum

des Guaricamo mit giftiger Wurzel [Ryania coccinea]; des

Jacaranda obtusifolia und des Serrape oder Jape der Salivas-Indianer, welche die Coumarouna Aublets ist, die auf der ganzen Tierra Firme wegen ihrer aromatischen Frucht berühmt ist. Diese Frucht, die in Caracas zwi­ schen die Wäsche gelegt wird, wie man sie in Europa unter dem Namen der Tonca- oder Tongo-Bohne dem Schnupftabak beimischt, wird für giftig ge­ halten. Es ist eine irrige, in der Provinz Cumami sehr verbreitete Meinung, daß der vortreffliche, in Martinique bereitete Likör sein besonderes Aroma dem Jape verdanke. In den Missionen heißt er Simaruba, ein Name, der große Mißgriffe verursachen kann, indem die wahre Simaruba eine der Gat­ tung Quassia angehörige fiebertilgende Art ist und im spanischen Guayana nur im Tal des Rio Caura wächst, wo die Paudacotes-Indianer ihr denNamen

achec-chari geben. Auf dem Großen Platz in Carichana fand ich die Inklination der Magnet­ nadel zu 33,7° (neuer Einteilung). Die Intensität der Kräfte drückte sich durch 227 Schwingungen in zehn Zeitminuten aus, ein Zuwachs von Kräften, welcher das Dasein einiger örtlicher Anziehung vermuten lassen dürfte. Die von den Gewässern des Orinoco geschwärzten Granitblöcke wirken jedoch nicht merklich auf den Magneten. Die Barometerhöhe betrug mittags 336,6 Linien; das hundertteilige T hermometer zeigte im Schatten

234

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30,6°. In der Nacht sank die Temperatur der Luft auf 26,2°; Delucs Hygro­ meter hielt sich auf 46°. Der Strom hatte sich am 10. April [1800] den Tag über um mehrere Zoll er­ höht; dieses Steigen erschien den Eingeborenen um so auffallender, als das erste Anwachsen unmerklich und auch gewöhnlich im Monat April einige Tage lang von einer Abnahme begleitet ist. Der Orinoco war schon um drei Fuß über dem niedrigsten Wasserspiegel erhöht. Die Eingeborenen zeigten uns auf einer Granitmauer die Merkmale der jetzigen großen Wasserhöhen. Wir fanden sie von 42 Fuß [oder 13,5 m] Höhe, was das Doppelte des mitt­ leren Steigens des Nilstroms ist. Doch dieses Maß war an einer Stelle ge­ nommen, wo das Bett des Orinoco außerordentlich zwischen Felsen einge­ engt ist, und ich mußte mich einzig nur an die Aussage der Eingeborenen halten. Man sieht leicht ein, daß die Wirkungen und die Höhe des steigenden Wassers je nach dem Stromprofil, der Beschaffenheit der mehr oder weniger erhöhten Ufer, der Zahl der die Regenwasser sammelnden Zuflüsse und nach der Länge des durchlaufenen Erdreichs ungleich und verschieden sein müssen. Was aber unbezweifelbar ist und die Vorstellung aller verblüfft hat, die diese Gegenden bewohnen, ist, daß man in Carichana, in San Borja, in Atures und Maipures, da, wo der Strom sich durch Berge seinen Weg ge­ bahnt hat, 100, zuweilen auch 130 Fuß über den gegenwärtigen größten Flußhöhen schwarze Streifen und Erosionsspuren sieht, die den vormaligen Wasserstand anzeigen. Dieser Orinocostrom, der uns so imposant und maje­ stätisch erscheint, wäre demnach nur ein schwacher Überrest der unermeß­ lichen Süßwasserströmungen, die vom Alpenschnee oder von stärkeren Re­ gengüssen angeschwollen, von dichten Waldungen überall beschattet und ohne die flachen Ufer, welche die Verdunstung begünstigen, vormals das Land ostwärts der Anden wieArme von Binnenmeeren durchzogen haben? Was muß damals das Verhältnis dieser niedrigen Landschaften von Guayana gewesen sein, die gegenwärtig den Wirkungen der jährlichen Überschwem­ mungen ausgesetzt sind? Welche ungeheure Menge von Krokodilen, See­ kühen und Boas müssen damals diese weitläufigen Ebenen bewohnt haben, die aus wechselnden Sumpflachen stillstehenden Wassers und einem dürren, zerrissenen Boden bestanden? Die ruhigere Welt, die wir bewohnen, ist auf eine lärmendere Welt gefolgt. Knochengerippe des Mammut und echter amerikanischer Elefanten werden auf den Plateaus der Anden zerstreut an­ getroffen. Das Megatherium lebte in den Ebenen von Uruguay. Beim tieferenAusgraben der Erde in den Hochtälern, die heutzutage weder Palm­ bäume noch baumartige Farnkräuter ernähren können, werden Steinkoh­ lenlager entdeckt, worin Riesentrümmer von Gewächsen aus der Monoco­ tyledonen-Klasse begraben liegen. Es war also eine entfernte Zeit, als die Familien der Gewächse anders verteilt, die Tiere größer, die Ströme breiter und tiefer waren. Hier enden nun aber die Denkmale der Natur, die wir zu

235

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Rate ziehen können. Wir wissen nicht, ob das Menschengeschlecht, welches zur Zeit der Entdeckung Amerikas ostwärts der Cordilleren kaum einige schwache Stämme zeigte, bereits in die Täler herabgestiegen war oder ob die alte Überlieferung der großen Gewässer, die unter den Völkern am Orinoco, am Erevato und am Caura angetroffen wird, anderen Erdstrichen angehört, aus welchen sie in diesen Teil des neuen Kontinents verpflanzt worden ist. Am

11. April [1800) waren wir um 2 Uhr nachmittags von Carichana abge­

fahren; das Strombett zeigte sich immer mehr mit Granitblöcken angefüllt. Wir kamen westlich beim Cafio Orupe vorbei und danach bei der großen, unter dem Namen Piedra del Tigre bekannten Klippe. Der Strom ist dort so tief, daß man mit einer

22 Ellen langen Sonde seinen Grund nicht erreicht.

Gegen Abend wurde der Himmel überzogen und düster. Die Nähe des Ge­ witters kündigte sich durch Stoßwinde an, die mit gänzlicher Luftstille wech­ selten. Der Regen fiel in Strömen nieder, und das Laubdach, unter dem wir gelagert waren, gewährte ein unzureichendes Obdach. Zum Glück ver­ trieben die Regengüsse, für eine Weile wenigstens, die

mosquitos,

die uns

den Tag über grausam geplagt hatten. Wir befanden uns dem Wasserfall von Cariven gegenüber, und der Andrang der Gewässer war so stark, daß wir Mühe hatten, an Land zu kommen. Wir wurden immer wieder in die Mitte des Stroms zurückgedrängt. Endlich sprangen zwei Salivas-Indianer, vor­ treffliche Schwimmer, ins Wasser, um mittels eines Taues die Piroge ans Ufer zu ziehen und sie an der Piedra de Carichana vieja zu befestigen, einer nackten Felsenbank, worauf wir lagerten. Der Donner rollte einen Teil der Nacht hindurch; das Wasser stieg bedeutend, und man fürchtete einigemal, die stürmischen Wellen würden unser leichtes Fahrzeug vom Ufer losreißen. Der Granitfels, auf welchem wir die Nacht zubrachten, ist einer von denen, worauf die Reisenden am Orinoco von Zeit zu Zeit gegen Sonnen­ aufgang unteridische Töne gehört haben, denen einer Orgel ähnlich. Die Missionare nennen diese Steine laxas de mWiica. "Es ist Hexenwerk

brujas)",

(cosa de

sagte unser junger indianischer Steuermann, der Kastilianisch

sprach. W ir selbst haben diese geheimnisvollen Töne weder zu Carichana vieja noch am oberen Orinoco gehört, aber den Aussagen glaubwürdiger Zeugen zufolge mag die Wahrheit der Erscheinung nicht bezweifelt werden, die von einer gewissen Beschaffenheit der Atmosphäre herzurühren scheint. Die Felsenbänke sind voll sehr enger und sehr tiefer Spalten. Sie erhitzen sich den Tag über bis zu

48 und 50°. Ich habe ihre Temperatur an der 39° gefunden, während die umgebende Atmo­

Oberfläche nachts öfters zu sphäre

28° hatte.

Es ist leicht begreiflich, daß der Unterschied der Tempe­

ratur zwischen der unterirdischen und der äußeren Luft sein Maximum gegen Sonnenaufgang erreicht, in dem Augenblick, der zugleich am entfern­ testen vom Zeitpunkt des Maximums der Wärme des vorhergehenden Tages ist. Sollten die Orgeltöne, die man beim Nachtlager auf dem Felsen hört,

Kapitel XIX

236

wenn das Ohr sich an den Stein lehnt, nicht die Wirkung einer durch die Spalten austretenden Luftströmung sein? Sollte der Andrang der Luft gegen elastische Glimmerblättchen, welche die Spalten zum Teil ausfüllen, nicht zur Modifikation der Töne beitragen? Ließe sich nicht vermuten, die alten Bewohner Ägyptens hätten bei ihrem ständigen Hinauf- und Hinabfahren des Nilstroms die gleiche Beobachtung auf irgendeinem Felsen der Wüste vonTheben gemacht und die Musik des Felsens hätte zu den Gaukeleien der Priester mit der Bildsäule des Memnon veranlaßt? Damals vielleicht, als "die rosenfingrige Aurora ihrem Sohn, dem glorreichen Memnon, die Stimme verlieh". Diese Stimme war die eines unter dem Fußgestell des Bildes verborgenen Menschen; die hier angeführte Beobachtung der Einge­ borenen des Orinoco scheint aber auf eine natürliche Weise zu erklären, was den Glauben der Ägypter, daß ein Stein bei SonnenaufgangTöne erschallen lasse, aufgebracht hat. Fast zur gleichen Zeit, als ich diese Vermutungen einigen europäischen Gelehrten mitteilte, sind französische Reisende, die Herren Jomard, Jollois und Devillies, zu ähnlichen Ideen geführt worden. In einem Denkmal aus Granit, das mitten im Palast von Karnak steht, haben sie bei Sonnenaufgang einenTon gehört, welcher dem einer springenden Saite glich. Dies ist gerade auch der Vergleich, dessen sich die Alten bedient haben, als sie von der Memoon-Säule sprachen. Die französischen Reisenden waren ebenso wie ich der Meinung, der Durchgang der verdünnten Luft durch die Spalten eines widerhallenden Steins habe die ägyptischen Priester auf die Erfindung der Gaukeleien des Memnoniums führen können. Am 12. April

[1800]

setzten wir unsere Reise frühmorgens um vier Uhr

weiter fort. Der Missionar sah voraus, daß wir viel Mühe haben würden, die rapides und die Mündung des Meta zu passieren. Die Indianer ruderten zwölfeinhalb Stunden ununterbrochen. Maniocmehl und Bananen waren während dieser Zeit ihre einzige Nahrung. Bedenkt man die Anstrengung, welche der Kampf gegen die mächtige Strömung und die Gewalt der Kata­ rakte fordert, und überlegt man diesen anhaltenden Gebrauch der Muskel­ kräfte während zwei Monate andauernder Stromfahrten, dann erstaunt man gleichmäßig über die kraftvolle Leibesbeschaffenheit und über die Enthalt­ samkeit der Indianer am Orinoco und am Amazonenstrom. Stärkemehl und zuckerhaltige Substanzen, zuweilen Fisch und das Fett der Schildkröteneier vertreten die Stelle der aus den zwei ersten Klassen des Tierreichs, der Säu­ getiere und Vögel, gewonnenen Nahrungsmittel. Wir fanden das Strombett in einer Länge von

600 Toisen

mit Granit­

blöcken angefüllt. Es ist dies der sogenannte Raudal de Cariven. Wir fuhren durch Kanäle, die keine fünf Fuß breit waren. Zuweilen wurde unsere Piroge zwischen zwei Granitblöcken festgehalten. Man suchte die Stellen zu ver­ meiden, wo das Wasser sich mit entsetzlichem Geräusch den Weg bahnte.

Kapitel XIX

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Mit einem guten indianischen Steuermann versehen läuft man keine Gefahr. Wo die Strömung allzu schwierig wird, werfen sich die Ruderer ins Wasser und befestigen ein Tau an den Felsenspitzen, um die Piroge stromaufwärts zu ziehen. Dieses mühsame Verfahren verlangt viel Zeit, die zuweilen von uns benutzt wurde, um die Klippen zu ersteigen, zwischen denen wir hindurch­ fuhren. Es gibt sie von allen Größen; sie sind abgerundet, sehr schwarz, glänzend wie Blei und von aller Vegetation entblößt. Es gewährt einen ganz außerordentlichen Anblick, die Gewässer eines der größten Ströme des Erd­ balls gleichsam verschwinden zu sehen. Sogar in weiter Entfernung vom Ge­ stade sahen wir die mächtigen Granitblöcke aus der Erde emporsteigen und sich gegeneinanderlehnen. In den rapides sind die Zwischenkanäle über 25 Ellen tief und ihre Untersuchung wird um so schwieriger, weil die Felsen im Grund oft äußerst eng sind und über der Wasserfläche gleichsam hängende Gewölbe bilden. Krokodile haben wir im Raudal de Cariven keine wahrge­ nommen. Diese Tiere scheinen den Lärm der Katarakte zu meiden. Von Cabruta bis zur Mündung des Rio Sinaruco, in einer Entfernung von fast zwei Breitengraden, ist das linke Ufer des Orinoco völlig unbewohnt; dagegen hat westlich vom Raudal de Cariven ein unternehmerischer Mann, Don Felix Relinch6n, die Jaruros- und Otomaken-Indianer in einem kleinen Dorf versammelt. Dies ist ein Zivilisationsversuch, worauf die Mönche keinen unmittelbaren Einfluß hatten. Es wäre überflüssig, hinzuzufügen, daß Don Felix in offener Fehde mit den Missionaren vom rechten Ufer des Orinoco lebt. Wir werden bei anderer Gelegenheit die wichtige Frage unter­ suchen, ob in der gegenwärtigen Lage des spanischen Amerika solche Capi­

tanes pobladores und fundadores an die Stelle der mönchischen Einrich­ tungen gesetzt werden können, und welche von den zwei gleich launischen und willkürlichen Regierungen für die armen Indianer mehr zu fürchten ist. Um neun Uhr gelangten wir in unserer Stromhinauffahrt vor die Mün­ dung des Meta, der Stelle gegenüber, wo vormals die von den Jesuiten gestif­ tete Mission von Santa Teresa lag. Der Meta ist nach dem Guaviare der be­ trächtlichste Strom, der sich in den Orinoco ergießt. Man kann ihn mit der Donau vergleichen, nicht hinsichtlich der Länge seines Laufes, wohl aber mit seiner Wassermasse. Seine mittlere Tiefe beträgt 36 Fuß, die höchste er­ reicht 84. Die Vereinigung beider Ströme gewährt einen sehr imposanten Anblick. Vereinzelt stehende Felsblöcke erheben sich am östlichen Gestade. Übereinanderliegende Granitblöcke sehen von ferne wie zertrümmerte Schlösser aus. Ausgedehnte sandige Strände entfernen den Waldrand vom Strom; aber inmitten der Wälder erblickt man am Horizont einzelne, sich gegen den Himmel abzeichnende und die Berggipfel krönende Palmen. Wir verweilten zwei Stunden auf einem großen, mitten im Orinoco befind­ lichen Felsen, welcher Stein der Geduld heißt, weil die stromaufwärts fah­ renden Pirogen zuweilen zwei Tage brauchen, um den von diesem Fels her-

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rührenden Wasserstrudel zurückzulegen. Es gelang mir, meine Instrumente dort aufzustellen. Sonnenhöhen gaben mir für die Länge der Mündung des Meta 70° 4' 29". Diese chronometrische Beobachtung zeigt, daß an dieser Stelle d'Anvilles Karte des südlichen Amerika hinsichtlich der Länge fast fehlerfrei ist, während er an der Breite um einen Grad irrte. Der Rfo Meta, der die weiten Ebenen von Casanare durchströmt und bis an den Fuß der Anden von Neu-Granada schiffbar ist, wird einst für die Ein­ wohner von Guayana und Venezuela eine große politische W ichtigkeit er­ halten. Vom Golfo Triste und von der Boca del Drag6n kann eine Flottille den Orinoco und den Meta bis zu 15 oder 20 Iieues Entfernung von Santa Fe de Bogota hinauffahren. Das Getreidemehl von Neu-Granada kann wieder auf gleichem Weg herabkommen. Der Meta ist gleichsam ein Verbindungs­ kanal zwischen Ländern, die unter gleicher Breite liegen, deren Erzeugnisse aber so verschieden sind wie die von Frankreich und vom Senegal. Dieser Umstand macht die genaue Kenntnis der Quellen eines auf unseren Karten so fehlerhaft gezeichneten Stromes wichtig. Der Meta entsteht durch die Vereinigung zweier Ströme, die von den Paramos de Chingasa und von Suma Paz herkommen. Der erste ist der Rio Negro, der tiefer unten den Pa­ chaquiaro aufnimmt; der zweite ist der Rfo de Aguas blancas oder Umadea. Ihr Zusammenfluß geschieht in der Nähe des Hafens von Marayal. Vom Paso de la Cabulla, wo man den Rfo Negro verläßt, beträgt die Entfernung der Hauptstadt von Santa Fe de Bogota nur 8 oder 10 Iieues. Ich habe diese merkwürdigen Angaben so, wie ich sie von Augenzeugen sammelte, in der ersten Ausgabe meiner Karte des Rfo Meta verzeichnet [ Atlas du Nouveau

Continent, Pl. XIX] . Die Beschreibung der Reise des Kanonikus Don Jose Cortes Madariaga hat nicht nur meine ersten Ansichten über die Quellen

des Meta bestätigt, sondern mir auch für die Vervollkommnung meiner Ar­ beit höchst wertvolle Materialien geliefert. Von den Dörfern Xiramena und Cabullaro bis zu denen von Guanapalo und Santa Rosalfa de Cabapuna, auf einer Länge von 60 Iieues, sind die Gestade des Meta bevölkerter als die des Orinoco. Man findet da 14 christliche, zum Teil sehr zahlreiche Niederlas­ sungen; aber von den Mündungen des Pauto und des Casanare an herrschen in einer Strecke von mehr als 50 Iieues die Wilden Guahibos an den Gestaden des Meta. Zur Zeit des Jesuiten und vorzüglich während der Expedition Iturriagas im Jahr 1756 war die Schiffahrt auf diesem Strom sehr viel lebhafter, als sie gegenwärtig ist. Missionare des gleichen Ordens herrschten damals an den Gestaden des Meta und des Orinoco. Die Dörfer von Macuco, von Zuri­ mena und Casimena waren gleichermaßen durchJesuiten gegründet worden wie die von Uruana, Encaramada und Carichana. Es lag im Plan dieser Väter, eine Serie von Missionen zu gründen, die sich vom Zusammenfluß des Casanare mit dem Meta bis zur Vereinigung des Meta mit dem Orinoco

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ausdehnen sollte. Ein schmaler Strich angebauten Landes hätte die ausge­ dehnte Steppe durchzogen, welche die Wälder Anden-Guayanas von Neu­ Granada trennt. Außer den Mehlvorräten von Santa Fe sah man damals, zur Zeit der Ernte der Schildkröteneier, auch das Salz von Chita, die Baumwoll­ tücher von San Gil und die farbigen Decken von Socorro den Strom herab befördern. Um den kleinen Krämern, die sich mit diesem Binnenhandel ab­ gaben, einige Sicherheit zu verschaffen, wurden vom Castillo oder Fortin von Carichana von Zeit zu ZeitAusfälle gegen die Guahibos-Indianer unter­ nommen. Weil derselbe Weg, der den Handel der Erzeugnisse Neu-Granadas begün­ stigte, auch zur Einfuhr des Schmuggelgutes der Küsten Guayanas diente, haben die Kaufleute in Cartagena de Indias von der Regierung Maßnahmen erwirkt, die den freien Handel auf dem Meta ungemein beschränken. Ein gleicher Monopolgeist hat den Meta, den Rio Atrato und den Amazonen­ strom verschlossen. Seltsame Politik, welche die Mutterstaaten glauben läßt, daß ihr Vorteil verlange, Länder unbebaut zu lassen, in welche die Natur die Keime jeder Fruchtbarkeit gepflanzt hat. Die wilden Indianer haben sich die mangelnde Bevölkerung überall zunutze gemacht. Sie haben sich den Strömen genähert, sie beunruhigen die Durchreisenden, und sie su­ chen wiederzuerobern, was sie über Jahrhunderte eingebüßt haben. Um die Guahibos im Zaum zu halten, wollten die Kapuziner-Missionare, die in den Missionen am Orinoco den Jesuiten folgten, an der Mündung des Meta eine Stadt erbauen, die den Namen Villa de San Carlos führen sollte. Trägheit und die Furcht vor Wechselfiebern haben die Ausführung dieses Planes ge­ hindert, und es ist von der Stadt Villa de San Carlos nie etwas anderes vor­ handen gewesen als ihr auf schönem Pergament gemaltes Wappenschild und ein ungeheuer hohes, am Gestade des Meta errichtetes Kreuz. Die Gua­ hibos, deren Zahl, wie man behauptet, auf einige Tausende ansteigt, sind so frech geworden, daß sie bei unserer Durchreise in Carichana dem Missionar hatten bedeuten lassen, sie würden auf Flößen kommen, um sein Dorf zu verbrennen. Diese Flöße

(valzas), die wir zu sehen Gelegenheit hatten, sind

bei zwölf Fuß Länge kaum drei Fuß breit. Sie tragen nicht mehr als zwei oder drei Indianer; aber 15 oder 16 solcher Flöße werden mit Stengeln von Paul­ linia, Dolichos und anderen Rankenpflanzen aneinandergebunden. Es ist fast unbegreiflich, wie diese leichten Fahrzeuge beim Durchgang der rapides unzerstört und miteinander verbunden bleiben. Viele Flüchtlinge aus den Dörfern Casanare und Apure haben sich den Guabibos angeschlossen; sie haben diesen die Sitte, das Ochsenfleisch zu speisen und die Ochsenhäute zu benutzen, überliefert. Die Höfe San Vicente, Rubio und SanAntonio haben infolge der Überfälle der Indianer einen großen Teil ihres Hornviehs einge­ büßt. Sie sind es auch, welche die Reisenden, die den Meta hinaufschiffen, bis zum Zusammenfluß des Casanare hindern, am Gestade zu übernachten.

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Zur Zeit des niedrigen Wasserstandes geschieht es öfters, daß kleine Krämer von Neu-Granada, deren einige noch das Lager von Pararuma besuchen, durch die vergifteten Pfeile der Guahibos getötet werden. Von der Mündung des Meta an schien uns der Orinoco weniger Klippen und Felsblöcke zu haben. Wir fuhren in einem 500Toisen breiten Kanal. Die Indianer ruderten in der Piroge, ohne zu bugsieren und zu ziehen und ohne ihre Arme stark anzustrengen; hingegen ermüdeten sie uns durch ihr wildes Geschrei. Wir kamen westlich bei den Cafios Uita und Endava vorbei. Es war bereits Nacht, als wir vor dem Raudal de Tabaje eintrafen. Die Indianer wollten es nicht wagen, den Katarakt hinaufzufahren, und wir legten uns auf die Erde nieder, an einer höchst unbequemen Stelle, auf einer über 18° ge­ neigten Felsplatte, die in ihren Spalten einer Schar Fledermäuse zum Auf­ enthalt diente. Wir hörten die ganze Nacht durch das Geschrei des Jaguars völlig in der Nähe. Unser großer Hund beantwortete es mit einem anhal­ tenden Heulen. Ich hoffte vergebens auf die Sterne; der Himmel war von furchtbar dunkler Schwärze. Das dumpfe Getöse der Wasserfälle des Ori­ noco kontrastierte mit dem Knall des Donners, der fern gegen den Wald hin rollte. Am 13. April [1800] kamen wir frühmorgens bei den Stromschnellen von Tabaje vorbei, dem Ziel der Reise des Pater Gumilla, und wir stiegen hier wieder an Land. Der Pater Zea, der uns begleitete, wollte in der seit zwei Jahren errichteten neuen Mission von San Borja Messe lesen. Wir fanden dort sechs von nicht katechesierten Guahibos bewohnte Häuser. Sie waren von den wilden Indianern durch nichts zu unterscheiden. Ihre ziemlich großen und schwarzen Augen drückten mehr Lehrhaftigkeit aus als die Augen der in den alten Missionen wohnenden Indianer. Wir boten ihnen ver­ gebens Branntwein an; sie wollten ihn nicht einmal schmecken. Die jungen Mädchen hatten alle runde und schwarze Flecken im Gesicht. Man hätte sie für Schönheitsflecken halten können, deren sich vormals die Frauen in Europa bedienten, um das Weiße ihrer Haut damit zu betonen. Der übrige Körper der Guahibos war nicht bemalt. Mehrere hatten Barthaare, sie schienen stolz darauf zu sein; und indem sie uns beim Kinn faßten, gaben sie durch Zeichen zu verstehen, sie seien gebildet wie wir. Ihr Wuchs war meist ziemlich schlank. Hier, wie bei den Salivas und Macos überraschte mich abermals die geringe Einheitlichkeit der Gesichtszüge dieser Indianer am Orinoco. Ihr Blick ist finster und traurig; er zeigt weder Härte noch Wild­ heit. Ohne viel Ahnung von den Gebräuchen der christlichen Religion zu haben (der Missionar von Carichana liest in San Borja nicht mehr als drei oder vier Male im Jahr Messe), war ihr Betragen in der Kirche überaus an­ ständig. Die Indianer lieben die Repräsentation; sie unterziehen sich gern für eine kurze Weile Zwang und Unterwürfigkeit, wenn sie nur sicher sind, bemerkt zu werden. Im Augenblick der Einsegnung gaben sie einander

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durch Zeichen zu verstehen, der Priester werde jetzt den Kelch an seine Lippen bringen. Diese Bewegung ausgenommen, blieben sie völlig still in unerschütterlicher Gleichgültigkeit. Das Interesse, mit dem wir die Verhältnisse dieser armen Wilden unter­ suchten, ist vielleicht Ursache der Zerstörung der Mission geworden. Einige von ihnen, die ein umherziehendes Leben den Arbeiten des Landbaus vor­ zogen, beredeten die übrigen, nach den Ebenen des Meta zurückzukehren. Sie sagten ihnen, dieWeißen würden nach San Borja zurückkommen, um sie in ihren Kähnen wegzuführen und als poitos oder Sklaven in Angostura zu verkaufen. Die Guahibos erwarteten die Nachricht unserer Rückkehr vom Rio Negro durch den Casiquiare; und als sie innewurden, wir seien beim er­ sten großen Wasserfall, dem von Atures, eingetroffen, zogen sie alle fort und flüchteten in die den Orinoco westlich begrenzenden Savannen. Schon die Jesuitenpatres hatten eine Mission an eben dieser Stelle, die den glei­ chen Namen führte, gegründet. Kein Indianerstamm ist schwieriger an einen festen Wohnsitz zu gewöhnen als die Guahibos. Sie ernähren sich lieber von faulen Fischen, Tausendfüßlern und W ürmern, als ein kleines Stück Land zu bebauen. Darum sagen auch die übrigen Indianer sprichwört­ lich: "Ein Guahibo ißt alles, was auf und unter der Erde vorkommt." Beim Hinauffahren auf dem Orinoco nach Süden nahm die Hitze keines­ wegs zu, sondern sie wurde vielmehr erträglicher. Den Tag über betrug die Temperatur der Luft 26 oder 27,5°, nachts 23,7°. DasWasser des Orinoco be­ hielt seine gewöhnliche Temperatur von 27,7°. Die Plage der mosquitos nahm trotz der verminderten Wärme schrecklich zu. Nirgends hatten wir so arg darunter gelitten wie in San Borja. Man konnte weder sprechen noch das Gesicht entblößen, ohne Mund und Nase mit diesen Insekten angefüllt zu bekommen. Wir wunderten uns, das T hermometer nicht auf 35 oder 36° an­ steigen zu sehen; die so ausnehmend erhöhte Hautreizung ließ uns glauben, die Luft sei glühend. Wir lagerten am Gestade von Guaripo. DieFurcht vor den kleinen Caribefischen hielt uns vom Baden ab. Die Krokodile, denen wir an diesem Tag begegneten, waren alle von ungewöhnlicher Größe, 22 bis 24Fuß lang. Am 14. April [1800]1ieß uns die Plage der zancudos [langbeinige Mücken. Anmerkung des Hrsg.] um 5 Uhr morgens abreisen. In der unmittelbar über dem Strom ruhenden Luftschicht befinden sich weniger Insekten als nahe des Waldrandes. Zum Frühstück machten wir auf der Insel Guachaco halt, wo eine Sand- oder Konglomeratformation unmittelbar den Granit deckt. Dieser Sandstein enthält Bruchstücke von Quarz und sogar von Feldspat, von verhärtetem Ton gekittet. Er zeigt kleine Adern von Brauneisenerz, das sich in liniendichten Plättchen oder Scheiben ablöst. Wir hatten bereits solche Plättchen am Gestade zwischen Encaramada und Baraguan ange­ troffen, wo die Missionare solche bald für Golderz, bald für Zinn hielten. Es

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ist wahrscheinlich, daß diese Sekundärformation vormals eine größere Aus­ dehnung hatte. Nachdem wir bei der Mündung des Rio Parueni, j enseits deren die Macos-Indianer wohnen, vorübergekommen waren, lagerten wir auf der Insel Panumana. Nicht ohne Mühe konnte ich Höhen des Canopus erhalten, um die Längenbestimmung des Punktes vorzunehmen, bei wel­ chem der Strom sich auf einmal nach Westen wendet. Die Insel Panumana besitzt einen großen Reichtum an Pflanzen. Es finden sich hier die nackten Felsbänke wieder, die Melastomenbüschel, die Boskets von kleinen Sträu­ chern, die uns in den Ebenen von Carichana so aufgefallen waren. Die Berge bei den großen Katarakten begrenzten den Horizont südöstlich. Im weiteren Vorrücken bemerkten wir, daß die Ufer des Orinoco ein imposantes und malerisches Ansehen gewannen.

Reise in die

Aequinoctial-Gegenden des

neuen Continents in den Jahren

1799, 1800, 1801, 1802, 1803

und 1804.

Verfaßt von Alexander von Humboldt und A. Bonpland.

Vierter Theil.

Stuttgart und Tübingen, in der J. G. Cotta'schen Buchhandlung. 1823.

Reise in die

Äquinoktial-Gegenden des

Neuen Kontinents

Siebtes Buch [Fortsetzung] Kapitel XX Mündung des Rfo Anaveni- Pie von Uniana- Mission Atures­ Katarakt oder Raudal von MaparaInselchen Surupamana und Uirapuri Der Orinoco-Strom wird in seiner Richtung von Süden nach Norden von einer Granitbergkette durchschnitten. Zweimal in seinem Lauf verengt, bricht er sich schmetternd an den Felsen, welche Querdämme und Stufen bilden. Es läßt sich nichts Imposanteres denken als die Ansicht dieser Ge­ genden. Weder der Sturz des Tequendama bei Santa Fe de Bogota noch die großen Szenen der Cordilleren konnten den Eindruck schwächen, den der erste Anblick der Wasserfälle von Atures und Maipures hinterlassen hatte. Wer sich auf einem Standpunkt befindet, von dem diese ununterbrochene Reihe von Katarakten, diese ungeheure Schaum- und Dampfmasse, durch die Strahlen der untergehenden Sonne beleuchtet, überschaut werden kann, der glaubt den ganzen Strom über seinem Bett schwebend zu sehen. Solch ausgezeichnete Gegenden mußten seit Jahrhunderten die Aufmerk­ samkeit der Bewohner der Neuen Welt fesseln. AlsDiego de Ordaz, Alfonso de Herrera und der tapfere Raleigh an der Mündung des Orinoco gelandet waren, erhielten sie Kunde der großen Katarakte von den Indianern, welche

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diese nie gesehen hatten und sie selbst auch mit den östlicher gelegenen ver­ wechselten. Trotz aller Hindernisse, durch welche der kräftige Pflanzenwuchs der heißen Zone die Verbindungen der Völker erschwert, verbreitet sich den­ noch die Kenntnis von allem, was den Lauf der großen Ströme betrifft, in uner­ meßliche Fernen. GleichArmen von Binnenmeeren durchziehen derürinoco, der Amazonenstrom und der Uruguay in verschiedenen Richtungen ein mit Wald bedecktes und von Völkern, die zum Teil Anthropophagen [Menschen­ fresser] sind, bewohntes Land. Noch ist das zweite Jahrhundert nicht ver­ flossen, seit die Zivilisation und das milde Licht einer menschenfreundlicheren Religion an die Gestade dieser altertümlichen, von der Natur gegrabenen Ka­ näle gelangt sind; aber viel früher schon, ehe noch Landbau und Tauschver­ kehr unter den zerstreuten, oft feindseligen Stämmen bekannt wurden, hatte sich die Kunde außerordentlicher Erscheinungen, der großen Wasserfälle, der vulkanischen Feuer, des Schnees, welchen die Sommerhitze zu schmelzen nicht vermag, durch eine Menge zufälliger Umstände verbreitet. Auf300 Iieues von der Küste, mitten im südlichenAmerika, bei Völkern, deren Wanderungen keine drei Tagereisen betragen, findet sich eine Kunde vom Weltmeer und von Namen, welche eine unübersehbare Masse von Salzwasser bezeichnen. Ver­ schiedene im Leben der Wilden sich wiederholende Vorfälle helfen diese An­ gaben verbreiten. lnfolge der kleinen Kriege, welche benachbarte Stämme un­ tereinander bestehen, wird ein Gefangener in fremdes Land abgeliefert, wo er als poito oder mero, das heißt als Sklave behandelt, öfters verkauft und in neue Treffen geführt wird; er findet Gelegenheit zur Flucht und kehrt zu seinem Stamm zurück; diesem gibt er Bericht von dem, was er gesehen hat und was er unter denen, deren Sprache zu lernen er gezwungen war, erzählen hörte; so ge­ schieht es dann, daß man bei der Entdeckung eines Küstenlandes, wenn man eine Rippe findet, von den großen Tieren des Landesinneren sprechen hört; so geschieht es, daß man beim Eintritt in das Tal eines großen Stromes überrascht ist, die Wilden, obgleich sie keine Schiffahrt treiben, von entfernten Gegen­ ständen unterrichtet zu finden. Bei sich herausbildenden Gesellschaften geht der Ideentausch, bis zu einem gewissen Punkt, dem Tausch der Erzeugnisse voran. Die zwei großen Katarakte des Orinoco, deren Berühmtheit so verbreitet und alt ist, haben sich bei der Passage des Stromes quer durch das Gebirge von la Parima gebildet. Die Eingeborenen nennen sie Mapara und Quit­ tuna; die Missionare aber haben diese Namen in die von Atures und Mai­ pures verwandelt, nach den Bezeichnungen der ersten Stämme, welche in den nächsten Dörfern von ihnen vereinigt wurden. Im Küstenland von Ca­ racas führen die großen Katarakte die einfache Benennung der zwei rau­ da/es (Wasserfälle), ein Name, welcher bedeuten soll, daß die übrigen Was­ serfälle, selbst diejenigen von Camiseta und Carichana, im Vergleich mit den Katarakten von Atures und Maipures keiner Aufmerksamkeit wert sind.

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Diese, zwischen 5 und 6° nördlicher Breite, 100 Iieues westwärts der Cor­ diBeren in Neu-Granada gelegen, sind nicht über 12lieues voneinander ent­ fernt. Es ist befremdlich, daß ihr Dasein d'Anville unbekannt geblieben ist, der auf seiner großen und schönen Karte Süd-Amerikas die unbedeutenden Wasserfälle von Marimara und von San Borja unter den Namen der Kas­ kaden von Carichana und von Tabaje bezeichnet. Die großen Katarakte teilen die christlichen Niederlassungen des spanischen Guayana in zwei un­ gleiche Hälften. Missionen vom unteren Orinoco werden die zwischen dem Raudal von Atures und der Mündung des Stromes liegenden genannt; die Missionen des oberen Orinoco umfassen die zwischen dem Raudal von Mai­ pures und den Bergen des Duida gelegenen Dörfer. Der Lauf des unteren Orinoco, wenn die Krümmungen mit Herrn de la Condamine auf ein Drittel der in gerader Richtung durchlaufenen Entfernungen berechnet werden, be­ trägt 260 Iieues marines; der Lauf des oberen Orinoco, wenn seine Quellen 3° östlich vom Duida angenommen werden, ist 167 Iieues. Jenseits der großen Katarakte fängt ein unbekanntes Land an. Es ist eine zum Teil gebirgige, zum Teil flache Landschaft, welche die sich in den Ama­ zonenstrom und in den Orinoco ergießenden Gewässer gemeinsam umfaßt. Durch die Leichtigkeit ihrer Verbindungen mit dem Rio Negro und dem Gran Para scheint sie mehr noch zu Brasilien als zu den spanischen Kolonien zu gehören. Keiner der Missionare, die den Orinoco vor mir beschrieben haben, die Patres Gumilla, Gili und Caulin, sind über den Raudal von Mai­ pures hinausgekommen. Wenn der letztere die Ortsbeschreibung des oberen Orinoco und des Casiquiare mit einiger Genauigkeit geliefert hat, geschah es doch nur zufolge der Berichte der beim Feldzug von Solano gebrauchten Kriegsleute. Wir haben oberhalb der großen Katarakte längs der Gestade des Orinoco auf einer Ausdehnung von mehr als 100 Iieues drei einsame christliche Niederlassungen angetroffen, und selbst in diesen fanden sich kaum sechs bis acht weiße Menschen, das heißt solche, die von europäischer Herkunft waren. Daß eine derart verödete Landschaft von jeher das klassi­ sche Gebiet der Fabeln und Zauberwelten gewesen ist, darf nicht verwun­ dern. Dahin haben ernste Missionare die Völker versetzt, die das Auge auf der Stirn tragen, einen Hundskopf oder den Mund unter dem Magen haben; hier war es, wo sie alles fanden, was die Alten uns von den Garimanten, Ari­ maspen und Hyperboreern erzählen. Man würde diesen einfältigen und öf­ ters ziemlich rohen Missionaren unrecht tun, wenn man glauben wollte, sie hätten diese ungereimten Märchen selbst erfunden, weil sie diese vielmehr großenteils aus Erzählungen der Indianer geschöpft haben. In den Mis­ sionen, wie zur See, wie im Morgenland und wie überall, wo man Lange­ weile hat, erzählt man gern. Ein Missionar ist von Standes wegen zur Zwei­ felsucht keineswegs geneigt; er behält im Gedächtnis, was die Eingeborenen ihm oftmals erzählt haben, und nach seiner Rückkehr in das zivilisierte

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Europa findet er eine Entschädigung für manche erlittene Beschwerlichkeit in dem Vergnügen, durch Erzählung von Tatsachen Staunen zu erregen, die er aus lebhaften Beschreibungen weit entfernter Dinge gesammelt zu haben glaubt. - Diese Erzählungen der Reisenden und Mönche (cuentos de via­ geras y frailes) werden vollends wunderbarer und unwahrscheinlicher, je weiter man sich von den Wäldern des Orinoco entfernt und den Küsten nä­ hert, wo die Weißen wohnen. Wer in Cumana, in Nueva Barcelona und in an­ deren Seehäfen, die in vielfachem Verkehr mit den Missionen stehen, einigen Unglauben merken läßt, dem wird alsbald mit den kurzen Worten Stillschweigen auferlegt: "Die Väter haben es gesehen, aber weit oberhalb der großen Katarakte, mas arriba de los raudales!" Beim Eintritt in eine so wenig besuchte Landschaft, die auch von denen, die dort waren, nur mangelhaft beschrieben worden ist, vereinen sich meh­ rere Gründe, um mich zu bewegen, die Form eines Tagebuchs für meine Er­ zählung beizubehalten. Der Leser wird dabei leichter unterscheiden, was ich selbst beobachten konnte und was ich nach den Angaben der Missionare und der Eingeborenen erzähle. Er kann den Reisenden auf ihren täglichen Beob­ achtungen folgen, und wenn er die Kürze der ihnen zugemessenen Zeit und die Schwierigkeiten, welche sie besiegen mußten, würdigen will, wird er zu nachsichtiger Beurteilung geneigt sein. Am 15. April [1800] verließen wir die Insel Panumana um vier Uhr mor­ gens, zwei Stunden vor Aufgang der Sonne; der Himmel war großenteils be­ deckt, und Blitze schossen aus dichten Wolken hervor, in mehr als 40° Höhe. Wir wunderten uns, kein Donnern zu hören. Ob die außerordentliche Höhe des Gewitters die Ursache sein mochte? In Europa stellen sich, wie uns schien, die elektrischen Blitze ohne Donner, die man unbestimmt Wetter­ leuchten nennt, meist näher am Horizont dar. Bei bedecktem Himmel, der die Wärmestrahlen der Erde zurücksandte, war die Hitze erstickend, und kein Windehen bewegte das Laub der Bäume. Die Jaguare waren wie ge­ wöhnlich über den Arm des Orinoco gekommen, welcher uns von der Küste trennte, und ihr Geheul ließ sich ganz in der Nähe hören. Die Indianer hatten uns geraten, die Nacht über das Lager zu verlassen und es mit einer öden Hütte zu vertauschen, die zu den conucos [Gärten oder Pflanzungen. Anmerkung des Hrsg.] der Bewohner von Atures gehört; sie wandten die Vorsicht an, den Eingang mit Brettern zu verrammeln, was uns ziemlich überflüssig vorkam. In der Nähe der Katarakte sind die Tiger so zahlreich, daß vor zwei Jahren in denselben conucos von Panumana ein Indianer, der gegen Ende der Regenzeit in seine Hütte zurückkehrte, sie von einem weib­ lichen Tiger mit zwei Jungen besetzt fand. Diese Tiere hatten sich seit meh­ reren Monaten da aufgehalten; es fiel schwer, sie wegzuschaffen und be­ durfte eines ernsten Kampfes, bis der ehemalige Hausherr bei sich selbst ein­ kehren konnte. Die Jaguare halten sich gern in zerfallenem Gemäuer auf,

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und ich meine, daß es für Reisende ratsamer ist, unter freiem Himmel und zwischen zwei Feuern ihr Nachtlager zu wählen, als in unbewohnten Hütten Schutz zu suchen. Bei der Abfahrt von Panumana bemerkten wir auf der Westküste des Stroms die Feuer eines Lagers wilder Guahibos; der uns begleitende Mis­ sionar ließ einige Flintenschüsse blind abfeuern. Es geschehe dies, sagte er, um sie zu schrecken und zum Beweis, daß wir uns zu verteidigen imstande seien. Die Wilden hatten ohne Zweifel keine Kanus und mochten auch wenig Lust haben, uns mitten auf dem Fluß anzugreifen. Bei Sonnenaufgang kamen wir an der Mündung des Rio Anaveni vorüber, der vom östlichen Ge­ birge herabkommt. Gegenwärtig sind seine Gestade unbewohnt; zur Zeit der Jesuiten hatte der Pater Olmos dort ein kleines Dorf von Japuin- oder Jaruro-Indianern gegründet. Die Tageshitze war groß, so daß wir geraume Zeit an einer schattigen Stelle verweilten und mit der Schnur fischten. Die Ausbeute wurde so beträchtlich, daß sie kaum fortgebracht werden konnte. Es war schon sehr spät, als wir am Fuß des großen Katarakts in einer Bucht eintrafen, die der untere Hafen genannt wird, von wo aus wir nicht ohne Mühe bei dunkler Nacht einem Fußpfad folgten, welcher zu der eine Iieue vom Fluß entfernten Mission von Atures führt. Man gelangt dahin über eine mit großen Granitblöcken besetzte Ebene. Das Dörfchen San Juan Nepomuceno de los Atures wurde 1748 von Pater Francisco Gonzalez vom Jesuitenorden gegründet, und es ist flußaufwärts die letzte der christlichen Niederlassungen, welche dem Orden des hl. lgna­ tius ihr Dasein danken. Die südlicheren Niederlassungen auf Atabapo, Casi­ quiare und Rio Negro sind durch Väter des Franziskaner-Ordens gegründet worden. Der Orinoco scheint vormals da geströmt zu sein, wo j etzt das Dorf von Atures steht, und die völlig ebene Savanne, die das Dorf umgibt, ist ohne Zweifel ein Teil des Flußbetts gewesen. Ich habe ostwärts der Mission eine Felsenreihe bemerkt, die das vormalige Ufer des Orinoco gewesen zu sein scheint. Infolge der Ablagerungen von Geschiebe, die auf der Ostseite durch die Bergströme häufiger stattfinden, hat sich der Fluß im Lauf der Zeiten gegen Westen gewandt. Der Katarakt führt, wie schon oben bemerkt wurde, den Namen Mapara, während der Name des Dorfes von der Völker­ schaft der Atures abstammt, die mittlerweile ausgestorben zu sein scheint. Ich finde auf Karten des 17. Jahrhunderts "Insel und Kataract von Athule"; es ist dies das Wort Atures, nach der Aussprache der Tamanaken, welche wie viele andere Völker die Mitlaute 1 und r verwechseln. Noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts war dieses Bergland in Buropa so wenig bekannt, daß d'An­ ville in einer ersten Ausgabe seines >Amerique Meridionale< nahe beim Salto de los Atures vom Orinoco einen Arm ausgehen läßt, der sich in den Amazonenstrom ergießt und den er Rio Negro nennt. Auf den alten Karten wie auch im Werk des Pater Gumilla wird die Mis-

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sion bei 1 o 30' Breite bezeichnet; der Abbe Gili gibt sie zu 3° 50' an. Ich fand nach Meridianhöhen von Canopus und von Alpha des südlichen Kreuzes

5° 38' 4" Breite und durch Zeitübertragung 4St. 41' 17"westlicher Länge vom Pariser Meridian. Die Inklination der Magnetnadel war am 16. April 32,2SO

(der hundertteiligen Skala) .

Die Intensität der Kraft drückte sich in 10' Zeit

mit 223 Schwingungen aus, während sie in Paris 245 Schwingungen betrug. Die kleine Mission fanden wir im traurigsten Zustand. Zur Zeit der Grenzexpedition Solanos enthielt sie noch 320 Indianer. Bei unserer Passage der Katarakte hatte sich ihre Zahl auf 47 vermindert, und der Missionar ver­ sicherte uns, die Abnahme werde von Jahr zu Jahr größer. Er bemerkte, daß das Kirchenbuch der Gemeinde innerhalb 32 Monaten nur eine einzige Ehe verzeichnet habe; zwei andere Ehen von nicht katechisierten Eingeborenen waren vor dem indianischen gobernador geschlossen worden, um, wie wir in Buropa sagen, dem bürgerlichen Rechtszustand zu entsprechen. Zur Zeit der Stiftung der Mission hatte man Indianer von den Stämmen der Atures, Maipures, Meyepures, Abanis und Quirupas darin vereinigt. Statt dieser fanden wir nur noch Guahibos und einige Familien vom Stamm der Macos. Die Atures sind fast ganz verschwunden; man kennt sie nur noch aus den Gräbern der Höhle von Ataruipe, welche an die Grabstätten der Guanchen auf Teneriffa erinnert. Wir haben im Land selbst vernommen, daß die Atures, neben den Quaquas und den Macos oder Piaroas, zum großen Stamm der Salivas gehören, während die Maipures, die Abanis, die Parenis und die Guaypuftaves mit den durch ihre langen, gegen die Cariben ge­ führten Kriege berühmten Cabres oder Caveres eine gemeinsame Herkunft haben. In diesem Wirrwarr kleiner Völkerschaften, die untereinander ebenso unterteilt sind wie vormals die Völker von Latium, Klein-Asien und Sogdiana, können nur einige allgemeine Beziehungen durch Analogie der Sprachen erfaßt werden. Diese bilden die einzigen Denkmäler, welche von den ältesten Zeiten der Welt bis auf uns gekommen sind; sie sind auch die einzigen, die, ohne dem Boden anzugehören, beweglich und ausdauernd zu­ gleich, sozusagen Zeit und Raum durchwandert haben. Sie verdanken ihre Dauer und Verbreitung viel weniger den erobernden und zivilisierten Völ­ kern als den unsteten und halbwilden Stämmen, welche, vor einem mäch­ tigen Feind fliehend, nichts anderes mit sich führen als ihre große Not, ihre Frauen, ihre Kinder und ihre ererbte Sprache. Zwischen dem 4. und 8. Breitengrad trennt der Orinoco nicht nur den großen Wald von Parima von den nackten Savannen des Apure, des Meta und des Guaviare; er bildet auch die Grenze zwischen Horden von sehr ver­ schiedenen Sitten und Lebensweisen. Im Westen ziehen auf baumlosen Ebenen umher die Guahibos, die Chiricoas und die Guamos, schmutzig ekelhafte Völker, die, auf ihre wilde Unabhängigkeit stolz, an feste Wohn­ sitze oder regelmäßiges Arbeiten nicht leicht gewöhnt werden können. Die

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spanischen Missionare haben sie recht gut mit den Namen indios andantes (stets wandernde, herumstreichende Indianer) bezeichnet. Östlich des Ori­ noco, zwischen den nahe beisammenliegenden Quellen des Caura, des Cata­ niapo und des Ventuari, leben die Macos, die Salivas, die Curacicanas, die Parecas und die Maquiritares, sanfte und ruhige Völker, die Ackerbau treiben und sich leicht der Zucht der Missionen unterwerfen. Der Indianer der Ebenen unterscheidet sich vom Indianer der Wälder durch Sprache wie durch Lebensart und Geisteskräfte; beide haben eine an lebhaften und kühnen Wendungen reiche Sprache; aber bei den zuerst genannten ist sie rauher, gedrängter und leidenschaftlicher; bei den anderen ist sie sanfter, weitschweifiger und besitzt viel mehr abgeleitete Ausdrücke. Die Mission von Atures, welche wie die meisten Missionen am Orinoco zwischen den Mündungen des Apure und des Atabapo gelegen ist, besteht gleichmäßig aus beiden Abteilungen der eben beschriebenen Stämme, und man findet dort Indianer der Wälder sowohl wie vormalige Nomaden-In­ dianer, indios monteros und indios llaneros oder andantes. Wir besuchten in Gesellschaft des Missionars die Hütten der Macos, von den Spaniern Pi­ raoas genannt, und die der Guahibos. Die ersten verraten mehr Ordnungs­ geist, Reinlichkeit und Wohlstand. Die unabhängigen Macos (ich möchte sie nicht Wilde nennen) haben ihre rockelas oder bleibenden Wohnungen zwei bis drei Tagesreisen östlich von Atures bei den Quellen des kleinen Flusses Cataniapo. Sie sind zahlreich und pflanzen, gleich den meisten Eingebo­ renen der Wälder, nicht Mais, sondern Manioc. Mit den christlichen India­ nern der Mission leben sie in friedlichem Einverständnis. Dieses gute Ein­ vernehmen hat der Franziskaner Patro Bernardo Zeo gestiftet und klug un­ terhalten. Der Aleaide der unterworfenen Macos nahm alljährlich für ein paar Monate mit Bewilligung des Missionars seinen Aufenthalt außerhalb des Dorfes Atures auf den Pflanzungen, die er mitten in den Wäldern nahe den Wohnungen der unabhängigen Macos besaß. Infolge dieser friedlichen Annäherungen haben sich kürzlich mehrere indios monteros in der Mission niedergelassen. Sie verlangten dringend Messer, Fischangeln und jene far­ bigen Glasperlen, welche trotz des ausdrücklichen Verbots der Ordens­ männer nicht als Halsbänder, sondern als Schmuck des Guayuco fperizoma =

Gürtel] gebraucht werden. Nachdem sie das Gewünschte erhalten hatten,

waren sie die Lebensweise in der Mission bald satt und kehrten in ihre Wälder zurück. Epidemische Fieber, die beim Eintritt der Regenzeit wüten, trugen zu der unerwarteten Flucht wesentlich bei. 1799 trat eine große Sterb­ lichkeit in Carichana, an den Ufern des Meta und im Raudal vonAtures ein. Der Indianer der Wälder verabscheut das Leben der zivilisierten Menschen, sobald seiner in der Mission angesiedelten Familie, ich will nicht sagen, ein Unglück, sondern nur irgendein widriges und unerwartetes Ereignis zu­ stößt. Man hat die Erfahrung gemacht, daß Neubekehrte der Eingeborenen

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die christlichen Niederlassungen einer großen Trockenheit wegen auf immer verlassen haben, als ob diese Drangsale ihre Pflanzungen nicht ebenso ge­ troffen hätten, wenn sie in der ursprünglichen Unabhängigkeit geblieben wären. Die Ursachen dieser Fieber, die einen großen Teil des Jahres in den Dör­ fern von Atures und Maipures an den zwei großen Katarakten des Orinoco herrschen und diese Gegenden für europäische Reisende so gefährlich ma­ chen, müssen in der Vereinigung eines sehr hohen Hitzegrades mit einer überaus feuchten Atmosphäre, in schlechter Nahrung und, nach der Mei­ nung der Eingeborenen, in giftigen Ausdünstungen der nackten Felsen­ wände der rauda/es gesucht werden. Wir fanden diese Fieberkrankheiten am Orinoco denen völlig ähnlich, welche alljährlich, zwischen Nueva Barce­ lona, la Guaira und Puerto Cabello in Meeresnähe vorkommen; sie arten öf­ ters in Faulfieber aus. "Ich habe mein kleines Fieber (mi calenturita) erst seit acht Monaten", sagte der gute Missionar, welcher uns an den Rio Negro be­ gleitete. Er sprach davon wie von einer gewohnten und leicht erträglichen Mühe. Die Anfälle waren heftig, aber von kurzer Dauer; sie befielen ihn das eine Mal, als er auf einem aus Baumästen geflochtenen Gitter in der Piroge lagerte, das andere Mal, als er am Gestade den heißeren Sonnenstrahlen ausgesetzt war. Diese dreitägigen Fieber sind von großer Schwäche des Mus­ kelsystems begleitet; jedoch finden sich am Orinoco arme Ordensmänner, die mehrere Jahre diesen

calenturitas

oder

tercianas

widerstehen, und ihre

Wirkungen sind weniger verderblich als die, welche man in gemäßigten Kli­ maten als Fieber einer geringeren Dauer erleidet.

[Über die schwarze Rinde des Granits} Ich habe soeben den schädlichen Einfluß erwähnt, den die Eingeborenen und selbst die Missionare den nackten Felsen auf die gesunde Beschaffen­ heit der Atmosphäre zuschreiben. Diese Meinung verdient um so mehr Auf­ merksamkeit, als sie sich auf eine physische Erscheinung bezieht, die in ver­ schiedenen Weltgegenden beobachtet wird und noch keineswegs befriedi­ gend erklärt ist. In den Katarakten und überall, wo der Orinoco zwischen den Missionen von Carichana und Santa Barbara periodisch die Granit­ felsen bespült, zeigen diese sich glänzend, schwarz und wie mit Reißblei überzogen. Der farbige Stoff dringt nicht in den Stein ein, welcher ein grob­ körniger Granit ist, der einzelne Kristalle von Hornblende enthält. Aus der Gesamtübersicht der Urgebirgsformation von Atures geht hervor, daß sie wie der Granit von Syene in Ägypten ein Granit mit Hornblende, nicht aber eine wahre Syenitbildung ist. Viele Schichten enthalten überhaupt keine Hornblende. Der schwarze Überzug ist 3fto einer Linie dicht und wird na-

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mentlich auf den Quarzteilen angetroffen; die Feldspatkristalle haben zu­ weilen äußerlich ihre weißrötliche Farbe behalten und stehen aus der schwarzen Rinde hervor. Zerschlägt man den Stein mit dem Hammer, zeigt er sich innerlich gut erhalten, weiß, ohne Spur von Zersetzung. Diese unge­ heuren Steinmassen stellen sich bald in Würfelform dar, bald in der halbku­ gelförmigen Gestalt, die den Granitfelsen eigen ist, wenn sie sich in Blöcke trennen. Der Landschaft verleihen sie ein sonderbar trauriges Ansehen, und ihre Farbe bildet einen eigentümlichen Kontrast mit dem Schaum des sie be­ spülenden Flusses und mit dem sie umgebenden Pfianzenwuchs. Die In­ dianer sagen, diese Felsen seien "durch die Sonnenstrahlen verbrannt oder verkohlt". Wir haben sie nicht nur im Flußbett des Orinoco, sondern an einigen Stellen bis auf 500 Toisen vom gegenwärtigen Ufer entfernt in Höhen wahrgenommen, welche heutzutage auch beim höchsten Wasser­ stand von den Stromwellen nicht mehr erreicht werden. Was ist diese schwarzbräunliche Rinde, welche diesem Gestein, wenn es kugelförmige Gestalt annimmt, das Aussehen von Meteorsteinen gibt? Wie soll man sich die Wirkung des Wassers erklären, das einen solchen Nieder­ schlag oder eine so außerordentliche Farbenänderung hervorbringt? Zu­ nächst verdient Aufmerksamkeit, daß diese Erscheinung keineswegs aus­ schließlich den Katarakten des Orinoco angehört, sondern vielmehr in beiden Hemisphären angetroffen wird. Als ich bei meiner Rückkehr aus Me­ xico 1807 die Granite von Atures und Maipures dem Herrn Roziere zeigte, welcher das Tal von Ägypten, die Küsten des Roten Meeres und den Berg Sinai bereist hat, sah ich bei diesem gelehrten Geologen, daß das Urgestein der kleinen Katarakte von Syene wie die Felsen des Orinoco eine glänzende grauschwarze, fast bleiartige Oberfläche darstellt, die in einzelnen Bruch­ stücken wie mit Teer überzogen aussieht. Neuerlich noch, auf der unglückli­ chen Reise des Kapitäns Tuckey, haben die britischen Naturforscher die gleiche auffallende Erscheinung in den Yellalas (Strömungen und Klippen ) , welche den Kongo oder Zaire-Strom hemmen, bemerkt. Der Doktor König hat im Britischen Museum den Syeniten vom Kongo die Granite von Atures zur Seite gestellt, welche einer Sammlung von Fossilien enthoben sind, die Herr Bonpland und ich dem berühmten Vorsteher der Royal Society in London überreicht hatten. "Es sind diese Bruchstücke", sagt Herr König, "gleichmäßig den Meteorsteinen ähnlich; an den Felsstücken vom Orinoco wie an den afrikanischen besteht die schwarze Rinde nach Herrn Childrens Analyse aus Eisenoxid und ManganmetalL" Einige gemeinsam mit Herrn del Rio in Mexico angestellte Versuche hatten mich glauben lassen, die Felsen von Atures, die das Papier, worin ihre Bruchstücke gewickelt sind, schwarz färben, dürften außer dem Manganoxid Kohlenstoff und über­ kohltes Eisen enthalten. Am Orinoco finden sich 40 bis 50 Fuß dichte Granit­ massen mit diesen Oxiden gleichmäßig überzogen; und wie dünn auch ihre

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Rinde erscheint, so enthalten sie doch bei der Ausdehnung von mehr als einer Quadratlieue eine nicht unbedeutende Menge von Eisen- und Mangan­ metall. Bemerkenswert ist, daß alle diese Erscheinungen der Farbenänderung bisher nur in der heißen Zone angetroffen worden sind, in Strömen, deren Höhe ein periodisches Steigen durchmacht, deren gewöhnliche Temperatur

24 bis 28° beträgt und die nicht über Sandstein oder Kalkstein, sondern über Granit-, Gneis- und Hornblendegestein fließen. Der Quarz und der Feld­ spat enthalten kaum fünf bis sechs Tausendstel Eisen- und Manganoxid; aber im Glimmer und in der Hornblende betragen diese Oxide, vorzüglich das Eisenoxid, nach Klaproth und Herrmann bis zu 15 und 20%. Die Horn­ blende enthält Kohlenstoff, so wie der Lydische Stein und der Kiesel­ schiefer. Wenn sich nun aber diese schwarzen Rinden durch eine langsame Zersetzung des Granitfelsens, unter dem doppelten Einfluß der Feuchtig­ keit und der Hitze des Tropenhimmels bilden sollten, wie will man erklären, daß sich diese Oxide so gleichförmig über die ganze Steinmasse verbreiten, daß sie um einen Kristall von Glimmer oder Hornblende nicht stärker ange­ troffen werden als auf dem Feldspat und dem milchigen Quarz? Die eisen­ haltigen Sandsteine, die Granite, die Marmorsteine, welche in der feuchten Luft aschfarbig, zuweilen braun werden, haben ein ganz verschiedenes Aus­ sehen. Beim Nachdenken über den Glanz und die gleichartige Dichte dieser Rinden wird man eher geneigt, anzunehmen, darin stelle sich Niederschlag vom Orinoco dar, dessen Gewässer bis in die Felsspalten gedrungen sind. Will man von dieser Hypothese ausgehen, fragt es sich, ob der Fluß die Oxide, gleich dem Sand und anderen erdigen Substanzen, nur beigemengt oder aber in einem Zustand chemischer Auflösung enthält. Das erstere ist weniger wahrscheinlich wegen der Gleichartigkeit der Krusten, die weder Sandkörner noch Glimmerblättchen, den Oxiden beigemischt, enthalten. Man ist daher genötigt, die Idee einer chemischen Auflösung anzunehmen, und diese steht in keinerlei Widerspruch zu Erscheinungen, welche wir täg­ lich in unseren Laboratorien beobachten können. Die Gewässer der großen Flüsse enthalten Kohlensäure; und wären sie auch völlig rein, würden sie dennoch fähig sein, in sehr großen Massen einige Teilchen metallischer Oxide oder Hydrate, die für die schwerauflöslichsten gehalten werden, auf­ zulösen. Der Nilschlamm, welcher ein Niederschlag der dem Flußwasser beige­ mengten Substanzen ist, enthält kein Mangan; hingegen enthält er nach Herrn Regnaults Analyse 6% Eisenoxid, und seine anfangs schwarze Farbe verwandelt sich durch Abtrocknung und Einwirkung der Luft in eine braun­ gelbe. Demnach kann dieser Schlamm die Ursache der schwarzen Kruste des Felsen von Syene nicht sein. Herr Berzelius hat auf mein Ersuchen eine Prüfung dieser Rinden vorgenommen, woraus sich, wie in denen der Granit-

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felsen vom Orinoco und Kongo, die Vereinigung von Eisen und Mangan ergab. Dieser berühmte Chemiker vermutet, die Ströme erhielten die Oxide nicht aus dem Bett, worin sie fließen, sondern vielmehr aus ihren unterirdi­ schen Quellen; und ihr Niederschlag geschähe wie durch Zementieren in­ folge eines Spiels von Wahlverwandtschaften, vielleicht durch die Pottasche des Feldspats. Ein langer Aufenthalt bei den Katarakten des Orinoco, des Nils und des Kongo, eine Prüfung der Umstände, welche die Erscheinung dieser Färbung begleiten, können allein die befriedigende Lösung der hier behandelten Aufgabe herbeiführen. Ist die Erscheinung von der Natur der Felsen unabhängig? Ich will nur im allgemeinen bemerken, daß weder die vom alten Bett des Orinoco entfernten Granitmassen, obgleich sie die Re­ genzeit über dem wechselnden Einfluß von Hitze und Feuchtigkeit ausge­ setzt sind, noch die von den bräunlichen Fluten des Rfo Negro bespülten Granitfelsen ein Aussehen von Meteorsteinen erhalten. Die Indianer sagen, die Felsen seien nur da schwarz, wo das Wasser weiß ist. Sie sollten vielleicht hinzusetzen: "wo das Wasser einen hinlänglich schnellen Lauf hat und gegen die Felsen am Gestade anprellt". Die Zementierung scheint zu erklären, wie es kommt, daß die Rinden so dünn bleiben. Ich weiß nicht, ob die in den Missionen am Orinoco herrschende Meinung grundlos ist, derzufolge die Nähe der nackten Gesteine und besonders die der Massen, die mit einer Rinde von Kohlenstoff, Eisen- und Manganoxid überzogen sind, der Gesundheit schädlich erachtet wird. In der heißen Zone geschieht es noch mehr als sonst, daß das Volk die Ursachen der Krank­ heiten willkürlich vervielfältigt. Man fürchtet sich dort, im Freien zu schlafen, wenn die Strahlen des Vollmonds das Gesicht treffen; ebenso hält man es für gefährlich, auf Granitfelsen in der Nähe des Flusses zu lagern; und es werden viele Beispiele von Personen erzählt, die von einem Nacht­ lager auf diesen schwarzen und nackten Felsen am Morgen mit einem hef­ tigen Fieberanfall erwacht seien. Ohne dieser Behauptung der Missionare und der Eingeborenen unbedingt Glauben beizumessen, haben wir doch die

lajas negras [Kolonialspanisch: schwarze Steinplatten. Anmerkung des Hrsg.] vermieden und unser Nachtlager auf mit weißem Sand bedeckten Uferstellen gewählt, wenn keine Bäume zur Befestigung unserer Hänge­ matten vorhanden waren. In Carichana will man das Dorf zerstören und an eine andere Stelle versetzen, einzig in der Absicht, um es von den schwarzen Felsen zu entfernen, aus einer Gegend, wo im Umfang von mehr als 10000 Quadrattoisen nackte Granitlagen die Oberfläche des Bodens bilden. Aus ähnlichen Gründen, welche den europäischen Naturforschern grillenhaft vorkommen müssen, haben die Jesuitenpatres Olmo, Forneri und Mellis eine Dorfschaft von Jaruros an drei verschiedenen Stellen zwischen dem Raudal von Tabaje und dem Rio Anaveni versetzt. Ich glaubte diese Tat­ sachen erzählen zu sollen, wie sie zu meiner Kenntnis gelangt sind, weil wir

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noch so gut wie völlig unbekannt mit der Natur jener Gasmischungen sind, welche die ungesunde Beschaffenheit der Atmosphäre begründen. Ist es wahrscheinlich, daß unter dem Einfluß einer sehr großen Hitze und andau­ ernder Feuchtigkeit die schwarzen Rinden der Granitfelsen auf die umge­ bende Luft wirken und Miasmen, deren Bestandteile Kohlenstoff, Stickstoff und Wasserstoff sind, erzeugen könnten? Ich zweifle daran. Die Granit­ felsen am Orinoco enthalten allerdings öfters Hornblende, und wer die Ar­ beiten in Bergwerken aus Erfahrung kennt, der weiß, daß die schlimmsten Schwaden in den durch Syenit- und Hornblendefelsen gehauenen Stollen er­ zeugt werden. Aber in einer jeden Augenblick durch die Wirkung kleiner Luftströmungen erneuerten Atmosphäre kann die Wirkung unmöglich der in einem Bergwerke gleichkommen. Die Gefahr des Nachtlagers auf den

lajas negras

beruht vermutlich eher

auf dem beträchtlichen Wärmegrad, welchen diese Felsen auch die Nacht über beibehalten. Ich habe diese Temperatur bei Tag 48° gefunden, während die Luft im Schatten rende T hermometer

29,7° zeigt, zur Nachtzeit 36°, während die Luft 26a

wies das den Felsen berüh­ zeigte. Wenn die Ansamm­

lung der Wärme in den Steinmassen einen stationären Grad erreicht hat, kehren diese zu den gleichen Tageszeiten auch ungefähr auf die gleichen Temperaturen zurück. Den Zuwachs, welchen sie tagsüber erhalten, ver­ lieren sie nachts durch die Strahlung, deren Stärke von der Beschaffenheit der Oberfläche der strahlenden Körper, vom inneren Zusammenhang ihrer Teilchen, hauptsächlich aber von der Reinheit des Himmels, das heißt von der Durchsichtigkeit der Atmosphäre und dem Nichtvorhandensein der Wolken abhängt. Wenn die Deklination der Sonne nur wenig verschieden ist, begründet dieses Gestirn einen ungefähr gleichen alltäglichen Wärme­ grad, und die Felsen sind am Ende des Sommers nicht heißer als in seiner Mitte. Es gibt ein Maximum, welches sie nicht übersteigen können, weil weder die Beschaffenheit ihrer Oberfläche noch ihre Dichte, noch ihre Ka­ pazität für den Wärmestoff sich verändert haben. Wenn man an den Ge­ staden des Orinoco nachts seine Hängematte verläßt und mit nackten Füßen die felsige Oberfläche des Bodens berührt, fühlt man eine sehr empfindliche Wärme. Ich habe die ziemlich beständige Beobachtung gemacht, daß (wenn die Kugel des T hermometers mit den nackten Felsenlagen in Berührung ge­ bracht wird), die

lajas negras

bei Tage wärmer sind als die vom Ufer ent­

fernten weißrötlichen Granitfelsen, daß hingegen diese letzteren zur Nacht­ zeit weniger schnell erkalten als die ersteren. Es ist leicht zu begreifen, daß der Abgang und Verlust des Wärmestoffs in Massen mit schwarzen Krusten schneller als in solchen erfolgt, die viele Blättchen von Silberfarbenern Glimmer enthalten. Wenn man zwischen 1 und

3

Uhr nachmittags in Cari­

chana, in Atures oder in Maipures zwischen den von aller Pflanzenerde ent­ blößten und hochaufgetürmten Felsblöcken herumwandert, fühlt man eine

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erstickende Glut wie vor der Öffnung eines Schmelzofens. Die Winde (wenn je solche in diesen waldigen Landschaften verspürt werden) bringen statt der Kühlung einen vermehrten Hitzegrad, wenn sie über die Felsenlagen und an­ gehäuften Granitkugeln gestrichen sind. Dieser Zuwachs von Hitze ver­ stärkt die ungesunde klimatische Beschaffenheit.

[Ursachen der Entvölkerung] Ich habe unter den Ursachen der Entvölkerung der raudales die Blattern nicht erwähnt, welche in anderen amerikanischen Landschaften so grau­ same Verheerungen anrichten, daß die Eingeborenen vor Entsetzen darüber ihre Hütten verbrennen, ihre Kinder umbringen und auf alle Kontakte ver­ zichten. Diese Seuche ist an den Gestaden des oberen Orinoco fast unbe­ kannt, und wenn sie je dahin dringen sollte, darf man hoffen, daß ihre Wir­ kungen durch die Kuhpockenimpfung alsbald gehemmt werden würden, deren wohltätige Kraft sich längs den Küsten der Tierra Firme täglich er­ probt. Die Entvölkerung der christlichen Ansiedlungen beruht auf der Ab­ neigung der Indianer gegen die Lebensweise der Missionen, auf dem unge­ sunden, zugleich heißen und feuchten Klima, auf der schlechten Nahrung, der mangelhaften Pflege bei Krankheiten neugeborener Kinder und der strafbaren Gewohnheit der Mütter, durch Anwendung von Giftpflanzen ihre Schwangerschaft zu verhindern. Unter den wilden Volksstämmen Guayanas wie bei den halbzivilisierten Insulanern der Südsee gibt es viele junge Frauen, die nicht Mutter sein wollen. Wenn sie Kinder haben, sind diese nicht nur den Gefahren des wilden Lebens, sondern noch anderen ausge­ setzt, die von den ungereimtesten Volksvorurteilen herrühren. Sind es Zwil­ lingskinder, so verlangen falsche Begriffe von Anstand und Familienehre, daß eines derselben umkomme. "Zwillinge zur Welt bringen, hieße, sich dem allgemeinen Gespött aussetzen, den Ratten, Beuteltieren und den ver­ ächtlichsten Tieren gleich werden, die viele Junge miteinander werfen." Vollends dann aber: "Zwei gleichzeitig geborene Kinder können nicht dem­ selben Vater angehören." So lautet ein Grundsatz der Physiologie der Sa­ livas-Indianer; und unter allen Zonen, in allen Ständen der Gesellschaft: Wenn das Volk sich einen Grundsatz zu eigen gemacht hat, hält es daran fester als die unterrichteten Männer, welche ihn zuerst aufgestellt hatten. Um die Störung des Hausfriedens zu verhüten, übernehmen es alte Frauen aus der Verwandtschaft der Mutter oder die mure japoic-nei (Hebammen), eines der Zwillingskinder auf die Seite zu schaffen. Hat ein Neugeborener, ohne ein Zwillingskind zu sein, irgendeine natürliche Mißbildung, wird er vom Vater sogleich umgebracht. Man will nur starke und wohlgebildete Kinder haben, weil Mißgestalten einen Einfluß des bösen Geistes Jolo-

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quiamo oder des Vogels Tikitiki, der dem Menschen feindselig ist, andeuten. Gleiches Los trifft zuweilen auch die sehr schwächlichen Kinder. Fragt man einen Vater, was aus seinem Sohn geworden ist, so will er glauben machen, derselbe sei eines natürlichen Todes gestorben. Er leugnet eine Handlung, die er für tadelnswert, nicht aber für strafbar hält. "Das arme mure [Kind]", sagt er, "konnte uns nicht nachkommen: man hätte es alle Augenblicke ver­ sorgen müssen; man hat es nicht mehr gesehen, es ist beim Lager, wo wir übernachteten, nicht eingetroffen." So sind Unschuld, Sitteneinfalt und das gepriesene Glück des Menschen in seinem Naturzustand beschaffen. Man bringt sein Kind um, damit man nicht durch Zwillinge lächerlich werde, um schneller fortzukommen und um sich nicht eine kleine Beschwerde auf­ zuerlegen. Diese Grausamkeiten sind weniger häufig als man denkt, jedoch werden sie in den Missionen wahrgenommen zur Zeit, wo die Indianer das Dorf ver­ lassen, um sich in die

conucos

der benachbarten Wälder zu begeben. Man

würde sie irrigerweise der Vielweiberei bezichtigen, in der die nicht-katechi­ sierten Indianer leben. Die Vielweiberei vermindert das häusliche Glück und den inneren Frieden der Familien; dagegen hindert diese vom Ismai­ lismus gebilligte Sitte die Morgenländer keineswegs, ihre Kinder zärtlich zu lieben. Bei den Indianern am Orinoco kommt der Vater nur nach Hause, um zu essen und in seiner Hängematte zu schlafen; er liebkost weder seine kleinen Kinder noch seine Frauen, die er wie Dienstmägde behandelt. Die väterliche Zuneigung zeigt sich erst dann, wenn der Sohn stark genug ge­ worden ist, um an der Jagd, am Fischfang und am Landbau in den Pflan­ zungen teilzunehmen. Wenn die schändliche Gewohnheit des Abtreihens mittels Getränken die Zahl der Geburten mindert, sind jene doch der Gesundheit nicht in dem Maß schädlich, daß junge Frauen in vorgerückterem Alter zum Kinderge­ bären dadurch unfähig würden. Diese in physiologischer Hinsicht merkwür­ dige Erscheinung ist längst den Missions-Mönchen bekannt. Der Jesuit Gili, der während fünfzehn Jahren die Indianer am Orinoco im Beichtstuhl ge­ hört hat und sich rühmt "i segreti delle donne maritate" zu kennen, drückt sich darüber sehr treuherzig aus: "In Europa", sagt er, "scheuen verehe­ lichte Frauen die Niederkünfte, weil sie nicht wissen, womit sie die Kinder nähren, kleiden und aussteuern sollen. Den Frauen am Orinoco sind diese Sorgen völlig unbekannt. Sie wählen sich die Zeit fürs Mutterwerden nach zwei einander ganz entgegenstehenden Systemen, je nach den Vorstel­ lungen, welche sie über die Erhaltungsmittel der Gesundheit und Schönheit hegen. Die einen behaupten nämlich, und dies ist die herrschende Meinung, es sei besser, das Kindergebären später anzufangen, um in den ersten Jahren der Ehe ungestört häusliche und landwirtschaftliche Arbeiten verrichten zu können. Andere hingegen glauben, durch frühe Niederkünfte ihre Gesund-

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heit zu stärken und ein glücklicheres Alter zu erreichen. Je nachdem die In­ dianerinnen dem einen oder anderen Grundsatz huldigen, werden die ab­ treibenden Mittel zu verschiedenen Zeiten angewandt." Beim Nachdenken über diese selbstsüchtigen Berechnungen der Wilden fühlt man sich geneigt, den zivilisierten Europäern Glück zu wünschen, daß ihnen bis dahin diese, dem Anschein nach der Gesundheit nicht sehr schädlichen abtreibenden Mittel unbekannt geblieben sind. Ihr Bekanntwerden dürfte vielleicht die Sittenverderbnis in Städten, wo ein Viertel der neugeborenen Kinder von den Eltern verlassen wird, noch vermehren. Indessen könnte es auch leicht geschehen, daß in unseren Klimaten die neuen Abtreibungsmittel nicht weniger gefährlich gefunden würden als die Sabina [eine südeuropäische

Wacholderart] , die Aloe und die essentiellen Zimt- und Gewürznelkenöle sich für diese Verwendung gezeigt haben. Die robuste Constitution des Wilden, bei dem die verschiedenen Systeme voneinander unabhängiger sind, widersteht dem Mißbrauch der Stimulantien und der Anwendung zer­ störender Mittel besser und länger als die schwache Constitution des zivili­ sierten Menschen. Ich glaubte, bei diesen sehr wenig erfreulichen pathologi­ schen Angaben verweilen zu sollen, weil sie Aufschluß über einige der Ursa­ chen geben, die im verwilderten Zustand unserer Art wie auf hoher Stufe der Zivilisation die Vermehrung der Bevölkerung beinahe unmerklich ma­ chen. Den bisher angeführten gesellen sich noch andere Ursachen von ganz ver­ schiedener Beschaffenheit bei. In dem zu Nueva Barcelona errichteten Kol­ legium der Missionen von Pfritu ist bemerkt worden, daß in den an Ufern lie­ genden Dörfern auffallend weniger Geburten vorkommen als in sehr trok­ kenen Gegenden. Die Gewohnheit der indianischen Frauen, sich mehrmals am Tage zu baden, vor Aufgang und nach Untergang der Sonne, wenn die Luft am kältesten ist, scheint schwächend auf ihre Gesundheit zu wirken. Der Pater Guardian der Franciskaner war bestürzt über die schnelle Ent­ völkerung zweier in der Nähe der Katarakte gelegenen Dörfer und hatte vor etlichen Jahren dem in Angostura residierenden Gouverneur der Provinz vorgeschlagen, die Indianer durch Neger zu ersetzen. Die Erfahrung zeigt, daß der afrikanische Völkerstamm das heiße und feuchte Klima ausneh­ mend gut verträgt. Eine Kolonie freier Neger gedeiht vortrefflich an den un­ gesunden Ufern des Caura, in der Mission von San Luis Guaraguaraico, wo sie die reichsten Maisernten erzielen. Der Pater Guardian wollte einen Teil der schwarzen Kolonisten nach den Katarakten verpflanzen oder auf den Antillen Sklaven kaufen und ihnen, wie dies am Rio Caura geschieht, flüch­ tige Neger von Essequibo beigesellen. Wahrscheinlich wäre die Ausführung dieses Plans von glücklichem Erfolg begleitet gewesen. Er konnte für eine Nachahmung im kleinen der Niederlassung in Sierra Leone gelten; und die dadurch bezweckte Verbesserung des Schicksals der Neger hätte das Chri-

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stentum seiner ursprünglichen Bestimmung, die Freiheit und Wohlfahrt der unteren Volksklassen zu fördern, wieder genähert. Ein übel verstandenes Mitleid hinderte die Ausführung. Der Statthalter antwortete den Mönchen, weil man die Erhaltung des Lebens der Neger so wenig wie die der Indianer verbürgen könne, wäre es ungerecht, jene zum Aufenthalt in den Dörfern der Katarakte zu zwingen. Gegenwärtig beruht die Erhaltung dieser Mission gleichsam auf zwei Guahibos- und Macos-Familien, den einzigen, bei denen man einige Spuren von Zivilisation findet und eine Neigung zu bleibender Ansiedlung. Wenn diese Haushaltungen aussterben, werden die übrigen In­ dianer, welche jetzt schon des Lebens in den Missionen überdrüssig sind, den Pater Zea verlassen; und an einer Stelle, die als der Eingang zum Ori­ noco betrachtet werden kann, finden dann die Reisenden keine Hilfe mehr und keine Piloten zur Überfahrt bei den Wasserfällen. Die Verbindung zwi­ schen dem Fort am Rio Negro und der Hauptstadt von Angostura wird, wo nicht völlig unterbrochen, doch wenigstens sehr erschwert sein, weil es einer genauen Kenntnis der Örtlichkeit bedarf, um sich in das Klippen- und Felsenlabyrinth zu wagen, womit das Strombett in der Nähe von Atures und Maipures angefüllt ist. *

Während unsere Piroge entladen wurde, konnten wir überall, wo das Ufer zugänglich war, das furchtbare Schauspiel eines verengten und gleichsam in Schaum verwandelten großen Stromes in der Nähe betrachten. Ich will ver­ suchen, nicht unsere Empfindungen, sondern das Bild einer unter den Land­ schaften der Neuen Welt so berühmten Gegend zu zeichnen. Je majestäti­ scher und imposanter die Gegenstände sind, desto wichtiger ist es, sie in ihren kleinsten Einzelheiten zu erfassen, die Umrisse des Gemäldes, wel­ ches der Phantasie des Lesers dargeboten werden soll, richtig anzugeben und das Charakteristische der großen und unvergänglichen Denkmäler der Natur einfach darzustellen. Von der Mündung des Stromes bis zum Einfluß des Anaveni auf einer Länge von

260 Iieues

ist die Fahrt auf dem Orinoco nicht behindert. Zwar

finden sich Klippen und Strudel in der Nähe von Muitaco, in einer Bucht, die den Namen Höllenschlund [Boca del Infierno] führt. Stromschnellen

dalitos)

(rau­

kommen in der Nähe von Carichana und San Borja vor; aber nir­

gends ist das Strombett in diesen Gegenden gesperrt, sondern es bleibt zum Auf- und Abfahren der Schiffe ein offener Kanal. Auf dieser Fahrt auf dem unteren Orinoco besteht die einzige Gefahr, die den Reisenden droht, in den natürlichen Flößen, die sich aus den vom Strom zur Zeit seiner Anschwellungen entwurzelten Bäumen bilden. Wehe den Pi­ rogen, welche nachts an solches Gitterwerk aus Holz und Schlinggewächsen stoßen! Mit Wasserpflanzen überzogen, gleichen sie hier wie auf dem Missis-

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sippi schwimmenden Wiesen, den Chinampas [bzw. schwimmenden Gärten, s. Studienausgabe Bd.III, S.283ff.] der mexicanischen Seen. Wenn die In­ dianer feindliche Horden überfallen wollen, binden sie mehrere Kähne mit Stricken aneinander und bedecken sie mit Gras und Baumästen, um die na­ türlichen Flöße nachzuahmen, die der Orinoco auf seinem Talweg oder der Strömung der Flußmitte herabführt. Die Cariben sollen vormals diese Kriegslist mit gutem Erfolg angewandt haben; heutzutage bedienen sich die spanischen Schmuggler der gleichen List, um der Wachsamkeit der Zoll­ aufseher zu entgehen. Erst jenseits vom Rio Anaveni gelangt man bei der Hinauffahrt des Ori­ noco zwischen den Bergen von Uniana und Sipapu zu den großen Kata­ rakten von Mapara und Quittuna oder, wie die Missionare sich gewöhnlich ausdrücken, zu den rauda/es von Atures und Maipures. Diese von einem Ufer zum anderen sich erstreckenden Sperren haben ein ziemlich gleichför­ miges Aussehen; sie bestehen aus unzähligen Inseln, Steindämmen, aufge­ häuften und mit Palmbäumen bewachsenen Granitblöcken, zwischen denen einer der größten Ströme der Neuen Welt in Schaum zerstiebt. Trotz der gleichförmigen Gestalt hat indes jeder der beiden Wasserfälle seinen eigen­ tümlichen Charakter. Der erste, nördlichere, kann zur Zeit des niedrigen Wasserstands leichter befahren werden; am zweiten, dem von Maipures, ziehen die Indianer die Zeit der großen Hochwasser vor. Oberhalb von Mai­ pures und der Mündung des Cafio Cameji ist der Orinoco wieder ganz frei auf einer Länge von mehr als 167 Iieues, bis nahe an seine Quellen, das heißt bis zum raudalito der Guaharibos, östlich des Cafio Chiguire und der hohen Berge von Yumariquin. Nach dem Besuch der Becken der zwei großen Ströme Orinoco undAma­ zonas war ich außerordentlich von den Unterschieden betroffen, die ihr un­ gleich ausgedehnter Lauf zeigt. DerAmazonenstrom, dessen Länge fast 980 Iieues marines (zwanzig auf den Grad) beträgt, hat seine großen Wasserfälle ziemlich nahe bei seinen Quellen, auf dem ersten Sechstel seiner Länge. Fünf Sechstel seines Laufs sind gänzlich frei. Am Orinoco finden sich die großen Wasserfälle an einer der Schiffahrt viel weniger günstigen Stelle: wenn nicht in der Mitte, doch wenigstens jenseits des ersten Drittels seiner Länge. In beiden Strömen sind es weder die Berge noch die verschiedenen übereinandergelegenen Plateaus, auf denen sie entspringen, welche die Wasserfälle verursachen; es sind vielmehr andere Berge und übereinander­ liegende Höhen, denen die Ströme nach einem langen und ruhigen Lauf be­ gegnen und über die sie sich stufenweise herabstürzen. Der Amazonenstrom bahnt sich seinen Weg nicht quer durch die Haupt­ kette der Anden, wie zu einer Zeit behauptet worden ist, wo man willkürlich angenommen hatte, daß überall, wo die Berge in parallele Ketten abgeteilt sind, die mittlere oder Zentralkette höher als die übrigen sein müsse. Dieser

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große Strom entspringt (und dieser Umstand scheint für die Geologie nicht unwichtig) ostwärts der westlichen Kette, der einzigen, welche unter dieser Breite den Namen einer hohen Andenkette verdient. Er wird durch die Ver­ einigung des Aguamiros und des Rio Chavinillo gebildet, welcher aus dem Llauricocha-See entspringt, in einem Längental, das durch die Westkette und durch die mittlereAndenkette begrenzt wird. Um sich von diesen hydro­ graphischen Verhältnissen eine richtige Vorstellung zu machen, muß man sich erinnern, daß sich der kolossale Gebirgsknoten von Pasco und Huanuco in drei Ketten teilt. Die westliche, welche die höchste ist und den Namen Cordillera real de Nieve führt, nimmt ihre Richtung (zwischen Huary und Caxatombo, Guamachuco und Lucma, Micuipampa und Guangamarca) durch dieNevados von Vinda, Pelagatos, Moyopata und Huaylillas und durch die Plirarnos von Guamani und Guaringa nach der Stadt Loja hin. Die mitt­ lere Kette trennt die Gewässer des oberen Marafi6n von denen des Guallaga und erreicht in geraumer Zeit nur die geringe Höhe von 1000 Toisen; zur Grenze des ewigen Schnees steigt sie erst südwärts von Huanuco in der Cor­ dillere von Sasaguanca. Sie dehnt sich anfangs nordwärts durch Huacra­ chuco, Chachapoyas, Moyobamba und den Paramo von Piscoguafiuna aus; dann senkt sie sich allmählich gegen Peca, Copallin und die Mission von San Yago, am östlichenAusgang der Provinz von Jaen de Bracamoros. Die dritte östliche Kette streicht längs dem rechten Ufer des Rio Guallaga und verliert sich bei 7° Breite. Solange der Amazonenstrom von Süden nach Norden im Längstal zwischen zwei ungleich hohen Bergketten fließt (das heißt von den Höfen von Guivilla und Guancaybamba, wo man auf hölzernen Brücken über den Fluß setzt, bis zur Vereinigung mit dem Rio Chinchine), zeigen sich weder Sperren noch Hindernisse der Fahrt mit dem Kanu von irgendeiner Art. Die Wasserfälle fangen erst da an, wo derAmazonenstrom sich ostwärts wendet und die mittlere Andenkette, welche nordwärts bedeutend breiter wird, durchschneidet. Die ersten roten Sandsteinfelsen oder altes Konglo­ merat trifft er zwischen Tombillo und dem Pongo von Rentema, in dessen Nähe ich die Breite, Tiefe und Schnelligkeit des Wassers gemessen habe; er verläßt die Felsen des roten Sandsteins ostwärts der bekannten Stromenge von Manseriche, in der Nähe des Pongo von Tayuchuc, wo die Hügel nur noch 40 bis 60 Toisen über die Wasserfläche des Amazonenstroms empor­ ragen. Die östlichste Kette, welche die Pampas del Sacramento begrenzt, wird vom Strom nicht berührt. Von den Hügeln von Tayuchuc bis Gran Para ist die Fahrt mehr als 750 Iieues weit völlig frei. Aus dieser kurzen Übersicht erhellt, daß der Marafi6n, hätte er nicht seinen Weg durch das Bergland zwi­ schen San Yago und Tomependa, das zur Zentralkette der Anden gehört, nehmen müssen, von seiner Mündung bis Pumpo nahe bei Piscobamba in der Provinz Conchucos, 43lieues nördlich von seiner Quelle, völlig schiffbar sein würde.

Kapitel XX

263

Wir haben gesehen, daß im Orinoco ebenso wie im Amazonenstrom die großen Katarakte keineswegs nahe dem Ursprung vorkommen. Erst nach einem ruhigen, über 160 Iieues betragenden Lauf, vom kleinen Raudal der Guaharibos ostwärts von Esmeralda bis zu den Bergen von Sipapu wechselt der durch die Gewässer des Jao, des Ventuari, des Atabapo und des Gua­ viare verstärkte Strom seine ursprüngliche Richtung von Osten nach Westen plötzlich mit der von Süden nach Norden und trifft beim Queren der Land­ enge in den Ebenen am Meta auf die Ausläufer der Cordillere von Parima. Dieses Zusammentreffen ist die Ursache ungleich viel größerer und der Schiffahrt nachteiligerer Katarakte als alle Pongos des oberen Marafi6n, weil sie, wie früher schon bemerkt wurde, der Mündung des Stroms verhält­ nismäßig näher liegen. Ich bin bei diesen geographischen Angaben verweilt, um am Beispiel der größten Ströme der Neuen Welt darzutun: 1. daß sich auf keine absolute Weise weder eine Toisenzahl noch eine bestimmte Höhe über dem Meer angeben läßt, jenseits der die Ströme noch nicht schiffbar wären; 2. daß die Stromschnellen nicht immer, wie in mehreren Abhandlungen zur allgemeinen Topographie behauptet wird,

den

Rücken der gleichen

Schwellen und den ersten Barren, welche die Gewässer nahe bei ihren Quellen überschreiten müssen, angehören. Unter den großen Katarakten des Orinoco ist nur der nördlichste auf beiden Seiten von hohen Bergen eingefaßt. Das linke Ufer des Stroms ist all­ gemein niedriger, es gehört aber zu einer Ebene, die westwärts von Atures ansteigt gegen den Pie d'Uniana, einen hohen Kegel von fast 3000 Fuß Höhe, der über einer steil abfallenden Felsenmauer steht. Die abgesonderte Stellung dieses Pie in der Ebene trägt dazu bei, sein imposantes und majestä­ tisches Aussehen zu verstärken. Nahe der Mission und im benachbarten Ter­ rain des Wasserfalls variiert der Anblick der Landschaft mit jedem Schritt. Auf engem Raum finden sich da die rauhesten und finstersten Naturformen neben offenem Land und bebauten heiteren Gegenden. Wie in der morali­ schen, so auch in der physischen Welt wird der Gegensatz der Eindrücke, der Übergang des Starken und Schauerlichen zum Sanften und Milden, für uns zur fruchtbaren Quelle von Genüssen und Empfindungen. Ich will hier an etliche Bruchstücke einer Schilderung erinnern, die ich in einem anderen Werk bald nach meiner Rückkehr in Europa entworfen habe. Die mit Gräsern und zarten Pflanzen bewachsenen Savannen von Atures sind wahre Prärien, unseren europäischen Wiesen ähnlich; sie werden nie vom Strom überschwemmt und scheinen auf die Hand des Menschen zu warten, der sie urbar machen soll. Trotz ihrer großen Ausdehnung trifft man doch hier die Einförmigkeit unserer Ebenen nicht an. Felsgruppen und über­ einandergehäufte Granitblöcke kommen zerstreut darauf vor. Ganz nahe am Rand dieser ebenen und offenen Landschaften finden sich Schluchten, in die kaum einige Strahlen der untergehenden Sonne dringen, deren feuchter,

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mit Arum, Heliconien und Lianen dicht überzogener Boden die wilde Fruchtbarkeit der Natur mit jedem Schritte verkündet.

Überall dehnen sich

in waagerechter Richtung mit dem Boden die völlig nackten Granitbänke aus, die ich bei Carichana beschrieben und nirgends in der Alten Welt in so ungemeiner Breite angetroffen habe wie im Tal des Orinoco. Hier, wo mitten aus dem Felsen Wasser quillt, haben sich auf dem zersetzten Granit Verrucarien, Psoren und Flechten festgesetzt; sie haben dort Erde angesam­ melt. Kleine Euphorbien, Peperomien und andere Sukkulenten haben die Stelle der Cryptogamen eingenommen, und gegenwärtig sind es immer­ grüne Sträucher, Rhexien, Melastomen mit Purpurblüten, die mitten auf den öden und felsigen Ebenen grünende Inseln bilden. Man wird es nie satt zu wiederholen: Die Lage dieser Gegenden, diese in den Savannen zer­ streuten Wäldchen kleiner Bäume mit lederartigen, glänzenden Blättern, diese klaren Bäche, die sich im Felsengrund ein Bett graben und wechselnd durch fruchtbare Ebenen und über nackte Granitbänke laufen, dies alles erinnert an das Lieblichste und Malerischste, das unsere Gartenanlagen und Pflanzungen besitzen. Man glaubt, menschlichen Kunstfleiß und Spuren der Kultur mitten in der wilden Landschaft zu erkennen. Es ist aber keineswegs nur die nächste Umgebung der Mission von Atures, deren Eigentümlichkeiten der Landschaft eine so merkwürdige Physio­ gnomie geben; auch die hohen, den Horizont überall begrenzenden Berge tragen sowohl durch ihre Gestaltung als durch ihren Pflanzenwuchs dazu bei. Diese Berge erheben sich meist nur 700 bis 800 Fuß über die sie umge­ benden Ebenen. Ihre Gipfel sind abgerundet, wie dies bei den meisten Gra­ nitbergen zutrifft, und mit dichter Waldung von Laurineen bewachsen. Wäldchen von Palmbäumen

[el

Cucurito] , deren federbuschförmig ge­

streifte Blätter sich unter einem Winkel von 70° zierlich emporheben, stehen einzeln zwischen Bäumen mit waagerechten

Ästen;

ihre nackten Stämme

streben wie 100 bis 120 Fuß hohe Säulen in die Lüfte, und sie erscheinen am Azurgewölbe des Himmels "wie ein Wald, der über einem anderen Wald ge­ pflanzt ist". Wenn beim Niedergang des Mondes auf der Seite des Gebirges von Uniana die rötliche Scheibe des Planeten sich hinter den gefiederten Palmblättern verbarg und nochmals in der die zwei Wälder trennenden Luft­ zone zum Vorschein kam, dann konnte ich mich auf einen Augenblick in die Einsiedelei des alten Klausners versetzt glauben, die Bernardin de Saint­ Pierre als eine der lieblichsten Gegenden der Insel Bourbon [ Mauritius] be­ schrieben hat. Ich fühlte die in beiden Welten vorhandene

Ähnlichkeit

in

Haltung und Gruppierung der Gewächse. In seiner Beschreibung eines kleinen Erdwinkels auf einer Insel des Indischen Ozeans hat der unnach­ ahmliche Verfasser von > Paul und Virginie< das umfassende Gemälde der Landschaft unter den Tropen entworfen. Seine Naturschilderung ist treffend und gelungen, nicht weil er als Naturforscher mit ihr vertraut war, sondern

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265

weil er sie in all ihren harmonischen Beziehungen nach Formen, Farben und inneren Kräften kannte. Ostwärts von Atures, nächst den abgerundeten Bergen, die mit den zwei übereinanderstehenden Wäldern von Laurineen und Palmbäumen be­ wachsen sind, erheben sich andere Berge, die ein ganz verschiedenes Aus­ sehen haben. Ihr Kamm ist mit gezackten Felsen besetzt, deren Spitzen säu­ lenförmig über Bäume und Sträucher emporragen. Diese Erscheinung stellt sich auf allen Granitplateaus dar, auf dem Harz, in den böhmischen Erzge­ birgen, in Galicien, auf der Grenze zwischen beiden Kastilien, überall, wo in geringer Erhöhung [400 bis 600 Toisen über der Meeresfläche] ein Granit neuer Formation zutage tritt. Die in gewissen Entfernungen voneinander befindlichen Felsen bestehen entweder aus übereinanderliegenden Blöcken oder aus regelmäßigen und waagerechten Bänken. Wo sie dem Orinoco sehr genähert sind, da nisten die Flamingos, die Soldadas [eine große Reiherart] und andere sich von Fischen nährende Vögel auf ihren Gipfeln und scheinen wie Menschen als Schildwachen aufgestellt. Diese Ähnlichkeit ist zuweilen so groß, daß nach der Angabe mehrerer Augenzeugen die Bewohner von Angostura bald nach der Erbauung ihrer Stadt einst durch die plötzliche Er­ scheinung von Reihern, Soldadas und Garzas auf einem südlich gelegenen Berg in nicht geringen Schrecken versetzt wurden. Sie glaubten sich von einem Überfall der indios monteros (wilden Indianern) bedroht; und trotz der Erklärung einiger mit der täuschenden Erscheinung vertrauter Personen beruhigte sich das Volk doch nicht eher, bis die Vögel zur Fortsetzung ihres Zuges nach den Mündungen des Orinoco aufflogen. Die schöne Vegetation der Berge hat sich in den Ebenen verbreitet, überall, wo der Felsgrund mit Erde bedeckt ist. Diese schwarze, mit Pflan­ zenfasern vermengte Erde wird vom Granitfelsen durch eine Schicht weißen Sandes getrennt. Der Missionar beteuerte uns, daß in der Nähe der Kata­ rakte das Grün der Pflanzen eine beständige Frische behält wegen der Menge Wasserdunst, welche der auf einer Länge von 3000 bis 4000 Toisen in Srudel und Kaskaden zerrissene Strom verbreitet. Kaum hatte man es ein paarmal in Atures donnern hören, schon stellte sich hier überall der kräftige Pflanzenwuchs und der Farbenglanz dar, welche an den Küsten erst gegen Ende der Regenzeit wahrgenommen werden. Die alten Baumstämme waren mit zierlichen Orchideen, gelben Bannisterien, blaublütigen Bignonien, Peperomien, Arum und Pothos ge­ schmückt. Ein einziger Stamm bot eine größere Mannigfaltigkeit von Pflan­ zenformen, als in Europa in ausgedehnten Landschaften gefunden wird. Neben diesen, den heißen Erdstrichen eigentümlichen Schmarotzer­ pflanzen fanden wir nicht ohne einiges Befremden hier im Mittelpunkt der heißen Zone und fast in Meereshöhe solche Moosarten, die den europäi­ schen völlig ähnlich waren. In der Nähe des großen Katarakts von Atures

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haben wir jene schöne Art von Grimmia mit Blättern der Fontinalis ge­ funden, die den Botanikern so merkwürdig vorkam. Sie hängt an den Zweigen der höchsten Bäume. Unter den Phanerogamen sind die an wal­ digen Orten vorherrschenden Familien Mimosaceen, Ficus und Laurineen. Diese Erscheinung ist um so charakteristischer, als den neueren Beobach­ tungen des Herrn Brown zufolge die Laurineen auf dem entgegengesetzten Kontinent der Äquinoktialgegenden Afrikas überall nicht vorkommen. In den Ebenen finden sich Gruppen der Heliconia und anderer Bananenge­ wächse mit breiten glänzenden Blättern, hohe Bambusrohre, die drei Palm­ arten Moriche, Jagua und Vadgiai, deren jede in abgesonderten Gruppen wächst. Die Mariehepalme oder Mauritia mit schuppigen Früchten ist die berühmte Sagopalme der Guaraon-Indianer; eine eigentlich gesellig wach­ sende Pflanze. Sie hat handförmige Blätter und mischt sich weder mit den Palmarten mit gefiederten und gestreiften Blättern noch dem Jagua, welches eine Art Cocospalme zu sein scheint, noch dem Vadgiai oder Cucurito, wel­ cher der schönen Gattung Oreodoxa verwandt ist. Die Cucurito, unter allen Palmarten der Katarakte von Atures und Maipures die am häufigsten vor­ kommende, ist durch ihren Habitus merkwürdig; ihre Blätter, oder vielmehr ihre Wedel, werden von einem 80 bis 100 Fuß hohen Stamm getragen; ihre Richtung ist, in ihrer Jugend wie in der Zeit ihrer vollendeten Entwicklung, fast senkrecht; die Spitzen allein sind eingebogen. Sie bilden demnach ei­ gentliche Federbüsche von zartestem und frischestem Grün. Cucurito, Seje, deren Frucht der Aprikose ähnlich ist, Oreodoxa regia oder Palma real von der Insel Cuba und das Ceroxylon der hohen Anden stellen die prachtvoll­ sten Formen dar, welche wir unter den Palmbäumen der Neuen Welt ge­ sehen haben. Je näher man der gemäßigten Zone rückt, desto mehr vermin­ dern sich Größe und Schönheit dieser Familie. Welch ein Unterschied waltet nicht zwischen den eben beschriebenen Arten und dem orientalischen Dat­ telbaum, den die europäischen Landschaftsmaler unglücklicherweise zum Vorbild ihrer Palmbaumgruppen gewählt haben! Man darf sich nicht wundern, wenn Reisende, die nur das nördliche Afrika, Sizilien und Murcia gesehen haben, nicht zugeben können, daß unter allen hohen Baumgestalten die der Palmbäume die imposanteste und schönste sei. Mangelhafte Analogien hindern die Europäer, sich eine rich­ tige Vorstellung von der heißen Zone zu machen. Jedermann weiß zum Bei­ spiel, daß zur Verschönerung dieses Erdstrichs der Kontrast des Laubwerkes der Bäume, besonders aber die große Menge von Gewächsen mit gefie­ derten Blättern [Foliis pinnatis] beiträgt. Esche, Vogelbeerbaum, Inga, Akazie der Vereinigten Staaten, Gleditsia, Tamarinde, Mimosen, Desman­ thus haben sämtlich gefiederte Blätter mit mehr oder minder großen, dünnen, zähen und glänzenden Blättchen. Wie könnte eine Gruppe unserer Eschen, Vogelbeer- oder Sumachbäume der Phantasie die malerische Wir-

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kung des Schattens der Tamarindenbäume oder der Mimosen darstellen, wenn der azurne Himmel zwischen ihren kleinen, dünnen und zartgefie­ derten Blättern sichtbar ist? Diese Betrachtungen sind wichtiger, als sie auf den ersten Blick scheinen mögen. Die Formen der Gewächse bestimmen die Gestalt und Physiognomie der Landschaften, und diese hat Einfluß auf die moralische Stimmung der Völker. Jeder Typus umfaßt verschiedene Arten, die bei einer übereinstimmenden Hauptform durch mannigfaltige Entwick­ lung der gleichartigen Organe variieren. Die Palmen, die Scitamineen, die Malvaceen, die Bäume mit gefiederten Blättern haben nicht alle die gleiche pittoreske Schönheit; und überhaupt gilt von den Pflanzen wie von den Tieren, daß die schönsten Arten eines jeden Typus der Äquinoktialzone an­ gehören. Protaceen, Croton, Agaven und die zahlreiche Sippe der Kakteen, welche ausschließlich in der Neuen Welt vorkommen, verschwinden allmählich, wenn man den Orinoco hinaufkommt, oberhalb der Mündungen vonApure und Meta. Jedoch sind Schatten und Feuchtigkeit mehr als die Entfernung von den Küsten das Hindernis, welches den südlichen Wanderungen der Kakteen im Wege steht. Wir haben wahre mit Croton vermischte Wälder von Kakteen, welche ausgedehnte Strecken dürren Landes bedecken, ostwärts der Anden, in der Provinz Bracamoros, zum oberen Marafi6n hin ange­ troffen. Die baumartigen Farnkräuter scheinen den Umgehungen der Kata­ rakte des Orinoco gänzlich zu fehlen; wir haben auch nicht eine Art bis San Fernando de Atabapo, das heißt bis zur Vereinigung des Orinoco und des Guaviare, angetroffen.

[Würdigung der Stromschnellen] Nach dieser Untersuchung der Gegend von Atures bleibt mir übrig, von den Stromschnellen selbst zu sprechen, die sich in einem Abschnitt des Tals befinden, wo das tief eingeschnittene Strombett fast unzugängliche Ufer hat. An sehr wenigen Stellen nur konnten wir zum Orinoco gelangen, um uns zwischen zwei Wasserfällen in Buchten, wo der Wasserstrudel gedämpft ist, zu baden. Wer auch dasAlpengebirge, die Pyrenäen und selbst die wegen ihrer Trümmer und der Spuren der Zerstörung, welche sich bei jedem Schritt zeigen, so berühmten Cordilleren besucht hat, würde Mühe haben, sich auf­ grund einfacher Erzählung den Zustand des Flusses vorzustellen. Auf einer Strecke von mehr als fünf Meilen ist er von unzähligen Felsendämmen durchschnitten,

welche ebenso

viele natürliche Wehre,

ebenso viele

Schwellen bilden, wie sie am Dnjepr angetroffen werden, wo die Alten sie mit den Namen phragmoi bezeichnet haben. Der Raum zwischen den Fels­ dämmen des Orinoco ist mit Inseln verschiedener Größe angefüllt, wovon

268

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die bergigen, in mehrere runde Erhöhungen abgeteilt, 200 bis 300 Toisen Länge haben, während andere, niedrig und klein, nur bloßen Klippen glei­ chen. Diese Inseln teilen den Fluß in zahlreiche Strömungen, die beim Auf­ prall gegen die Felsen schäumen; alle sind von Jagua und Cucurito mit feder­ buschförmigen Blättern geschmückt, und Gruppen von Palmen erheben sich inmitten des schäumenden Wassers. Die Indianer, welchen die leeren Pi­ rogen zur Durchfahrt der rauda/es übergeben werden, bezeichnenjede Stufe und jeden Felsen mit besonderem Namen. Von Süden her kommend, be­ gegnet man zuerst dem Wasserfall von Toucan, Salto del Piapoco; zwischen den Inseln Avaguri und Javariveni befindet sich der Raudal de Javariveni­ an dieser Stelle haben wir auf unserer Rückkehr vom Rfo Negro einige Stunden mitten unter den rapides zugebracht, um unseren Kahn zu er­ warten. Ein großerTeil des Strombetts liegt trocken. Granitblöcke sind über­ einandergehäuft wie in den Moränen, welche die Gletscher des Schweizer­ lands vor sich herstoßen. Überall stürzt sich der Strom in Höhlen; in einer von diesen Höhlen hörten wir das Wasser gleichzeitig über unseren Häup­ tern und unter unseren Füßen wirbeln. Der Orinoco ist gleichsam in viele Arme oder reißende Ströme geteilt, wovon jeder sich zwischen den Felsen seine Bahn zu öffnen sucht. Man staunt über das wenige im Flußbett vorhan­ dene Wasser, über die vielen unterirdischen Wasserfälle, über den Donner der schäumend am Felsen anschlagenden Wellen. Cuncta fremunt undis: ac multo murmure montis Spumans inv ictis canescit ftuctibus amnis [Lukan, Pharsalia Lib.X, v.132].

Ist man beim Raudal de Javariveni (ich nenne hier nur die wichtigsten Wasserfälle) vorbeigekommen, gelangt man zum Raudal de Canucari, den eine Felsenbank bildet, welche die Inseln Surupamana und Uirapuri verei­ nigt. Wo die natürlichen Wehre oder Schwellen nicht über zwei bis drei Fuß Höhe haben, wagen es die Indianer, im Kanu über sie hinunterzufahren. Beim Stromaufwärtsfahren schwimmen sie voran und befestigen, meist nach vielen vergeblichen Anstrengungen, ein Seil an einer Felsenspitze des Damms, womit sie dann das Schiff über den raudal ziehen. Während dieser mühsamen Arbeit füllt das Schiff sich öfters mit Wasser; zuweilen wird es auch vollends an den Felsen zertrümmert, und die Indianer können mit zer­ quetschtem und blutigem Leibe sich nur mühsam vom Strudel freimachen und schwimmend das nächste Ufer erreichen. Wo die Stufen oder Felsen­ dämme sehr hoch sind und das Flußbett völlig sperren, werden die leichten Fahrzeuge an Land gebracht und mittels Baumzweigen, die man ihnen als Rollhölzer unterschiebt, bis zu der Stelle, wo der Fluß wieder schiffbar wird, geschleift. Von den Katarakten des Orinoco kann man nicht leicht sprechen, ohne an das Verfahren zu denken, welches früher beim Hinabfahren der Ka­ tarakte des Nils gebräuchlich war und von dem Seneca uns eine wahrschein-

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lieh mehr dichterische als genaue Beschreibung hinterlassen hat. Ich will davon nur die Stelle anführen, welche ein treues Bild dessen gibt, was man alltäglich in Atures, in Maipures und in einigen pongos des Amazonenstroms sehen kann. "Zwei Männer besteigen einen Kahn, welchen der eine lenkt, während der andere das Wasser ausschöpft, in dem Maß, wie es den Kahn füllt; nach langem Hin- und Herwerfen in den Wirbeln, Strömungen und Ge­ genströmungen durchfahren sie die engsten Kanäle, weichen den Klippen aus und folgen dem Lauf des Hauptstroms, indem sie den Kahn während seiner reißenden Bewegung zu leiten verstehen." In den hydrographischen Länderbeschreibungen werden gewöhnlich unter den schwankenden Namen Katarakte, Kaskaden, Wasserfälle und Wirbel

(saltos, chorros, pongos, cachoeiras und raudales)

wilde und stürmi­

sche Bewegungen verwechselt, die von sehr verschiedenen Verhältnissen des Bodens abhängen. Zuweilen ist es ein ganzer Strom, der sich von einer großen Höhe und mit

einem Fall herabstürzt, der jede Schiffahrt unmöglich

macht. So verhält es sich mit dem prachtvollen Rio Tequendama, den ich in meinen > Vues des Cordilleres< abgebildet habe; so verhält es sich mit den Wasserfällen des Niagara und des Rheins, die viel weniger durch ihre Höhe als durch ihre Wassermasse bemerkenswert sind. Anderswo folgen nur wenig erhöhte Steindämme einander in beträchtlichen Entfernungen und bilden abgesonderte Wasserfälle. Dahin gehören die Negro und des Rio Madeira, die

pongos,

saltos

cachoeiras

des Rio

des Rio Cauca und die meisten

welche im oberen Marafi6n vom Einfluß des Chinchipe bis zum

Dorf San Borja vorkommen. Der höchste und furchtbarste dieser

pongos,

den man auf Flößen hinabfährt, der von Mayasi, hat jedoch keine drei Fuß Höhe. Noch anderswo stehen kleine Steindämme einander so nahe, daß sie auf Strecken von mehreren Meilen eine ununterbrochene Reihe von Kas­ kaden und Wirbeln,

chorras und remolinos bilden; das ist es, was man zu­ (rapides, raudales) nennt. Dahin gehören die yellalas

nächst Stromschnellen

rapides des Zaire oder Kongo, womit uns der Kapitän Tuckey kürzlich rapides vom Oranje-Strom in Afrika, oberhalb Pella, und die Wasserfälle des Missouri, die eine Strecke von vier Iieues lang

oder

bekanntgemacht hat; die

sind, wo der Strom aus dem Felsengebirge hervorbricht. Hierher gehören auch die Katarakte von Atures und Maipures, die einzigen, welche in den Äquinoktial-Ländern der Neuen Welt mit einer prachtvollen Palmenvegeta­ tion geschmückt erscheinen. Durch alle Jahreszeiten sind sie wirkliche Kas­ kaden und der Schiffahrt auf dem Orinoco im höchsten Grad nachteilig, wo­ gegen die Stromschnellen des Ohio und in Ober-Ägypten zur Zeit der Hoch­ wasser kaum sichtbar sind. Ein abgesonderter Katarakt wie der des Niagara oder der Fall von Temi stellen ein bewundernswertes, aber einziges Bild dar, welches nur insofern wechselt, als der Beschauer seinen Standpunkt verän­ dert. Die

rapides

hingegen, vorzüglich wenn hohe Bäume um sie herum

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wachsen, verschönern die Landschaft auf mehrere Stunden weit. Zuweilen sind es nur ungemeine Verengungen der Strombetten, welche den wilden Sturm der Gewässer verursachen. Einen solchen Fall bildet Angostura de Carare im Magdalenenstrom, ein Engpaß, welcher die Verbindung zwischen Santa Fe de Bogota und der Küste von Cartagena hemmt, und der Pongo von Mansenehe am oberen Maraft6n, welchen Herr de La Condamine für viel gefährlicher hält, als er in der Tat ist, und den der Pfarrer von San Borj a

j edesmal befahren muß,

wenn er im Dorf San Yago sein Pfarramt versehen

soll. Der Orinoco, der Rio Negro und fast alle in den Amazonenstrom oder Maraii6n sich ergießenden Flüsse haben Wasserfälle oder rapides, entweder weil sie durch das Gebirge fließen, worin sie entspringen, oder weil sie auf ihrem Lauf anderen Bergen begegnen. Wenn, wie wir oben bemerkt haben, der Amazonenstrom vom Pongo de Mansenehe ( oder richtiger vom Pongo de Tayuchuc) bis zu seiner Ausmündung, auf mehr als 750 Iieues, keine wilden Gewässer zeigt, dann hat der Strom diesen überaus großen Vorteil der unveränderlichen Richtung seines Laufs zu danken, welche von Westen nach Osten durch eine ausgedehnte Ebene geht, die gleichsam ein Längstal zwischen der Berggruppe von Parima und der großen Bergmasse Brasiliens bildet. Zu meiner

Überraschung überzeugten mich Messungen,

daß die rapides

des Orinoco, deren Donner auf mehr als eine Iieue Entfernung gehört wird und die durch mannigfaltige Verteilung der Gewässer, der Palmbäume und der Felsen ein so ungemein malerisches Aussehen tragen, wahrscheinlich auf ihrer ganzen Länge nicht über 28 Fuß senkrechter Höhe haben. Beim Nachdenken findet es sich, daß dies für die rapides beträchtlich ist, während die Erhöhung für einen vereinzelt stehenden Katarakt sehr unbedeutend wäre. Die yellalas des Kongo bieten in der Verengung des Flusses von Banza Noki bis Banza Inga, zwischen den oberen und unteren Wasserläufen, einen weit beträchtlicheren Höhenunterschied dar; aber Herr Barron beobachtet, daß sich unter der großen Zahl dieser rapides ein Wasserfall befindet, wel­ cher für sich allein 30 Fuß Höhe hat. Dagegen haben die berühmten pongos des Amazonenstroms, deren Auffahrt so gefährlich ist, die Wasserfälle von Rentema, von Escurrebragas und von Mayasi auch nur wenige Fuß senk­ rechter Höhe. Wer sich mit hydraulischen Bauarbeiten beschäftigt, der weiß, welche Wirkung eine Barre von 18 bis 20 Zoll in einem großen Fluß hervorbringt.

Überall

hängt die wirbelnde und stürmische Bewegung des

Wassers nicht allein von der Größe des teilweisen Falles ab. Die Stärke und Heftigkeit wird vielmehr bestimmt von der Annäherung der Fallstufen, das Gefälle der Felsenwehre, durch die Reftexionswellen, die aufeinander­ prallen, durch die Form der Inseln und Klippen, durch die Richtung der Ge­ genströmungen, durch die Verengung und die Krümmungen der Kanäle, wo-

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271

durch das Wasser sich zwischen zwei übereinanderliegenden Kanälen Bahn verschafft. Von zwei gleich breiten Flüssen kann oft der, welcher den we­ niger hohen Fall hat, die größten Gefahren und die reißendsten Bewe­ gungen aufweisen. Ich habe meine Meinung über die senkrechte Höhe der rauda/es im Ori­ noco nur als zweifelhaft ausgesprochen, und ich habe nur eine Grenzzahl festgesetzt. Zwar beobachtete ich das Barometer in der kleinen Ebene, worin die Mission von Atures und die Katarakte liegen; allein ich konnte keine beständigen Unterschiede erhalten. Es ist bekannt, wie mißlich die barometrische Nivellierung wird, wenn es sich um sehr kleine Höhen han­ delt. Es hätte eines Instruments bedurft, bei dem der Nullpunkt nicht durch einen beständigen Ausfluß bestimmt würde. Kleine Unregelmäßigkeiten in der stündlichen Variation (Unregelmäßigkeiten, die sich mehr auf die Quan­ tität der Variation als auf den Zeitpunkt beziehen) machen die Resultate un­ gewiß, wenn man nicht zwei Barometer auf beiden Stationen hat und wenn die Abweichungen einer halben Linie des atmosphärischen Drucks be­ stimmt werden sollen. Wahrscheinlich verliert der Strom von einer Wassermasse in den Kata­ rakten nicht nur wegen der durch die Zerstreuung der kleinen Tropfen in der Atmosphäre vermehrten Verdunstung, sondern hauptsächlich auch infolge des Einsiekerns in unterirdischen Höhlen. Sehr spürbar sind jedoch diese Einbußen nicht, wenn man die in den raudal eintretende Wassermasse mit der vergleicht, die nahe der Mündung des Rio Anaveni von diesem austritt. Durch einen ähnlichen Vergleich ist das Dasein unterirdischer Höhlen in den yellalas oder rapides des Kongo bekannt geworden. Der Pongo von Manse­ riche, der eher ein Engpaß als ein Wasserfall genannt werden sollte, ver­ schlingt auf eine bisher nicht genügend erforschte Weise einen Teil des Was­ sers und alles Treibholz vom oberen Maraii6n. Wenn man, am Ufer des Orinoco sitzend, die Felsenwehre betrachtet, woran der Strom rauschend seine Wellen bricht, so fragt man sich, ob im Lauf der Jahrhunderte diese Wasserfälle ihre Form und Höhe ändern. Ich bin nicht geneigt, an diese Wirkungen des Wasserstoßes gegen Granitblöcke und an die Erosion der Siliziumhaitigen Gesteine zu glauben. Die schmalen Löcher im Grund, die Trichter, die in den rauda/es wie auch in vielen euro­ päischen Wasserfällen bemerkt werden, sind nur eine Wirkung der Reibung des Sandes und der Bewegung der Quarzgerölle. Wir haben gesehen, wie diese durch die Strömung im Grund des Trichters in steter Bewegung ge­ halten werden und ihn nach allen Seiten erweitern helfen. Die pongos im Amazonenstrom sind leicht zerstörbar, weil die Felsendämme nicht Granit, sondern eine Breccie, ein roter grobkörniger Sandstein, sind. Ein Stück des Pongos von Rentema ist vor 80 Jahren eingestürzt, und weil ein neuer Damm den Lauf des Wassers hemmte, blieb das Flußbett einige Stunden

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lang trocken, zum großen Befremden der Bewohner des Dorfes Puyaya, welches sieben Lieues unterhalb des eingestürzten pongos liegt. Die Indianer von Atures versichern ( und ihr Zeugnis steht hierin im Widerspruch mit der

Meinung des Pater Caulin ) , die Felsen des raudal änderten ihr Aussehen

nicht, während die partiellen Ströme, in die der große Fluß sich teilt, beim Durchgang zwischen den aufgetürmten Granitblöcken ihre Richtung ändern und bald mehr, bald weniger Wasser dem einen oder anderen Ufer zuführen. Die Ursachen dieser Veränderungen können weit von den Katarakten ent­ fernt sein, denn in den Flüssen, die über den Erdball Leben verbreiten, wie die Schlagadern es in den organischen Körpern verteilen, werden alle Bewe­ gungen auf große Entfernungen fortgepflanzt. Schwingungen, die anfangs nur partiell scheinen, wirken auf die ganze im Stamm und seinen zahlreichen Verästelungen enthaltene flüssige Masse zurück. Ich weiß wohl, daß man aus dem Vergleich des gegenwärtigen Zustands der rapides von Syene, deren einzelne Stufen kaum sechs Zoll Fall haben, mit den pomphaften Beschreibungen der alten Schriftsteller im Nilbett die Ergebnisse dieser Erosion und dieser Wirkung des laufenden Wassers wahr­ zunehmen geglaubt hat, mittels deren die Geologie lange Zeit die Bildung der Täler und die Zerspaltungen der Cordilleren befriedigend erklären zu können geglaubt hat. Die örtliche Besichtigung ist dieser Meinung keines­ wegs günstig. Wir leugnen die Wirkung der Ströme und der fließenden Wasser keineswegs, wenn sie über zerreibliches, durch Sekundärforma­ tionen bedecktes Erdreich ihren Lauf nehmen. Die Granitfelsen von Ele­ phantine hingegen haben wahrscheinlich seit Jahrtausenden ihre absolute Höhe ebensowenig verändert wie die Gipfel des Mont Blanc und des Ca­ nigou. Wer die großen Naturszenen unter verschiedenen Himmelsstrichen in der Nähe gesehen hat, muß wohl notwendig die Ü berzeugung teilen, daß die tiefen Spalten, die eingesenkten Lagen, die zerstreuten Blöcke, die viel­ fältigen Spuren einer allgemeinen Umwälzung Wirkungen außerordentli­ cher Ursachen sind, die mit denen nichts gemein haben, die auf der Oberfläche der Erde in ihren gegenwärtigen ruhigen Verhältnissen langsam und allmählich zutage kommen. Was die Gewässer dem Granit durch Ero­ sion abnehmen und was die feuchte Luft durch Berührung des harten unzer­ setzten Gesteins zerstört, das bleibt unseren Sinnen fast unbemerkbar, und ich kann nicht glauben, wie einige Geologen annehmen, daß die Granit­ gipfel der Alpen und Pyrenäen deshalb niedriger werden sollten, weil in den Schluchten am Fuß der Gebirge Schuttkegel entstehen. Im Nil wie im Orinoco kann der Fall der rapides sich verkleinern, ohne eine merklichere Veränderung der Felsendämme. Die relative Höhe des Falls kann durch die sich unter den rapides bildenden Geschiebeanschwemmungen verändert werden. Die Flußbetten äußern infolge der Wirkung der Strömungen eine beständige Neigung zu Biegungen, wodurch das, was man die Stabilität des

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Bettes nennt, begründet wird; und diese Stabilität kann nur durch den Trans­ port zerreiblieber Substanzen erzielt werden, welche die Gewässer weg­ führen und fortgehend da wieder ablegen, wo ihre Schnelligkeit sich vermin­ dert. Wenn diese Betrachtungen die merkwürdige Erscheinung der Katarakte einigermaßen beleuchten können, reichen sie, wie ich gern gestehe, nicht aus, um die übertriebenen Erzählungen der alten Geographen von den Fällen von Syene zu erklären. Sollten diese nicht vielleicht dem unteren Fall zugeschrieben haben, was sie auf eine unbestimmte Weise von den oberen Stufenfällen des Flusses- von denen in Nubien und Dongola, die zahlreicher und ungleich bedeutender sind- durch Hörensagen innegeworden waren? Syene befand sich auf der Grenze des Römischen Reiches, fast auf der der bekannten Erde, und im Raum wie in den Schöpfungen des menschlichen Verstandes fangen die Traumbilder da an, wo die zuverlässigen Kenntnisse aufhören.

[Unterschiedliche Ausbreitung der Schallwellen bei Tag und bei Nacht} Die Bewohner von Atures und von Maipures sind entgegen den Behaup­ tungen in den Werken der Missionare vom Getöse der großen Wasserfälle ebensowenig mit Taubheit geschlagen wie die der Katarakte des Nils. Wenn man dieses Getöse in der Ebene um die Mission in mehr als einer Iieue Ent­ fernung hört, glaubt man sich in der Nähe einer mit Felsenriffen und Klippen besetzten Küste zu befinden. Zur Nachtzeit ist das Getöse dreimal stärker als bei Tage, und es verleiht diesen Einöden einen unaussprechlichen Reiz. Worin aber mag der Grund dieser bedeutenden Verstärkung in einer Wüste liegen, in welcher die Stille der Natur durch nichts unterbrochen zu werden scheint? Die Schnelligkeit der Fortpflanzung des Schalls, weit ent­ fernt, durch die kühlere Temperatur gesteigert zu werden, nimmt vielmehr mit deren Eintritt ab. Seine Stärke vermindert sich durch einen der Richtung des Schalls entgegengesetzten Wind. Sie vermindert sich gleichfalls durch die Ausdehnung der Luft; sie ist geringer in den höheren Regionen der At­ mosphäre als in den niedrigen, wo die Zahl der bewegten Luftteilchen im selben Strom größer wird. Die Stärke ist dieselbe in einer trockenen und in einer mit Dünsten erfüllten Luft; sie ist dagegen schwächer im kohlensauren Gas als in Mischungen von Stickstoff und Sauerstoff. Nach diesen Tatsachen (den einzigen, die wir mit einiger Zuverlässigkeit kennen) fällt es schwer, eine Erscheinung zu erklären, welche bei jedem Wasserfall in Buropa wahr­ genommen wird und die lange vor unserer Ankunft im Dorf Atures dem Mis­ sionar und den Indianern aufgefallen war. Die Nachttemperatur der Atmo­ sphäre ist um 3° geringer als die Tageswärme; gleichzeitig vermehrt sich

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nachts die fühlbare Feuchtigkeit, und der die Katarakte deckende Nebel wird dichter. Es ist soeben bemerkt worden, daß das hygroskopische Ver­ hältnis der Luft auf die Fortpflanzung des Schalls keinen Einfluß hat und daß die Abkühlung der Luft seine Schnelligkeit mindert. Man könnte glauben, daß auch in Gegenden, wo keine Menschen wohnen, das Gesumme der Insekten, der Gesang der Vögel, das Rauschen der vom leisesten Wind bewegten Blätter den Tag über ein dumpfes Ge­ räusch verursachen, das wir um so weniger wahrnehmen, als es einförmig und das Ohr daran gewöhnt ist. Dieses Geräusch nun, so unmerklich es auch sein mag, kann die Intensität eines stärkeren Getöses vermindern, und diese Schwächung kann aufhören, wenn in der Stille der Nacht der Gesang der Vögel, das Gesumme der Insekten und der Wind, der die Blätter bewegt, un­ terbrochen sind. Diese Bemerkung jedoch, wenn es damit auch seine Rich­ tigkeit hat, duldet keine Anwendung auf die Wälder des Orinoco, wo die Luft beständig von einer zahllosen Menge Moskitos erfüllt, wo das Ge­ summe der Insekten des Nachts viel stärker ist als am Tag und wo der See­ wind, wenn er sich überhaupt einstellt, nach Sonnenuntergang erst zu wehen anfängt. Es kommt mir wahrscheinlicher vor, daß die Gegenwart der Sonne auf die Fortpflanzung und Stärke des Schalls durch die Hindernisse wirkt, welche die Luftströme von ungleicher Dichte und die durch ungleiche Erwärmung der verschiedenen Teile des Bodens bewirkten teilweisen Schwingungen der Atmosphäre ihnen entgegensetzen. In einer ruhigen Luft, mag dieselbe trocken oder mit gleichmäßig verteilten Dunstbläschen vermischt sein, pflanzt sich die Schallwelle leicht fort. Wird hingegen diese Luft durch kleine Strömungen einer wärmeren Luft in allen Richtungen durchzogen, zerteilt sich da, wo die Dichte des Mittels schnell wechselt, die Schallwelle in zwei Wellen; es bilden sich partielle Echos, die den Schall schwächen, weil eine der Wellen in sich selbst zurückwirkt: Es ergeben sich Wellenteilungen, deren T heorie Herr Poisson neulich mit viel Scharfsinn dargestellt hat. Es ist demnach keineswegs die Bewegung des Übergangs der Luftteilchen von unten nach oben in aufsteigender Strömung, und ebensowenig sind es die kleinen schiefen Strömungen, die wir als durch einen Stoß der Fortpflanzung der Schallwelle widerstrebend betrachten. Der auf die Oberfläche einer Flüssigkeit angebrachte Stoß wird um den Erschütterungspunkt her Kreise bilden, selbst wenn die Flüssigkeit ohnedies schon bewegt ist. Verschiedene Arten von Wellen können einander im Wasser so gut wie in der Luft kreuzen, ohne daß ihre Fortpflanzung dadurch gestört wird; geringe Bewegungen liegen übereinander, und die wahre Ursache der geringeren Stöße des Schalls bei Tage scheint der Mangel der Gleichartigkeit im elastischen Me­ dium zu sein. Den Tag über tritt eine schnelle Unterbrechung der Dichte al­ lenthalben ein, wo sich kleine Luftmengen einer höheren Temperatur von

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verschiedenen Teilen des ungleich erwärmten Bodens erheben. Die Schall­ wellen teilen sich, wie die Lichtstrahlen sich brechen und allenthalben eine Luftspiegelung bilden, wo Luftschichten von ungleicher Dichte einander be­ rühren. Die Fortpflanzung des Schalls wird verändert, wenn in eine an ihrem einen Ende verschlossene Röhre eine Schicht Wasserstoffgas über eine Schicht atmosphärischer Luft gebracht wird; und Herr Biot hat aus dem Da­ zwischentreten der Bläschen von kohlensaurem Gas sehr gut erklärt, warum ein mit Champagnerwein angefülltes Glas so lange nicht hell klingt, wie das Gas sich entwickelt und die Schichten der Flüssigkeit durchdringt. Ich könnte mich zur Unterstützung dieser Ideen auf das Ansehen eines Philosophen berufen, den die Physiker [Naturforscher] immer noch gleich­ gültig zu behandeln fortfahren, während die berühmtesten Zoologen seit langer Zeit den Scharfsinn seiner Betrachtungen erkannt und ihm gehuldigt haben. "Warum", fragt Aristoteles, in seinem denkwürdigen Buch der >Pro­ blemeMithridates